Der Generationenvertrag: Lebenslauf und Lebenseinkommen in Deutschland in zwei Jahrhunderten [1 ed.] 9783428519156, 9783428119158

Die Generation hat alle Aussichten, im 21. Jahrhundert die zentrale Kategorie der Verteilung von Einkommen, Vermögen und

147 8 2MB

German Pages 489 Year 2006

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Generationenvertrag: Lebenslauf und Lebenseinkommen in Deutschland in zwei Jahrhunderten [1 ed.]
 9783428519156, 9783428119158

Citation preview

Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Band 82

Der Generationenvertrag Lebenslauf und Lebenseinkommen in Deutschland in zwei Jahrhunderten

Von Gerd Hardach

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

GERD HARDACH

Der Generationenvertrag

Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte In Verbindung mit Rainer Fremdling, Carl-Ludwig Holtfrerich, Hartmut Kaelble und Herbert Matis herausgegeben von Wolfram Fischer

Band 82

Der Generationenvertrag Lebenslauf und Lebenseinkommen in Deutschland in zwei Jahrhunderten

Von Gerd Hardach

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0588 ISBN 3-428-11915-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Generation hat alle Aussichten, im einundzwanzigsten Jahrhundert die zentrale Kategorie der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Status zu werden, nachdem im neunzehnten Jahrhundert die Klasse und im späten zwanzigsten Jahrhundert das Geschlecht die Verteilungsdebatten beherrschten. Die Auseinandersetzung um die Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Generationen begann mit besorgten Fragen nach der Zukunft der Alterssicherung. Sie hat sich inzwischen aber auf alle Lebensalter ausgeweitet. Die Kinderarmut ist seit einiger Zeit ein öffentliches Ärgernis geworden. Die mittlere Generation hat in der anhaltenden Arbeitsmarktkrise Schwierigkeiten, einen Beruf zu finden und zu behalten. Die Familie verliert als Lebensform rapide an Attraktivität. Am Ende des Lebens befürchten viele Menschen eine unzureichende Altersversorgung.1 Der Diskurs über die intergenerative Einkommensverteilung ist zwar erst seit kurzer Zeit das zentrale Thema der Verteilungsdebatte geworden, aber er ist nicht neu. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts erzählte Johann Peter Hebel im „Schatzkästlein des Rheinländischen Hausfreundes“ die Geschichte vom fröhlichen Landmann. Ein Fürst unterhielt sich mit einem Landarbeiter; der arbeitete um einen Tagelohn von 15 Kreuzern. Der Fürst wunderte sich, wie man von diesem Einkommen leben konnte, erhielt aber von seinem Gesprächspartner die überraschende Antwort, dass der Lohn noch in drei Teile ging: „Mir muß ein Dritteil davon genügen; mit einem Dritteil zahle ich meine Schulden ab, und den übrigen Dritteil lege ich auf Kapitalien an“. Dem daraufhin noch erstaunteren Fürsten erklärte der „fröhliche Landmann“, wie Hebel ihn nennt, die Lösung des Rätsels: „Ich teile meinen Verdienst mit meinen alten Eltern, die nicht mehr arbeiten können, und mit meinen Kindern, die es erst lernen müssen; jenen vergelte ich die Liebe, die sie mir in meiner Kindheit erwiesen habe, und von diesen hoffe ich, daß sie mich einst in meinem müden Alter auch nicht verlassen werden“.2 Die Solidarität zwischen den Generationen, die Hebel in der Geschichte vom fröhlichen Landmann beschreibt, wird in der Wirtschaftswissenschaft als Generationenvertrag bezeichnet. Der Begriff geht auf Wilfrid Schreiber zurück, der 1955 1 Gerd Hardach, Der Generationenvertrag in der Arbeitsmarktkrise, in: Kai Eicker-Wolf / Ralf Käpenick / Torsten Niechoj / Sabine Reiner / Jens Weiß, Hg., Die arbeitslose Gesellschaft und ihr Sozialstaat, Marburg 1998; Gerd Hardach, Der Generationenvertrag im 20. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke, Hg., Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003. 2 Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des Rheinländischen Hausfreundes (1811), in: Johann Peter Hebel, Werke, München 1960, S. 12.

6

Vorwort

in der Diskussion über die Sozialreform in der Bundesrepublik Deutschland einen „Solidar-Vertrag“ zwischen den Generationen vorschlug. Der „Solidar-Vertrag“ sah einen Ausbau der öffentlichen Rentenversicherung und die Einführung einer wirksamen Familienförderung vor. Mit den Beiträgen für die öffentliche Rentenversicherung würde die erwerbstätige Generation ihre künftige Rente begründen, und mit der Finanzierung der Familienförderung unterstützte sie die Familien, deren Kinder später als Erwachsene die Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung gewährleisten sollten.3 Schreibers „Solidar-Vertrag“ bezog sich auf die öffentliche Umverteilung von Einkommen durch die Familienförderung und durch die öffentliche Rentenversicherung. Im aktuellen Diskurs ist der Begriff des Generationenvertrages aber nicht auf die öffentliche Umverteilung beschränkt, sondern meint die Gesamtheit der Einkommensverteilung zwischen den Generationen. Der Generationenvertrag ist kein Vertrag im rechtlichen Verständnis. Er ist ein Arrangement von vielfältigen Beziehungen zwischen den Generationen, von Rechten und Pflichten, von Erwartungen und Leistungen, von Verträgen und Vereinbarungen mit unterschiedlicher Verbindlichkeit.4 Das Ziel des Generationenvertrages ist die Stabilisierung des Lebenseinkommens. Die mittlere Generation sorgt mit ihrer Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit für die Jugend, die noch nicht für sich selbst sorgen kann, und für die ältere Generation, die der Unterstützung bedarf. Die Umverteilung zwischen den Generationen gewährleistet damit ein kontinuierliches Lebenseinkommens von der Geburt bis zum Tode. In der Struktur des Lebenslaufs begegnen sich die mikroökonomischen und die makroökonomischen Aspekte des Generationenvertrages. Auf ihrem individuellen Lebensweg erwerben die Menschen ihr Lebenseinkommen, und sie gestalten zugleich die kollektiven Verteilungsbedingungen, die ihnen im Generationenvertrag gegenübertreten. Die sozialen Arrangements der Produktion und intergenerativen Verteilung von Ressourcen gehören zu den Produktionsverhältnissen, die sich in Abhängigkeit von der Entwicklung der Produktivkräfte verändern. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts herrschte noch der traditionelle Generationenvertrag, der auf der Familie in ihrer doppelten Funktion als Lebensgemeinschaft und Wirtschaftsgemeinschaft beruhte. Mit der Durchsetzung des Industriekapitalismus etablierte sich ein bürgerlicher Generationenvertrag, der die institutionelle Differenzierung von Familie und Beruf und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit zur Grundlage hatte. Aus der Kritik der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ging in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der moderne Generationenvertrag hervor, der die Gleichberechtigung und gleiche Verantwortung von Frauen und Männern im Beruf und in der Familie vorsieht. Der moderne Generationenvertrag wurde zuerst in der Deutschen Demo3 4

160.

Wilfrid Schreiber, Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft, Köln o. J. (1955). Rudolf Richter / Eirik G. Furubotn, Neue Institutionenökonomik, Tübingen 1999, S. 155 –

Vorwort

7

kratischen Republik zum gesellschaftlichen Leitbild erklärt. Seit den siebziger Jahren setzte er sich in der postindustriellen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland durch, und seit der Wiedervereinigung gilt er als gesamtdeutsches Leitbild. Meine Absicht ist, den Wandel des Generationenvertrages in Deutschland vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts darzustellen und zu interpretieren. Im ersten Kapitel stelle ich die verschiedenen Modelle des Generationenvertrages vor. In den folgenden sieben Kapiteln zeichne ich in chronologischer Folge die Entwicklung des Generationenvertrages nach. Schwerpunkte der Darstellung sind die Veränderung der Verteilungsbedingungen durch den demographischen Wandel und das wirtschaftliche Wachstum, der Strukturwandel des Lebenslaufs von der Jugend über die mittleren Jahre der Berufstätigkeit und Familientätigkeit bis ins hohe Alter, und die Bedeutung der sozialpolitischen Interventionen für die Gestaltung des Generationenvertrages. In einem Epilog diskutiere ich die Erfahrungen und die Perspektiven des Generationenvertrages. Die Untersuchung beruht auf Quellen aus den Beständen des Bundesarchiv in Berlin und in Koblenz, auf veröffentlichten Statistiken und Enqueten und auf einer Sekundäranalyse von sozial- und wirtschaftshistorischen, wirtschaftswissenschaftlichen und soziologischen Untersuchungen zu einzelnen Aspekten des Generationenvertrages. Dazu gehören Monographien über Wirtschaftswachstum und Einkommensverteilung, über die Bevölkerungsentwicklung, über Kindheit und Jugend, über die Erwerbstätigkeit, über die Familie, und über Alter und Alterssicherung. Das Literaturverzeichnis nennt die wichtigsten Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Generationenvertrages, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. „Man verweist Regenten, Staatsmänner, Völker vornehmlich an die Belehrung durch die Erfahrung der Geschichte“, bemerkte Georg Friedrich Wilhelm Hegel im frühen neunzehnten Jahrhundert. Er selbst glaubte allerdings nicht, dass irgend jemand etwas aus der Geschichte lernen wollte. „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.“5 Trotz Hegels pessimistischer Sicht, für die es seitdem zahlreiche neue Belege gibt, hoffe ich, dass die Kenntnis der historischen Entwicklung des Generationenvertrages zu einem besseren Verständnis der aktuellen Situation und der künftigen Gestaltungsmöglichkeiten des Generationenvertrages beiträgt. Mein Dank gilt allen, die mit Anregungen und Hinweisen die Arbeit gefördert haben, besonders Dr. Christine Amend-Wegmann, Prof. Dr. Stefan Bajohr, Prof. Dr. Dr. Wolfram Fischer und Dr. Lil-Christine Schlegel-Voß. Zu danken habe ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs in Berlin und 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837). Werke, Bd. 12, Frankfurt am Main 1970, S. 17.

8

Vorwort

Koblenz und der Universitätsbibliothek Marburg für ihre Unterstützung. Die Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung, die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft und der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger haben Auskünfte erteilt und aktuelle Unterlagen bereitgestellt. Dr. Irene Hardach-Pinke hat die Untersuchung vom Beginn bis zum Abschluss mit Rat und Tat begleitet.

Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel Eine neue Dimension der Einkommensverteilung

23

I. Handlungskompetenz im Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

II. Verteilungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

1. Generationen als Verteilungsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

2. Der traditionelle Generationenvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

3. Der bürgerliche Generationenvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

4. Der moderne Generationenvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

III. Die Gestaltung des Lebenseinkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

1. Der Strukturwandel des Lebenslaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

2. Periodeneinkommen und Lebenseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Zweites Kapitel Abschied von der alten Welt

41

I. Komplementäre Lebenswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

1. Die Auflösung der Familienökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

2. Demographischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

3. Die wirtschaftliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

a) Der Strukturwandel der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

b) Der Beginn des modernen Wirtschaftswachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

c) Öffentliche Transferleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

II. Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

1. Die frühen Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

2. Die Institutionalisierung der Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

10

Inhaltsverzeichnis 3. Kinderarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

4. Die Anfänge der allgemeinen Wehrpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

III. Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

1. Familienkarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

a) Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

b) Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

c) Heimindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

2. Männerkarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

a) Landarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

b) Handwerk und Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

c) Die neue Mittelklasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

d) Unternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

3. Frauenkarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

IV. Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

1. Die Regulierung von Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

2. Familienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

3. Familienökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

V. Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

1. Altersarbeit und Altersnot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

2. Das Altenteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

3. Die Struktur der Alterseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

a) Berufliche Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

b) Vermögensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

c) Altersarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Drittes Kapitel Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

101

I. Der doppelte Standardlebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Die neuen Generationenverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Demographischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

Inhaltsverzeichnis

11

3. Die wirtschaftliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Wachstum und Konjunktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 c) Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 d) Öffentliche Transferleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 II. Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Die frühen Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3. Die Einschränkung der Kinderarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4. Parallelerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5. Wehrpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 6. Humankapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 7. Jugenderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 III. Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1. Laufbahnen und Risikobiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Männerkarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 a) Industriearbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Landarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 c) Die neue Mittelklasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Frauenkarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Der Wandel der Frauenerwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Industriearbeiterinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 c) Landarbeiterinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 d) Hausangestellte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4. Familienkarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 a) Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 b) Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 c) Heimindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 IV. Die bürgerliche Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Der Wandel der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3. Familienökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

12

Inhaltsverzeichnis

V. Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Die Konstituierung des Ruhestandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Die Einführung der öffentlichen Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3. Die Struktur der Alterseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Berufliche Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Individuelle Vermögensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 c) Familiale Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 d) Altersarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

Viertes Kapitel Reform und Krise

186

I. Stabilisierung und Destabilisierung des Lebenslaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Die politische Dimension der Einkommensverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Der Rückgang der Geburtenrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 3. Wirtschaftliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 a) Strukturwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 b) Wachstum und Konjunktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 c) Öffentliche Transferleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 II. Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1. Die frühen Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2. Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 3. Parallelerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 4. Abrüstung und Wiederaufrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5. Jugenderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 III. Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 1. Beschäftigung und Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2. Männerkarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 3. Frauenkarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 4. Familienkarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Inhaltsverzeichnis

13

IV. Die Familie zwischen Reform und Repression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2. Der Wandel der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. Anfänge der dualen Familienunterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 4. Familienökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 V. Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 1. Von der Altersinvalidität zum Ruhestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2. Die öffentliche Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3. Die Struktur der Alterseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 a) Die berufliche Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 b) Die individuelle Vermögensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 c) Die Debatte um die familiale Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 d) Alterseinkommen und Altersarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Fünftes Kapitel Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

243

I. Die Spätzeit des bürgerlichen Generationenvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 1. Biographische Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 2. Demographischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3. Die wirtschaftliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 a) Der Strukturwandel der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 b) Wirtschaftliches Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 c) Öffentliche Transferleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 d) Die Haushaltsproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 II. Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 1. Die frühen Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 2. Bildungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3. Parallelerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4. Wehrpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 5. Humankapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 6. Jugenderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

14

Inhaltsverzeichnis

III. Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1. Beschäftigung und Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2. Der Wandel der Frauenerwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 3. Die Stabilisierung der Erwerbsbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 IV. Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1. Die Kontinuität des bürgerlichen Familienmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 2. Familienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 3. Die Familienförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 4. Familienökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 V. Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1. Die Ausdehnung des Ruhestandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2. Die Rente als Sozialeinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 3. Die Struktur der Alterseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 a) Berufliche Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 b) Individuelle Vermögensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 c) Die Überwindung der Altersnot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Sechstes Kapitel Ein Umweg

303

I. Der asymmetrische Standardlebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 1. Der Wandel der Generationenverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 2. Demographische Stagnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 3. Die wirtschaftliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 a) Der Strukturwandel der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 b) Der Schluss ist anders als im Märchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 c) Öffentliche Transferleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 II. Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 1. Die frühen Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 2. Bildungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 3. Wehrpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

Inhaltsverzeichnis

15

4. Parallelerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 5. Jugenderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 III. Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 1. Gleichberechtigung in Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 2. Die Stabilisierung der Erwerbsbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 IV. Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 1. Die kleinste Zelle der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 2. Familienförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 3. Familienökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 V. Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 1. Die Ausdehnung des Ruhestandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 2. Eine Einheitsversicherung mit Nischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 3. Die Struktur der Alterseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Siebtes Kapitel Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

346

I. Ein neuer Generationenvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 1. Differenzierung der Lebenswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 2. Die ergraute Gresellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 3. Die wirtschaftliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 a) Von der industriellen zur postindustriellen Gesellchaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 b) Die Abschwächung des Wirtschaftswachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 c) Einsturzgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 d) Die Haushaltsproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 II. Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 1. Die frühen Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 2. Die Bildungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 3. Wehrpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 4. Humankapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 5. Jugenderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358

16

Inhaltsverzeichnis

III. Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 1. Die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 2. Die Arbeitsmarktkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 3. Die Differenzierung der Erwerbsbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 IV. Der Wandel der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 1. Ein neues Leitbild für Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 2. Die sinkende Attraktivität der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 3. Die Reform der Familienförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 V. Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 1. Die Verlängerung des Ruhestandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 2. Vom Ausbau zur Konsolidierung der Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 3. Die Struktur der Alterseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 a) Die drei Musketiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 b) Die berufliche Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 c) Die individuelle Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 d) Die Stabilisierung der Alterseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 VI. Die intergenerative Einkommensverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

Achtes Kapitel Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

391

I. Vielfalt der Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 1. Die Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 2. Bedrohte Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 3. Die wirtschaftliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 a) Der Strukturwandel der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 b) Wachstum und Konjunktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 c) Alices Katze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 d) Haushaltsproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 II. Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 1. Die frühen Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404

Inhaltsverzeichnis

17

2. Längere Bildungswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 3. Parallelerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 4. Friedensdividende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 5. Humankapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 6. Jugenderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 III. Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 1. Annäherung mit Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 2. Die Eskalation der Arbeitsmarktkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 3. Die neue Arbeitslandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 IV. Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 1. Die Krise der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 2. Die Reform der Familienförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 V. Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 1. Drittes und viertes Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 2. Zukunftsängste in der Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 3. Die Bremer Stadtmusikanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 a) Die Differenzierung der Alterssicherung als sozialpolitisches Leitbild . . . . . . . 436 b) Die Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 c) Berufliche Alterssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 d) Individuelle Vermögensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 e) Die Struktur der Alterseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 VI. Die intergenerative Einkommensverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

Epilog: Erfahrungen und Perspektiven

449

I. Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 II. Demographischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 III. Wirtschaftliches Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 IV. Markt, Solidarität und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 2 Hardach

18

Inhaltsverzeichnis Quellen und Literatur

461

I. Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 II. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 III. Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486

Tabellenverzeichnis Tabelle 1:

Die Arbeiterklasse in Preußen 1822 – 1861 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

Tabelle 2:

Die Erwerbstätigen nach Sektoren 1800 – 1875 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Tabelle 3:

Die Altersstruktur der deutschen Gesellschaft 1871 – 1911 . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Tabelle 4:

Die Sozialstruktur der Erwerbstätigen in Deutschland 1882 – 1907 . . . . . . . . . 106

Tabelle 5:

Die Erwerbstätigen nach Sektoren in Deutschland 1900 – 1913 . . . . . . . . . . . . 108

Tabelle 6:

Die Altersstruktur der deutschen Gesellschaft 1925 – 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Tabelle 7:

Demographische Strukturquoten 1911 – 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Tabelle 8:

Die Sozialstruktur der Erwerbstätigen in Deutschland 1925 – 1939 . . . . . . . . . 191

Tabelle 9:

Die Erwerbstätigen nach Sektoren in Deutschland 1925 – 1939 . . . . . . . . . . . . 192

Tabelle 10: Die Altersstruktur der westdeutschen Gesellschaft 1950 – 1989 . . . . . . . . . . . . 246 Tabelle 11: Demographische Strukturquoten in Westdeutschland 1950 – 1989 . . . . . . . . . . 247 Tabelle 12: Die Sozialstruktur der Erwerbstätigen in Westdeutschland 1950 – 1989 . . . . 249 Tabelle 13: Die Erwerbstätigen nach Sektoren in Westdeutschland 1950 – 1989 . . . . . . . . 249 Tabelle 14: Die Altersstruktur der ostdeutschen Gesellschaft 1950 – 1989 . . . . . . . . . . . . . . 307 Tabelle 15: Demographische Strukturquoten der ostdeutschen Gesellschaft 1950 – 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Tabelle 16: Die Sozialstruktur der Erwerbstätigen in Ostdeutschland 1950 – 1989 . . . . . . 309 Tabelle 17: Die Erwerbstätigen nach Sektoren in Ostdeutschland 1950 – 1989 . . . . . . . . . 309 Tabelle 18: Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1970 – 1989 . . . . . . . . . . 363 Tabelle 19: Die Altersstruktur der deutschen Gesellschaft 1991 – 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Tabelle 20: Demographische Strukturquoten 1991 – 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Tabelle 21: Die Sozialstruktur der Erwerbstätigen in Deutschland 1991 – 2003 . . . . . . . . . 395 Tabelle 22: Die Erwerbstätigen nach Sektoren in Deutschland 1991 – 2003 . . . . . . . . . . . . 396 2*

20

Tabellenverzeichnis

Tabelle 23: Arbeitslosigkeit in Deutschland 1991 – 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Tabelle 24: Durchschnittliche Renten 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Tabelle 25: Monatliches Nettoeinkommen von Personen ab 65 Jahren 1992 – 1999 . . . . . 443 Tabelle 26: Struktur des Gesamteinkommens der Rentnerhaushalte mit zwei Personen 1993 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Tabelle 27: Überlebenswahrscheinlichkeit 1871 – 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Tabelle 28: Geburtenrate und Sterberate in Deutschland 1875 – 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Tabelle 29: Prognose der Altersstruktur der deutschen Bevölkerung 2030 . . . . . . . . . . . . . . 453 Tabelle 30: Revidierte Prognose der Altersstruktur 2030 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Tabelle 31: Wirtschaftliches Wachstum in Deutschland 1800 – 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456

Abkürzungen BArchB

Bundesarchiv Berlin

BArchK

Bundesarchiv Koblenz

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

GBl.

Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik

RGBl.

Reichsgesetzblatt

SAPMO

Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv

Erstes Kapitel

Eine neue Dimension der Einkommensverteilung I. Handlungskompetenz im Lebenslauf Die Notwendigkeit der intergenerativen Einkommensverteilung folgt aus dem Wandel der Handlungskompetenz im Lebenslauf.1 In den frühen Lebensjahren werden die Fähigkeiten und Kenntnisse erworben, die zu einem selbständigen Leben befähigen sollen. Die mittleren Jahre sind die Phase der vollen Handlungskompetenz im Beruf und in der Familie. Im hohen Alter nehmen die Fähigkeiten ab, die sozialen Beziehungen werden eingeschränkt. Die biographischen Optionen werden reduziert. Aus den Erwartungen werden Erfahrungen, und die Erfahrungen kristallisieren sich zu Erinnerungen. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wurde der Wandel der Handlungskompetenz im Lebenslauf noch häufig in dem Bild der Lebenstreppe dargestellt. Die Lebenstreppen waren in der Frühen Neuzeit aufgekommen und fanden in einzelnen Blättern und in Büchern weite Verbreitung. Sie zeigten das Leben in Worten und Bildern als eine Folge von Stufen, die aufwärts von der Geburt bis zur Lebensmitte führten und danach wieder abwärts zum Tode. Verbreitet waren sieben Stufen oder auch zehn Stufen. Die Beschreibung der einzelnen Lebensstufen war stark formalisiert und ließ wenig Raum für individuelle Charakterisierungen.2 In einer Leichenpredigt für den 1612 verstorbenen Adligen Jan von Döberitz wurden zehn Lebensstufen unterschieden: „Zehen Jahr ein Kind / Zwanzig Jahr ein Jüngeling / Dreißig Jahr ein Mann / Vierzig Jahr wohlgetan / Funffzig Jahr stille stahn / Sechszig Jahr gehet das Alter an / Siebenzig Jahr ein alter Greiß / Achtzig Jahr nimmer weiß / Neunzig Jahr der Kinder Spott / Hundert Jahr gnad dir Gott“.3 William Shakespeare beschrieb um die gleiche Zeit eine Lebenstreppe, in der ein Mann in sieben Stufen von der frühen Kindheit über die Schulzeit und die Jugend zum etablierten Status eines Richters aufsteigt, um dann wieder zur „second childishness“ Donald Davidson, Actions and events, Oxford 1980. Peter Borscheid, Der Wandel der „Lebensstufen“ im Abendland, in: Arthur E. Imhof / Rita Wagenknecht, Hg., Erfüllt leben – in Gelassenheit sterben. Geschichte und Gegenwart, Berlin 1994; Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1994, Göttingen 1994, S. 16 – 32. 3 Zitiert nach Arthur E. Imhof, Die verlorenen Welten, München 1984, S. 144. 1 2

24

1. Kap.: Eine neue Dimension der Einkommensverteilung

des Alters herabzusteigen.4 Die Lebenstreppen der Frauen betonten oft die äußere Erscheinung, manchmal verbunden mit boshaften Bemerkungen über die Vergänglichkeit der Schönheit. Johann Fischart beschrieb 1578 das Frauenleben in acht Stufen: „10 Jahre kindischer Art / 20 Jahr ein Jungfrau zart / 30 Jahr im Haus die Frau / 40 Jahr ein Matron genau / 50 Jahr eine Großmutter / 60 Jahr des Alters Schuder / 70 Jahr alt ungestalt / 80 Jahr wüst und erkalt“.5 Freundlicher war die Lebenstreppe eines Paares, die Jacob Grimm im späten achtzehnten Jahrhundert im Haus seiner Eltern gesehen hatte, und an die er sich noch im hohen Alter erinnerte: „in meiner eltern stube hieng ein kunstloses bild davon an der wand, das sich meinem gedächtnis unauslöschlich einprägte: auf der ersten stufe stand die wiege, aus der nur der kopf des kindes hervorguckte. die zweite stufe betraten ein knabe und ein mädchen, einander an der hand fassend und sich anlachend. auf der dritten vorgebildet war ein jüngling und eine jungfrau, die sich zwar arm in arm legen jedes aber vor sich hinschauen. oben in der mitte an vierter stelle befanden sich jungmann und jungfrau, d. i. braut und bräutigam, beide alleinstehend, er mit dem hut in der hand vor ihr, sie sich verneigend. auf der fünften stufe steigen ab mann und frau, frei einander führend, auf der sechsten alter mann und alte frau, sich noch die arme reichend, schon ein wenig gebückt, auf der siebenten endlich wieder unten unten greis und greisin, jeder mit stock und krücke sich forthelfend und vor ihren schritten öffnet sich ein grab“.6 Das Bild des liebenden Paares, das in der Mitte des Lebenszyklus neues Leben stiftet, bildet ein Gegengewicht zu dem melancholischen Blick auf das Grab. Die Lebenstreppen waren nicht als empirische Beschreibung des Lebenslaufs gedacht. Die wenigsten Menschen erreichten zu der Zeit, als diese Metapher beliebt war, ein Leben von siebzig oder gar hundert Jahren. Auch die strenge Symmetrie der Dekaden und die starre Form ihrer Beschreibung, die im neunzehnten Jahrhundert oft nicht viel anders lauteten als in der Leichenpredigt des Jan von Döberitz zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, zeigen, dass die Lebenstreppe nicht die individuelle Erfahrung eines Lebens abbilden sollte.7 Das Bild der Lebenstreppe entsprach dem reglementierten Lebensrhythmus der feudalen Gesellschaft. Seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ging die Popularität der Lebenstreppen zurück, und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kamen sie nur noch als nostalgische Erinnerung vor.

4 William Shakespeare, As You Like It (1623). Arden edition, London 1994. Zweiter Akt, siebte Szene. 5 Zitiert nach Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 34. 6 Jacob Grimm, Rede über das Alter (1863), in: Jacob Grimm, Selbstbiographie. Ausgewählte Schriften, München 1984, S. 218. 7 Josef Ehmer, „The life stairs“: Aging, generational relations, and small commodity production in Central Europe, in: Tamara K. Hareven, Hg., Aging and generational relations over the life course, Berlin 1996.

I. Handlungskompetenz im Lebenslauf

25

Im zwanzigsten Jahrhundert wurde der Wandel der Handlungskompetenz durch empirisch fundierte sozialpsychologische Modelle des Lebenslaufs abgebildet. Erikson teilte die „psychosoziale Entwicklung“ des Menschen in acht Phasen ein. Sechs Stufen führen von der Geburt zum jungen Erwachsenen: Säugling, frühe Kindheit, fortgeschrittene Kindheit, Schulalter, Jugend, und junges Erwachsenendasein. Auf dem weit längeren Lebensweg vom Erwachsenwerden bis zum Tode gibt es nur noch zwei Stufen. Die Phase der „Reife“ wird charakterisiert durch die Geburt von Kindern und deren Erziehung. Diese Phase geht ohne klare Altersgrenze über in das hohe Alter. Für das Alter greift Erikson auf die traditionelle Ambivalenz zurück. Altern ist die Zeit „for achieving and maintaining full integrity and wisdom, or falling into despair“.8 Nach Vogel kann man sechs Lebensstufen unterscheiden. Die frühe Kindheit dauert bis zum sechsten Lebensjahr, die späte Kindheit von 7 bis 14 Jahren und die Jugend von 15 bis 20 Jahren. Die Jugend ist definiert als die Zeit der Pubertät. Ihre Altersgrenzen sind keine biologischen Konstanten, sondern haben sich historisch verändert. So ist die Menarche in Nordamerika und Europa, vor allem als Folge einer Verbesserung des Lebensstandards, seit dem späten neunzehnten Jahrhundert von ungefähr 16 Jahren auf 13 Jahre zurückgegangen. Nach der Jugend sind keine großen Veränderungen mehr zu erwarten. Das frühe Erwachsenendasein reicht von 20 bis 40 Jahren, die „Reife“ von 40 bis 60 Jahren, und mit 60 Jahren setzt das „hohe Alter“ ein.9 Auch in der modernen Darstellung der Lebensphasen dominiert, wie früher in dem Bild der Lebenstreppe, eine defizitäre Definition des Alters. Die Älteren sind oft nicht mehr in der Lage, die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen.10 Der alte Mensch, schrieb Simone de Beauvoir, „erleidet ein biologisches Schicksal, das fatalerweise eine wirtschaftliche Konsequenz nach sich zieht: er wird unproduktiv“.11 Im vierten Familienbericht der Bundesregierung wurde 1986 kritisiert, dass das Alter, häufig schon die Lebenszeit jenseits des sechzigsten Lebensjahres, als „problembelastete“ Phase wahrgenommen werde. In der öffentlichen Diskussion erschienen die älteren Menschen „vorwiegend als Leistungsgeminderte, als Behinderte, Hilfs- und Pflegebedürftige“.12 Das Alter „bleibt eine schwierige und oft schmerzliche Lebensphase“, konstatiert Martin Kohli in dem Berliner Alters-Survey.13

8 Erik Erikson, Life cycle, in: International Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 9, New York 1968. 9 F. Vogel, Biology, human genetics, and the life course, in: Aage Soerensen, Franz E. Weinert / Lonnie Sherrod, Hg., Human development and the life course: Multidisciplinary perspectives, Hillsdale NJ 1986. 10 Rudolf Tartler, Das Alter in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 1961, S. 12 – 13. 11 Simone de Beauvoir, Das Alter (1970), Reinbek 1972, S. 74. 12 Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Vierter Familienbericht. Die Situation der älteren Menschen in der Familie, Bonn 1986, S. 17.

26

1. Kap.: Eine neue Dimension der Einkommensverteilung

Manche Interpretationen setzen der negativen Charakterisierung des Lebensabends ein positives Altersbild entgegen. Dem unbestreitbaren Verlust an Fähigkeiten auf manchen Gebieten wird ein Gewinn an Kompetenz in anderen Lebensbereichen gegenübergestellt. Jacob Grimm betonte die Unabhängigkeit von sozialen Zwängen als Chance des Alters: „Zu also ungetilgter arbeitsfähigkeit und ungetrübter forschungslust gesellt sich aber ein anderer und höherer vorzug der zusamt mit dem alter wachsenden und gefestigten freien gesinnung. ( . . . ) je näher wir dem rande des grabes treten, desto ferner weichen von uns sollten scheu und bedenken, die wir früher hatten, die erkannte wahrheit, da wo es an uns kommt, auch kühn zu bekennen“. Aber auch über dem erfüllten Alter liegt der Schatten des Todes: „das alter liegt hart an des lebens grenze und wenn der tod in allen altern eintreten oder ausbleiben darf, im greisenalter musz er eintreten und kann nicht länger ausbleiben“.14 Auch in der modernen Gesellschaft gilt, dass das Alter eine Zunahme an Erfahrung, an Einsicht, vielleicht an Weisheit, mit sich bringen kann. Alter muss aus dieser optimistischen Perspektive nicht einen Rückzug von sozialen Beziehungen bedeuten, sondern die Alten können neue Aufgaben suchen und neue Kontakte aufbauen und pflegen, zum eigenen Nutzen und zum Nutzen der Gesellschaft.15 Im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert wurde eine zunehmende Polarisierung von negativer oder positiver Interpretation des Alters konstatiert. Einerseits gab es noch das traditionelle Altersbild, „gekennzeichnet durch Krankheit, Hilfs- und Pflegebedürftigkeit, Kontaktarmut, soziale Isolation, Desintegration, schlechte Wohnverhältnisse, finanzielle Einschränkungen, Armut und Sozialhilfebedürftigkeit“. Auf der anderen Seite gab es aber die „neuen Alten“. Das waren die „jungen, aktiven, geistig mobilen, kontaktreichen, kommunikativen, gesunden, körperlich fitten und sportlichen, mitunter auch politisch aufmüpfigen Alten“.16 Paul B. Baltes und Margret M. Baltes haben ein Modell des „erfolgreichen Alterns“ entwickelt. Sie empfahlen alten Menschen, dem biologischen Altersabbau mit den Lebensstrategien der Selektion, der Kompensation und der Optimierung zu begegnen. Selektion meint, dass Menschen sich mit zunehmendem Alter auf wenige Lebensbereiche von hoher Priorität konzentrieren, in denen die individuellen Fähigkeiten am ehesten mit den sozialen Anforderungen harmonieren. Durch Kompensation kann ein Verlust bestimmter Fähigkeiten zumindest teilweise aus13 Martin Kohli, Das Alters-Survey als Instrument wissenschaftlicher Beobachtung, in: Martin Kohli / Harald Kühnemund, Hg., Die zweite Lebenshälfte. Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey, Opladen 2000, S. 27. 14 Grimm, Rede über das Alter (wie Anm. 6), S. 231, 233. 15 Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutung des Alters, Frankfurt am Main 2000. 16 Margret Dieck / Gerhard Naegele, „Neue Alte“ und alte soziale Ungleichheiten – vernachlässigte Dimensionen in der Diskussion des Altersstrukturwandels, in: Gerhard Naegele / Hans-Peter Tews, Hg., Lebenslagen im Strukturwandel des Alters. Alternde Gesellschaft – Folgen für die Politik, Opladen 1993, S. 43 – 45.

II. Verteilungsmodelle

27

geglichen werden, etwa durch die Gestaltung einer altersgerechten Wohnsituation. Optimierung heißt, mit den verfügbaren individuellen Ressourcen sorgfältig umzugehen. Diese Anforderung gilt im Grunde in allen Lebensphasen, gewinnt im Alter aber an Bedeutung.17 Der natürliche Rhythmus des Lebens gehört nach einem Begriff Max Webers zu den „sinnfremden“ Vorgängen, die sich der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis entziehen. Sozialwissenschaftlich relevant ist dagegen die Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit diesen Vorgängen. „Die Absterbeordnung und der organische Kreislauf des Lebens überhaupt: von der Hilflosigkeit des Kindes bis zu der des Greises, hat natürlich erstklassige soziologische Tragweite durch die verschiedenen Arten, in welchen menschliches Handeln sich an diesem Sachverhalt orientiert hat und orientiert.“18 Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Wandel der Handlungskompetenz im Lebenslauf ist das Thema dieser Untersuchung.

II. Verteilungsmodelle 1. Generationen als Verteilungsgruppen Der Generationenvertrag setzt die Mitglieder einer Gesellschaft als Träger oder als Empfänger von intergenerativen Leistungen zueinander in Beziehung. Die Generation ist, wie die soziale Klasse und das Geschlecht, eine Dimension der Einkommensverteilung. Generationen konstituieren sich, wie Karl Mannheim am Beginn der modernen Generationenforschung betonte, ebenso wie Klassen durch das „Phänomen der verwandten Lagerung der Menschen im sozialen Raume“.19 Im Unterschied zur Klasse und zum Geschlecht hat die Generation keine ständige Mitgliedschaft. Im Laufe ihres Lebens ziehen die Menschen, sozialen Nomaden gleich, von einer Generation zur anderen. Die Einkommensverteilung zwischen den Generationen kann verschiedene Einkommensarten wie Markteinkommen aus Erwerbstätigkeit oder Vermögen, die Eigenproduktion der Haushalte, öffentliche Transferleistungen und familiale Transferleistungen umfassen. Zu den familialen Transferleistungen gehört auch der Zeitaufwand, den Familienangehörige für die Versorgung und die Pflege von Kindern und von alten Menschen leisten.20 Das institutionelle Arrangement der Umverteilung, das hier als Generationenvertrag bezeichnet wird, besteht aus einer 17 P. B. Baltes / M. M. Baltes, Erfolgreiches Altern: Mehr Jahre und mehr Leben, in: Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie, 2 (1989). 18 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 3. 19 Karl Mannheim, Das Problem der Generationen (1928), in: Martin Kohli, Hg., Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt 1978, S. 40. 20 Deutscher Bundestag, Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, 28. März 2002. 14. Wahlperiode, Drucksache 14 / 8800, S. 37.

28

1. Kap.: Eine neue Dimension der Einkommensverteilung

Vielzahl von Regeln mit unterschiedlicher Verbindlichkeit. Einige Elemente des Generationenvertrages entsprechen dem Typ des klassischen Vertrages, in dem alle Vertragsbedingungen vollständig definiert sind. Dazu gehört etwa die individuelle Altersvorsorge durch eine Lebensversicherung. Dagegen entsprechen Arbeitsverträge oder die öffentliche Rentenversicherung eher dem Typ des unvollständigen oder relationalen Vertrages, der nicht alle Eventualitäten definiert, sondern in der Beziehung zwischen den Vertragsparteien ausgestaltet wird. So gewährt die öffentliche Rentenversicherung zwar grundsätzlich einen Rentenanspruch, aber die Höhe der Rente hängt von der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung ab. Andere Elemente des Generationenvertrages wie die Ehe oder die wechselseitige Solidarität zwischen Eltern und Kindern entsprechen noch ausgeprägter einem relationalen Vertrag, der persönlichkeitsgebunden ist, Veränderungen zulässt und in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien weiterentwickelt wird. Schließlich gibt es im Generationenvertrag nicht-vertragliche freiwillige Elemente wie die Erwartung auf emotionale Zuwendung.21 Die Notwendigkeit einer intergenerativen Umverteilung von Ressourcen ist zeitlos. Das konkrete Arrangement der Produktion und intergenerativen Verteilung von Ressourcen unterlag aber historischem Wandel. In der historischen Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse folgte auf den traditionellen Generationenvertrag der bürgerliche Generationenvertrag und schließlich der moderne Generationenvertrag.

2. Der traditionelle Generationenvertrag Die längste Zeit in der Geschichte beruhte der Generationenvertrag auf der Familie, die sowohl Lebensgemeinschaft, als auch Produktionsgemeinschaft war. Die Angehörigen eines Haushalts wirtschafteten im Familienbetrieb gemeinsam. Es war nicht üblich und wäre auch nicht möglich gewesen, den Mitgliedern einen individuellen Arbeitsertrag zuzuordnen. Aus den Erträgen der gemeinsamen Wirtschaft wurden alle versorgt, die Kinder und Jugendlichen, die voll arbeitsfähigen Erwachsenen, die Kranken und die Alten. Die engen persönlichen Beziehungen, die zwischen den Familienmitgliedern bestanden, und die lange Dauer der Bindungen begünstigten die Solidarität zwischen den Familienmitgliedern. Die wechselseitige Unterstützung zwischen Eltern und Kindern war ein moralisches Gebot, aber auch eine rechtliche Norm. Nach dem Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 sollten die Eltern „für standesgemäßigen Unterhalt und Erziehung der Kinder mit vereinigten Kräften Sorge tragen“.22 Kinder waren verpflichtet, „die Aeltern in Unglück und Dürftigkeit nach ihren Kräften und Vermögen zu unterstüt21 Rudolf Richter / Eirik G. Furubotn, Neue Institutionenökonomik, Tübingen 1999, S. 155 – 160. 22 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Zweiter Teil, Neunter Titel, § 1.

II. Verteilungsmodelle

29

zen“.23 Im bäuerlichen Milieu hielten sich Elemente des traditionellen Generationenvertrages noch bis in das zwanzigste Jahrhundert. Oswald von Nell-Breuning bemerkte in den sechziger Jahren, die Umverteilung zwischen den Generationen sei bis vor nicht langer Zeit kaum in das Bewusstsein der Menschen getreten, denn sie geschah „sozusagen selbstverständlich im Rahmen der Familie“.24 In der Krise der spätfeudalen Gesellschaft entwickelte sich ein Widerspruch zwischen dem Ideal der Familienökonomie und der Realität einer zunehmenden Lohnabhängigkeit. Im Gegensatz zu dem Ideal der Selbständigkeit lebte zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts schon ein großer Teil der Bevölkerung von abhängiger Arbeit. Noch ehe sich die kapitalistischen Produktionsweise allgemein durchsetzte, beruhte daher in vielen Fällen das Lebenseinkommen auf einer individuellen Erwerbstätigkeit.25 Familiale Solidarität sollte aber auch dann geübt werden, wenn sie nicht durch die Weitergabe eines Familienbetriebes gestützt wurde. Der fröhliche Landmann in Hebels Erzählung ist nicht ein selbständiger Landwirt, sondern ein Landarbeiter. Außerhalb der Familie war im traditionellen Generationenvertrag wenig Unterstützung zu erwarten. In Notfällen sollte die Armenfürsorge Hilfe gewähren. Sie richtete sich an alle Armen, unabhängig von den Ursachen ihrer Not. Implizit war in der Armenhilfe aber eine intergenerative Umverteilung enthalten, da bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders stark von Armut betroffen waren. In einigen Berufen gab es Transferleistungen durch staatliche Pensionen, die Knappschaften des Bergbaus und betriebliche Unterstützungskassen. Zwischen der privaten Solidarität der Familie und den öffentlichen Transferleistungen der Armenpolitik gab es im traditionellen Generationenvertrag nur noch die ungewisse Hoffnung auf die Fürsorge der Grundherrschaft, auf kirchliche Unterstützung, auf die Hilfe von Zünften oder Korporationen, oder schließlich auf private Mildtätigkeit.26

3. Der bürgerliche Generationenvertrag Die Industrialisierung führte zu einer institutionellen Differenzierung von Beruf und Familie. Die marktorientierte Arbeit wanderte in die Fabriken und Kontore ab. Statt des gemeinsam erwirtschafteten Familieneinkommens bildeten die individuellen Markteinkommen aus Erwerbstätigkeit oder Vermögen die Grundlage des Lebenseinkommens. In der Familie blieben die Hausarbeit, und vor allem die Betreuung und Pflege der Kinder und der Alten. Die Arbeitsteilung zwischen Beruf Allgemeines Landrecht (wie Anm. 22). Zweiter Teil, Erster Titel, § 63. Oswald von Nell-Breuning, Umverteilung – intertemporär oder interpersonal? (1966), in: Ders., Aktuelle Fragen der Gesellschaftspolitik, Köln 1970, S. 46. 25 Jürgen Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1990. 26 Christoph Sachße / Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, 3 Bde., Stuttgart 1988 – 1998, Bd. 1, S. 125 – 130. 23 24

30

1. Kap.: Eine neue Dimension der Einkommensverteilung

und Familie wurde im bürgerlichen Generationenvertrag geschlechtsspezifisch definiert. Die Erwerbstätigkeit galt als männliche Aufgabe, die Familientätigkeit als weibliche Aufgabe. Dass Frauen völlig auf eine Erwerbstätigkeit verzichteten, war die Ausnahme. Frauen waren aber eher als Männer bereit, ihre Erwerbstätigkeit der Familie unterzuordnen. Alice Salomon hat diesen Unterschied in den Lebensperspektiven kommentiert: „An die Stelle der Arbeitsgemeinschaft früherer Zeiten ist die Arbeitsteilung getreten. Der Mann steht im Beruf, die Frau schafft in der Regel im Haushalt. Trägt sie durch Erwerbsarbeit zum Unterhalt bei, so geschieht das in einer Weise, die einen Teil ihrer Kräfte für Familienaufgaben frei lässt“.27 Die Bedeutung, die der Familientätigkeit im bürgerlichen Generationenvertrag zukam, wurde lange Zeit unterschätzt. Im neunzehnten Jahrhundert und im frühen zwanzigsten Jahrhundert galt die bürgerliche Familie nur als Konsumgemeinschaft. Die Entwicklung der Hauswirtschaft gehe dahin, bemerkte der Wirtschaftswissenschaftler Karl Bücher im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert, „dass sich das Haus aller produktiven Elemente entledigt und sich nach und nach auf die Konsumtion allein beschränkt“.28 Das haben auch spätere Generationen von Ökonomen noch so gesehen. Erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert wurde anerkannt, dass die Familie auch im bürgerlichen Generationenvertrag Gebrauchswerte schafft, die zwar nicht als Tauschwerte auf dem Markt erscheinen, dennoch aber für den Fortbestand der Gesellschaft unverzichtbar sind.29 Mit der institutionellen Trennung von Beruf und Familie war eine Polarisierung der Wertsysteme verbunden. Der Markt war die Welt des Eigennutzes. Wir erwarten unser Abendessen nicht von der Wohltätigkeit des Fleischers, des Brauers oder des Bäckers, schrieb Adam Smith, sondern von ihrem eigenen Interesse. Niemand als ein Bettler möchte von der Mildtätigkeit seiner Mitmenschen abhängen. Und auch der Bettler lebt nicht völlig außerhalb der Sphäre des Eigennutzes, fügte Smith hinzu, denn mit dem Geld, das er bekommt, sorgt er auf dem Markt für seine Bedürfnisse wie jeder andere auch.30 Nach der liberalen Theorie förderte in der kapitalistischen Marktwirtschaft der Eigennutz, gebändigt durch die Konkurrenz, das allgemeine Wohl. Zugleich wusste Adam Smith aber auch, dass das Marktprinzip der Ergänzung durch das Solidaritätsprinzip bedurfte, um die Kontinuität des Lebenseinkommens zu gewährleisten. Kinder hängen von der Fürsorge der Eltern Alice Salomon / Marie Baum, Das Familienleben in der Gegenwart, Berlin 1930, S. 18. Karl Bücher, Einkommensverhältnisse der Leipziger Handwerker, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland, Bd. 6. Schriften des Vereins für Socialpolitik 67, Leipzig 1897, S. 23. 29 Helga Schmucker, Über die Hälfte des Volkseinkommens geht durch die Hände der Frau (1961), in: Helga Schmucker, Studien zur empirischen Haushalts- und Verbrauchsforschung, Berlin 1980. 30 Adam Smith, An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations (1776), 2 Bde., Oxford 1976, Bd. 1, S. 26 – 27. 27 28

II. Verteilungsmodelle

31

ab, schrieb Smith 1759 in der „Theory of Moral Sentiments“, und zu einer humanen Gesellschaft gehört es, dass sie Achtung und Unterstützung aufbringt für die Schwäche des Alters.31 Die Gesellschaft kann nicht allein auf dem Eigennutz bestehen, sondern bedarf der Solidarität, die in der Familie gepflegt wird. Neben dem Markt und der Familie entwickelte sich seit dem neunzehnten Jahrhundert die staatliche Sozialpolitik zu einem wichtigen Instrument der Einkommensverteilung. Die politischen Akteure nutzten sozialpolitische Angebote als Mittel, um Einfluss zu gewinnen und Loyalität zu stärken.32 Bei der Begründung der modernen Sozialpolitik galten die sozialen Klassen als die maßgeblichen Verteilungsgruppen. Die sekundäre Einkommensverteilung enthielt aber von Anfang an auch eine Umverteilung zwischen den Generationen. Die generationsspezifischen Leistungen, insbesondere die öffentliche Rentenversicherung und die staatlichen Pensionssysteme, machten bereits am Ende des Kaiserreichs einen erheblichen Teil der gesamten Sozialleistungen aus. Mit der Expansion des Sozialstaats nahm der Umfang der generationsspezifischen Leistungen zu. Neben den privaten Generationenvertrag, der von den Unternehmen und den Familien getragen wurde, trat ein öffentlicher Generationenvertrag von wachsender Bedeutung. Zum öffentlichen Generationenvertrag gehörten vor allem die öffentliche Rentenversicherung, die staatlichen Pensionssysteme und die Familienförderung, aber auch die umfangreichen altersspezifischen und familienspezifischen Leistungen der Unfallversicherung, der öffentlichen Krankenversicherung, der Sozialhilfe und anderer Transfersysteme. Neben den öffentlichen Transfereinkommen trug die unterschiedliche Beanspruchung öffentlicher Dienstleistungen zur Umverteilung zwischen den Generationen bei. Das Bildungswesen wurde aus allgemeinen Steuermitteln finanziert, wurde aber im wesentlichen von der Jugendgeneration in Anspruch genommen. Auch die staatlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen enthielten ein Element der intergenerativen Umverteilung, da die ältere Generation das Gesundheitswesen stark beanspruchte.33

4. Der moderne Generationenvertrag Aus der Kritik der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ging der moderne Generationenvertrag hervor, der auf der Gleichberechtigung und gleichen Verantwortung von Frauen und Männern im Beruf und in der Familie beruhen sollte. In Deutschland wurde der moderne Generationenvertrag zuerst in der Deutschen Demokratischen Republik als gesellschaftspolitisches Leitbild formuliert. Seit den Adam Smith, The theory of moral sentiments (1759), Oxford 1976, S. 219. Peter Bernholz / Friedrich Breyer, Ökonomische Theorie der Politik. Grundlagen der Politischen Ökonomie, Bd. 2, Tübingen 1994. 33 Johannes Frerich / Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 3 Bde., München 1996; Volker Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880 – 1980, Frankfurt am Main1983. 31 32

32

1. Kap.: Eine neue Dimension der Einkommensverteilung

siebziger Jahren setzte sich der moderne Generationenvertrag auch in der Bundesrepublik Deutschland durch, und nach der Wiedervereinigung galt er unter veränderten Bedingungen in ganz Deutschland als gesellschaftliches Leitbild. Der Kern des modernen Generationenvertrages war ein neues Arrangement von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit. In der Deutschen Demokratischen Republik wurde von Anfang an die Gleichberechtigung und gleiche Verantwortung von Frauen und Männern im Beruf proklamiert. In der Realität gab es Fortschritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung, es blieben aber auch Defizite. Frauen verdienten im Durchschnitt weniger als Männer, und sie waren in Leitungspositionen unterrepräsentiert.34 Trotz der Annäherung der Erwerbsbiographien von Frauen und Männern galt die Familientätigkeit nach wie vor als eine Aufgabe, die von den Frauen übernommen werden sollte. Nachdem die doppelte Belastung der Frauen zu einer sinkenden Attraktivität der Familie führte, wurde seit den siebziger Jahren die Familienförderung ausgebaut, und im Schnittpunkt von Arbeitsmarktpolitik und Familienpolitik wurde eine neue Vereinbarkeitspolitik entwickelt, die bessere Bedingungen schaffen sollte, Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit zu verbinden.35 Die Differenzierung der Einkommen in Erwerbseinkommen, öffentliche Transferleistungen und private Transferleistungen blieb in der staatssozialistischen Gesellschaft erhalten. Die öffentlichen Transfersysteme wurden an die neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen angepasst. Die Sozialversicherung behielt ihre institutionelle Eigenständigkeit, wurde aber der staatlichen Planung und Kontrolle unterstellt. Die staatlichen Transferleistungen, vor allem die Familienförderung und die Wohnungsförderung, gewannen erheblich an Bedeutung. Die Fürsorge passte nicht in das Programm der planmäßigen Lenkung der Volkswirtschaft. Sie sollte durch den Ausbau der Sozialversicherung und durch die Subventionierung des Grundbedarfs überflüssig werden.36 In der Bundesrepublik Deutschland wurde der Übergang zum modernen Generationenvertrag nicht durch staatliche Verfügung, sondern durch einen Wandel der individuellen Lebensentwürfe und Lebenswege eingeleitet. Seit den siebziger Jahren nahm die Erwerbsbeteiligung der Frauen zu. Die Reform des Familienrechts bestätigte die neuen Geschlechterbeziehungen. Auch die Arbeitsmarktpolitik folgte der Realität einer steigenden Frauenerwerbstätigkeit.37 Die geschlechtsspe34 Hildegard Maria Nickel, „Mitgestalterinnen des Sozialismus“ – Frauenarbeit in der DDR, in: Gisela Helwig / Hildegard Maria Nickel, Hg., Frauen in Deutschland 1945 – 1992, Berlin 1993; Heike Trappe, Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995. 35 Christine Amend-Wegmann, Vereinbarkeitspolitik in Deutschland, Hamburg 2003, S. 258 – 264. 36 Marcel Boldorf, Sozialfürsorge in der SBZ / DDR 1945 – 1953. Ursachen, Ausmaß und Bewältigung der Nachkriegsarmmut, Stuttgart 1998. 37 Bundesanstalt für Arbeit, Überlegungen zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik, Nürnberg 1974.

III. Die Gestaltung des Lebenseinkommens

33

zifische Arbeitsteilung zwischen Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit wurde in der westdeutschen Gesellschaft seit den siebziger Jahren durch das neue Leitbild der Gleichberechtigung und gleichen Verantwortung in Beruf und Familie abgelöst. Frauen und Männer sollten in ihrem Leben Beruf und Familie verbinden können.38 Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit waren aber, wie sich schon in der staatssozialistischen Gesellschaft gezeigt hatte, schwer zu vereinbaren. Die Arbeitsmarktkrise, die seit den siebziger Jahren eskalierte, machte es noch schwieriger, Beruf und Familie zu verbinden, da die Anforderungen an die Mobilität, Leistungsbereitschaft und zeitliche Belastbarkeit der Erwerbstätigen stiegen.39 Die schwierige Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit und die wirtschaftliche Benachteiligung der Familien hatten zur Folge, dass die Attraktivität der Familie als Lebensform zurückging.40 Die Wiedervereinigung führte nicht zu einer Synthese zwischen den konträren Wirtschaftssystemen und Gesellschaftssystemen in Westdeutschland und Ostdeutschland, sondern verlief als Integration der ostdeutschen Bevölkerung in das westdeutsche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Damit zerfiel auch das komplizierte Netzwerk von arbeitsmarktpolitischen und familienpolitischen Regelungen, das den asymmetrischen Standardlebenslauf ostdeutscher Prägung geformt und getragen hatte.

III. Die Gestaltung des Lebenseinkommens 1. Der Strukturwandel des Lebenslaufs Da das Ziel des Generationenvertrages die Stabilisierung des Lebenseinkommens ist, konkretisiert die intergenerative Einkommensverteilung sich für das Individuum in der Struktur des Lebenslaufs. Die biographische Wanderung von der Jugend als Ausbildungsphase über die mittlere Generation, die im Beruf oder in der Familie tätig ist, bis zur Altersgeneration orientiert sich in den verschiedenen Modellen des Generationenvertrages an einem Standardlebenslauf, in dem individuelle Lebensentwürfe und gesellschaftliche Normen konvergieren. Durch die Institutionalisierung des Lebenslaufs erhält die Vielzahl der individuellen Lebensentscheidungen eine Richtung, die den historischen Generationenvertrag als ein soziales System von langer Dauer konstituiert. In den Sozialwissenschaften ist insbesondere die Bedeutung der Alterszäsuren für die Strukturierung des 38 Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Vierter Familienbe-richt (wie Anm. 12), S. 161. 39 Amend-Wegmann, Vereinbarkeitspolitik (wie Anm. 35), S. 264 – 270. 40 Hans Bertram, Familien leben. Neue Wege zur flexiblen Gestaltung von Lebenszeit, Arbeitszeit und Familienzeit, Gütersloh 1997; Franz-Xaver Kaufmann, Zukunft der Familie im vereinten Deutschland. Gesellschaftliche und politische Bedingungen, München 1995; Rüdiger Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, Opladen 1991.

3 Hardach

34

1. Kap.: Eine neue Dimension der Einkommensverteilung

Lebenslaufs betont worden.41 Neben dem Alter prägen aber auch andere Determinanten, insbesondere die Klasse und das Geschlecht, die Struktur des Lebenslaufs. Im traditionellen Generationenvertrag wurden männliche und weibliche Lebenswege komplementär definiert. Sie ergänzten sich in der Familie, in der das Zusammenleben von Eltern und Kindern institutionalisiert war, die aber auch das Zentrum der Arbeitsorganisation bildete. Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit waren noch nicht im modernen Verständnis getrennt, sondern gingen ineinander über. Die Komplementarität der Lebenswege bedeutete, dass die Familienmitglieder sich in einer innerfamilialen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ergänzten. Zu den typisch männlichen Aufgaben gehörten die nach außen gerichteten Tätigkeiten, zu den typisch weiblichen Aufgaben die Haushaltsführung und die Betreuung von Kindern oder Alten. Der ideale Lebenszyklus des traditionellen Generationenvertrages war eingebettet in die Kontinuität der Generationen. Die Menschen wuchsen in der Herkunftsfamilie auf, sie heirateten, um eine neue Familie zu begründen, und sie beschlossen ihr Leben in der Familie der erwachsen gewordenen Kinder. Das Leben verlief in engen Bahnen, die durch Familie und Stand vorgegeben waren. Kinder wurden in einen Stand geboren, in dem sie ihr ganzes Leben verbringen sollten. Noch fünf Jahre nach der Französischen Revolution teilte das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 die Gesellschaft in drei Stände, Adel, Bauern und Bürger. Die Arbeiter galten nicht als eigener Stand, sondern wurden auf dem Land dem Bauernstand, in der Stadt dem Bürgerstand zugeordnet. Dass der Adel exklusiv war, verstand sich von selbst. Aber auch die anderen Stände sollten in sich geschlossen bleiben. Die Kinder aus Bauernfamilien sollten ohne besondere Erlaubnis keinen bürgerlichen Beruf ergreifen, und die Kinder aus Bürgerfamilien durften keine Bauernstelle übernehmen.42 Die Alterszäsuren waren im traditionellen Generationenvertrag wenig ausgeprägt. Die Lebenswege von Adligen, Bauern und Bürgern wiesen unterschiedliche Strukturen auf. Kinder traten in der Landwirtschaft oder in der Heimindustrie schon in der ersten Lebensdekade in die Arbeit oder Berufsausbildung ein, im Handwerk in der zweiten Dekade, ein Universitätsstudium als Voraussetzung für den Eintritt in das Bildungsbürgertum zog sich in die dritte Dekade. Im Alter bestimmte nicht eine Altersgrenze, sondern die individuelle Arbeitsfähigkeit oder 41 Martin Kohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37 (1985); Martin Kohli, Gesellschaftszeit und Lebenszeit. Der Lebenslauf im Strukturwandel der Moderne, in: Johannes Berger, Hg., Die Moderne – Kontinuitäten und Wandel. Soziale Welt, Sonderheft 4, Göttingen 1986; Hans-Joachim von Kondratowitz, Zum historischen Konstitutionsprozeß von „Altersgrenzen“, in: Christoph Conrad / Hans-Joachim von Kondratowitz, Hg., Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters, Berlin 1983; Karl Ulrich Mayer, Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel, in: Johann Behrens / Wolfgang Voges, Hg., Kritische Übergänge. Statuspassagen und sozialpolitische Institutionalisierung, Frankfurt am Main 1996. 42 Allgemeines Landrecht (wie Anm. 22). Zweiter Teil, Erster Titel, § 64.

III. Die Gestaltung des Lebenseinkommens

35

auch die Übergabe des Familienbetriebes an die nachfolgende Generation das Ende des Arbeitslebens. Im bürgerlichen Generationenvertrag wurde der Lebenslauf aus der Tradition der Familie gelöst und als individuelles Projekt betrachtet. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung des bürgerlichen Generationenvertrages begründete einen doppelten Standardlebenslauf. Der erwerbsorientierte männliche Lebenslauf teilte sich in eine Ausbildungsphase, eine lange Erwerbsphase in der Mitte des Lebens und eine erwerbsfreie Phase am Ende des Lebens. Der weibliche Lebenslauf sollte durch den Familienzyklus bestimmt werden. Die wesentlichen Lebensabschnitte waren die Jugendphase, eine kurze Erwerbsphase, die Heirat und die Familienphase. Die ältere Generation kehrte, nachdem die Kinder sich selbständig gemacht hatten, zur Paarbeziehung zurück.43 Der Ehemann, der durch die Erwerbstätigkeit zum Teilzeitfamilienmitglied geworden war, trat wieder als Vollzeitmitglied in die Paarbeziehung ein. Die Rollendefinition stand in der postfamilialen Altersphase neu zur Disposition.44 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen Beruf und Familie, die dem doppelten Standardlebenslauf zu Grunde lag, wurde durch die Ideologie der „Geschlechtscharaktere“ bekräftigt, die im späten achtzehnten Jahrhundert aufkam. Sie umfasste einen Komplex von psychologischen Zuschreibungen, Definitionen und Verhaltensnormen, mit denen die unterschiedlichen Lebenswege von Frauen und Männern begründet werden sollten. Männliches Handeln richtete sich auf die Welt, weibliches Handeln auf das Heim. Männer waren selbständig, erwerbend und gebend, Frauen dagegen abhängig, bewahrend und empfangend. Männer zeichneten sich durch Würde, Geist, Vernunft und Verstand aus, Frauen durch Anmut, Gefühl, Empfindung und Empfänglichkeit. Die Ideologie der Geschlechtscharaktere hatte ein erhebliches Beharrungsvermögen. Es handelte sich nach Karin Hausen „um ein auffallend einheitliches, erstaunlich langlebiges und offenbar auch weit verbreitetes Aussagesystem der neueren Zeit“.45 In der Diskussion zur These der Geschlechtscharaktere wurde darauf hingewiesen, dass das dualistische Denken über Frauen und Männer nicht neu war, sondern in der Geschichte eine lange Tradition hatte.46 Ein Wandel lag aber darin, dass die äußere Regulierung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die in der ständischen Gesellschaft herrschte, in der bürgerlichen Gesellschaft durch die Ideologie der „Geschlechtscharaktere“ internalisiert wurde. 43 Norbert E. Schneider, Familie und private Lebensführung in West- und Ostdeutschland. Eine vergleichende Analyse des Familienlebens 1970 – 1992, Stuttgart 1994. 44 Claudia Gather, Konstruktionen von Geschlechterverhältnissen. Machtstrukturen und Arbeitsteilung bei Paaren im Übergang in den Ruhestand, Berlin 1996. 45 Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze, Hg., Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 368, 375. 46 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 101 – 102.

3*

36

1. Kap.: Eine neue Dimension der Einkommensverteilung

Die allgemeinen Alterszäsuren gewannen im bürgerlichen Lebenslauf an Bedeutung. Der Staat, der mit der Bildungspolitik und der Sozialpolitik zunehmend in die individuellen Lebenswege eingriff, hatte wesentlichen Einfluss auf die Durchsetzung allgemeiner Alterszäsuren. Franz-Xaver Kaufmann hat das Generationenmodell der Industriegesellschaft daher als eine „staatliche Konstituierung von Altersgruppen“ bezeichnet.47 Lutz Leisering bemerkt, der Sozialstaat habe Generationenverhältnisse neuer Art konstituiert, „einen aus der Sicht des Einzelnen anonymen makrostrukturellen Zusammenhang zwischen der jungen, der alten und der mittleren Generation eines Landes“.48 Der moderne Generationenvertrag sollte in der Deutschen Demokratischen Republik auf einem gemeinsamen partnerschaftlichen Lebensmodell beruhen. Da die Familientätigkeit nach wie vor als weibliche Aufgabe galt, blieben aber trotz der zunehmenden Erwerbsorientierung der Frauen geschlechtsspezifische Differenzen im Lebenslauf bestehen. Die Modernisierung der Lebenswege von Frauen und Männern stellte sich im Alltag als ein asymmetrischer Standardlebenslauf dar.49 In der postindustriellen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland gab es kein einheitliches Lebensmodell. Der moderne Generationenvertrag stellte sich im gesellschaftlichen Alltag als ein Spektrum unterschiedlicher Lebensformen dar, die gleiche Anerkennung genossen. Der partnerschaftliche Lebenslauf, der Berufstätigkeit und Familientätigkeit vereinigte, konkurrierte mit verschiedenen anderen alten und neuen Lebenslaufmodellen. Dazu gehörten der asymmetrische Lebenslauf, in dem die Frauen zusätzlich zu ihrer Berufstätigkeit die Familientätigkeit übernahmen, der doppelte Standardlebenslauf, der auf der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zwischen Beruf und Familie beruhte, alleinerziehende Mütter oder Väter mit unterschiedlicher Verteilung der Lebenszeit auf Beruf und Familie, und vor allem auch nichtfamiliale Lebenswege. Nach der Wiedervereinigung setzte sich die Pluralisierung der Lebenswege, die in der westdeutschen Gesellschaft in den siebziger Jahren begonnen hatte, als gesamtdeutsches Leitbild durch. Die Institutionalisierung des Lebenslaufs schränkt die individuellen Optionen der Lebensgestaltung ein, sie kann aber auch als Entlastung interpretiert werden.50 In der Mitte des Romans fällt Ulrich, dem „Mann ohne Eigenschaften“, auf einem 47 Franz-Xaver Kaufmann, Generationenbeziehungen und Generationenverhältnisse im Wohlfahrtsstaat, in: Kurt Lüscher / Franz Schultheis, Hg., Generationenbeziehungen in „postmodernen“ Gesellschaften, Konstanz 1993, S. 100. 48 Lutz Leisering, Sozialstaat und demographischer Wandel. Wechselwirkungen, Generationenverhältnisse, politisch-institutionelle Steuerung, Frankfurt am Main 1992, S. 44. 49 Johannes Huinink / Karl Ulrich Mayer / Heike Trappe, Staatliche Lenkung und individuelle Karrierechancen: Bildungs- und Berufsverläufe, in: Johannes Huinink / Karl Ulrich Mayer, Hg., Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, Berlin 1995; Sibylle Meyer / Eva Schulze, Familie im Umbruch. Zur Lage der Familien in der ehemaligen DDR, Stuttgart 1992. 50 Bernhard Kalicki, Lebensläufe und Selbstbilder. Die Normalbiographie als psychologisches Regulativ, Opladen 1996.

III. Die Gestaltung des Lebenseinkommens

37

einsamen Spaziergang ein, „daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung!“ Robert Musil meinte, dass die einfache Reihenfolge, in der die überwältigende Mannigfaltigkeit des Lebens abgebildet wird, eine beruhigende Wirkung hat. Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler, „sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, dass ihr Leben einen ,Lauf‘ habe, irgendwie im Chaos geborgen“.51 Die Institutionalisierung des Lebenslaufs ordnet das Nacheinander der Tatsachen zu einer kohärenten Erzählung.

2. Periodeneinkommen und Lebenseinkommen Eigentlich sollte der Königssohn ein König werden. Als er acht Jahre alt war, wurde diese Berufsperspektive aber durch einen Zufall unterbrochen. Der königliche Vater hielt einen alten Mann gefangen. Der Mann hatte längere Zeit in einem Teich gelebt, und weil er deshalb etwas rostig aussah, wurde er der „Eisenhans“ genannt. Der Prinz half dem alten Mann zu entkommen und verließ daraufhin das Schloss. Zunächst wurde der Junge ein Brunnenwärter. In dieser Tätigkeit bewährte er sich aber nicht, so dass er noch während der Probezeit entlassen wurde. Er ging ziellos durch die Welt, bis er in eine große Stadt kam. Dort machte er die Erfahrung, die heutzutage nicht ungewöhnlich ist, dass die Stochastizität seiner Biographie mit der Stochastizität des Arbeitsmarktes zusammentraf. Er suchte Arbeit, „aber er konnte keine finden und hatte auch nichts erlernt, womit er sich hätte forthelfen können“. Endlich fand der ehemalige Prinz eine Beschäftigung als Küchenjunge, mochte sich aber nicht den Arbeitbedingungen fügen und wurde schließlich Gärtnergehilfe. Durch die Hilfe eines einflussreichen älteren Freundes wandte sich das Schicksal des Gärtnergehilfen zum Besseren. Er wurde ein bewunderter Ritter, heiratete eine Prinzessin und hatte nunmehr Aussichten, zu dem Königreich seiner inzwischen wiedergefundenen Eltern noch ein weiteres Königreich zu erben. Der einflussreiche Freund war der Eisenhans, dem der Königssohn einst geholfen hatte. Er war, wie sich am Ende herausstellt, kein wilder Mann, sondern ein verzauberter König und wurde durch die Zuwendung des Prinzen erlöst.52 Die intergenerative Einkommensverteilung, die in den verschiedenen Modellen des Generationenvertrages institutionalisiert ist, definiert die Periodeneinkommen. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechung werden die Periodeneinkommen zumeist auf ein Jahr bezogen. Das Lebenseinkommen ist die Summe der Periodeneinkommen, es wird in der individuellen Wanderung durch die Generationen realisiert. Wie das Märchen vom Königssohn und dem Eisenhans zeigt, kann das Periodeneinkommen im Laufe des Lebens große Schwankungen aufweisen. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (1930), Hamburg 1952, S. 665. Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen (1812), 3 Bde., Frankfurt am Main 1974, Bd. 3, S. 30 – 41. 51 52

38

1. Kap.: Eine neue Dimension der Einkommensverteilung

Der verwöhnte Königssohn muss sich als Brunnenwärter, Küchenjunge und Gärtnergehilfe bewähren, bevor er wieder in die gehobene Einkommensgruppe eines Kronprinzen aufsteigen darf. Am Ende fügen sich im Leben des Königssohns die unterschiedlichen Periodeneinkommen zu einem erfreulichen Lebenseinkommen zusammen. Der Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Mackenroth betonte 1952 die Priorität der Periodeneinkommen. Er wies darauf hin, dass das aktuelle Sozialprodukt die Quelle aller sozialpolitischen Transferleistungen ist. Es gibt keine intertemporale Lastenverschiebung. Die „Mackenroth-These“ sorgte für Überraschung, rückte aber doch nur die Sozialpolitik in eine, damals in der westdeutschen Wirtschaftswissenschaft allerdings noch nicht selbstverständliche, makroökonomische Perspektive.53 Aus der Priorität der aktuellen Einkommen folgt nicht, dass die einzelnen Periodeneinkommen unverbunden aufeinander folgen. Werden Teile des aktuellen Einkommens gespart und investiert, so können sie die Produktivität und das Einkommen künftiger Perioden steigern. Das Sozialprodukt, aus dem die Umverteilung erwirtschaftet wird, ist dann entsprechend höher. Zu den Investitionen, die eine Verbindung zwischen den Periodeneinkommen schaffen, können das ökonomische Kapital, das kulturelle Kapital einer Ausbildung oder das soziale Kapital solidarischer Beziehungen gehören. Die Geschichte vom Eisenhans zeigt anschaulich die Bedeutung einer sozialen Investition. Indem der Prinz dem alten Mann hilft, erwirbt er ein soziales Kapital, das ihm in einer späteren Lebenssituation nützt. Im traditionellen Generationenvertrag sollen, wie Hebel in der Geschichte vom fröhlichen Landmann zeigt, die Investitionen in das soziale Kapital der Solidarität die Grundlage der Alterssicherung sein. Im bürgerlichen Generationenvertrag gilt die individuelle Vermögensbildung, die der Logik des kapitalistischen Systems entspricht, als die ideale Altersvorsorge. Seit der Entwicklung der modernen Sozialpolitik soll die öffentliche Solidarität die Familie und den Kapitalmarkt ergänzen. Nachdem im modernen Generationenvertrag der Sozialstaat an politische Grenzen stößt, wird neuerdings wieder das aus dem neunzehnten Jahrhundert bekannte Modell der kapitalgedeckten Vorsorge ins Schaufenster gestellt. In den Erbschaften wird regelmäßig Kapital von einer Generation zur nächsten tradiert. Die Alterssicherung erfordert langfristige Planungen, die weit über den üblichen Zeithorizont wirtschaftlicher Transaktionen hinausgehen. Wer im Alter familiale Solidarität erwartet, muss sich in jungen Jahren für eine Familie entscheiden. Der Zugang zu den institutionalisierten Alterssicherungssystemen der öffentlichen Rentenversicherung, der staatlichen Pensionssysteme, der berufsständischen Versorgung oder der betrieblichen Alterssicherung wird im allgemeinen schon am Beginn der Erwerbstätigkeit festgelegt. Eine Lebensversicherung muss, wenn sie mit erschwinglichen Beiträgen eine vernünftige Altersrente gewährleisten soll, eine 53 Gerhard Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, in: Verhandlungen auf der Sondertagung des Vereins für Sozialpolitik – Gesellschaftswissenschaften in Berlin 1952, Berlin 1952, S. 45 – 47.

III. Die Gestaltung des Lebenseinkommens

39

lange Laufzeit haben.54 Die besondere Schwierigkeit rationaler Entscheidungen mit einem sehr langen Zeithorizont liegt darin, dass sich die individuellen Präferenzen ändern können, dass die Zeitumstände wechseln und dass unerwartete Risiken auftreten können. Die optimale Altersvorsorge soll verlässlich sein, sie soll eine günstige Relation von Aufwand und Ertrag versprechen, und sie soll flexibel genug sein, um sich unvorhergesehenen Entwicklungen anzupassen. Das ist nicht widerspruchsfrei. In der Terminologie der Institutionenökonomik könnte man sagen, dass die Altersvorsorge die Verlässlichkeit eines klassischen Vertrages mit der Offenheit des relationalen Vertrages verbinden soll.55 Die Wirtschaft des Märchens ist statisch. Der Prinz gestaltet sein Lebenseinkommen in einer Welt, die weder wirtschaftliches Wachstum, noch Konjunkturschwankungen kennt. In der realen Welt hängt das Lebenseinkommen nicht nur von der relativen Verteilungsposition ab, die durch die Generation, die Klasse und das Geschlecht bestimmt wird, sondern auch von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. In der Feudalgesellschaft, die nur ein geringes wirtschaftliches Wachstum aufwies, nahm man im allgemeinen an, dass die Realeinkommen im Alter unter das Niveau sanken, das in der Phase der vollen Erwerbsfähigkeit erzielt wurde. In der kapitalistischen Gesellschaft kann das wirtschaftliche Wachstum dagegen den Einfluss der nachlassenden Handlungskompetenz auf das Einkommen kompensieren. Die Alterseinkommen sind im allgemeinen niedriger als die Löhne oder Gehälter, die vor dem Übergang in den Ruhestand verdient wurden, aber sie können höher sein als das Erwerbseinkommen, das in früheren Lebensjahren erzielt wurde.56 Die langfristige Dimension des Lebenseinkommens lässt sich mit zwei Beispielen aus der Geschichte der öffentlichen Rentenversicherung illustrieren. Als die neu gegründete öffentliche Rentenversicherung 1891 ihre ersten Renten auszahlte, reichten die Geburtsjahrgänge der Altersrentner, die mit siebzig Jahren einen Rentenanspruch erwarben, von 1795 bis 1821. Die ältesten Rentner hatten ihre Kindheit im Ancien Régime verbracht. Sie waren nach den Zeitumständen vielleicht schon als Kinder vor dem Zusammenbruch des alten Deutschen Reiches 1806 in das Arbeitsleben eingetreten, hatten die Not des Pauperismus erfahren und hatten vielleicht noch den Anstieg der Reallöhne mitbekommen. Im Alter wurden sie, 54 Anja C. Theis, Die deutsche Lebensversicherung als Alterssicherungsinstitution. Eine ökonomische Analyse, Baden-Baden 2000, S. 33 – 34. 55 Stephan Fasshauer, Das Alterssicherungssystem in Deutschland im Rahmen der Neuen Institutionenökonomie, Hamburg 2003; Richter / Furubotn, Neue Institutionenökonomik (wie Anm. 21), S. 155 – 160. 56 Winfried Schmähl, Lebenseinkommens- und Längsschnittanalysen. Methodische und empirische Fragen sowie ihre verteilungs- und sozialpolitische Bedeutung, in: Reinhard Tietz, Hg., Wert- und Präferenzsysteme in den Sozialwissenschaften, Berlin 1981; Winfried Schmähl, Historische Verlaufsanalysen in ihrer Bedeutung für die Sozialpolitik und die Gestalt von Lebensverdienstkurven, in: Christoph Conrad / Hans-Joachim von Kondratowitz, Hg., Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters, Berlin 1983.

40

1. Kap.: Eine neue Dimension der Einkommensverteilung

wie man hoffen möchte, von Familienangehörigen unterstützt, bis sie dann 1891 im Alter von 96 Jahren eine Rente erhielten.57 Hundert Jahre später stellte das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung nach der Rentenreform von 1989 den Modellrentner Herrn M. vor, um die nicht ganz leicht zu verstehende neue Rentenberechnung zu illustrieren. Herr M. war 1929 geboren. Er vollendete am 14. Juli 1992 sein 63. Lebensjahr und wollte ab 1. August 1992 eine Altersrente für langjährig Versicherte beziehen. Die dazu erforderlichen 35 Versicherungsjahre hatte er dann zurückgelegt. Nach der virtuellen Biographie begann Herr M. sein Berufsleben 1955 mit einem Monatsgehalt von 282 DM. Damit lag er zunächst unter dem Durchschnittsentgelt, aber schon nach wenigen Berufsjahren bezog er ein überdurchschnittliches Einkommen. Dank der Rentenreform, die bald nach dem Berufseintritt des Herrn M. durchgeführt wurde, wuchsen die Rentenansprüche mit dem Gehalt. Im August 1992 konnte Herr M. eine Rente von 1865 DM erwarten. Die Rente war zwar niedriger als das Monatsgehalt der späten Berufsjahre, aber sie war wesentlich höher als das Gehalt, das er am Beginn seiner Erwerbsbiographie bezogen hatte.58

57 Amtliche Nachrichten des Reichs-Versicherungsamtes. Invaliditäts- und Altersversicherung, 3 (1893), S. 21. 58 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Die Rente 92, Bonn 1992, S. 136 – 137.

Zweites Kapitel

Abschied von der alten Welt I. Komplementäre Lebenswege 1. Die Auflösung der Familienökonomie Der traditionelle Generationenvertrag ist die älteste und dauerhafteste Form intergenerativer Einkommensverteilung. Er ist nie ein systematisches Projekt gewesen, das von Regierungen, Religionsgemeinschaften oder Korporationen gestaltet worden wäre. Den Kern des traditionellen Generationenvertrages stellte die Kontinuität der Familie dar. Eltern sorgten für ihre Kinder und erwarteten, im Alter von ihren Kindern unterstützt zu werden. Die familiale Solidarität wurde durch ungeschriebene Traditionen, rechtliche Normen und religiöse Gebote bekräftigt. Sie wurde ökonomisch in der Regel durch die Kontinuität der Familienbetriebe gestützt. Der öffentliche Beitrag zur Stabilität des Generationenvertrages bestand vor allem in der rechtlichen Garantie der institutionellen Rahmenbedingungen, die im Feudalismus ein Teil der ständischen Ordnung waren. Die geringe Produktivität der vorkapitalistischen Wirtschaft setzte der Umverteilung zwischen den Generationen enge Grenzen. Die allgemeine Lebenserwartung war niedrig, und für die Mehrheit der Bevölkerung galt, dass die Kontinuität der Familien, auf der die Kontinuität der Gesellschaft beruhte, nur unter großen materiellen Opfern gewahrt werden konnte. Eine öffentliche Umverteilung fand im Spätfeudalismus durch das staatliche Bildungswesen und in begrenztem Umfang durch die Armenhilfe statt. Seit dem achtzehnten Jahrhundert führte in Deutschland die kapitalistische Entwicklung zur Auflösung des traditionellen Generationenvertrages. Das neue Arrangement der intergenerativen Einkommensverteilung beruhte auf der individuellen Lohnarbeit und der Kleinfamilie. Der Wandel der Generationenverhältnisse begann im Großbürgertum, in der Arbeiterklasse und in der neuen Mittelklasse, während in der alten Mittelklasse der selbständigen Bauern und Handwerker noch längere Zeit Elemente des traditionellen Generationenvertrages aufrechterhalten wurden. Die deutsche Gesellschaft hatte im neunzehnten Jahrhundert noch keine klaren politischen Konturen. Bis 1806 bestand noch das alte Deutsche Reich, das in zahlreiche große und kleine Territorien zersplittert war. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts gab es 157 weltliche Territorien, 80 geistliche Territorien und 51 Reichsstädte. Das Reich war nicht nur ein Herrschaftsverband, sondern hatte im Laufe seiner Geschichte eine soziale Identität gewonnen. Es war aber keine Gesellschaft

42

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

im modernen Sinne. In der Bevölkerung konkurrierte der Reichsgedanke mit der Zugehörigkeit zu einem der vielen Territorien, die weit stärker als die Reichsgewalt in die alltäglichen Lebensverhältnisse eingriffen. Die wichtigsten Territorien, Österreich und Preußen, wuchsen in der Frühen Neuzeit durch die Zufälligkeiten der Machtpolitik mit ihren östlichen Provinzen weit über die Grenzen des mittelalterlichen Deutschen Reiches hinaus. So gehörten zwar Lüttich, Prag und Triest zum Deutschen Reich, aber nicht Danzig und Königsberg. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, der kein Freund des Reisens war, ist nach den politischen Grenzen seiner Zeit nie in Deutschland gewesen.1 Als Folge des langen Europäischen Krieges von 1792 bis 1815 ging das alte Deutsche Reich unter, und zahlreiche kleine Territorien verloren ihre Selbständigkeit. 1815 wurde der Deutsche Bund gegründet, eine Förderation von 39 Einzelstaaten. Seine wichtigste Institution war der Bundestag in Frankfurt, ein ständiger Gesandtenkongress unter österreichischem Vorsitz. Der Deutsche Bund war ein Zusammenschluss von Regierungen, er definierte auch aus zeitgenössischer Perspektive nicht die deutsche Gesellschaft. Die östlichen Landesteile Österreichs und Preußens blieben außerhalb des Bundesgebietes. Schleswig-Holstein, das in Personalunion mit Dänemark verbunden war, lag mit dem Landesteil Holstein innerhalb, mit dem Landesteil Schleswig außerhalb der Bundesgrenzen. Im Westen gehörten zum Deutschen Bund das Großherzogtum Luxemburg und das nach der Unabhängigkeit Belgiens 1839 neu geschaffene Herzogtum Limburg mit der Hauptstadt Maastricht, die in Personalunion mit den Niederlanden verbunden waren. Die Diskussionen in der Revolution von 1848 – 49 über eine deutsche Verfassung zeigen, dass es auch für die Zeitgenossen ein fast unlösbares Problem war, allgemein akzeptierte Grenzen einer deutschen Gesellschaft zu finden. Der Bürgerkrieg von 1866 führte zur Auflösung des Deutschen Bundes und zur Reichsgründung von 1871.2 2. Demographischer Wandel Unzulängliche Ernährung, schlechte Wohnverhältnisse und unzureichende medizinische Kenntnisse verkürzten in der feudalen Gesellschaft die Lebenserwartung. Besonders die frühe Kindheit war eine gefährdete Lebensphase. Nur wenige Menschen erreichten ein hohes Alter. Die Geburtenzahlen waren in Deutschland zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hoch, und unter dem Einfluss der Industriellen Revolution stiegen sie noch an, weil sich die Beschäftigungsmöglichkeiten verbesserten und die Einkommen allmählich zunahmen. Im Durchschnitt betrug die Geburtenrate in der Zeit des Deutschen Bundes von 1816 bis 1865 auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches 3,7 Prozent der Bevölkerung. Ihren Höhepunkt Michael Kühn, Kant. Eine Biographie, München 2003. Gerd Hardach, Nation building in Germany: The economic dimension, in: Alice Teichova / Herbert Matis, Hg., Nation, state and the economy in history, Cambridge 2003. 1 2

I. Komplementäre Lebenswege

43

erreichte die Geburtenrate in den Anfangsjahren des Kaiserreichs; 1876 betrug sie 4,1 Prozent.3 Man schätzt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt in Deutschland in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nur 33 Jahre betrug.4 Seitdem stieg die Lebenserwartung allmählich an. Allerdings war der Fortschritt in den ersten hundert Jahren bescheiden, mit starken jährlichen Fluktuationen, mit Rückschlägen und mit großen regionalen Unterschieden. Bis 1850 stieg die durchschnittliche Lebenserwartung auf 35 Jahre. In der ersten Dekade des Deutschen Reiches von 1871 bis 1880 schätzte man die männliche Lebenserwartung bei der Geburt auf 36 Jahre, die weibliche Lebenserwartung auf 38 Jahre. Die niedrige Lebenserwartung schlug sich in hohen Sterberaten nieder. In dem Zeitraum von 1816 bis 1865 betrug die Sterberate in Deutschland, bezogen auf das Gebiet von 1871, im Durchschnitt 2,7 Prozent. 1876 war sie mit 2,5 Prozent etwas niedriger.5 Manche Lebenswege, die in Deutschland begannen, führten im neunzehnten Jahrhundert früher oder später aus Deutschland heraus. Die Armut, aber auch politische Unterdrückung oder religiöse Verfolgung veranlassten viele Deutsche zur Auswanderung. Ziele waren im frühen neunzehnten Jahrhundert noch Russland, zunehmend aber die westeuropäischen Metropolen London und Paris, Lateinamerika und vor allem die USA. In der ersten großen Auswanderungswelle von 1845 bis 1857 verließen mehr als 1,3 Millionen Menschen allein oder in Familien Deutschland.6 Die deutsche Arbeiterbewegung begann in der Zeit der politischen Unterdrückung vor der Revolution von 1848 unter den deutschen Handwerkern und Arbeitern im Ausland. In Paris lebten in den fünfziger Jahren ungefähr 100.000 Deutsche als Straßenkehrer, Bauarbeiter und Fabrikarbeiter.7 Obwohl sich die wirtschaftliche Situation in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert allmählich besserte, nahm die Auswanderung bis in die Anfangszeit des Kaiserreichs zu. Es gab mehr Siedlungsmöglichkeiten in fremden Ländern, besonders in den USA, die Informationsdichte über die wirtschaftlichen Chancen im Ausland nahm zu, und die Reisekosen wurden für größere Bevölkerungskreise erschwinglich.8 Man schätzt, dass das alte Deutsche Reich um 1800, einschließlich der damals von Frankreich besetzten linksrheinischen Gebiete, ungefähr 26 Millionen Ein3 Peter Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1984, S. 34; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 101. 4 Arthur E. Imhof, Die gewonnenen Jahre, München 1981, S. 81. 5 Arthur E. Imhof / Rolf Gehrmann / Ines E. Kloke / Maureen Roycroft / Herbert Wintrich, Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert, Weinheim 1990, S. 464; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 3), S. 26 – 34; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 3), S. 103 – 110. 6 Marschalck, Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 3), S. 32. 7 Klaus Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2002, S. 76 – 77. 8 Bade, Europa in Bewegung (wie Anm. 7).

44

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

wohner hatte.9 Die Bevölkerung, die um 1800 auf dem Gebiet des 1871 gegründeten neuen Deutschen Reiches lebte, also ohne Österreich, aber mit den preußischen Ostprovinzen, wird auf 23 Millionen geschätzt.10 Der Deutsche Bund hatte 1816 ungefähr 30 Millionen Einwohner. In dieser Zahl waren Österreich mit 9 Millionen Einwohnern und Preußen mit 8 Millionen Einwohnern enthalten. Die außerhalb der Bundesgrenzen liegenden Teile Österreichs, ohne Ungarn, hatten 5 Millionen Einwohner, die preußischen Ostprovinzen 2 Millionen Einwohner. Die hohen Geburtenraten und der langsame Anstieg der Lebenserwartung führten im neunzehnten Jahrhundert zu einem starken Bevölkerungswachstum. Die Bevölkerungszunahme des Deutschen Bundes von 1816 bis 1864 entsprach einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 0,9 Prozent im Jahr. Bei einem Vergleich der verschiedenen deutschen Territorien werden regionale Unterschiede deutlich, die durch die ungleiche wirtschaftliche Dynamik der einzelnen Territorien bedingt waren. So betrug die Wachstumsrate der Bevölkerung in Preußen von 1816 bis 1864 im Durchschnitt 1,3 Prozent, in Österreich dagegen von 1819 bis 1869 nur 0,8 Prozent jährlich. Bis 1864 stieg die Bevölkerung im Gebiet des Deutschen Bundes auf 45 Millionen.11 Aufgrund der hohen Geburtenzahlen und der niedrigen Lebenserwartung war die deutsche Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert ausgesprochen jugendlich. Im Deutschen Reich machte 1871 die Jugendgeneration bis zu 14 Jahren 34 Prozent der Bevölkerung aus, auf die mittlere Generation von 15 bis 64 Jahren entfielen 61 Prozent und auf die ältere Generation ab 65 Jahren nur fünf Prozent der Bevölkerung.12 In der neueren sozialpolitischen Diskussion wurde ein Modell der demographischen Belastungsquoten entwickelt, das die Relation der Jugendgeneration und der Altersgeneration zu der mittleren, tendenziell im Beruf oder in der Familie tätigen Generation abbildet. Die Jugendquote definiert in diesem Modell die Relation der Jugendgeneration unter 15 Jahren zu der mittleren Generation, die Altersquote die Relation der Ruhestandsgeneration ab 65 Jahren zu der mittleren Generation. In einer Gesamtlastquote werden die Jugendquote und die Altersquote zusammengefasst.13 Wendet man das Modell der demographischen BelastungsJürgen Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1990, S. 45. Friedrich-Wilhelm Henning, Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914. Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Paderborn 1973, S. 17. 11 B. Bolognese-Leuchtenmüller, Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur, Gesundheits- und Fürsorgewesen in Österreich 1750 – 1918, Wien 1978, S. 1; Wolfgang Köllmann, Bevölkerungsgeschichte 1800 – 1970, in: Hermann Aubin / Wolfgang Zorn, Hg., Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 10. 12 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 3), S. 95. 13 Das Transfersystem in der Bundesrepublik Deutschland. Bericht der Sachverständigenkommission zur Ermittlung des Einflusses staatlicher Transfereinkommen auf das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte, Bonn 1981, S. 229 – 231; Gerhard Kühlewind, Generationenvertrag oder Generationenkonflikt? In: Materialien aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 1 / 1992. 9

10

I. Komplementäre Lebenswege

45

quoten auf die Alterstruktur des Jahres 1871 an, so betrug die Jugendquote 56 Prozent, die Altersquote acht Prozent und die Gesamtlastquote 64 Prozent. Es gab daher einen sehr großen Bedarf an intergenerativer Umverteilung zu Gunsten der Jugendgeneration.14 3. Die wirtschaftliche Entwicklung a) Der Strukturwandel der Wirtschaft Die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und die Industrielle Revolution veränderten seit dem späten achtzehnten Jahrhundert die deutsche Gesellschaft. Seit dem achtzehnten Jahrhundert löste sich in Deutschland die feudale Ordnung auf. Die kapitalistischen Unternehmen im Handel, in der Heimindustrie, in Bergwerken und Manufakturen gewannen an Bedeutung. Die landwirtschaftlichen oder gewerblichen Familienbetriebe wurden durch die Anfänge eines kapitalistischen Arbeitsmarktes zurückgedrängt. 1784 nahm die erste Fabrik in Deutschland, die Maschinenspinnerei von Gottfried Brüggelmann in Ratingen, den Betrieb auf.15 Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts lebten ungefähr vierzig Prozent der Bevölkerung von Lohnarbeit.16 Anders als in Großbritannien und in Frankreich waren die kapitalistischen Unternehmer in den verschiedenen Territorien des alten Deutschen Reiches aber noch zwischen der feudalen Ordnung auf dem Lande, der Zunftverfassung der Städte und der obrigkeitlichen Gewerbepolitik eingezwängt. Seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert beseitigten die Agrarreformen, die Gewerbefreiheit und eine liberale Wirtschaftspolitik die feudalen Schranken der Produktion und beschleunigten die kapitalistische Entwicklung. Die Industrielle Revolution führte zu umfassenden Innovationen, einer Polarisierung der Sozialstruktur, einer Verschiebung der wirtschaftlichen Aktivität von der Landwirtschaft zur Industrie, wirtschaftlichem Wachstum und einer neuen internationalen Arbeitsteilung.17 Individuelle Lohnarbeit hatte im Selbstverständnis der ständischen Gesellschaft, die sich auf die Familienökonomie gründete, keinen festen Platz. Nach Möglichkeit wurde die abhängige Arbeit in den Familienbetrieb integriert. Knechte und Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 3), S. 95. Michael Knieriem, Cromford – Vorabend der Industrialisierung? In: Ursula MildnerFlesch / Klaus Thelen / Vera Lüpkes, Hg., Die Macht der Maschine. 200 Jahre CromfordRatingen, Ratingen 1985. 16 Dietrich Saalfeld, Die ständische Gliederung Deutschlands im Zeitalter des Absolutismus, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 67 (1980); Dietrich Saalfeld, Lebensverhältnisse der Unterschichten Deutschlands im 19. Jahrhundert, in: International Review of Social History, 29 (1984). 17 Christoph Buchheim, Industrielle Revolutionen. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und Übersee, München 1994; Hubert Kiesewetter, Industrielle Revolution in Deutschland 1815 – 1914, Frankfurt am Main 1989. 14 15

46

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

Mägde, Lehrlinge und Gesellen lebten im allgemeinen im Haushalt des Arbeitgebers. Heimarbeiter hingen wirtschaftlich von einem kapitalistischen Unternehmer ab, waren aber im eigenen Haushalt tätig. Individuelle Arbeitsverhältnisse außerhalb der Sphäre der Familienbetriebe galten für die Tagelöhner in Stadt und Land, Bergarbeiter, Manufakturarbeiter und die Arbeiter in den frühen Fabriken. Im neunzehnten Jahrhundert gewann die Arbeiterklasse an Bedeutung. Die Lohnarbeit wurde allmählich die vorherrschende Form der Erwerbstätigkeit. Tabelle 1 Die Arbeiterklasse in Preußen 1822 – 1861 (Prozent der Erwerbstätigen) 1822

1861

38

27

1.1 Gesinde

18

13

1.2 Tagelöhner

20

14

2. Gewerbliche Arbeiter

9

33

2.1 Fabrikarbeiter

3

7

1. Überwiegend ländliche Arbeiter

2.2 Handwerksarbeiter

6

10

2.3 Tagelöhner



16

3. Hausangestellte

2

3

4. Angestellte in Unternehmen

1

1

50

64

Anteil an den Erwerbstätigen

Quellen: Jahrbuch für die amtliche Statistik des preußischen Staates, 2 (1867), 261 – 262; Gerd Hardach, Klassen und Schichten in Deutschland 1848 – 1970. Probleme einer historischen Sozialstrukturanalyse, in: Geschichte und Gesellschaft, 3 (1977); Walther G. Hoffmann / Franz Grumbach / Helmut Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 6 – 18, 35.

Innerhalb der Arbeiterklasse gab es verschiedene Schichten. Im zeitgenössischen Verständnis nannte man deshalb die „arbeitenden Classen“ oft im Plural. Die wichtigsten Schichten waren Landarbeiter oder Landarbeiterinnen, Handwerksgesellen oder, seltener, Gesellinnen, Fabrikarbeiter oder Fabrikarbeiterinnen, Tagelöhner oder Tagelöhnerinnen und Hausangestellte. Manchmal wurde auch die neue Schicht der Angestellten zur Arbeiterklasse gezählt.18 Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren die Landarbeiterinnen und Landarbeiter noch die größte Schicht innerhalb der Arbeiterklasse. Nach der Jahrhundertmitte traten die gewerblichen Arbeiter und Arbeiterinnen an die erste Stelle. Innerhalb dieser Schicht dominierten aber die Handwerksgesellen und die Tagelöhner oder Tagelöhnerinnen 18 Die arbeitenden Classen und die Arbeits- und Lohnverhältnisse, in: Jahrbuch für die amtliche Statistik des preußischen Staates, 2 (1867).

I. Komplementäre Lebenswege

47

ohne Berufsausbildung. Die Fabrikarbeiter waren auch zu Beginn der sechziger Jahre noch in der Minderheit. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts überlagerten sich in Deutschland die beiden Gesellschaftssysteme, die untergehende feudale Gesellschaft und die aufsteigende bürgerliche Gesellschaft. Friedrich Engels unternahm nach der gescheiterten Revolution von 1848 – 1849 den Versuch, die Struktur der deutschen Gesellschaft am Vorabend der Revolution darzustellen.19 Das Bild zeigt eine Gesellschaft im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, gleichzeitig aber auch im Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft. Engels unterschied fünf Klassen: den Feudaladel, die Bourgeoisie, die Kleinbürger, die Arbeiterklasse, und die „große Klasse der kleinen Landwirte, die mit ihrem Anhang von Landarbeitern die große Mehrheit des ganzen Volkes darstellt“.20 Die ländliche Klasse war nicht homogen, sondern teilte sich in vier Schichten, die Groß- und Mittelbauern, die freien Kleinbauern, die feudal gebundenen Bauern, die noch nicht von den Agrarreformen erfasst worden waren, und die Landarbeiter. Wie auf dem Lande, so dominierte auch in den Städten die Mittelklasse. Die Mehrheit der städtischen Bevölkerung war nach Engels den Kleinbürgern zuzurechnen. Die beiden Hauptklassen der neuen kapitalistischen Gesellschaft, eine industrielle Bourgeoisie und ein industrielles Proletariat, waren erst in Ansätzen zu erkennen. Nach der Revolution von 1848 gewann die kapitalistische Entwicklung an Dynamik. Bourgeoisie und Proletariat traten als die bestimmenden Klassen der Gesellschaft in den Vordergrund. Im Deutschen Reich machten 1882 die Arbeiter, Angestellten und Beamten 56 Prozent aller Beschäftigten aus, die Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen waren mit 44 Prozent der Beschäftigten in der Minderheit.21 Das Lebenseinkommen hing nicht mehr vom Gedeihen eines Familienbetriebes, sondern von der Partizipation am kapitalistischen Produktionsprozess ab, in dem „nicht der Arbeiter die Arbeitsmittel, sondern die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden“.22 In der politischen Arena kämpften Konservative, Liberale und Sozialisten um die künftige Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei forderte in ihrem Eisenacher Programm 1869 die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise. „Die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters von dem Kapitalisten bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, und es erstrebt deshalb die sozialdemokratische Partei unter Abschaffung der jetzigen 19 Friedrich Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland (1851 – 52), in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke 8, Berlin 1960, S. 7 – 13. 20 Engels, Revolution und Konterrevolution (wie Anm. 19), S. 11. 21 Walther G. Hoffmann / Franz Grumbach / Helmut Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 204 – 205; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 3), S. 142. 22 Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1 (1867). Karl Marx / Friedrich Engels, Werke 23, Berlin 1962, S. 674.

48

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

Produktionsweise (Lohnsystem) durch genossenschaftliche Arbeit den vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter.“23 Die Polarisierung der Sozialstruktur wurde durch den Strukturwandel vom primären Sektor zum sekundären und tertiären Sektor beschleunigt.24 Um 1800 betrug der Anteil des primären Sektors an den Beschäftigten auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches ungefähr 62 Prozent.25 Die Angabe ist allerdings nur eine Schätzung, denn die Beschäftigten ließen sich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nicht genau den einzelnen Sektoren zuordnen. Viele Kleinbauern gingen einer gewerblichen Nebentätigkeit nach, weil der Ertrag der kleinen Betriebe für den Unterhalt einer Familie nicht ausreichte. Umgekehrt bezogen Handwerker in Landgemeinden und Kleinstädten oft noch einen Teil ihres Lebensunterhalts aus einer landwirtschaftlichen Nebentätigkeit. In Württemberg hieß es 1849 von den Tuchmachern in Balingen, dass sie sich unter dem Einfluss der Wirtschaftskrise auf ihren landwirtschaftlichen Nebenerwerb zurückzogen: „Viele leben sämmtlich vom Genuß ihrer kleinen Güter und der Allmand“.26 Arbeiter wechselten ihre Tätigkeit oft im Rhythmus der Jahreszeiten zwischen Landwirtschaft und Gewerbe, und viele Tagelöhner suchten je nach der Konjunktur und der Situation auf dem Arbeitsmarkt in der Landwirtschaft, im Gewerbe oder im Dienstleistungssektor Arbeit. Häufig war die Saisonarbeit mit Wanderungen verbunden. Aus dem kleinen Fürstentum Lippe gingen viele Männer regelmäßig einer Saisonarbeit als Ziegeleiarbeiter in anderen deutschen Regionen und im Ausland nach.27 Tabelle 2 Die Erwerbstätigen nach Sektoren in Deutschland 1800 – 1871 (in Prozent) Primärer Sektor

Sekundärer Sektor

Tertiärer Sektor

1800

62

21

17

1871

50

29

21

Quellen: Friedrich-Wilhelm Henning, Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914. Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Paderborn 1973, S. 20; Walther G. Hoffmann / Franz Grumbach / Helmut Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 204 – 205. – Die Zahlen beziehen sich auf das Gebiet des Deutschen Reiches von 1871.

23 Zitiert nach Heinrich Potthoff, Die Sozialdemokratie von den Anfängen bis 1945. Kleine Geschichte der SPD, Bd. 1, Bonn 1974, S. 174. 24 Gerd Hardach, Industrialisierung in Geschichte und Gegenwart, in: Peter Feldbauer / August Gächter / Gerd Hardach / Andreas Novy, Hg., Industrialisierung, Frankfurt am Main 1995. 25 Henning, Die Industrialisierung in Deutschland (wie Anm. 10), S. 20. 26 Zitiert nach Peter Borscheid, Textilarbeiterschaft in der Industrialisierung. Soziale Lage und Mobilität in Württemberg im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1978, S. 102. 27 Piet Lourens / Jan Lucassen, Arbeitswanderung und Berufsspezialisierung. Die lippischen Ziegler im 18. und 19. Jahrhundert, Osnabrück 1999.

I. Komplementäre Lebenswege

49

In der Zeit der Industriellen Revolution nahmen in Deutschland Beschäftigung und Produktion im primären Sektor in absoluten Zahlen zwar noch zu. Der sekundäre Sektor und der tertiäre Sektor expandierten jedoch schneller. Nach der Gründung des Deutschen Reiches war 1871 der Anteil des primären Sektors an den Beschäftigten auf fünfzig Prozent zurückgegangen.28 b) Der Beginn des modernen Wirtschaftswachstums Als im neunzehnten Jahrhundert die sozialen Probleme des industriellen Kapitalismus die Gesellschaft erschütterten, erschien die untergegangene feudale Welt im Rückblick in einem freundlichen Licht. Wilhelm Heinrich Riehl stellte 1851 einer zerrissenen Gegenwart als positiven Kontrast die Selbstgenügsamkeit der bäuerlichen und handwerklichen Lebenswelt, die patriarchalischen Beziehungen zwischen Gutsherren und Bauern, zwischen Bauern und Gesinde, zwischen Meistern und Gesellen, gegenüber. Die Überschaubarkeit der Familie als Lebensgemeinschaft und als Arbeitsgemeinschaft, und der geringe Grad an kommerzieller Verflechtung, hatten nach Riehls Auffassung eine soziale Stabilität gewährleistet, die durch den Individualismus der modernen Marktwirtschaft verlorengegangen war.29 Als Inbegriff der Stabilität entdeckte Riehl das „ganze Haus“ wieder. Der Begriff des „ganzen Hauses“ stammt aus der „Hausväterliteratur“ der frühen Neuzeit. Er bezeichnete den Haushalt des niederen Adels und der Bauern, der gleichzeitig Lebensgemeinschaft und Wirtschaftsgemeinschaft war. Die Hausväterliteratur war die Wirtschaftslehre einer Zeit, in der die sozialen Beziehungen noch nicht vom Markt her gedacht wurden. Sie vermittelte praktische Ratschläge für das Familienleben, für einen wohlgeordneten Haushalt und für die landwirtschaftliche Produktion. Seit Riehl wurde es üblich, das Ideal des geordneten, behäbigen, materiell gesicherten „ganzen Hauses“ mit der Realität der feudalen Gesellschaft zu verwechseln. In der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik Deutschland hat Otto Brunner den Diskurs über das „ganze Haus“ aufgegriffen und weitergeführt. Brunner betonte zwar, dass es sich bei der „alteuropäischen Ökonomik“ im Stil der Hausväterliteratur um eine Wirtschaftslehre und nicht um die Wirtschaft selbst handelte. Aber die positive Rezeption der Hausväterliteratur und die Hinweise auf Wilhelm Heinrich Riehl, Adalbert Stifter und Gustav Freitag, die das häusliche Zusammenleben von Arbeitgebern und Arbeitnehmern als die Grundlage sozialer Stabilität geschildert hatten, trugen doch dazu bei, dass nicht Unterdrückung und Not, sondern das geruhsame Zusammenleben jenseits von Markt und Risiko das Bild der feudalen Vergangenheit prägten.30 Die westdeutschen Sozialreformer der fünfziger Jahre nahmen 28 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 21), S. 204 – 205. 29 Wilhelm Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft (1851), Frankfurt am Main 1976. 30 Otto Brunner, Das „ganze Haus“ und die alteuropäische Ökonomik (1950), in: Otto Brunner, Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956.

4 Hardach

50

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

die feudale Nostalgie bereitwillig auf. In den historischen Einleitungen, Exkursen und Begründungen zu ihren Reformplänen argumentierten sie, dass der Generationenvertrag in dem „ganzen Haus“ der Feudalzeit eigentlich recht gut aufgehoben war, und dass die Probleme erst mit dem Industriekapitalismus gekommen seien. Was in der konservativen Sozialkritik des neunzehnten Jahrhunderts verschwiegen und in der nostalgischen Rückschau des zwanzigsten Jahrhunderts oft übersehen wurde, war die Armut, die in der traditionellen Agrargesellschaft herrschte.31 Die meisten Menschen mühten sich von früh bis spät, kannten nichts anderes als lange Arbeitszeiten und wenig Muße, und doch war der Ertrag ihrer Arbeit gering. Viele Menschen verbrachten ihr Leben am Rande des Existenzminimums. Man schätzt, dass um 1800 in Deutschland ungefähr die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebte. Zu den Armen gehörten nicht nur die Lohnarbeiter, sondern auch Heimarbeiter, Kleinbauern und viele Handwerker, die als Einzelmeister ein kümmerliches Dasein fristeten.32 Die Not war im Alltag stets gegenwärtig und erreichte in den Hungerkrisen, zuletzt 1816 – 1817 und 1846 – 1847, ein katastrophales Ausmaß.33 Die starren Institutionen, Gesetze, Regeln und Bräuche der ständischen Gesellschaft, die im nostalgischen Rückblick den Eindruck sozialer Stabilität vermittelten, waren im Grunde nur verzweifelte Versuche, die drängende Not abzuwehren. Die Industrielle Revolution schuf die Voraussetzungen für das moderne Wirtschaftswachstum. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beschränkten sich die Innovationen jedoch auf wenige Branchen und Regionen, und ihr Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung war gering. Bis zur Mitte des Jahrhunderts entwickelten sich, bezogen auf das Gebiet des späteren Deutschen Reiches, die Bevölkerung und das reale Sozialprodukt ungefähr parallel. Das wirtschaftliche Wachstum reichte aus, um eine steigende Bevölkerung zu tragen, aber die Realeinkommen nahmen im Trend nur wenig zu. Von 1800 bis 1850 betrug die Wachstumsrate des realen Nettosozialprodukt im Durchschnitt ungefähr 1,0 Prozent im Jahr, die Wachstumsrate des realen Nettosozialprodukts je Einwohner nur ungefähr 0,1 Prozent. Das reale Nettosozialprodukt je Einwohner lag daher 1850 nur um etwa sechs Prozent über dem Niveau von 1800.34 Nach der Jahrhundertmitte gewann der moderne Sektor mit Industrie, Eisenbahnen und Banken größeren Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland.35 Damit beschleunigte sich auch das gesamtwirtschaftliche Wachs31 Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Göttingen 1972; Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, Hamburg 1974; Wolfram Fischer, Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lösungsversuche der „Sozialen Frage“ in Europa seit dem Mittelalter, Göttingen 1982. 32 Kocka, Weder Stand noch Klasse (wie Anm. 9), S. 134. 33 Abel, Massenarmut und Hungerkrisen in Deutschland (wie Anm. 31), S. 46 – 58. 34 Henning, Industrialisierung in Deutschland (wie Anm. 10), S. 25. 35 Reinhard Spree, Wachstumstrends und Wachstumszyklen in der deutschen Wirtschaft von 1820 bis 1913, Göttingen 1978, S. 114.

I. Komplementäre Lebenswege

51

tum. Die Krise von 1857, der deutsch-dänische Krieg von 1864 und der Bürgerkrieg von 1866 haben die wirtschaftliche Expansion jeweils nur kurz unterbrochen. Von 1850 bis 1869 betrug die Wachstumsrate des realen Nettosozialprodukts auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches im Durchschnitt ungefähr 2,1 Prozent im Jahr, die Wachstumsrate des realen Nettosozialprodukts je Einwohner durchschnittlich 1,4 Prozent.36 Die Lohnunterschiede zwischen den verschiedenen Schichten innerhalb der Arbeiterklasse, den Landarbeitern, Handwerksgesellen, Fabrikarbeitern und Bergleuten, waren wesentlich größer als in späteren Zeiten. In der Lebenssituation der vielen Tagelöhner und Tagelöhnerinnen, die man auffälligerweise nicht nach ihrer Berufsqualifikation, sondern nach der kurzen Dauer ihres Arbeitsvertrages definierte, konzentrierten sich die Existenzrisiken der vorindustriellen Gesellschaft. Die Löhne waren nicht nur niedrig, sondern auch unregelmäßig, abhängig von den saisonalen und konjunkturellen Fluktuationen des Arbeitsmarktes. Johann Peter Hebel lässt in seiner Geschichte vom fröhlichen Landmann den Landarbeiter 15 Kreuzer am Tag verdienen. Damit hat er ihn recht bescheiden eingestuft. Man schätzte damals, dass Tagelöhner ungefähr 250 bis 300 Tage im Jahr Beschäftigung und Lohn hatten. Der literarische Tagelöhner hätte also bestenfalls ein Jahreseinkommen von 75 Gulden zu je sechzig Kreuzern erzielen können, oder 6 1/4 Gulden im Monat. Im Durchschnitt verdienten Landarbeiter, die nicht im Haushalt des Arbeitgebers lebten, in Deutschland im frühen neunzehnten Jahrhundert in norddeutscher Währung ungefähr sieben bis acht Taler im Monat. Das entsprach in süddeutscher Währung 13 bis 14 Gulden.37 Die Löhne wiesen zu jener Zeit jedoch erhebliche Unterschiede auf, und Tagelöhne von 15 Kreuzern, wie in Hebels Geschichte, kamen im frühen neunzehnten Jahrhundert durchaus vor. Die Fabrik von St. Blasien in Baden zahlte 1816 ihren jugendlichen Arbeitern in der Spinnerei 14 bis 16 Kreuzer am Tag. Das galt als ein hoher Lohn für Kinderarbeit, denn zu jener Zeit „wären viele erwachsene Handspinner froh gewesen, hätten sie diesen Tagelohn erreicht, und mancher Schulmeister auf dem Lande kam kaum höher als diese Fabrikkinder“.38 Wie eine Familie von diesem Lohn leben konnte, ist schwer vorstellbar. Der Durchschnittslohn der Arbeiter betrug 1810, ausgedrückt in der in Norddeutschland vorherrschenden Talerwährung, ungefähr 7,7 Taler im Monat. Bis 1850 stieg er auf 8,7 Taler. Die durchschnittliche jährliche Zunahme des Nominallohns war von 1810 bis 1850 mit 0,3 Prozent kaum wahrnehmbar. Die Lebenshal36 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 21), S. 172 – 173, 827. 37 Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des Rheinländischen Hausfreundes (1811), in: Johann Peter Hebel, Werke, München 1960, S. 12; Friedrich-Wilhelm Henning, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 2, Paderborn 1978, S. 104. – In der Währungsunion von 1838 wurde eine Parität von einem Taler zu 1 3 / 4 Gulden festgelegt. 38 Wolfram Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 421.

4*

52

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

tungskosten wiesen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts starke Fluktuationen auf, lagen aber im Ergebnis 1850 auf dem gleichen Niveau wie 1810. Der reale Lohnanstieg entsprach daher dem geringen nominalen Anstieg.39 Das herrschende Thema der Zeit war der Pauperismus, in dem sich die traditionelle Armut der Agrargesellschaft mit den neuen sozialen Problem der Industriegesellschaft verband. Die Armut hatte viele Gesichter, die traditionelle Armut auf dem Lande, das Elend in der Heimindustrie, die sich gegen die Konkurrenz der Fabriken im Inland und im Ausland nicht behaupten konnte, die harten Arbeitsbedingungen, niedrigen Löhne und drückenden Lebensverhältnisse in den neuen Industrieregionen. In Schlesien führte die Strukturkrise des heimindustriellen Textilgewerbes zu unerträglicher Armut. Die Leinenindustrie war im späten achtzehnten Jahrhundert von der preußischen Regierung eingeführt und verbreitet worden. Nach dem Ende der Kontinentalsperre und der Beschleunigung der Industriellen Revolution geriet sie durch die Konkurrenz der Fabriken im Inland und im Ausland in Bedrängnis. Einige Unternehmer gingen vom Leinen zur Produktion von Baumwollgarn und Baumwollstoffen über, aber das half auf die Dauer auch nicht. Die Kaufleute und Verleger gaben den Konkurrenzdruck an die Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen weiter. Die Aufträge wurden eingeschränkt, und die Löhne wurden immer weiter herabgesetzt. Im Juni 1844 revoltierten die Spinner und Weber in zwei Ortschafen gegen ihre Not, sie stürmten und zerstörten die Wohnhäuser und Geschäftsräume einiger besonders verhasster Unternehmer, um bessere Löhne zu erzwingen. Der Protest wurde blutig niedergeschlagen, viele Teilnehmer wurden zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Der „Weberaufstand“ fand in der Publizistik und in der Dichtung der Zeit breite Resonanz und richtete die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Lage der schlesischen Spinner und Weber.40 In manchen anderen Regionen war das Elend aber nicht geringer. In Hessen führte aus ähnlichen Gründen wie in Schlesien die Krise der heimindustriellen Leinenproduktion in den vierziger Jahren zu Massenarmut und Hungersnot.41 In der Krise von 1846 – 1847 traf in Deutschland die letzte Hungerkrise der alten Art, die auf einer Folge von Missernten beruhte, mit einer industriellen Krise zusammen42. Trotz der Beschleunigung des wirtschaftlichen Wachstums stiegen die Reallöhne auch nach der Jahrhundertmitte nur zögernd an. 1869 war der Durchschnittslohn der Arbeiter auf 13,3 Taler im Monat gestiegen. Damit nahmen die Nominallöhne in der Zeit von 1850 bis 1869 im Durchschnitt um 2,3 Prozent im Jahr zu. Der nominale Zuwachs wurde aber zum größten Teil durch die höheren Lebenshaltungskosten aufgezehrt. Der reale Zuwachs war mit 0,2 Prozent jährlich noch 39 Wolfram Fischer / Jochen Krengel / Jutta Wietog, Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes 1815 – 1870. Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch 1, München 1982, S. 155 – 156. 40 Lutz Kroneberg / Rolf Schloesser, Weber-Revolte 1844. Der schlesische Weberaufstand im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik und Literatur, Köln 1979. 41 Martin Kukowski, Pauperismus in Kurhessen. Ein Beitrag zur Entstehung und Entwicklung der Massenarmut in Deutschland 1815 – 1855, Darmstadt 1995, S. 188 – 266. 42 Abel, Massenarmut und Hungerkrisen in Deutschland (wie Anm. 31), S. 56 – 58.

I. Komplementäre Lebenswege

53

weniger sichtbar als in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Insgesamt lagen die Reallöhne 1869 um 15 Prozent über dem Niveau von 1810.43 Die Vermögensbildung war zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts im allgemeinen noch mit der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit in der Landwirtschaft, im Handwerk oder im Handel verbunden. Die Möglichkeiten einer von der Erwerbstätigkeit unabhängigen Vermögensbildung waren daher begrenzt. Die persönliche Kreditgewährung war durch die mangelnde Transparenz des Kapitalmarktes mit großen Risiken behaftet. Die Schriftstellerin Johanna Schopenhauer erbte 1805 von ihrem Ehemann, einem reichen Danziger Kaufmann, ein erhebliches Vermögen. Den größten Teil des Erbes legte sie als Darlehen bei dem Kaufmann A. L. Muhl an, der ihr persönlich bekannt war. Nachdem das Handelshaus Muhl 1819 in Zahlungsschwierigkeiten geriet, war das Erbe weitgehend verloren, und Johanna Schopenhauer hatte Mühe, mit ihrer schriftstellerischen Arbeit und den Erträgen aus dem reduzierten Vermögen ihren bürgerlichen Lebensstandard aufrecht zu halten. Ihr Sohn Arthur Schopenhauer war geschäftlich geschickter. Das Kapitaleinkommen aus dem väterlichen Erbe ermöglichte es ihm, sich als Privatgelehrter der philosophischen Forschung zu widmen. Schopenhauer starb 1860 in dem für die damaligen Verhältnisse hohen Alter von 72 Jahren, ohne jemals erwerbstätig gewesen zu sein.44 In der bürgerlichen Gesellschaft erweiterten das moderne Bankwesen und die Entwicklung des Kapitalmarktes die Möglichkeiten zur Vermögensbildung. Der Finanzplatz Frankfurt zeigt die Expansion und Differenzierung des institutionalisierten Kapitalmarktes. Anfangs wurden an der Frankfurter Wertpapierbörse fast ausschließlich Staatsanleihen gehandelt. Seit der Industriellen Revolution schufen der Kapitalbedarf der Unternehmen, die Urbanisierung und die Zunahme der öffentlichen Verschuldung breitere Anlagemöglichkeiten. Zwischen 1820 und 1848 erschienen an der Frankfurter Börse Aktien von einzelnen Banken, Eisenbahnen und Versicherungen. In den fünfziger Jahren hatte der Kapitalist, der sein Anlagerisiko streuen wollte, schon eine gewisse Auswahl. 1855 wurden in Frankfurt 36 deutsche und ausländische Staatsanleihen notiert, außerdem Aktien von Banken, Eisenbahnen, Versicherungen und die ersten Industrieaktien.45 Seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurden Sparkassen gegründet, um den Arbeitern sowie den gering verdienenden Kleinbürgern und Kleinbauern Anlagemöglichkeiten für bescheidene Sparbeträge zu bieten. Es dauerte jedoch einige Zeit, bis sich die Sparkassen ausbreiteten, und die individuellen Sparbeträge blieben gering. 43 Fischer / Krengel / Wietog, Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes (wie Anm. 39), S. 155 – 156. 44 Ludger Lütkehaus, Die Schopenhauers. Der Familien-Briefwechsel von Adele, Arthur, Heinrich Floris und Johanna Schopenhauer, München 1998. 45 Carl-Ludwig Holtfrerich, Finanzplatz Frankfurt. Von der mittelalterlichen Messestadt zum europäischen Bankenzentrum, München 1999, S. 150 – 154.

54

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

In der Arbeiterklasse entwickelte sich in manchen Regionen die Anschaffung von Gebrauchsgütern zu einer bescheidenen Form des Sparens. In Württemberg schafften im neunzehnten Jahrhundert Ehepaare nach der Hochzeit in den Zeiten guten Verdienstes Möbel, Leinen und Schmuck nicht nur für den aktuellen Gebrauch, sondern auch als Altersversorgung an. Bei längerer Krankheit oder im Alter wurde Stück für Stück verkauft oder bei Pfandleihanstalten versetzt. Beim Tode eines der Ehepartner war dann oft nur noch die notwendigste Ausstattung vorhanden.46 Familienvermögen wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Das Erbrecht der verschiedenen deutschen Territorien berücksichtigte das Recht der Vererbenden, über den Tod hinaus über ihr Eigentum zu verfügen, andererseits wurde aber auch ein eigener Anspruch der gesetzlichen Erben anerkannt. Das Erbe konnte unter den Erben ungleich verteilt werden, aber eine vollständige Enterbung war nur in begründeten Ausnahmefällen möglich. Im bäuerlichen Milieu war die Tradierung des Familienbetriebes von den Eltern an die erwachsenen Kinder die Grundlage der Erwerbstätigkeit. Das Bauernpaar übergab den Familienbetrieb im allgemeinen schon zu Lebzeiten an die Erben. Nach dem Anerbenrecht ging der Hof ungeteilt auf einen Haupterben oder seltener auch eine Erbin über, nach dem Realteilungsprinzip wurde das Vermögen unter den Söhnen und Töchtern aufgeteilt. Ob das Anerbenrecht oder die Realteilung galten, konnte auf regionalen Traditionen beruhen oder auch durch das Recht vorgeschrieben sein. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts wurde das bäuerliche Erbrecht zunehmend in der Gesetzgebung der deutschen Territorien normiert.47 c) Öffentliche Transferleistungen Die intergenerative Umverteilung wurde im neunzehnten Jahrhundert vor allem durch die Familien geleistet. Allerdings setzte die Armut vieler Familien der Solidarität enge Grenzen. In Notlagen versprach die öffentliche Armenpolitik Unterstützung. Die Armenpolitik des neunzehnten Jahrhunderts geht auf die Politik der sozialen Disziplinierung zurück, die in den verschiedenen deutschen Territorien seit dem späten siebzehnten Jahrhundert entstand. Ziel der sozialen Disziplinierung war es, die Gesellschaft zu erfassen, zu gestalten und ihr Potential für die staatlichen Zwecke zu nutzen. Individuelles Betteln wurde ideologisch diskriminiert 46 Peter Borscheid / Heilwig Schomerus, Mobilität und soziale Lage der württembergischen Textilarbeiterschaft im 19. Jahrhundert, in: Dieter Langewiesche / Klaus Schönhoven, Hg., Arbeiter in Deutschland. Studien zur Lebensweise der Arbeiterschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Paderborn 1981, S. 130; Heilwig Schomerus, Die Arbeiter der Maschinenfabrik Esslingen. Forschungen zur Lage der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1977, S. 258 – 262. 47 August von Miaskowski, Grundeigentumsverteilung und Erbrechtsreform in Deutschland, in: Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik 1882. Schriften des Vereins für Socialpolitik 21, Leipzig 1882.

I. Komplementäre Lebenswege

55

und administrativ unterdrückt. Die Armen, zu denen alle Menschen gezählt wurden, die aus den unterschiedlichsten Gründen weder selbst für ihren Unterhalt sorgen konnten, noch in Familien oder korporativen Institutionen versorgt wurden, sollten unter staatlicher Aufsicht unterstützt, zugleich aber auch diszipliniert und so weit als möglich zur Arbeit angehalten werden. Zum Symbol der Armenpolitik des spätfeudalen Staates wurden die Arbeitshäuser, die in den deutschen Territorien seit dem siebzehnten Jahrhundert gegründet wurden. Arme wurden in geschlossene Anstalten eingewiesen, die sich von Strafanstalten nur dem Namen nach unterschieden, und hatten Zwangsarbeit zu leisten. Auftraggeber war entweder der Staat, oder ein Unternehmer, an den der Staat die Arbeitskraft der Armen vermietete. Eine profitable Investition waren die Arbeitshäuser für den Staat nicht, denn der große Aufwand für den Bau und für die Verwaltung wurde durch die Erträge der Anstaltsarbeit nicht gedeckt. Die Zahl der Anstalten blieb daher gering; nach einer zeitgenössischen Schätzung gab es Ende des achtzehnten Jahrhunderts sechzig Armenhäuser in Deutschland. Insofern ging es bei den Arbeitshäusern eher um die Signalwirkung als um eine vollständige Erfassung der Armen. Die meisten Armen kamen nie mit einem Arbeitshaus in Berührung.48 Im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert begann eine Reform des Armenwesens. Allmählich wurde die Verantwortung des Staates für die Armen anerkannt. Nach dem Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 sollte der Staat die Armen, die nicht selbst für ihren Unterhalt sorgen konnten, unterstützen. Für die Durchführung der Armenpolitik waren die Heimatgemeinden zuständig. Mit dieser Regel wollte man vor allem die soziale Kontrolle der Armut gewährleisten. Auch in den kleinen Territorien gab es eine entsprechende Armenpolitik. Die Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz regelten 1821 in gleich lautenden Armenverordnungen, dass zunächst Eltern und Kinder wechselseitig unterhaltspflichtig waren. Wenn Eltern oder Kinder keine Unterstützung leisten konnten, waren die Heimatgemeinden verpflichtet, für die Armen zu sorgen.49 Die oldenburgische Armenverordnung von 1786 zeigt die Armenpflege in einem kleinen Territorium. Die Grundsätze der Armenfürsorge wurden von der Regierung festgelegt. Für die Durchführung war, im Unterschied zu anderen Territorien, nicht die Heimatgemeinde, sondern die Aufenthaltsgemeinde zuständig. „Alle und jede, welche wegen der Gebrechen, Fehler und Krankheiten, ihres Geistes oder ihres Körpers, oder wegen ihres oder der Ihrigen zu hohen, oder zu geringen Alters, ihren völlig nothdürftigen Unterhalt durch Arbeit und Fleiß zu erwerben, nicht vermögen, und solchen aus ihren eigenen Mitteln und durch diejenigen, welche zu ihrer Ernährung verpflichtet sind, ebenso wenig erhalten können, sind als wirkliche, entweder ganz oder doch zum Theil, Arme zu betrachten, und sollen be48 Christoph Sachße / Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, 3 Bde., Stuttgart 1988 – 1998, Bd. 1, S. 113 – 124. 49 C. H. C. Trotsche, Die Mecklenburgischen Heimath-Gesetze mit Erkenntnissen der Landesgerichte und Anmerkungen, Rostock 1859.

56

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

rechtigt seyn, mit der Hülfe und Unterstützung, deren sie bedürftig, von demjenigen Kirchspiel versehen zu werden, in dem sie sich aufhalten, und zu der Zeit, wie sie arm geworden, ihre Wohnung und ordentlichen Aufenthalt gehabt haben.“ Die Gemeinden konnten die Unterstützung „theils durch Reichung von Victualien, Kleidungsstücken, Materialien zur Verarbeitung, theils durch baares Geld“ leisten. Wenn die Armen unselbständig waren, sollten sie auf Kosten der Gemeinde in Familien untergebracht werden.50 Die Armenfürsorge war oft mit einer Arbeitspflicht und mit einer kommunalen Arbeitsbeschaffung für die Armen verbunden. Ein Problem der frühen Armenpolitik war die schwache finanzielle Basis. Der Schwerpunkt der Steuern lag in den meisten Territorien des Deutschen Bundes bei den indirekten Steuern, die verhältnismäßig einfach einzutreiben waren. Unter den direkten Steuern war die Grundsteuer am wichtigsten. Nachdem sich der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Aktivität von der Landwirtschaft zum Gewerbe und zum Dienstleistungssektor verschob, wurde die Grundsteuer in den meisten deutschen Staaten durch eine Gewerbesteuer und durch Personalsteuern auf verschiedene besondere Einkommensarten ergänzt, um die Steuerbasis zu erweitern. Bis zum Ende des Deutschen Bundes blieben Baden, Bayern, Österreich, Sachsen, Württemberg und die meisten anderen deutschen Staaten bei dieser rudimentären Form der direkten Besteuerung. Von den größeren Staaten führte nur Preußen eine Einkommensteuer ein. Die Klassensteuer, eine Einkommensteuer mit mehreren leicht progressiven Tarifstufen, wurde zunächst von 1811 bis 1814 zur Kriegsfinanzierung erhoben. 1820 wurde die Klassensteuer neu eingeführt und zu einer differenzierten progressiven Einkommensteuer ausgebaut. Allerdings war der 1851 eingeführte Spitzensteuersatz von drei Prozent nach heutigen Kriterien noch sehr bescheiden.51 Im Trend nahmen die Staatsausgaben schneller zu als das Volkseinkommen. In Preußen machten die Staatsausgaben in den zwanziger Jahren ungefähr vier Prozent, in den sechziger Jahren ungefähr sechs Prozent des Bruttosozialprodukts aus.52 Die unzulängliche finanzielle Ausstattung der Sozialpolitik hatte zur Folge, dass die staatliche Verantwortung für die Armen im Alltag rasch an Grenzen stieß. Die Armenunterstützung hing von dem Ermessen und der Finanzlage der Gemeinden ab. Sie war ungewiss und konnte in armen Gemeinden auch ganz versagt werden. Eine systematische Armenpolitik scheiterte an dem geringen Personal und den unzulänglichen Finanzmitteln der Territorien. Wenn die Gemeindefinanzen erschöpft waren, konnten die Armen keine Hilfe erwarten.53 Ein zeitgenössischer Beobachter bemerkte zu den Verhältnissen in Schlesien in den vierziger Jahren, „daß sich 50 Herzog Peter von Oldenburg, Verordnung wegen Einrichtung des Armenwesens in dem Herzogthum Oldenburg vom 1. August 1786, Oldenburg 1786, §§ 4 – 6. 51 F. I. Neumann, Die progressive Einkommensteuer im Staats- und Gemeindehaushalt. Schriften des Vereins für Socialpolitik 8, Leipzig 1874; Johannes Popitz, Einkommensteuer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. 3, Jena 1926. 52 Volker Hentschel, Deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik, Kronberg 1980, S. 13. 53 Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 48), Bd. 1, S. 85 – 178.

I. Komplementäre Lebenswege

57

eine geordnete Armenpflege in den meisten Ortschaften der Provinz gradezu nur auf dem Papiere vorfindet“.54 In armen Gemeinden galten die Unterstützungsgesetze als unausführbar; die Armenpflege beschränkte sich darauf, dass an einzelnen Wochentagen, gewöhnlich Mittwoch und Sonnabend, das Betteln erlaubt wurde.55 Im Herzogtum Nassau machten die unterstützten Armen in der Zeit von 1806 bis 1866 im Durchschnitt ungefähr zwei Prozent der Bevölkerung aus. Tatsächlich war die Armut wesentlich größer. In Notzeiten wie der Krise von 1846 – 1847 war ein Drittel der Bevölkerung so arm, dass eine öffentliche Unterstützung notwendig gewesen wäre. Wenn die Finanzmittel aber erschöpft waren, lehnten die Armenbehörden Gesuche auf Unterstützung ab.56 Im benachbarten Kurfürstentum Hessen galten in der Krise von 1846 – 1847 in vielen Orten die Hälfte oder gar zwei Drittel der Einwohner als hilfsbedürftig.57 Die Gemeinde Hünfeld organisierte die Armen zu Bettlerzügen, die durch tägliche Umzüge in der Stadt und den angrenzenden Dörfern um Almosen baten.58 Zuweilen dachten die Gemeinden eher daran, arme Familien loszuwerden, statt sie zu unterstützen. Die Gemeinde Ohmenhausen in Württemberg beschloss im Sommer 1852, eine unverheiratete Mutter mit drei Kindern nach Amerika auszuweisen, mit der Begründung, dass die Familie der Gemeinde alle Jahre nicht unbedeutende Kosten verursachte, weil sie gänzlich unterstützt werden musste und daher die Unterstützungskosten in zwei Jahren so viel als die Beförderungskosten nach Amerika ausmachten.59 Außerhalb der Heimatgemeinde wurde im allgemeinen jede Hilfe verweigert. Der Marburger Nationalökonom Bruno Hildebrand berichtete aus dem Winter 1846 – 1847 über zwei extreme Fälle der Not von Mutter und Kind: „Diesen Winter wurden in Marburg zweimal bei 10 Grad Kälte Kinder auf offener Straße geboren. Die eine Mutter brachte mehrere Stunden lang mit dem nackten neugeborenen Kinde auf den kalten Steinen zu, bis sie endlich im Entbindungsinstitute unterkam. Der zweite Fall war noch schlimmer: die Mutter fand mit dem eben gebornen Kinde kein Obdach, sondern wurde zur Stadt hinausgewiesen, und noch ehe sie den nächsten Hof erreichte, war das Kind erfroren“.60 Nach der Jahrhundertmitte wurden durch das wirtschaftliche Wachstum die Voraussetzungen für die öffentlichen Transferleistungen allmählich verbessert. Für Zitiert nach Kroneberg / Schloesser, Weber-Revolte (wie Anm. 40), S. 119. Kroneberg / Schloesser, Weber-Revolte (wie Anm. 40), S. 119. 56 Peter Blum, Staatliche Armenfürsorge im Herzogtum Nassau 1806 – 1866, Wiesbaden 1987, S. 138 – 181. 57 Kukowski, Pauperismus in Kurhessen (wie Anm. 41), S. 235 – 236. 58 Bruno Hildebrand, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft (1848), Jena 1922, S. 148. 59 Andreas Gestrich, Traditionelle Jugendkultur und Industrialisierung, Göttingen 1986, S. 28. 60 Hildebrand, Nationalökonomie (wie Anm. 58), S. 148. 54 55

58

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

die Durchführung der Armenpolitik blieben die Heimatgemeinden zuständig. Damit sollte das Zusammenwirken von Unterstützung und sozialer Kontrolle gesichert werden. Eine Folge war aber, dass gerade die armen Regionen mit den Kosten der Armenpflege überlastet waren, während die finanzkräftigeren Gemeinden weniger Arme zu unterstützen hatten. Obwohl die individuelle Unterstützung gering war, wurde die Armenfürsorge für die Gemeinden sehr aufwendig. In manchen westfälischen Gemeinden wurden in der Zeit von 1848 bis 1858 die Hälfte bis zwei Drittel der Gemeindesteuern für die Armenfürsorge gebraucht.61 In einer Zeit hoher regionaler Mobilität wurde es ein Problem, dass die Heimatgemeinden für die Armenunterstützung zuständig waren. In Preußen wurden seit 1842 nicht mehr die Heimatgemeinden, sondern die Wohngemeinden für die Armenunterstützung zuständig. Diese Regelung, die eher den Lebensverhältnissen in der industriellen Gesellschaft entsprach, setzte sich allmählich allgemein durch.62 Neben der staatlichen Sozialpolitik gewann im neunzehnten Jahrhundert die betriebliche Sozialpolitik an Bedeutung. Im Bergbau hatte die berufsbezogene Versorgung eine lange Tradition. Die Notwendigkeit einer sozialen Sicherung bei Krankheit und Invalidität war offensichtlich, denn der Beruf war ungewöhnlich gefährlich und gesundheitsbelastend. Hinzu kam, dass die Bergleute als Facharbeiter eine vergleichsweise gute Verhandlungsposition gegenüber den Arbeitgebern hatten und daher auch in der Lage waren, soziale Forderungen durchzusetzen. Um die Sicherheit der Versorgung unabhängig von der Situation der einzelnen Bergbaubetriebe zu gewährleisten, wurden die Knappschaften überbetrieblich organisiert. Die Knappschaften leisteten Unterstützungen bei Unfällen, Krankheiten und Invalidität, und auch eine Versorgung für Witwen und Waisen. Die Leistungen wurden nach dem Umlageverfahren von Unternehmern und Bergleuten finanziert. Die Beiträge richteten sich nach den Versicherungsleistungen. Die Unfälle und Berufskrankheiten im Bergbau und die relativ kurze Erwerbskarriere der Bergleute, die frühzeitig invalide wurden, hatten zur Folge, dass die Knappschaftsbeiträge relativ hoch waren. In Preußen waren die Knappschaften unter dem Direktionsprinzips, das bis 1865 herrschte, staatlich kontrolliert. Nach dem Direktionsprinzip wurden nicht nur die staatlichen Bergwerke, sondern auch die privaten Bergbaubetriebe von den staatlichen Bergbehören geleitet, weil man davon ausging, dass private Unternehmer den Bergbau nicht mit der gleichen Nachhaltigkeit und technischen Sorgfalt betreiben könnten wie die Bergämter. Unter dem Einfluss der kapitalistischen Wirtschaftordnung erschien das Direktionsprinzip nicht mehr als zeitgemäß. 1851 wurde in Preußen der Einfluss der Eigentümer gestärkt, und 1865 wurde das Direktionsprinzip vollständig aufgehoben. Im Übergang von der staatlichen zur privaten Unternehmensleitung wurden die Knappschaften in Preußen 1854 aus dem ständischen Zusammenhang gelöst. Die regionalen Knappschaftsvereine, die damals schon als 61 62

Neumann, Progressive Einkommensteuer (wie Anm. 51), S. 70 – 71. Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 48), Bd. 1, 199 – 205.

I. Komplementäre Lebenswege

59

Unterstützungskassen für die Bergleute bestanden, wurden zu Trägern einer Sozialversicherung ausgebaut. Sie erhielten die Eigenschaft juristischer Personen und wurden mit einer Selbstverwaltung ausgestattet. Der Knappschaftsvorstand wurde zu gleichen Teilen von den Unternehmern und den Vertretern der Bergleute gewählt. Für alle Beschäftigten im Bergbau bestand eine Pflichtmitgliedschaft in der Knappschaft. Im Unterschied zur späteren Sozialversicherung waren die Knappschaftsvereine nicht funktional spezialisiert, sondern boten ein umfassendes Unterstützungsprogramm an. Die Leistungen umfassten die Krankenbehandlung der Mitglieder, ein Krankengeld als Lohnersatz, Renten bei Arbeitsunfähigkeit sowie Unterstützungen für die Witwen und Waisen der Bergleute. Nach dem preußischen Beispiel richteten auch die meisten anderen Bundesstaaten, in denen Bergbau betrieben wurde, regionale Knappschaften als Träger einer berufsbezogenen Sozialversicherung ein.63 Außerhalb des Bergbaus mit seinen besonderen Arbeitsbedingungen und sozialen Verhältnissen richteten einzelne Unternehmen aus eigener Initiative eine betriebliche Versorgung bei Krankheit, Invalidität und Alter ein. Die erste Betriebskasse, die den Arbeitern in Notfällen eine Unterstützung gewährte, wurde 1809 von der Gutehoffnungshütte in Oberhausen eingerichtet. Nach diesem Beispiel wurden eine größere Anzahl von Unterstützungskassen gegründet. Sie gewährten in Notfällen eine bescheidene Unterstützung, ohne Unterschied der Ursache der Not. Im allgemeinen waren Hilfen bei Krankheit oder Unfällen, ein Sterbegeld, manchmal auch Renten bei Invalidität oder Unterstützungen für Witwen und Waisen verstorbener Arbeiter vorgesehen. Die Kassen wurden entweder allein von den Unternehmen, oder von den Unternehmen und den Beschäftigten gemeinsam finanziert. 1860 gab es in Preußen 779 betriebliche Unterstützungskassen mit 171.000 Mitgliedern.64 Neben der staatlichen und betrieblichen Sozialpolitik hatte im neunzehnten Jahrhundert auch die kirchliche Sozialpolitik, die durch die Tradition der christlichen Armenfürsorge begründet war, einige Bedeutung. Sie wurde unter dem Einfluss der Industriellen Revolution modernisiert, quantitativ ausgebaut und an die Probleme der entstehenden Industriegesellschaft angepasst. Institutionelle Träger waren neben der evangelischen und katholischen Kirche verschiedene Gruppen und Vereine. Schwerpunkte der christlichen Sozialpolitik waren die Betreuung von Kindern und Jugendlichen, die am Rande der Gesellschaft lebten, die Familienfürsorge, die Krankenpflege und in begrenztem Umfang auch die Unterstützung von Armen.65 63 H. Karwehl, Die Entwicklung und Reform des deutschen Knappschaftswesens. Mit besonderer Berücksichtigung der preußischen Knappschaftsnovelle vom 19. Juni 1906, Jena 1907. 64 Josef Ehmer, Sozialgeschichte des Alters, Frankfurt am Main 1990, S. 78; Horst Wessel, Probleme der Altersversorgung im 19. Jahrhundert und Ansätze ihrer Bewältigung. Das Beispiel betrieblicher Sozialpolitik, in: Christoph Conrad / Hans-Joachim Kondratowitz, Hg., Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer sozialgeschichtlichen Betrachtung des Alters, Berlin 1983.

60

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

II. Jugend 1. Die frühen Jahre In der traditionellen Gesellschaft war für die meisten Kinder die Familie der erste und auch der wichtigste Ort sozialer Erfahrungen. Zur Persönlichkeitsbildung und Sozialisation in der familialen Umgebung gehörten die unbeabsichtigte Beeinflussung ebenso wie die zielgerichtet organisierten Lernprozesse. Kinder lernten in der Familie grundlegende Dispositionen wie Emotionalität, Vertrauen und Solidarität, aber auch konkrete Fähigkeiten und Kenntnisse.66 Im allgemeinen wuchsen die Kinder mit Eltern auf, die verheiratet waren und verheiratet blieben. Diese Konstellation, die in der neueren Soziologie als „Standardfamilie“ bezeichnet wird, war das Familienideal und zugleich auch die verbreitetste Lebensform. Aus verschiedenen Gründen konnten die Lebensverhältnisse aber von diesem Modell abweichen. Zwei Alternativen zur Standardfamilie kamen im neunzehnten Jahrhundert relativ häufig vor und haben die Öffentlichkeit beschäftigt, die uneheliche Geburt und der vorzeitige Tod von Mutter, Vater oder gar beiden Eltern. Ehescheidungen dagegen, die im zwanzigsten Jahrhundert zunehmend eine Abweichung von der Standardfamilie begründeten, spielten im neunzehnten Jahrhundert kaum eine Rolle. Sie waren im katholischen Milieu so gut wie ausgeschlossen, im evangelischen Milieu selten.67 Da das Heiratsalter aufgrund von sozialen Konventionen, rechtlichen Bestimmungen und wirtschaftlichen Verhältnissen recht hoch war, waren uneheliche Geburten nicht selten. Im frühen neunzehnten Jahrhundert, in den Jahren 1826 – 1830, wurden in Preußen sieben Prozent der Kinder unehelich geboren.68 Es gab regionale Unterschiede in der Zahl der unehelichen Geburten. In der ländlichen Gesellschaft kam es häufiger vor, dass die Eltern eines unehelich geborenen Kindes in einer nichtehelichen Partnerschaft verbunden waren und ihre Beziehung später durch eine Heirat legalisierten. In einem niedersächsischen Dorf, dessen Bevölkerungsgeschichte rekonstruiert wurde, waren 1801 – 1810 bei fünf Prozent der Kinder die Eltern nicht verheiratet. Bis 1851 – 1860 stieg der Anteil auf elf Prozent.69 In Bayern war traditionell die Toleranz gegenüber unehelichen Kindern größer als 65 Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 48), Bd. 1, S. 195 – 214, 232 – 244. 66 Irene Hardach-Pinke, Kinderalltag. Aspekte von Kontinuität und Wandel der Kindheit in autobiographischen Zeugnissen 1700 – 1900, Frankfurt am Main 1980; Jürgen Schlumbohm, Hg., Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern und Aristokraten wurden, München 1983. 67 Dirk Blasius, Ehescheidung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1992. 68 William H. Hubbard, Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, München 1983, S. 109. 69 Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, Göttingen 1994, S. 122.

II. Jugend

61

in anderen Regionen, und uneheliche Geburten kamen wesentlich häufiger vor. In den Jahren von 1826 – 1830 hatten in Bayern im Durchschnitt zwanzig Prozent der neugeborenen Kinder unverheiratete Eltern; allerdings heirateten die Eltern häufig nach der Geburt eines Kindes.70 Eine uneheliche Geburt bedeutete, wenn die Situation nicht durch eine spätere Heirat der Eltern normalisiert wurde, im allgemeinen eine schwere Belastung für das Kind und für die Mutter, weniger für den Vater. Alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern waren sowohl sozialer Diskriminierung, als auch wirtschaftlicher Not ausgesetzt. Dass ledige Väter ihre Kinder allein erzogen, kam kaum vor.71 Durch die unsicheren Lebensumstände kam es immer wieder vor, dass die Mutter oder der Vater starben, wenn die Kinder noch jung waren. Da die meisten Menschen sich am Leitbild der komplementären Lebenswege orientierten, strebten Witwen oder Witwer im allgemeinen eine Wiederverheiratung an. Das ergab dann die Familienkonstellation, die in der Familiensoziologie als „Stieffamilie“ bezeichnet wird.72 Wie viele Stiefkinder es unter den Kindern eines Ortes oder einer Region gab, hing von verschiedenen Einflüssen ab und lässt sich kaum generalisieren. In dem Dorf Belm bei Osnabrück lebten in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts acht Prozent der Kinder in Stieffamilien.73 Aus zeitgenössischer Sicht stand eine Familie nach dem Tod des Vaters oder der Mutter vor einem kaum lösbaren Dilemma. Einerseits war es üblich und oft auch wirtschaftlich notwendig, die Familie durch eine neue Heirat wieder zu vervollständigen. Andererseits gehörte zum Ideal der Standardfamilie aber die Überzeugung, dass nur die leibliche Abstammung verlässliche Solidarität zwischen den Generationen stiften konnte. Dass dieses Problem die Menschen beschäftigt hat, zeigen die vielen Stiefmütter, die in Märchen vorkommen. Als es der Forstarbeiterfamilie schlecht geht, setzen die Eltern Hänsel und Gretel im Wald aus. Die Initiative geht von der Stiefmutter aus, die ihren willensschwachen Mann zu der Tat anstiftet. Hänsel und Gretel bringen in Notwehr eine alte Frau um, eignen sich das Vermögen der Frau an und kehren trotz der schlechten Erfahrungen zu ihren Eltern zurück. Die Stiefmutter ist inzwischen gestorben, aber das ist kein Anlass zur Trauer. Hänsel, Gretel und der Vater „lebten in lauter Freude zusammen“.74 Eine unvollständige Familie ist nach dieser Geschichte besser als eine Stiefmutter. Aschenputtel leidet ebenso unter einer bösen Stiefmutter wie Schneewittchen. Der Ausweg aus der unerfreulichen Familiensituation ist in diesen beiden Fällen nicht Hubbard, Familiengeschichte (wie Anm. 68), S. 109. Michael Mitterauer, Ledige Mütter. Zur Geschichte unehelicher Geburten in Europa, München 1983. 72 Walter Bien / Angela Hartl / Magnus Teubner, Hg., Stieffamilien in Deutschland. Eltern und Kinder zwischen Normalität und Konflikt, Opladen 2002. 73 Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe (wie Anm. 69), S. 298 – 299. 74 Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen (1812), 3 Bde., Frankfurt am Main 1974, Bd. 1, S. 121. 70 71

62

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

die unvollständige Familie, sondern die Ehe mit dem Königssohn. Die Stiefmütter werden streng bestraft, die eine wird blind, die andere wird umgebracht.75 Eine besonders heftige Stiefmutter tritt in der Geschichte vom Machandelboom auf. Sie erschlägt den kleinen Sohn, den ihr Mann mit in die Ehe gebracht hat, weil sie in ihm einen Rivalen zu der Tochter Marlenchen aus der neuen Ehe sieht. Am Ende wird der Sohn wieder lebendig, die böse Stiefmutter kommt um. Der Vater, der Sohn aus seiner ersten Ehe und die Tochter Marlenchen aus seiner zweiten Ehe bleiben als unvollständige Familie zurück, keineswegs erschüttert, sondern „recht vergnügt“.76 Wie in der Geschichte von Hänsel und Gretel ist das Ergebnis, dass eine unvollständige Familie besser sein kann als eine Familie mit Stiefmutter. Kinder, die ihre Eltern verloren hatten oder von den Eltern nicht versorgt werden konnten, wurden von Verwandten aufgenommen, in Pflegefamilien gegeben oder auch in Waisenhäusern untergebracht, die seit dem späten achtzehnten Jahrhundert von Regierungen, Gemeinden, Kirchen oder privaten Stiftern gegründet wurden. Uneheliche Mütter gaben nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land ein uneheliches Kind häufig in Pflege, um weiter erwerbstätig sein zu können.77 Die Lebensbedingungen in den Waisenhäusern waren lange Zeit erschreckend schlecht. Das enge Zusammenleben förderte die Ausbreitung von Krankheiten. Mangelnde Hygiene und auch medizinische Unkenntnis führten häufiger noch als in den Familien zu einem frühen Tod. Im neunzehnten Jahrhundert wurden die Lebensbedingungen der Kinder in Waisenhäusern und Kinderheimen allmählich verbessert.78 Im allgemeinen wurden die Kinder bis zum sechsten Lebensjahr in der Familie erzogen. Danach sollte die Schulbildung beginnen. Zwischen Familie und Schule schoben sich seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert die ersten Institutionen einer öffentlichen Kleinkindererziehung. Ihre Funktionsbestimmung schwankte zwischen der Betreuung und der Belehrung der Kinder vom Säuglingsalter bis zum Schulalter. 1805 empfahl der Pädagoge C. H. Wolke die Einrichtung einer „Bewahranstalt“ für Kinder vom zweiten oder dritten Lebensjahr bis zum Schulalter. Bis 1848 wurden mindestens 310 Kleinkinderanstalten gegründet. Wahrscheinlich erhöht sich die Zahl noch um einige Institutionen, die keine Spuren in den einschlägigen Quellen hinterlassen haben. Die unterschiedlichen Namen der Institutionen zeigen die doppelte Funktionsbestimmung der Bewahrung und Belehrung an. Im frühen neunzehnten Jahrhundert wurden die Einrichtungen der öffentlichen Kleinkindererziehung meistens entweder als „Kleinkinderbewahranstalt“ oder als „Kleinkinderschule“ bezeichnet. Es gab aber auch Bezeichnungen wie „Bewahr75 J. Grimm / W. Grimm, Kinder- und Hausmärchen (wie Anm. 74), Bd. 1, S. 153 – 162, 300 – 311. 76 J. Grimm / W. Grimm, Kinder- und Hausmärchen (wie Anm. 74), Bd. 1, S. 277. 77 Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe (wie Anm. 69), S. 307. 78 Ulrich Pfister, Die Anfänge der Geburtenbeschränkung in Europa: Wege zu einer umfassenderen Analyse, in: Peter Borscheid / Hans J. Teuteberg, Hg., Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationenbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983.

II. Jugend

63

schule“, „Pflegeanstalt“, „Spielschule“, „Spiel- und Beschäftigungsanstalt“, „Vorschule“ und „Warteschule“. Der Pädagoge Friedrich Fröbel führte 1840 den Begriff „Kindergarten“ ein. Anfangs war mit diesem Begriff eine besondere pädagogische Ausrichtung in der Tradition Fröbels verbunden. Erst seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts setzte sich der „Kindergarten“ allgemein als Bezeichnung der Betreuungseinrichtungen für Kinder von drei bis sechs Jahren durch. Die Institution der „Kinderkrippe“ als Betreuungseinrichtung für Säuglinge und Kleinkinder vor dem Kindergartenalter geht auf Firmin Marbeau zurück. Er empfahl 1844 in Paris die Einrichtung einer Institution, die er „crêche“ nannte, zur Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern. Als „Krippe“ kam diese Institution bald darauf nach Deutschland. 1849 wurde in Wien die erste „Krippe“ gegründet. Zur Unterscheidung von den älteren Kleinkinderbewahranstalten wurde die neue Einrichtung auch als „Säuglingsbewahranstalt“ bezeichnet. Andere deutsche Territorien folgten mit der Gründung von Kinderkrippen. Manche Krippen nahmen Kinder schon wenige Tage der Geburt auf, andere nach einigen Monaten. Das Höchstalter variierte zwischen zwei und drei Jahren.79

2. Die Institutionalisierung der Bildung Die Schulpflicht hatte in Deutschland zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bereits eine längere Tradition. Sachsen-Weimar führte 1619 die Schulpflicht ein, Württemberg 1649, Preußen 1717, Sachsen 1763. Die Schule sollte Grundkenntnisse im Lesen, im Schreiben, im Rechnen und in der Religion vermitteln. Die Aufklärung führte im späten achtzehnten Jahrhundert zu einem allgemeinen Aufschwung der Pädagogik und der Psychologie, der Erziehungstheorien, Erziehungslehren und Erziehungsromane. Die neuen Bildungsexperten entdeckten die Jugend als prägende Phase, die wesentlichen Einfluss auf das weitere Leben hatte. Das preußische Generallandschulreglement von 1763 sah für Jungen und Mädchen eine achtjährige Schulpflicht vom fünften bis zum dreizehnten Lebensjahr vor.80 Eine Schulzeit von acht Jahren galt noch bis in die Anfangsjahre der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik als ausreichende Grundausstattung an Bildung für eine immer komplizierter werdende Gesellschaft. Allerdings war die Schulpflicht, die es Ende des achtzehnten Jahrhunderts in den deutschen Territorien gab, eher eine Absichtserklärung des Staates als eine allgemeine Lebenserfahrung der Jugend. Zu einer konsequenten Durchführung der 79 Günter Emig, Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung von den Anfängen bis zum Kaiserreich, in: Günter Emig / Karl Neumann / Jürgen Reyer, Hg., Geschichte des Kindergartens, 2 Bde., Freiburg 1987; Jürgen Reyer, Wenn die Mütter arbeiten gingen. Eine sozialhistorische Studie zur Entstehung der öffentlichen Kleinkindererziehung im 19. Jahrhundert in Deutschland, Köln 1983, S. 17 – 19. 80 Anton Schindling, Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650 – 1800, München 1999.

64

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

Schulpflicht fehlte es den Regierungen an Entschlossenheit, an einer kompetenten Administration, und nicht zuletzt an den finanziellen Möglichkeiten. Auch die Armut der Eltern, die ihre Kinder zur Arbeit statt zur Schule schickten, stand einer allgemeinen Schulbildung entgegen. So galt das preußische Schulreglement von 1763 zwar als Vorbild, aber es waren viele Ausnahmen zugelassen. Sobald die Kinder die erwarteten Grundkenntnisse nachwiesen, konnte die Schulpflicht vorzeitig für beendet erklärt werden. Auf dem Lande blieben die Kinder der Bauern und Landarbeiter im Sommer dem Unterricht fern, um in der Landwirtschaft zu arbeiten. Viele Lebenswege verliefen in weitem Abstand an dem Schulwesen vorbei. Wahrscheinlich besuchten um 1800 in den deutschen Territorien nur ungefähr 50 Prozent der Kinder überhaupt eine Schule.81 Im frühen neunzehnten Jahrhundert gab es große Unterschiede zwischen den Landschulen für die Bauernkinder und den Stadtschulen für die Bürgerkinder. Obwohl die Schulpflicht für alle Kinder gelten sollte, war der Schulbesuch auf dem Land wesentlich weniger verbreitet als in der Stadt. Die typische Landschule war die einklassige Elementarschule. Die gesamte schulpflichtige Dorfjugend wurde, soweit sie nicht zur Arbeit genötigt war, in einen Schulraum gepfercht und von einem einzelnen Lehrer unterrichtet, so weit das gehen mochte. Die städtischen Schulen waren nicht nach Lernstufen, sondern nach der sozialen Stellung der Familien differenziert. Armenschulen vermittelten eine Elementarbildung von wenigen Jahren. Die Bürgerschulen oder Stadtschulen begannen mit der Elementarbildung, sahen aber eine längere Schulzeit vor und vermittelten in den späteren Schuljahren weiterführende Kenntnisse. Die Gymnasien waren Gelehrtenschulen, die von der Elementarbildung bis zur Vorbereitung für die Universität führten. Die weiterführenden Schulen waren nicht streng getrennt. Vor allem in kleineren Städten gab es oft nur eine Schule, die in der Grundstufe eine Elementarbildung vermittelte, in der Mittelstufe als allgemeine Bürgerschule für die künftigen Handwerker und Kaufleute diente und in der Oberstufe auf die Universität vorbereitete. In den Familien des Adels und des höheren Bürgerstandes war es verbreitet, die Kinder nicht in öffentlichen Schulen, sondern von Privatlehrern unterrichten zu lassen. Der Privatunterricht blieb für Kinder aus den oberen sozialen Schichten bis weit in das neunzehnte Jahrhundert üblich.82 Die Schulen kannten lange Zeit keine formale Abschlussprüfung. Erst 1788 wurde in Preußen das Abitur eingeführt. Das Ziel der Prüfung war zunächst nicht eine Erfolgskontrolle der Schulbildung, sondern man wollte vor allem die Eingangsvoraussetzungen zu den Universitäten standardisieren.83 Das Abitur gewann jedoch sehr schnell die Bedeutung eines allgemeinen Bildungsnachweises, und es 81 Hans-Georg Herrlitz / Wulf Hopf / Hartmut Titze, Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart, Weinheim 1993, S. 52 – 53; Peter Lundgreen, Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick, 2 Bde., Göttingen 1980 – 1981, Bd. 1, S. 37. 82 Margret Kraul, Das deutsche Gymnasium 1780 – 1980, Frankfurt am Main 1984. 83 Schindling, Bildung und Wissenschaft (wie Anm. 80), S. 81.

II. Jugend

65

stärkte die Bedeutung des Gymnasiums für die Zuweisung von Berufschancen. Im Unterschied zu dem Einfluss von sozialer Herkunft und Familie, der in der ständischen Gesellschaft dominierte, gewannen in der bürgerlichen Gesellschaft die Bildungsnachweise an Bedeutung für den Lebensweg. Bildung konnte in der feudalen Gesellschaft ein Weg sein, aus den engen Standesgrenzen auszubrechen. Allerdings hatte ein sozialer Aufsteiger unendlich viele Hindernisse und Vorurteile zu überwinden. Karl Philipp Moritz hat in seinem autobiographischen Roman „Anton Reiser“ beschrieben, wie ein Kind aus beengten kleinbürgerlichen Verhältnissen mit Begabung, Fleiß und Beharrlichkeit den Aufstieg in das Bildungsbürgertum schaffte. Moritz wurde 1756 in Hameln als Sohn eines Militärmusikers geboren. Er fiel den Lehrern durch seine Begabung auf, erhielt gegen den Wunsch der Eltern ein Stipendium, das ihm den Besuch des Gymnasiums erlaubte, studierte Theologie, versuchte sich als Schauspieler, war Lehrer am Militär-Waisenhaus in Potsdam, wurde als Schriftsteller und Pädagoge bekannt und erreichte schließlich als Gymnasiallehrer in Berlin, Professor der Theorie der schönen Künste, Königlich Preußischer Hofrat und Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften einen geachteten Platz im Bildungsbürgertum. In dem Roman schildert Moritz nicht nur die materiellen Entbehrungen, sondern auch die psychischen Belastungen auf dem Weg zwischen den Ständen. Der Romanheld „Anton Reiser“ lebt in seiner Jugend in bitterer Armut, hängt von den Zuwendungen wechselnder Gönner ab, muss oft um eine Übernachtung und ein Essen betteln. Durch seine bürgerliche Kleidung und seine Lateinkenntnisse weist er sich jedoch als Aspirant auf eine Position im Bildungsbürgertum aus. Als er völlig mittellos überlegt, beim Schlossbau in Gotha als Taglöhner zu arbeiten, um einige Groschen zu verdienen, nimmt der Arbeiter, mit dem er spricht, die Mütze vor ihm ab.84 In manchen deutschen Territorien wurden unter dem Einfluss der Aufklärung Bildungsreformen durchgeführt, die von den Elementarschulen bis zu den Universitäten reichten. Der Zugang zu den Bildungsinstitutionen wurde erweitert, und die Bildungsinhalte wurden modernisiert. Nachdem die junge Generation jedoch allzu bereitwillig die neuen Bildungsangebote annahm, fürchteten die Regierungen, dass die Bildung zu sozialen Ansprüchen führte, die sie nicht erfüllen wollten. Der soziale Aufstieg aus einer armen Kleinbürgerfamilie zum angesehenen Gelehrten, wie ihn Moritz erlebte, sollte die Ausnahme bleiben. Im späten achtzehnten Jahrhundert wurde über ein Überangebot an qualifizierten Jugendlichen geklagt. Einige der deutschen Territorien führten staatliche Restriktionen ein, um das Bildungswesen zurückzubauen und an die Realität der Ständegesellschaft anzupassen.85 Aus den bescheidenen Anfängen entstand im neunzehnten Jahrhundert ein differenziertes allgemeines Schulwesen. Die Schulpflicht wurde konsequenter als bisher durchgesetzt, die staatliche Schulverwaltung drängte den Einfluss der Kirche 84 Karl Philipp Moritz / Anton Reiser. Ein psychologischer Roman (1785), München 1991, S. 32. 85 Schindling, Bildung und Wissenschaft (wie Anm. 80), S. 80 – 81.

5 Hardach

66

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

zurück, die Lehrer wurden gründlicher ausgebildet und besser bezahlt. Besonders der Beruf der Elementarschullehrer, die im frühen neunzehnten Jahrhundert schlecht bezahlt und wenig geachtet waren, wurde aufgewertet.86 In Preußen besuchten 1816 ungefähr sechzig Prozent der Kinder über kürzere oder längere Zeit eine Schule, bis 1870 stieg der Anteil auf neunzig Prozent, und in den 1880er Jahren gingen fast alle Kinder zur Schule.87 Die neue Institution, die im neunzehnten Jahrhundert den Unterschied von Stadtschulen und Landschulen aufheben sollte, war die Volksschule. Im frühen neunzehnten Jahrhundert konnte der Begriff der „Volksschule“ unterschiedliche Schultypen meinen. Im engeren Sinne war die Volksschule eine Elementarschule für Arbeiterkinder und Bauernkinder. Im weiteren Sinne bezeichnete man alle Schulen, die eine allgemeine Bildung vermittelten, einschließlich der weiterführenden Stadtschulen oder Bürgerschulen, als Volksschulen, im Unterschied zu dem Gymnasium als Gelehrtenschule. Ein moderner Begriff der Volksschule, der sich von dem ständischen Schulsystem löste, meinte eine allgemeine Grundschule, in der Kinder aus allen sozialen Klassen eine gemeinsame Elementarausbildung erhielten, an die sich dann eine differenzierte Schulbildung anschloss. Die Schuldauer war zunächst noch sehr unterschiedlich. So galt in Preußen zwar die achtjährige Schulzeit als Regel, aber es wurden zahlreiche Ausnahmen geduldet. Als 1839 erstmals die Kinderarbeit eingeschränkt wurde, war nur eine Mindestschulzeit von drei Jahren vorgeschrieben. Nach der Jahrhundertmitte setzte sich mehr und mehr das Modell der voll ausgebauten Volksschule durch, die in den ersten vier Jahren eine allgemeine Grundausbildung für das differenzierte Schulwesen vermittelte und in weiteren vier Jahren die Standardschule für die große Mehrzahl der Kinder war, die nicht auf weiterführende Schulen gingen. Die Modernisierung des Schulwesens setzte sich zuerst in den Städten durch. Auf dem Lande gab es bis weit in die Zeit des Kaiserreichs noch die einklassige Elementarschule, in der ein einziger Lehrer sämtliche Dorfkinder in einem Raum unterrichtete. Zum Unterrichtsprogramm der Volksschule gehörten neben der Religion, die immer noch eine große Rolle spielte, Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen.88 Bürgerschulen und Stadtschulen boten eine weiterführende Schulbildung von mittlerem Niveau an, die länger dauerte und mehr Kenntnisse vermittelte als die Elementarschule, aber nicht zum Universitätsstudium berechtigte. Im frühen neunzehnten Jahrhundert kam der Begriff der Realschule für die weiterführenden Schulen auf, die praktische Kenntnisse vermittelten. Die mittlere Schulebene zwischen 86 Bernd Wunder, Die Verstaatlichung der Volksschule im 19. Jahrhundert, in: Ulrich Andermann / Kurt Andermann, Hg., Regionale Aspekte des frühen Schulwesens, Tübingen 2000. 87 Lundgreen, Sozialgeschichte der deutschen Schule (wie Anm. 81), Bd. 1, S. 93. 88 Frank-Michael Kuhlemann, Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 1794 – 1872, Göttingen 1992.

II. Jugend

67

Elementarschule und Gymnasium hatte aber lange Zeit keine festen Konturen. Es gab unterschiedliche Auffassungen über die Schuldauer, über die Bildungsinhalte und über die Schulabschlüsse. Die Institutionalisierung ging zögernd voran und wurde erst im späten neunzehnten Jahrhundert abgeschlossen. Der neuhumanistische Einfluss hatte die Sonderstellung der Gymnasien betont und hatte damit zugleich den Bedarf an Bildungseinrichtungen wie den Realschulen verstärkt, die sich den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anforderungen der Zeit öffneten. Nachdem die Realschulen an Bedeutung gewannen, stellten sie aber das Monopol der Gymnasialbildung als Zugang zur Universität und zum höheren öffentlichen Dienst in Frage und verlangten eine Gleichstellung. Diese Entwicklung, die nicht zuletzt durch den Wunsch der Realschullehrer nach sozialem Aufstieg gefördert wurde, führte zur Einrichtung von Realgymnasien oder Oberrealschulen, die als Alternativen zum humanistischen Gymnasium den Zugang zur Universität eröffneten.89 Den Realschulen, die auf der mittleren Ebene blieben und nicht mit dem Gymnasium konkurrieren wollten, fehlte zunächst ein allgemein anerkannter Abschluss. Nicht die Bildungspolitik, sondern die Wehrpflicht führte schließlich dazu, dass die mittlere Schulbildung einen formalen Abschluss erhielt. In Preußen wurde bei der Einführung der Wehrpflicht 1814 den Söhnen aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum die Möglichkeit eingeräumt, einen verkürzten Militärdienst von einem Jahr zu leisten. Die privilegierten Jugendlichen mussten ihre militärische Ausrüstung selbst bezahlen. Damit wurde eine soziale Auswahl getroffen, denn in der Regel konnten nicht die Jugendlichen selbst, sondern nur wohlhabende Eltern die Kosten tragen. Die Bildungsvoraussetzungen für den privilegierten Militärdienst waren umstritten. Während manche Ministerialbeamte das Einjährigenprivileg auf Abiturienten beschränken wollten, waren besorgte Eltern der Meinung, dass schon der Besuch einer Stadtschule, Bürgerschule oder Realschule oder ein kurzer Aufenthalt in einem Gymnasium ihre Söhne vor dem längeren Militärdienst retten sollten. Schließlich wurden die Anforderungen 1826 auf den Besuch von sechs Gymnasialklassen oder einer entsprechenden mittleren Schulbildung festgelegt. Das „Einjährige“ setzte sich seitdem als Schulabschluss der mittleren Ebene durch, es öffnete den Weg in eine gehobene Tätigkeit im öffentlichen Dienst und wurde auch in der allgemeinen Arbeitswelt akzeptiert.90 Das Gymnasium diente weiterhin in erster Linie der Vorbereitung auf die Universität. Insgesamt besuchten nur wenige Kinder und Jugendliche eine weiterführende Schule. In den sechziger Jahren schlossen in Deutschland, bezogen auf das Territorium von 1871, ungefähr drei Prozent der Jugendlichen ihre Schulbildung mit dem „Einjährigen“ und zwei Prozent mit dem Abitur ab.91 Kraul, Gymnasium (wie Anm. 82), S. 85. Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgemeinschaft in Deutschland, München 2001, S. 74 – 76; Herrlitz / Hopf / Titze, Deutsche Schulgeschichte (wie Anm. 81), S. 65 – 66. 91 Lundgreen, Sozialgeschichte der deutschen Schule (wie Anm. 81), Bd. 1, 80 – 83. 89 90

5*

68

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

Das Niveau der Universitäten wurde durch die Universitätsreformen des neunzehnten Jahrhunderts gehoben. Als Institutionen von Forschung und Lehre bildeten sie eine begrenzte Zahl von Jugendlichen für die akademischen Berufe aus. Die verbreitetsten Berufe waren Theologen, Juristen, Mediziner und Philologen, in wachsender Zahl aber auch Ökonomen und Naturwissenschaftler.92 Für die technische Ausbildung galt die praktische Erfahrung im Betrieb schon bald nicht mehr als ausreichend. Bergakademien wurden schon in der Zeit des Merkantilismus eingerichtet, um Qualifikationen für eine leitende Tätigkeit in Bergwerken, Hüttenwerken und Salinen zu vermitteln. Seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert wurden neue Fachschulen und Fachhochschulen für Ingenieure gegründet.93 3. Kinderarbeit Der Übergang in die Erwerbstätigkeit war in der Feudalgesellschaft nach den sozialen Klassen differenziert. Für die Kinder der Arbeiter und der Bauern begann die Erwerbsarbeit in der ersten Lebensdekade, für die Kinder der Handwerker und der Kaufleute in der zweiten Dekade, für Kinder aus dem Bildungsbürgertum nach einer längeren Ausbildung am Gymnasium und an der Universität in der dritten Dekade. Sobald die körperliche und geistige Entwicklung es möglich machte, etwas Nützliches zu leisten, wurden in den Familien der Bauern und der Arbeiter aus Kindern Arbeitskräfte. Kinderarbeit war weit verbreitet und war so selbstverständlich, dass sie kaum kommentiert, und noch weniger kritisiert wurde. Die Not führte dazu, dass Eltern ihre Kinder frühzeitig und oft weit über die kindlichen Kräfte zur Arbeit heranzogen. Die Kinder aus ländlichen und städtischen Arbeiterfamilien wurden häufig schon im Alter von sechs bis acht Jahren zur Erwerbstätigkeit herangezogen. Kinder aus den Familien der Bauern und der Heimarbeiter halfen vom gleichen Alter an im elterlichen Betrieb. Es gab viele einfache, wenn auch oft monotone, anstrengende oder auch gefährliche Arbeiten, die von Kindern verrichtet werden konnten. Die Intensität der Mitarbeit hing von der wirtschaftlichen Situation der Familien, aber auch von den individuellen Umständen ab. In den bäuerlichen Familien war die Kinderarbeit nicht nur durch die wirtschaftliche Notwendigkeit legitimiert, sondern sie galt auch als Ausbildung und Vorbereitung für den künftigen Beruf. Mit zunehmendem Alter und mit wachsenden Kräften und Fähigkeiten wurden Kinder und Jugendliche in die verschiedenen Arbeiten in Haus und Hof eingeführt. Johann Baptist Schad, als Bauernsohn 1758 in Franken geboren, hat in seiner Autobiographie die ländliche Kinderarbeit geschildert. Er half seit seinem achten Lebensjahr auf dem Bauernhof der Eltern. 92 R. Steven Turner, Universitäten, in: Karl-Ernst Jeismann / Peter Lundgreen, Hg., Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, München 1987. 93 Peter Lundgreen, Fachschulen, in: Karl-Ernst Jeismann / Peter Lundgreen, Hg., Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, München 1987.

II. Jugend

69

„Mein Vater hatte im ganzen Hauswesen eine Classification von Geschäften und Arbeiten, die unter den Kindern verteilt waren, eingeführt. Mit jedem Jahr stieg jedes Kind zu einer höheren Classe. Das brachte eine vollständige Ordnung in das Hauswesen. Jedes Kind wußte schon sobald es frühe aufgestanden war, größtentheils, was es den Tag über zu thun hatte. Man gewöhnte sich so zu der bestimmten Arbeit, daß von Seiten der Aeltern kein Zwang, keine Drohung, kein Schelten nötig war. Es bedurfte oft nur eines Winkes, um jedes Kind unverdrossen bei seiner Arbeit zu sehen“.94 Die bäuerlichen Familienbetriebe konnten fremde Arbeitskräfte entlassen, wenn die eigenen Kinder mitarbeiteten, so dass sich das Familieneinkommen erhöhte. Kinder aus armen Bauernfamilien wurden im Alter von vierzehn Jahren von ihren Eltern als Kleinknecht oder Kleinmagd an andere Betriebe verdingt und verließen die Familie.95 Man kann davon ausgehen, dass Kinder in der Landwirtschaft mit vierzehn Jahren allmählich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen konnten. Im Handwerk begann die Lehre im allgemeinen mit 13 bis 14 Jahren. Vorher wurden Kinder aber oft schon zu Hilfsarbeiten im Haushalt und in der Werkstatt herangezogen.96 Im Großbürgertum und im Adel gab es längere Ausbildungswege, und die Jugendlichen traten entsprechend später in die Arbeitswelt ein. Zu Beginn der Industriellen Revolution machten sich die Fabrikanten die allgemeine Verbreitung der Kinderarbeit zunutze, um billige Arbeitskräfte zu finden. Als Johann Gottfried Brügelmann 1783 bei der Kurfürstlichen Regierung eine Konzession für die Anlage einer Maschinenspinnerei in der Nähe von Ratingen beantragte, erwähnte er die Beschäftigung von Kindern als einen besonderen Vorzug seines Projektes, „da durch diese Anlage Höchstdero Stadt Ratingen und das ganze Amt die größten Vorteile ziehet, indem eine Menge armer Einwohner und kleiner Kinder von 6 bis 10 Jahren, welche nur gar zu häufig dem Müßiggang und Betteln nachgehen, ihren täglichen Unterhalt verdienen und dadurch von Jugend an zur Arbeit und Fleiß angehalten werden“.97 1784 nahm die Maschinenspinnerei Cromford, wie Brügelmann seine Fabrik in Anlehnung an Richard Arkwrights berühmte Fabrik in Cromford in Nordengland nannte, den Betrieb auf. Es war die erste Maschinenspinnerei in Deutschland. „Mit Ausnahme der Direktoren sind alles nur Kinder, welche arbeiten“, schrieb Salomé von Gélieu 1787 über die Maschinenspinnerei Brügelmanns. Frau von Gélieu war Erzieherin der Prinzessin 94

Johann Baptist Schad’s Lebensgeschichte, von ihm selbst beschrieben, Altenburg 1828,

S. 9. 95 Walter Achilles, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993, S. 24. 96 Ruth Hoppe, Dokumente zur Geschichte der Lage des arbeitenden Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart. Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus 20, Berlin 1969; Jürgen Kuczynski, Studien zur Geschichte des arbeitenden Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart. Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus 19, Berlin 1968. 97 Zitiert nach Siegfried Quandt, Hg., Kinderarbeit und Kinderschutz in Deutschland 1783 – 1976, Paderborn 1978, S. 17.

70

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

Luise von Mecklenburg, der späteren Königin von Preußen, und besuchte die Fabrik im Gefolge der Großmutter ihrer Schülerin, der verwitweten Landgräfin Marie Luise Albertine von Hessen-Darmstadt.98 Die Erzieherin hatte richtig beobachtet. Außer den Aufsehern und Meistern, die mit den „Direktoren“ gemeint sind, beschäftigte Brügelmann in seiner Fabrik fast nur minderjährige Jungen und Mädchen. 1797 waren knapp drei Viertel der Beschäftigten Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren.99 Manche bürgerliche Beobachter waren geneigt, die Behauptungen der Fabrikanten über den positiven Einfluss der Fabrikarbeit auf die heranwachsende Generation zu bestätigen. Aber es gab auch andere Stimmen, und zunehmend erschütterten Berichte über die unerträglichen Lebensbedingungen von Kindern in Bergwerken, Baumwollspinnereien und anderen Industriebetrieben die Öffentlichkeit. Das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit war allzu ungleich. Das Profitstreben der Unternehmer führte zu einer brutalen Ausbeutung gerade der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, der Kinder und Jugendlichen. Die Arbeitsbedingungen in den Bergwerken und Fabriken waren eine Qual für Kinder und hatten zur Folge, dass Jugendliche oft schon mit zwanzig Jahren zu Arbeitsinvaliden wurden. Die Kinderarbeit setzte die Zukunft der Gesellschaft aufs Spiel. Nach dem Vorbild Großbritanniens, das 1802 die Kinderarbeit in Fabriken und Bergwerken eingeschränkt hatte, führte Preußen als erstes deutsches Territorium einen Schutz von Kindern und Jugendlichen ein. Nach dem „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ von 1839 durften Kinder in Fabriken, Bergwerken, Hüttenwerken und Pochwerken erst beschäftigt werden, wenn sie ein Alter von neun Jahren hatten und mindestens drei Jahre lang die Schule besucht hatten.100 Die deutsche Nationalversammlung sah in dem Entwurf einer Gewerbeordnung vom November 1848 eine allgemeine Einschränkung der Kinderarbeit vor, die über einzelstaatliche Regelungen hinausging. Zur Begründung wurde ausdrücklich eine Verantwortung des Staates für die heranwachsende Generation genannt: „Die erste Rücksicht muß der Staat darauf nehmen, daß eine kräftige und gesunde Generation herangezogen wird“.101 Durch das Scheitern der Revolution von 1848 – 1849 wurde dieser Versuch einer allgemeinen, über die einzelnen Territorien hinausgehenden Beschränkung der Kinderarbeit in Deutschland vereitelt. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts stiegen die Anforderungen an die Qualifikation der Arbeiter und Arbeiterinnen. Kinder und Jugendliche erhielten eine längere Ausbildung und traten später in das Berufsleben ein, als es vorher in der Agrargesellschaft für die Kinder aus den Familien der Bauern und Landarbeiter Knieriem, Cromford (wie Anm. 15), S. 66. Knieriem, Cromford (wie Anm. 15), S. 71. 100 Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken vom 9. März 1839. Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1839, S. 156 – 158. 101 Zitiert nach Hoppe, Dokumente (wie Anm. 96), S. 76. 98 99

II. Jugend

71

üblich war. In Preußen wurde 1853 das Mindestalter für die Arbeit in Fabriken und Bergwerken auf zwölf Jahre heraufgesetzt. Gleichzeitig wurde eine stärkere Kontrolle der Schutzbestimmungen durch staatliche Fabrikinspektoren verfügt.102 In der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 wurde das Mindestalter für die Beschäftigung in Bergbau und Industrie nach dem preußischen Vorbild auf zwölf Jahre festgelegt. Kinder von zwölf bis 13 Jahren durften höchstens sechs Stunden am Tag arbeiten und sollten mindestens drei Stunden täglich Schulunterricht haben. Für Kinder von 14 bis 15 Jahren wurde die tägliche Arbeitszeit auf zehn Stunden begrenzt, und die Fabrikarbeit war nachts zwischen 8.30 Uhr abends und 5.30 Uhr morgens verboten.103 Der gesetzliche Jugendschutz, die konsequente Kontrolle der Schulpflicht, aber auch die steigenden Anforderungen an die Fähigkeiten und Kenntnisse der Industriearbeiter und Industriearbeiterinnen führten dazu, dass Kinder unter 14 Jahren in der Zeit zwischen der Revolution von 1848 und der Reichsgründung allmählich aus den Fabriken verschwanden. Jugendliche traten seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts im allgemeinen mit 14 bis 15 Jahren in die Fabriken und andere gewerbliche Betriebe ein. In der Maschinenfabrik Esslingen kamen in der Zeit zwischen 1847 bis 1880 die Lehrlinge mit 14 Jahren in den Betrieb.104 Die öffentliche Kritik richtete sich zunehmend gegen die Kinderarbeit in der Landwirtschaft und in der Heimindustrie.

4. Die Anfänge der allgemeinen Wehrpflicht In der feudalen Gesellschaft war der Einfluss des Militärs auf den Lebenslauf, wie alle anderen Prägungen, ständisch differenziert. Neben Berufssoldaten wurden in großen und in kleinen Territorien männliche Jugendliche zum Militärdienst verpflichtet, um die stehenden Heere aufzufüllen, in manchen Gebieten mehr, in anderen weniger. Es gab jedoch viele Ausnahmen von der Militärpflicht. Sonderbarerweise brauchte der Adel, der ideologisch die Verteidigung des Staates als Standesaufgabe definierte, keinen Militärdienst zu leisten, wenn er die Offizierslaufbahn nicht freiwillig zum Beruf machte. Die Söhne aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum waren vom Militärdienst ausgenommen, traditionell auch die Bergleute, die als unentbehrlich galten, und schließlich auch viele Handwerker oder Heimarbeiter, die aus der Sicht der merkantilistischen Politik dem Staat durch ihr Gewerbe nützlicher waren als durch militärischen Dienst. Die Zwangsrekrutierungen konzentrierten sich daher auf die Söhne von Bauern, Landarbeitern und städtischen 102 Gesetz, betreffend einige Abänderungen des Regulativs vom 9. März 1839, über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken vom 16. Mai 1853. Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1853, S. 225 – 227. 103 Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869. Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1869, S. 245 – 282. 104 Schomerus, Arbeiter der Maschinenfabrik Esslingen (wie Anm. 46), S. 147.

72

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

Lohnarbeitern, deren Arbeitskraft dem Obrigkeitsstaat am ehesten entbehrlich schien. Der Militärdienst konnte viele Jahre dauern. Er wurde ursprünglich als Landesverteidigung begründet, aber die Soldaten mussten auch in Eroberungskriegen dienen, und manche Fürsten bezogen erhebliche Einnahmen daraus, dass sie ihre Untertanen als Soldaten an fremde Herrscher vermieteten.105 Die moderne Wehrpflicht kam in der Französischen Revolution auf. Sie galt als die militärische Seite des neuen Nationalbewusstseins. Nach dem französischen Vorbild führten auch deutsche Territorien eine allgemeine Wehrpflicht ein. In Preußen gab es seit 1814 eine allgemeine Wehrpflicht. Die Dienstzeit betrug anfangs drei Jahre, wurde 1833 aus fiskalischer Sparsamkeit auf zwei Jahre verkürzt, 1856 aber wieder auf drei Jahre heraufgesetzt.106 In Preußen wurde die Militärpflicht strenger durchgeführt als in anderen deutschen Territorien, aber längst nicht jeder Jugendliche musste seinen Wehrdienst ableisten. Breite Unterstützung hatte die Wehrpflicht nur in dem Befreiungskrieg von 1813 – 1815 gefunden. In Friedenszeiten lehnten große Teile der Bevölkerung die Wehrpflicht im allgemeinen, und die Wehrpflicht für die eigenen Söhne im besonderen, als unnütze Erschwernis des Lebens ab. Aber auch in der militärischen Führung war die Militärpflicht umstritten. Viele höhere Offiziere hatten Bedenken gegen die demokratische, egalisierende Tendenz, die man damals noch mit der allgemeinen Wehrpflicht verband, und sie erwarteten von einer kurzzeitig ausgebildeten Miliz im Vergleich zu einer Berufsarmee wenig militärischen Nutzen. Hinzu kamen auch noch finanzpolitische Restriktionen. Der preußische Militärstaat des achtzehnten Jahrhunderts wurde zwar nostalgisch verklärt, aber im neunzehnten Jahrhundert galt es nicht mehr als zeitgemäß, den Staat bedingungslos der Aufrüstung und der Kriegführung unterzuordnen. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurden in Preußen stets weniger als zwanzig Prozent der wehrpflichtigen jungen Männer zum Militär einberufen, in manchen Jahren sogar nur zehn Prozent.107 Erst in den letzten Jahren des Deutschen Bundes entdeckten Politiker wie Bismarck und Militärs wie Moltke die allgemeine Wehrpflicht als Instrument einer aggressiven Machtpolitik und leiteten eine Aufrüstung ein, die in den Deutsch-Dänischen Krieg von 1864, den deutschen Bürgerkrieg von 1866 und den Deutsch-Französischen Krieg von 1870 – 1871 führte.

105 Helmut Schnitter, Die überlieferte Defensionspflicht. Vorformen der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland, in: Roland G. Foerster, Hg., Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-institutionelle Wirkung, München 1994. 106 Heinz Stübig, Die Wehrverfassung Preußens in der Reformzeit, in: Roland G. Foerster, Hg., Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-institutionelle Wirkung, München 1994. 107 Frevert, Die kasernierte Nation (wie Anm. 90), S. 18 – 192, 360 – 361.

III. Beruf

73

III. Beruf 1. Familienkarrieren a) Landwirtschaft In der Landwirtschaft war der Familienbetrieb die herrschende Betriebsform, auch wenn in Ostdeutschland die großen Gutsbetriebe erhebliche Bedeutung hatten. In den Familienbetrieben wurden die verschiedenen Arbeiten durch die Familie zugewiesen, die „ihre eigene, naturwüchsige Teilung der Arbeit besitzt so gut wie die Warenproduktion. Geschlechts- und Altersunterschiede, wie die mit dem Wechsel der Jahreszeiten wechselnden Naturbedingungen der Arbeit, regeln ihre Verteilung unter die Familie und die Arbeitszeit der einzelnen Familienmitglieder“.108 Den Kern der Arbeitsorganisation bildete die gemeinsame Arbeit eines Ehepaares. Bauer und Bäuerin verrichteten selbst einen großen Teil der landwirtschaftlichen und hauswirtschaftlichen Arbeiten, und sie leiteten die übrigen Familienangehörigen und die familienfremden Arbeitskräfte an. Die Männer waren vor allem für die marktorientierte Arbeit zuständig, die Frauen für die Hauswirtschaft. Zusätzlich zu der Erwerbstätigkeit gehörte auch die Betreuung und Pflege der Kinder und der Alten zu den Aufgaben der Frauen. Wenn ein Ehepartner starb, war es üblich, dass der Witwer oder die Witwe nach einer angemessenen Trauerzeit eine neue Ehe eingingen, um die Familie und den Familienbetrieb wieder zu komplettieren.109 Die Erwerbsbiographie wurde im bäuerlichen Milieu durch die Weitergabe der Familienbetriebe bestimmt. Die Kinder wuchsen im elterlichen Betrieb in ihren künftigen Status hinein. Mit achtzehn Jahren galten Jugendliche als voll ausgebildete Arbeitskräfte. Sie arbeiteten dann einige Jahre auf dem elterlichen Hof. Dass Bauernkinder in andere Betriebe gingen, um dort vielleicht etwas Neues zu lernen, war selten. Arme Bauernfamilien schickten ihre Kinder aus Not, nicht zur Erweiterung ihre Ausbildung in fremden Dienst. Nach der Heirat, im allgemeinen im Alter von 25 bis dreißig Jahren, warteten die Söhne und Töchter darauf, den Hof der Eltern oder der Schwiegereltern zu übernehmen. In weiten Teilen Deutschlands, vor allem in Norddeutschland, in Ostdeutschland und in Bayern mit Ausnahme Frankens und der Pfalz, galt das Anerbenrecht, das durch ungeschriebene Traditionen oder durch Gesetz begründet war. Der Familienbetrieb wurde geschlossen an einen Haupterben übergeben. Der Anerbe konnte nach unterschiedlichen regionalen Gepflogenheiten der älteste Sohn, der jüngste Marx, Das Kapital, Bd. 1 (wie Anm. 22), S. 92. Roman Sandgruber, Innerfamiliale Einkommens- und Konsumaufteilung: Rollenverteilung und Rollenverständnis in Bauern-, Heimarbeiter- und Arbeiterfamilien Österreichs im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Peter Borscheid / Hans J. Teuteberg, Hg., Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983, 135 – 140. 108 109

74

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

Sohn oder auch ein von den Eltern ausgesuchter Sohn sein. Wenn Eltern keine Söhne hatten, erbten die Töchter. Die Geschwister wurden mit kleineren Erbteilen abgefunden. Sie versuchten, auf andere Höfe zu heiraten, blieben als Arbeitskräfte auf dem Hof, oder mussten eine andere Arbeit finden.110 In Westdeutschland und Südwestdeutschland, und darüber hinaus in einem breiten Korridor über Hessen, Franken und Südniedersachsen bis Thüringen, herrschte die Realteilung vor. Das Erbe wurde unter den Söhnen und Töchtern aufgeteilt. In den Realteilungsgebieten waren die Chancen der heranwachsenden Generation auf die Übernahme einer Bauernstelle größer als in den Anerbengebieten. Allerdings führte die Teilung oft zur Bodenzersplitterung und zu kümmerlichen Kleinbetrieben.111 Unabhängig von der Vorherrschaft des Anerbenrechts oder der Realteilung konnte die Familientradition aber auch durchbrochen werden, und ein landwirtschaftlicher Betrieb wurde an familienfremde Nachfolger verpachtet oder auch verkauft. Ein Grund konnte sein, dass ein Ehepaar keine Kinder hatte, oder dass die Eltern alle Kinder überlebt hatten. Es kam auch vor, dass ein Besitz verkauft werden musste, weil er überschuldet war. Regionale Untersuchungen haben gezeigt, dass in manchen österreichischen Dörfern in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Bauernhöfe recht häufig an familienfremde Nachfolger verkauft wurden.112 Heuerleute und Insten waren Landarbeiter mit einem besonderen Status. Ihre Familien bildeten eine Familienökonomie auf niedrigstem Einkommensniveau. Heuerleute wurden vor allem in Nordwestdeutschland auf größeren Bauernhöfen neben dem ständigen Gesinde und den Tagelöhnern oder Tagelöhnerinnen beschäftigt. Sie erhielten ein kleines Haus mit etwas Land zur eigenen Nutzung und waren dafür verpflichtet, zu festgesetzten Löhnen im Betrieb der Arbeitgeber zu arbeiten. Die Wohnung und die Landnutzung galten als ein Naturallohn, der durch die Geldlöhne der Familienmitglieder ergänzt wurde. Die Arbeitsorganisation ähnelte einem kleinbäuerlichen Betrieb, die Einkommen entsprachen aber eher dem bescheidenen Lohn der Landarbeiter. Ein Mann erhielt 1851 in Westfalen fünf Groschen Tagelohn, eine Frau drei Groschen vier Pfennig. Bei zwanzig Arbeitstagen im Monat konnte die Familie ein monatliches Bareinkommen von fünf bis sechs Talern erreichen.113 Auf den ostdeutschen Gütern entstand die neue ArbeiterSchlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe (wie Anm. 69), 379 – 411. August von Miaskowski, Das Erbrecht und die Grundeigenthumsvertheilung im Deutschen Reich, 2 Bde. Schriften des Vereins für Socialpolitik 20 und 25, Leipzig 1882 – 1884. 112 Josef Ehmer, Ökonomische Transfers und emotionale Bindungen in den Generationenbeziehungen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Martin Kohli / Marc Szydlik, Hg., Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000, S. 79 – 84. 113 Carl Jantke / Dietrich Hilger, Hg., Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, Freiburg 1965, S. 99. – Der preußische Taler teilte sich in dreißig Groschen zu je zwölf Pfennig. 110 111

III. Beruf

75

schicht der Instleute, nachdem die Bauernfamilien durch die Agrarreformen von der Arbeit für den Gutsbetrieb befreit worden waren. Die Instleute erhielten, ähnlich wie die Heuerleute in der nordwestdeutschen Landwirtschaft, eine Wohnung mit etwas Land und waren dafür zur Arbeit auf dem Gutshof zu einem festgesetzten Lohn verpflichtet. b) Handwerk Im Handwerk war die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung stärker ausgeprägt als in der Landwirtschaft. Die meisten Handwerke waren Männern vorbehalten, nur wenige Handwerke standen Frauen offen. In den größeren Handwerksbetrieben, die Lehrlinge und Gesellen beschäftigten, versorgten die Ehefrauen im allgemeinen den Haushalt. In den zahlreichen Kleinbetrieben des Handwerks war die Ehefrau oft die einzige Mitarbeiterin des Meisters. Die Erwerbsbiographie der Handwerker war in den meisten deutschen Territorien bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durch die Zunftverfassung reguliert. Preußen führte 1810 die Gewerbefreiheit ein und blieb mit einigen Modifikationen auch dabei. Die liberale Gewerbepolitik war aber eher die Ausnahme als die Regel. Die Zunftverfassung wurde nicht nur von konservativen Regierungen verteidigt, sondern auch von den Handwerksmeistern, die in den Zunftbeschränkungen einen Schutz vor den nachdrängenden Gesellen sahen. Einige Territorien, die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts unter dem Einfluss Frankreichs die Gewerbefreiheit eingeführt hatten, kehrten nach 1815 wieder zur Zunftverfassung zurück. Erst nach der Jahrhundertmitte wurden die Zunftrestriktionen aufgehoben. Manche Handwerke waren schon vor der Gewerbefreiheit nicht in die Zunftordnung eingebunden. Dazu gehörten Handwerksmeister, die eine staatliche Konzession erhielten, das umfangreiche Landhandwerk, und neue Handwerkszweige, für die nie eine Zunftorganisation eingerichtet worden war.114 Eine Handwerkslehre begann im Alter von ungefähr 13 Jahren und dauerte drei bis vier Jahre. Nach der Gesellenprüfung galten die jungen Handwerker als ausgebildete Fachkräfte. Zur weiteren Qualifikation gehörte traditionell die Gesellenwanderung, auf der die jungen Handwerker ihre Kenntnisse erweitern sollten. Im neunzehnten Jahrhundert ging dieser Brauch aber zurück. Die Regierungen schränkten die Mobilität ein, weil sie annahmen, dass die jungen Leute sich dem Militärdienst entzogen, und auch weil sie befürchteten, dass sich demokratische Ideen verbreiteten. Vielen Zünften wurde aber auch die vom Zunftbrauch geforderte Unterstützung der fremden Gesellen lästig.115 Nachdem die Gesellen einige Berufserfahrung gesammelt hatten, konnten sie die Meisterprüfung ablegen und sich selbständig machen. 114 Wolfram Fischer, Bergbau, Industrie und Handwerk, in: Wolfgang Zorn, Hg., Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 557 – 562. 115 Wolfram Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 315 – 337.

76

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

Der Weg in die Selbständigkeit wurde erleichtert, wenn ein Geselle den väterlichen Betrieb übernahm. Die Kontinuität des Familienbetriebes konnte für die Eltern eine Alterssicherung sein, und für die Kinder war der Übergang in das Berufsleben einfacher, da sie die Werkstatt oder das Geschäft, das Kapital und die Kundenbeziehungen übernahmen. Handwerkersöhne fanden auch, so lange noch die Zunftordnungen bestanden, leichteren Zugang zur Zunft.116 Die Handelskammer Reutlingen bemerkte 1848, dass es den Tuchmachern als Folge der Krise schlecht gehe, sie blieben aber in ihrem Beruf, „weil die alte Gewohnheit, dass der Sohn des Vaters Handwerk lerne, noch immer vorherrscht“.117 In den größeren Städten war es aber eher die Ausnahme, dass die Handwerkersöhne dem Vater in den Beruf folgten. In Wien zum Beispiel war in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine familiale Kontinuität der Erwerbstätigkeit selten. Eine Ausnahme waren die Bäcker, aber auch in diesem Gewerbe wurde nur knapp ein Viertel der Betriebe von einem Sohn oder einem Schwiegersohn weitergeführt.118 Durch die Industrielle Revolution trat eine stärkere Differenzierung im Handwerk ein. Die traditionelle Kundenproduktion wurde durch die Fabriken verdrängt. Einige wenige Meister stiegen zu Unternehmern auf, die zahlreiche Lehrlinge, Gesellen und Hilfskräfte beschäftigten. Die große Mehrheit der Handwerksmeister arbeitete jedoch alleine, ohne Lehrlinge oder Gesellen. Viele von ihnen fanden durch Reparaturarbeiten eine neue Existenzgrundlage.119 Der Statusunterschied zwischen selbständigen Handwerkern und Arbeitern schlug sich nicht unbedingt in Einkommensdifferenzen nieder. Viele selbständige Handwerksmeister verdienten nicht mehr als ein Facharbeiter. Der Wirtschaftswissenschaftler Karl Bücher kritisierte am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in der Handwerksenquete des Vereins für Socialpolitik die nostalgische Verklärung, „dass die Zunftzeit überhaupt die goldene Zeit des Handwerks gewesen sei, dass der Handwerkerstand damals ein Stand von wohlhabenden Leuten gewesen sei“.120 In den kleinen Städten konnten sich die Handwerksmeister nur durch etwas Ackerbau als Nebenerwerb halten, in größeren Städten betrieben sie neben ihrem Handwerk einen kleinen Laden. Zwischen den verschiedenen Handwerken gab es erhebliche Einkommensunterschiede. Am oberen Ende der Einkommensskala standen meist die Bäcker und Fleischer, am unteren Ende die Schneider und Schuhmacher. In Wolfenbüttel verdienten 1825 die Bäcker im Durchschnitt 24 Taler im Monat, Maurer 23 Taler, Schumacher 13 Taler und Schneider zehn Taler. Eine GeBorscheid, Textilarbeiterschaft in der Industrialisierung (wie Anm. 26), S. 311. Zitiert nach Borscheid, Textilarbeiterschaft in der Industrialisierung (wie Anm. 26), S. 103. 118 Ehmer, Ökonomische Transfers (wie Anm. 112), S. 86 – 89. 119 Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 328 – 331. 120 Karl Bücher, Einkommensverhältnisse der Leipziger Handwerker, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland, Bd. 6. Schriften des Vereins für Socialpolitik 67, Leipzig 1897, S. 19. 116 117

III. Beruf

77

neration später waren 1855 die Durchschnittseinkommen der Bäcker auf 34 Taler, der Maurer auf 35 Taler und der Schneider auf 13 Taler gestiegen, die Schuhmacher verdienten dagegen verdienten im Durchschnitt nur noch zwölf Taler im Monat. Junge Handwerker gingen oft in die Fabriken, weil sie dort bessere Verdienstmöglichkeiten hatten. Im Alter konnten selbständige Handwerker ihr Einkommen aber länger behaupten und waren nicht dem frühen Leistungsabfall und Lohnverlust ausgesetzt wie die Fabrikarbeiter.121 c) Heimindustrie In der Heimindustrie gab es eine Familienökonomie auf niedrigstem Einkommensniveau. Frauen und Männer arbeiteten oft gemeinsam, und auch die Kinder wurden frühzeitig zur Arbeit herangezogen. Das Lebenseinkommen war eng mit dem Familienzyklus verbunden. Die Kinder traten als Gehilfen oder Gehilfinnen ihrer Eltern wesentlich früher in die Erwerbsarbeit ein als die künftigen Handwerker, oft schon mit sechs bis sieben Jahren, und es gab im allgemeinen keinen formalen Ausbildungsweg. Kinder und Jugendliche lernten den Beruf, indem sie ihren Eltern bei der Arbeit halfen. Wenn ältere Frauen und Männer ihren Beruf nicht mehr voll ausfüllen konnten, wurden sie wieder zu Hilfskräften der jüngeren Berufstätigen. Im wichtigsten Zweig der Heimindustrie, der Textilindustrie, waren zahlreiche Frauen beschäftigt. Frauenarbeit war in dieser Branche allgemein akzeptiert, denn Spinnen und Weben galten traditionell als weibliche Beschäftigung. Johann Wolfgang von Goethe hat die Frauenarbeit in der Hausindustrie literarisch veredelt: „Die Spinnende sitzt vor dem Rade, nicht zu hoch; mehrere hielten dasselbe mit übereinandergelegten Füßen in festem Stande, andere nur mit dem rechten Fuß, den linken zurücksetzend. Mit der rechten Hand dreht sie die Scheibe und langt aus, so weit und hoch sie nur reichen kann, wodurch schöne Bewegungen entstehen und eine schlanke Gestalt sich durch zierliche Wendung des Körpers und runde Fülle der Arme gar vorteilhaft auszeichnet; die Richtung besonders der letzten Spinnweise gewährt einen sehr malerischen Kontrast, so dass unsere schönen Damen an wahrem Reiz und Anmut zu verlieren nicht fürchten dürften, wenn sie einmal anstatt der Gitarre das Spinnrad handhaben wollten“.122 Einen herben Kontrast zur literarischen Veredelung der Heimindustrie stellten die Berichte über die schlesische Leinenindustrie dar, die im Vormärz die Öffentlichkeit bewegten. Der Regierungsassessor Alexander Schneer untersuchte im Auftrag des „Breslauer Vereins zur Abhilfe der Not unter den Spinnern und Webern in Schlesien“ die soziale Lage der Heimarbeiterfamilien im Frühjahr 1844, kurz vor 121 Fischer / Krengel / Wietog, Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes (wie Anm. 39), S. 153. 122 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821). Sämtliche Werke, Bd. 17, München 1991, S. 572.

78

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

dem Weberaufstand. In den Familien herrschte bittere Not. Kinder mussten oft schon vom vierten Lebensjahr an als Spulkinder arbeiteten. Die Familien lebten trotz angestrengter Arbeit am Spinnrad oder am Webstuhl in Armut. Mütter, die mehrere Kinder versorgten, spannen oder webten unentwegt, um einige Groschen in der Woche zu verdienen. Invalide und Kranke setzten aus wirtschaftlicher Notwendigkeit unter größten Mühen ihre Arbeit fort.123 In einigen Regionen gab es in der Heimindustrie einen Rollentausch: Die Frauen waren erwerbstätig, und die Männer sorgten für die Familie. Diese von dem vorherrschenden Rollenmodell abweichende Arbeitsteilung wurde in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in der ländlichen Leinenweberei der Lausitz beschrieben. Die Frauen waren die Weberinnen. Manche Männer hatten andere Berufe, viele Ehemänner arbeiteten aber als Hilfskräfte ihren Ehefrauen zu, wickelten Spulen oder fertigten Kettrahmen, und führten den Haushalt.124 Auch in anderen Textilregionen kam es vor, dass die Frauen die Hauptarbeit leisteten und die Männer als Hilfskräfte tätig waren. Der Rollentausch in der heimindustriellen Produktion führte in manchen Regionen auch zu einem selbstbewussteren Auftreten der Frauen in der Öffentlichkeit, sehr zur Verwunderung zeitgenössischer bürgerlicher Beobachter.125 2. Männerkarrieren a) Landarbeiter In der Landwirtschaft wurden im frühen neunzehnten Jahrhundert Kinder häufig schon im Schulalter als Arbeitskräfte beschäftigt. Mit der Durchsetzung der Schulpflicht und der Einschränkung der Kinderarbeit stieg das Eintrittsalter. Jugendliche begannen mit ungefähr 14 Jahren die Ausbildung und waren mit 18 bis zwanzig Jahren ausgebildete Knechte. Die Knechte wurden im allgemeinen für ein Jahr eingestellt und lebten im Haushalt des Arbeitgebers. Die Beschäftigung wurde verlängert, wenn ein entsprechender Arbeitskräftebedarf bestand, und wenn beide Seiten mit den Konditionen einverstanden waren. Nach einigen Jahren Berufserfahrung konnten die Landarbeiter zum Großknecht aufsteigen. Die Arbeit als Knecht oder Großknecht war keine Lebensstellung, sondern galt als eine vorübergehende Phase für junge, unverheiratete Männer. Die Knechte erhielten den größten Teil ihres Lohns als Naturalleistung in Form von Unterkunft und Verpflegung; hinzu kam ein Kroneberg / Schloesser, Weber-Revolte 1844 (wie Anm. 40), S. 114 – 143. Jean Quataert, Teamarbeit in sächsischen Handweberfamilien im 19. Jahrhundert. Eine einleitende Untersuchung zur Frage der Geschlechterrollen in der Arbeit, in: Ruth-Ellen B. Joeres / Annette Kuhn, Hg., Frauen in der Geschichte, Bd. 6, Düsseldorf 1985. 125 Hans Medick, Zur strukturellen Funktion von Haushalt und Familie im Übergang von der traditionellen Agrarwirtschaft zum industriellen Kapitalismus: Die protoindustrielle Familienwirtschaft, in: Werner Conze, Hg., Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 279 – 281. 123 124

III. Beruf

79

kleiner Barlohn. Da freie Lohnarbeiter oft kaum das Existenzminimum erreichten, in elenden Wohnungen lebten und Hunger litten, waren die im Haushalt des Arbeitgebers lebenden Landarbeiter und Landarbeiterinnen allein schon durch den Naturallohn besser gestellt als viele andere Arbeiter und Arbeiterinnen. Wenn Knechte heiraten und eine eigene Familie gründen wollten, schieden sie aus dem Haushalt des Arbeitgebers aus. Damit war im allgemeinen verbunden, dass sie nicht mehr ganzjährig beschäftigt wurden, sondern sich als Tagelöhner Arbeit suchen mussten. Da die Arbeit in der Landwirtschaft starken saisonalen Schwankungen unterlag, wurden in Zeiten größeren Arbeitskräftebedarfs kurzfristig zusätzliche Arbeitskräfte beschäftigt. Das Einkommen der Tagelöhner war instabil, häufig wechselten sie je nach den Beschäftigungsverhältnissen zwischen Landwirtschaft und Gewerbe. Auf den großen Gütern in Ostdeutschland war der Unterschied zwischen Knechten und freien Lohnarbeitern geringer. Die Knechte lebten nicht im Haushalt des Arbeitgebers, und viele Knechte und Mägde waren verheiratet.126 b) Handwerk und Industrie Zu den Handwerksarbeitern im engeren Sinne gehörten die Gesellen und Lehrlinge, im weiteren Sinne auch die Tagelöhner, die in manchen Handwerksbetrieben beschäftigt wurden. Im frühen neunzehnten Jahrhundert gab es zahlreiche Alleinmeister, und die Zahl der Gesellen war deutlich kleiner als die Zahl der Meister. Ein Geselle hatte daher recht gute Aussichten, sich als Meister selbständig zu machen, auch wenn er dann als Alleinmeister oft nur ein bescheidenes Einkommen erzielte. Durch den Konzentrationsprozess nahmen die durchschnittlichen Betriebsgrößen im Handwerk jedoch zu, und seit den sechziger Jahren war die Zahl der Gesellen höher als die Zahl der Meister.127 Viele Handwerksgesellen verbrachten nunmehr ihre gesamte Erwerbsbiographie als Arbeitnehmer. Gesellen wurden vor allem in den großen, überall verbreiteten Handwerken der Bäcker und Fleischer, Schneider und Schuhmacher, Maurer und Zimmerleute beschäftigt. Die Gesellen konnten im Haushalt des Arbeitgebers leben und erhielten dann einen zusätzlichen, relativ kleinen Barlohn, oder sie führten ihren eigenen Haushalt und erhielten dann einen reinen Geldlohn. Tagelöhner hatten in der gewerblichen Produktion im allgemeinen keine Berufsausbildung, sondern waren als Hilfskräfte tätig.128 Die Fabrikarbeit galt vielen zeitgenössischen Beobachtern im Vergleich zum Handwerk als eine Dequalifizierung. Dieses Bild entstand durch die Konzentration vieler Beschäftigter in gleicher Klassenlage an einem Ort. Von weitem erschienen sie als „Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt“. 129 Aus der Nähe beAchilles, Deutsche Agrargeschichte (wie Anm. 95). Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 326 – 328. 128 Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 285 – 357. 129 Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke 4, Berlin 1969, S. 469. 126 127

80

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

trachtet setzten die Arbeitermassen sich aber aus Arbeitern und Arbeiterinnen mit unterschiedlicher Ausbildung und Tätigkeit zusammen. Die Fabriken brauchten Beschäftigte mit verschiedenen Qualifikationen, von Hilfsarbeitern, die Rohstoffe oder Fertigwaren transportierten, bis zu Fachkräften, die mit komplizierten Maschinen umgehen konnten.130 In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts konzentrierten sich die vielen verschiedenen Qualifikationen auf die drei Qualifikationsstufen der Facharbeiter, angelernten Arbeiter und ungelernten Arbeiter, die bis heute für die Industriearbeit maßgeblich geblieben sind. In einem Bericht über die Arbeiter der Maschinenbaufabriken in Chemnitz hieß es 1847: „Die Arbeiter auf Maschinenfabriken teilen sich in drei Klassen. Und zwar besteht die erste Klasse aus denen, welche durch ihre Profession auf den Maschinenfabriken unentbehrlich sind (Schmiede, Schlosser, Zeugschmiede, Drechsler und Tischler); in die zweite Klasse rechne ich alle die, welche keiner solchen Profession angehören, sondern einer anderen, die sich auf die Fabrik begaben, wo sie durch günstige Umstände, durch Emsigkeit und Talent sich eine Geschicklichkeit erwarben, die ihnen eine ehrenwerte Existenz sichert. Sie nennen sich Maschinenbauer und finden zwischen sich und der ersten Klasse keinen Unterschied, da ihrer Meinung nach ein Schlosser oder Tischler ebenso wenig auf die Fabrik gehört, als ein Müller oder Strumpfwirker. Es gibt in dieser Klasse Leute aus allen Professionen: Müller, Formstecher, Spinner, Drucker, Bäcker, Fleischer, Weber, Strumpfwirker u. a., die sich meistens an der Drehbank befinden, zuweilen am Schraubstock und der Hobelbank, seltener am Feuer. Die dritte Klasse bilden endlich die Handarbeiter und Tagelöhner, die, wenn auch nicht die zahlreichsten, doch die ärmsten sind“.131 Die Fabriken brauchten eine große Zahl von Fachkräften mit längerer Ausbildung. Zu den traditionellen Berufen, die aus dem Handwerk bekannt waren, kamen neue Qualifikationen, die zum Umgang mit den neuen Technologien befähigten. Die Facharbeiter kamen oft aus dem Handwerk. Ein rheinischer Handwerksgeselle hat in den dreißiger Jahren die Entfremdung geschildert, die er empfand, als er aus der Werkstatt in eine Fabrik geriet. Die Fabrikarbeiter kannten nicht mehr die Solidarität der Handwerksgesellen, und die Arbeitsteilung zwang sie zu einer monotonen Tätigkeit, die nicht ihren Fähigkeiten entsprach. „Ist überhaupt in einer Fabrik, wie der hiesigen, anders, als in einem meisterlichen Haus und kein Zusammenhalt nit unter den Gesellen. Läuft jeder seinen Weg und dreht sich nit viel nach dem anderen. Eine zunftmäßige Aufführung ist überall unter den Kollegen nit zu finden und kein Umgang, wie unter ordentlichen Gesellen. Zudem gefällt mir das Arbeiten nit, dieweil jeder den langen Tag die gleiche Arbeit verrichten muß und dabei das Ganze aus den Augen verliert. Muß wohl in einer Fabrik solcherweis geschehen, kann mich aber nit darein schicken und mein immer, ich triebe mein 130 131

Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 258 – 284. Zitiert nach Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 263.

III. Beruf

81

Gewerb nur halb“.132 In der Maschinenfabrik Esslingen traten in der Zeit von 1847 bis 1880 die künftigen Facharbeiter im allgemeinen mit 14 bis 15 Jahren als Lehrlinge in den Betrieb ein, manche kamen auch erst mit 22 bis 25 Jahren. Die Lehrzeit dauerte bei den Jugendlichen mehrere Jahre, bei erwachsenen Arbeitern war sie auf zwei Jahre verkürzt. In der Lehrzeit wurden die Arbeiter im Zeitlohn beschäftigt. Jugendliche erhielten etwa sechzig Prozent des Zeitlohns der erwachsenen Arbeiter. Mit 25 bis 27 Jahren galten die Arbeiter als ausgebildete Facharbeiter. Sie wurden nunmehr im Akkord beschäftigt, ihr Einkommen lag im Durchschnitt um ungefähr zwanzig Prozent über dem Zeitlohn.133 Zwischen den Facharbeitern und den ungelernten Arbeitern entstand die neue Schicht der angelernten Arbeiter. Ihre Aufgabe war es vor allem, die Maschinen zu bedienen. Dazu brauchten sie, anders als die Hilfsarbeiter, eine berufliche Anleitung, und ihre Arbeit trug wesentlich zur Produktion bei, aber die Tätigkeit erforderte nicht die umfassende Qualifikation eines Facharbeiters. Anfangs wurde die angelernte Arbeit gering geschätzt. In den frühen Textilfabriken waren viele der angelernten Arbeitskräfte Kinder, die nach kurzer Einarbeitung die einfachen Spinnmaschinen bedienen konnten. In anderen Fabriken waren die Anforderungen an die angelernten Arbeiter und Arbeiterinnen jedoch größer, und mit der Weiterentwicklung der Produktionstechnik nahmen die Ansprüche an die Beschäftigten allgemein zu. Die angelernten Arbeitskräfte wurden daher im Status und vor allem auch im Lohn aufgewertet. Den ungelernten Arbeitern musste eine kurze Einweisung am Arbeitsplatz genügen. Die Arbeitsabläufe in den frühen Fabriken beruhten noch in erheblichem Umfang auf Handarbeit. Daher wurden zahlreiche Hilfsarbeiter benötigt, um den Fachkräften zuzuarbeiten, Material zu transportieren, Öfen zu feuern oder Abfälle zu entsorgen. Es gab leichte Arbeiten und schwere Arbeiten, gemeinsam war ihnen aber, dass sie keine besondere Ausbildung erforderten, oft auch keine große Anspannung und kein schnelles Tempo. Als Hilfsarbeiter wurden oft Kinder und Jugendliche beschäftigt, oder ältere Arbeiter, die den strengen Rhythmus der Maschinenarbeit und Akkordarbeit nicht mehr aushielten. Mit den verschiedenen Qualifikationsstufen war eine beträchtliche Differenzierung der Löhne verbunden. In einer Chemnitzer Maschinenspinnerei verdienten 1847 die Spinnmeister 26 Taler im Monat, Maschinenschlosser knapp 14 Taler, Spinner und Spinnerinnen zehn bis elf Taler, Tagelöhner neun Taler und Kinder als Hilfskräfte zwei Taler.134 Zwischen den verschiedenen Industriezweigen gab es erhebliche Lohnunterschiede. Die Facharbeiter der Maschinenfabrik Esslingen verdienten 1850 im Durchschnitt 25 Gulden monatlich, 1869 war ihr Durchschnittslohn auf 37 Gulden gestiegen.135 Die Bergleute hatten in der Mitte des neunzehn132 Zitiert nach Hansjoachim Henning, Quellen zur sozialgeschichtlichen Entwicklung in Deutschland von 1815 bis 1860, Paderborn 1977, S. 116. 133 Schomerus, Die Arbeiter der Maschinenfabrik Esslingen (wie Anm. 46), S. 143 – 157. 134 Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 272.

6 Hardach

82

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

ten Jahrhunderts im Vergleich zu vielen Fabrikarbeitern keine ungewöhnlich hohen Löhne, aber ihre Beschäftigung und ihr Verdienst galten durch die staatliche Regulierung als gesichert; das war in der Zeit des Pauperismus ein großer Vorteil. Die Löhne richteten sich nach dem Gedinge, einem Gruppenakkord. In den Jahren von 1825 bis 1848 verdienten die Bergleute im Ruhrgebiet im allgemeinen sieben Taler im Monat, Spitzenverdiener konnten bis zu elf Talern erreichen. Die Gehälter der Grubenbeamten auf den einzelnen Zechen betrugen 16 bis zwanzig Taler monatlich, die Gehälter der Revierbeamten über 33 Taler. Bis 1869 stieg der Durchschnittslohn der Bergleute durch die rasche Expansion des Bergbaus und die entsprechend große Nachfrage nach Arbeitskräften auf 23 Taler.136 Qualifikationen, die weit verbreitet und schnell erlernbar waren, brachten nur einen geringen Lohn ein. Unter dem großen Arbeitskräfteangebot litten insbesondere die Arbeiterinnen und Arbeiter der Textilindustrie, die im allgemeinen sehr schlecht bezahlt wurden. In der Baumwollindustrie betrug der Durchschnittslohn für Maschinenspinner 1800 in der norddeutschen Talerwährung nur knapp vier Taler monatlich. Er stieg bis 1850 auf zehn Taler und bis 1869 auf zwölf Taler.137 Relativ hohe Löhne, wie sie die Facharbeiter erhielten, wurden nur während einer kurzen Lebensphase der äußersten Leistungsfähigkeit erreicht. Auf eine kurze Phase der höchsten Leistungsfähigkeit und Verdienstmöglichkeit folgte für die Fabrikarbeiter ein früher Altersabstieg, mit nachlassenden Kräften und sinkendem Einkommen. Für die meisten Facharbeiter setzte nach dem vierzigsten Lebensjahr eine Abstiegsphase ein. Im Maschinenbau konnten Schlosser und Dreher den Beginn des Altersabstiegs auf das 55. Lebensjahr aufschieben.138 Ältere Arbeiter blieben als ungelernte Arbeiter im Betrieb, oder sie verdienten als Tagelöhner mit unregelmäßigen und schlecht bezahlten Gelegenheitsarbeiten ihren Lebensunterhalt. Im Unterschied zur Kontinuität der Erwerbsbiographie in der alten Mittelklasse kannten Arbeiter und Arbeiterinnen auch in guten Zeiten keine regelmäßigen Beschäftigungsverhältnisse.139 Der Wechsel der Jahreszeiten, Expansion oder Kontraktion in einzelnen Branchen, Aufschwung und Krise beeinflussten den Arbeitsmarkt. Arbeiter mussten mobil sein, um den wechselnden Arbeitsgelegenheiten zu folgen. Besonders der Eisenbahnbau zog Arbeiter aus ganz Deutschland an. Meile 135 Fischer / Krengel / Wietog, Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes (wie Anm. 39), S. 148 – 149. – Der Monatslohn stieg in norddeutscher Währung von 14 Talern 1850 auf 21 Taler 1869. 136 Klaus Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn 1981, S. 110. 137 Fischer / Krengel / Wietog, Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes (wie Anm. 39), S. 147 – 149. 138 Schomerus, Die Arbeiter der Maschinenfabrik Esslingen (wie Anm. 46), S. 143 – 157. 139 Hansjörg Siegenthaler, Arbeitsmarkt zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht im Zeitalter modernen Wirtschaftswachstums, in: Jürgen Kocka / Claus Offe, Hg., Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt am Main 2000.

III. Beruf

83

um Meile folgten die Bauarbeiter dem Fortschreiten der Trasse, um sich nach der Fertigstellung der Bahnlinie zu zerstreuen und vielleicht auf einer anderen Baustelle wiederzufinden. Ein unstetes Arbeiterleben in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts schilderte Karl Fischer. Er wurde 1841 als Sohn einer verarmten Bäckerfamilie geboren, lernte bei seinem Vater das Bäckerhandwerk und legte die Gesellenprüfung ab. Die ärmlichen Verhältnisse und die Lehrzeit unter dem harten Vater hatten ihm jedoch den Beruf verleidet, und er wusste den Gesellenbrief nur zu schätzen, weil er auf seinen Wanderungen bei den Bäckermeistern anklopfen und um Unterstützung bitten konnte. Fischer führte ein Wanderleben, stets auf der Suche nach Arbeit. Sechs Jahre arbeitete er als Erdarbeiter beim Bau verschiedener Eisenbahnstrecken. Die Bahnarbeiter schütteten in mühevoller Arbeit mit Spaten, Hacke und Schubkarren Dämme auf, gruben Einschnitte, bauten Brücken, Tunnels und Trassen, und legten die Gleise. Fischer arbeitete zunächst bei Hüneburg an der Halle-Kasseler Bahn, dann an der Mosel beim Chausseebau, an einer Bahnstrecke bei Kempen am Niederrhein, an der Eisenbahnbrücke bei Neuß, an Bahnstrecken im Bergischen Land bei Vohwinkel, in der Eifel und im Ruhrtal. Die Arbeit war hart und eintönig, Fischer karrte meist als Erdarbeiter den ganzen Tag im Akkord Sand, Lehm und Kies. Er wohnte in der Nähe der Baustellen in einer selbst gebauten Hütte, bei einem Bauern in der Scheune, seltener bei einem Wirt mit Unterkunft und Verpflegung. Er lebte von der Hand in den Mund, der Lohn reichte gerade für den Lebensunterhalt und für geringe Ersparnisse, um die Wintermonate zu überstehen, in denen nicht gebaut wurde. Arbeitsunfälle und Krankheiten zwangen Fischer immer wieder zu Behandlungen im Spital. Fischer blieb unverheiratet, manche seiner Arbeitskollegen hatten aber eine Familie an einem fernen Heimatort. Auf die unruhige Zeit beim Eisenbahnbau folgten sechzehn Jahre als Steinbrenner in einem Stahlwerk. Als er das Stahlwerk verließ, war er so arm wie 22 Jahre vorher auf seiner ersten Baustelle als Eisenbahnarbeiter. Das unruhige Leben, das Karl Fischer in jungen Jahren führte, war im neunzehnten Jahrhundert charakteristisch für viele Arbeiter. Es war keine selbst gewählte Lebensweise, sondern eine Armutsmobilität, die durch die Ungunst der Verhältnisse erzwungen wurde.140 c) Die neue Mittelklasse Zwischen Kapital und Arbeit expandierte im neunzehnten Jahrhundert die neue Mittelklasse der Angestellten und Beamten. Die Beamten, die mit der Bürokratisierung der Staatsverwaltung an Einfluss gewannen, erreichten im neunzehnten Jahrhundert eine Institutionalisierung ihrer Erwerbstätigkeit als Lebenslaufbahn. Zu dem Laufbahnmodell gehörten die Beschäftigung bis zur Dienstunfähigkeit, ein mit den Dienstjahren steigendes Gehalt, die Aussicht auf Beförderungen und eine Pensionszusage. Die Gehälter wurden immer als Jahresgehälter festgesetzt; zum 140 Karl Fischer, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Paul Göhre, Leipzig 1903.

6*

84

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

besseren Vergleich mit anderen Löhnen und Gehältern sind sie in den folgenden Angaben in Monatsgehälter umgerechnet. In Preußen konnte 1849 das Gehalt eines Unterbeamten, zum Beispiel eines Schutzmanns oder eines Kanzleidieners, von zwanzig Talern bis auf ein Endgehalt von vierzig Talern steigen. Das Gehalt eines Regierungsrats konnte mit zunehmenden Dienstjahren von 67 Talern bis auf 158 Taler Endgehalt steigen. Für einen Unterstaatssekretär, der seine Position erst spät in seiner Laufbahn erreichen konnte, waren keine Steigerungen mehr vorgesehen, er bezog ein festes Gehalt von 333 Talern im Monat. Bis zur Reichsgründung stiegen die Gehälter etwas an. 1870 reichten die Gehälter der Unterbeamten von 25 Talern bis 42 Taler im Monat, das Gehalt eines Regierungsrats von 100 Talern bis 167 Taler, und ein Unterstaatssekretär erhielt 375 Taler.141 d) Unternehmer Die meisten Unternehmer waren nach ihrem Berufsbild Kaufleute. Manche Unternehmer hatten eine Ausbildung zum Techniker oder Ingenieur. In einigen Branchen, zum Beispiel im Maschinenbau, stiegen auch Handwerker in die Unternehmerklasse auf Durch die Industrielle Revolution entwickelte sich eine funktionale Differenzierung von Industriellen, Bankiers und anderen Unternehmern, etwa den Leitern der Versicherungsgesellschaften oder Eisenbahnen.142 Die Hürde auf dem Weg in eine Unternehmerkarriere war weniger die Ausbildung als das Kapital. Die meisten Unternehmer waren Eigentümer des Betriebes, den sie leiteten. Das Kapital wurde häufig geerbt, selten in der eigenen Erwerbsbiographie erworben. Mit der Zunahme der Kapitalgesellschaften traten neben den Eigentümerunternehmern die angestellten Unternehmer auf.143 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung war in den Unternehmerfamilien besonders ausgeprägt; es gab nur wenige Unternehmerinnen. Aber das frühe neunzehnte Jahrhundert war eine Zeit des Übergangs. Die Unternehmertätigkeit wurde zwar zunehmend individualisiert, doch es dauerte einige Zeit, bis sie sich aus dem Kontext der traditionellen Familienökonomie löste. Die Frau des Kaufmanns konnte eine Mitgift einbringen, die das wirtschaftliche Kapital des Unternehmens stärkte. Sie mehrte das soziale Kapital der Unternehmung, das im Zeitalter der Familienbetriebe sehr wichtig war, wenn sie persönliche Beziehungen aus ihrer Elternfamilie mitbrachte, die dem Geschäft nutzten, oder durch die Pflege der Geselligkeit zur Reputation des Familienunternehmens beitrug.144 141 Fischer / Krengel / Wietog, Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes (wie Anm. 39), S. 161 – 162. 142 Jürgen Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1975, S. 42 – 65. 143 Kocka, Unternehmer (wie Anm. 142), S. 80 – 87. 144 Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte 1750 – 1850, Göttingen 2000.

III. Beruf

85

3. Frauenkarrieren Die Erwerbstätigkeit von Frauen war in den Familienbetrieben der Landwirtschaft, des Handwerks und der Heimindustrie weit verbreitet. Die Aussichten auf eine individuelle Erwerbskarriere waren für Frauen jedoch durch das gesellschaftliche Leitbild der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung beschränkt. Wenn Frauen ihr Leben nicht nach dem bürgerlichen Familienideal einrichten wollten, sondern eine Berufstätigkeit anstrebten, hatten sie nur wenig Möglichkeiten. Einer der wenigen bürgerlichen Frauenberufe war die Tätigkeit als Lehrerin in privaten Haushalten und zunehmend auch in Schulen.145 Die Forderungen nach der Gleichberechtigung von Frauen in der Bildung und im Beruf bezogen sich daher vor allem auf die bürgerlichen Berufe.146 Das bürgerliche Familienideal wirkte auch auf die Arbeiterfamilien ein. Es galt als erstrebenswert, dass die Frau nach der Heirat oder nach der Geburt des ersten Kindes ihre Erwerbstätigkeit aufgab, um sich der Familie zu widmen. Aus wirtschaftlichen Gründen waren Ehefrauen aber oft gezwungen, erwerbstätig zu bleiben, um zum Familieneinkommen beizutragen. Frauen waren in großer Zahl als Landarbeiterinnen, Heimarbeiterinnen, Tagelöhnerinnen und Fabrikarbeiterinnen tätig. Da eine Vollerwerbstätigkeit neben der Familienarbeit kaum möglich war, suchten die Frauen im allgemeinen zeitlich eingeschränkte Nebentätigkeiten.147 Landarbeiterinnen traten im frühen neunzehnten Jahrhundert ebenso wie Landarbeiter oft schon als Kinder in das Arbeitsleben ein. Durch die Schulpflicht und die Einschränkung der Kinderarbeit verschob sich der Beginn der Erwerbsphase allmählich auf das 14. Lebensjahr. Mit 18 Jahren galten Landarbeiterinnen als ausgebildet und arbeiteten dann im allgemeinen mehrere Jahre als Magd. Nach einigen Jahren Berufserfahrung konnten sie zur Großmagd aufsteigen. Wenn Landarbeiterinnen aus der Abhängigkeit des Gesindedienstes ausbrechen wollten, mussten sie sich für die ungesicherte Arbeit als Tagelöhnerin entscheiden. Die Löhne der Landarbeiterinnen lagen deutlich unter den Löhnen der Landarbeiter. In Westfalen betrug 1851 der Barlohn, der zusätzlich zur freien Unterkunft und Verpflegung gezahlt wurde, für einen ausgebildeten Knecht 18 bis 19 Taler Lohn im Jahr, für eine ausgebildete Magd 14 Taler und für einen Kleinknecht acht Taler.148 Manche zeitgenössischen Beobachter nahmen an, dass die Fabrik die traditionelle Unterscheidung von Frauenarbeit und Männerarbeit aufhob. Die Maschinen konnten von Frauen oder Männern, oft sogar von Kindern bedient werden. Nach 145 Irene Hardach-Pinke, Die Gouvernante. Geschichte eines Frauenberufs, Frankfurt am Main 1993. 146 Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1986, S. 51 – 80. 147 Gerhard Schildt, Frauenarbeit im 19. Jahrhundert, Pfaffenweiler 1993; Gerhard Schildt, Die Arbeiterschaft im 19. und 20. Jahrhundert, München 1996. 148 Jantke / Hilger, Die Eigentumslosen (wie Anm. 113), S. 99 – 100.

86

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

einer Formulierung von Marx vermehrte die Mechanisierung das Angebot an Arbeitskräften „durch die Einreihung aller Mitglieder der Arbeiterfamilie, ohne Unterschied von Geschlecht und Alter, unter die unmittelbare Botmäßigkeit des Kapitals“.149 Da Frauen niedrigere Löhne akzeptierten, hatten sie auf dem Arbeitsmarkt einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Männern. Eine typische Frauenindustrie war die Textilindustrie, hier waren im allgemeinen mehr Frauen als Männer beschäftigt. Die Textilfabriken blieben jedoch eine Ausnahme. In den meisten Industriezweigen war die Arbeit geschlechtsspezifisch segmentiert. In manchen Fabriken wurde die Arbeitsorganisation der Heimindustrie auf die Fabrik übertragen. Der Mann wurde als Facharbeiter beschäftigt, seine Ehefrau und die Kinder arbeiteten ihm als Hilfskräfte zu.150

IV. Familie 1. Die Regulierung von Ehe und Familie Der Begriff der Familie im modernen Sinn kam in Deutschland erst in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auf, abgeleitet aus der lateinischen „familia“ und der französischen „famille“. Als Familie galt die zusammen lebende Hausgemeinschaft von Eltern und Kindern, aber auch ein Verwandtschaftssystem, das aus gemeinsamen Vorfahren abgeleitet wird. Trotz des neuen Begriffs ist die Familie als Institution sehr alt. Es gibt keine schriftlichen oder archäologischen Hinweise auf die Entstehung der Familie. Wahrscheinlich gehen familiale Beziehungssysteme aber auf den Beginn der Agrargesellschaft zurück. Die Familie in ihrem doppelten Sinn als Lebensform und als Verwandtschaftssystem stellte sich im Alltag der feudalen Gesellschaft als eine Vielzahl von verschiedenen Familientypen dar. Es gab in der ständischen Ordnung die aristokratische Familie, die Bauernfamilie, die Familie des Großbürgertums, die kleinbürgerliche Familie, die Familie der Heimgewerbetreibenden, die Arbeiterfamilie. Die Familienformen unterschieden sich nach dem sozialen Status, nach Einkommen und Vermögen, aber auch nach der familialen Arbeitsteilung, der Gestaltung der Beziehungen und der Art des Zusammenlebens.151 Aufgrund ihrer großen Bedeutung wurden die Eheschließung und die Familienbeziehungen durch Staat und Kirche, durch die Grundherrschaft und durch städtische Korporationen vielfältig reguliert. In der merkantilistischen Theorie wurde die Zunahme der Bevölkerung positiv bewertet, weil sie zur wirtschaftlichen EntMarx, Das Kapital, Bd. 1 (wie Anm. 22), S. 416. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 262 – 266. 151 Heidi Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1982. 149 150

IV. Familie

87

wicklung eines Landes beitrug. Die „Peuplierungspolitik“ sollte die Einwanderung und Ansiedlung fördern, aber auch Heiraten und Familiengründungen unterstützen. Praktische Bedeutung hatten vor allem die Einwanderungspolitik, die von einigen Territorien betrieben wurde, und in manchen Fällen auch die Siedlungspolitik. Die manchmal vernünftigen, zuweilen auch skurrilen Vorschläge merkantilistischer Autoren, wie Eheschließungen und Familiengründungen zu fördern wären, und andererseits Alleinlebende mit besonderen Abgaben belastet oder von Ämtern ausgeschlossen werden sollten, um sie zur Eheschließung zu drängen, gelangten dagegen im allgemeinen nicht über die Studierstuben hinaus.152 Die andere Seite der Bevölkerungspolitik war die Kontrolle der Armut. In den meisten deutschen Territorien gab es daher Heiratsbeschränkungen. Die Erlaubnis zur Eheschließung wurde davon abhängig gemacht, dass junge Frauen und Männer einen ausreichenden Lebensunterhalt nachweisen konnten. Im Alltag waren die Ehebeschränkungen ein Kompromiss zwischen der wünschenswerten wirtschaftlichen Selbständigkeit von Ehepaaren und Familien auf der einen Seite, und der Realität der Armut auf der anderen Seite. Wenn man konsequent allen Armen die Heirat verweigert hätte, müsste die Ledigenquote wesentlich höher gewesen sein. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wurden unter dem Einfluss des Liberalismus die Eherestriktionen in vielen deutschen Territorien aufgehoben oder gemildert. Seit den dreißiger Jahren wurden die Beschränkungen jedoch unter dem Eindruck des Pauperismus in den meisten Staaten wieder eingeführt oder dort, wo sie in gemäßigter Form weiterbestanden hatten, wieder verschärft. Ausnahmen waren Preußen und Sachsen, die an dem liberalen Eherecht festhielten. In den sechziger Jahren wirkte sich der Einfluss liberaler Ideen auch auf das Ehe- und Familienrecht aus. Im Norddeutschen Bund wurden 1868 nach preußischem Vorbild die Heiratsbeschränkungen aufgehoben.153 Seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts drängte in Deutschland der Staat den kirchlichen Einfluss auf die Ehe zurück. Die Französische Revolution hatte 1792 die Zivilehe eingeführt, 1803 wurde sie in den neuen „Code Civil“ aufgenommen. Durch die französische Expansion beeinflusste die Zivilehe auch das deutsche Familienrecht. Die Frankfurter Nationalversammlung forderte 1849, in allen deutschen Territorien die Zivilehe einzuführen. Einzelne Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes griffen die Forderung auf, so die Freie Stadt Frankfurt, die 1850 die Zivilehe einführte.154

152 Martin Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 2002. 153 Klaus-Jürgen Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980. 154 Hubbard, Familiengeschichte (wie Anm. 68), S. 37 – 41; Paul Mikat, Ehe, in: Adalbert Eder / Ekkehard Kaufmann, Hg., Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 1971, Spalte 822 – 823.

88

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

2. Familienleben Die Familie war in der traditionellen Gesellschaft eine selbstverständliche Lebensform. Dass Frauen oder Männer aus eigenem Entschluss unverheiratet blieben, blieb die Ausnahme.155 Wenn Ehelosigkeit nicht wie für katholische Pfarrer, Mönche und Nonnen als besondere Berufung galt, fielen Alleinlebende als Abweichung von der Norm auf. Das gesellschaftliche Leitbild war die Komplementarität der Geschlechter, nicht nur in den persönlichen Beziehungen, sondern auch in der Arbeit. Allein zu leben galt, wie die spöttischen Begriffe „Hagestolz“ oder „alte Jungfer“ zeigten, im allgemeinen nicht als erstrebenswert.156 Durch die Eherestriktionen wurde aber ein Teil der Bevölkerung von der Heirat und der Familiengründung ausgeschlossen. Insgesamt blieben in Deutschland in der Zeit von 1720 bis 1820 ungefähr 13 Prozent der Frauen und Männer unverheiratet.157 Als Folge der staatlichen Regulierung und der sozialen Konventionen war das Heiratsalter im frühen neunzehnten Jahrhundert relativ hoch. Im Durchschnitt waren in Deutschland im Zeitraum von 1800 bis 1824 die Männer bei der Erstheirat 28 Jahre alt, die Frauen 26 Jahre.158 Der Major und seine Schwester, die Baronin, hatten sich ein kluges familiales Arrangement ausgedacht. Der Sohn des Majors sollte Hilarie, die Tochter der Baronin, heiraten. Ein kinderloser älterer Bruder, der Obermarschall, hatte in Aussicht gestellt, seine Güter gegen die Zahlung einer Leibrente den jüngeren Geschwistern und deren Kindern zu überlassen. Aber als das Arrangement beschlossen werden soll, stellt sich ein Problem heraus: Hilarie liebt nicht den jungen Leutnant, sondern den Vater des Leutnants, ihren Onkel, einen fünfzigjährigen Herrn. Der Major ist überrascht, aber seine Schwester erklärt ihm, dass der Altersunterschied keine Rolle spielt. „Du hast fünfzig Jahre; das ist immer noch nicht gar zu viel für einen Deutschen, wenn vielleicht andere lebhaftere Nationen früher altern“.159 Goethe war etwas über fünfzig Jahre alt, als er diese Geschichte schrieb; die Baronin dürfte seine Meinung wiedergegeben haben. Auch im wirklichen Leben kamen ungleiche Ehen vor. Nach dem vorzeitigen Tod des Ehemannes oder der Ehefrau legten nicht nur die individuellen Neigungen, sondern auch die sozialen Konventionen den Witwen oder Witwern eine Wiederverheiratung nahe. Das Motiv einer jungen Frau, die den Onkel heiratete, oder eines Gesellen, der eine Ehe mit einer Meisterswitwe schloss, war nicht unbedingt wie in Goethes Novelle 155 Richard van Dülmen, Das Haus und seine Menschen: 16.-18. Jahrhundert. Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Bd. 1, München 1995, S. 133 – 157. 156 Bärbel Kuhn, Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850 – 1914), Köln 2002. 157 Arthur E. Imhof / Rolf Gehrmann / Ines E. Kloke / Maureen Roycroft / Herbert Wintrich, Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert, Weinheim 1990, S. 70. 158 Josef Ehmer, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1991, S. 292. 159 Von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre (wie Anm. 122), S. 98.

IV. Familie

89

die spontane Liebe; die Attraktion konnte auch in der Einheirat in einen sicheren Status bestehen.160 Die verschiedenen rechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Hindernisse auf dem Weg zur Eheschließung hatten zur Folge, dass junge Erwachsene nicht selten in Beziehungen lebten, die man neuerdings, seit dem ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, als nichteheliche Lebensgemeinschaften bezeichnet. Diese Lebensgemeinschaften waren ein Ärgernis für die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten und wurden als „Konkubinat“ diskriminiert. In den Berichten, die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von Bischöfen der Habsburgermonarchie über die „sittlichen Verhältnisse“ in ihren Diözesen an die Regierung gesandt wurden, kamen nichteheliche Partnerschaften recht häufig vor. Die Bischöfe beklagten, dass diese Beziehungen von der Bevölkerung, aber auch von den Behörden zunehmend toleriert würden.161 Nach der Meinung des Bischofs von Tarnov sollten „die öffentlichen Störungen der christlichen Ehrbarkeit, nämlich die Konkubinate selbst mit Gewalt von den Dominien und Magistraten oder im Fall sich diese saumselig zeigen sollten, selbst von den k. Kreisämtern beseitigt, in ordentliche Ehen verwandelt oder falls diese nicht zulässig für jeden Fall getrennt werden“.162 Eine Heirat führte im allgemeinen zur Gründung einer Familie. Als im späten achtzehnten Jahrhundert die Bevölkerung in Großbritannien stark zunahm, warnte der Pfarrer und Ökonom Thomas R. Malthus vor einer Überbevölkerung. Die Liebe, „the passion between the sexes“, führte nach Malthus dazu, dass stets mehr Kinder geboren wurden, als die Gesellschaft ernähren und mit allen übrigen Notwendigkeiten des Lebens versorgen konnte.163 Nach der wissenschaftlichen Mode der Zeit brachte Malthus seine These sogar in eine mathematische Form und behauptete, dass langfristig die Bevölkerung bei ungehinderter Expansion in geometrischer Reihe mit einer konstanten Wachstumsrate zunehme, die Produktion von Subsistenzmitteln dagegen nur in arithmetischer Reihe mit sinkenden Wachstumsraten. Ohne eine strenge Geburtenkontrolle müsse das Bevölkerungswachstum daher notwendig zu Hunger, Krankheiten und vorzeitigem Tod führen. Für Malthus stand die Familie im Mittelpunkt der Geburtenkontrolle. Sexualität sollte auf die Ehe beschränkt sein, und verantwortungsvolle Erwachsene sollten ihre Heiratspläne und Kinderwünsche davon abhängig machen, dass zuvor die wirtschaftlichen Grundlagen für eine Familie geschaffen waren. Die individuelle Vernunft 160 Peter Borscheid, Geld und Liebe: Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in: Peter Borscheid / Hans J. Teuteberg, Hg., Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationenbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983; Domenica Tölle, Altern in Deutschland 1815 – 1933. Eine Kulturgeschichte, Grafschaft 1996, S. 68 – 80. 161 Mitterauer, Ledige Mütter (wie Anm. 71), S. 115 – 142. 162 Zitiert nach Mitterauer, Ledige Mütter (wie Anm. 71), S. 142. 163 Thomas Robert Malthus, An essay on the principle of population (1798), Harmondsworth 1970, S. 70.

90

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

würde dann dafür sorgen, dass sich das Bevölkerungswachstum an die Entwicklung der Produktion anpasste. Entgegen den pessimistischen Annahmen der malthusianischen Bevölkerungstheorie waren aber die hohen Geburtenzahlen in der Agrargesellschaft nicht nur Ursache, sondern auch Folge der niedrigen Lebenserwartung. Für die meisten Menschen war die Kontinuität der Familie ein wichtiges Lebensziel. Unter den unsicheren Lebensumständen der Zeit bot nur eine größere Zahl von Geburten eine gewisse Sicherheit, dass wenigstens einige Kinder das Erwachsenenalter erreichten. Nicht alle Kinder waren erwünscht, aber insgesamt waren Kinder kein biologisches Schicksal, sondern eine bewusste Lebensentscheidung. Das relativ hohe Heiratsalter und die Diskriminierung außerehelicher Sexualität beschränkten die mögliche Zahl der Geburten.164 Neben der institutionellen Geburtenkontrolle gab es in den Familien eine individuelle Geburtenkontrolle, die in den unterschiedlichen Abständen zwischen einzelnen Geburten zum Ausdruck kam. Nach demographischen Krisen stieg im allgemeinen die Zahl der Geburten, so dass die Zukunft der Familien gesichert wurde. Wenn mehr Kinder überlebten, wurden die Abstände zwischen den Geburten länger, so dass die Familien, die von einer Bauernstelle oder einem kleinen Handwerksbetrieb leben mussten, nicht zu groß wurden. Dennoch waren im neunzehnten Jahrhundert im Vergleich zu späteren Zeiten die Geburtenzahlen hoch.165 Der allgegenwärtige Tod beschränkte die Zahl der Familienangehörigen. Viele Kinder wurden geboren, aber viele Kinder starben einen vorzeitigen Tod. Noch im frühen neunzehnten Jahrhundert wurden in Deutschland in bäuerlichen Familien im Durchschnitt sechs bis sieben Kinder geboren, aber nur drei bis vier Kinder erreichten das Erwachsenenalter.166 Kinder aus armen Familien waren von der Not besonders betroffen, aber auch die Kinder des Adels und der wohlhabenderen bürgerlichen und bäuerlichen Familien waren gefährdet. Wenn die Kindern erwachsen geworden waren, hatten die Eltern nur noch eine kurze Lebensspanne vor sich. Großeltern, die noch ihre Enkelkinder heranwachsen sahen, waren selten. Ende des achtzehnten Jahrhunderts lebten in dem Ort Hohenaschau in Bayern im Durchschnitt knapp sieben Personen in einem Haushalt. Städtische Haushalte waren kleiner. In Durlach gehörten im späten achtzehnten Jahrhundert im Durchschnitt vier Personen zu einem Haushalt, in Göttingen ebenso.167 Im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts wurden die Familien etwas größer, da die Geburtenzahlen hoch blie164 John Hajnal, European marriage patterns in perspective, in: D. V. Glass / D. E. C. Eversley, Hg., Population in history. Essays in historical demography, London 1965; John Hajnal, Two kinds of pre-industrial household formation systems, in: Richard Wall / Jean Robin / Peter Laslett, Hg., Family forms in historic Europe, Cambridge 1983. 165 André Burguière / Francois Lebrun, Die Vielfalt der Familienmodelle in Europa, in: André Burguière / Christiane Klapisch-Zuber / Martine Segalen / Françoise Zonabend, Hg., Geschichte der Familie, Bd. 3, Frankfurt am Main 1997. 166 Van Dülmen, Das Haus und seine Menschen (wie Anm. 155), S. 87 – 88. 167 Van Dülmen, Das Haus und seine Menschen (wie Anm. 155), S. 25 – 26, 248.

IV. Familie

91

ben und gleichzeitig die Lebenserwartung von Kindern und Erwachsenen allmählich zunahm.168 In der feudalen Gesellschaft war die Familie nicht nur eine Lebensgemeinschaft, sondern häufig auch eine Wirtschaftsgemeinschaft.169 Die gemeinsame Arbeit eines Ehepaares bildete den Kern der landwirtschaftlichen oder gewerblichen Familienbetriebe. Die Kooperation der Familienmitglieder, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Haushalt, die Überschaubarkeit als Kleingruppe und die lange Dauer der Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern machten die Einzigartigkeit der Familie als Institution aus. Eltern und Kinder bildeten den Kernbereich eines Haushalts. Das Zusammenleben von Eltern, Kindern und Kindeskindern förderte die Entstehung und Entwicklung von Solidarität. Allerdings wurde die wechselseitige Unterstützung zwischen den Familienmitgliedern durch die allgemeine Not erschwert.170 Über den engeren Familienkreis hinaus konnten zum Haushalt weitere Verwandte gehören. Auch familienfremde Arbeitskräfte, in der ländlichen Gesellschaft Knechte und Mägde, in der städtischen Gesellschaft Gesellen, Lehrlinge, Handlungsgehilfen oder Hausangestellte, waren häufig in den Haushalt der Arbeitgeber integriert. Die familienfremden Arbeitskräfte waren dem Haushalt aber nicht durch eine lebenslange Beziehung, sondern durch Arbeitsverträge verbunden.171 Die Trennung von Haushalt und Betrieb führte zur Entstehung der bürgerlichen Familie. Nachdem die wirtschaftlichen Aufgaben zurückgingen, sollten die persönlichen Beziehungen im Mittelpunkt des Familienlebens stehen. Dieser Wandel wird oft als ein Funktionsverlust interpretiert. Die bürgerliche Familie bedeutete aber auch eine Entlastung der Institution. Nachdem die Erwerbstätigkeit auf die Betriebe überging, konnten zwischen den Familienmitgliedern andere Werte wie Gemeinsamkeit, Emotionalität und Solidarität gepflegt wurden. Die Familie entwickelte sich in mancher Hinsicht zu einem Gegenmodell zur Wettbewerbsgesellschaft.172 3. Familienökonomie In der feudalen Gesellschaft stand die Familie im Mittelpunkt der intergenerativen Einkommensverteilung. In den bäuerlichen Familienbetrieben, in denen Er168 Michael Mitterauer / Reinhard Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie, München 1977, S. 38 – 65. 169 Reinhard Sieder, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt am Main 1987, S. 282 – 293. 170 Winfried Freitag, Haushalt und Familie in traditionalen Gesellschaften. Konzepte, Probleme und Perspektiven, in: Geschichte und Gesellschaft, 14 (1988); Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999; Hubbard, Familiengeschichte (wie Anm. 68). 171 Van Dülmen, Das Haus und seine Menschen (wie Anm. 155), S. 11 – 78. 172 Mitterauer / Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft (wie Anm. 168), S. 114 – 117; Rosenbaum, Formen der Familie (wie Anm. 151), S. 476 – 488.

92

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

werbstätigkeit und Familientätigkeit eng verbunden waren, veränderte sich das Einkommen mit dem Familienzyklus. Am Anfang des Familienzyklus, wenn die Kinder klein waren und ein Ehepaar vielleicht auch noch die eigenen Eltern zu versorgen hatte, musste ein Familieneinkommen für viele Personen reichen. Die Situation besserte sich, wenn die Kinder heranwuchsen und entweder im Familienbetrieb mitarbeiteten und damit fremde Arbeitskräfte ersetzten, oder ein eigenes Lohneinkommen zum Familieneinkommen beitrugen. Die Lage wurde wieder schlechter, wenn die älteren Kinder das Haus verließen und die Eltern, vielleicht noch mit kleinen Kindern, zurückblieben. Wenn die nicht mehr arbeitsfähigen Eltern sich auf das Altenteil zurückzogen und ein junges Paar die Wirtschaft übernahm, begann ein neuer Familienzyklus. Eine bescheidene Form der ländlichen Familienökonomie gab es in den unterbäuerlichen Schichten der Heuerleute in Nordwestdeutschland und der Instleute, die auf den großen Gütern in Ostdeutschland arbeiteten. In den Familien der Instleute galten die ersten Jahre eines jungen Ehepaares als die schwierigste Zeit, weil dann Kinder zu versorgen waren und für die Arbeit in dem Gutsbetrieb, zu der die Instleute verpflichtet waren, ein oder zwei Hilfskräfte angeworben werden mussten. Wenn die Kinder heranwuchsen, die Schule abgeschlossen hatten und die Hilfskräfte ersetzen konnten, besserte sich die Situation. Wenn die erwachsenen Kinder den elterlichen Haushalt verließen, ging das Familieneinkommen wieder zurück.173 Auch für die Beschäftigten der Heimindustrie war die familiale Verbindung von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit charakteristisch. Im achtzehnten Jahrhundert hatte die Expansion der Heimindustrie die Existenzmöglichkeiten erweitert und vielen Menschen, die in der Landwirtschaft keine Arbeit fanden, die Familiengründung ermöglicht.174 Im neunzehnten Jahrhundert wurde jedoch die Heimindustrie, die für überregionale Märkte arbeitete, weit stärker noch als das Handwerk durch Strukturkrisen erschüttert. Alexander Schneer, der 1844 über die Not der Familien in der schlesischen Leinenindustrie berichtete, beschrieb in wenigen Worten das kulturelle Existenzminimum der Zeit: „Hat der Mensch wenigstens eine feste Wohnung, die ihn gegen das Wetter birgt, hat er eine reinliche und gesunde Kleidung, die ihn bedeckt, besitzt er ein Bett, auf welchem er den von der Arbeit müden Körper ausruhen kann, nährt er sich mit Speisen, die zur menschlichen Nahrung gemeinhin bestimmt sind, und kann er sich endlich im Winter gegen die Kälte mit der nötigen Feuerung schützen: so ist er nicht notleidend zu nennen, wenn auch die Wohnung weniger bequem, die Kleidung weniger gut und die Speisen weniger nahrhaft sind, als man sie einem jeden gern wünschen möge“.175 173 Max Weber, Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, Bd. 3. Schriften des Vereins für Socialpolitik 55, Leipzig 1892, S. 33 – 34. 174 Peter Kriedte / Hans Medick / Jürgen Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977, S. 90 – 154. 175 Kroneberg / Schloesser, Weber-Revolte (wie Anm. 40), S. 117.

V. Alter

93

Nach Schneers Schätzung erforderte dieser Standard für eine Arbeiterfamilie mit zwei Erwachsenen und vier kleinen Kindern ein monatliches Einkommen von ungefähr sechs bis acht Talern. Das konnten die Arbeiterfamilien in der heimgewerblichen Textilindustrie, die in eine tiefe und irreversible Strukturkrise gestürzt war, nicht annähernd erreichen. Spinner oder Spinnerinnen kamen bei regelmäßiger Beschäftigung und langen Arbeitszeiten auf nicht mehr als ein bis zwei Taler im Monat, Weber oder Weberinnen auf 1 1/2 bis 3 Taler. Bei diesen Löhnen lebten viele Familien in tiefem Elend, sie wohnten in verfallenen Hütten, trugen zerlumpte Kleidung und ernährten sich von trockenem Brot und Kartoffeln.176 Das gemeinsame Wirtschaften im traditionellen Haushalt bedeutete nicht eine gleichmäßige Verteilung. Es gab häufig Unterschiede im Konsum, zwischen den Familienangehörigen und dem familienfremden Gesinde, aber auch zwischen den Familienangehörigen untereinander. Untersuchungen über österreichische Bauernfamilien im frühen neunzehnten Jahrhundert zeigen, dass die Differenzierung mit der Haushaltsgröße zunahm. Auf den kleinen Bauernhöfen saßen die Familienmitglieder mit den Knechten, Mägden und anderen Arbeitskräften an einem Tisch und verzehrten das gleiche Essen. Auf größeren Höfen war dagegen eine stärkere soziale Differenzierung üblich. Die Bauernfamilie saß an einem getrennten Tisch und erhielt ein besonderes Essen, manchmal gab es auch Unterschiede zwischen Eltern und Kindern.177

V. Alter 1. Altersarbeit und Altersnot Mit der Einschränkung und schließlich dem Ende der Arbeitsfähigkeit ändert sich die Verteilungsposition vom Geber zum Empfänger von intergenerativen Leistungen. Das Alter als die Zeit der nachlassenden Handlungskompetenz war vor der Einführung der Invaliditäts- und Altersversicherung 1889 aber nicht durch eine feste Altersgrenze definiert. In manchen Lebenszusammenhängen galt in neunzehnten Jahrhundert ein Alter von sechzig Jahren als Schwelle von den mittleren Jahren zum hohen Alter.178 Die Zäsur hatte aber für die Erwerbsbiographie keine besondere Bedeutung. Für viele Arbeiter ließ schon vom vierzigsten Lebensjahr an die Erwerbsfähigkeit nach, und die Verdienstaussichten wurden entsprechend schlechter. Im bäuerlichen Milieu definierte die Hofübergabe eine Alterszäsur. Wenn die junge Generation mit 25 bis dreißig Jahren den Familienbetrieb übernehmen wollte, musste die ältere Generation mit 55 bis sechzig Jahren weichen. AllerKroneberg / Schloesser, Weber-Revolte (wie Anm. 40), S. 124 – 139. Sandgruber, Innerfamiliale Einkommens- und Konsumaufteilung (wie Anm. 109), S. 140 – 142. 178 Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1994, Göttingen 1994, S. 49 – 56. 176 177

94

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

dings hing das Alter, in dem der Hof übergeben wurde, auch von den Wechselfällen des Lebens ab. Wenn die Eltern vorzeitig starben, trat die nachfolgende Generation früher in das Erbe ein. Es kam aber auch vor, dass die ältere Generation länger wirtschaftete, weil keine erwachsenen Erben auf die Nachfolge warteten. Die ältere Generation zog sich nach der Hofübergabe nicht völlig von der Arbeit zurück, sondern half weiter im Betrieb, soweit die Kräfte reichten.179 Die wenigen Arbeiterinnen und Arbeiter, die älter als sechzig oder 65 Jahre wurden, setzten ihre Erwerbstätigkeit so lange wie möglich mit nachlassenden Kräften und sinkendem Einkommen bis ins hohe Alter fort. Alexander Schneer fand in den vierziger Jahren bei seinen Erkundungen in der schlesischen Heimindustrie einen Seniorenhaushalt, in dem die Angehörigen gemeinsam der Not trotzten. Ein kinderloses Ehepaar, der Mann 72 Jahre alt, die Frau 69 Jahre alt, webten. Zwei Frauen aus der Verwandtschaft, die eine 69 Jahre alt, die andere 64 Jahre alt, arbeiteten ihnen als Spulerinnen zu. Das gemeinsame Einkommen reichte gerade eben zum Lebensunterhalt.180 2. Das Altenteil Die Versorgung und Pflege alter Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr selbst gewinnen konnten, galt als Aufgabe der Familie. In der ländlichen Gesellschaft war das Altenteil die übliche Altersversorgung für Bauern und Bäuerinnen, nachdem sie den Hof an die nachwachsende Generation übergeben hatten. Bei kleinen Familienbetrieben blieben die Altenteiler im Haushalt der Kinder. Das Zusammenleben von Kindern, Eltern und Großeltern auf engem Raum wurde im Rückblick als Generationenidylle verklärt. Im Alltag konnte es aber eher als Belastung empfunden werden.181 Wenn die Höfe größer waren, führten die Alten einen eigenen Haushalt. Das Altenteil wurde durch die Regulierung des Lebenslaufs im bäuerlichen Milieu notwendig und war daher nicht unbedingt ein Ausdruck familialer Solidarität. Es war eher ein formaler Kontrakt, bei dem die ältere Generation durch die Übertragung der Eigentumsrechte ihre Versorgungsansprüche begründete. Besitzübergabe und Altenteil waren oft, wie Peter Borscheid schreibt, „ein echter Tauschhandel, ein langwieriges Feilschen und Pokern um kleine und kleinste Vorteile“.182 Wenn die ältere Generation sich auf das Altenteil zurückgezogen hatte, standen ihr im allgemeinen nur noch wenige Lebensjahre bevor. So waren in der ländlichen Gesellschaft um 1800 wohl auf jedem Bauernhof Kinder unterschiedlichen Alters zu sehen, aber längst nicht auf jedem Hof ein Altenteiler179 Ehmer, Sozialgeschichte des Alters (wie Anm. 64), S. 26 – 35; Michael Mitterauer, Familie und Arbeitsteilung. Historisch-vergleichende Studien, Wien 1992, S. 242. 180 Kroneberg / Schloesser, Weber-Revolte (wie Anm. 40), S. 134. 181 Gestrich, Traditionelle Jugendkultur und Industrialisierung (wie Anm. 59), S. 55 – 56. 182 Peter Borscheid, Geschichte des Alters. 16. – 18. Jahrhundert, Münster 1987, S. 192.

V. Alter

95

paar.183 Die materielle Ausstattung des Altenteils hing von der Leistungsfähigkeit der Familienbetriebe ab. In den Anerbengebieten übernahm der Erbe mit dem Hof auch die Verpflichtung zur Versorgung der Eltern. Die Eltern führten im allgemeinen einen eigenen Haushalt, sie erhielten von den Kindern Naturalleistungen, etwas Bargeld und manchmal auch etwas Land zur Bewirtschaftung. In den Realteilungsgebieten waren im allgemeinen die Kinder gemeinsam für die Versorgung der Eltern verantwortlich, oder eines der Kinder erhielt ein etwas größeres Erbteil und nahm dafür die Eltern in seinen Haushalt auf. Ein Handwerksbetrieb konnte ähnlich wie ein bäuerlicher Familienbetrieb eine Alterssicherung darstellen, wenn er von den Kindern weitergeführt wurde, oder wenn die Betriebsinhaber ihn verkauften oder verpachteten. Allerdings verfügten viele Alleinmeister, die ohne Gesellen oder Lehrlinge arbeiteten, kaum über Vermögen. Eine kleine Werkstatt, wenn nicht überhaupt in gemieteten Räumen gearbeitet wurde, und das Handwerkszeug waren das einzige Kapital. Gelegentlich kam es vor, dass eine Handwerkerzunft arme Meister oder deren Witwen im Alter unterstützte. Das waren aber seltene Ausnahmen. Eine systematische Alterversorgung haben die Zünfte nicht geleistet, dazu waren ihre Mittel zu gering.184 Wenn kein Familienbetrieb die intergenerative Einkommensverteilung unterstützte, galt die familiale Solidarität als nicht sehr verlässlich. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wurde ein Sprichwort zitiert, das angeblich eine lange Tradition hatte: „Eher ernähren Eltern zehn Kinder, als zehn Kinder ihre Eltern“.185 Die Altersarmut bedeutet aber nicht unbedingt, dass den erwachsen gewordenen Kindern die Bereitschaft fehlte, die alten Eltern zu unterstützen. Wenn ein bescheidener Tagelohn wie die 15 Kreuzer am Tag, die Hebel 1812 seinem literarischen Landarbeiter zubilligte, unter drei Generationen geteilt wurde, blieb für den Einzelnen beim besten Willen wenig übrig.186

183 Achilles, Deutsche Agrargeschichte (wie Anm. 95), S. 24; Thomas Held, Ausgedinge und ländliche Gesellschaft. Generationenverhältnisse im Österreich des 17. bis 19. Jahrhunderts, in: Christoph Conrad / Hans-Joachim von Kondratowitz, Hg., Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters, Berlin 1983. 184 Ehmer, Sozialgeschichte des Alters (wie Anm. 64), S. 37; Sigrid Fröhlich, Die soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden. Darstellung, Analyse, Vergleich, Berlin 1976, S. 5, 77 – 78. 185 Zitiert nach Gerd Göckenjan, Hilfebedürftigkeit als Rahmung der Statuspassage ins hohe Alter. Zur Geschichte einer unsicheren Statuspassage, in: Lutz Leisering / Birgit Geissler / Ulrich Mergner / Ursula Rabe-Kleberg, Hg., Moderne Lebensläufe im Wandel, Weinheim 1993, S. 179. 186 Hebel, Schatzkästlein des Rheinländischen Hausfreundes (wie Anm. 37), S. 12.

96

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

3. Die Struktur der Alterseinkommen a) Berufliche Altersversorgung Schon zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts musste ein erheblicher Teil der Bevölkerung nach einer individuellen Erwerbskarriere ein individuelles Alterseinkommen jenseits eines Familienbetriebes finden, und die Zahl nahm zu. Die soziale Skala reichte von Arbeiterinnen und Arbeitern, die schon in den Jahren ihrer vollen Erwerbsfähigkeit kaum mehr als das Existenzminimum verdient hatten, bis zu hohen Staatsbeamten. Da das bürgerliche Familienmodell vorsah, dass die Familien vom Einkommen des Familienvaters lebten, war die Frage der Alterssicherung eng mit der Hinterbliebenenversorgung verbunden. Seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts kamen staatliche Pensionssysteme auf. Als erstes deutsches Territorium führte Österreich 1781 ein staatliches Pensionssystem für Beamte und Offiziere und deren Witwen ein. Nach dem österreichischen Vorbild richteten Bayern 1803, Baden 1809, Württemberg 1817 und Preußen 1825 staatliche Pensionssysteme ein. Die frühen Pensionssysteme kannten noch keine allgemeine Ruhestandsgrenze, sondern sahen eine Unterstützung erst dann vor, wenn ein Beamter oder Offizier seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte.187 Die Pensionssysteme der einzelnen Territorien waren unterschiedlich. In Bayern wurden die Pensionen nach der Pensionsregelung von 1818 aus der Staatskasse finanziert. In Preußen mussten die Beamten seit 1828 einen eigenen Pflichtbeitrag zur Pensionskasse leisten, der je nach der Gehaltsstufe ein Prozent bis fünf Prozent des Gehalts betrug. 1868 wurden die Eigenbeiträge abgeschafft. Die Pensionsansprüche erreichten in Preußen nach dreißig Jahren fünfzig Prozent des letzten Gehalts, in der Höchststufe nach fünfzig Dienstjahren waren es 75 Prozent.188 Zunächst erhielten nur die höheren Beamten und die Offiziere Pensionszusagen. Für die unteren Beamten, die Angestellten und Arbeiter im Staatsdienst und die einfachen Soldaten war keine Alterssicherung vorgesehen. Für alte Soldaten, die im allgemeinen keine Familienverbindungen hatten, wurden seit dem achtzehnten Jahrhundert Invalidenhäuser eingerichtet. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts wurden die Pensionssysteme dann auf alle Beamten ausgedehnt.189 Eine berufliche Alterssicherung für Arbeiter begann mit den Knappschaften des Bergbaus, die neben anderen Unterstützungen auch eine lebenslängliche Rente bei Arbeitsunfähigkeit, sowie im Todesfall einen Beitrag zu den Begräbniskosten und eine Unterstützung der Witwen und Waisen gewährten.190 Im Ruhrbergbau beEhmer, Sozialgeschichte des Alters (wie Anm. 64), S. 40 – 41, 78 – 79. Fischer / Krengel / Wietog, Materialien zur Geschichte des Deutschen Bundes (wie Anm. 39), S. 210. 189 Johannes Frerich / Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 3 Bde., München 1996, Bd. 1, S. 70 – 74. 190 Martin H. Geyer, Invalidität und Existenzsicherung im Bergbau 1770 bis 1870, in: Gerd Göckenjan, Hg., Recht auf ein gesichertes Alter? Studien zur Geschichte der Alters187 188

V. Alter

97

trugen 1847 die Invalidenrenten der Knappschaft je nach der Beschäftigungsdauer von zwei Dritteln bis zu drei Vierteln des Durchschnittsverdienstes. Nach dem Tod eines Bergmanns leistete die Knappschaft eine Witwenrente in Höhe von zwei Dritteln der Invalidenrente und ein Waisengeld.191 Seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert führten auch außerhalb des Bergbaus einzelne Unternehmen für ihre Beschäftigten eine berufliche Altersvorsorge ein. Die betriebliche Altersvorsorge konnte in einer direkten Pensionszusage des Unternehmens bestehen, oder in einer institutionell selbständigen betrieblichen Unterstützungskasse. Die frühen Unterstützungskassen sahen eine Hilfe in Notfällen vor, ohne nach den Ursachen der Not zu differenzieren. Später kam es oft zu einer funktionalen Differenzierung von Krankenkassen und Pensionskassen. Führend bei der Einrichtung von betrieblichen Pensionskassen war die Versicherungswirtschaft. Die Vaterländische Feuerversicherung richtete 1824 eine Pensionskasse ein, die Württembergische Feuerversicherung 1837. Nach der Jahrhundertmitte gründeten auch Industrieunternehmen Pensionskassen, so 1855 die Gutehoffnungshütte und die Maschinenbaufirma P. Harkort & Sohn. Die Pensionskassen wurden von Unternehmen und Beschäftigten gemeinsam, manchmal auch allein von den Unternehmen finanziert.192 Die Firma Krupp führte im Rahmen der Krankenkasse, die 1855 als Pflichtversicherung für alle Beschäftigten gegründet wurde, 1858 ein Pensionssystem ein. Die Renten betrugen nach einer Betriebzugehörigkeit von zwanzig Jahren 50 Prozent des letzten Arbeitslohns und konnten nach 35 Jahren Betriebszugehörigkeit auf 100 Prozent des Lohn steigen. Die Beiträge wurden zu zwei Dritteln von den Beschäftigten und zu einem Drittel vom Unternehmen geleistet. Witwen erhielten eine Unterstützung in Höhe von zwei Dritteln des Rentenanspruchs ihre Mannes.193 Ein allgemeines Problem der betrieblichen Altersversorgung war, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen bei einem Wechsel des Unternehmens ihren Rentenanspruch verloren.194 b) Vermögensbildung Das Altenteil kann als eine frühe Form der Altersvorsorge durch Vermögensbildung interpretiert werden, denn es wurde einerseits durch die Verpflichtung zur Solidarität begründet, andererseits aber materiell durch die Übergabe des Familienbetriebes gestützt. Die individuelle Altersvorsorge durch Vermögensbildung, losgelöst vom Kontext des Familienbetriebes, entsprach aber in besonderer Weise der sicherung in der Frühzeit der Sozialpolitik, Augsburg 1990; H. Karwehl, Entwicklung und Reform des deutschen Knappschaftswesens. Mit besonderer Berücksichtigung der preußischen Knappschaftsnovelle vom 19. Juni 1906, Jena 1907. 191 Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft (wie Anm. 136), S. 91, 148. 192 Wessel, Probleme der Altersversorgung (wie Anm. 64). 193 Vera Stercken / Reinhard Lahr, Erfolgsbeteiligung und Vermögensbildung der Arbeitnehmer bei Krupp von 1811 bis 1945, Stuttgart 1992, S. 36 – 66. 194 Ehmer, Sozialgeschichte des Alters (wie Anm. 64), S. 78. 7 Hardach

98

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

kapitalistischen Ethik von Sparen und Investieren. Kapitaleinkommen konnten auch bei nachlassender Erwerbsfähigkeit ein kontinuierliches Lebenseinkommen sichern. Die wichtigste Form der Vorsorge war die individuelle Vermögensanlage bei Banken oder Sparkassen, am Kapitalmarkt oder in Immobilien. Eine besondere Form der Risikovorsorge durch Sparen waren die Unterstützungskassen, die auf die Lebensverhältnisse von Arbeiterfamilien und Kleinhandwerkern zugeschnitten waren. Unter dem Begriff der Unterstützungskassen wurden nach zeitgenössischem Verständnis Werkskassen, örtliche Berufskassen und allgemeine Ortskassen zusammengefasst. Während sich bei den Werkskassen und Berufskassen das Versicherungsprinzip mit dem Grundsatz der betrieblichen oder beruflichen Vorsorge verband, stellten die Ortskassen eine Art Mini-Versicherung dar. Die Mitglieder zahlten geringe Beiträge ein und erwarben damit einen bescheidenen Unterstützungsanspruch in bestimmten Notfällen. Neben gemischten Unterstützungskassen, die in verschiedenen Notfällen Hilfe gewährten, gab es spezielle Kassen, die bei bestimmten Lebensrisiken eine Unterstützung vorsahen. Seit dem achtzehnten Jahrhundert wurden in verschiedenen deutschen Territorien „Witwen- und Waisenkassen“ gegründet. Ihr Zweck war die Versorgung der Hinterbliebenen. Sie richteten sich besonders an die bürgerlichen Familien, die vom individuellen Erwerbseinkommen des Mannes lebten und nach dessen Tod in Not gerieten. Die Kassen waren oft schlecht kalkuliert und boten daher nicht die in Aussicht gestellte Sicherheit. Im neunzehnten Jahrhundert gingen die Funktionen der Versorgungskassen einerseits auf die staatlichen Pensionssysteme, andererseits auf die Lebensversicherungen über.195 Die erste moderne Lebensversicherung auf verlässlicher versicherungsmathematischer Grundlage war die 1765 in London gegründete „Equitable Life Assurance Society“. Nach ihrem Vorbild wurde in Hamburg die „Allgemeine Versorgungsanstalt von 1778“ als erste deutsche Lebensversicherung errichtet. Die nächsten Gründungen folgten erst im frühen neunzehnten Jahrhundert, so 1827 die „Lebensversicherungsbank für Deutschland“ in Gotha und 1828 die „Deutsche Lebensversicherungsgesellschaft“ in Lübeck. Lebensversicherungen wurden entweder als Aktiengesellschaften oder in der besonderen Form des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit gegründet. Der Versicherungsverein beruhte im Unterschied zur Aktiengesellschaft auf dem genossenschaftlichen Prinzip. Die Versicherten waren als Mitglieder des Vereins die Träger der Versicherung. Sie hatten Anspruch auf die Geschäftsüberschüsse, mussten aber auch für Verluste eintreten. Für das Publikum hatte der Unterschied zwischen der Aktiengesellschaft und dem Versicherungsverein wenig Bedeutung, da beide Institutionen Beiträge und Leistungen nach den gleichen Grundsätzen kalkulierten. Unabhängig von der Organisationsform richteten die Lebensversicherungen sich im wesentlichen an ein bürgerliches 195 Peter Borscheid, Mit Sicherheit leben. Die Geschichte der deutschen Lebensversicherungswirtschaft und der Provinzial-Lebensversicherung von Westfalen, 2 Bde., Greven 1989, Bd. 1, S. 4 – 13.

V. Alter

99

Publikum. Der Zweck der Lebensversicherung war die Vorsorge für die Hinterbliebenen. Die Versicherten leisteten kontinuierliche Beiträge, die nach dem Tod als Kapital an die Witwe ausgezahlt wurden.196 1870 gab es auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches 28 Lebensversicherungsunternehmen, bei denen 349.000 Versicherungspolicen abgeschlossen waren. Die durchschnittliche Versicherungssumme war bescheiden. Sie betrug, umgerechnet nach dem Wechselkurs der verschiedenen deutschen Landeswährungen, nur 963 Taler. Das reichte im bürgerlichen Milieu als Übergangsunterstützung für ein Jahr, bei bescheidener Lebenshaltung auch etwas länger, war aber kein Kapital für einen sicheren Lebensabend.197 c) Altersarmut Die Versorgung im Alter war oft unsicher; mit dem Alter kam die Altersnot. Die Altersarmut wurde weithin als unumgänglich akzeptiert. Wenn es keine andere Quelle zum Lebensunterhalt gab, blieb den Alten eine ungewisse Hoffnung auf private oder öffentliche Unterstützung. Manchmal wurden hilfsbedürftige Alte, die sich nicht mehr selbst versorgen konnten, in Armenhäusern oder Hospitälern untergebracht, die von den Gemeinden, den Kirchen oder privaten Stiftungen unterhalten wurden.198 Das St. Nikolaus Hospital in Cues an der Mosel pflegte im späten achtzehnten Jahrhundert immer noch, so wie es die Stiftungsurkunde von 1458 dreihundert Jahre früher festgelegt hatte, „33 Arme, abgearbeitete Greise von 50 Jahren und darüber, nur männlichen Geschlechts, von ehrlichem Rufe, Berufe, Lebenswandel und Namen, niemandem dienst- und schuldpflichtig, freien Standes, ledig“.199 Alte Leute machten den größten Teil der von der kommunalen Armenpflege unterstützten Personen aus. Angesichts der unzulänglichen Altersversorgung der Arbeiter setzte in Deutschland nach der Revolution von 1848 eine Diskussion über die Einrichtung einer öffentlichen Alterssicherung ein, um die ältere Generation vor dem Abgleiten in die Armenfürsorge zu bewahren. Die Vorschläge waren von den verschiedenen Unterstützungskassen beeinflusst, die in dieser Zeit auf betrieblicher, berufsspe196 Ludwig Arps, Auf sicheren Pfeilern. Deutsche Versicherungswirtschaft vor 1914, Göttingen 1965, S. 110 – 120; Peter Borscheid, Die Entstehung der deutschen Lebensversicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert. Zum Durchsetzungsprozeß einer Basisinnovation, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 70 (1983); Heinrich Braun, Geschichte der Lebensversicherung und der Lebensversicherungstechnik, Berlin 1963, S. 211 – 218; Georg Helmer, Grundlinien der Geschichte der Versicherung, in: Hans Möller, Hg., Internationales Versicherungsrecht, Karlsruhe 1955. 197 Peter Borscheid / Anette Drews, Versicherungsstatistik Deutschlands 1750 – 1985, St. Katharinen 1988, S. 5, 61. 198 Ute Frevert, Krankheit als politisches Problem 1770 – 1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984, S. 91. 199 Zitiert nach Borscheid, Geschichte des Alters (wie Anm. 182), S. 258.

7*

100

2. Kap.: Abschied von der alten Welt

zifischer oder lokaler Ebene gegründet wurden. Die öffentliche Verantwortung wurde vor allem damit begründet, dass der Staat durch die Förderung der Altersvorsorge die kommunale Armenunterstützung entlasten würde.200 Die Armut der feudalen Gesellschaft traf die Menschen in allen Lebensaltern. Unter dem Diktat der Not ergab sich aber oft eine günstigere Versorgung der mittleren Generation, von deren Arbeitsfähigkeit die Existenz der Familien abhing. Besonders groß war die Hilfsbedürftigkeit am Anfang und am Ende des Lebens, unter den Kindern und unter den Alten.201 Die prekäre Existenz der Kinder und der alten Menschen zeigte sich an der hohen Kindersterblichkeit und an der kurzen Lebenserwartung, die älteren Menschen nach dem Ende ihrer Erwerbstätigkeit blieb.

200 Florian Tennstedt, Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Stefan Fisch / Ulrike Haerendel, Hg., Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland, Berlin 2000. 201 Göckenjan, Hilfebedürftigkeit (wie Anm. 185), S. 177.

Drittes Kapitel

Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages I. Der doppelte Standardlebenslauf 1. Die neuen Generationenverhältnisse Der bürgerliche Generationenvertrag begann in Deutschland mit den Anfängen der kapitalistischen Erwerbstätigkeit im achtzehnten Jahrhundert. Er war aber zunächst auf einen kleinen Teil der Gesellschaft beschränkt, und erst mit der Beschleunigung der kapitalistischen Entwicklung nahm seine Verbreitung zu. Die Reichsgründung von 1871 kann als Zäsur zwischen dem traditionellen und dem bürgerlichen Generationenvertrag gelten, denn seitdem setzte sich die individuelle Erwerbstätigkeit als das dominante Arbeitsverhältnis durch. Mit der kapitalistischen Lohnarbeit etablierte sich die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit. Im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 wurde sie als familienrechtliches Leitbild festgelegt.1 Die Rechtsnormen waren zu der Zeit aber schon nicht mehr neu, sondern bestätigten die bestehenden Geschlechterverhältnisse. Trotz des allgemeinen Trends zur Individualisierung blieb die Familie im Industriekapitalismus die dominante Lebensweise und behauptete sich als solidarischer Gegenpol zur kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft. Die Familien wurden kleiner, aber es gab keine Zweifel an der Kontinuität des Generationenvertrages.2 Bessere Lebensbedingungen führten zu einer Stabilisierung der Lebenszeit. Kinder hatten häufiger als in früheren Zeiten die Aussicht, ein hohes Alter zu erreichen.3

1

Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. August 1896. Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1896, S. 195 –

603. 2 Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999; Andreas Gestrich / Jens-Uwe Krause / Michael Mitterauer, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003; William H. Hubbard, Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, München 1983; Reinhard Sieder, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt am Main 1987. 3 Peter Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1984, S. 32, 175 – 177.

102

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Der Übergang zum Industriekapitalismus führte in der Zeit des Kaiserreichs zu einem starken wirtschaftlichen Wachstum. Im Trend verbesserten sich die Realeinkommen, und die Möglichkeiten der Umverteilung zwischen den Klassen, den Geschlechtern und den Generationen wurde erweitert. Mit dem Beginn der modernen Sozialpolitik entwickelte sich die sekundäre Einkommensverteilung durch den Staat und die Sozialversicherung zu einem wesentlichen Element des Einkommenskreislaufs. Die Sozialpolitik zielte bei ihrer Entstehung auf eine Umverteilung zwischen den Klassen. Durch das große Finanzvolumen der öffentlichen Rentenversicherung, der generationsspezifischen Leistungen der übrigen Sozialversicherungszweige und der staatlichen Pensionssysteme bewirkte die sekundäre Einkommensverteilung aber schon im Kaiserreich implizit in erheblichem Umfang eine Umverteilung zwischen den Generationen.4 Der private Generationenvertrag wurde durch einen expandierenden öffentlichen Generationenvertrag ergänzt. 2. Demographischer Wandel In den Anfangsjahren des Kaiserreichs war ein vorzeitiger Tod immer noch allgegenwärtig. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug in den Jahren von 1871 – 1880 für Männer 36 Jahre und für Frauen 38 Jahre. Seitdem führten der Anstieg der Realeinkommen, die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen und die Fortschritte der Medizin zu einer deutlichen Zunahme der Lebenserwartung. Vor allem die zunächst noch sehr hohe Kindersterblichkeit ging zurück, aber auch im weiteren Lebenslauf wurde ein vorzeitiger Tod seltener. Bis 1901 – 1910 stieg die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer auf 45 Jahre und für Frauen auf 48 Jahre. Die Lebenserwartung wird stets auf der Grundlage der vergangenen demographischen Entwicklung geschätzt. Der Erste Weltkrieg ging daher nicht in die Prognosen ein, die den im späten neunzehnten Jahrhundert geborenen Jungen für ihren Lebensweg gestellt wurden.5 Die Zunahme der Lebenserwartung schlug sich statistisch in einem Rückgang der Sterberate nieder. In dem Zeitraum von 1872 bis 1913 sank die Sterbeziffer von 2,9 Prozent auf 1,5 Prozent.6 Nie zuvor, und nie wieder, war die Geburtenrate in Deutschland so hoch wie in den Anfangsjahren des Kaiserreichs; 1872 betrug sie 4,0 Prozent. Seitdem ging die Geburtenrate kontinuierlich zurück, im letzten Friedensjahr 1913 war sie auf 2,8 Prozent gesunken. In absoluten Zahlen stiegen die Geburten bis 1898 auf 2,0 Millionen, blieben dann etwas länger als ein Jahrzehnt auf dieser Höhe und gingen 4 Johannes Frerich / Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, 3 Bde., München 1996, Bd. 1, S. 85 – 170. 5 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 109. 6 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 101 – 102.

I. Der doppelte Standardlebenslauf

103

seit 1910 zurück.7 Der Rückgang der Geburten löste eine breite öffentliche Diskussion aus. Für die Konservativen war die Verstädterung die Ursache des Geburtenrückgangs, für das Zentrum war die abnehmende Religiosität der entscheidende Grund, während aus der Sicht der Sozialdemokratie die wirtschaftliche Not die wichtigste Ursache war. Eine Minderheit in der SPD argumentierte in der „Gebärstreikdebatte“ von 1913 – 1914, dass die Geburtenkontrolle eine Voraussetzung für die Besserung des Lebensstandards der Arbeiterfamilien war. Die Parteiführung lehnte diese These jedoch ausdrücklich ab.8 In den Kriegsjahren ging die Geburtenrate stark zurück.9 Das Deutsche Reich war zunächst ein Auswanderungsland. Nach der Reichsgründung nahm die Zahl der Auswanderer zu und erreichte mit der Migrationswelle von 1880 bis 1895 einen Höhepunkt. Insgesamt wanderten von 1816 bis 1914 aus Deutschland 5,5 Millionen Menschen aus. Die Auswanderer kamen vor allem aus den ostdeutschen Agrarregionen, die von der Industriellen Revolution und ihren neuen Beschäftigungsmöglichkeiten zunächst wenig berührt wurden. Das beliebteste Auswanderungsziel blieben die USA, die ungefähr neunzig Prozent aller Emigranten aufnahmen. Andere Ziele waren Kanada, Lateinamerika und Australien. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts ging die Auswanderung zurück. Die ostdeutsche Landbevölkerung strebte nunmehr in die Metropole Berlin und in das Ruhrgebiet. Gleichzeitig wurde das Deutsche Reich als Einwanderungsland für Osteuropäer und Südeuropäer attraktiv. 1910 lebten 1,3 Millionen Ausländer in Deutschland; ihr Anteil an der Wohnbevölkerung betrug zwei Prozent. In dieser Zahl sind nicht die Polen und andere Minderheiten enthalten, die sich vielleicht nicht als Deutsche betrachteten, aber deutsche Staatsangehörige waren.10 Das Kaiserreich hatte 1871 eine Bevölkerung von 41 Millionen. Die hohe Geburtenrate und die steigende Lebenserwartung ließen die Bevölkerung Deutschlands bis 1913 auf 67 Millionen ansteigen. Der Erste Weltkrieg unterbrach die Expansion. Eheschließungen und Geburtenzahlen gingen zurück. 2,4 Millionen deutsche Soldaten kamen im Ersten Weltkrieg um. Weit mehr wurden verwundet und blieben oft auf Lebenszeit geschädigt.11 In den Friedensjahren des Kaiserreichs kompensierten sich die unterschiedlichen demographischen Einflüsse, so dass die Altersstruktur der Gesellschaft unverändert blieb. Aufgrund der höheren Lebenserwartung der Mädchen und Frauen war die deutsche Bevölkerung schon im neunzehnten Jahrhundert überwiegend weiblich. Ende Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 101 – 102. Christiane Dienel, Kinderzahl und Staatsräson. Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, Münster 1995, S. 84 – 89, 180 – 184. 9 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 102 – 103. 10 Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands (wie Anm. 3), S. 32, 175 – 177. 11 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 90; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands (wie Anm. 3), S. 67 – 68, 148. 7 8

104

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

1871 betrug der weibliche Anteil an der Bevölkerung 51 Prozent, und er blieb seitdem in den Friedensjahren des Kaiserreichs konstant.12 Tabelle 3 Die Altersstruktur der deutschen Gesellschaft 1871 – 1911 (Prozent) bis 14 Jahre

15 – 64 Jahre

ab 65 Jahre

1871

34

61

5

1911

34

61

5

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 95.

3. Die wirtschaftliche Entwicklung a) Von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft Das moderne Konzept der Erwerbstätigkeit ging im späten neunzehnten Jahrhundert aus dem traditionellen Kontext von Arbeit und Beruf hervor. Die Definition der Erwerbstätigkeit war aus der kapitalistischen Ökonomie abgeleitet. Grundsätzlich galt die am Arbeitsmarkt orientierte Arbeit als Erwerbstätigkeit. Darüber hinaus wurden auch die Familienangehörigen, die in den zahlreichen bäuerlichen oder gewerblichen Familienbetrieben arbeiteten, als Erwerbstätige betrachtet. Dagegen gehörten nach dem herrschenden Verständnis viele nützliche oder auch gesellschaftlich unentbehrliche Arbeiten wie die Familienarbeit oder die ehrenamtliche Tätigkeit nicht zur Erwerbstätigkeit. Seit 1882 wurde die Erwerbstätigkeit in Deutschland in regelmäßigen Volks- und Berufszählungen registriert.13 Während der engere Begriff der Erwerbstätigen nur die Beschäftigten meinte, schloss der weitere Begriff der Erwerbspersonen auch die Arbeitslosen ein, soweit sie sich erkennbar um eine Erwerbstätigkeit bemühten.14 In der amtlichen Statistik wurden die Erwerbstätigen nach ihrer Stellung im Beruf in Arbeiter, Angestellte, Beamten, Selbständige und mithelfende Familienangehörige eingeteilt. Als mithelfende Familienangehörige galten die Ehefrauen, Kinder oder Geschwister von selbständigen Landwirten oder Gewerbetreibenden, die im Familienbetrieb tätig waren. Ob es sich in einzelnen Fällen um eine statistisch relevante Erwerbsarbeit handelte oder um eine Familienarbeit, die für die Berufsstatistik nicht von Interesse war, ließ sich nicht immer klar entscheiden und hing oft von der subjektiven Interpretation der Befragten ab. In den frühen Berufs12 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 90; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2002, S. 44. 13 Wolfgang Fritz, Historie der amtlichen Statistiken der Erwerbstätigkeit in Deutschland, Köln 2001. 14 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 19 – 21.

I. Der doppelte Standardlebenslauf

105

zählungen wurde die Zahl der mithelfenden Familienangehörigen deutlich unterschätzt. Erst seit der Berufszählung von 1907 wurde ihre Zahl realistisch erfasst. Bei langfristigen Vergleichen der Erwerbsquote müssen die früheren Ergebnisse daher entsprechend korrigiert werden.15 In den männlichen Lebensentwürfen stand die Erwerbstätigkeit im Mittelpunkt. Fast jeder Mann beteiligte sich „der Tradition nach ganz und voll am Erwerb, und nur Krankheit oder Arbeitsscheue veranlassen ihn, seine Kräfte dem Erwerbsleben zu entziehen“, schrieb Rosa Kempf zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.16 Das Leitbild war die vollständige Erwerbsbiographie von der frühen Jugend bis ins hohe Alter. Von Frauen wurde dagegen erwartet, dass sie, soweit sie nicht als mithelfende Familienangehörige unentbehrlich waren, ihre Erwerbstätigkeit nach der Heirat oder spätestens nach der Geburt eines Kindes aufgaben, um sich der Familientätigkeit zu widmen. Wenn Frauen dennoch erwerbstätig blieben, wichen sie häufig auf Nebentätigkeiten aus. Eine Nebentätigkeit sollte nach den Absichten der amtlichen Statistik als Erwerbstätigkeit erfasst werden, wenn sie „nebensächlich, aber regelmäßig“ ausgeübt wurde. Auch das ließ, wie die Erfassung der mithelfenden Familienangehörigen, einen erheblichen Interpretationsspielraum zu. Die Haushalte gaben Nebentätigkeiten oft nicht an. Es gab, wie schon in der zeitgenössischen Statistik diskutiert wurde, verschiedene Gründe oder Motive, aus denen eine Nebentätigkeit verschwiegen wurde, aus Irrtum, aus „Steuerfurcht“, oder auch aus „gesellschaftlichen Rücksichten“.17 Die gesellschaftlichen Rücksichten waren durch das bürgerliche Familienideal bedingt. Verheiratete Arbeiter, Angestellte und Beamte hielten es für eine Beeinträchtigung ihres sozialen Status, wenn die Ehefrau erwerbstätig war. Rosa Kempf bemerkte in ihrer Untersuchung über Münchener Fabrikarbeiterinnen, dass viele Familien bei den amtlichen Erhebungen die Erwerbstätigkeit der Ehefrau nicht angaben, weil er ihnen zu unwichtig erschien, oder weil sie „sich selbst wohlhabender und sozial höherstehend dünken, wenn die Männer wenigstens nach außen alleinige Ernährer der Familie zu sein scheinen“.18 Die Grenze zwischen der registrierten Erwerbstätigkeit und einer im Alltag durchaus wichtigen, aber statistisch nicht erfassten Erwerbstätigkeit war daher offen. Viele Nebentätigkeiten blieben dem statistischen Blick verborgen. Die Erwerbsquote wurde nicht nur durch die unterschiedliche Erwerbsorientierung von Männern und Frauen, sondern auch durch strukturelle Faktoren wie die Dauer der Jugendphase und des Ruhestandes und durch die Altersstruktur der 15 Walther G. Hoffmann / Franz Grumbach / Helmuth Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 6 – 18, 35, 183 – 185. 16 Rosa Kempf, Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München. Schriften des Vereins für Socialpolitik 135 / 2, Leipzig 1911, S. 41. 17 Kaiserliches Statistisches Amt, Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907. Die berufliche und soziale Gliederung des deutschen Volkes. Statistik des Deutschen Reichs, Neue Folge 211, Berlin 1913, S. 4 – 7. 18 Kempf, Leben der jungen Fabrikmädchen (wie Anm. 16), S. 16.

106

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Gesellschaft beeinflusst. Die Verlängerung der Ausbildungsphase und die Ausdehnung des Ruhestandes verkürzten die Zeit der potentiellen Erwerbstätigkeit. Die Altersstruktur der Gesellschaft war von Bedeutung, denn je größer das Gewicht der mittleren Generation in der Gesamtbevölkerung war, um so höher war auch der Anteil der potentiell Erwerbstätigen. Meistens gehörten von der Zeit des Kaiserreichs bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik Deutschland etwas weniger als die Hälfte der Bevölkerung zu den Erwerbspersonen. 1882 betrug die Erwerbsquote, wenn man die Unterregistrierung der mithelfenden Familienangehörigen korrigiert, 44 Prozent. Bis 1907 stieg die Erwerbsquote auf 46 Prozent an.19 Die Polarisierung der Gesellschaft zwischen Kapital und Arbeit beschleunigte sich im späten neunzehnten Jahrhundert. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen machten in den Anfangsjahren des Kaiserreichs etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigten aus, am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren es knapp zwei Drittel. Die Erwerbstätigkeit als Selbständige und mithelfende Familienangehörige wurde allmählich zu einer Ausnahme.20 Tabelle 4 Die Sozialstruktur der Erwerbstätigen in Deutschland 1882 – 1907 (Prozent) Arbeiter

Angestellte und Beamte

Selbständige

Angehörige

1882

51

5

26

17

1907

55

10

20

15

Quelle: Walther G. Hoffmann / Franz Grumbach / Helmut Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 204 – 205; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1972 – 1972, Stuttgart 1972, S. 142.

Während die alte Mittelklasse der Selbständigen allmählich an Bedeutung verlor, entwickelte sich eine neue Mittelklasse von Angestellten und Beamten. Die Angestellten und Beamten in einfachen Tätigkeiten ohne Anweisungsfunktionen werden in der Sozialstrukturanalyse zur Arbeiterklasse gerechnet. Mittlere Angestellte und Beamte sind zwar Arbeitnehmer, unterscheiden sich aber von den Arbeitern, da sie Anweisungsaufgaben wahrnehmen. Als Arbeitnehmer mit Anweisungs- und Organisationsfunktionen bilden sie eine neue Mittelklasse zwischen Kapital und Arbeit. Auch die Angehörigen der Freien Berufe zählt man im allgemeinen zu der neuen Mittelklasse. Leitende Angestellte wie Vorstandsmitglieder und Direktoren gehören dagegen nicht zu der neuen Mittelklasse, sondern ebenso wie die leitenden Beamten zur Oberklasse. Die Familienangehörigen werden im 19 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 15), S. 183 – 184; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 140. 20 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 15), S. 204 – 205; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 142.

I. Der doppelte Standardlebenslauf

107

allgemeinen dem Status des Hauptverdieners in der Familie zugeordnet. Die aus der Erwerbstätigkeit abgeleitete Klassenstruktur lässt sich daher, wenn man die unterschiedlichen Familiengrößen in den einzelnen Klassen und Schichten berücksichtigt, auf die gesamte Bevölkerung übertragen. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gehörten zur Arbeiterklasse ungefähr 70 Prozent der Bevölkerung, zur alten und neuen Mittelklasse zusammen 29 Prozent und zur Oberklasse ein Prozent.21 Die Berufsstatistik teilte die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in die drei Schichten der Arbeiter oder Arbeiterinnen, der Angestellten und der Beamten oder Beamtinnen. Während die Beamten durch ihren Beschäftigungsstatus definiert wurden, war die Unterscheidung von „Arbeitern“ und „Angestellten“ fließend. Ein Kriterium war, dass dem „Arbeiter“ als typische Tätigkeiten Landarbeit, Fabrikarbeit oder Transportarbeit zugeordnet wurden, dem „Angestellten“ eine Bürotätigkeit. Bei manchen Tätigkeiten war die Zuordnung unklar. Ein Verkäufer oder eine Verkäuferin galten in der Berufsstatistik des Kaiserreichs als „Arbeiter“ oder „Arbeiterin“, seit der Weimarer Republik aber als „Angestellte“. Die Hausangestellte war dagegen, entgegen ihrer Berufsbezeichnung, in der Berufsstatistik eine Arbeiterin. Neben der Zuordnung bestimmter Tätigkeiten konnte die Differenzierung von „Arbeitern“ und „Angestellten“ aber auch einen Unterschied zwischen ausführender Tätigkeit und disponierender Tätigkeit meinen. Die beiden Differenzierungen passten nicht unbedingt zusammen. Schon in der Zeit des Kaiserreichs bedeutete Büroarbeit in vielen Fällen keine disponierende, sondern eine ausführende Tätigkeit. Seitdem nahm die Zahl der „Angestellten“ in ausführenden Tätigkeiten im Büro, im Verkauf und anderen Berufsfeldern zu.22 Die Polarisierung der Sozialstruktur war eng mit dem Wandel von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft verbunden. Zur Zeit der Reichsgründung war Deutschland noch überwiegend eine Agrargesellschaft, obwohl bereits einige bedeutende Industrieregionen entstanden waren. Beschäftigung und Produktion des primären Sektors nahmen in absoluten Zahlen noch bis zum Ersten Weltkrieg zu. Der sekundäre Sektor und der tertiäre Sektor wuchsen jedoch sehr viel schneller. In den Jahren von 1890 bis 1894 überholte der sekundäre Sektor nach der Wertschöpfung den primären Sektor, in den Jahren von 1905 bis 1909 trat der sekundäre Sektor auch nach der Zahl der Beschäftigten an die Spitze.23 Deutschland wurde ein Industrieland, aber die Landwirtschaft behielt für die Produktion und vor allem für die Beschäftigung erhebliche Bedeutung. Die duale Struktur der deutschen Wirtschaft, in der ein moderner und ein traditioneller Sektor neben21 Gerhard A. Ritter / Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 137. 22 Reinhard Stockmann / Angelika Willms-Herget, Erwerbsstatistik in Deutschland. Die Berufs- und Arbeitsstättenzählungen seit 1875 als Datenbasis für die Sozialstrukturanalyse, Frankfurt am Main 1985. 23 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 15), S. 33 – 35.

108

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

einander existierten, wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auch in der Politik thematisiert. „Deutschland ist weder ein Industriestaat noch ein reiner Agrarstaat, sondern beides zugleich“, erklärte Reichskanzler Graf von Bülow im Dezember 1901 im Reichstag bei der Vorlage des neuen Zollgesetzes.24 Tabelle 5 Die Erwerbstätigen nach Sektoren in Deutschland 1900 – 1913 (Prozent) Primärer Sektor

Sekundärer Sektor

Tertiärer Sektor

1900

38

37

25

1913

35

38

27

Quelle: Walther G. Hoffmann / Franz Grumbach / Helmut Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 204 – 205.

Der Strukturwandel bedeutete, dass viele Erwerbstätige im Laufe ihres Arbeitslebens die Sektoren wechselten. Ein Wechsel konnte verschiedene Motive haben, Unzufriedenheit mit den bestehenden Arbeitsbedingungen und Löhnen oder die Hoffnung auf bessere Chancen in einem anderen Beruf. Der Hauptstrom zog von der Landwirtschaft in die Industrie. Manche Industriearbeiter kehrten am Ende ihres Arbeitslebens, wenn sie das Tempo der Fabrikarbeit nicht mehr ertragen konnten, in die Landwirtschaft zurück, mit niedrigem Lohn, aber auch mit einem langsameren Arbeitsrhythmus. Junge Frauen vom Lande gingen als Hauspersonal in die Städte, um im späteren Leben städtische Hausfrauen zu werden. Der Wechsel der Sektoren war oft mit einer Fernwanderung verbunden. In der Zeit des Kaiserreichs hatte die Migration aus den ländlichen Regionen Ostdeutschlands in das Ruhrgebiet den größten Umfang. Über kürzere Entfernungen zogen Arbeiter aus Nordhessen in das Ruhrgebiet, aus der Eifel in das Saargebiet.25 b) Wachstum und Konjunktur Die Friedensjahre des Kaiserreichs waren eine lange wirtschaftliche Expansionsphase. Das reale Nettosozialprodukt nahm von 1872 bis 1913 mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 2,5 Prozent zu, das reale Nettosozialprodukt je Einwohner um 1,3 Prozent jährlich. Im Rahmen dieses Wachstumstrends kann man eine Sequenz von längeren wirtschaftlichen Wechsellagen unter24 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. 10. Legislaturperiode, 2. Session 1900 – 1903, Bd. 4, S. 2884. 25 W. Kleber, Sektoraler und sozialer Wandel der Beschäftigungsstruktur in Deutschland 1882 – 1978: Eine Analyse aus der Perspektive des Lebenslaufs, in: K. J. Bade, Hg., Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter, Ostfildern 1984.

I. Der doppelte Standardlebenslauf

109

scheiden. Auf die Reichsgründung von 1871 folgten die Gründerjahre von 1871 – 1873 mit einem starken Anstieg von Produktion und Beschäftigung. Mit der Krise von 1873 brach der Aufschwung ab. Die Gründerkrise war nicht nur ein konjunktureller Einbruch, sondern ging in die Große Depression von 1873 – 1895 über. Um 1895 setzte neue Prosperitätsphase ein, die bis zum Ersten Weltkrieg anhielt. Das Wachstum und die langen wirtschaftlichen Wechsellagen wurden von zyklischen Konjunkturschwankungen überlagert.26 Der Erste Weltkrieg beendete die lange Wachstumsphase der deutschen Wirtschaft. Während des Krieges ging die Produktion stark zurück, und die Rückkehr zur Friedenswirtschaft war mühsam. Das langfristige Wachstum des Sozialprodukts schlug sich im Trend in einer deutlichen Zunahme der Nominallöhne und Reallöhne nieder. 1871 betrug der Durchschnittslohn der Arbeiter und Arbeiterinnen außerhalb der Landwirtschaft 41 Mark im Monat. Bis 1913 stieg dieser Durchschnittslohn auf neunzig Mark. Die Lebenshaltungskosten stiegen in den Gründerjahren, gingen in der Großen Depression von 1873 – 1895 stark zurück, und nahmen dann wieder zu. Der Reallohn lag 1913 um 79 Prozent über dem Niveau von 1871.27 Der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen lag in der Zeit des Kaiserreichs nach den Schätzungen von Walther Hoffmann und Mitarbeitern meistens zwischen siebzig und achtzig Prozent. Konjunkturaufschwünge und langfristige Expansionsphasen ließen den Anteil der Erwerbseinkommen sinken, während in Rezessionen und Stagnationsphasen die Lohnquote anstieg. In den Gründerjahren ging die Lohnquote zurück, stieg aber bald darauf nach der Gründerkrise wieder an; 1875 – 1879 betrug sie achtzig Prozent. Im imperialen Aufschwung ging die Lohnquote zurück, 1910 – 1913 betrug sie nur noch 71 Prozent. Im Vergleich zu späteren Schätzungen erscheint die Lohnquote relativ hoch, weil bei diesen Schätzungen die Einkommen der Selbständigen in Erwerbseinkommen und Kapitaleinkommen aufgeteilt wurden.28 c) Vermögen Es gehörte zum bürgerlichen Lebensentwurf, dass regelmäßig ein Teil des individuellen Einkommens aus Erwerbstätigkeit oder Vermögen gespart werden sollte, um Vorsorge für Zeiten eines Einkommensverlusts oder für besondere Ausgaben zu treffen. Immobilien oder Wertpapiere waren der Inbegriff bürgerlicher Saturiertheit. Dieses Bild wurde nicht zuletzt durch literarische Vermögensbesitzer oder Vermögensbesitzerinnen verbreitet. Theodor Fontane hat die verwitwete Frau Majorin von Poggenpuhl und ihre drei Töchter in einem Haus in der Großgörschenstraße untergebracht, das „einem braven und behäbigen Mann, dem Margrit Grabas, Konjunktur und Wachstum in Deutschland 1895 bis 1914, Berlin 1992. Ashok V. Desai, Real wages in Germany, Oxford 1968, S. 112, 125. 28 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 15), S. 86 – 89. 26 27

110

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

ehemaligen Maurerpolier, jetzigen Rentier August Nottebohm“ gehört.29 Der Besitzer des Hauses in der Georgenstraße, in dem Frau Möhring und ihre Tochter Mathilde wohnen, ist der ehemalige Rechnungsrat Schultze. Er hat in der Gründerzeit mit 500 Talern spekuliert und in zwei Jahren ein beträchtliches Vermögen erworben, so dass er jetzt fünf Häuser besitzt. Seine Beamtenlaufbahn hat der Hausbesitzer längst aufgegeben und geht jetzt gerne vor seinem früheren Arbeitsplatz, dem Ministerium, spazieren.30 Carl Sternheims literarische Erbtante Elsbeth Treu hat dagegen ihr für die späten Jahre des Kaiserreichs stattliches Vermögen von 140.000 Mark in Wertpapieren verwahrt. Die Papiere bilden als konzentrierter Reichtum den Inhalt der Kassette, auf die sich die begehrlichen Blicke des Oberlehrers Heinrich Krull, verheiratet mit Elsbeth Treus Nichte Fanny, richten.31 Bürgerliche Vermögen in Immobilien oder Wertpapieren waren nur ein Aspekt in einem weiten sozialen Spektrum der Vermögensbildung. Die höchste Sparquote hatten die Unternehmerhaushalte. Trotz der Ausdehnung der Kapitalgesellschaften blieben die Familienbetriebe eine verbreitete Unternehmensform, nicht nur in der mittelständischen Wirtschaft, sondern auch für große Industrieunternehmen, Banken und Handelsfirmen. Betriebsvermögen und Privatvermögen waren häufig nicht getrennt, und die Unternehmensgewinne konnten sich zu eindrucksvollen Vermögen kumulieren. Erhebliche wirtschaftliche Bedeutung, wenn auch auf sehr viel bescheidenerem Niveau als im Großbürgertum, hatten die Vermögen in der Landwirtschaft. Ein landwirtschaftlicher Betrieb repräsentierte im Durchschnitt ein für die damalige Zeit relativ großes Vermögen, das in Land, Gebäuden, Maschinen und Geräten, Vieh und Vorräten investiert war. Das Kapital eines landwirtschaftlichen Betriebes, einschließlich des Bodens, betrug 1882 im Durchschnitt 14.000 Mark und stieg bis 1907 auf 18.000 Mark.32 Dabei ist zu berücksichtigen, dass in dieser Durchschnittsrechnung mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Betriebe Kleinstbetriebe mit weniger als zwei Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche waren, die keine Vollerwerbsstellen bildeten. Die Kapitalschwelle für einen landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetrieb lag wesentlich höher. Das im Vergleich etwa zum Handwerk recht hohe Kapital erklärt, dass die Erbübernahme des elterlichen Betriebes für die bäuerlichen Familien von zentraler Bedeutung war. Junge Leute, die mit ungefähr dreißig Jahren selbständig werden wollten, hätten derartige Beträge weder ansparen, noch als Kredit erhalten können. Deutlich wird bei einem Vergleich mit den Löhnen der Zeit auch, dass Landarbeiter und Landarbeiterinnen kaum Aussicht hatten, einen landwirtschaftlichen Betrieb zu erwerben. Theodor Fontane, Die Poggenpuhls (1896). Sämtliche Werke 4, München 1959, S. 287. Theodor Fontane, Mathilde Möhring (1906). Sämtliche Werke 6, München 1959, S. 223. 31 Carl Sternheim, Die Kassette (1912). Gesamtwerke, Bd. 1, Neuwied 1963. 32 Hofmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 15), S. 234 – 235; Friedrich-Wilhelm Henning, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 2, Paderborn 1978, S. 149. 29 30

I. Der doppelte Standardlebenslauf

111

Mit dem Vermögen der selbständigen Handwerker und der neuen Mittelklasse war es nicht so weit her, wie man nach den literarischen Beispielen vermuten möchte. Fontane, der ein guter Beobachter der sozialen Verhältnisse war, hat seine Hausbesitzer Nottebohm und Schultze zwar wirklichkeitsnah dargestellt. Aber die Berliner Immobilienbesitzer verdankten ihr Vermögen vor allem der Sonderkonjunktur des Wohnungsbaus in der neuen Reichshauptstadt. In Leipzig hatte im späten neunzehnten Jahrhundert nur eine Minderheit unter den Handwerkern Hausbesitz. Am höchsten war der Anteil der Hausbesitzer unter den Fleischern mit 41 Prozent und den Bäckern mit 40 Prozent; dagegen hatten nur drei Prozent der selbständigen Schuhmacher ein eigenes Haus.33 Im Lebensstil der neuen Mittelklasse hatte trotz des gehobenen Einkommens das Sparen keine große Bedeutung. Die Angestellten und Beamten verließen sich im wesentlichen auf ihr Gehalt und vertrauten im übrigen auf die staatliche Altersversorgung oder auf die neue Rentenversicherung. In Haushaltsrechnungen vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gaben nur 43 Prozent der Angestelltenhaushalte und 42 Prozent der Beamtenhaushalte Ersparnisse an. Im Durchschnitt sparten Angestellte 3,3 Prozent des Haushaltseinkommens, Beamte nur 2,2 Prozent.34 Auch den Arbeiterfamilien wurde das bürgerliche Ideal des Sparens empfohlen.35 Die Sparappelle stießen aber nicht immer auf fruchtbaren Boden. Franz Rehbein berichtet, dass in Dithmarschen in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts die Honoratioren der Gegend, der Landrat, der Pastor, der Lehrer und die reichen Bauern, die Landarbeiter zur Gründung eines Sparvereins aufforderten. Das Publikum blieb skeptisch, und ein Sprecher fragte, wovon die Tagelöhner denn sparen sollten. Wollten die Herren bei ihren Sparvorschlägen beharren, „dann möchten sie den Arbeitern doch einmal das Kunststück vormachen, wie man mit 600 Mark eine Familie ernähren und dabei auch noch sparen solle. Könnten sie es, so werde er es ihnen nachmachen“.36 Max Weber fand in der Enquete über die ostdeutschen Landarbeiter bestätigt, dass ländliche Arbeiterfamilien mit ihren kargen Einkommen nur schwer etwas sparen konnten. An den Sparkassen in Schlesien „beteiligen sich die Arbeiter an einigen Stellen neuerdings, meist aber nicht, weil, wie aus dem Kreise Cosel bemerkt wird, sie nichts zu sparen haben“.37 Nach den Haushaltsrechnungen vom Beginn des zwanzigsten Jahrhun33 Karl Bücher, Einkommensverhältnisse der Leipziger Handwerker, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland, Bd. 6. Schriften des Vereins für Socialpolitik 67, Leipzig 1897, S. 702 – 704. 34 Armin Triebel, Zwei Klassen und die Vielfalt des Konsums. Haushaltsbudgetierung bei abhängig Erwerbstätigen in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, 2 Bde., Berlin 1991, Bd. 1, S. 291, 313. 35 Günther Schulz, „ . . . der konnte freilich ganz anders sparen als ich“. Untersuchungen zum Sparverhalten industrieller Arbeiter im 19. Jahrhundert, in: Ulrich Engelhard, Hg., Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensgestaltung und Lebensstandard deutscher Arbeiter und Handwerker, Stuttgart 1981. 36 Franz Rehbein, Das Leben eines Landarbeiters (1911), Darmstadt 1973, S. 279.

112

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

derts bildeten nur 33 Prozent der Arbeiterhaushalte Ersparnisse. Im Durchschnitt sparten Arbeiterfamilien 3,1 Prozent des Haushaltseinkommens.38 Obwohl die Sparquoten im Durchschnitt niedriger waren als das bürgerliche Tugendideal vielleicht vermuten lässt, begünstigte das wirtschaftliche Wachstum die individuelle Vermögensbildung. Die Bildung von Produktivvermögen blieb im wesentlichen auf die Oberklasse beschränkt, aber Geldvermögen waren breiter gestreut. 1910 betrugen die Sparguthaben bei den Sparkassen 17 Milliarden Mark. Im Durchschnitt entfiel auf jeden Haushalt ein Sparguthaben von 1175 Mark.39 Das entsprach dem durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen von 15 Monaten.40 Eine Untersuchung aus dem Landkreis Bonn vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt große soziale Unterschiede im Sparen. Auf die alte Mittelklasse der Selbständigen entfielen 55 Prozent des Wertes der Sparguthaben bei Geschäftsbanken, Sparkassen und Genossenschaften, auf die Arbeiterschaft einschließlich der Hausangestellten nur elf Prozent.41 Insgesamt überwogen bei den preußischen Sparkassen die kurzfristigen bis mittelfristigen Einlagen. Ein erheblicher Teil der Ersparnisse wurden als „Notgroscheneinlagen“ charakterisiert. Zu diesen Sparern gehörten besonders die Saisonarbeiter, die Geld für die arbeitslosen Monate zurücklegten. Ebenfalls zu den kurzfristigen bis mittelfristigen Einlagen gehörte das Sparen für besondere Anschaffungen. Die langfristige Vermögensbildung war vergleichsweise selten. Nur zwanzig bis dreißig Prozent der Sparkonten bestanden länger als zehn Jahre.42 Der Erste Weltkrieg unterbrach die Vermögensbildung. Während des Krieges wurde die Bevölkerung mit großem Propagandaaufwand zum Kauf von Kriegsanleihen gedrängt. Schon in den Kriegsjahren verloren die alten und neuen Geldvermögen jedoch durch die Inflation an Wert. 1918 war die Kaufkraft der Mark auf ungefähr die Hälfte des Vorkriegsstandes gesunken.43 37 Max Weber, Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, Bd. 3, Schriften des Vereins für Socialpolitik 55, Leipzig 1892, S. 503. 38 Triebel, Zwei Klassen und die Vielfalt des Konsums (wie Anm. 34), Bd. 1, S. 291, 313. 39 Deutsche Bundesbank, Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876 – 1975, Frankfurt am Main 1976, S. 63; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 98. 40 Rüdiger Hohls, Arbeit und Verdienst. Entwicklung und Struktur der Arbeitseinkommen im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik 1885 – 1985, Diss. Freie Universität Berlin 1991, S. 89. 41 R. Poppelreuter, Das Sparwesen im Landkreis Bonn, in: H. Schumacher, Hg., Untersuchungen über das Volkssparwesen, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 136, München 1912, S. 22. 42 Reinhard Maßberg, Die Zahlungsbereitschaft der Preußischen Sparkassen, in: H. Schumacher, Hg., Untersuchungen über das Volkssparwesen, Bd. 2. Schriften des Vereins für Sozialpolitik 137 / 1, München 1913. 43 Gerd Hardach, Der Erste Weltkrieg. Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 2, München 1972, S. 184 – 186.

I. Der doppelte Standardlebenslauf

113

d) Öffentliche Transferleistungen Ein wachsender Teil des Lebenseinkommens bestand im bürgerlichen Generationenvertrag aus öffentlichen Transferzahlungen, die vom Staat oder von der Sozialversicherung geleistet wurden. Zu Beginn des Kaiserreichs gab es als öffentliche Transferleistungen im wesentlichen die Armenpflege und die staatlichen Pensionssysteme. Neben der öffentlichen Umverteilung gab es die betrieblichen oder überbetrieblichen Versorgungssysteme der privaten Wirtschaft, in geringerem Umfang auch eine Umverteilung von Einkommen durch die Kirchen, durch Verbände oder private Spenden. Die Grenzen waren fließend, wie die Knappschaftsversicherung der Bergleute zeigt. Sie wurde zunächst der privatwirtschaftlichen Versorgung zugeordnet, ging später aber in der Sozialversicherung auf. Die moderne Sozialpolitik begann als Arbeiterpolitik. Der Grund ihrer Entstehung waren der wachsende Einfluss der Arbeiterbewegung, die auf eine Verbesserung der Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen drängte, und das Interesse des bürgerlichen Staates, die Arbeiterklasse durch soziale Zugeständnisse in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Die Instrumente der Sozialpolitik waren die Regulierung, zum Beispiel durch das Verbot der Kinderarbeit, und die öffentliche Umverteilung.44 1881 kündigte die Reichsregierung den Aufbau einer umfassenden Sozialversicherung an, die den Arbeitern und Arbeiterinnen Unterstützung bei Krankheit, bei Unfällen, bei Invalidität und im Alter gewähren sollte. Kurz zuvor waren mit dem Sozialistengesetz von 1878 die sozialistischen Organisationen verboten worden. Die Einführung der Sozialversicherung sollte dem schlechten Eindruck des Sozialistengesetzes entgegenwirken und die Arbeiterklasse für den bürgerlichen Staat gewinnen. Der Soziologe Georg Simmel wies am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts darauf hin, dass nicht die Armut, sondern die Definition der Armut als soziales Problem die öffentliche Umverteilung begründet. „Der Arme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes Maß von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, dass er Unterstützung enthält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte. So ist nach dieser Richtung die Armut nicht an und für sich, als ein quantitativ festzulegender Zustand zu bestimmen, sondern nur nach der sozialen Reaktion, die auf einen gewissen Zustand hin eintritt“.45 Die Reichsregierung erklärte, die Sozialversicherung solle zur „Heilung sozialer Schäden“ beitragen. „Diese Heilung wird nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialistischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein. In dieser Beziehung steht die Fürsorge für die Erwerbsunfähigen unter ihnen in erster Linie.“46 Zur Frerich, Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 90 – 93. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908). Gesamtausgabe, Bd. 11, Frankfurt am Main 1992, S. 551. 46 Thronrede vom 15. Februar 1881. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 4. Legislaturperiode, 4. Session 1881, Bd.1, S. 1. – Die Bezeichnung „Thronrede“ war eine Fiktion, um die Bedeutung des Dokuments zu betonen. Die Rede war eine 44 45

8 Hardach

114

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Begründung führte die Regierung weiter aus: „Die bisherigen Veranstaltungen, welche die Arbeiter vor der Gefahr sichern sollten, durch den Verlust ihrer Arbeitsfähigkeit, in Folge von Unfällen oder des Alters, in eine hülflose Lage zu geraten, haben sich als unzureichend erwiesen, und diese Unzulänglichkeit hat nicht wenig dazu beigetragen, Angehörige dieser Berufsklasse dahin zu führen, daß sie in der Mitwirkung zu sozialdemokratischen Bestrebungen den Weg zur Abhülfe suchten.“47 Vorgesehen waren eine Unfallversicherung, eine Krankenversicherung und eine Rentenversicherung. Die Einführung der Sozialversicherung war politisch heftig umstritten. In den bürgerlichen Parteien gab es vor allem gegen die Invaliditäts- und Altersversicherung, die das aufwendigste Reformprojekt war, erheblichen Widerstand. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands stimmte gegen alle drei Reformgesetze.48 An der Krankenversicherung kritisierte sie vor allem, dass die Unterstützungskassen der Arbeiter nicht in die Pflichtversicherung einbezogen wurden. Die Ablehnung der Unfallversicherung wurde dagegen hauptsächlich mit den unzulänglichen Leistungen begründet. In der Debatte über die Verlängerung des Sozialistengesetzes kritisierte Bebel im März 1884, die Sozialreform würde „doch im Grunde genommen nur sehr, sehr minimale Änderungen in der Lage der Arbeiter herbeiführen und in Bezug auf den bestehenden sozialen Zustand an sich absolut gar keine Aenderung hervorrufen.“49 Auch die Ablehnung der Rentenversicherung begründete Paul Singer im Reichstag mit den unzulänglichen Leistungen.50 Die Kritik an dem Regierungsprojekt war zwar berechtigt, erklärte aber nicht, warum eine bescheidene soziale Sicherung schlechter sein sollte als gar keine soziale Sicherung. Es ging bei der Ablehnung eher um grundsätzliche Positionen. Die Sozialistische Arbeiterpartei wollte in der Zeit des Sozialistengesetzes nicht die Regierung bei dem Versuch unterstützen, sich als Interessenvertretung der Arbeiterklasse darzustellen.51 Für die Abstimmung im Reichstag hatte die Ablehnung wenig Bedeutung, denn die Sozialistische Arbeiterpartei war von den späteren Erfolgen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands noch weit entfernt. Bei den ReichstagsRegierungserklärung und wurde, formal im Auftrag des Kaisers, vom Stellvertreter des Reichskanzlers, Graf zu Stolberg-Wernigerode, vorgetragen. 47 Reichstagssitzung vom 15. Februar 1881. Stenographische Berichte, 4. Legislaturperiode, 4. Session 1881, Bd. 1, S. 2. 48 Reichstagssitzung vom 31. Mai 1883. Stenographische Berichte, 5. Legislaturperiode, 2. Session 1882 – 1883, Bd. 4, S. 2691 – 2694. Reichstagssitzung vom 27. Juni 1884. Stenographische Berichte, 5. Legislaturperiode, 4. Session 1884, Bd. 2, S. 1103 – 1129. Reichstagssitzung vom 24. Mai 1889. Stenographische Berichte, 7. Legislaturperiode, 4. Session 1882 – 1889, Bd. 3, S. 1995 – 2005. 49 Reichstagssitzung vom 20. März 1884. Stenographische Berichte, 5. Legislaturperiode, 4. Session 1884, Bd. 1, S. 146. 50 Reichstagssitzung vom 17. Mai 1889. Stenographische Berichte, 7. Legislaturperiode, 4. Session 1888 – 1889, Bd. 3, S. 1787 – 1794. 51 Florian Tennstedt, Vom Proleten zum Industriearbeiter. Arbeiterbewegung und Sozialpolitik in Deutschland 1800 bis 1914, Köln 1983, S. 305 – 356.

I. Der doppelte Standardlebenslauf

115

wahlen 1881 hatte sie drei Prozent der Mandate erreicht, 1884 waren es sechs Prozent und 1887 fiel sie wieder auf drei Prozent der Mandate zurück.52 Die Krankenversicherung wurde 1883 eingeführt, die Unfallversicherung 1884 und die Invaliditäts- und Altersversicherung 1889. Die Krankenversicherung war eine Pflichtversicherung für die Arbeiter oder Arbeiterinnen und Angestellten der Industrie und anderer gewerblicher Unternehmen; die Landwirtschaft war ausgenommen. Als Träger wurden die Allgemeinen Ortskrankenkassen gegründet. Sie waren Selbstverwaltungs-Körperschaften mit einem Vorstand und einer Generalversammlung oder Delegiertenversammlung der Mitglieder, die zu zwei Dritteln von den Arbeitnehmern und zu einem Drittel von den Arbeitgebern besetzt wurde. Die bestehenden Betriebskassen, handwerklichen Innungskassen und Knappschaftskassen wurden als Träger anerkannt, mussten aber ihre allgemeinen Unterstützungsziele aufgeben, sich ausschließlich auf die Krankenversicherung beschränken und allgemeine Rahmenbedingungen über Leistungen und Beiträge erfüllen. Die Allgemeinen Krankenkassen waren ursprünglich als subsidiäre Institutionen gedacht für die Erwerbstätigen, die zu keiner anderen Kasse Zugang hatten, setzten sich aber bald als die wichtigsten Träger der Krankenversicherung durch. Die öffentliche Krankenversicherung bezahlte die ärztliche Versorgung, Arzneimittel und Krankenhausaufenthalte. Sie gewährte außerdem für eine Zeit von höchstens sechs Wochen ein Krankengeld, das fünfzig Prozent des Lohns entsprach. Die Beiträge waren nach dem Lohn gestaffelt und wurden zu zwei Drittel durch die Arbeitnehmer und zu einem Drittel durch die Arbeitgeber gezahlt. Familienangehörige konnten zu günstigen Tarifen, bei einigen Kassen auch ohne eigene Beitragsleistung mitversichert werden.53 Die Unfallversicherung war eine Pflichtversicherung der Unternehmer, mit der sie die Ansprüche von Arbeitnehmern oder Arbeitnehmerinnen aus Betriebsunfällen sicherten. Sie wurde von Berufsgenossenschaften der verschiedenen Branchen getragen. Die Berufsgenossenschaften wurden von einem Vorstand und einer Genossenschaftsversammlung verwaltet, die von den beteiligten Unternehmen gewählt wurde. Die Unfallversicherung zahlte bei Betriebsunfällen von der 14. Woche an die Kosten der Heilbehandlung; bis dahin waren die Kosten von der Krankenversicherung zu tragen. Außerdem wurden Renten an die verunglückten Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen oder an die Hinterbliebenen gezahlt. Die Unfallrente richtete sich nach der Minderung der Erwerbsfähigkeit; bei vollständiger Erwerbsunfähigkeit entsprach sie zwei Dritteln des Lohns. Die Hinterbliebenenversorgung betrug für die Witwe und für jedes Kind zwanzig Prozent des Lohns, war aber auf insgesamt sechzig Prozent des Lohns begrenzt. Die Beiträge wurden ausschließlich von den Unternehmen gezahlt.54 Mit der Invaliditäts- und Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 136. Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883. Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1883, S. 73 – 104. 54 Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. RGBl. 1884, S. 69 – 112. 52 53

8*

116

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Altersversicherung von 1889 wurde die Gründungsphase der Sozialversicherung abgeschlossen.55 Die Sozialreform von 1881 – 1889 begründete ein paritätisches Modell der Sozialpolitik. Der Staat initiierte das System der sozialen Sicherung, definierte die Bedingungen und subventionierte die Leistungen. Die Hauptverantwortung für die Verwaltung und Finanzierung der sozialen Sicherung trugen aber die Unternehmen und die Beschäftigten. Als Vorteile des Systems galten die Eigenverantwortung der Betroffenen, die Transparenz von Beiträgen und Leistungen, und die systematische Verbindung von Erwerbseinkommen und Sozialeinkommen. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen den Erwerbseinkommen und den Sozialeinkommen galt es als sinnvoll, dass die Finanzierung der sozialen Sicherung sich im wesentlichen auf die Erwerbseinkommen stützte. Erst später wurde erkannt, dass die einseitige Belastung der Erwerbstätigkeit mit den Kosten der sozialen Sicherung in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit zum Problem werden konnte. Nachdem das Sozialistengesetz 1890 aufgehoben wurde, akzeptierte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands die Sozialversicherung und arbeitete an ihrer Weiterentwicklung mit. Wichtige Erweiterungen der Sozialversicherung waren in der Zeit des Kaiserreichs die Reichsversicherungsordnung vom Juli 1911, mit der eine Versorgung für die Witwen und Waisen der Versicherten eingeführt wurde, und die Rentenversicherung für Angestellte vom Dezember 1911.56 Obwohl die Einführung der Sozialversicherung auch damit begründet wurde, dass die Arbeiter in Notfällen nicht auf die Armenfürsorge angewiesen sein sollten, blieb die Fürsorge unentbehrlich. In der Theorie der Sozialpolitik wurde der Grundsatz entwickelt, dass die Fürsorge aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden sollte, die Sozialversicherung dagegen aus Beiträgen. Dieser Grundsatz wurde aber nicht streng eingehalten. Die Invaliditäts- und Altersversicherung wurde durch den direkten Staatszuschuss zur Rente subventioniert. Auch später wurde aus der öffentlichen Verantwortung eine Verpflichtung des Staates zur Subventionierung der Sozialversicherung abgeleitet, wenn die Beiträge nicht ausreichten. Die Armenpolitik war im Kaiserreich eine gemeinsame Aufgabe von Reich, Einzelstaaten und Gemeinden. Während das Reich und die Einzelstaaten die Rahmenbedingungen festlegten, gehörte die Durchführung der Fürsorge, und damit insbesondere die Festlegung der Höhe der Unterstützungssätze und die Finanzierung, zu den kommunalen Aufgaben. Die Zuständigkeit der Aufenthaltsgemeinde, die in Preußen seit 1842 und im Norddeutschen Bund seit 1870 galt, wurde 1871 auf das Reich ausgedehnt. In Elsass-Lothringen wurde die Reichsregelung allerdings erst 1910 eingeführt, und in Bayern nach langem Zögern 1916. Die Gemeinden sollten den Bedürftigen ein Obdach und den notwendigen Lebensunterhalt ge55 Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 1889. RGBl. 1889, S. 97 – 144. 56 Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911. RGBl. 1911, S. 509 – 838. Versicherungsgesetz für Angestellte vom 20. Dezember 1911. RGBl. 1911, S. 989 – 1061.

I. Der doppelte Standardlebenslauf

117

währen, im Krankheitsfall für die ärztliche Versorgung aufkommen und im Todesfall ein Armenbegräbnis bezahlen. Anfangs beauftragten viele Gemeinden nach den Grundsätzen des „Elberfelder Systems“ ehrenamtliche Helfer mit der Fürsorge. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde die ehrenamtliche Verwaltung jedoch zunehmend durch eine professionelle Fürsorge abgelöst. Die Armenunterstützung war nicht nach den Armutsursachen differenziert. Kinder und Jugendliche gehörten ebenso zu den Armen wie Frauen und Männer in mittleren Jahren oder im Alter. Die häufigsten Armutsrisiken waren Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter und der Tod des Hauptverdieners in einer Familie. Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 1885 war im Deutschen Reich bei 28 Prozent der unterstützten Armen eine Krankheit der Grund der Armut, 18 Prozent waren Witwen und Waisen, die durch den Tod des Ernährers verarmt waren, bei 15 Prozent wurde Altersschwäche als Grund genannt, bei zwölf Prozent waren es körperliche oder geistige Gebrechen und bei fünf Prozent die Arbeitslosigkeit.57 Die öffentliche Fürsorge wurde im Kaiserreich verlässlicher als in früheren Zeiten, blieb aber diskriminierend. Die Fürsorgeempfänger mussten nicht nur ihre Bedürftigkeit nachweisen, sie waren auch einer ständigen sozialen Kontrolle unterworfen und verloren das aktive und passive Wahlrecht. Die Unterstützungssätze wurden regional festgelegt. Sie sollten deutlich unter den niedrigsten Löhnen liegen und waren entsprechend gering. Da es erhebliche regionale Unterschiede in den Löhnen und in den Lebenshaltungskosten gab, bestanden auch zwischen den Unterstützungssätzen entsprechende Differenzen. Die Armenhilfe war in der Stadt höher als auf dem Land, und in großen Städten höher als in kleinen Städten. In Köln betrug 1885 der Mittelwert der Armenhilfe bei den vorübergehenden Unterstützungen fünf Mark im Monat und bei den dauernden Unterstützungen zwölf Mark im Monat. Infolge des wirtschaftlichen Wachstums stiegen auch die Unterstützungssätze allmählich an. In Berlin erreichten 1910 die Unterstützungssätze im Durchschnitt 17 Mark monatlich.58 Da der Begriff der Armenpflege durch die drückenden Lebensbedingungen und die gesellschaftliche Diskriminierung negativ besetzt war, wurde seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr der neue Begriff der „Fürsorge“ verwendet.59 Nach dem Beginn des Weltkriegs wurde im August 1914 eine besondere Kriegsfürsorge für die Angehörigen der mobilisierten Soldaten eingeführt. Die Unterstützung sollte nur an bedürftige Familien gewährt werden und gehörte daher grundsätzlich in den Bereich der Fürsorge. Es wurde aber betont, dass die Unterstützung der Soldatenfamilien nichts mit der Armenhilfe alter Art zu tun haben sollte. Die Bedürftigkeitsprüfung wurde wesentlich großzügiger gehandhabt. Es wurde nicht 57 Christoph Sachße / Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, 3 Bde., Stuttgart 1988 – 1998, Bd. 1, S. 261. 58 Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994, S. 301 – 302. 59 Christian J. Klumker, Fürsorgewesen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. 4, Jena 1927, S. 534.

118

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

verlangt, dass Familien ihr gesamtes Vermögen aufzehren sollten, bevor sie Unterstützung beantragten. Ein kleines Vermögen, etwa eine eigene Wohnung, ein Sparguthaben, oder ein kleines bäuerliches Anwesen mit Äckern und Vieh wurden nicht angetastet. Die diskriminierenden Bestimmungen entfielen, und die Unterstützungssätze waren höher als in der allgemeinen Fürsorge.60 Zu Beginn des Kaiserreichs betrug 1872 der Gesamtumfang der öffentlichen Transferleistungen 192 Millionen Mark. Dieser Betrag entsprach einem Prozent des Nettosozialprodukts. Auf die Fürsorge entfielen 54 Prozent des Gesamtvolumens und auf die Beamtenversorgung 46 Prozent. 1913 waren die Sozialleistungen auf insgesamt 1,8 Milliarden Mark gestiegen. Sie entsprachen nunmehr 3,4 Prozent des Nettosozialprodukts. Der Anstieg war zum größten Teil auf die Sozialversicherung zurückzuführen, die 62 Prozent der Leistungen ausmachte. Davon entfiel wiederum im einzelnen der größte Anteil auf die Krankenversicherung mit 32 Prozent der gesamten Leistungen, gefolgt von der Rentenversicherung mit 17 Prozent und der Unfallversicherung mit 13 Prozent. Aber auch die Leistungen der älteren Transfersysteme hatten erheblich zugenommen. Der Anteil der Fürsorge an den Sozialleistungen betrug acht Prozent und der Anteil der Pensionen dreißig Prozent. Bei einer funktionalen Differenzierung der Sozialleistungen stand die Altersversorgung mit einem Anteil von 47 Prozent an erster Stelle. Es folgten das Gesundheitswesen mit 45 Prozent und die Fürsorge mit zwei Prozent.61

II. Jugend 1. Die frühen Jahre Die Familie, in der die Kinder aufwuchsen, war in der Zeit des bürgerlichen Generationenvertrages in den meisten Fällen die „Standardfamilie“, die aus einem auf Lebenszeit verheirateten Ehepaar und dessen Kindern bestand. Dass Kinder außerhalb einer Ehe geboren wurden, blieb trotz mancher Veränderungen in den Werten und in den Lebensverhältnissen die Ausnahme. Unterbrochen wurde die Dominanz der Standardfamilie durch die Kriege der Zeit. Jeder Krieg hinterließ zahlreiche unvollständige Familien. Theodor Fontane ließ in seinem gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts erschienenen Roman „Die Poggenpuhls“ den Major von Poggenpuhl in der Schlacht von Gravelotte vom August 1870 umkommen, um eine Geschichte zu erzählen, in der das adlige Standesbewusstsein im Kontrast zu der bescheidenen wirtschaftlichen Lage der Frau von Poggenpuhl und ihrer fünf Kinder steht.62 Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 57), Bd. 2, S. 49 – 56. Hoffmann / Grumbach / Hesse, Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 15), S. 825 – 826; Norbert Leineweber, Das säkulare Wachstum der Staatsausgaben. Eine kritische Analyse, Göttingen 1988, S. 316, 351; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1931, S. 417. 62 Fontane, Die Poggenpuhls (wie Anm. 29), S. 288. 60 61

II. Jugend

119

Seit der Zeit des Kaiserreichs festigte sich die Struktur der Jugend als einer Ausbildungsphase. Zwischen Familie und Schule etablierte sich allmählich die öffentliche Kleinkindererziehung als eigenständige Lerninstitution. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts setzte sich eine institutionelle Differenzierung durch. Die Kinderkrippe betreute die Kinder bis zum dritten Lebensjahr, der Kindergarten die Kinder vom dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt. In der Trägerschaft unterschied die öffentliche Kleinkindererziehung sich deutlich vom Schulwesen. Träger der Kinderkrippen und Kindergärten waren vor allem Vereine unterschiedlicher Art, darunter kirchliche Vereine, Frauenvereine und Wohltätigkeitsvereine. Kinderkrippen und Kindergärten in kommunaler Trägerschaft waren zunächst verhältnismäßig selten, sie nahmen erst im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts zu.63 Auch einzelne Unternehmen boten eine Kleinkindererziehung an. 1874 gründete eine Textilfabrik in Hannover-Linden eine „Kinderpflegeanstalt“ für die Kinder ihrer Arbeiterinnen. Aufgenommen wurden Kinder im Alter von vier Wochen bis zu 14 Jahren. Auch andere Unternehmen gründeten nach diesem Beispiel betriebseigene Einrichtungen zur Kinderbetreuung.64 Die Zielsetzung der öffentlichen Kleinkindererziehung blieb im Widerspruch zwischen Betreuung und Erziehung. Die Kinderkrippen für Kleinkinder bis zu drei Jahren galten in erster Linie als eine Betreuungseinrichtung für die Kinder armer Eltern, die auf eine doppelte Erwerbstätigkeit angewiesen waren. Kindern ab drei Jahren war nach herrschender Auffassung eine institutionelle Betreuung eher zuzumuten. Einige Kindergärten verfolgten in der Tradition Fröbels ausdrücklich eine pädagogische Zielsetzung. Die Vorbehalte zeigten sich an der geringen Verbreitung der öffentlichen Kleinkindererziehung. 1910 gab es in Deutschland nur 234 Kinderkrippen und 7259 Kindergärten oder ähnliche Betreuungseinrichtungen für Kinder im Alter bis zu sechs Jahren.65

2. Bildung Die allgemeine Schulpflicht wurde in der Zeit des Kaiserreichs konsequent durchgesetzt. Die Regelschule war die achtjährige Volksschule, die im allgemeinen vom sechsten bis zum 14. Lebensjahr dauerte. Die ersten vier Jahre der Volksschule setzten sich allmählich als allgemeine Grundstufe für alle Kinder durch. Im Anschluss an die Grundstufe besuchten die meisten Kinder für weitere vier Jahre die Volksschule und erfüllten damit das Mindestprogramm der Schulpflicht. Eine Minderheit der Kinder wechselte nach der Grundstufe der Volksschule auf eine Realschule, ein Realgymnasium oder ein humanistisches Gymnasium. Als Aus63 Jürgen Reyer, Wenn die Mütter arbeiten gingen. Eine sozialhistorische Studie zur Entstehung der öffentlichen Kleinkindererziehung im 19. Jahrhundert in Deutschland, Köln 1983. 64 Jürgen Reyer / Heidrun Kleine, Die Kinderkrippe in Deutschland. Sozialgeschichte einer umstrittenen Einrichtung, Freiburg 1997, S. 29 – 30. 65 Reyer / Kleine, Kinderkrippe (wie Anm. 64), S. 46 – 47.

120

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

nahme konnten Kinder an manchen Orten immer noch statt der Grundstufe der Volksschule die Vorschule eines Gymnasiums besuchen.66 Die Kinder bedürftiger Eltern konnten zwar immer noch vom zwölften Lebensjahr an im Sommer von der Schulpflicht dispensiert werden, um zum Familienunterhalt beizutragen. Die Bundesstaaten nahmen die Schulpflicht jedoch ernst und handhabten die Ausnahmen sehr restriktiv. Der Schulbesuch wurde auch gegen Widerstände der ländlichen Arbeitgeber und der Eltern durchgesetzt. In Schleswig Holstein beschwerten sich die Bauern Ende des neunzehnten Jahrhunderts, dass die Behörden seit einiger Zeit die Freistellung von Schülern und Schülerinnen für die Landarbeit einschränkten.67 Auf dem Lande führte die Schulpflicht allerdings nach wie vor häufig in die einklassige Dorfschule. Gottlieb Schnapper-Arndt hat anschaulich den Schulnotstand in fünf Dörfern im Taunus 1880 beschrieben. In Oberreifenberg unterrichtete der einzige Lehrer 160 Kinder, in Niederreifenberg 137 Kinder, in Seelenberg 52 Kinder. In Schmitten wurde der Lehrer von einem Lehrgehilfen unterstützt, um 174 Kinder zu unterrichten. In Arnoldshain stand dem Lehrer ebenfalls ein Gehilfe zur Seite, mit vereinten Kräften betreuten sie 143 Kinder.68 Im Handwerk, in der Industrie und im Dienstleistungssektor wurde es seit dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts üblich, dass die Jugendlichen parallel zu ihrer betrieblichen Ausbildung gewerbliche oder kaufmännische Fachschulen oder Fortbildungsschulen besuchten. Dadurch etablierte sich allmählich das „duale System“ von betrieblicher und schulischer Ausbildung.69 Eine Minderheit unter den Schülern besuchte weiterführende Schulen. Die Grundtypen waren die sechsjährige Realschule und das neunjährige Gymnasium. Als Alternativen zum humanistischen Gymnasium gewannen das Realgymnasium und die Oberrealschule mit moderneren Lehrplänen an Bedeutung. Die Jugendlichen, die sich für längere Bildungswege entschieden, verließen das Schulsystem im Regelfall im Alter von 16 Jahren mit der Mittleren Reife, oder im Alter von 19 Jahren mit dem Abitur. In Preußen waren das Gymnasium, das Realgymnasium und die Oberrealschule als Wege zum Abitur gleichgestellt. 70 Das Abitur galt nach 66 Peter Lundgreen, Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick, 2 Bde., Göttingen 1980 – 1981; Hans-Günter Thien, Schule, Staat und Lehrerschaft. Zur historischen Genese bürgerlicher Erziehung in Deutschland und England, 1790 – 1918, Frankfurt am Main 1984. 67 Friedrich Großmann, Die ländlichen Arbeitsverhältnisse in der Provinz Schleswig-Holstein, den Provinzen Sachsen und Hannover (südlicher Teil), sowie den Herzogtümern Braunschweig und Anhalt, in: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, Bd. 2. Schriften des Vereins für Socialpolitik 54, Leipzig 1892, S. 409 – 410. 68 Gottlieb Schnapper-Arndt, Hoher Taunus. Eine sozialstatistische Untersuchung in fünf Dorfgemeinden (1883), Allensbach 1975, S. 142 – 144. 69 G. Adelmann, Die berufliche Aus- und Weiterbildung in der deutschen Wirtschaft 1871 – 1918, in: Hans Pohl, Hg., Berufliche Aus- und Weiterbildung in der deutschen Wirtschaft seit dem neunzehnten Jahrhundert, Wiesbaden 1979.

II. Jugend

121

wie vor für die meisten Schüler als Vorbereitung für ein Universitätsstudium. Neben den Universitäten gewannen Technische Hochschulen und Handelshochschulen einen universitären Status.71 Ein bedeutender Wandel im Bildungswesen war die Erweiterung der Bildungschancen für Mädchen und Frauen. Im späten neunzehnten Jahrhundert wurden die verschiedenen weiterführenden Schulen für Mädchen, die auf private Initiative entstanden waren, institutionalisiert. In Preußen sahen weiterführende Schulen für Mädchen eine Schulzeit von insgesamt neun bis zehn Jahren vor. 1889 wurden besondere Realkurse eingerichtet, bald darauf auch Gymnasialkurse.72 Seit der Jahrhundertwende war für Frauen ein reguläres Universitätsstudium möglich. Die Bildungspolitik gehörte zu den Kompetenzen der Einzelstaaten, und es gab unter ihnen Reformer und Nachzügler. Baden öffnete 1900 seine Universitäten für Frauen, Bayern 1903, Württemberg 1904, Sachsen 1906, Thüringen 1907, Preußen und Hessen 1908, Mecklenburg 1909.73 Eine Universitätsbildung war für beide Geschlechter exklusiv. 1911 studierten 3,4 Prozent der männlichen Jugendlichen und 0,1 Prozent der weiblichen Jugendlichen an Universitäten oder Hochschulen.74

3. Die Einschränkung der Kinderarbeit Die Durchsetzung der Schulpflicht wurde durch die Einschränkung der Kinderarbeit unterstützt. Das Kaiserreich übernahm zunächst aus der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes die Regel, dass Kinder mindestens zwölf Jahre alt sein mussten, wenn sie ihr Arbeitsleben in Fabriken oder Bergwerken begannen.75 In der Landwirtschaft und der Heimindustrie konnte das Arbeitsleben früher anfangen, soweit es nicht mit der Schulpflicht kollidierte. 1891 wurde die Kinderarbeit weiter eingeschränkt. Jugendliche mussten nunmehr mindestens 13 Jahre alt sein 70 Hans-Georg Herrlitz / Wulf Hopf / Hartmut Titze, Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart, Weinheim 1993, S. 79 – 80; Margret Kraul, Das deutsche Gymnasium 1780 – 1980, Frankfurt am Main 1984, S. 93 – 94. 71 Konrad Jarausch, Deutsche Studenten 1800 – 1970, Frankfurt am Main 1984. 72 Kirsten Heinsohn, Der lange Weg zum Abitur. Gymnasialklassen als Selbsthilfeprojekte der Frauenbewegung, in: Elke Kleinau / Claudia Opitz, Hg., Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2, Frankfurt am Main 1996; Kraul, Gymnasium (wie Anm. 70), S. 144 – 146. 73 Hadumod Bußmann, Stieftöchter der Alma Mater? 90 Jahre Frauenstudium in Bayern – am Beispiel der Universität München, München 1994; Edith Glaser, Sind Frauen studierfähig? Vorurteile gegen das Frauenstudium, in: Elke Kleinau / Claudia Opitz, Hg., Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2, Frankfurt am Main 1996; Konrad Jarausch, Universität und Hochschule, in: Christa Berg, Hg., Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4, München 1991. 74 Lundgreen, Sozialgeschichte der deutschen Schule (wie Anm. 66), Bd. 2, S. 150. 75 Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869. Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1869, S. 245 – 282.

122

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

und die Volksschule abgeschlossen haben, wenn sie in die Fabrik eintraten. Die Arbeitszeitbeschränkungen wurden den neuen Altersgrenzen angepasst. Für Kinder von 13 bis 14 Jahren wurde die tägliche Arbeitszeit auf sechs Stunden begrenzt, für Jugendliche von 14 bis 16 Jahren auf zehn Stunden. Jugendliche bis zu 16 Jahren durften nur tagsüber zwischen 5.30 Uhr morgens und 8.30 Uhr abends beschäftigt werden, die Arbeit an Sonntagen und Feiertagen war verboten.76 Nachdem die Schulpflicht konsequent durchgesetzt wurde, lag der Beginn des Arbeitslebens im allgemeinen über dem gesetzlichen Mindestalter. In der Industrie begann das Arbeitsleben meist mit 14 bis 15 Jahren, manchmal auch später. Nach den frühen betriebssoziologischen Untersuchungen von Marie Bernays traten in der Baumwollspinnerei Speyer männliche und weibliche Jugendliche mit 14 Jahren in den Betrieb ein.77 Die Gladbacher Spinnerei und Weberei AG stellte Jugendliche erst mit 17 Jahren ein, weil sie dann aus den Jugendschutzbestimmungen herausgewachsen waren.78 Viele Kinder und Jugendliche waren aber nach wie vor durch die harte Fabrikarbeit überfordert. In einer Untersuchung des Reichsamtes des Innern zur Lage der Kinder und Jugendlichen in den Fabriken hieß es: „Sie sehen vielfach bleich und kränklich aus, sind engbrüstig, bekommen krumme Rücken, leiden an den Augen, büßen an geistiger Spannkraft und Frische ein, werden stumpf und interesselos; häufig haben Überanstrengung und mangelhafte Ernährung Aufgeregtheit und Schwächen der Kinder zur Folge. ( . . . ) In vielen Fällen machen sich die Folgen der übermäßigen Ausnützung der Jugendkraft im späteren Leben durch vorzeitigen Eintritt körperlicher Schwäche und Erwerbsunfähigkeit geltend“.79 Die Kinderarbeit wurde in der Industrie konsequenter eingeschränkt als in der Landwirtschaft, und in den Großbetrieben konsequenter als in Kleinbetrieben. Das Problem der Kinderarbeit verschob sich damit. War es in der Frühzeit der Industriellen Revolution vor allem die Kinderarbeit in den Fabriken und Bergwerken gewesen, die zu Empörung, Widerspruch und schließlich auch zu Reformen geführt hatte, so konzentrierte sich seit dem späten neunzehnten Jahrhundert die Kritik an der Kinderarbeit immer mehr auf die Landwirtschaft und die Hausindustrie. In der Landwirtschaft war auch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts Kinderarbeit noch sehr verbreitet. In ländlichen Gegenden war es immer noch üblich, 76 Gesetz, betreffend Abänderung der Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891. RGBl. 1891, S. 281 – 289. 77 Marie Bernays, Untersuchungen über die Schwankungen der Arbeitsintensität während der Arbeitswoche und während des Arbeitstages, in: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der Lederwaren-, Steinzeug- und Textilindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik 135 / 3, Leipzig 1912, S. 192 – 193. 78 Marie Bernays, Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der geschlossenen Großindustrie. Dargestellt an den Verhältnissen der „Gladbacher Spinnerei und Weberei“ AG zu München-Gladbach im Rheinland. Schriften des Vereins für Sozialpolitik 133, Leipzig 1910, S. 32. 79 Zitiert nach Henriette Fürth, Die Fabrikarbeit verheirateter Frauen, Frankfurt am Main 1902, S. 28.

II. Jugend

123

dass Schulkinder am Nachmittag zu landwirtschaftlichen Arbeiten herangezogen wurden. Zur Erntezeit wurde der Schulbetrieb unterbrochen, damit aus den Schulkindern vorübergehend landwirtschaftliche Arbeitskräfte werden konnten. In Schleswig-Holstein arbeiteten in den neunziger Jahren Kinder, die in den Sommermonaten mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Notlage der Eltern vom Schulbesuch freigestellt waren, von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends, einschließlich der Pausenzeiten, auf den Feldern. Der Lohn betrug neunzig Pfennig bis eine Mark am Tag.80 Im Großherzogtum Hessen arbeiteten zur gleichen Zeit Kinder unter 14 Jahren im Betrieb der Eltern während der Schulzeit drei bis vier Stunden, in den Schulferien sechs bis sieben Stunden, in einzelnen Fällen aber auch bis zu zehn Stunden. Ihre Aufgaben waren Rübenverziehen, Unkrautjäten, Mithilfe bei der Kartoffelernte und bei der Weinlese.81 In Württemberg arbeiteten Kinder nach der Schule sechs bis sieben Stunden. Der Tagelohn betrug vierzig bis achtzig Pfennig. Als geeignete Kinderarbeiten galten Ährenlesen, Rübenziehen, Gänsehüten und Hilfe bei der Ernte.82 In Ostpreußen wurde die Schulpflicht weniger konsequent durchgesetzt wie in anderen preußischen Provinzen, manche Kinder wurden schon vom elften Lebensjahr an im Sommer von der Schule ferngehalten, um von April bis Oktober als Viehhirten zu arbeiten. Neben Wohnung und Verpflegung erhielten sie für die Saison einen Barlohn von zwanzig bis fünfzig Mark. Andere Kinder verrichteten neben der Schule leichte Feldarbeiten wie das Jäten von Unkraut und das Aufsammeln von Steinen auf den Äckern. Während der Kartoffelernte wurden die Kinder von der Schule beurlaubt, um bis zu zwölf Stunden täglich in der Landwirtschaft zu arbeiten. Der Tagelohn war eine Mark.83 Mit wachsenden Kräften nahmen die Anforderungen an die Kinder und Jugendlichen als Arbeitskräfte zu. Vom Umfang her nicht so verbreitet wie die landwirtschaftliche Kinderarbeit, aber für die Betroffenen nicht weniger belastend war die Kinderarbeit in den kleinen Familienbetrieben der Hausindustrie. Die Hausindustrie blieb von den 1893 eingeführten Arbeitsschutzbestimmungen ausgenommen. Eltern durften weiterhin ihre Kinder neben der Schule zur Arbeit in der Werkstatt heranziehen.84 Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts kam es in der Zigarrenindustrie in Westfalen, im Rheinland und in Sachsen immer noch vor, dass Kinder vom Alter von sechs 80

Großmann, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Schleswig-Holstein (wie Anm. 67), S. 409 –

411. 81 Kuno Frankenstein, Die ländlichen Arbeitsverhältnisse in Hohenzollern, Provinz Hessen-Nassau, Thüringen, Bayern, Großherzogtum Hessen, Königreich Sachsen, in: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, Bd. 2. Schriften des Vereins für Socialpolitik 54, Leipzig 1892, S. 214. 82 H. Losch, Die ländlichen Arbeitsverhältnisse in Württemberg, Baden und in den Reichslanden, in: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 53, Leipzig 1892, S. 251. 83 Weber, Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (wie Anm. 37), S. 49 – 54. 84 Ruth Hoppe, Dokumente zur Geschichte der Lage des arbeitenden Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart. Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus 20, Berlin 1969, S. 165 – 174.

124

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Jahren an mehrere Stunden am Tag in der Werkstatt arbeiten mussten.85 In der Sonneberger Spielwarenindustrie in Thüringen arbeiteten schulpflichtige Kinder viele Stunden am Tag an der Herstellung von Spielsachen, mit denen andere Kinder in ihrem Alter spielen sollten. Ein zeitgenössischer Beobachter berichtete über die Kinder aus den Heimarbeiterfamilien: „Viele Kinder von Hausindustriellen kommen zu spät in die Schule. Das sind meist die Kinder, die täglich sehr lange arbeiten. Bei denen, die viele Stunden täglich arbeiten, zeigt sich namentlich in der Morgenstunde eine beispiellose Teilnahmslosigkeit. Man merkt solchen Kindern auf den ersten Blick an, dass sie sich überanstrengt fühlen. Manche haben schon vier Stunden gearbeitet, ehe sie zur Schule kommen. Hausaufgaben sind fast unmöglich“.86 1903 wurde der Kinderschutz auf alle gewerblichen Betriebe und auch auf die Hausindustrie ausgedehnt. Für die Beschäftigten der meisten Betriebe war seitdem ein Mindestalter von 13 Jahren vorgeschrieben. In einigen Branchen war es gestattet, Kinder schon ab zwölf Jahren während der Schulzeit bis zu drei Stunden täglich, und in den Schulferien bis zu vier Stunden täglich zu beschäftigen. In der Heimindustrie durften die Eltern ihre Kinder vom zehnten Lebensjahr an zur Arbeit heranziehen.87 4. Parallelerziehung Neben der Familie und der Schule entwickelte sich die Jugendfürsorge als eine dritte Bildungsinstitution.88 Die Jugendfürsorge wurde mit der öffentlichen Verantwortung für die Bildung der heranwachsenden Generation begründet. Sie richtete sich aber nicht an alle Kinder und Jugendlichen, sondern sollte eingreifen, wenn die Familie ihren Erziehungsaufgaben nicht gerecht wurde. Als Ausgangspunkt der Jugendfürsorge gilt im historischen Rückblick die Disziplinierung von Kindern und Jugendlichen, die vom Strafrecht nicht erfasst wurden. Eine zweite Aufgabe der Jugendfürsorge bestand in dem Schutz von Kindern. Dazu gehörten der Schutz vor Gewalt oder Vernachlässigung in den Familien, Vormundschaftsfragen, und auch die Mitwirkung bei dem Kinder- und Jugendschutz in der Arbeitswelt. Eine dritte Aufgabe der Jugendfürsorge war die öffentliche Kleinkindererziehung, weil sie nach herrschender Meinung ein Aufbewahrungsort für Kinder war, denen es an 85 E. Jaffé, Hausindustrie und Fabrikbetrieb in der deutschen Cigarrenfabrikation, in: Hausindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Österreich, Bd. 3. Schriften des Vereins für Socialpolitik 86, Leipzig 1899, S. 336 – 338. 86 Paul Ehrenberg, Die Spielwarenindustrie des Kreises Sonneberg, in: Hausindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Österreich, Bd. 3. Schriften des Vereins für Socialpolitik 86, Leipzig 1899, S. 275. 87 Gesetz, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben vom 30. März 1903. RGBl. 1903, S. 113 – 121. 88 Detlev J. K. Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 – 1932, Köln 1986, S. 310.

II. Jugend

125

familialer Betreuung fehlte Als vierte Aufgabe kamen Angebote der außerschulischen Bildung hinzu. Im Kaiserreich bestand die außerschulische Bildung im wesentlichen darin, dass der Staat private Organisationen unterstützte, die sich die patriotische Belehrung der Jugend zur Aufgabe gemacht hatten Aus diesen Kernaufgaben entwickelte sich allmählich ein umfangreiches Programm von Aktivitäten öffentlicher oder privater Institutionen, das die Disziplinierung, die Betreuung, den Schutz, die Beratung und die außerschulische Bildung von Kindern und Jugendlichen unterschiedlichen Alters zum Ziel hatte.89

5. Wehrpflicht Für die meisten männlichen Jugendlichen unterbrach ein Militärdienst von zwei bis drei Jahren die frühe Berufslaufbahn. In der Verfassung von 1871 wurde eine allgemeine Wehrpflicht festgelegt. Alle männlichen Jugendlichen mussten sich im Alter von zwanzig Jahren dem Militär stellen und, wenn sie nicht ungeeignet waren oder aus sozialen Gründen zurückgestellt wurden, Wehrdienst leisten. Die Militärzeit betrug anfangs drei Jahre. Seit 1893 wurde sie für die Infanterie, die Artillerie und die Versorgungstruppen auf zwei Jahre verkürzt, während für die Kavallerie weiterhin die dreijährige Dienstzeit galt. Der Militärdienst konnte durch Bildung verkürzt werden, denn Jugendliche, die nach der Grundschule mindestens sechs Jahre eine weiterführende Schule besucht hatten, brauchten nur ein Jahr Militärdienst zu leisten. Nach der aktiven Militärzeit mussten die Männer bis zum fünfundvierzigsten Lebensjahr an Wehrübungen teilnehmen und im Kriegsfall als Soldaten dienen.90 Ungelernte oder angelernte Arbeiter wurden gründlicher für den Krieg ausgebildet als für ihren Beruf.

6. Humankapital Nicht erst in neuerer Zeit wird die Jugend in der Wirtschaftswissenschaft als eine Art Investitionsphase interpretiert, in der ein Humankapital aufgebaut wird, dass nicht nur die individuelle Leistungsfähigkeit, sondern auch die Produktivität der Volkswirtschaft steigert. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts argumentierte der Wirtschaftswissenschaftler Heinz Potthoff, dass die Aufwendungen für 89 Marcus Gräser, Der blockierte Wohlfahrtsstaat. Unterschichtenjugend und Jugendfürsorge in der Weimarer Republik, Göttingen 1995, S. 23 – 37; Christa Hasenclever, Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900, Göttingen 1978, S. 48 – 50; Peukert, Sozialdisziplinierung (wie Anm. 88), S. 37 – 127. 90 Stig Förster, Militär und staatsbürgerliche Partizipation. Die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Kaiserreich 1871 – 1914, in: Roland G. Foerster, Hg., Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-institutionelle Wirkung, München 1994; Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellchaft in Deutschland, München 2001, S. 193 – 301.

126

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

die Versorgung und Ausbildung der Jugend einen Produktionsfaktor eigener Art darstellten, der in seiner Bedeutung die Investitionen in Gebäude, Maschinen und Infrastruktur übertraf. „Der größte Teil des Nationalvermögens ist in den Volksgenossen selbst angelegt. Die Aufzuchtkosten unseres deutschen Volkes kann man auf rund 1000 Milliarden Mark schätzen, also bestimmt dreimal so hoch wie das auf 300 – 350 Milliarden Mark berechnete Sachvermögen der Nation. Von der Verzinsung dieser Riesensumme hängt das Reicher- oder Ärmerwerden des Volkes in erster Linie ab“.91 Mit diesem Hinweis nahm Potthoff bereits die Theorie des Humankapitals vorweg, die in den sechziger Jahren in den USA entwickelt wurde.92

7. Jugenderfahrungen Auseinandersetzungen zwischen Jungen und Alten haben eine lange Tradition. Zu der zeitlosen Sequenz, dass eine heranwachsende Generation die alternde Generation ablöst, gehört seit jeher, dass die heranwachsende Generation auf ihre Autonomie pocht und die Übernahme von Verantwortung verlangt, während die ältere Generation zögert, Verantwortung abzugeben. In den Charakterisierungen sukzessiver Jugendgenerationen ging es nicht nur um die Einstellung der Jugend, sondern immer auch um die Erwartungen, Wünsche oder Wahrnehmungen, die eine ältere, beobachtende und registrierende Generation an die jeweilige heranwachsende Jugendgeneration richtet.93 Die Jugendbewegung, die um 1895 begann, war eine Protestbewegung gegen die Erstarrung der bürgerlichen Gesellschaft im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. Es war eine bürgerliche Bewegung, auch wenn sie beanspruchte, das Lebensgefühl einer ganzen Generation auszudrücken. Ihr Thema waren nicht die Klassenkonflikte der kapitalistischen Industriegesellschaft, die sie eher ignorierte, sondern der Protest der bürgerlichen Jugend gegen die Autorität, die Lebensweise, die Werte der Elterngeneration, die sich in der Industriegesellschaft eingerichtet hatte. Die Jugendbewegung war zivilisationskritisch, beschwor die Gemeinschaft als Gegensatz zur abstrakten Gesellschaft und stellte der städtischen Kultur nostalgische Werte von „Heimat“ und „Land“ gegenüber.94

91 Heinz Potthoff, Wer trägt die Kosten der socialen Versicherung? in: Ders., Hg., Untersuchungen über das Versicherungswesen in Deutschland. Schriften des Vereins für Socialpolitik 137 / 4, München 1913, S. 284. 92 Gary S. Becker, Familie, Gesellschaft und Politik – Die ökonomische Perspektive, Tübingen 1996, S. 220. 93 Heinz Bude, Die biographische Relevanz der Generationen, in: Martin Kohli / Marc Szydlik, Hg., Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000. 94 Winfried Speitkamp, Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Göttingen 1998, S. 139 – 150.

III. Beruf

127

III. Beruf 1. Laufbahnen und Risikobiographien Die Klassenlage hatte wesentlichen Einfluss auf die Struktur der Erwerbsbiographien. In der alten Mittelklasse zog sich eine lineare Erwerbsbiographie von der Übernahme oder Gründung eines Familienbetriebes bis zum Ende des Berufslebens. Selbständige Landwirte oder Handwerker waren bestrebt, ihren Status zu bewahren. Sie wollten keine soziale Deklassierung erleiden, und sie hatten auch keine Beförderungen zu erwarten. Im Unterschied zur linearen Erwerbsbiographie der alten Mittelklasse erwarteten die Angehörigen der neuen Mittelklasse eine progressive Erwerbsbiographie. Dazu gehörte neben der ungebrochenen Kontinuität der Beschäftigung der berufliche Aufstieg; Status und Einkommen sollten mit dem Alter zunehmen. Bürgerliche Sozialreformer sahen im späten neunzehnten Jahrhundert in der Stabilisierung der Erwerbsbiographien der Arbeiter eine wichtige Voraussetzung zur Lösung der Sozialen Frage. Gustav Schmoller empfahl 1889 „die Herausbildung von festgeordneten Lebenslaufbahnen, die zwar im engeren Kreis verlaufen, aber allen tüchtigen gesunden Familienvätern ein sicheres, für viele erreichbares Ziel vor Augen halten. Und das ist es, was der gewöhnliche Mann haben muß, um glücklich zu werden!“95 Das sozialpolitische Ideal der stetigen Beschäftigung war offensichtlich durch das Vorbild der Beamtenlaufbahn inspiriert. Die Erwerbsbiographien der Arbeiter oder Arbeiterinnen waren jedoch von dem Laufbahnmodell der Beamten weit entfernt. In der Arbeiterklasse herrschten Risikobiographien vor, die durch die Fluktuationen des Arbeitsmarktes, durch Arbeitsplatzwechsel und vor allem durch einen frühen Altersabstieg geprägt waren. Lebenslauf und Lebenseinkommen der Arbeiter und Arbeiterinnen stellten sich im Unterschied zur linearen Erwerbsbiographie der alten Mittelklasse und der progressiven Erwerbsbiographie der neuen Mittelklasse und der Oberklasse im allgemeinen als degressive Erwerbsbiographie dar. Der Höhepunkt der Leistungsfähigkeit und des Einkommens wurde in den frühen Jahren der Berufstätigkeit erreicht. Schon in der Mitte des Arbeitslebens setzte ein Rückgang der Leistungskurve und der Verdienstkurve ein. Am Ende der Erwerbsphase war der Lohn gegenüber dem früheren Niveau deutlich gesunken.96 Die Stabilisierung der Erwerbsbiographie war ein wichtiges Ziel der Arbeiter und Arbeiterinnen im Industriekapitalismus. In den Auseinandersetzungen zwi95 Gustav Schmoller, Über Wesen und Verfassung der großen Unternehmungen (1889), in: Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart, Leipzig 1890, S. 418. 96 Marie Bernays, Berufswahl und Berufsschicksal des modernen Industriearbeiters, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 35 (1912) und 36 (1913); Gerd Hardach, La construction sociale de l’inaptitude au travail en Allemagne au XXe siècle, in: Catherine Omnès / Anne-Sophie Bruno, Hg., Les mains inutiles. Inaptitude au travail et emploi en Europe, Paris 2004; Peter N. Stearns, Lives of Labour. Working in a maturing industrial society, London 1975.

128

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

schen Arbeit und Kapital ging es nicht nur um die aktuellen Einkommen, sondern stets auch um die Sicherheit des Arbeitsplatzes und die Stabilisierung des Lebenseinkommens. Kollektive Tarifverträge sollten dazu beitragen, die Erwerbsbiographien zu stabilisieren. In der Zeit des Kaiserreichs wurden kollektive Tarifverträge nur in wenigen Branchen abgeschlossen, meist auf Initiative der Arbeiter und Arbeiterinnen. Eine Ausnahme war die Metallindustrie. In diesem rasch expandierenden Industriezweig waren es die Unternehmer, die zum Abschluss von Tarifverträgen drängten. Sie erwarteten von kollektiven Vereinbarungen eine Reduzierung der hohen Fluktuation der Beschäftigten, ein besseres Betriebsklima, eine Abnahme innerbetrieblicher Konflikte und eine größere Bereitschaft der Arbeiter, technische oder organisatorische Neuerungen zu akzeptieren. Die Metallarbeiter waren zu der Zeit an tarifvertraglichen Bindungen nicht sehr interessiert. Sie gingen davon aus, dass sie als gesuchte Fachkräfte immer einen Arbeitsplatz finden konnten, und sie wollten nicht auf die Möglichkeit verzichten, kurzfristig den Betrieb zu wechseln, um einen höheren Lohn oder bessere Arbeitsbedingungen zu finden.97 Die Arbeitslosigkeit, die während der Industriellen Revolution herrschte, wurde in der Zeit des Kaiserreichs überwunden. In dem Zeitraum von 1895 bis 1914 betrug die Arbeitslosigkeit in Deutschland im Durchschnitt knapp drei Prozent, in vielen Jahren herrschte Vollbeschäftigung.98 Der hohe Beschäftigungsgrad wurde durch die duale Struktur der Wirtschaft im Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft begünstigt. Neben den modernen Arbeitsplätzen, die in den Wachstumsindustrien entstanden, gab es Beschäftigungsmöglichkeiten in den traditionellen Sektoren mit niedriger Produktivität und entsprechend niedrigem Lohn, besonders in den vielen landwirtschaftlichen Familienbetrieben. 99 Der Anspruch der Erwerbstätigkeit an die Lebenszeit ging durch die Verkürzung der Arbeitszeit allmählich zurück. In der industriellen Gesellschaft begann ein Wandel von der extensiven zur intensiven Arbeit. Die tägliche, wöchentliche und monatliche Arbeitszeit wurde reduziert, gleichzeitig nahm die Produktivität je Arbeitskraft erheblich zu. In den Jahren 1875 – 1880 betrug die wöchentliche Arbeitszeit im sekundären Sektor noch 72 Stunden, 1910 – 1914 war sie auf 57 Stunden zurückgegangen.100 Im Unterschied zur intensiven Industriearbeit blieb die Landwirtschaft noch bei längeren Arbeitszeiten, vor allem in der Hochsaison. In den neunziger Jahren dauerte der Arbeitstag in Schleswig-Holstein von fünf Uhr früh 97 Achim Knips, Deutsche Arbeitgeberverbände der Eisen- und Metallindustrie, 1888 – 1914, Stuttgart 1996. 98 Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik in Deutschland: Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsvermittlung 1890 – 1927, in: Toni Pierenkemper / Richard Tilly, Hg., Historische Arbeitsmarktforschung, Göttingen 1982, S. 257. 99 Toni Pierenkemper, Beschäftigung und Arbeitsmarkt, in: Gerold Ambrosius / Dietmar Petzina / Werner Plumpe, Hg., Moderne Wirtschaftsgeschichte, München 1996, S. 251. 100 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 15), S. 213 – 214.

III. Beruf

129

bis sieben Uhr abends, unterbrochen von Frühstück, Mittagspause und Vesper. In Mitteldeutschland wurde im Sommer zehn bis zwölf Stunden, im Winter acht bis zehn Stunden gearbeitet. Die Pausen von etwa zwei Stunden waren in diesen Zeiten nicht enthalten.101 In Ostpreußen begann der Arbeitstag im Sommer um fünf bis sechs Uhr und endete um sieben bis acht Uhr. Die reine Arbeitszeit betrug im Sommer zehn bis zwölf Stunden, manchmal auch 13 Stunden, im Winter acht Stunden.102 Nicht nur der höhere Lohn, sondern auch die kürzere Arbeitszeit machte die Industriearbeit gegenüber der Landarbeit attraktiver. So hieß es Ende des neunzehnten Jahrhunderts in einer Untersuchung über die ländlichen Arbeitsverhältnisse im Großherzogtum Hessen-Darmstadt: „Auch der frühe Feierabend in den Fabriken wirkt verderblich auf die ländlichen Arbeiter; ein Normalarbeitstag würde die größere Landwirtschaft ruinieren“.103 2. Männerkarrieren a) Industriearbeiter In der Industrie verfestigte sich im späten neunzehnten Jahrhundert das Modell der drei Qualifikationsstufen von ungelernten Arbeitern, angelernten Arbeitern und Facharbeitern. Das Qualifikationsmodell ging auf handwerkliche Traditionen zurück, wurde aber den Anforderungen der industriellen Lohnarbeit angepasst. So wurden in der Industrie formale Ausbildungsgänge eingeführt, die dem Modell der Handwerksausbildung nachgebildet waren. Die Industrielehre dauerte im allgemeinen drei Jahre und wurde mit einer Prüfung zum Facharbeiter abgeschlossen, die der Gesellenprüfung entsprach. An die Facharbeiterprüfung konnte sich eine weitere Qualifikation zum Industriemeister anschließen.104 Um den Status der Handwerkslehre zu schützen, sollten die Handwerkskammern auch für das Prüfungswesen der Industrielehre zuständig sein. Das schränkte die Verbreitung der Industrielehre ein, denn die Fabrikanten befürchteten, dass eine handwerkliche Prüfung nicht den Anforderungen der Industriearbeit entsprach. Die Qualifikation zum Facharbeiter wurde deshalb häufiger entweder durch eine betriebsinterne Prüfung, oder ohne formalen Abschluss durch die praktische Kompetenz nachgewiesen. Als wesentliches Kriterium galt die Fähigkeit, die Anforderungen des Berufs in vollem Umfang zu beherrschen, Arbeitsabläufe zu gestalten und mit den Maschinen selbständig umgehen zu können.105 101

Großmann, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Schleswig-Holstein (wie Anm. 67), S. 411,

490. Weber, Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (wie Anm. 37), S. 48 – 53. Frankenstein, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Hohenzollern (wie Anm. 81), S. 198. 104 Wolf-Dietrich Greinert, Geschichte der Berufsausbildung in Deutschland, in: Rolf Arnold / Antonius Lipsmeier, Hg., Handbuch der Berufsbildung, Opladen 1995. 105 Adelmann, Berufliche Aus- und Weiterbildung (wie Anm. 69); Wolfgang Muth, Berufsausbildung in der Weimarer Republik, Stuttgart 1985. 102 103

9 Hardach

130

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

In den meisten Industrien galten seit dem späten neunzehnten Jahrhundert die Tätigkeiten der ungelernten Arbeiter, der angelernten Arbeiter und der Facharbeiter als unterschiedliche Berufswege, und die betriebliche Ausbildung zielte auf eine frühzeitige Einordnung der jungen Arbeiter in eine der Qualifikationsstufen. Die Entscheidung für eine Tätigkeit als ungelernter Arbeiter, als angelernter Arbeiter oder als Facharbeiter hing von den individuellen Fähigkeiten ab, von den Arbeitsplätzen oder Ausbildungsplätzen, die von den Betrieben angeboten wurden, aber auch von der wirtschaftlichen Lage der jungen Berufsanfänger und ihrer Eltern. Eine Tätigkeit als ungelernter Arbeiter brachte den Berufsanfängern zunächst ein höheres Einkommen als eine Ausbildung, bedeutete aber den Verzicht auf einen beruflichen Aufstieg. Es waren vor allem die Kinder aus armen Familien, die den schnellen, wenn auch bescheidenen Verdienst als ungelernter Arbeiter wählten oder wählen mussten. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hieß es, dass die Kinder von ungelernten Arbeitern selten über den Beruf des Vaters hinaus kamen.106 Die Familien der angelernten Arbeiter oder Facharbeiter veranlassten ihre Kinder dagegen eher zu einer Berufsausbildung. Die Ausbildung verlangte zunächst einen Einkommensverzicht, eröffnete aber später den Aufstieg in die höheren Lohngruppen. In der Gutehoffnungshütte verdienten zum Beispiel 1902 Facharbeiter als Walzer 165 Mark im Monat, als Schmelzer am Hochofen 107 Mark. Ungelernte Arbeiter erhielten dagegen als Platzarbeiter nur 76 Mark im Monat.107 In manchen Industrien entsprachen die Qualifikationsstufen verschiedenen Phasen der Erwerbsbiographie. Im Ruhrbergbau begann für die Jugendlichen die Erwerbstätigkeit im allgemeinen mit 14 Jahren. Sie arbeiteten zunächst als Hilfskräfte über Tage. Eine charakteristische Tätigkeit für die Jugendlichen war die Arbeit als „Bergeklauber“. Die jungen Arbeiter standen tagaus, tagein an einem Förderband, auf dem von Hand die Steine, die man im Bergbau als „Berge“ bezeichnete, aus der geförderten Kohle aussortiert wurden. Die Beschäftigung unter Tage war erst vom 16. Lebensjahr an erlaubt. Unter Tage fingen die Jugendlichen als Schlepper an, die den Facharbeitern, den Hauern, zuarbeiteten. Nach einiger Zeit konnten sie Lehrhauer werden. Die Ausbildung sollte zwei Jahre dauern, aber wenn Bergleute gebraucht wurden, verkürzten die Zechen die Ausbildung zuweilen bis auf ein Jahr. Danach galten die jungen Bergleute als ausgebildete Hauer. Bergleute hatten in ihrem anstrengenden, gefährlichen und gesundheitsschädigenden Beruf ein relativ hohes Einkommen. Ein Hauer verdiente 1886 im Durchschnitt 64 Mark im Monat, bis 1913 stieg der Durchschnittslohn auf 174 Mark. Ein Schlepper verdiente ungefähr sechzig Prozent des Hauerlohns, beim Lehrhauer stieg der Durchschnittsverdienst schon auf neunzig Prozent des Hauerlohns.108 Bernays, Berufswahl und Berufsschicksal (wie Anm. 96), Teil 2, S. 910. Hanns Thomas Rauert, Entlohnung und Produktionsentwicklung in der Stahlindustrie im Kaiserreich. Untersuchungen an ausgewählten rheinisch-westfälischen Unternehmen, Diss. Siegen 1990, S. 60. 108 Franz-Josef Brüggemeier, Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889 – 1919, München 1983, S. 94 – 163; Stephen Hickey, Bergmannsarbeit an der Ruhr vor dem Ersten 106 107

III. Beruf

131

Im Gegensatz zur bürgerlichen Laufbahn eröffnete die höhere Qualifikation den Arbeitern nur für eine kurze Phase ihrer Erwerbsbiographie ein gehobenes Einkommen. Die Industriearbeiter erreichten als Facharbeiter oder angelernte Arbeiter meist im Alter zwischen zwanzig und 25 Jahren den Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit und ihres Einkommens. Auf diesem Leistungsstand und Lohnniveau konnten sie sich ungefähr fünfzehn Jahre halten. Nach dem vierzigsten Lebensjahr setzte eine berufliche Dequalifizierung ein, die sich vom fünfzigsten Lebensjahr an beschleunigte. Die Leistungsfähigkeit in der Akkordarbeit ließ nach, der Lohn ging zurück, und die Arbeiter wurden schließlich auf weniger angesehene und schlechter bezahlte Stellen umgesetzt. Es gab Unterschiede zwischen den verschiedenen Branchen und Berufen, aber das Grundmuster der industriellen Arbeitskurve und Verdienstkurve lässt sich an vielen Beispielen zeigen. Auf eine relativ kurze Niedrigverdienstphase folgte eine Hochverdienstphase von mittlerer Dauer, danach begann ein langer Altersabstieg bis zur Invalidität. Ältere Industriearbeiter versuchten, dem Altersabstieg durch einen Wechsel der Tätigkeit auszuweichen oder nach dem Verlust des Arbeitsplatzes eine neue Beschäftigung zu finden.109 Im Bergbau war der frühe Altersabstieg besonders ausgeprägt. Die Löhne der Hauer beruhten auf harter Arbeit im Gruppenakkord, dem Gedinge, und konnten nur ungefähr bis zum vierzigsten Lebensjahr erreicht werden. Ältere Bergleute konnten Zimmerhauer oder Reparaturhauer werden. Einige tüchtige Hauer wurden auch zum Steiger befördert. Als Zimmerhauer oder Reparaturhauer verdiente der Bergmann nur noch siebzig bis achtzig Prozent des Hauerlohns. Wenn Bergleute die schwere Arbeit unter Tage nicht mehr aushielten, begann der berufliche Abstieg zum Hilfsarbeiter. Die Endstation einer Bergmannskarriere war oft die Arbeit als Platzarbeiter, als Lampenausgeber, als Wäschearbeiter, oder die älteren Bergleute kehrten als Bergeklauber an das Förderband zurück, an dem sie als Jugendliche ihre Berufstätigkeit begonnen hatten.110 In der Stahlindustrie mussten die älteren Facharbeiter zunächst einen geringeren Akkordverdienst hinnehmen. Wenn ihre Leistungsfähigkeit weiter zurückging, wurden sie entlassen. Die ErwerbsbioWeltkrieg, in: Hans Mommsen / Ulrich Borsdorf, Hg., Glück auf, Kameraden! Die Bergarbeiter und ihre Organisation in Deutschland, Köln 1979; Klaus Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn 1981. 109 Josef Ehmer, Lohnarbeit und Lebenszyklus im Kaiserreich, Geschichte und Gesellschaft, 14 (1988); Hardach, La construction sociale de l’inaptitude au travail (wie Anm. 96); Hermann Schäfer, Arbeitsverdienst im Lebenszyklus. Zur Einkommensmobilität von Arbeitern, in: Archiv für Sozialgeschichte, 21 (1981); Hermann Schäfer, Die berufliche und soziale Lage von Arbeitern im Alter. Eine Skizze zur Situation in Deutschland im 19. / 20. Jahrhundert, in: Christoph Conrad / Hans-Joachim von Kondratowitz, Hg., Gerontologie und Sozialgeschichte, Berlin 1983. 110 Heinz Reif, Soziale Lage und Erfahrungen des alternden Fabrikarbeiters in der Schwerindustrie des westlichen Ruhrgebietes während der Hochindustrialisierung, in: Archiv für Sozialgeschichte, 22 (1982); Klaus Tenfelde, Der bergmännische Arbeitsplatz während der Hochindustrialisierung (1890 – 1914), in: Werner Conze / Ulrich Engelhardt, Hg., Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten, Stuttgart 1979. 9*

132

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

graphien der ungelernten Arbeiter verliefen im allgemeinen flacher, da sie in ihrer gesamten Erwerbsbiographie in den unteren Lohngruppen blieben.111 Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde im Verein für Socialpolitik die Diskrepanz zwischen der proletarischen Risikobiographie und der bürgerlichen Laufbahn untersucht, die bis dahin wenig Beachtung gefunden hatte. In der Berliner Maschinenbauindustrie galten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Facharbeiter mit zwanzig Jahren als fertig ausgebildet. Sie konnten im Akkord einen relativ hohen Lohn erreichen und diesen Stand etwa zwanzig Jahre halten. Facharbeiter verdienten im allgemeinen 150 Mark, besonders tüchtige Facharbeiter konnten 170 Mark und mehr verdienen und näherten sich damit einem „kleinbürgerlichen Standard“. Angelernte Arbeiter verdienten je nach ihrem Arbeitsplatz 75 Mark bis 125 Mark im Monat. Vom vierzigsten Jahr an ging der Verdienst zurück, nach dem fünfzigsten Lebensjahr konnten die Arbeiter im allgemeinen nicht mehr mit den Ansprüchen des Fabrikbetriebs mithalten. Sie stiegen allmählich in die unteren Lohnstufen hinab. Mit dem Einkommen sank auch das Sozialprestige des Arbeiters. „So erwartet den alternden Arbeiter, meist schon vom 50. Lebensjahr an, ein unsäglich trübes Dasein“. Der zwanzigjährige Sohn sah auf den fünfzigjährigen Vater, der nicht mehr verdiente als er, „im besten Falle mitleidig, wenn nicht mit Verachtung herab“.112 Ältere Arbeiter wurden aus dem Betrieb gedrängt, oder sie verließen den Betrieb aus eigener Initiative, um sich eine andere Alterstätigkeit zu suchen. Im Durchschnitt waren in der Metallindustrie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts fast die Hälfte der Arbeiter weniger als dreißig Jahre alt. Dagegen waren nur fünf bis zehn Prozent der Arbeiter älter als fünfzig Jahre.113 Ein Beispiel aus einer sehr jungen Branche war die Daimler-Motoren-Gesellschaft, die 1909 insgesamt 1800 Beschäftigte hatte. Die Facharbeiter hatten entweder eine Handwerkslehre oder eine Industrielehre als Ausbildung, beide Ausbildungswege waren gleich häufig. Die Industrielehre bei Daimler war relativ lang, sie dauerte vier Jahre. Die jungen Arbeiter fingen mit einem niedrigen Lohn an, mit 25 Jahren erreichten sie im Akkord den Durchschnittslohn von 4,75 Mark am Tag. Der Lohn stieg dann weiter an und erreichte in der Altersspanne von dreißig bis 35 Jahren ein Maximum. Danach nahm die Leistungsfähigkeit besonders im Akkord „durch die anstrengende und aufreibende Tätigkeit“ rasch ab. Im Alter von vierzig bis 45 Jahren fanden Facharbeiter nur noch schwer eine Tätigkeit, die ihrer Ausbildung entsprach. Dagegen wurden Hilfsarbeiter auch noch im Alter von über fünfzig Jahren beschäftigt. Insgesamt verschwanden die Arbeiter aber frühzeitig aus der Fabrik; nur zehn Prozent der Beschäftigten waren älter als 45 Jahre.114 111 Otto Jeidels, Die Methoden der Arbeiterentlöhnung in der rheinisch-westfälischen Eisenindustrie, Berlin 1907, S. 282 – 283. 112 Dora Landé, Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Berliner Maschinenindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der Elektroindustrie, Buchdruckerei, Feinmechanik und Maschinenindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik 134, Leipzig 1910, S. 401, 480. 113 Bernays, Berufswahl und Berufsschicksal (wie Anm. 96), Teil 1, 127.

III. Beruf

133

Der frühe Altersabstieg galt nicht nur für die Metallindustrie, die für ihre relativ hohen Löhne bekannt war, sondern auch in einer traditionellen Branche wie der Textilindustrie. In einer Textilfabrik in Mönchen-Gladbach, die von Marie Bernays untersucht wurde, wanderten die Arbeiter nach dem vierzigsten Lebensjahr ab, weil der Lohn dann stark zurückging. Auf das Rentenalter wartete in der Fabrik kaum jemand. Nur zwei Prozent der Beschäftigten waren über sechzig Jahre alt. Auch für die Arbeiter einer Baumwollspinnerei in Speyer war der Leistungs- und Einkommensabfall die entscheidende Zäsur in der Erwerbsbiographie. Die meisten Arbeiter verließen nach dem vierzigsten Lebensjahr die Fabrik. Jenseits dieser Altersschwelle blieben im wesentlichen nur die Reparaturhandwerker und Hilfsarbeiter, die im Zeitlohn beschäftigt waren, im Betrieb.115 Heinrich Herkner fasste 1911 die Ergebnisse der betriebssoziologischen Untersuchungen zusammen, die der Verein für Socialpolitik zu jener Zeit organisiert hatte. Mit dem vierzigsten Lebensjahr ging die Leistungsfähigkeit der Facharbeiter zurück. Das führte zu einer Minderung des Einkommens, und schließlich zum Verlust des Arbeitsplatzes. Hatte ein Arbeiter längere Zeit in einem Betrieb gearbeitet, so erhielt er mit nachlassender Leistungsfähigkeit eine Altersstellung, etwa als Pförtner. Nicht alle Arbeiter konnten jedoch auf diese Art der Weiterbeschäftigung hoffen, denn die Zahl der Altersstellen war zu gering, um alle älteren Arbeiter zu versorgen. „Eine Milderung des Loses ist noch am ehesten dann zu erwarten, wenn die Kinder bereits gut verdienen und gewillt sind, die Eltern zu unterstützen“.116 Alfred Weber betonte die Existenzunsicherheit der Industriearbeiter noch schärfer. „Der Arbeiter hört im großen und ganzen im 40. Lebensjahr auf, ein wirklich ganz vollbrauchbarer, hochqualifizierter, mit schnell arbeitenden Maschinen gut in engster Beziehung stehender Mensch zu sein“. In der folgenden Lebensphase bis zum Eintritt in den Ruhestand, die etwa für die Wissenschaftler nach ihrer eigenen Einschätzung als Höhepunkt der intellektuellen Leistung galt und in der ein Handwerker in hohem Ansehen stand, „verschwindet der Arbeiter aus den zentralen Teilen der kapitalistischen Ökonomie“.117 Wie die Industriearbeiter diese zweite Periode ihres Arbeitslebens verbrachten, war ungewiss. Einige stiegen auf zu Werkmeistern. Die meisten aber wurden ungelernte Außenarbeiter, Packer, Kehrer, oder suchten ein Auskommen als Selbständige. Es kam auch vor, dass ältere Industriearbeiter, die vom Lande gekommen waren, wieder in die Landwirtschaft abwanderten. Alfred Weber formulierte da114 Fritz Schumann, Die Arbeiter der Daimler-Motoren-Gesellschaft Stuttgart-Untertürkheim, in: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der Automobilindustrie und einer Wiener Maschinenfabrik. Schriften des Vereins für Socialpolitik 135 / 1, Leipzig 1911, S. 59, 116. 115 Bernays, Auslese und Anpassung (wie Anm. 78), S. 15 – 25; Bernays, Schwankungen der Arbeitsintensität (wie Anm. 77), S. 190 – 194. 116 Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik in Nürnberg 1911. Schriften des Vereins für Socialpolitik 138, Leipzig 1912, S. 127. 117 Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik 1911 (wie Anm. 116), S. 149 – 150.

134

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

mals zugespitzt, die Landwirtschaft werde immer mehr „das Asyl für Kinder, Frauen und Greise“.118 Landarbeit als Alterstätigkeit wurde zu der Zeit öfter erwähnt. In Baden hieß es 1902, dass nur wenige Fabrikarbeiter älter als fünfzig Jahre waren. Viele Industriearbeiter, die vom Lande gekommen waren, kehrten im Alter in die Landwirtschaft zurück.119 Die Tätigkeit in der Landwirtschaft war vielleicht für Industriearbeiter ländlicher Herkunft möglich. Sie konnte für alte Fabrikarbeiter aber keine allgemeine Lösung sein, denn auch auf dem Lande war der Arbeitsmarkt für ältere Arbeiter schwierig. Selbst langjährige Landarbeiter mit Berufserfahrung hatten Schwierigkeiten, mit nachlassender Leistungsfähigkeit eine Beschäftigung zu finden. Eine Alternative war der Wechsel in den Dienstleistungssektor. Ältere Metallarbeiter, die ein kleines Kapital gespart hatten, machten sich selbständig, zum Beispiel mit einer Reparaturwerkstatt oder einem Geschäft zum Verkauf von Werkzeugen. Auch eine Hausverwalterstelle galt als günstig. Die weniger Glücklichen wanderten von Betrieb zu Betrieb, „und gehen dann als Gelegenheitsarbeiter rasch ihrem Ende entgegen“.120 Neben dem frühen Altersabstieg war die Mobilität ein wesentlicher Unterschied zwischen der Risikobiographie der Arbeiter und der bürgerlichen Laufbahn. Die Erwerbsbiographien der Industriearbeiter setzten sich im allgemeinen aus vielen kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen zusammen. Zu der traditionellen Armutsmobilität der ungelernten Arbeiter, die den Beschäftigungsmöglichkeiten folgen mussten, kam in der Zeit des Kaiserreichs eine neue Leistungsmobilität von Facharbeitern, die sich ihre Arbeitsplätze aussuchen konnten. Manche Arbeiter sahen in dem Wechsel des Arbeitsplatzes einen Weg, die Monotonie der Fabrikarbeit zu unterbrechen. Meistens war aber die Aussicht auf höheren Lohn der Anlass für einen Wechsel.121 Die Facharbeiter in der Berliner feinmechanischen Industrie, die als besonders mobile Arbeiter galten, blieben im Durchschnitt nur 16 Monate in einer Stellung.122 Das Bild war aber nicht einheitlich. Neben dem Typ des mobilen Facharbeiters gab es auch Industriearbeiter, die als Jugendliche in einen Betrieb eintraten, den sie bis zur Invalidität nicht wieder verließen. In einigen Arbeiterfamilien wurde sogar die Erwerbstätigkeit im gleichen Betrieb vom Vater zum Sohn tradiert. So galt die Arbeiterschaft der württembergischen Industrie als ausgesprochen sesshaft.123 In einer frühen betriebssoziologischen Untersuchung wurde der Kontrast zwischen den bodenständigen württembergischen Arbeitern, sei es im Maschinenbau oder in der Textilindustrie, und den mobilen Arbeitern im Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik 1911 (wie Anm. 116), S. 150. Wolfgang Bocks, Die Badische Fabrikinspektion. Arbeiterschutz, Arbeiterverhältnisse und Arbeiterbewegung in Baden 1879 bis 1914, Freiburg 1978, S. 113. 120 Landé, Berliner Maschinenindustrie (wie Anm. 112), S. 401. 121 Knips, Deutsche Arbeitgeberverbände (wie Anm. 97), S. 111 – 117; Bernays, Auslese und Anpassung (wie Anm. 78), S. 23. 122 Bernays, Berufswahl und Berufsschicksal (wie Anm. 96), Teil 2, 893. 123 Heilwig Schomerus, Die Arbeiter der Maschinenfabrik Esslingen. Forschungen zur Lage der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1977, S. 143 – 157. 118 119

III. Beruf

135

rheinisch-westfälischen Industriegebiet, in Hamburg oder in Berlin betont.124 Eine hohe Mobilität der Beschäftigten, vor allem bei den jungen Arbeitern, war für viele Unternehmen ein ernsthaftes Problem. Die Unternehmer versuchten daher, die Fluktuation einzudämmen und eine Stammbelegschaft aufzubauen. Diesem Ziel sollte auch die betriebliche Sozialpolitik dienen, etwa durch die Gewährung von Urlaub, den Bau von Werkswohnungen und die betriebliche Altersversorgung.125 b) Landarbeiter In den landwirtschaftlichen Familienbetrieben hielt sich auch im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung die traditionelle Arbeitsorganisation. Den Kern des Arbeitspotentials bildeten die Familienangehörigen. Als ständige Landarbeiter wurden Knechte beschäftigt, die ganzjährig eingestellt waren und im Haushalt des Arbeitgebers lebten. Tagelöhner führten ihren eigenen Haushalt und wurden je nach Bedarf beschäftigt. Jugendliche begannen nach der Schulzeit ihre Ausbildung und galten mit 17 bis 18 Jahren als ausgebildete Arbeitskräfte. Sie arbeiteten dann einige Jahre als Knecht. Erfahrene Landarbeiter wurden Großknecht mit etwas höherem Lohn. Wenn Knechte heirateten, verließen sie den Haushalt des Arbeitsgebers und wurden Tagelöhner. Ihr Status war unhabhängiger, aber auch unsicherer. Franz Rehbein, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts durch seine Autobiographie bekannt wurde, war Sohn eines Schneiders und ging in jungen Jahren als Landarbeiter nach Holstein. Er arbeitete zunächst als Hütejunge, dann als Dienstjunge, als Knecht und als Großknecht. Mit 25 Jahren entschloss er sich, die abhängige Stellung als Großknecht aufzugeben und Tagelöhner zu werden. „Zwar, in manchen Stücken war man als Dienstknecht ja besser dran, wie als freier Arbeiter. Einmal braucht man nicht mit Arbeitslosigkeit zu rechnen; dann steckte man die Beine unter anderer Leute Tisch, ist also keinen direkten Nahrungssorgen ausgesetzt. Doch ich stand jetzt im Alter von 25 Jahren, und da hatte ich das Abhängigkeitsverhältnis als Knecht nachgerade ,dick‘ gekriegt“.126 Auf den Statuswechsel vom Knecht zum Tagelöhner folgte im allgemeinen schon nach wenigen Jahren ein Rückgang der Leistungsfähigkeit und der Verdienstmöglichkeiten. Ein Landarbeiter hatte, wie Max Weber in der ostdeutschen Landwirtschaft beobachtete, „mit dem Beginn des dritten Decenniums seines Lebens“ das Lohnmaximum erreicht, wenn er kräftig war. Die Zukunft bot ihm nicht die Aussicht auf ein Hinaufsteigen, sondern auf ein Hinuntersteigen.127 Wer einige Jahre als Knecht gearbeitet hatte, um dann Tagelöhner zu werden, hatte im Schumann, Arbeiter der Daimler-Motoren-Gesellschaft (wie Anm. 114), S. 69 – 70. Ernst Schraepler, Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland 1871 bis zur Gegenwart, Göttingen 1996, S. 11 – 14. 126 Rehbein, Das Leben eines Landarbeiters (wie Anm. 36), S. 141. 127 Weber, Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (wie Anm. 37), S. 34. 124 125

136

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Grunde schon die besten Arbeitsjahre hinter sich. Für einige Landarbeiter war die Übernahme einer Heuerstelle oder einer Instenstelle ein Ausweg. In den großen Gutsbetrieben der ostdeutschen Landwirtschaft konnten einige wenige Landarbeiter auch zum Aufsichtspersonal aufsteigen. Die Heuerleute in der nordwestdeutschen Landwirtschaft und die Instleute, die auf den ostdeutschen Gütern beschäftigt wurden, waren etwas besser gestellt als Knechte oder Tagelöhner. Die Stellen der Heuerleute wurden im allgemeinen langfristig besetzt und konnten auch vererbt werden.128 Auch die Instenstellen wurden im allgemeinen langfristig besetzt und wurden oft von einer Generation zur nächsten weitergegeben.129 Im agrarpolitischen Diskurs des späten neunzehnten Jahrhunderts kam der strebsame Landarbeiter vor, der es mit Fleiß und Beharrlichkeit zum selbständigen Bauern brachte. „Wir wissen namentlich aus Westfalen“, erklärte August von Miaskowski 1882 im Verein für Socialpolitik, „dass hier die ländlichen Arbeiter als Knechte oder Heuerlinge auf den Bauern- oder Rittergütern beginnen und aus dieser Stellung sich nicht selten in die Klasse der kleinen Kötter und Brinksitzer emporarbeiten, und dass es ihnen dann selbst oder ihren Kindern wieder gelingt, sich zuerst in den Besitz eines kleinen und dann vielleicht eines größeren Colonengutes zu setzen“.130 Aber im sozialen Alltag war dieser Aufstieg, wie Josef Mooser am Beispiel des westfälischen Kirchspiels Quernheim fand, eine seltene Ausnahme. Nur wenigen Männer und Frauen aus den Familien der Lohnarbeiter oder Heuerleute gelang es, sich als Kleinbauern selbständig zu machen. Im allgemeinen war der Mangel an Boden und Kapital eine Barriere, die den Aufstieg in die bäuerliche Schicht verwehrte.131 Nach Max Webers Beobachtungen gelang es auch in der ostdeutschen Landwirtschaft den Landarbeitern nur in Ausnahmefällen, genügend Ersparnisse zu bilden, um eine kleinbäuerliche Stelle zu pachten. Auch den etwas besser gestellten Heuerleuten und Instleuten fehlte im allgemeinen das Kapital, um einen selbständigen Kleinbauernhof zu pachten oder zu kaufen.132 Für viele junge Landarbeiter war die fehlende Perspektive zwischen dem Überdruss an der Abhängigkeit als Knecht und der Unsicherheit eines Tagelöhnerdaseins ein Grund, in die Industrie abzuwandern. Früher, hieß es 1892 in einem Bericht aus der preußischen Provinz Sachsen, „fand unter den einzelnen Arbeiterkategorien ein gewisses regelmäßiges Aufrücken statt; es verstand sich von selbst, daß der Sohn des Dreschers auf dem Gute diente, auf dem seine Eltern eine Stelle Großmann, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Schleswig-Holstein (wie Anm. 67), S. 505. Weber, Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (wie Anm. 37), S. 33 – 34. 130 August von Miaskowski, Grundeigentumsverteilung und Erbrechtsreform in Deutschland, in: Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik 1882. Schriften des Vereins für Socialpolitik 21, Leipzig 1882, S. 12 – 13. 131 Josef Mooser, Familie und soziale Plazierung in der ländlichen Gesellschaft am Beispiel des Kirchspiels Quernheim im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka, Hg., Familie und soziale Plazierung. Studien zum Verhältnis von Familie, sozialer Mobilität und Heiratsverhalten an westfälischen Beispielen im späten 18. und 19. Jahrhundert, Opladen 1980, S. 139 – 140. 132 Weber, Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (wie Anm. 37), S. 34. 128 129

III. Beruf

137

hatten. Bis zur Konfirmation half er den Eltern, nach der Konfirmation kam er in den Kuhstall, dann als Enke zu den Pferden, wurde später Pferdeknecht, um endlich sich zu verheiraten und in eine Drescherstelle einzurücken.“ Die Erwerbsbiographie der Landarbeiter wurde hier noch mit den traditionellen Kategorien beschrieben. Der „Enke“ war der jugendliche Gehilfe des Pferdeknechts, als „Drescher“ wurden auf den mitteldeutschen Gütern die kontinuierlich beschäftigten Lohnarbeiter bezeichnet. Neuerdings löste sich diese Erwerbsbiographie nach Ansicht des Beobachters aber immer mehr auf, weil die jungen Leute der Landwirtschaft den Rücken kehrten und in die Industrie gingen.133 Auch im Ruhrgebiet blieben die Jugendlichen nur kurze Zeit in der Landwirtschaft und wanderten so bald wie möglich in die Industrie ab. „In den Kreisen Ruhrort, Mülheim a. d. Ruhr und Essen beschäftigen sich die meisten Kinder höchstens zwei Jahre nach der Schulzeit in der Landwirtschaft, dann gehen sie mit dem Vater zur Arbeit in die Kohlenbergwerke und in die Eisenwerke, auch zur Textilindustrie“.134 In einigen Regionen gab es bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert einen Wechsel zwischen Landwirtschaft und Industrie. Eine institutionalisierte Form der agrarisch-industriellen Erwerbsbiographie war die Saisonarbeit, mit einem Wechsel der Beschäftigung im Rhythmus der Jahreszeiten. Ein Beispiel war die traditionelle „Ziegelgängerei“ im Fürstentum Lippe, die sich bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hielt.135 c) Die neue Mittelklasse Zur Laufbahn der Beamten gehörte seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert nicht nur die stetige Beschäftigung, sondern auch die Erwartung, dass mit zunehmender Berufserfahrung das Gehalt anstieg und Aussicht auf Beförderungen bestand. Die erfolgreiche Laufbahn eines preußischen Beamten im neunzehnten Jahrhundert wurde im historischen Rückblick nach den Haushaltsbüchern rekonstruiert, die der Beamte O. sorgfältig geführt hatte; der volle Name wird nicht genannt. O. wurde 1826 in Berlin geboren. Er studierte Jura und trat nach dem Zweiten Staatsexamen 1852 seine erste Stelle als Kreisrichter in einem kleinen Städtchen in der Uckermark an, mit einem Jahresgehalt von 500 Talern. Im gleichen Jahr heiratete er. Die Brautleute kannten sich schon einige Zeit und hatten, nach den bürgerlichen Konventionen der Zeit, auf die feste Stelle des Mannes gewartet, um zu heiraten. Die Familie, die von der festen Stelle leben sollte, kam dann auch, das Großmann, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Schleswig-Holstein (wie Anm. 67), S. 507. Otto Anhagen, Die ländlichen Arbeitsverhältnisse in der Rheinprovinz und im oldenburgischen Fürstentum Birkenfeld, in: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, Bd. 2. Schriften des Vereins für Socialpolitik 54, Leipzig 1892, S. 666. 135 Karl Kaerger, Die ländlichen Arbeitsverhältnisse in Nordwestdeutschland, in: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 53 / 1, Leipzig 1892, S. 90; Piet Lourens / Jan Lucassen, Arbeitswanderung und Berufsspezialisierung. Die lippischen Ziegler im 18. und 19. Jahrhundert, Osnabrück 1999. 133 134

138

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Ehepaar O. hatte sieben Kinder. Schon nach einem Jahr wurde O. 1853 Richter in Berlin, eine Beförderung, die mit einem höheren Gehalt verbunden war. 1858 entschied sich O., inzwischen 32 Jahre alt, wegen der günstigeren Karriereaussichten für die Verwaltungslaufbahn. Er begann seine Tätigkeit in der Provinzialverwaltung der Rheinprovinz, bewährte sich dort und wurde 1862, im Alter von 36 Jahren, in ein Berliner Ministerium berufen. Sein Anfangsgehalt betrug dort 2000 Taler im Jahr. In einem Alter, in dem ein Industriearbeiter die Abwertung seiner beruflichen Qualifikation und den Weg in die Altersarmut vor sich hatte, machte O. sich zu einem Weg in die oberen Ränge des Ministeriums auf, der ihn aus dem Rest der Durchschnittsbeamten herausführte. Mit den Beförderungen stieg das Gehalt bis 1877 auf 9900 Mark im Jahr, umgerechnet 3300 Taler. Außerdem erhielt O. als höherer Ministerialbeamter seit 1873 einen Wohnungszuschuss von 1200 Mark im Jahr. Das Haushaltsbuch bricht mit dem Alter von 51 Jahren ab, man sieht aber, dass der Ministerialbeamte dem Rest seiner Laufbahn und dem Ruhestand finanziell beruhigt entgegensehen konnte.136 An dem Modell der Beamtenlaufbahn orientierte sich auch die wachsende Schicht der Angestellten der Privatwirtschaft. Die Annäherung an den Beamtenstatus wurde dadurch betont, dass die Angestellten häufig als „Privatbeamte“ bezeichnet wurden. In der Praxis wurde der Status weit gedehnt, so dass nicht nur eine Leitungsfunktion, sondern jede Art von Bürotätigkeit einen Arbeitnehmer zum Angestellten machen konnte. Die Konzentration in der Wirtschaft hatte zur Folge, dass sich der traditionelle kaufmännische Beruf des Handlungsgehilfen in spezialisierte Tätigkeiten wie Buchhalter, Korrespondent, Kassierer, Einkäufer und Reisender differenzierte. Arbeitsteilung und technischer Fortschritt ließen die Zahl technischer Angestellter als Manager in der Betriebsorganisation, aber auch in Forschung und Entwicklung ansteigen. An der Spitze der Angestelltenhierarchie standen die Direktoren der großen Unternehmen und andere leitende Angestellte. In der Berufsstatistik des Kaiserreichs versuchte man, die Schicht der „Angestellten“ mit einer breiten Umschreibung zu erfassen: „nicht leitende Beamte, überhaupt das wissenschaftlich, technisch oder kaufmännisch gebildete Verwaltungs- und Aufsichts-, sowie das Rechnungs- und Büreaupersonal, Prokuristen, Disponenten, Buchhalter, Rechnungsführer, Geschäfts- und Handlungsreisende sowie die im Betriebe beschäftigten Rechner und Schreiber“. Die Direktoren und andere leitende Angestellte zählte man nicht zu der Klasse der „Angestellten“, sondern zu den „Selbständigen“.137 Um die Leitungsfunktion zu betonen und die Loyalität zu stärken, gewährten die Unternehmen den Angestellten im Arbeitsvertrag Vorteile wie eine stetige Beschäftigung, ein mit der Berufserfahrung steigendes Gehalt, Aussicht auf Beförderungen, und betriebliche Sozialleistungen. Die Angestelltenkarriere näherte sich daher in ihrer Struktur der Beamtenlaufbahn an.138 136 Gertrud Hermes, Ein preußischer Beamtenhaushalt 1859 – 1890, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 76 (1921). 137 Die berufliche und soziale Gliederung des Deutschen Volkes nach der Volkszählung vom 14. Juni 1895. Statistik des Deutschen Reichs, Neue Folge 111, Berlin 1899, S. 58.

III. Beruf

139

3. Frauenkarrieren a) Der Wandel der Frauenerwerbstätigkeit Die Erwerbstätigkeit von Frauen war im Industriekapitalismus weiter verbreitet, als das bürgerliche Familienideal vermuten lässt. Das bürgerliche Familienideal wurde vor allem in der Oberklasse und in der neuen Mittelklasse gelebt. In der alten Mittelklasse blieb es dagegen üblich, dass Frauen Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit verbanden. Die moderne Erwerbsstatistik betonte die Statusdifferenz zwischen den Ehepartnern in der gemeinsamen Arbeit. Der Ehemann wurde als „Selbständiger“ registriert, die Ehefrau als „mithelfende Familienangehörige“. In der Arbeiterklasse gab es einen ständigen Widerspruch zwischen dem bürgerlichen Familienideal und der Lebenswirklichkeit. Das bürgerliche Familienideal war in der Mehrheit der Arbeiterfamilien eine begehrte Lebensweise. Es galt als Ausdruck für einen gehobenen sozialen Status, dass der Mann alleine den Lebensunterhalt der Familie verdiente.139 Oft konnten die Familien aber aus wirtschaftlichen Gründen auf das Erwerbseinkommen der Ehefrau nicht verzichten. In Textilregionen wie dem Elsass und Württemberg hieß es im Übergang vom neunzehnten Jahrhundert zum zwanzigsten Jahrhundert, dass die Frauen mitarbeiten mussten, weil die Löhne für Männer niedrig waren. Es gab eine Wechselwirkung zwischen niedrigen Frauenlöhnen und niedrigen Männerlöhnen. Die Konkurrenz der niedrig bezahlten Arbeiterinnen übte in den Textilfabriken Druck auf die Löhne der Arbeiter aus, andererseits akzeptierten die Arbeiter aber auch niedrigere Löhne, wenn die Ehefrau durch ihre Erwerbstätigkeit zum Haushaltseinkommen beitrug.140 Es gab nicht nur wirtschaftliche Gründe für eine fortgesetzte Erwerbstätigkeit. Henriette Fürth wies zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts darauf hin, dass viele Frauen durch Fabrikarbeit ihren Lebensunterhalt verdienten oder zum Lebensunterhalt ihrer Familie beitrugen. Abgesehen von wirtschaftlichen Gründen „mögen viele Frauen auch aus Gründen der Ethik die auf dem Eigenverdienst beruhende äußere und innere Selbständigkeit nicht missen“.141 Dora Landé schätzte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in ihrer Untersuchung über die Berliner Maschinenindustrie, dass 45 Prozent der Ehefrauen von Facharbeitern und 75 Prozent der Ehefrauen von ungelernten Arbeitern erwerbstätig waren. Der zeitliche Umfang der Erwerbstätigkeit der Frauen reichte von der regelmäßigen Fabrikarbeit bis zu unregelmäßigen Nebenerwerbstätigkeiten.142 138 Hartmut Kaelble, Historische Mobilitätsforschung, Darmstadt 1978; Jürgen Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850 – 1980. Vom Privatbeamten zum angestellten Arbeitnehmer, Göttingen 1981. 139 Gerhard Schildt, Die Arbeiterschaft im 19. und 20. Jahrhundert, München 1996, S. 89 – 91. 140 Fürth, Fabrikarbeit verheirateter Frauen (wie Anm. 79), S. 24 – 25. 141 Fürth, Fabrikarbeit verheirateter Frauen (wie Anm. 79), S. 65. 142 Landé, Berliner Maschinenindustrie (wie Anm. 112), S. 445 – 447.

140

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Frauen waren im Beruf vielfältigen Beschränkungen und Benachteiligungen ausgesetzt. Die Diskriminierung von Frauen im Beruf hatte mehrere Gründe. Auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes wirkte sich die schwächere Erwerbsorientierung der Frauen aus. Mädchen und junge Frauen wurden frühzeitig beeinflusst, ihr Lebensziel nicht im Beruf, sondern in der Familie zu sehen. Eltern legten auf die Ausbildung der Töchter weniger Wert als auf die Ausbildung der Söhne. Wenn junge Frauen in das Erwerbsleben eintraten, betrachteten sie ihren Beruf oft als Übergangsphase auf dem Weg zur Familientätigkeit, sie waren eher bereit, niedrige Löhne zu akzeptieren, und sie legten weniger Wert auf berufliche Qualifizierung. Auf der Nachfrageseite wirkte die Segmentierung des Arbeitsmarktes auf eine Beschränkung der Frauenerwerbstätigkeit hin. Bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts standen den Frauen nur wenige Berufe offen. Die wichtigsten Frauenberufe waren in der Zeit des Kaiserreichs die Bäuerin, die Landarbeiterin, die Textilarbeiterin, die Heimarbeiterin und die Hausangestellte. Die Restriktionen auf dem Arbeitsmarkt nahmen mit steigendem sozialen Status und Einkommen einer Position zu. In der neuen Mittelklasse und in der Oberklasse standen den Frauen nur wenige Erwerbskarrieren offen. Frauen konnten Magd oder Bäuerin werden, aber nicht als Ministerialbeamtin über Landwirtschaftspolitik entscheiden, sie konnten Textilarbeiterin werden, aber nicht Fabrikdirektorin, und keine der Frauen, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts an den betriebssoziologischen Untersuchungen des Vereins für Socialpolitik mitwirkten, wurde Universitätsprofessorin. Eine der wenigen akzeptierten Karrieren war die Tätigkeit als Lehrerin. Die Ausdehnung der höheren Mädchenbildung führte zu einem wachsenden Bedarf an qualifizierten Lehrerinnen. Prestige und Einkommen der Lehrerinnen nahmen zu.143 Nach der Jahrhundertwende erweiterten sich allmählich die Optionen für berufstätige Frauen. Die Öffnung der Universitäten und Hochschulen erschloss neue Tätigkeitsfelder. Frauen etablierten sich nicht nur als Lehrerinnen, sondern auch als Ärztinnen, Naturwissenschaftlerinnen, Wirtschaftswissenschaftlerinnen und in anderen akademischen Berufen.144 Insgesamt betrug von 1882 bis 1907 der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen gleichbleibend 36 Prozent.145 Die offiziellen Zahlen stellen aber nur die Untergrenze der Frauenerwerbstätigkeit dar, weil die Nebentätigkeiten von Frauen in der Erwerbsstatistik nur unvollständig erfasst wurden. Im Ersten Weltkrieg führte die industrielle Mobilisierung zu einer Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit. Nachdem die Männer zum Militär eingezogen wurden, waren die Frauen mehr als zuvor auf eigene Erwerbseinkommen angewiesen. Für 143 Irene Hardach-Pinke, Die Gouvernante. Geschichte eines Frauenberufs, Frankfurt am Main 1993. 144 Heinz-Gerhard Haupt, Männliche und weibliche Berufskarrieren im deutschen Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum Verhältnis von Klasse und Geschlecht, in: Geschichte und Gesellschaft, 18 (1992). 145 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 15), S. 204 – 205, 210; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 90, 101 – 102, 140.

III. Beruf

141

bedürftige Soldatenfamilien wurde zwar eine kommunale Kriegsfürsorge eingeführt. Der Kreis der Anspruchsberechtigten war jedoch beschränkt, und die Unterstützungsleistungen waren dürftig. Frauen waren in wachsender Zahl in Berufen tätig, die bis dahin Männern vorbehalten waren. An der Spitze des Wandels standen die Metallindustrie, der Maschinenbau, die Elektroindustrie und die Chemische Industrie. Auch die öffentliche Verwaltung, die Eisenbahnen der Länder und die kommunalen Straßenbahnen stellten Frauen als Ersatz für die zum Kriegsdienst einberufenen Männer ein.146 Für berufstätige Mütter stellte sich das Problem, dass eine volle Erwerbstätigkeit aufgrund der langen Arbeitszeiten und der fehlenden Betreuungsmöglichkeiten für kleine Kinder, aber auch aufgrund der aufwendigen Hausarbeit, mit einer Familientätigkeit schwer zu vereinbaren war. „Die außerhäusliche Berufsarbeit des Mannes ist schon längst etwas Selbstverständliches geworden. Die außerhäusliche volle Berufsarbeit der Mutter ist relativ neu und die zweckmäßigsten Lebensformen für seine Vereinigung mit dem Familienleben sind noch nicht mit gleicher Sicherheit gefunden“.147 Marie Bernays wies darauf hin, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen durch die „Doppelseitigkeit im Leben der berufstätigen Frau“ bestimmt war, da die Familie für die Frauen größere Bedeutung hatte als für die Männer.148 Frauen suchten deshalb seit jeher nach Vereinbarkeitsstrategien, um Beruf und Familie im Lebenslauf zu verbinden. Im Unterschied zur normativ gesetzten „vollständigen“ Erwerbsbiographie der Männer hatten Frauen häufig „unvollständige“ Erwerbsbiographien. Die Unvollständigkeit konnte darin liegen, dass Erwerbsphase und Familienphase im Lebenslauf wechselten, oder dass der zeitliche Umfang der Erwerbstätigkeit im Vergleich zu einer Vollerwerbstätigkeit eingeschränkt wurde.149 Einen Wechsel zwischen Erwerbsphasen und Familienphase, der in der Bundesrepublik Deutschland seit den sechziger Jahren als Leitbild für den weiblichen Lebenslauf empfohlen wurde, hat es schon im neunzehnten Jahrhundert gegeben. Da die Familienphase lange dauerte und Frauen wie Männer in den harten Lebensbedingungen früh alterten, war es für Frauen zwar schwierig, in der nachelterlichen Phase wieder eine Vollerwerbstätigkeit aufzunehmen. Eine Rückkehr in die Erwerbstätigkeit kam aber vor. In der 1889 eingeführten Invaliditäts- und Altersversicherung wurde zunächst sogar als Regelfall angenommen, dass eine nicht erwerbstätige Ehefrau nach dem Tod ihres Mannes wieder berufstätig wurde. Eine Versorgung für Witwen und Waisen gab es nicht, man empfahl den Witwen vielmehr, ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu verdienen. Erst 1911 wurde eine Hinterbliebenenversorgung eingeführt.150 146 Stefan Bajohr, Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit 1914 bis 1945, Marburg 1979, S. 101 – 167; Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989. 147 Kempf, Leben der jungen Fabrikmädchen (wie Anm. 16), S. 52. 148 Bernays, Berufswahl und Berufsschicksal (wie Anm. 96), Teil 2, S. 894. 149 Christine Amend-Wegmann, Vereinbarkeitspolitik in Deutschland, Hamburg 2003, S. 254 – 258.

142

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

In der alten Mittelklasse gaben Frauen ihre Erwerbstätigkeit in der Familienphase nicht auf, sondern schränkten sie zeitlich ein. Sie sorgten für die Familie, beteiligten sich darüber hinaus aber auch an der Erwerbsarbeit, soweit ihnen Zeit blieb. Die Verbindung wurde durch die räumliche Nähe von Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit begünstigt. Sie führte allerdings zu einer doppelten Belastung und sehr langen Arbeitszeiten. Auch in der Hausindustrie teilten Frauen ihre Tageszeiten zwischen Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit auf, mit den gleichen Folgen, dass sie auf Freizeit verzichteten und ständig überarbeitet waren. Von Arbeitnehmerinnen wurde im allgemeinen eine volle Arbeitszeit erwartet. Eine regelmäßige Teilzeitarbeit war bis in die Anfangsjahre der Bundesrepublik Deutschland nicht üblich. Frauen, die eine eingeschränkte Erwerbstätigkeit suchten, um das Familieneinkommen zu ergänzen, waren daher auf die Hausindustrie oder auf Nebenbeschäftigungen angewiesen. Zu den verbreiteten Nebentätigkeiten von Hausfrauen gehörten die Schneiderei, das Waschen und Plätten für Privatkundschaft, Hausreinigung, Aufwartung, Zeitungsaustragen, ein eigenes Geschäft und die Untervermietung.151 b) Industriearbeiterinnen Die Fabrikarbeit von Frauen, die in der Frühzeit der Industriellen Revolution eine erhebliche Rolle gespielt hatte, ging in den Anfangsjahren des Kaiserreichs zurück. Das lag zum Teil an dem Einfluss des bürgerlichen Familienideals, aber auch daran, dass die Arbeiter in vielen Industrien die Einstellung von Frauen zu verhindern suchten, weil sie einen Druck auf die Löhne befürchteten.152 Seit den achtziger Jahren nahm die Beschäftigung von Frauen in der Industrie aber wieder zu.153 Die Unternehmer hielten die Frauenarbeit in der Industrie für unentbehrlich. Sie sahen in der Frau „die billige, und allzeit willige Arbeitskraft“.154 1895 gab es in Deutschland 1,5 Millionen Fabrikarbeiterinnen. Unter den Fabrikarbeiterinnen waren 247000 verheiratete Frauen; das entsprach einem Anteil von 17 Prozent.155 Henriette Fürth argumentierte, dass Frauenarbeit in der Industrie nicht nur für die 150 Marlene Ellerkamp, Die Frage der Witwen und Waisen. Vorläufiger Ausschluss aus dem Rentensystem und graduelle Inklusion (1889 – 1911), in: Stefan Fisch / Ulrike Haerendel, Hg., Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland. Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherung im Sozialstaat, Berlin 2000. 151 Angelika Willms-Herget, Frauenarbeit. Zur Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, Frankfurt am Main 1985. 152 Kathleen Canning, Languages of Labor and Gender. Female factory work in Germany, 1850 – 1914, Ithaca 1996, S. 85 – 125. 153 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 15), S. 204 – 205, 210; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 90, 140. 154 Fürth, Fabrikarbeit verheirateter Frauen (wie Anm. 79), S. 26. 155 Fürth, Fabrikarbeit verheirateter Frauen (wie Anm. 79), S. 18.

III. Beruf

143

Volkswirtschaft unentbehrlich war, sondern auch im Interesse der Frauen lag. Fabrikarbeit war unter den beruflichen Optionen, die den Frauen aus der Arbeiterklasse offen standen, nach Fürth vergleichsweise günstig. Die Kleinbäuerin, Landarbeiterin, Wäscherin, Büglerin, Putzfrau, Hausnäherin oder Hausangestellte war im allgemeinen schlechter gestellt als die Fabrikarbeiterin. In der Fabrik gab es einen höheren Lohn und einen, wenn auch noch unzulänglichen, Arbeitsschutz. Mißstände der Fabrikarbeit sollten nach Fürth nicht durch die Verdrängung der Frauen aus den Fabriken beseitigt werden, sondern durch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Dazu gehörten die Heraufsetzung des Mindestalters für die Erwerbstätigkeit auf 16 Jahre, die Reduzierung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden für erwachsene Frauen und sechs Stunden für Jugendliche von 16 bis 18 Jahren, ein besserer Arbeitsschutz und mehr Schutz für schwangere Arbeiterinnen.156 Frauen wurden in der Industrie überwiegend als ungelernte Arbeiterinnen oder als angelernte Arbeiterinnen beschäftigt, selten als Facharbeiterinnen. Die Elektroindustrie ersetzte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen Teil ihrer Facharbeiter durch angelernte Arbeiterinnen, die einen geringeren Lohn akzeptierten. Der Wandel am Arbeitsplatz wurde in dieser Zeit von einem Mechaniker beschrieben: „Die Mikrotelephone auf den Tischstationen wurden früher von einem Mechaniker fix und fertig gemacht. Jetzt werden die Polschuhe vom Mechaniker gefeilt, vom Mädchen ins Telephon eingesetzt, die Griffe bohrt ebenfalls ein Mädchen und die Dosen für das Mikrophon passt ein Mechaniker ein und richtet sie vor, die Leitung und Schnur zieht auch wieder ein Mädchen ein“.157 Die Facharbeiter kritisierten die neue Arbeitsteilung, weil sie ihr Ausbildungsmonopol umging. Frauen wurden zwar nicht zur Facharbeiterin ausgebildet, konnten als angelernte Arbeiterinnen aber viele Funktionen von Facharbeitern übernehmen. Ein Arbeiter der Berliner Elektroindustrie kritisierte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts diese Entwicklung: „Die Frauenarbeit untergräbt uns und zwar weil die Frauen erstens billiger sind und zweitens, weil sie nicht so viel brauchen wie ein Mann. Die Frau ist in allen Sachen enthaltsam und die verheiratete Frau sagt sich, der Mann verdient ja noch Geld. Ein Teil der Arbeiter lässt die Frauen arbeiten, wo man sagen muß, es ist nicht nötig. Wenn ein Arbeiter 30 bis 40 Mark die Woche verdient, braucht die Frau nicht in die Fabrik zu gehen und den Arbeitsplatz denjenigen wegzunehmen, die gezwungen sind zu verdienen“. Ein anderer Arbeiter argumentierte in ähnlicher Weise: „Die Frauen fallen uns als Preisdrücker zu sehr in den Rücken. Die ganze Lohnpolitik leidet darunter. Wenn man sich bei manchen Arbeiten eine Lohnherabsetzung nicht gefallen lässt, wird die Arbeit geteilt und zur Frauenarbeit gemacht“.158 Fürth, Fabrikarbeit verheirateter Frauen (wie Anm. 30), S. 51, 65 – 66. Cl. Heiß, Auslese und Anpassung in der Berliner Feinmechanik, in: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der Elektroindustrie, Buchdruckerei, Feinmechanik und Maschinenindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik 134, Leipzig 1910, S. 117. 158 Heiß, Berliner Feinmechanik (wie Anm. 157), S. 135 – 136. 156 157

144

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Zu den Branchen, in denen Frauen auch Facharbeiterinnen werden konnten, gehörte die Textilindustrie. Die „Gladbacher Spinnerei und Weberei AG“ im Rheinland, die Marie Bernays zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts untersuchte, beschäftigte in den Jahren von 1899 bis 1909 im Jahresdurchschnitt 711 Personen; Frauen machten 59 Prozent des Personals aus. Es gab vier Qualifikationsstufen, die ungelernten Arbeiterinnen oder Arbeiter, die mit verschiedenen Nebentätigkeiten, als Transportarbeiter, Hofarbeiter oder Putzfrauen beschäftigt waren, die angelernten Arbeiterinnen oder Arbeitern, die den Fachkräften zuarbeiteten, die Facharbeiterinnen oder Facharbeiter an den Spinnmaschinen und mechanischen Webstühlen, und die durchweg männlichen Werkmeister und Reparaturarbeiter. Die Ausbildung der angelernten Arbeiterinnen dauerte nur einige Wochen, die Ausbildung zur Facharbeiterin oder zum Facharbeiter ungefähr zwei Jahre. Die Facharbeiterinnen oder Facharbeiter machten 63 Prozent der Belegschaft aus, die ungelernten und angelernten Arbeiterinnen oder Arbeiter 31 Prozent und die Werkmeister und Reparaturhandwerker sechs Prozent. Die ungelernten und angelernten Arbeiterinnen oder Arbeiter verdienten 1909 im Durchschnitt 67 Mark im Monat, Facharbeiterinnen im Akkord 71 Mark, Facharbeiter im Akkord 98 Mark und Werkmeister und Reparaturarbeiter 109 Mark im Monat.159 Eine ähnliche Beschäftigungsstruktur wie im Rheinland gab es in einer Baumwollspinnerei in Speyer. Der Betrieb beschäftigte 1910 insgesamt 262 Arbeitskräfte, mit einem Frauenanteil von 69 Prozent. Die meisten Beschäftigten kamen aus Speyer und den umliegenden Dörfern. Viele waren als Berufsanfängerinnen oder Berufsanfänger unmittelbar nach der Schule in den Betrieb eingetreten. Manche kamen aber auch aus anderen Betrieben, denn die Fabrikarbeiterinnen wechselten ähnlich wie die Arbeiter häufig den Arbeitsplatz. Facharbeiterinnen und Facharbeiter machten eine zweijährige Lehrzeit durch. In dieser Anfangsphase wurden sie im Tagelohn bezahlt. Mit 16 bis 17 Jahren galten die Jugendlichen dann schon als Fachkräfte und arbeiteten im Akkord. Die Löhne waren niedriger als im Rheinland. Die ungelernten und angelernten Arbeiterinnen oder Arbeiter verdienten 1910 im Durchschnitt 49 Mark im Monat, Facharbeiterinnen im Akkord 67 Mark, Facharbeiter im Akkord 78 Mark und die wenigen Handwerker 98 Mark.160 Frauen blieben im allgemeinen nicht lange in der Fabrik. Nach der Untersuchung, die Rosa Kempf zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in München durchführte, traten die jungen Mädchen meist gleich nach der Schulzeit in die Fabrik ein. Die Fabrikarbeiterinnen kamen überwiegend aus den Familien von ungelernten Arbeitern, den „pekuniär weniger günstig gestellten Arbeiterschichten“. In armen Familien wurden die Kinder so früh wie möglich zur Erwerbstätigkeit angehalten. Relativ wenig Mädchen kamen aus Facharbeiterfamilien, noch weniger aus Angestelltenfamilien. Mit 18 Jahren galten die jungen Frauen als ausgebildete Arbeiterinnen. Die Löhne der jungen Fabrikarbeiterinnen waren extrem 159 160

Bernays, Auslese und Anpassung (wie Anm. 78), S. 7 – 24. Bernays, Schwankungen der Arbeitsintensität (wie Anm. 77), S. 190 – 191.

III. Beruf

145

niedrig. Die meisten Jugendlichen wohnten noch bei ihren Eltern. Oft war der Lohn so gering, dass er für eine selbständige Lebensführung nicht ausreichte. Die Arbeiterinnen verdienten 1909 im Alter von 14 bis 15 Jahren, wenn sie nach der Gewerbeordnung noch Jugendliche waren, 28 Mark im Monat, mit 16 bis 17 Jahren 41 Mark im Monat und mit 18 Jahren fünfzig Mark im Monat. In der Familie erleichterte die gegenseitige Hilfeleistung das Leben, selbst wenn die Mädchen mit ihrem Lohn zum Unterhalt jüngerer Geschwister oder invalider Eltern beitrugen. Wichtiger noch waren aber die „idealen Vorteile des Familienlebens“, die emotionale Verbundenheit. Wenn die jungen Fabrikarbeiterinnen alleine lebten, waren meist unerträgliche Familienverhältnisse die Ursache der Trennung. Trotz der Individualisierung der Erwerbstätigkeit behielt die Familie hier noch ihre traditionelle Funktion als Wirtschaftsgemeinschaft und als Solidargemeinschaft. Die meisten Arbeiterinnen betrachteten die Industriearbeit als Übergangsbeschäftigung. Nur wenige der jungen Frauen wollten ihr Leben in der Fabrik verbringen. Die Hoffnungen für die Zukunft richteten sich auf eine Bürotätigkeit, um der Fabrik zu entkommen, oder auf Ehe und Familie.161 Eine Untersuchung über Berliner Fabrikarbeiterinnen bestätigte die Verbreitung unvollständiger Erwerbsbiographien. Die Fabrikarbeiterinnen waren überwiegend jung und unverheiratet. Sie wohnten bei den Eltern oder zur Untermiete. Die Fabrikarbeit konzentrierte sich auf die Jahre zwischen dem Ende der Schule und der Gründung einer eigenen Familie.162 Die kurzfristige Berufsperspektive der Industriearbeiterinnen lag nicht nur an den geringen Qualifikationsmöglichkeiten. Auch in der Textilindustrie, in der den Frauen die Qualifikation zur Facharbeiterin geboten wurde, war die Arbeit in der Fabrik im allgemeinen keine Lebensperspektive. In der Textilfabrik in Mönchen-Gladbach, über die Marie Bernays berichtete, verließ ein großer Teil der Arbeiterinnen nach der Geburt des ersten Kindes den Betrieb, um sich der Familie zu widmen oder um sich eine andere Beschäftigung zu suchen, die besser mit der Familientätigkeit vereinbar war. Nur zwanzig Prozent der Arbeiterinnen waren älter als dreißig Jahre.163 Manche Unternehmen waren daran interessiert, Frauen auch nach der Geburt eines Kindes weiter zu beschäftigen. Eine Baumwollspinnerei in Speyer hatte deshalb nicht nur Werkswohnungen und einen Konsumverein, wie viele andere Unternehmen, sondern hatte als betriebliche Sozialleistung auch eine Kinderkrippe und einen Kindergarten eingerichtet. Auch in diesem Betrieb nahmen die Frauen die Geburt eines Kindes aber oft zum Anlass, die Fabrikarbeit aufzugeben. Die meisten Arbeiterinnen beendeten ihre Fabrikkarriere, wenn sie 25 bis 30 Jahre alt waren. 88 Prozent der Arbeiterinnen waren bis zu dreißig Jahren alt, sieben Pro161 Kempf, Leben der jungen Fabrikmädchen (wie Anm. 16), S. 10 – 11, 66, 162 – 163, 200 – 205. 162 Rosemary Orthmann, Erwerbstätigkeit, Lebenszyklus und Ausgabeverhalten. Unverheiratete Fabrikarbeiterinnen in Berlin (1902), in: Ruth-Ellen B. Joeres / Annette Kuhn, Hg., Frauen in der Geschichte, Bd. 6, Düsseldorf 1985, S. 333. 163 Bernays, Auslese und Anpassung (wie Anm. 78), S. 22 – 23.

10 Hardach

146

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

zent zwischen dreißig und vierzig Jahren, nur fünf Prozent waren älter als vierzig Jahre. Die Fabrikarbeit war eine Lebensphase, die meist nur zehn bis fünfzehn Jahre dauerte.164 Der frühe Altersabstieg traf grundsätzlich auch für Frauen zu. In der Gladbacher Textilfabrik erreichten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Arbeiterinnen ebenso wie die Facharbeiter nach einigen Jahren Berufserfahrung mit 25 Jahren den Höhepunkt der Leistungsfähigkeit und der Verdienstchancen. Trotzdem galt der frühe Altersabstieg vor allem als männliches Problem, da die meisten Frauen die Fabrik verließen, bevor der Altersabstieg einsetzte.165 c) Landarbeiterinnen In der Landwirtschaft verliefen die Ausbildung und der Beginn der Erwerbstätigkeit für Frauen ähnlich wie für Männer. Landarbeiterinnen begannen ihre Ausbildung nach der Schule, mit 17 bis 18 Jahren galten sie als qualifizierte Arbeitskräfte. Sie arbeiteten dann einige Jahre als Magd und mit zunehmender Berufserfahrung als Großmagd. In dieser Zeit lebten sie im Haushalt des Arbeitgebers. Nach der Heirat und der Geburt der Kinder standen Frauen vor der schwierigen Entscheidung, sich ausschließlich der Familie zu widmen, oder die Erwerbstätigkeit aus wirtschaftlichen Gründen fortzusetzen. Franz Rehbein hat in seiner Autobiographie den Konflikt zwischen bürgerlicher Norm und proletarischer Not anschaulich dargestellt: „ ( . . . ) meiner Ansicht nach mußte der Mann allein so viel verdienen können, wie zum Lebensunterhalt der Familie notwendig war, besonders wo es sich bei uns erst um eine kleine Familie handelte. Doch mein Weibchen meinte, man könne nicht wissen, wie es wieder zum Winter werde; sie ließ es sich nicht nehmen, während der Ernte mitzuschaffen. Unsern Jungen fuhren wir in einem für alt gekauften Kinderwagen mit aufs Feld, dort wurde er hinter den Hocken gepackt, und dann konnte er schlafen, spielen oder schreien, solange er Lust hatte; er mußte es beizeiten lernen, daß er nur ein Tagelöhnerkind war“.166 Max Weber wies in seiner Untersuchung über die Arbeitsverhältnisse in der ostdeutschen Landwirtschaft auf den Einfluss des bürgerlichen Familienideals in Arbeiterfamilien hin. Als die Löhne im späten neunzehnten Jahrhundert stiegen, nahm in den Landarbeiterfamilien die Zahl der Hausfrauen zu, die sich ausschließlich der Familie widmeten.167 Landarbeiterinnen, die eine Familie versorgten, leisteten im allgemeinen weniger Arbeitstage im Jahr als Männer. Die Doppelbelastung in Familie und Beruf wechselte dann mit Phasen, in denen die Frauen sich auf die Familientätigkeit be164 165 166 167

Bernays, Schwankungen der Arbeitsintensität (wie Anm. 77), S. 190, 224 – 225. Bernays, Auslese und Anpassung (wie Anm. 78), S. 22 – 23. Rehbein, Leben eines Landarbeiters (wie Anm. 36), S. 256. Weber, Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (wie Anm. 37), S. 49.

III. Beruf

147

schränkten. Nach verschiedenen regionalen Beispielen arbeitete in Oberhessen der Ehemann im Durchschnitt 300 Tage im Jahr, die Ehefrau 180 Tage.168 In Niedersachsen arbeitete der Ehemann ebenfalls 300 Tage im Jahr, die Ehefrau 200 Tage.169 Kürzere Jahresarbeitszeiten wurden aus Ostfriesland berichtet; dort arbeitete der Ehemann 280 Tage im Jahr und die Ehefrau 150 Tage.170 In Südwestdeutschland arbeiteten Tagelöhner im Durchschnitt 250 Tage im Jahr. Frauen arbeiteten nur in der Erntezeit als Lohnarbeiterinnen und bewirtschafteten im übrigen das eigene Land.171 Landarbeiterinnen erhielten wesentlich geringere Löhne als Landarbeiter. In Oberbayern verdienten im späten neunzehnten Jahrhundert Knechte 17 bis 22 Mark im Monat, Mägde elf Mark bis 13 Mark. Tagelöhner erhielten bei freier Verpflegung, zu der auch zwei Liter Bier am Tag gehörten, eine Mark täglich, Tagelöhnerinnen dagegen freie Verpflegung ohne Bier und nur siebzig Pfennig. In Oldenburg verdienten zur gleichen Zeit bei freier Unterkunft und Verpflegung ein Großknecht im Durchschnitt 23 Mark im Monat, eine Großmagd 15 Mark; das entsprach 64 Prozent des Männerlohns. Die Arbeitszeit betrug für Mägde und Knechte im Sommer zwölf Stunden täglich, im Winter neun bis zehn Stunden. In Westfalen verdiente bei freier Unterkunft und Verpflegung ein Großknecht 18 Mark im Monat, eine Großmagd 13 Mark, oder 68 Prozent des Männerlohns.172 d) Hausangestellte Zu den verbreiteten Frauenberufen gehörte auch die Arbeit als Hausangestellte. Das wirtschaftliche Wachstum und der Anstieg des Lebensstandards führten im neunzehnten Jahrhundert dazu, dass mehr Haushalte sich Hauspersonal leisten konnten. In den Städten überstieg die Nachfrage nach Hausangestellten das Angebot. Frauen aus der städtischen Arbeiterklasse zogen die Fabrikarbeit vor, die nicht unbedingt leichter war als Hausarbeit, aber ein höheres Einkommen, größere Unabhängigkeit und damit verbunden auch ein höheres Prestige versprach. Die Hauswirtschaft galt daher als ein Bereich des Arbeitsmarktes, der für Mädchen und junge Frauen aus der ländlichen Arbeiterklasse oder aus der Schicht der Kleinbauern besonders geeignet und leicht zugänglich war. Die jungen Frauen hatten durch das Aufwachsen und die Arbeit im elterlichen Haushalt eine GrundausFrankenstein, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Hohenzollern (wie Anm. 81), S. 241. Großmann, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Schleswig-Holstein (wie Anm. 67), S. 499 – 500. 170 Kaerger, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Nordwestdeutschland (wie Anm. 135), S. 52. 171 Losch, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Württemberg (wie Anm. 82), S. 250, 337. 172 Kaerger, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Nordwestdeutschland (wie Anm. 135), S. 5, 110; Heinrich Ranke, Die Verhältnisse von drei Bauerngemeinden in der Umgebung Münchens, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883, S. 280. 168 169

10*

148

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

bildung in der Hauswirtschaft, auch wenn der städtische Haushalt andere Anforderungen stellen mochte, und die Integration in den Haushalt der Arbeitgeber half, die Distanz zwischen der ländlichen Gesellschaft und der fremden städtischen Umgebung zu überwinden.173 Der stetige Zustrom vom Lande drückte allerdings auf die Arbeitsbedingungen und die Löhne. Hausangestellte wurden häufig in engen Kammern oder Ecken der Wohnung untergebracht, erhielten mäßige Kost und wenig Gehalt. Der berüchtigte Berliner Hängeboden als Schlafstelle für Hausangestellte wurde 1897 verboten.174 Im allgemeinen betrachteten Hausangestellte ihre Arbeit vor allem aufgrund der abhängigen Stellung als eine vorübergehende Tätigkeit. Auch die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen zogen junge und unverheiratete Hausangestellte vor. Man nahm an, dass junge Frauen sich leichter in die abhängige Position im Haushalt fügten. Nur in wenigen größeren Haushalten gab es die materiellen Voraussetzungen, genügend Raum und auch Beschäftigung für ein Ehepaar als Hausangestellte. Der weitere Lebensweg der Hausangestellten konnte zu Heirat und Familiengründung führen, aber auch zu einer anderen Erwerbstätigkeit.

4. Familienkarrieren a) Landwirtschaft Familienkarrieren wurden im Industriekapitalismus seltener. Sie konzentrierten sich auf wenige Sektoren, von denen die Landwirtschaft die größte Bedeutung hatte. Die Landwirtschaft war gezwungen, sich in die kapitalistischen Marktbeziehungen zu integrieren. In der Arbeitsorganisation hielten sich jedoch manche vorkapitalistische Prägungen. Für selbständige Landwirte bestimmte nach wie vor die Weitergabe des Familienbetriebes die Struktur des Erwerbslebens. Die junge Generation erwartete, nach der Heirat den Familienbetrieb von den Eltern oder Schwiegereltern zu übernehmen, und die ältere Generation zog sich auf das Altenteil zurück.175 Die Zahl der bäuerlichen Familienbetriebe nahm bis zum Ersten Weltkrieg noch zu. Allerdings waren die Familienbetriebe oft ineffizient, und sie konnten sich nur 173 Toni Pierenkemper, „Dienstbotenfrage“ und Dienstmädchenarbeitsmarkt am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte, 28 (1988); Klaus Tenfelde, Dienstmädchengeschichte. Strukturelle Aspekte im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hans Pohl, Hg., Die Frau in der deutschen Wirtschaft, Stuttgart 1985; Dorothee Wierling, Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin 1987. 174 Christina Benninghaus, Die anderen Jugendlichen. Arbeitermädchen in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1999, S. 207. 175 Josef Ehmer, Sozialgeschichte des Alters, Frankfurt am Main 1990, S. 26 – 35; Michael Mitterauer, Familie und Arbeitsteilung. Historisch-vergleichende Studien, Wien 1992, S. 242.

III. Beruf

149

durch einen hohen Zollschutz gegenüber der internationalen Konkurrenz behaupten. Besonders in den Realteilungsgebieten führte die Zersplitterung des Besitzes oft zu unwirtschaftlichen Kleinbetrieben. Die Verbesserung der Lebensbedingungen hat die Strukturprobleme in den Realteilungsgebieten eher noch verschärft. Zwar stiegen die Einkommen an, aber das hatte auch zur Folge, dass die Lebenserwartung stieg. Es gab mehr erwachsene Söhne und Töchter, die einen Anteil am Erbe beanspruchten, und es kam seltener vor, dass zersplitterte Parzellen wieder zusammengefügt wurden, weil Hofbesitzer ohne direkte Nachkommen starben. Wenn ein Besitz in jeder Generation konsequent unter zwei, drei oder gar mehr Erben aufgeteilt wurde, blieben schon nach wenigen Generationen nur noch winzige Parzellen übrig. Im Westerwald galt im späten neunzehnten Jahrhundert eine Fläche von vier Hektar als Existenzminimum, um eine Familie zu ernähren. Diese bescheidene Landfläche wurde aber von der Hälfte der bäuerlichen Betriebe nicht erreicht. Die ländliche Bevölkerung suchte einen bescheidenen Ausgleich durch die Töpferei, die Herstellung von Tonpfeifen, und in den Wintermonaten durch Holzfällen.176 Die Bodenzersplitterung war nicht das einzige Problem. Wenn die Erben ihre kleinen Bauernstellen antraten, mussten sie sich verschulden, um Wohngebäude, Ställe und Scheunen zu errichten und landwirtschaftliche Geräte zu kaufen. Im Kreis Merzig in der preußischen Rheinprovinz hieß es in den achtziger Jahren, dass sechzig Prozent der Bauern zu wenig Land besaßen, um allein von der Landwirtschaft leben zu können. Die Landbevölkerung musste sich einen Nebenerwerb suchen, oder sie wanderte ab.177 In Thüringen galten zu dieser Zeit vier Hektar als unterste Grenze für einen bäuerlichen Betrieb. Die Mehrzahl der landwirtschaftlichen Betriebe war aber kleiner. Mehr als zwei Fünftel aller Bauern waren auf einen Zusatzerwerb als „Arbeitsleute, Fabrikarbeiter, kleine Handwerker etc.“ angewiesen.178 Die Kleinbauern lebten oft nicht besser als die Tagelöhner. „Solche Leute stehen früh vor der Sonne auf, kennen den Tag über keine Rast und handtieren bis spät in den Abend hinein; sie arbeiten eben ganz anders, wie sie als Tagelöhner arbeiten würden und wissen mit unendlich Wenigem auszukommen“.179

176 Hümmerich, Die bäuerlichen Verhältnisse im Unterwesterwaldkreis, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpoltik 22, Leipzig 1883, S. 169 – 176. 177 I. I. Kartels, Die wirthschaftliche Lage des Bauernstandes in den Gebirgdistricten des Kreises Merzig, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883, S. 193 – 227. 178 H. Franz, Die landwirthschaftlich-bäuerlichen Verhältnisse des Weimarischen Kreises. Eine Schilderung thüringischer Landwirtschaft, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpoltik 22, Leipzig 1883, S. 93, S. 80. 179 Franz, Landwirthschaftlich-bäuerliche Verhältnisse des Weimarischen Kreises (wie Anm. 178), S. 93.

150

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

b) Handwerk Auch im Handwerk konnte die Tradierung eines Familienbetriebes die Erwerbstätigkeit bestimmen. Die intergenerative Kontinuität war jedoch wesentlich geringer als in der Landwirtschaft. Die meisten kleinen Handwerksbetriebe verfügten über kein Kapital, mit dem sich eine Familientradition begründen ließ. Hinzu kam der Strukturwandel des Handwerks, der die Söhne zum Wechsel in andere Berufe veranlasste. Die Ähnlichkeit zwischen Landwirtschaft und Handwerk bestand vor allem in der linearen Erwerbsbiographie. Selbständige Handwerker erwarteten weder den Aufstieg der bürgerlichen Laufbahn, noch die hohe Mobilität und den frühen Altersabstieg der proletarischen Risikobiographie. Karl Bücher berichtete in der Handwerksenquête des Vereins für Socialpolitik, dass ein Handwerker „durchschnittlich im 30. Lebensjahr zur Meisterschaft gelangte, und weitere 30 Jahre in ihrem Besitze blieb“.180 Das Handwerk konnte sich im Strukturwandel der Wirtschaft besser behaupten als die Landwirtschaft, weil es sich von der Warenproduktion zu Dienstleistungen wie Verkauf oder Reparatur umorientierte. Die Wirtschaftspolitik wandte sich seit 1881 von der Gewerbefreiheit ab und stützte die handwerklichen Familienbetriebe. Seit 1881 wurde die Einrichtung von Handwerksinnungen gefördert. 1897 wurde die Mitgliedschaft in den Innungen zur Pflicht gemacht, und es wurden Handwerkskammern eingerichtet, die nach dem Vorbild der Industrie- und Handelskammern die Interessenvertretung der Handwerker sein sollten, aber auch öffentliche Befugnisse, insbesondere in der Ausbildung, erhielten. Die selbständige Führung eines Handwerksbetriebes wurde von einer formalen Ausbildung abhängig gemacht, die mit der Gesellenprüfung und der Meisterprüfung abgeschlossen wurde. Der Handwerksprotektionismus entsprach einer alten Forderung der Meister, die sich von einer Verschärfung der Zulassungsbestimmungen einen Schutz vor den andrängenden Armen und Arbeitslosen und eine Stabilisierung ihrer Erwerbsbiographie versprachen. Allerdings konnten Innungen und Kammern nicht mehr wie in den Zeiten der Zünfte den Zugang zur Selbständigkeit willkürlich verweigern, und wenn die Nachfrage ausblieb, konnte auch der Protektionismus die Handwerksmeister nicht vor den Risiken des Marktes schützen. Der Einkommensabstand der Handwerker zu den Facharbeitern blieb gering. In den Jahren 1890 – 1892 hatten in Leipzig sechzig Prozent der selbständigen Handwerksmeister ein Einkommen von bis zu 104 Mark im Monat; das entsprach einem Facharbeitereinkommen. Zwischen den verschiedenen Handwerken gab es erhebliche Einkommensunterschiede. Fleischer und Bäcker verdienten am besten, Schneider und Schumacher hatten die geringsten Einkommen.181 Franz Rehbein, 180 Karl Bücher, Die Handwerkerfrage. Referat auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik am 23. September 1897 in Köln. Schriften des Vereins für Socialpolitik 76, Leipzig 1898, S. 20. 181 Bücher, Einkommensverhältnisse der Leipziger Handwerker (Anm. 33), S. 702 – 704.

III. Beruf

151

1867 in Pommern als Sohn einer armen Schneiderfamilie geboren, schilderte in seinen Lebenserinnerungen den Alltag eines Alleinmeisters. Die Eltern arbeiteten von früh bis spät, verdienten aber kaum das Nötigste zum Lebensunterhalt. „Das einzige Zimmer der kleinen Mietswohnung diente für unsere sechsköpfige Familie daheim gleichzeitig als Wohn- und Schlafraum, als Küche und – obendrein auch als Werkstatt meines Vaters. Hier saß er an seinem Tisch zwischen Lappen und Flicken und pickte und pickte von früh bis spät; Mutter half“.182 c) Heimindustrie Eine Familienökonomie auf bescheidenem Einkommensniveau gab es in der Heimindustrie. In den Jahren nach der Reichsgründung untersuchte Alphons Thun die Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen der Weber und Weberinnen in der Krefelder Seidenindustrie. Tausende von Weberfamilien lebten damals in Krefeld und in den kleinen Fabrikorten der Umgebung. Als in dem Konjunkturaufschwung der Gründerjahre von 1871 – 1873 die Nachfrage nach Samt und Seide stieg, war die Lage der Weber nicht schlecht. Bei höheren Stundenlöhnen konnten sie es sich leisten, die überlangen Arbeitszeiten zu reduzieren. Oft wurde schon am späten Nachmittag um fünf bis sechs Uhr Feierabend gemacht. „Dann gehen die Weber mit ihren langen Pfeifen aufs Feld spazieren, einer ruft: do welln we de Bur wat ärgern; gesagt, getan; nun hänseln sie den Bauersmann hinterm Pfluge seiner schweren Arbeit wegen und fragen ihn, wie lange er noch wirken müsse, um einen Thaler zu verdienen“.183 Seit der Gründerkrise waren die guten Zeiten vorbei, und zu der konjunkturellen Krise kam eine Strukturkrise durch die überlegene Konkurrenz der Fabriken. Die Arbeitszeiten waren lang, im Sommer von sechs Uhr früh bis neun Uhr abends, im Winter von sieben Uhr früh bis neun Uhr abends. In der Krefelder Heimindustrie saß der Mann am Webstuhl, die Frau säuberte die Kette, knüpfte gerissene Fäden an und führte den Haushalt. Kinder nahmen frühzeitig an der Arbeit der Eltern teil. In den schulpflichtigen Jahren arbeiteten sie etwa zwei Stunden täglich als „Spulkind“, später wurden sie Arbeiter an einem eigenem Webstuhl. Die erwachsenen Kinder gingen aus dem Haus, um zu heiraten und sich selbständig zu machen. Oft reichte die Arbeit eines jungen Paares nicht aus, um eine Familie zu ernähren. Die Weberfamilien mit zwei bis vier kleinen Kindern gerieten in Schulden und mussten regelmäßig die Armenpflege in Anspruch nehmen. Erst wenn die Kinder am Webstuhl saßen, besserte sich die Lage. Wenn dann die Familie zusammenblieb, konnte sie Geld sparen, vielleicht sogar ein kleines Haus mit Garten erwerben. Wenn die Söhne und Töchter erwachsen waren, gingen sie aus dem Haus; „beide verlassen ihre Eltern und überliefern sie samt den jüngeren Geschwistern wiederum der Rehbein, Leben eines Landarbeiters (wie Anm. 126), S. 5. Alphons Thun, Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter, 2 Bde., Leipzig 1879, Bd. 1, S. 124. 182 183

152

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Noth“.184 Auf die Solidarität der nachwachsenden Generation war offenbar wenig Verlass, nicht aus sozialer Härte, sondern aus Not; denn das Einkommen einer jungen Familie reichte kaum zum Unterhalt von Eltern und Kindern. Die Jahre zwischen 35 und vierzig, wenn die Söhne und Töchter zum Haushaltseinkommen beitrugen, waren im allgemeinen die besten Jahre im Leben der Weber. Mit vierzig Jahren setzte schon der Abstieg zur Altersarmut ein; mit fünfzig Jahren wurden viele Weber aufgrund der ungesunden Arbeitsbedingungen zu Invaliden, die nur noch leichte Arbeiten verrichten konnten. „Mit der Geburt der Kinder werden die Eltern arm, mit ihrem Heranwachsen reich, mit ihrer Verheirathung verfallen sie wieder der Dürftigkeit.“185 Nicht immer war im Heimgewerbe die Familienarbeit üblich. In der Nagelschmiedeindustrie im Taunus, über die Gottlieb Schnapper-Arndt Anfang der achtziger Jahre berichtete, waren nur Männer tätig. Ein Meister arbeitete in einer kleinen Werkstatt mit zwei bis vier Gesellen. Es wurden weder Frauen, noch schulpflichtige Kinder beschäftigt. Die sozialen Probleme lagen hier in den langen anstrengenden Arbeitstagen, den Berufskrankheiten der Nagelschmiede und dem frühen Altersabstieg. Ein Geselle konnte in den besten Jahren 1,11 Mark bis 1,54 Mark am Tag verdienen, aber die Leistungsfähigkeit ging frühzeitig zurück. „Sehr sichtlich zeigt sich die Abnahme der Kraft bei dem Nagelschmied bereits von der zweiten Hälfte der Dreißiger an, und mit melancholischen Gefühlen verfolgt er dieselbe an der sich beständig vermindernden Zahl von Nägeln, die er im Tage zu fertigen vermag“. Ein tüchtiger Nagelschmied fertigte im Alter von zwanzig Jahren 3600 Sohlennägel am Tag, mit vierzig Jahren noch 3000 bis 3200 Nägel, und mit fünfzig Jahren nur noch 2300 bis 2500 Nägel.186 Im späten neunzehnten Jahrhundert ging die Heimindustrie in Deutschland stark zurück. 1895 waren nur noch fünf Prozent aller gewerblichen Beschäftigten in der Heimindustrie tätig.187 Eine der letzten traditionellen Heimindustrien war die Sonneberger Spielwarenindustrie in Thüringen. Die Werkstätten und die beruflichen Fähigkeiten waren oft seit mehreren Generationen vererbt worden. Kinder und Jugendliche wuchsen im Familienbetrieb von früher Jugend an in die Erwerbstätigkeit hinein. Die formale gewerbliche Ausbildung spielte keine große Rolle. Der Grund war, „daß der Sonneberger Hausindustrielle vielfach schon von Kindheit auf in seinem Beruf thätig gewesen ist, und sich bald die nöthigsten Handgriffe und Fertigkeiten angeeignet hat. Oft kommt er dann in seinem Beruf zeitlebens nicht über die Arbeitsstube hinaus, die der Vater besessen hat, und in der er selbst später als Familienvater arbeitet“. Der Reichtum reproduzierte sich mit der gleichen Thun, Die Industrie am Niederrhein (wie Anm. 183), Bd. 1, S. 150. Thun, Die Industrie am Niederrhein (wie Anm. 183), Bd. 1, S. 150. 186 Schnapper-Arndt, Hoher Taunus (wie Anm. 68), S. 47. 187 Heinrich Rauchberg, Die Hausindustrie des Deutschen Reiches nach der Berufs- und Gewerbezählung vom 14. Juli 1895, in: Hausindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Österreich, Bd. 4. Schriften des Vereins für Socialpolitik 87, Leipzig 1899, S. 108. 184 185

III. Beruf

153

Selbstverständlichkeit wie die Armut. Bei den Verlegern handelte es sich meist um „alteingesessene Familien, in denen der Sohn mit der gleichen Anspruchslosigkeit, wie Vater, Groß- und Urgroßvater sein Geschäft betreibt und Zins auf Zins legt“.188 Um die Jahrhundertwende konnte sich die Familienarbeit in der Spielwarenindustrie nur noch mit äußerster Anstrengung und mit niedrigen Einkommen gegen die Konkurrenz der Fabriken behaupten. Es gab zwar noch die traditionellen Familienbetriebe, aber die Spielwarenherstellung wurde zunehmend zu einer Nebenbeschäftigung für Frauen und Kinder aus den Familien der Forstarbeiter, Kleinbauern, Handwerker, der unteren Beamten der Polizei, der Bahn und der Post und der Fabrikarbeiter. Frauen suchten Beschäftigung in der Heimindustrie, „besonders wenn kleine Kinder die Mutter hindern, selbst in Fabriken zu arbeiten“. Eine Familie, die in einem der kleinen Familienbetriebe Puppen, Holzspielzeug, Christbaumschmuck, Farbkästen oder Griffel herstellte, verdiente ungefähr fünfzig bis sechzig Mark im Monat. Besser standen sich die Familien, in denen der Mann als Arbeitnehmer ein festes Einkommen hatte. Die Ehefrau konnte dann mit den Kindern durch eine hausindustrielle Nebenbeschäftigung zwanzig bis 35 Mark monatlich hinzuverdienen. Die Heimarbeiterinnen gaben ihre Nebentätigkeit aber ungern zu, bemerkte Paul Ehrenberg, denn „sie wittern überall den Steueraufseher“.189 Mit dem allgemeinen Rückgang entwickelte die Heimarbeit sich von einem Hauptberuf, in dem die Familienangehörigen gemeinsam arbeiteten, zu einer Nebenerwerbstätigkeit für Frauen.190 Der Anteil der Frauen an den Beschäftigten der Heimindustrie war bereits 1895 mit 44 Prozent relativ hoch.191 Wahrscheinlich war der Anteil der Frauen noch höher, denn viele Frauen, die nebenberuflich in der Heimindustrie arbeiteten, gaben ihre Erwerbstätigkeit nicht an. Graf von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär des Innern, wies 1906 in der Diskussion über die Ausdehnung des Arbeitsschutzes auf den Wandel der Heimarbeit von einem Hauptgewerbe, das auf kleinen Familienbetrieben beruhte, zu einer weiblichen Nebenerwerbstätigkeit hin. „Wenn die Heimarbeit nichts ist als sozusagen eine Filialarbeitsstelle für die Fabriken, hat sie eigentlich mit den alten Begriffen von Familienarbeit und Familienleben nichts mehr zu tun; das ist nicht mehr die Heimarbeit der alten landesüblichen Hausindustrien, deren Erzeugnisse demnächst von den Heimarbeitern selbst verkauft werden, sondern wie die Heimarbeit sich jetzt gestaltet, ist sie meist nichts als eine vereinzelte Arbeitsstelle eines größeren Fabrikbetriebes.“192 Schwerpunkte der neuen Heimarbeit waren die Bekleidungsindustrie und die Textilindustrie, danach folgten mit großem Abstand die Holz188 189

Ehrenberg, Spielwarenindustrie des Kreises Sonneberg (wie Anm. 86), S. 253. Ehrenberg, Spielwarenindustrie des Kreises Sonneberg (wie Anm. 86), S. 242, 261 –

262. 190 Rosemarie Beier, Frauenarbeit und Frauenalltag im Deutschen Kaiserreich. Heimarbeiterinnen in der Berliner Bekleidungsindustrie 1880 – 1914, Frankfurt am Main 1983. 191 Rauchberg, Die Hausindustrie des Deutschen Reiches (wie Anm. 187), S. 131. 192 Reichstagssitzung vom 3. Februar 1906. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. 11. Legislaturperiode, 2. Session 1905 – 1906, Bd. 2, S. 981.

154

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

und Schnitzstoffeindustrie, zu der die Spielwarenindustrie gehörte, und die Nahrungs- und Genussmittelindustrie. Statistisch wurde die Erwerbstätigkeit in der Heimindustrie kaum erfasst.193 In einer Untersuchung über die Arbeiter im Druckereigewerbe in verschiedenen Städten wurde bemerkt, dass die Ehefrauen häufig Heimarbeit als Schneiderinnen oder Putzmacherinnen leisteten. Der genaue Umfang ließ sich jedoch nicht feststellen, da die Drucker darüber nur ungenügende Auskunft gaben.194 Das große Interesse der Frauen an der Heimarbeit drückte auf die Löhne.195 In Berlin verdienten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Fabrikarbeiterinnen im Maschinenbau sechzig bis 75 Mark im Monat, in den Branchen mit niedrigeren Löhnen wie der Textilindustrie, Bekleidungsindustrie, Zigarrenindustrie und Papierindustrie 35 bis fünfzig Mark im Monat. Heimarbeiterinnen kamen dagegen aufgrund der niedrigen Lohnsätze und der starken Beschäftigungsschwankungen im Durchschnitt nur auf zwanzig bis 25 Mark. Um trotz der kümmerlichen Akkordlöhne etwas zu verdienen, wurde die Arbeitszeit oft extrem ausgedehnt. Viele Frauen hatten mit der Familientätigkeit und der Heimindustrie zusammen einen Arbeitstag von 14 bis 18 Stunden.196 Eine charakteristische Branche der neuen Heimarbeit war die Berliner Kleiderkonfektion. Zu ihr gehörten 1899 ungefähr 62000 Arbeitskräfte, überwiegend Frauen, die in den Werkstätten der Zwischenmeister oder als Heimarbeiterinnen tätig waren. Das größte Konfektionshaus beschäftigte 500 bis 600 Zwischenmeister und 7000 bis 8000 Arbeiterinnen und Arbeiter197. Seit den achtziger Jahren verdrängte in der Konfektionsindustrie die Nähmaschine die Handnäherei.198 Ein großer Teil der Beschäftigten waren junge Frauen, die noch im Haushalt der Eltern lebten, oder verheiratete Frauen, die ihren Lohn als Ergänzung zum Familieneinkommen betrachteten. Heimarbeit wurde vor allem von Müttern gesucht, die kleine Kinder zu versorgen hatten. Durch die große Zahl von arbeitssuchenden Frauen wurden die Löhne in der Konfektionsindustrie gedrückt. Ein besonderes Problem war die Saisonabhängigkeit der Kleiderkonfektion, die zu erheblichen Einkommensschwankungen führte. Werkstattarbeiterinnen verdienten in der Berliner Kleiderkonfektion im Durchschnitt 32 Mark im Monat, Heimarbeiterinnen 26 Mark im Monat.199 Die Löhne der Konfektionsarbeiterinnen galten als Zusatzverdienst zur Verbesserung Beier, Frauenarbeit und Frauenalltag (wie Anm. 190), S. 36 – 37. Hans Hinke, Auslese und Anpassung der Arbeiter im Buchdruckereigewerbe mit besonderer Rücksichtnahme auf die Setzmaschine, in: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der Elektroindustrie, Buchdruckerei, Feinmechanik und Maschinenindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik 134, Leipzig 1910, S. 100 – 101. 195 Beier, Frauenarbeit und Frauenalltag (wie Anm. 190), S. 48. 196 Landé, Berliner Maschinenindustrie (wie Anm. 112), S. 437 – 447. 197 Hans Grandke, Berliner Kleiderkonfektion, in: Hausindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Österreich, Bd. 2. Schriften des Vereins für Socialpolitik 85, Leipzig 1899, S. 156, 336. 198 Beier, Frauenarbeit und Frauenalltag (wie Anm. 190), S. 51. 199 Grandke, Berliner Kleiderkonfektion (wie Anm. 197), S. 269. 193 194

IV. Die bürgerliche Familie

155

des Familieneinkommens. Für alleinstehende Frauen, die kein anderes Einkommen hatten, reichten die Löhne in Berlin kaum zum Lebensunterhalt aus.200

IV. Die bürgerliche Familie 1. Familienpolitik Die Familienpolitik stand im Kaiserreich unter dem widersprüchlichen Einfluss von liberalen Ideen und einer konservativen Gegenbewegung, die in der patriarchalischen Struktur von Ehe und Familie ein Bollwerk gegen den liberalen und sozialistischen Zeitgeist sah. Die traditionellen Heiratsbeschränkungen waren im Norddeutschen Bund bereits 1868 nach preußischem Vorbild aufgehoben worden. Diese Regelung wurde 1871 auch von den süddeutschen Staaten übernommen. Nur in Bayern, ohne die Pfalz, blieben bis 1916 noch Ehebeschränkungen gegenüber Obdachlosen bestehen.201 Der Einfluss der Kirche wurde weiter zurückgedrängt, 1875 wurde die Zivilehe verbindlich eingeführt. Die Ehescheidung wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 erschwert. Während nach dem vorherigen Recht der Einzelstaaten in Preussen und Baden eine Ehe aufgrund von gegenseitiger Einwilligung geschieden werden konnte, galt nach dem neuen Recht nur noch das Schuldprinzip als Scheidungsgrund. Die Selbständigkeit der Frau in der Ehe wurde, gegenüber älteren patriarchalischen Auffassungen, gewährleistet. Dem Ehemann und Vater wurde jedoch in wichtigen Entscheidungen über die Ehe und die Familie der Vorrang eingeräumt, um nach konservativer Auffassung die Stabilität der Institutionen zu stützen.202 Die bürgerliche Familie ging als Leitbild und als Lebensform aus der institutionellen Trennung von Beruf und Familie hervor. Sie wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 ausdrücklich als Norm formuliert. Der Ehemann sollte sich der Erwerbtätigkeit widmen, die Ehefrau der Haushaltsführung. Der Ehemann hatte seiner Frau „nach Maßgabe seiner Lebensstellung, seines Vermögens und seiner Erwerbsfähigkeit Unterhalt zu gewähren“.203 Er konnte seiner Ehefrau eine Berufstätigkeit verbieten, wenn er nachwies, „daß die Thätigkeit der Frau die ehelichen Interessen beeinträchtigt“.204 Die Familie war als Lebensform so selbstverständlich, dass eine staatliche Familienförderung nicht notwendig erschien. In geringem Umfang erhielten Familien Steuerermäßigungen bei den direkten Steuern, die in den Ländern erhoben wurden. Beier, Frauenarbeit und Frauenalltag (wie Anm. 190), S. 48. Hubbard, Familiengeschichte (wie Anm. 2), S. 41 – 43; Klaus-Jürgen Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980, S. 13. 202 Bürgerliches Gesetzbuch 1896 (wie Anm. 1), § 1360. 203 Bürgerliches Gesetzbuch 1896 (wie Anm. 1), § 1360. 204 Bürgerliches Gesetzbuch 1896 (wie Anm. 1), § 1358. 200 201

156

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Diese Steuerermäßigungen galten aber nicht als Familienförderung, sondern wurden aus dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit abgeleitet, weil Familien, in denen ein Einkommen für mehrere Personen reichen musste, eine geringere Steuerleistungsfähigkeit hatten als Alleinstehende oder kinderlose Ehepaare in gleicher Einkommenslage. In Preußen wurden in dem Einkommensteuergesetz von 1891 bei niedrigen und mittleren Einkommen Freibeträge für Kinder eingeführt. Seit 1906 wurden Familien außerdem je nach der Zahl der Kinder in einer niedrigeren Progressionsstufe der Einkommensteuer veranlagt. Ähnliche Steuerermäßigungen für Kinder gab es auch in einigen Kleinstaaten.205 Bei den niedrigen Steuersätzen der Zeit war die Wirkung der Steuerermäßigungen jedoch bescheiden. Eine direkte Unterstützung der Familien gab es in den Anfangsjahren des Kaiserreichs nur im Rahmen der Armenfürsorge.206 Später kam eine bescheidene Familienförderung hinzu, die im Rahmen der Sozialversicherung geleistet wurde. In der Krankenversicherung wurden Familienangehörige zu günstigen Konditionen mitversichert, und in der öffentlichen Rentenversicherung wurde 1911 ohne eigene Beitragsleistung eine Versorgung für die Hinterbliebenen eingeführt.

2. Der Wandel der Familie Das Aufwachsen in der Familie, die Heirat, die Geburt der Kinder und schließlich die Zeit, in der die Kinder die Familie der Eltern verlassen, konstituierten den idealen Familienzyklus des bürgerlichen Generationenvertrages. Obwohl die Familie als Institution in der Industriegesellschaft nicht mehr die umfassende Bedeutung hatte wie in der Agrargesellschaft, wurde die Attraktivität von Ehe und Familie als Lebensform kaum beeinträchtigt. 207 Die Aufhebung der Eherestriktionen und der steigende Lebensstandard hatten zur Folge, dass die Zahl der Menschen, die Zeit ihres Lebens unverheiratet blieben, zurückging. 1871 waren unter den Fünfzigjährigen, einer Altersgruppe, in der die Heiratsabsichten und die Heiratsaussichten deutlich abnahmen, neun Prozent der Männer und zwölf Prozent der Frauen ledig. In der Weimarer Republik betrug 1925 die Ledigenquote im Alter von fünfzig Jahren unter den Männern nur noch sechs Prozent und unter den Frauen zehn Prozent.208 In den ersten Jahren des Kaiserreichs war im Vergleich zum frühen neunzehnten Jahrhundert das Heiratsalter der Männer etwas gestiegen, das Heiratsalter der 205 L. Buck, Zur Beleuchtung der Zusammenhänge zwischen steuerfreiem Existenzminimum, Kinderprivileg, Junggesellensteuer und Haushaltsbesteuerung und Möglichkeiten eines Ausbaues der Gesetzgebung, in: Finanz-Archiv, 34 (1917); Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik(wie Anm. 4), Bd. 1, S. 158 – 159. 206 Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 57), Bd. 1, S. 199 – 205. 207 Gestrich, Geschichte der Familie (wie Anm. 2), S. 5 – 8; Sieder, Sozialgeschichte der Familie (wie Anm. 2), S. 146 – 211. 208 John Knodel, The decline of fertility in Germany, 1871 – 1993, Princeton 1979, S. 70.

IV. Die bürgerliche Familie

157

Frauen aber unverändert geblieben. Männer heirateten 1875 im Durchschnitt mit 29 Jahren, Frauen mit 26 Jahren, wenn es um die erste Eheschließung ging. Das Heiratsalter änderte sich auch in den nächsten Jahrzehnten wenig. In wirtschaftlichen Aufschwungsphasen wurde etwas früher geheiratet, in Krisenzeiten wurden manche Ehen aufgeschoben. Die Fluktuationen blieben aber innerhalb des traditionellen Korridors eines durchschnittlichen Heiratsalters von 25 bis dreißig Jahren. In der langen wirtschaftlichen Expansionsphase des Kaiserreich ging das Heiratsalter bei den Männern um zwei Jahre, bei den Frauen um ein Jahr zurück. 1911 waren die Männer bei der ersten Heirat im Durchschnitt 27 Jahre alt, die Frauen 25 Jahre.209 In manchen Regionen und sozialen Schichten gab es einen Trend zur früheren Eheschließung. Alphons Thun berichtete in den siebziger Jahren, dass in der Arbeiterschaft der Krefelder Seidenindustrie die Männer mit 22 bis 23 Jahren, die Frauen mit 18 bis 19 Jahren heirateten.210 Moritz Bromme, einer der ersten Industriearbeiter, der seine Lebensgeschichte aufschrieb, heiratete 1895 im Alter von 22 Jahren.211 Insgesamt blieben die frühen Heiraten aber Ausnahmen und wirkten sich im Durchschnittsalter der jungen Ehepaare kaum aus. Hinter den Durchschnittswerten konnten sich aber erhebliche Unterschiede im Heiratsalter verbergen. So fand Staatsrat Heim, der in den achtziger Jahren die Lebensverhältnisse in dem kleinen Herzogtum Sachsen-Meiningen untersuchte, einerseits einen Trend zu jungen Ehen, andererseits aber auch nicht wenige Brautpaare, die 35 Jahre oder älter waren. Von den Männern waren 32 Prozent bei der ersten Heirat unter 25 Jahren alt, 36 Prozent waren 25 bis 29 Jahre alt, 15 Prozent waren dreißig bis 34 Jahre alt und 17 Prozent waren 35 Jahre alt oder älter.212 Ehe und Familie waren in der Industriegesellschaft im Lebenslauf ebenso eng verbunden wie in der Agrargesellschaft. Die meisten Ehepaare hatten Kinder, und Frauen oder Männer, die nicht verheiratet waren, hatten im allgemeinen auch keine Kinder.213 Die Familie behielt im Industriekapitalismus ihre Bedeutung als Lebensform, aber die Familien wurden kleiner.214 Nach der Theorie der „demographischen Übergangsphase“ passten die Familien sich mit der Geburtenbeschränkung an die neuen Lebensbedingungen an. In der Agrargesellschaft gab es eine hohe Geburtenrate und eine hohe Sterberate. Die Geburtenrate lag im allgemeinen etwas über der Sterberate, so dass sich ein mäßiges Bevölkerungswachstum ergab. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 105. Thun, Die Industrie am Niederrhein (wie Anm. 183), Bd. 1, S. 150. 211 Moritz William Theodor Bromme, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters (1905), Frankfurt am Main 1971, S. 23, 219. 212 Heim, Die bäuerlichen Verhältnisse im Herzogthum Sachsen-Meiningen, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883, S. 5. 213 Statistisches Bundesamt, Familien heute. Strukturen, Verläufe und Einstellungen, Stuttgart 1990. 214 Hubbard, Familiengeschichte (wie Anm. 2), S. 101 – 104. 209 210

158

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Seit dem späten achtzehnten Jahrhundert ließ die Zunahme der Lebenserwartung allmählich die Sterberate zurückgehen, während die Geburtenrate zunächst hoch blieb. Dadurch kam es zu dem starken Bevölkerungswachstum des neunzehnten Jahrhunderts. Nachdem die Kindersterblichkeit zurückging, genügte eine geringere Zahl von Geburten, um die Kontinuität der Familie zu wahren. Die Familien schränkten daher die Kinderzahl ein. Dem Sinken der Sterberate folgte ein Rückgang der Geburtenrate. Der Abstand zwischen Geburtenrate und Sterberate wurde geringer, so dass das Bevölkerungswachstum zurückging. In der Industriegesellschaft stabilisierten sich die Geburtenrate und die Sterberate schließlich auf einem niedrigen Niveau, mit einer mäßigen Wachstumsrate der Bevölkerung.215 Auch die Individualisierung des Lebens trug dazu bei, dass die Familien kleiner wurden. Die Arbeit im Familienbetrieb wurde durch individuelle Erwerbskarrieren verdrängt. Die soziale Sicherung in Notzeiten oder im Alter beruhte nicht allein mehr auf dem sozialen Kapital der familialen Solidarität, sondern wurde zunehmend beruflichen Versorgungssystemen, dem Kapitalmarkt oder der Sozialversicherung anvertraut.216 Joseph Schumpeter argumentierte, dass der Kapitalismus mit der Verbreitung des utilitaristischen Denkens die Auflösung der Familie einleitete. Sobald Männer und Frauen die „utilitaristische Lektion“ gelernt hätten und die Gewohnheit annähmen, die individuellen Vor- und Nachteile jeder voraussichtlichen Folge von Handlungen abzuwägen, müssten ihnen die Belastungen der Elternschaft und die Konsequenz, dass die Kinder nicht mehr ein „wirtschaftliches Aktivum sind“, bewusst werden.217 Obwohl die Familie in der bürgerlichen Gesellschaft zunehmend als individuelles Projekt betrachtet wurde und nicht mehr in der zeitlosen Kontinuität der Generationen stand, lebten im späten neunzehnten Jahrhundert häufiger als früher drei Generationen in einem Haushalt. Da die Lebenserwartung anstieg, hatte die ältere Generation nach der Geburt der Enkel noch eine längere Lebenszeit vor sich. Wenn die Familien größer wurden, führten die niedrigen Einkommen der Zeit schnell in die Armut. Während bürgerliche Kindheitserinnerungen im allgemeinen die frühen Jahre verklärten, thematisierten die frühen Arbeiterautobiographien die 215 Arthur E. Imhof, Einführung in die Historische Demographie, München 1977, S. 60 – 63; Gerhard Mackenroth, Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, Berlin 1953; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands (wie Anm. 3), S. 60 – 62. 216 Becker, Familie, Gesellschaft und Politik (wie Anm. 92); Notburga Ott, Zum Rationalverhalten familialer Entscheidungen, in: Claudia Born / Helga Krüger, Hg., Erwerbsverläufe von Ehepartnern und die Modernisierung weiblicher Lebensläufe, Weinheim 1993; Notburga Ott, Der familienökonomische Ansatz von Gary S. Becker, in: Ingo Pies / Martin Leschke, Hg., Gary Beckers ökonomischer Imperialismus, Tübingen 1998; Marie-Lore Schilp, „Ökonomik der Familie“. Reichweite und Begrenzungen des ökonomischen Ansatzes zur Erklärung familialen Verhaltens, Krefeld 1984; Martin Werding, Zur Rekonstruktion des Generationenvertrages, Tübingen 1998, S. 31 – 103. 217 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942), München 1975, S. 254 – 255.

IV. Die bürgerliche Familie

159

Armut als prägende Erfahrung in Kindheit und Jugend.218 Franz Rehbein wurde 1867 in Pommern geboren. Er war der Sohn eines armen Handwerkerpaares. In seinen Lebenserinnerungen schildert Rehbein die Armut der Eltern, aber auch den liebevollen Umgang der Eltern miteinander und ihre Zuwendung zu den Kindern.219 Moritz Theodor William Bromme, 1873 in Leipzig geboren, wuchs in einer Arbeiterfamilie auf. Die Familie lebte stets am Rande des Existenzminimums, die Kinder mussten Entbehrungen ertragen und manche Enttäuschungen hinnehmen. Die Mutter vermittelte trotz aller Not emotionale Geborgenheit. Der Vater war streng, beeindruckte den Sohn aber, da er trotz aller Anfeindungen ein aktiver Sozialdemokrat war.220 Die Erinnerungen der Österreicherin Adelheid Popp, die 1869 in Inzersdorf unter dem Namen Adelheid Dworschak als fünfzehntes Kind einer armen Weberfamilie geboren wurde, galten auch in Deutschland als exemplarische Beschreibung des Kontrasts zwischen bürgerlichem Familienglück und der Not der Arbeiterfamilien: „Kein Lichtpunkt, kein Sonnenstrahl, nichts vom behaglichen Heim, wo mütterliche Liebe und Sorgfalt meine Kindheit geleitet hätte, ist mir bewusst. Und doch hatte ich eine gute, aufopferungsvolle Mutter, die sich keine Stunde Rast und Ruhe gönnte, immer getrieben von der Notwendigkeit und dem eigenen Willen, ihre Kinder redlich zu erziehen und sie vor dem Hunger zu schützen. Was ich von meiner Kindheit weiß, ist so düster und hart und so fest in mein Bewusstsein eingewurzelt, dass es mir nie entschwinden wird“.221 Ludwig Turek wurde 1898 als Sohn einer Arbeiterin geboren; sein Vater war kurz zuvor an Lungenschwindsucht gestorben. Nach einigen Jahren heiratete die Mutter wieder. Der Stiefvater arbeitete als Zigarrenmacher, auf dem Bau und in der Fabrik, brachte aber immer nur einen geringen Verdient nach Hause. Turek beschreibt als Kindheitserinnerungen ärmliche Wohnverhältnisse und einen ständigen Hunger. Die Mutter und der Stiefvater sorgten jedoch so gut wie möglich für ihre Kinder.222 Im allgemeinen wurde der Umgang zwischen den Familienmitgliedern freundlicher, wenn die Sorge um das tägliche Brot nicht mehr so drückend war.223 Marie Bernays vertrat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in den betriebssoziologischen Untersuchungen des Vereins für Socialpolitik die Ansicht, dass Ehe und Familie ein Gefühl der Geborgenheit vermittelten und damit einen Kontrast zur unsicheren Arbeitswelt darstellten.224 Der Familie als Institution wurde manche 218 Georg Bollenbeck, Zur Theorie und Geschichte der frühen Arbeiterlebenserinnerungen, Kronberg 1976; Angela Federlein, Autobiographien von Arbeitern 1890 – 1914, Marburg 1987. 219 Rehbein, Das Leben eines Landarbeiters (wie Anm. 36), S. 5. 220 Bromme, Lebensgeschichte (wie Anm. 211), S. 28 – 90. 221 Adelheid Popp, Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin von ihr selbst erzählt (1909), Berlin 1977, S. 25. 222 Ludwig Turek, Ein Prolet erzählt. Lebensschilderung eines deutschen Arbeiters (1930), Frankfurt am Main 1975, S. 7 – 17. 223 Minna Wettstein-Adelt, 3 Monate Fabrikarbeiterin, Berlin 1893. 224 Bernays, Berufswahl und Berufsschicksal (wie Anm. 96), Teil 2, S. 906.

160

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Sorge und manches Konfliktpotential abgenommen, nachdem die Mühen des Lernens in die öffentlichen Bildungsinstitutionen ausgelagert waren, die Erwerbsarbeit auf die Betriebe übergegangen war, und der Staat die Familien durch die Sozialpolitik materiell entlastete. Der familiale Zusammenhalt und die Beziehungen zwischen den Generationen konnten dadurch gewinnen.

3. Familienökonomie Nach dem bürgerlichen Familienmodell sollte das Erwerbeinkommen des Familienvaters ausreichen, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Tatsächlich trugen aber, vor allem in der Arbeiterklasse, in vielen Haushalten neben dem idealtypischen Familienvater als „Hauptverdiener“ die Ehefrau oder auch berufstätige Kinder als „Mitverdiener“ zum Erwerbseinkommen der Familien bei. Der Lebensstandard der Familien hing daher nicht nur von der sozialen Schichtung der Erwerbseinkommen, sondern auch von der Familienkonstellation mit verdienenden oder nicht verdienenden Familienmitgliedern ab. Eine besondere Rolle spielte dabei auch die Struktur der Erwerbsbiographie, da Arbeiter und Arbeiterinnen schon relativ früh mit einem sinkenden Lohn rechnen mussten, während die Angehörigen der neuen Mittelklasse ein steigendes Einkommen erwarten konnten. In der Oberklasse, und in bescheidenerem Umfang auch in der alten und der neuen Mittelklasse, konnten Vermögenseinkommen zum Familieneinkommen beitragen. Das Kaiserliche Statistische Amt wertete zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Haushaltsrechnungen aus, die in Familien von Arbeitern, Angestellten und Beamten geführt wurden. Danach hatten die Arbeiterhaushalte ein durchschnittlichen Monatseinkommen von 153 Mark, Haushalte von unteren Beamten 174 Mark, Angestelltenhaushalte 203 Mark, Haushalte von mittleren Beamten 238 Mark und Lehrerhaushalte 275 Mark.225 Die soziale Differenzierung innerhalb der neuen Mittelklasse und der Oberklasse zeigen Haushaltsrechnungen, die über einen längeren Zeitraum von 1886 bis 1913 gesammelt wurden. Die Haushalte von unteren Beamten hatten nach diesen Rechnungen im Durchschnitt ein Einkommen von 236 Mark im Monat, die Lehrerhaushalte 255 Mark, die Haushalte von Kaufleuten 700 Mark und die Haushalte von höheren Beamten 755 Mark.226 Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts verbrauchten die Haushalte immer noch einen großen Teil ihres Einkommens für die Ernährung. Mit einigem Abstand folgten andere Grundbedürfnisse wie Kleidung und Wohnung. 1880 – 1894 entfielen im Durchschnitt der Volkswirtschaft 58 Prozent des privaten Verbrauchs auf 225 Kaiserliches Statistisches Amt, Erhebung von Wirtschaftsrechnungen minderbemittelter Familien im Deutschen Reiche. 2. Sonderheft zum Reichs-Arbeitsblatte, Berlin 1909, S. 174 – 177. 226 Toni Pierenkemper, Der bürgerliche Haushalt in Deutschland an der Wende zum 20. Jahrhundert – im Spiegel von Haushaltsrechnungen, in: Dietmar Petzina, Hg., Zur Geschichte der Ökonomik der Privathaushalte, Berlin 1991, S. 168 – 169.

V. Alter

161

Nahrungsmittel, 14 Prozent auf Bekleidung, 13 Prozent auf die Wohnung, fünf Prozent auf Möbel, Hausrat, Heizung und Beleuchtung und die restlichen zehn Prozent auf häusliche Dienste, Gesundheitspflege, Verkehr, Bildung und Erholung.227 Das Familieneinkommen wurde im allgemeinen nicht gleichmäßig unter die Familienmitglieder verteilt. Die mittlere Generation hatte meistens einen höheren Pro-Kopf-Konsum als die Jugendgeneration und die ältere Generation, und die erwerbstätigen Männer hatten einen höheren Pro-Kopf-Konsum als die in der Familie tätigen Frauen. Moritz Bromme schilderte nach dem Rückblick auf die Kindheit das eigene Familienleben. Er war als Industriearbeiter der Hauptverdiener, seine Frau ergänzte das Familieneinkommen durch Heimarbeit. Bei sechs Kindern reichte das Einkommen kaum für den dringendsten Bedarf an Wohnung, Ernährung und Kleidung. Bromme erhielt, begründet durch die schwere Arbeit in der Fabrik, einen etwas höheren Anteil am Familienkonsum.228 Rosa Kempfs Untersuchungen über Münchener Arbeiterfamilien zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zeigten in allen Familien eine ungleiche Verteilung des Konsums. Der Ehemann und Vater erhielt einen größeren Anteil am Konsum der Familie. Die Besserstellung wurde mit der mühsamen Fabrikarbeit, aber auch mit patriarchalischen Traditionen begründet.229

V. Alter 1. Die Konstituierung des Ruhestandes Das Alter war seit jeher eine besondere Lebensphase, die durch nachlassende Handlungskompetenz charakterisiert ist, aber die Definition der Altersphase als Ruhestand ist neu. Bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts war es üblich, dass ältere Menschen ihre Erwerbstätigkeit fortsetzten, so lange sie arbeitsfähig waren und eine Beschäftigung fanden. Ein bewusster Ruhestand, im Unterschied zur unfreiwilligen Invalidität, war nur für eine Minderheit der Bevölkerung erreichbar, weil er ein ausreichendes Alterseinkommen voraussetzte. Erst als sich die Lage der älteren Generation durch die öffentliche Rentenversicherung, die staatlichen Pensionen und andere Alterssicherungssysteme besserte, konstituierte sich das Alter als Lebensphase, in der die Menschen von der Arbeit entlastet wurden.230 Der Übergang von der Erwerbsphase in den Ruhestand stellte sich in der Zeit des Kaiserreichs im allgemeinen nicht als klare Zäsur, sondern als langsamer Übergang dar. Für Arbeiter oder Arbeiterinnen und Angestellte trat eine Erwerbs227 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 15), S. 116 – 117. 228 Bromme, Lebensgeschichte (wie Anm. 211), S. 351. 229 Kempf, Leben der jungen Fabrikmädchen (wie Anm. 16), S. 22 – 24. 230 Christoph Conrad, Die Entstehung des modernen Ruhestandes. Deutschland im internationalen Vergleich 1850 – 1960, in: Geschichte und Gesellschaft, 14 (1988).

11 Hardach

162

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

unfähigkeit, die den Bezug einer Sozialversicherungsrente begründete, meist schon mehrere Jahre vor dem Rentenalter von siebzig oder später 65 Jahren ein. Andererseits wurde die reduzierte Erwerbstätigkeit, die als Ergänzung der Rente erlaubt war, nach Möglichkeit über das Rentenalter hinaus fortgesetzt. Auch die Selbständigen und andere soziale Gruppen, die von der öffentlichen Rentenversicherung nicht erfasst wurden, setzten ihre Erwerbstätigkeit im allgemeinen so lange wie möglich fort. In den Berufszählungen des Kaiserreichs gab es unter den wenigen Senioren, die ein Alter von siebzig oder mehr Jahren erreichten, einen erstaunlich hohen Anteil von Erwerbstätigen. 1895 gehörten in der Altersgruppe ab siebzig Jahren noch 47 Prozent der Männer zu den Erwerbspersonen, 1907 waren es 39 Prozent.231 Bei den Tätigkeiten, die Arbeiter oder Arbeiterinnen im hohen Alter noch verrichten konnten, ging es im allgemeinen um schlecht bezahlte Hilfstätigkeiten. Manchmal galt die Altersbeschäftigung schon nicht mehr als Lohnarbeit im üblichen Sinne, sondern als Entgegenkommen des Arbeitgebers. Zu den Lebensbedingungen der älteren Menschen in der ländlichen Gesellschaft hieß es Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Dithmarschen, dass die Tagelöhner, die als „Feststeher“ regelmäßig auf einem Hof beschäftigt waren, bei verminderter Erwerbsfähigkeit mit leichten Arbeiten beschäftigt und auf dem Hof versorgt wurden.232 Max Weber zitierte zur gleichen Zeit in der Untersuchung über die Lage der Landarbeiter in Ostpreußen einen Bericht, nach dem auf den großen Gütern „die eigenen Arbeiter bisher regelmäßig bis zum Tode vom Gutsherrn alimentiert seien gegen Leistung solcher Arbeit, zu welcher sie noch imstande waren.“ In den Landgemeinden seien die Arbeiter dagegen im Alter zum Betteln gezwungen.233 Die Altersnot hatte eine niedrige Lebenserwartung der Rentnerinnen und Rentner zur Folge. Obwohl viele Erwerbstätige schon lange vor dem Regelalter eine Rente erhielten, blieb zwischen dem Beginn der Rente und dem Tod oft nur eine kurze Lebensspanne. Im Durchschnitt der Bevölkerung betrug 1901 – 1910 die Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren für Männer zehn Jahre und für Frauen elf Jahre.234 Der Ruhestand der Arbeiter und Arbeiterinnen war aber wesentlich kürzer als die allgemeine Lebenserwartung der Zeit. Nach Berechnungen, die 1910 von der Landesversicherungsanstalt Berlin durchgeführt wurden, hatten Männer nach der Bewilligung einer Invalidenrente oder Altersrente im Durchschnitt nur noch zwei Jahre und drei Monate zu leben, Frauen drei Jahre und einen Monat.235 231 Kaiserliches Statistisches Amt, Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907 (wie Anm. 16), S. 41. 232 Großmann, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Schleswig-Holstein (wie Anm. 67), S. 407. 233 Weber, Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (wie Anm. 37), S. 129. 234 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 110. 235 Mewes, Reichsinvalidenversicherung, in: Heinz Potthoff, Hg., Untersuchungen über das Versicherungswesen in Deutschland. Schriften des Vereins für Socialpolitik 137 / 4, Leipzig 1913, S. 199.

V. Alter

163

Die Bergleute, die 1913 im Alter von 52 Jahren eine Invalidenrente erhielten, hatten dann noch eine Lebenserwartung von sechs Jahren.236

2. Die Einführung der öffentlichen Rentenversicherung Die Entwicklung des Ruhestandes zur dritten Lebensphase wurde zuerst durch die staatlichen Pensionssysteme angeregt. Weite Verbreitung fand er aber erst durch die öffentliche Rentenversicherung. Seit den Anfangsjahren des Kaiserreichs wurden verschiedene Vorschläge über die Einrichtung einer öffentlichen Rentenversicherung entwickelt. 1874 legte der rheinische Unternehmer Fritz Kalle, Vorsitzender des Mittelrheinischen Fabrikantenvereins, dem zwei Jahre zuvor gegründeten Verein für Socialpolitik ein Gutachten zur Einrichtung einer Rentenversicherung für Arbeiter vor. Die Rentenversicherung sollte zur „Anbahnung des socialen Friedens“ zwischen Arbeitern und Unternehmern beitragen. Kalle empfahl eine Pflichtversicherung für alle Arbeiter. Eine freiwillige Versicherung würde nicht genug Mitglieder finden, da die Arbeiter zu sorglos seien, um für ihr Alter zu sparen. Die Rente war nicht an ein allgemeines Ruhestandsalter gebunden, sondern sollte beim Eintreten einer im Einzelfall zu prüfenden Arbeitsunfähigkeit gezahlt werden. Die Invalidenrente sollte fünfzig Prozent des Normallohns betragen. Außerdem waren eine Witwenrente in Höhe von 25 Prozent und eine Waisenrente für jedes schulpflichtige Kind in Höhe von zehn Prozent des Normallohns vorgesehen. Ein Rentenanspruch sollte schon nach einer Wartezeit von nur zwei Jahren entstehen. Anders als die privaten Rentenversicherungen der Zeit beruhte Kalles Versicherungsmodell nicht auf einer Kapitaldeckung, deren Erträge die Renten finanzierten, sondern auf einem Umlageverfahren. Die Beiträge sollten die normalen Ausgaben decken; darüber hinaus sollte nur ein mäßiger Reservefonds für besondere Fälle gebildet werden. Zur Finanzierung der Renten war ein Beitrag von fünf Prozent des Normallohns vorgesehen, der von Unternehmern und Arbeitern zu gleichen Teilen getragen werden sollte.237 Mit dem Umlageprinzip, das auf der intergenerativen Solidarität der Mitglieder beruht, nahm Kalle bereits den Gedanken einer modernen Sozialversicherung vorweg, dem die öffentliche Rentenversicherung aber konsequent erst in der Bundesrepublik Deutschland folgte.238 In der liberalen Ära der frühen siebziger Jahre war der Gedanke einer Pflichtversicherung mit einem Umlageverfahren zu neuartig. Selbst bei den Mitgliedern des Vereins für Socialpolitik, die im bürger236 Brüggemeier, Leben vor Ort (wie Anm. 108), S. 174 – 175; Heinrich Imbusch, Arbeitsverhältnis und Arbeitsorganisation im deutschen Bergbau, Essen 1908, S. 139. 237 Fritz Kalle, Eine deutsche Arbeiter-Invaliden-, Wittwen- und Waisen-Casse, in: Über Alters- und Invalidenkassen für Arbeiter. Schriften des Vereins für Socialpolitik 5, Leipzig 1874. 238 Lil-Christine Schlegel-Voß / Gerd Hardach, Die dynamische Rente. Ein Modell der Alterssicherung im historischen Wandel, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 90 (2003).

11*

164

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

lichen Spektrum der Zeit als reformfreudig galten, stieß Kalles Versicherungsplan auf Widerspruch.239 Der konservative Unternehmer und Reichstagsabgeordnete Freiherr von Stumm regte im September 1878 im Reichstag die Einrichtung einer obligatorischen Altersversorgungs- und Invalidenkasse für Fabrikarbeiter an. Die Versicherung sollte nach dem Vorbild der Knappschaftsvereine des Bergbaus organisiert werden. Stumms Vorschlag wurde 1879 und dann noch einmal 1880 im Reichstag diskutiert, fand aber keine Mehrheit.240 Der preußische Minister Hofmann griff jedoch den Vorschlag auf und empfahl Reichskanzler von Bismarck die Gründung von Versicherungskassen, die den Arbeitern und Arbeiterinnen Unterstützung bei Krankheiten, Unfällen und Invalidität gewähren sollten. Der Kanzler lehnte zu der Zeit aber eine Pflichtversicherung für Arbeiter und Arbeiterinnen ab.241 Nachdem die Reichsregierung 1881 eine Sozialreform angekündigt hatte, änderte sich die Situation. Nunmehr wurden Pläne für eine umfassende Sozialversicherung ausgearbeitet. Die Versicherung wurde nach den verschiedenen Funktionen institutionell differenziert in die Krankenversicherung, die Unfallversicherung und die Invaliditäts- und Altersversicherung. Die funktionale Spezialisierung der Vorsorge entsprach dem Trend, der sich schon in den freiwilligen Unterstützungskassen durchsetzte, war aber auch durch die Unterschiede in der Trägerschaft, in den Leistungen und in den Beiträgen bedingt. Die Krankenversicherung, die Unfallversicherung und die Rentenversicherung wurden nacheinander und unabhängig voneinander eingerichtet. Reichskanzler Bismarck kam es nach der Ankündigung der Sozialreform darauf an, dass das Reich die Rentenversicherung nicht nur gründen, sondern auch finanzieren sollte, um die Arbeiter mit einer benevolenten Sozialpolitik zu beeindrucken.242 In einem Votum für das preußische Staatsministerium empfahl er im August 1881, zur Finanzierung der „Unfall- und Altersversorgung“ im Reich ein Tabakmonopol einzurichten. Der Öffentlichkeit solle deutlich gemacht werden, 239 L. F. Ludwig-Wolf, Über Alters- und Invaliden-Pensionscassen, in: Über Alters- und Invalidenkassen für Arbeiter. Schriften des Vereins für Socialpolitik 5, Leipzig 1874; Zillmer, Über Alters- und Invaliden-Pensions-Cassen, in: Über Alters- und Invalidenkassen für Arbeiter. Schriften des Vereins für Socialpolitik 5, Leipzig 1874; Verein für Socialpolitik, Verhandlungen der zweiten Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik am 11. und 12. Oktober 1874. Schriften des Vereins für Socialpolitik 9, Leipzig 1878. 240 Antrag vom 11. September 1878. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 4. Legislaturperiode, 1. Session 1878, Bd. 2 (Anlagen), S. 18. Reichstagssitzung vom 27. Februar 1879. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 4. Legislaturperiode, 2. Session 1879, Bd. 1, S. 155 – 184. Reichstagssitzung vom 27. Februar 1880. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 4. Legislaturperiode, 3. Session 1880, Bd. 1, S. 147 – 168. 241 Hofmann an Bismarck, 10. Juli 1880. Bismarck an Hofmann, 12. Juli 1880. Bundesarchiv Berlin (BArchB) R 1501 / 100016. 242 Sandra Hartig, Alterssicherung in der Industrialisierung. Eine positive Analyse sozialen Wandels, Marburg 2002, S. 140 – 150.

V. Alter

165

„dass die Erträge des Tabaks als das Patrimonium des Arbeiters und des Armen am Staate sich darstellen.“243 Mit dieser Ansicht konnte der Kanzler sich jedoch nicht durchsetzen. Die weiteren Planungen liefen auf eine Pflichtversicherung hinaus, die von Unternehmern und Arbeitern finanziert werden sollte, mit einer zusätzlichen Beteiligung des Reichs. In einem frühen Entwurf wurde 1883 eine Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiter geplant, die bei Eintritt der Erwerbsunfähigkeit oder bei einer Altersgrenze von 65 Jahren eine Rente leisten sollte. Auch eine Hinterbliebenenunterstützung für die Witwen und Waisen der Arbeiterfamilien war vorgesehen. Die Finanzierung sollte auf dem Versicherungsprinzip und einem Reichszuschuss beruhen. Schon damals wurde gesehen, dass eine echte Versicherung „für eine Reihe von Jahren“ nur eine schwache Wirkung haben würde, da die Arbeiter zunächst ein Versicherungskapital ansparen mussten, bevor sie eine Rente erwarten konnten. Als Ausweg wurde vorgeschlagen, älteren Arbeitern ab 45 Jahren ihre Berufsjahre als Versicherungsjahre anzuerkennen und diese Wartezeiten durch einen Reichszuschuss zu finanzieren.244 Um den bürgerlichen Kritikern einer Pflichtversicherung entgegenzukommen, wurden in den weiteren Beratungen die Beiträge und damit auch die Leistungen erheblich eingeschränkt. Das Rentenalter wurde auf 70 Jahre heraufgesetzt. Die Invalidität „würde dann gewissermaßen präsumiert“, wie es in einem Memorandum hieß. Die Rente wurde sehr bescheiden bemessen. Sie sollte keinen vollen Ausgleich für die Erwerbsunfähigkeit darstellen, sondern nur „einen Zuschuß zum Lebensunterhalt, mit dessen Hülfe man an billigen Orten und unter Zuhülfenahme etwaiger sonstiger Hülfsquellen oder des verbliebenen Restes von Erwerbsfähigkeit das Leben fristen kann.“245 Der Reichskanzler war besorgt über die Abstriche an dem ursprünglichen Versorgungsmodell, denn er befürchtete, dass eine Zwangsversicherung mit mäßigen Leistungen kaum die gewünschte politische Wirkung erzielen werde. Im preußischen Staatsministerium erinnerte er daher noch einmal an die staatliche Verantwortung: „Die Alters- und Invalidenversicherung ist ein allgemeines und nationales Bedürfniß, welches daher aus dem Nationalvermögen befriedigt werden sollte.“246 An243 Votum des preußischen Ministerpräsidenten Otto Fürst von Bismarck für das preußische Staatsministerium vom 22. August 1881, in: Florian Tennstedt / Heidi Winter / Wolfgang Ayass / Karl-Heinz Nickel, Hg., Grundfragen staatlicher Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite vom preußischen Verfassungskonflikt bis zur Reichstagswahl von 1881. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, Abteilung 1, Bd. 1, Stuttgart 1994, S. 634. 244 Grundzüge für ein Gesetz, betreffend Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiter, September 1883. BArchB R 1501 / 100017. 245 Memorandum zur Alters- und Invalidenversicherung vom Mai 1886. BArchB R 1501 / 100017. 246 Votum des Minister-Präsidenten Otto Fürst von Bismarck für das preußische Staatsministerium, betreffend die Alters- und Invalidenversicherung, vom 11. September 1887. BArchB R 1501 / 100100.

166

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

gesichts der Einwände des Finanzministers könnte man schrittweise vorgehen und das Versicherungswerk zunächst dort, wo das Bedürfnis am größten sei, nämlich „bei den Fabrikarbeitern in den großen Städten“, einführen.247 Ein Motiv für den Vorschlag war sicherlich, dass die städtischen Fabrikarbeiter das Publikum waren, das Bismarck mit der Sozialreform besonders beeindrucken wollte. Abgesehen davon neigte der Kanzler als konservativer Landjunker aber auch dazu, die ländlichen Verhältnisse zu idyllisieren: „Es ist eine allgemein bekannte Thatsache, dass in den Städten die Armenpflege unzulänglicher ist, als in den Landgemeinden. Auf dem Lande werden die durch Alter und Invalidität Arbeitsunfähigen gegen materielle Noth in der Regel ausreichend geschützt, Todesfälle wegen mangelnder Ernährung und Selbstmorde aus Nahrungssorgen kommen ausschließlich in großen Städten vor.“248 Eine Beschränkung der Rentenversicherung auf Fabrikarbeiter war jedoch nicht durchzusetzen, denn in der Öffentlichkeit wusste man im Unterschied zum Kanzler sehr wohl, dass die Not auf dem Lande nicht geringer war als in den Städten. Die Hinterbliebenenversicherung, die in dem frühen Gesetzentwurf von 1883 vorgesehen war, wurde im Verlauf der Beratungen als zu aufwendig kritisiert und wurde daher aus dem Leistungsprogramm gestrichen.249 In dem Gesetzentwurf von 1888 blieb es bei einer allgemeinen Arbeiterversicherung. Nach den Sparempfehlungen der letzten Jahre wurde das Rentenalter auf siebzig Jahre festgesetzt. Die Rente sollte nicht ein existenzsicherndes Sozialeinkommen, sondern nur ein Zuschuss zu den Lebenshaltungskosten sein. Eine Versorgung für Witwen und Waisen war nicht mehr vorgesehen.250 Im Reichstag war die Rentenversicherung heftig umstritten. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte das Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung ebenso ab wie die früheren Sozialversicherungsgesetze über die Krankenversicherung und die Unfallversicherung. Auch in den bürgerlichen Fraktionen gab es erheblichen Widerstand, da die Rentenversicherung das aufwendigste Reformprojekt war. Es bedurfte der Autorität des Reichskanzlers, um dem Gesetzentwurf trotz vieler Einwände eine Mehrheit zu sichern. Am 24. Mai 1889 wurde die Invaliditäts- und Altersversicherung als letzte der drei großen Sozialversicherungen vom Reichstag knapp mit 185 Ja-Stimmen, 165 Nein-Stimmen und vier Enthaltungen beschlossen.251 Alle Arbeiterinnen und Arbeiter, sowie Angestellte bis zum einem Jahreseinkommen von 2000 Mark, wurden Pflichtmitglieder der öffentlichen RentenverVotum vom 11. September 1887. BArchB R 1501 / 100100. Votum vom 11. September 1887. BArchB R 1501 / 100100. 249 Ellerkamp, Die Frage der Witwen und Waisen (wie Anm. 150), S. 191 – 198. 250 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes, betr. die Alters- und Invalidenversicherung, 10. Oktober 1888. BArchB R 1501 / 100025. 251 Reichstagssitzung vom 24. Mai 1889. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 7. Legislaturperiode, 4. Session 1888 – 89, Bd. 3, S. 2001 – 2003. 247 248

V. Alter

167

sicherung. Wer durch berufliche Veränderungen aus der Versicherungspflicht ausschied, konnte sich freiwillig weiterversichern, und für nicht versicherungspflichtige Personen gab es die Möglichkeit der freiwilligen Selbstversicherung. Die Versicherten hatten beim Eintritt von Invalidität Anspruch auf eine Invalidenrente, oder nach dem Erreichen des siebzigsten Lebensjahrs ohne individuelle Prüfung der Erwerbsminderung Anspruch auf eine Altersrente. In der offiziellen Bezeichnung „Invaliditäts- und Altersversicherung“ kam zum Ausdruck, dass man die Altersrente lange Zeit als eine Invalidenrente betrachtete, mit der die nachlassende Erwerbsfähigkeit im Alter kompensiert werden sollte. Als Träger der Invaliden- und Altersversicherung wurden 31 regionale Versicherungsanstalten, die den Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften mit Selbstverwaltung hatten, und zehn berufsspezifische Versicherungen, unter anderem für Bergleute, Seeleute und Bahnpersonal, eingerichtet. Die Rentenversicherung wurde als eine Kapitalversicherung aufgebaut. Sie orientierte sich damit an den privaten Lebensversicherungen, die sich zu jener Zeit als bürgerliche Alterssicherung durchsetzten. Eine Invaliditätsrente konnte schon nach einer Beitragsdauer von nur fünf Jahren bewilligt werden. Eine Altersrente stand den Versicherten im Alter von siebzig Jahren zu, wenn sie dreißig Beitragsjahre nachweisen konnten. Die Invaliditätsrente bestand aus einem Reichszuschuss von fünfzig Mark jährlich, einem Grundbetrag von sechzig Mark und einem Steigerungsbetrag, der von der Zahl der Versicherungsjahre und der Höhe der Beiträge abhing. Die Altersrente bestand aus dem Reichszuschuss von fünfzig Mark und dem von der Versicherungsdauer und den Beiträgen abhängigen Steigerungsbetrag. Ein Grundbetrag schien entbehrlich, da die Altersrentner einen höheren Steigerungsbetrag erwarten konnten als die Invalidenrentner. Die Beiträge waren nach vier Lohnklassen gestaffelt und sollten je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgebracht werden. Das Gefüge der Beitrags- und Leistungsklassen war statisch konzipiert, eine Anpassung der Renten an die Entwicklung von Preisen oder Löhnen war nicht vorgesehen. Wenn man das Versicherungsprinzip konsequent angewandt hätte, konnte die Rentenversicherung, die 1891 in Kraft treten sollte, frühestens 1921 die ersten Altersrenten auszahlen. Das wäre kaum als attraktives Angebot an die Arbeiterschaft verstanden worden. Wie schon in den Beratungen vorgeschlagen worden war, wurden deshalb den älteren Arbeitern und Arbeiterinnen die Berufsjahre, die sie nach dem vierzigsten Lebensjahr geleistet hatten, ohne Beitragszahlung als Versicherungsjahre anerkannt. Damit hatten ältere Arbeiter sofort einen Rentenanspruch. Durch diese Regelung kam von Anfang an das Umlageprinzip in die Rentenversicherung, denn die Renten wurden lange Zeit nicht aus den Erträgen eines akkumulierten Kapitals, sondern aus den aktuellen Beiträgen und dem Staatszuschuss finanziert.252 252 Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 1889. RGBl 1889, S. 97 – 144.

168

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Die öffentliche Rentenversicherung begründete eine Altersvorsorge von einem Umfang, der über die früheren begrenzten Vorsorgeformen weit hinausging. Sie hatte 1891 bereits 12 Millionen Mitglieder und bewilligte 119 Tausend Renten. Die ersten Renten waren überwiegend Altersrenten, weil es einige Zeit dauerte, bis die Invaliditätsprüfungen organisiert waren.253 Das Rentenniveau wurde sehr knapp bemessen, um die Beiträge niedrig zu halten. Die durchschnittliche Rente betrug 1891 nur sechs Mark im Monat; das entsprach 14 Prozent des Durchschnittslohns. Der gemeinsame Beitrag von Unternehmen und Beschäftigten betrug 1891 im Durchschnitt nur 90 Pfennig im Monat und machte damit zwei Prozent des Lohns aus.254 Nachdem die Invaliditätsprüfungen in Gang kamen, verschob sich in der Rentenversicherung der Schwerpunkt der Leistungen von den Altersrenten zu den Invaliditätsrenten. Ein Rentenanspruch war gegeben, wenn die Versicherten durch ihre Erwerbstätigkeit nur noch ein Drittel des in der Beitragsgruppe üblichen Lohns erreichen konnten. Der Bezug zur Beitragsgruppe lässt erkennen, dass man an eine Berufsunfähigkeit und nicht an eine allgemeine Erwerbsunfähigkeit dachte. Allerdings hatte der frühzeitige Leistungsabstieg und Lohnverlust der Arbeiter zur Folge, dass auch die Facharbeiter vor ihrer Rente meist schon zu einfachen Tätigkeiten herabgestuft waren, so dass ihnen der Berufsschutz nicht viel nutzte. Wer eine Rente erhielt, war schon vorher arm. Unter den harten Arbeitsbedingungen und Lebensumständen der Zeit trat die Erwerbsminderung, die zu einer Rente berechtigte, im allgemeinen lange vor dem siebzigsten Lebensjahr ein. Im Durchschnitt betrug 1895 das Rentenalter 61 Jahre.255 Da andererseits eine recht große Zahl von Senioren und Seniorinnen noch über das siebzigste Lebensjahr hinaus einer beschränkten Erwerbstätigkeit nachging, war der Übergang von der Erwerbstätigkeit in den Ruhestand breit gestreut. Weil die Invalidenrenten im allgemeinen etwas höher waren als die Altersrenten, stieg auch das Rentenniveau an. 1892 betrug die Rente im Durchschnitt zehn Mark im Monat und erreichte damit 23 Prozent des durchschnittlichen Lohns.256 Es gab anfangs viel Kritik an der öffentlichen Rentenversicherung, vor allem in der Landwirtschaft.257 In der Enquete über die ländlichen Arbeitsverhältnisse, die der Verein für Socialpolitik in den neunziger Jahren durchführte, wurde vielfach berichtet, dass die Rentenversicherung nicht nur bei den Arbeitgebern, sondern auch bei den Landarbeitern unbeliebt war. Aus dem Oldenburger Münsterland wurde mitgeteilt: „Die Arbeiter insbesondere wollen die Wohltaten des Gesetzes 253 Amtliche Nachrichten des Reichs-Versicherungsamtes. Invaliditäts- und Altersversicherung, 3 (1893), S. 21. 254 Nachrichten des Reichs-Versicherungsamtes 1893 (wie Anm. 253), S. 21; Hohls, Arbeit und Verdienst (Anm. 40), S. 88. 255 Conrad, Vom Greis zum Rentner (wie Anm. 58), S. 336. 256 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1893, S. 189; Hohls, Arbeit und Verdienst (wie Anm. 40), S. 88. 257 Oswald Keiner, Die Entwicklung der deutschen Invalidenversicherung, München 1904, S. 34.

V. Alter

169

nicht anerkennen, weil sie meinen, daß sie doch den wenigsten unter ihnen zu gute kommen werden, und die Arbeitgeber klagen, weil durch diese Gesetze den mittleren Wirtschaften eine größere Steuer auferlegt werde als die Einkommensteuer“.258 In dem ländlich geprägten kleinen Fürstentum Waldeck hieß es, die Rentenversicherung werde allgemein nicht als Wohlfahrtseinrichtung, sondern als Belastung empfunden.259 Ganz ähnlich wurde auch aus Württemberg mitgeteilt, dass die Rentenversicherung bei Bauern und Landarbeitern gleichermaßen unbeliebt sei. Die Landwirte fanden die Beiträge zu hoch, und die Landarbeiter beklagten sich, dass sie Beiträge leisten müssen, aber keine Rente erwarten können, da sie zu wenig Arbeitstage im Jahr beschäftigt waren. „Ein Ortsvorsteher aus dem Jagstkreis hält das Altersgesetz etc. für Konzessionen an die Städte- und Fabrikbevölkerung und kostspielige Belästigung der ländlichen Dienstboten und Dienstherren“.260 Auch in Ostpreußen waren die Landarbeiter anscheinend unzufrieden mit der Rentenversicherung, obwohl gerade dort das Problem der Altersarmut ganz offensichtlich war.261 Als nach einigen Jahren die Rentenversicherung etabliert war, schlug das anfängliche Misstrauen jedoch in eine breite Akzeptanz um. Die Zahl der Rentner und Rentnerinnen nahm zu, die Renten wurden etwas besser, und Unternehmer wie Arbeiter gewöhnten sich an die Beiträge. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wussten die Vorteile einer bescheidenen Grundsicherung zu schätzen.262 Nach zehn Jahren wurde die Rentenversicherung 1899 reformiert. Der Name wurde von der „Invaliditäts- und Altersversicherung“ zur „Invalidenversicherung“ geändert. Die Umbenennung trug der Entwicklung Rechnung, dass die meisten Renten inzwischen Invalidenrenten waren. Der Mitgliederkreis der Versicherung wurde erweitert. Neben den Arbeitern und gering verdienenden Angestellten wurden nunmehr auch Privatlehrer, Erzieher und „Hausbeamte“ mit einem Jahreseinkommen bis zu 2000 Mark als Pflichtmitglieder in die öffentliche Rentenversicherung einbezogen. Die Wartezeit in der Altersversicherung wurde auf 25 Jahre verkürzt. Neben der Invalidenrente und der Altersrente wurde eine neue „Krankenrente“ eingeführt. Sie sollte bei einer Berufsunfähigkeit geleistet werden, die durch eine Krankheit verursacht war und als vorübergehend eingeschätzt wurde. In dieser Funktion war sie eine Übergangsleistung zwischen Krankengeld und Invalidenrente. Um die Rentenversicherung den steigenden Einkommen anzupassen, wurde eine fünfte Lohn- und Beitragsklasse eingerichtet.263 Das Rentenalter von siebzig Jahren wurde von Anfang an als zu hoch kritisiert. Nachdem die Angestelltenversicherung sich 1911 an dem Ruhestandsalter der Be258 259 260 261 262 263

Kaerger, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Nordwestdeutschland (wie Anm. 135), S. 43. Kaerger, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Nordwestdeutschland (wie Anm. 135), S. 161. Losch, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Württemberg (wie Anm. 82), S. 303 – 304. Weber, Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (wie Anm. 37), S. 55. Hartig, Alterssicherung in der Industrialisierung (wie Anm. 242), S. 177 – 205. Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899. RGBl. 1899, S. 393 – 462.

170

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

amten orientierte, wuchs die Kritik an dem hohen Rentenalter der Arbeiterversicherung. Bis zum Ersten Weltkrieg wehrte die Reichsregierung aber alle Reformvorstöße der Sozialdemokratie im Reichstag ab. Die Regierung argumentierte, ein niedrigeres Rentenalter würde die Unternehmen zu sehr belasteten, und vor allem wäre der zusätzliche Aufwand für den Reichszuschuss nicht zu finanzieren. Nachdem die Altersrenten nur noch einen kleinen Teil der Renten ausmachten, war der Widerstand der Regierung gegen eine Herabsetzung des Rentenalters im Grunde unverständlich. Im Krieg wurde schließlich 1916 das Rentenalter in der Arbeiterversicherung nach dem Vorbild der Angestelltenversicherung auf 65 Jahre herabgesetzt.264 Ein ungelöstes Problem der öffentlichen Rentenversicherung war die Versorgung der Hinterbliebenen.265 Sie war schon bei der Vorbereitung der Invaliditäts- und Altersversicherung diskutiert worden, wurde damals aber nicht realisiert, weil die Reichsregierung die Kosten für zu hoch hielt. Auch bei der Rentenreform von 1899 wurden die Probleme der Witwen und Waisen übergangen. Seitdem setzten sich aber im Reichstag Abgeordnete aller Fraktionen für die Einrichtung einer Witwen- und Waisenversicherung ein, von dem konservativen Unternehmer Freiherr von Stumm, der seit Ende der siebziger Jahre eine öffentliche Rentenversicherung für Arbeiter gefordert hatte, über das Zentrum bis zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In dem protektionistischen Zollgesetz von 1902 wurde nach einem Vorschlag des Zentrumsabgeordneten Trimborn eine Verbindung zwischen den Zolleinnahmen und dem Ausbau der Rentenversicherung hergestellt. Die Mehreinnahmen aus den Zöllen sollten zur Finanzierung einer Witwen- und Waisenversorgung verwendet werden. Die Zolleinnahmen blieben jedoch hinter den Erwartungen zurück.266 Daraufhin verzögerte die Regierung die Einführung der Hinterbliebenenversorgung weiter mit dem Hinweis auf die hohen Kosten. Der Staatssekretär des Innern Graf von Posadowski-Wehner argumentierte 1906, dass die Kosten der Hinterbliebenenversorgung fast so hoch wären wie der Aufwand für die Invaliden-. und Altersrenten, wenn man etwa der Witwe die Hälfte der Rente und jeder Waise bis zum vierzehnten Lebensjahr ein Drittel der Rente gewähren würde.267 Schließlich gab die Regierung aber doch dem öffentlichen Druck nach. In der Reichsversicherungsordnung vom Juli 1911 wurde die Invalidenversicherung durch eine Hinterbliebenenversorgung ergänzt, die 1912 in Kraft trat. Erwerbsunfähige Witwen, deren verstorbener Ehemann Anspruch auf eine Invaliditäts- oder Altersrente hatte, und die keinen eigenen Rentenanspruch erworben hatten, erhiel264 Gesetz, betreffend Renten in der Invalidenversicherung vom 12. Juni 1916. RGBl. 1916, S. 525 – 527. 265 Wolfgang Dreher, Die Entstehung der Arbeiterwitwenversicherung in Deutschland, Berlin 1976; Ellerkamp, Die Frage der Witwen und Waisen (wie Anm. 150), S. 198 – 203. 266 Hartig, Alterssicherung in der Industrialisierung (wie Anm. 242), S. 252 – 259. 267 Reichstagssitzung vom 3. Februar 1906. Verhandlungen des Reichstags, 11. Legislaturperiode, 2. Session 1905 – 1906, Bd. 2, S. 980.

V. Alter

171

ten eine Witwenrente. Eine Erwerbsunfähigkeit lag vor, wenn eine Witwe mit einer zumutbaren Arbeit höchstens ein Drittel des Einkommens erwerben konnte, das Frauen mit ähnlicher Ausbildung verdienten. Erwerbsunfähige Witwer ohne eigenen Rentenanspruch hatten Anspruch auf eine Witwerrente, wenn die verstorbene Ehefrau einen Rentenanspruch hatte, und wenn sie den größeren Teil zum Haushaltseinkommen beigetragen hatte. Die Witwenrenten setzten sich aus dem Reichszuschuss von fünfzig Mark und dreißig Prozent der Invaliden- oder Altersrente zusammen. Die Waisenrenten bestanden aus einem Reichszuschuss von 25 Mark und für das älteste Kind 15 Prozent, für alle weiteren Kinder zehn Prozent der Invaliden- oder Altersrente.268 Als in den achtziger Jahren die neue Sozialversicherung eingeführt wurde, war zunächst umstritten, ob die Knappschaftsvereine fortbestehen sollten, oder ob die Bergleute in die neue Versicherung einbezogen werden sollten. Schließlich blieb aufgrund der besonderen Verhältnisse im Bergbau die eigenständige Versicherung der Bergleute erhalten, sie wurde aber dem System der Sozialversicherung angepasst. Nach dem neuen Prinzip der differenzierten Risikovorsorge wurden die Krankenkassen und die Rentenkassen der Bergleute institutionell getrennt. Die knappschaftliche Rentenversicherung wies gegenüber der allgemeinen Rentenversicherung einige Besonderheiten auf. Die einzelnen Knappschaftsvereine hatten eine gewisse Autonomie bei der Ausgestaltung der Rentenversicherung. Sie mussten zwar einen Mindeststandard an Leistungen bieten, konnten aber auch höhere Renten und Beiträge beschließen. Einige Knappschaftsvereine unterschieden zwischen Invalidenrenten und Altersrenten, die nach dem sechzigsten Lebensjahr gewährt wurden. Die meisten Knappschaften sahen aber kein allgemeines Rentenalter vor. Der Grund war die durch den schweren und gefährlichen Beruf bedingte frühe Invalidität der Bergleute.269 Die wenigsten Bergleute erreichten in ihrem Beruf ein Alter, das den üblichen Vorstellungen von einem Rentenalter entsprach. Im Ruhrbergbau waren die Bergleute 1913 beim Eintritt der Invalidität im Durchschnitt erst 52 Jahre alt.270 Das Problem einer angemessenen Altersversorgung war nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt. Die öffentliche Rentenversicherung gewann daher auch für andere soziale Klassen an Attraktivität, die zunächst nicht als die Adressaten staatlicher Sozialpolitik galten. 1904 schlug die Nationalliberale Fraktion im Reichstag vor, eine obligatorische Invaliden- und Altersversicherung für selbständige Handwerker einzurichten. Dies ging der Regierung jedoch zu weit. Die „Zwangsversicherung“ sollte nach der Auffassung des Staatssekretärs des Innern Graf von Posadowsky-Wehner nur für „unselbständige wirtschaftliche Existenzen“ gelten, Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911. RGBl. 1911, S. 509 – 838. H. Karwehl, Die Entwicklung und Reform des deutschen Knappschaftswesens. Mit besonderer Berücksichtigung der preußischen Knappschaftsnovelle vom 19. Juni 1906, Jena 1907. 270 Brüggemeier, Leben vor Ort (wie Anm. 108), S. 174 – 175. 268 269

172

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

im wesentlichen für die Arbeiter. Würde man die öffentliche Rentenversicherung auf die selbständigen Handwerker ausdehnen, so würden andere Berufsgruppen folgen, etwa Bauern, Kaufleute, Fabrikanten, Künstler und Gelehrte, Ärzte und Apotheker. Es wäre der erste Schritt zu einer allgemeinen Ausdehnung, denn dann müsste man schließlich „alle die Staatsbürger versicherungspflichtig machen, die überhaupt ein bestimmtes Einkommen nicht haben.“271 Parallel zu der Handwerkerversicherung wurde eine Ausdehnung der Pflichtversicherung auf die Angestellten diskutiert. Die Meinungen unter den Betroffenen waren geteilt. Manche Angestellte fürchteten um ihr Sozialprestige, wenn sie den Arbeitern auf dem Weg in die Pflichtversicherung folgen sollten. Die Mehrheit der Angestellten war jedoch von den Vorteilen der öffentlichen Rentenversicherung überzeugt.272 Im Dezember 1911 wurde nach dem Vorbild der Arbeiterversicherung eine Altersversicherung für Angestellte eingeführt. Um dem Statusdenken der Angestellten entgegenzukommen, wurde ihre Rentenversicherung als eine eigene, von der Arbeiterversicherung getrennte Institution errichtet. Die neue Angestelltenversicherung erfasste als Pflichtmitglieder alle Angestellten bis zu einem Jahresgehalt von 5000 Mark. Frauen mussten eine Beitragsdauer von fünf Jahren, Männer eine Beitragsdauer von zehn Jahren nachweisen, um einen Rentenanspruch zu erwerben. Ein Anspruch auf eine Altersrente wurde bereits mit 65 Jahren erworben. In der Angestelltenversicherung war von Anfang an auch eine Hinterbliebenenversorgung für Witwen und Waisen vorgesehen. Die Beiträge waren nach neun Gehaltsklassen differenziert. Einen Reichszuschuss sollte die Angestelltenversicherung nicht erhalten.273 Im letzten Friedensjahr 1913 bezogen 1,1 Millionen Rentner und Rentnerinnen eine Rente aus der Invalidenversicherung. In den weitaus meisten Fällen führte eine vorzeitige Arbeitsunfähigkeit zur Verrentung; nur wenige Arbeiter und Arbeiterinnen warteten auf das Rentenalter von siebzig Jahren. 91 Prozent der Rentner und Rentnerinnen erhielten eine Invalidenrente, acht Prozent eine Altersrente und ein Prozent eine Krankenrente. Das durchschnittliche Rentenalter war 1913 auf 57 Jahre zurückgegangen.274 Die harten Arbeitsbedingungen der Zeit hatten zur Folge, dass Arbeiter und Arbeiterinnen am Ende ihres Erwerbslebens von weit schlechterer Gesundheit waren als die Angehörigen anderer Klassen und Schichten.275 Durch den Übergang der Mitglieder in höhere Lohnklassen und Beitragsklassen stiegen die Renten parallel zur Entwicklung der Einkommen an. 1913 betrug die 271 Reichstagssitzung vom 14. Januar 1904. Verhandlungen des Reichstages, 11. Legislaturperiode, 1. Session 1903 – 1904, Bd. 1, S. 268. 272 Barbara Bichler, Die Formierung der Angestelltenbewegung im Kaiserreich und die Entstehung des Angestelltenversicherungsgesetzes von 1911, Frankfurt am Main 1997. 273 Versicherungsgesetz für Angestellte vom 20. Dezember 1911. RGBl. 1911, S. 989 – 1061. 274 Conrad, Vom Greis zum Rentner (wie Anm. 58), S. 336. 275 Reinhard Spree, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod, Göttingen 1981.

V. Alter

173

Durchschnittsrente 16 Mark im Monat; das entsprach 23 Prozent des durchschnittlichen Monatslohns.276 Trotz der großen Verbreitung und des Anstiegs des Rentenniveaus galt die Rente aber immer noch als eine Teilversorgung, die durch andere Alterseinkommen ergänzt werden sollte: „Es muß der Verantwortlichkeit und der Vorsorge des einzelnen überlassen werden, selbst für die Erhöhung seiner späteren Bezüge zu sorgen“.277 Der Beitrag blieb im Durchschnitt der verschiedenen Beitragsklassen bei zwei Prozent des Lohns. Dieser bescheidene Beitrag reichte aus, um die laufenden Renten zu finanzieren und darüber hinaus allmählich einen Kapitalstock aufzubauen. Bis 1913 hatte die Rentenversicherung ein Kapital von 2,1 Milliarden Mark angesammelt, das überwiegend in öffentlichen Anleihen angelegt war.278

3. Die Struktur der Alterseinkommen a) Berufliche Altersversorgung Zur beruflichen Altersversorgung gehörten vor allem die staatlichen Pensionssysteme und die betriebliche Alterversorgung. Auch die Knappschaftsversicherung der Bergleute wurde zur beruflichen Altersversorgung gerechnet, bis sie in die Sozialversicherung integriert wurde. Verbreitungsgrad, Zuverlässigkeit und Leistungsniveau der verschiedenen Systeme waren sehr unterschiedlich. Die öffentlichen Pensionssysteme, die im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts in den verschiedenen deutschen Territorien, in den Kommunen und nach 1871 im Deutschen Reich eingerichtet wurden, waren unter dem Gesichtspunkt der Verlässlichkeit und des Leistungsniveaus die beste Alterssicherung. Die staatlichen Pensionen wurden nach der Höhe der Beamtengehälter und der Dauer der Dienstzeit berechnet. Nach der preußischen Pensionsregelung von 1872, die im wesentlichen für die Reichsbeamten übernommen wurde, erreichten die Pensionen wie schon früher nach fünfzig Jahren 75 Prozent des letzten Gehalts. Zum ersten Mal in Deutschland wurde 1876 in Sachsen ein Pensionsalter von 65 Jahren eingeführt. Mit diesem Alter konnten Beamte ohne Nachweis der Dienstunfähigkeit auf eigenen Wunsch in den Ruhestand treten, oder auch in den Ruhestand versetzt werden. Seit 1886 konnten Beamte in Preußen und im Reich unabhängig von einer individuellen Prüfung der Dienstfähigkeit mit 65 Jahren in den Ruhestand treten, aber nicht in den Ruhestand versetzt werden. Für die Versorgung von Witwen und Waisen waren in den An276 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1915, S. 380 – 384; Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes, 31 (1915), S. 156, 299; Hohls, Arbeit und Verdienst (wie Anm. 40), S. 88. 277 Mewes, Reichsinvalidenversicherung (wie Anm. 235), S. 198. 278 Mewes, Reichsinvalidenversicherung (wie Anm. 235), S. 215; Zschimmer, Paul, Der Wiederaufbau der deutschen Invalidenversicherung 1924 / 26, in: Die Reichsversicherung, 1 (1927), S. 6 – 11.

174

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

fangsjahren des Kaiserreichs noch Versicherungskassen vorgesehen. Im Reich wurde 1881 und in Preußen 1882 eine staatliche Versorgung der Witwen und Waisen eingeführt. Zunächst waren die Beamten durch Pflichtbeiträge an der Finanzierung der Hinterbliebenenversorgung beteiligt. 1888 wurde im Reich und in Preußen die Hinterbliebenenversorgung in das Pensionssystem übernommen, und die eigenen Beiträge der Beamten wurden abgeschafft. Das Witwengeld betrug zunächst ein Drittel der Pension, 1897 wurde es auf vierzig Prozent der Pension erhöht. Die Hinterbliebenenversorgung sollte eine Mindestsicherung darstellen. Man ging davon aus, dass die Witwen der unteren Beamten ihr Einkommen durch Erwerbstätigkeit verbesserten, die Witwen der höheren Beamten durch Vermögenserträge. Die Pensionssysteme blieben auf die Beamten beschränkt, für die Altersvorsorge der Arbeiter und Angestellten von Reich, Ländern und Gemeinden wurde die öffentliche Rentenversicherung zuständig.279 Das wirtschaftliche Wachstum und die zunehmende Zahl der Großunternehmen begünstigten in der Zeit des Kaiserreichs einen Ausbau der betrieblichen Altersversorgung. Die Knappschaftsversicherung der Bergleute wurde zunächst der betrieblichen Altersversorgung zugeordnet. Nach der Sozialreform von 1881 – 1889 wurde die Knappschaftsversicherung in die Sozialversicherung integriert und wurde institutionell entsprechend umgestaltet. Die Alters- und Invalidenversicherung der Bergleute und die damit verbundene Hinterbliebenenversorgung gehören seitdem zur öffentlichen Rentenversicherung.280 Die Versicherungsunternehmen waren schon bei der Einführung der betrieblichen Altersversorgung führend gewesen, und auch im Kaiserreich war in dieser Branche die betriebliche Altersversorgung weit verbreitet. In der Industrie richteten vor allem Großbetriebe oder besonders innovative Unternehmen aus Wachstumsbranchen, die mit stetigen Gewinnen rechneten, eine betriebliche Altersversorgung ein. Kleine und mittlere Unternehmen boten selten eine betriebliche Altersversorgung an, weil sie ein aufwendiges und langfristiges Programm war. Die früher übliche allgemeine Zusage von Unterstützungen in Notfällen wurde nach dem Vorbild der Sozialversicherung institutionell nach den verschiedenen Unterstützungsleistungen differenziert. Es gab verschiedene institutionelle Formen der betrieblichen Altersversorgung. Als sozialpolitisches Leitbild galten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die selbständigen Pensionskassen. Sie konnten für einen oder für mehrere Betriebe gegründet werden. Pensionskassen galten als Versicherungen und waren als Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit oder als Aktiengesellschaft organisiert. Seit 1901 unterlagen sie der Versicherungsaufsicht. Beiträge und Renten waren nach dem Versicherungsprinzip begründet und verbindlich festgelegt. Manche Kassen wurden allein von dem Betrieb finanziert, meistens wurden die Beiträge aber zu gleichen Teilen von den Beschäftigten und dem Unternehmen getragen, und manchmal Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 124 – 128. Martin H. Geyer, Die Reichsknappschaft. Versicherungsformen und Sozialpolitik im Bergbau, München 1987. 279 280

V. Alter

175

zahlten die Arbeiter auch zwei Drittel der Beiträge. Bei den von Adolf Günther zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts untersuchten Pensionskassen betrugen die Beiträge meistens acht bis zehn Prozent der Löhne und Gehälter und wurden von den Unternehmen und den Beschäftigten zu gleichen Teilen aufgebracht. Das Versicherungskapital wurde in den Unternehmen selbst, bei Banken und Sparkassen, in Hypothekenkrediten oder in Staatsanleihen angelegt.281 Die Pensionskassen betonten zwar die Verbindung zum Unternehmen, die ein wichtiges Motiv für die Einrichtung einer betrieblichen Altersversorgung war, aber sie stellten verlässliche Renten in Aussicht und hatten eine gewisse Selbständigkeit gegenüber der Unternehmensleitung. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gab es allerdings nur achtzig Werkspensionskassen von einiger Bedeutung.282 Enger an den Betrieb gebunden waren die betrieblichen Unterstützungskassen. Sie waren in der Form einer Stiftung, eines eingetragenen Vereins oder einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung organisiert. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen hatten keinen Rechtsanspruch auf eine bestimmte Betriebsrente, sondern die Leistungen hingen von den finanziellen Möglichkeiten der Kasse ab. Die Beiträge wurden wie bei den Pensionskassen von dem Betrieb und den Beschäftigten gemeinsam, oder auch alleine von dem Betrieb aufgebracht. Die einfachste institutionelle Form war die innerbetriebliche Altersversorgung. Die Invaliditäts- oder Altersrenten wurden unmittelbar aus Unternehmensmitteln gezahlt. Viele Unternehmen zogen diese Form der betrieblichen Versorgung vor, weil sie die Kontrolle über die Rentenzusagen behielten und weil die Bindung der Beschäftigten an den Betrieb am deutlichsten zum Ausdruck kam. Im späten neunzehnten Jahrhundert kamen als neue Form der betrieblichen Altersversorgung Gruppenversicherungen auf, die für die Beschäftigten eines Betriebes bei einem Versicherungsunternehmen abgeschlossen wurden. Die Beiträge konnten von dem Unternehmen und den Beschäftigten gemeinsam, oder auch ausschließlich von dem Betrieb gezahlt werden. Schließlich gab es nach der Gründung der Invaliditäts- und Altersversicherung die Möglichkeit, dass Betriebe für ihre Beschäftigten eine Zusatzversicherung in der öffentlichen Rentenversicherung abschlossen.283 Nach der Einführung der Invaliditäts- und Altersversicherung veränderte sich die Funktion der betrieblichen Altersversorgung für die sozialversicherungspflich281 Adolf Günther, Die Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber in Deutschland. Schriften des Vereins für Socialpolitik 114, Leipzig 1905. 282 Adolf Günther, Werkspensionskassen, Knappschaftskassen und ähnliche Einrichtungen in ihrer Bedeutung für das Geld- und Kreditwesen, in: Untersuchungen über das Volkssparwesen, Bd. 3. Schriften des Vereins für Socialpolitik 137 / 3, München 1913, S. 158 – 163. 283 Helga Graef, Die betriebliche Altersvorsorge. Historischer Ursprung, rechtliche Entwicklung und sozialpolitische Bedeutung im Lichte der Rentenreform, Düsseldorf o. J. (1960); Hartig, Alterssicherung in der Industrialisierung (wie Anm. 242), S. 60 – 73; Horst Wessel, Probleme der Altersversorgung im 19. Jahrhundert und Ansätze ihrer Bewältigung. Das Beispiel betrieblicher Sozialpolitik, in: Christoph Conrad / Hans-Joachim Kondratowitz, Hg., Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer sozialgeschichtlichen Betrachtung des Alters, Berlin 1983.

176

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

tigen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen von der Grundsicherung zu einer Zusatzversorgung. Für die mittleren und leitenden Angestellten, die nicht von der Sozialversicherung erfasst wurden, blieben die Betriebsrenten die Grundlage der Alterssicherung. Das Niveau der Betriebsrenten war sehr unterschiedlich, von bescheidenen Beträgen bis zu den vergleichsweise guten Renten der höheren Angestellten. Bei einer Auswahl von etwas über hundert Werkspensionskassen aus der Zeit von 1891 bis 1913 lagen bei 34 Kassen die Betriebsrenten im Durchschnitt über den Renten der Sozialversicherung, bei 56 Kassen entsprachen die Betriebsrenten den Sozialversicherungsrenten, und nur bei zwölf Kassen waren die Betriebsrenten niedriger als die Sozialversicherungsrenten.284 Ein Grundproblem war, dass die betriebliche Altersvorsorge an das Unternehmen gebunden war und bei einem Wechsel des Arbeitsplatzes, der in jener Zeit häufig vorkam, verloren ging.285 Die Unterstützungskasse der Firma Krupp, die 1855 gegründet worden war, wurde 1883 – 1885 nach dem Vorbild der Sozialversicherung in eine Krankenkasse und eine Pensionskasse aufgeteilt. Alle Beschäftigten mit Ausnahme der leitenden Angestellten waren zur Mitgliedschaft in der Pensionskasse verpflichtet. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen hatten im allgemeinen nach zwanzig Jahren, bei besonders schwerer Arbeit schon nach 15 Jahren Betriebszugehörigkeit, Anspruch auf eine Betriebsrente, wenn sie nicht mehr arbeitsfähig waren. Nachdem die Zahl der Rentner und die Rentendauer zunahmen, wurden die Renten nicht mehr in der gleichen Höhe wie in den Anfangsjahren des betrieblichen Pensionssystems gewährt. Die Rente betrug mindestens vierzig Prozent des letzten Arbeitslohns und stieg mit längerer Betriebszugehörigkeit, bis sie nach 43 Jahren maximal 75 Prozent des Lohns erreichen konnte. Die Renten der Sozialversicherung wurden teilweise auf die Betriebrenten angerechnet, und die Gesamtrente sollte 75 Prozent des Arbeitslohns nicht übersteigen. Seit 1899 wurde den Beschäftigten im Alter von 65 Jahren ohne Invaliditätsprüfung eine Altersrente gewährt. Die Beiträge wurden seit 1891 nach dem Modell der öffentlichen Rentenversicherung von den Beschäftigten und dem Unternehmen zu gleichen Teilen gezahlt. Arbeitnehmer, die den Betrieb wechselten, verloren ihre Rentenansprüche, obwohl sie eigene Beiträge geleistet hatten. Nach mehreren Protesten und Gerichtsverfahren erhielten Arbeiter seit 1912 beim Verlassen des Betriebs einen Teil der Beiträge zurückerstattet.286 Das Elektrounternehmen Siemens gründete 1872 eine Pensionskasse für Arbeiter und Angestellte. Die Beschäftigten hatten nach zehnjähriger BetriebszugehörigWessel, Probleme der Altersversorgung (wie Anm. 283), S. 461 – 467. Wolfram Fischer, Die Pionierrolle der betrieblichen Sozialpolitik im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Hans Pohl, Hg., Betriebliche Sozialpolitik deutscher Unternehmer seit dem 19. Jahrhundert, Stuttgart 1978; Günther Schulz, Betriebliche Sozialpolitik in Deutschland seit 1850, in: Hans Pohl, Hg., Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1991. 286 Vera Stercken / Reinhard Lahr, Erfolgsbeteiligung und Vermögensbildung der Arbeitnehmer bei Krupp von 1811 bis 1945, Stuttgart 1992, S. 66 – 83. 284 285

V. Alter

177

keit Anspruch auf eine Invalidenrente. Die Betriebsrenten wurden ausschließlich von dem Unternehmen finanziert. Die Höhe der Rente hing von dem Lohn oder Gehalt und von der Dauer der Betriebszugehörigkeit ab. Die Renten betrugen anfangs für Arbeiterinnen 15 Mark bis 36 Mark monatlich, für Arbeiter 24 Mark bis sechzig Mark und für Angestellte 48 Mark bis 120 Mark. Seit 1891 wurden die Renten der öffentlichen Rentenversicherung teilweise auf die Pension angerechnet. Die Betriebsrenten der Firma Siemens waren trotzdem wesentlich höher als die Sozialversicherungsrenten. 1910 betrugen die Arbeiterrenten im Durchschnitt 43 Mark im Monat, die Angestelltenrenten 105 Mark. Im Durchschnitt entsprach die Arbeiterrente 34 Prozent des Lohns.287 b) Individuelle Vermögensbildung Die kapitalistische Entwicklung hatte zur Folge, dass sich die Vermögensbildung aus dem Zusammenhang der Familienökonomie löste. Das galt auch für die Alterssicherung. Das Leitbild der bürgerlichen Daseinsvorsorge und insbesondere auch der Altersvorsorge wurde die individuelle Vermögensbildung in Form von Geldvermögen oder Immobilienvermögen. Die Sparkassen sollten das bürgerliche Ideal des Sparens in die Arbeiterklasse tragen, auch für die Altersvorsorge. Trotz der steigenden Reallöhne blieben die individuellen Sparguthaben in der Zeit des Kaiserreichs im allgemeinen aber für eine wirksame Alterssicherung viel zu gering.288 Die Sparform, bei der die Alterssicherung oder die Sicherung der Hinterbliebenen im Vordergrund standen, war die Lebensversicherung. Versicherungsunternehmen wurden im neunzehnten Jahrhundert als Aktiengesellschaften oder als Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit gegründet. Zu der traditionellen Kapitalversicherung, die beim Tod des Versicherungsnehmers ein Kapital zur Versorgung der Hinterbliebenen bereitstellen sollte, trat seit dem späten neunzehnten Jahrhundert die Rentenversicherung. In der Rentenversicherung wurde aus der Rendite und der Tilgung des Anfangskapitals eine lebenslange Rente ermittelt, die sich an der statistischen Lebenserwartung orientierte. Wenn das Versicherungsunternehmen verlässlich war und die Rahmenbedingungen stabil blieben, konnten die Versicherten mit einem sicheren Alterseinkommen bis zum Tode rechnen. Die Funktion der Lebensversicherung war der Risikoausgleich zwischen kürzeren Lebenszeiten und längeren Lebenszeiten. Da die Renten nach der durchschnittlichen Lebenserwartung und nicht nach der maximalen Lebenserwartung errechnet wurde, konnten die Versicherungen eine relativ günstige Alterssicherung bieten. Ein Rentner, der seinen Ruhestand aus individuellen Vermögenserträgen finanzieren wollte, würde ein wesentlich größeres Kapital brauchen, wenn er nicht riskieren wollte, am Ende seines Lebens mittellos zu werden. Häufig wurden die neuen Rentenversicherungen in Verbindung mit einer Kapitalversicherung angeboten. 287 Christoph Conrad, Erfolgsbeteiligung und Vermögensbildung der Arbeiter bei Siemens (1847 – 1945), Stuttgart 1986, S. 101 – 111. 288 Hartig, Alterssicherung in der Industrialisierung (wie Anm. 242), S. 90 – 116.

12 Hardach

178

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

In der Erwerbsphase wurde mit der Kapitalversicherung ein Geldvermögen aufgebaut, das nach dem Übergang in den Ruhestand in eine Rentenversicherung eingebracht und in regelmäßigen Annuitäten aufgebraucht wurde.289 Die Einführung der öffentlichen Rentenversicherung bedeutete für die privaten Lebensversicherung zunächst keine Konkurrenz, da private Rentenversicherungen noch neu waren und sich nur an ein bürgerliches Publikum richteten. Die Folgen waren im Gegenteil für die Versicherungsunternehmen eher günstig, da die öffentliche Rentenversicherung den Versicherungsgedanken in der Bevölkerung verbreitete. In den neunziger Jahren entdeckten die Versicherungsunternehmen das „Kleinlebensgeschäft“ für Kunden und Kundinnen aus der Arbeiterklasse.290 Die Lebensversicherung entwickelte sich allmählich von einem „Luxusgut“ zu einem alltäglichen „Gebrauchsgut“.291 Als 1911 die Angestelltenversicherung eingeführt wurde, kamen bei vielen privaten Versicherungsunternehmen Bedenken auf, weil sie die Angestellten zu ihrer Stammkundschaft rechneten. Auch in diesem Fall waren die Besorgnisse jedoch unbegründet.292 R. Mueller, Direktor der Gothaer Lebensversicherung, und E. Mittermüller wiesen 1913 darauf hin, dass die staatliche Versicherung den Versicherungsgedanken verbreitet hatte und damit auch die Expansion der privaten Lebensversicherung förderte.293 Von zentraler Bedeutung war die Verlässlichkeit der langfristigen Zusagen der Versicherungsunternehmen. Das Publikum konnte weder die Bonität der einzelnen Unternehmen, noch die Entwicklung des Kapitalmarktes einschätzen. Während die Versicherungsunternehmen argumentierten, dass der Markt für eine ausreichende Kontrolle sorgte, wollte der Staat die Lebensversicherungen einer besonderen Kontrolle unterstellen, um das Publikum zu schützen. Schon 1873 wurde in dem Entwurf für ein Versicherungsgesetz auf das Problem der langfristigen Sicherheit hingewiesen. Die Versicherungsgesellschaften schlossen Lebensversicherungen in so großem Umfang ab, „dass ein Bruch des in sie gesetzten Vertrauens den wirthschaftlichen Ruin von Tausenden zur Folge haben kann“, hieß es in der Begründung des Gesetzentwurfs. Zur Abwehr dieser Gefahr brauche man gesetzliche Regelungen um so mehr, „als gerade bei den Versicherungsanstalten das Publikum 289 Ludwig Arps, Auf sicheren Pfeilern. Deutsche Versicherungswirtschaft vor 1914, Göttingen 1965, S. 141 – 161; Peter Borscheid, Die Entstehung der deutschen Lebensversicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert. Zum Durchsetzungsprozeß einer Basisinnovation, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 70 (1983); Heinrich Braun, Geschichte der Lebensversicherung und der Lebensversicherungstechnik, Berlin 1963, S. 270 – 289, 342 – 363; Hartig, Alterssicherung in der Industrialisierung (wie Anm. 242), S. 73 – 90. 290 Peter Borscheid, Mit Sicherheit leben. Die Geschichte der deutschen Lebensversicherungswirtschaft und der Provinzial-Lebensversicherung von Westfalen, 2 Bde., Greven 1989, Bd. 1, 54 – 61; R. Mueller / E. Mittermüller, Lebensversicherung, in: Heinz Potthoff, Hg., Untersuchungen über das Versicherungswesen in Deutschland. Schriften des Vereins für Socialpolitik 137 / 4, München 1913, S. 26 – 28. 291 Peter Borscheid, Hundert Jahre Allianz 1890 – 1990, München 1990, S. 14. 292 Braun, Geschichte der Lebensversicherung (wie Anm. 289), S. 359 – 360. 293 Mueller / Mittermüller, Lebensversicherung (wie Anm. 290), S. 26.

V. Alter

179

in höherem Grade, wie bei anderen Unternehmungen, Täuschungen ausgesetzt ist, da die Beurtheilung der Solidität derselben ein hierfür geübtes Auge fordert“, meinten die Experten. „Vorzüglich“ gelte das Risiko für die Lebensversicherungen, „weil sie ihrem Hauptzwecke nach der Alters-, Wittwen- und Waisenversorgung dienen“. Die Verpflichtungen wickelten sich nicht in verhältnismäßig kurzen Fristen ab, „sondern gewöhnlich in vieljährigen, mitunter ein Menschenleben umfassenden Perioden“. Wird eine Gesellschaft unfähig zur Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen, „so ist der Schaden für die älteren Versicherten meist irreparabel“.294 Die Diskussion über das Versicherungsgesetz wurde durch die Einführung der öffentlichen Rentenversicherung unterbrochen, lebte aber in den neunziger Jahren wieder auf. 1901 wurde eine Reichsaufsicht über die Versicherungen eingeführt, 1908 wurden strenge gesetzliche Anforderungen an die Versicherungsverträge definiert. Die staatliche Aufsicht sollte die langfristige Stabilität der Lebensversicherungen sichern und gilt unter diesem Aspekt auch als erfolgreich.295 Allerdings schützte die staatliche Kontrolle nicht davor, dass der Staat selbst in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in zwei Inflationen die Lebensversicherungen ruinierte. Neben die Aktiengesellschaften und Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit traten seit 1910 öffentliche Lebensversicherungen, die von den Landschaften, Provinzialverbänden und anderen regionalen Institutionen errichtet wurden. Ein wesentliches Motiv war, dass der Staat die Bedeutung der Lebensversicherungen als Kapitalsammelstellen erkannt hatte. Konservative Politiker forderten wiederholt, dass die Versicherungsunternehmen ihr Versicherungskapital nicht nur in städtischen Hypotheken anlegen, sondern auch der Landwirtschaft Kredit gewähren sollten. Nachdem diese Forderungen keinen Erfolg hatten, da die Versicherungsunternehmen den städtischen Hypothekarkredit für rentabler und zugleich auch sicherer hielten, sollten die öffentlichen Lebensversicherungen die Versicherungsbereitschaft des Publikums für den ländlichen Kredit nutzen. Obgleich es primär um die Nutzung des Versicherungskapitals ging, warben die öffentlichen Lebensversicherungen zugleich auch mit dem Argument der größeren Verlässlichkeit, wenn die Versicherungsbeiträge bei einer staatlichen Anstalt angelegt würden. Unterstützt durch das Prestige, das sie als staatliche Einrichtungen genossen, konnten die öffentlichen Versicherungen besonders in der ländlichen Bevölkerung neue Interessenten für die Lebensversicherung gewinnen.296 Die Bedeutung der Lebensversicherung als Ergänzung zur öffentlichen Rentenversicherung wurde auch in der Arbeiterbewegung erkannt. 1911 gründeten die 294 Entwurf eines Gesetzes, betreffend den Betrieb von Versicherungsgesellschaften, 3. April 1973. BArchB R 1401 / 1540. 295 Dieter Farny, Entwicklungslinien, Stand und wirtschaftliche Bedeutung des Versicherungswesens in Deutschland, in: Friedrich-Wilhelm Henning, Hg., Entwicklung und Aufgaben von Versicherungen und Banken in der Industrialisierung, Berlin 1980, S. 13. 296 Arps, Auf sicheren Pfeilern (wie Anm. 289), S. 595 – 597; Borscheid, Mit Sicherheit leben (wie Anm. 290), Bd. 1, S. 63 – 88.

12*

180

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Freien Gewerkschaften und die Konsumvereine gemeinsam eine eigene Versicherungsgesellschaft, die „Volksfürsorge“. Sie versprach, die individuelle Altersvorsorge der Arbeiterfamilien sparsamer und zuverlässiger zu organisieren als die Aktiengesellschaften, Versicherungsvereine oder staatlichen Versicherungen. Die Gründung einer sozialistischen Lebensversicherung erregte erhebliches Aufsehen. Um der neuen Konkurrenz entgegenzuwirken, gründete die Versicherungswirtschaft eine patriotische „Deutsche Volksversicherungs-AG“, die von mehreren Aktiengesellschaften und Versicherungsvereinen gemeinsam getragen wurde.297 Die Situation der Lebensversicherungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs war durch eine weite Verbreitung, aber bescheidene Sparbeträge charakterisiert. 1913 gab es 44 private Lebensversicherungsunternehmen und sieben öffentlich-rechtliche Lebensversicherungen. Sie hatten zusammen einen Bestand von zwölf Millionen Verträgen. Der größte Teil der Policen bestand aus kleinen Kapitalversicherungen. Lebensversicherungen über eine kontinuierliche Rente waren aufgrund der hohen Kosten noch relativ selten. Die private Lebensversicherung war bestenfalls eine Ergänzung, aber keine Alternative zur öffentlichen Rentenversicherung. Die durchschnittlichen Versicherungssumme betrug 1294 Mark.298 c) Familiale Altersversorgung Die familiale Altersversorgung blieb vor allem für die selbständigen Landwirte wichtig. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts gewannen rechtliche Regelungen des Altenteils an Bedeutung. Es wurde üblich, dass die ältere Generation ihre Versorgungsansprüche sorgfältig aushandelte und oft auch durch Eintragung in das Grundbuch sicherte. Die Vorsicht war durchaus angebracht, denn es gab häufig Streit um das Altenteil, bis hin zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Wo das Anerbenrecht vorherrschte, übergab das ältere Bauernpaar den gesamten Besitz an den Erben. Ein regionales Beispiel war Oberbayern; dort war es im späten neunzehnten Jahrhundert üblich, dass die Eltern noch zu Lebzeiten den Hof an den ältesten Sohn, manchmal auch an die älteste Tochter übergaben. Das Altenteil, dort als „Austrag“ bezeichnet, wurde als Hypothek eingetragen. Die Eltern blieben auf dem Hof des Sohnes oder der Tochter. Sie erhielten genau bestimmte Geldzahlungen und ein Deputat an Naturalien, „und der Vater betheiligt sich, so lange er arbeitsfähig ist, nach Belieben noch an den Arbeiten der Wirthschaft“.299 Im südlichen Holstein wurden die Hofübergabe und die Alterssicherung im neunzehnten Jahrhundert durch die fortgeschrittene Marktorientierung der Landwirtschaft versachlicht. Wenn die Eltern sich auf das Altenteil zurückzogen, verArps, Auf sicheren Pfeilern (wie Anm. 289), S. 590 – 595. Peter Borscheid / Anette Drews, Versicherungsstatistik Deutschlands 1750 – 1985, St. Katharinen 1988, S. 68. 299 Ranke, Drei Bauerngemeinden in der Umgebung Münchens (wie Anm. 172), S. 274. 297 298

V. Alter

181

kauften sie dem Anerben, der meistens der jüngste Sohn war, den Hof. Die nicht erbenden Kinder erhielten eine Abfindung. Der Kaufpreis wurde nicht ausgezahlt, sondern blieb als hypothekarisch gesicherter Kredit im Betrieb. Das Alterseinkommen bestand in den Hypothekenzinsen, die von dem neuen Eigentümerpaar an die Eltern gezahlt wurden. Der Verkauf zwischen den Generationen zeigt anschaulich den Doppelcharakter des Altenteils, das einerseits eine solidarische Beziehung, andererseits aber auch eine ökonomische Transaktion war.300 Nicht nur bäuerliche Eigentümer, sondern auch Pächter wurden im Alter durch das Altenteil versorgt. In Mecklenburg konzentrierte sich nach den Agrarreformen der Landbesitz auf Großgrundbesitzer und staatliche Domänen. Die Bauern bewirtschafteten ihre Höfe als Zeitpächter oder Erbpächter. Die Höfe wurden im späten neunzehnten Jahrhundert geschlossen an den Erben oder einen anderen Nachfolger übergeben. Das Altenteil wurde bei der Übergabe vom Gutsbesitzer mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der Alten und die Leistungsfähigkeit des Hofes festgesetzt.301 In Realteilungsgebieten waren die Bedingungen, nach der Formulierung aus einem zeitgenössischen Bericht, „je nach Vermögen, Brauch und persönlichem Belieben sehr verschieden“.302 In Nordhessen wurden die Altenteiler, die dort Auszüger oder Leibzüchter genannt wurden, meist im Haushalt der Kinder versorgt; sie „behalten nur bis ins Kleinste vertragsmäßig stipulierte Geld, Frucht-, Milch-, Eier, Fleisch- und Wolleabgaben neben der erforderlichen Wohnung, Feuerung, Beleuchtung und einem kleinen Gemüsegarten vor. Sie übernehmen ihrerseits die Pflicht, sich in der Wirtschaft des Übernehmers nach Kräften nützlich zu machen. Abgesehen von vielen rühmlichen Ausnahmen, ist das durch derartige, häufig noch bei verhältnißmäßig gutem Alter der Gutsbesitzer geschlossene Uebergabeverträge herbeigeführte Familienverhältniß vielfach kein gutes. Namentlich in ärmeren Gegenden und bei kleineren Gütern, welche zur Ernährung von zwei Familien nicht recht ausreichen, sind gerichtliche Klagen auf bessere Erfüllung der Verträge häufig“. Besser war es nach Ansicht des Beobachters, wenn die Altenteiler etwas Land behielten, das sie von den Kindern bewirtschaften ließen; „die Frage der Größe und Beschaffenheit des Altentheils giebt ebenfalls zu Streit und Missgunst Veranlassung genug, im Allgemeinen macht sich aber, wo diese Uebung heimisch, ein besseres Familienverhältniß bemerkbar“.303 In den kleinbäuerlichen 300 Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt, Generationswechsel, Vererbung und Heiratsverhalten der bäuerlichen Bevölkerung in den holsteinischen Elbmarschen 1650 – 1950, in: Martin Rheinheimer, Hg., Der Durchgang durch die Welt. Lebenslauf, Generationen und Identität in der Neuzeit, Neumünster 2001. 301 H. Paasche, Die rechtliche und wirthschaftliche Lage des Bauernstandes in Mecklenburg-Schwerin, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 3. Schriften des Vereins für Socialpolitik 24, Leipzig 1883, S. 356. 302 Heim, Bäuerliche Verhältnisse in Sachsen-Meiningen (wie Anm. 212), S. 9. 303 Von Baumbach, Die bäuerlichen Verhältnisse im Regierungsbezirk Kassel, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883, S. 117.

182

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

Betrieben des Westerwaldes wurden die Eltern im allgemeinen nach der Besitzübergabe von den Kindern gemeinsam versorgt. Manchmal zogen sie zu einem Haupterben, der von den Geschwistern dafür einen Ausgleich erhielt, oder sie behielten etwas Land zurück, um für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Es kam auch vor, dass ein älteres Bauernpaar den Hof an familienfremde Nachfolger verpachtete und seine Altersversorgung aus den Pachteinnahmen bezog.304 Nach dem Bericht des Oekonomie-Commissars Dittenberger aus Thüringen behielten sich die Eltern „ihre Alimentation, meistens in Wohnung, Naturalien oder Nutzung bestimmter Grundstücke bestehend, vor. Das Altentheil wird wohl in der überwiegenden Mehrzahl von Fällen hypothekarisch sicher gestellt, es sind jedoch Streitigkeiten über Erfüllung der Verpflichtungen der Kinder gegenüber den Eltern nicht gerade selten“.305 Nach einem anderen Bericht aus Thüringen lebten die Altenteiler entweder im Haushalt der Kinder, oder sie erhielten Naturalleistungen und auch ein Taschengeld zur Führung eines eigenen Haushalts, oder sie behielten einen Teil des Landes, der dann von den Kindern zu bewirtschaften war.306 Es kam auch vor, dass die Eltern von einem Haushalt zum anderen weitergereicht wurden. „Unter ärmlichen Verhältnissen erhält der Abtreter Verköstigung am Tische des Uebernehmers, manchmal nur den Wohnsitz im Hause, häufig ohne eigenes Wohnund Schlafgemach; zuweilen wechselt Wohnsitz und Verpflegung reihum bei den Kindern“.307 Die Drei-Generationen-Familie, die im Rückblick zuweilen als Inbegriff der Solidarität verklärt wird, war im Alltag mancherlei Spannungen ausgesetzt. Das enge Zusammenleben der Generationen in ärmlichen Haushalten wird immer wieder als Quelle für Konflikte genannt. Der Pfarrer Bungeroth aus Altenkirchen am Rande des Westerwaldes berichtete, dass die Altenteiler früher meistens mit der Familie des ältesten Sohnes zusammenlebten, der das elterliche Haus übernahm. Neuerdings zögen die Alten es aber vor, so lange wie möglich ihren eigenen Haushalt zu führen.308 Durchweg fiel in den Realteilungsgebieten die Alterssicherung recht dürftig aus. Über die Altersversorgung im Westerwaldkreis hieß es im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert: „Das Altentheil wird in der Weise regulirt, daß der Übergeber sich einen Sitz im Hause und einige Äcker reservirt, häufig auch noch, falls nämlich kein Capitalvermögen vorhanden ist, einen sog. Nothpfennig von 400 – 600 Mark Hümmerich, Bäuerliche Verhältnisse im Unterwesterwaldkreis (wie Anm. 176), S. 175. Dittenberger, Die bäuerlichen Verhältnisse des Eisenacher Unterlandes, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883, S. 71. 306 Oekonomie-Commissar Gau, Die bäuerlichen Verhältnisse im Eisenacher Oberlande des Großherzogthums Sachsen, speciell in den Amtsgerichtsbezirken Lengsfeld und Kaltennordheim, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883, S. 53 – 54. 307 Heim, Bäuerliche Verhältnisse in Sachsen-Meiningen (wie Anm. 212), S. 9. 308 Pfarrer Bungeroth, Die bäuerlichen Verhältnisse in der Bürgermeisterei Altenkirchen, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883, S. 183 – 184. 304 305

V. Alter

183

auf das Immobiliarvermögen, zumeist auf die Gebäulichkeiten, eintragen läßt. Die ,Aushälter‘ befinden sich durchweg in beschränkter Lage“.309 Der „Notpfennig“ entsprach etwa dem Jahreseinkommen einer Kleinbauernfamilie. Gab es keine anderen Einnahmen, so war diese Reserve bald aufgezehrt. Der Sohn oder die Tochter, die sich um die Eltern kümmerten, erhielten im allgemeinen von den Geschwistern einen Ausgleich. „In einzelnen Districten hat das ins Haus zu den Eltern ziehende Kind den Vortheil vor den übrigen Geschwistern, daß es den Unterhalt besorgt aus der Bewirtschaftung der Leibzucht, da dieselben meistens mit der Familie ,aus einem Topf‘ essen, meistens auch sich bis an ihr nahes Ende sich im Hause durch vielfältige Arbeit recht verdient machen, so ist ein Gewinn dabei, ,ins elterliche Haus zu heirathen‘“.310 Das Altenteil bedeutete für die Kleinbetriebe oft eine relative große Belastung und war „jedenfalls eine Quelle zu viel Verdruß und Streit, zuweilen auch zu Rechtshändeln“.311 Auch in der städtischen Mittelklasse konnte ein Familienbetrieb die Grundlage der Altersversorgung bilden. Eltern übergaben den Besitz den erwachsenen Kindern und wurden dann aus den Erträgen des Betriebes versorgt. Diese Kontinuität war allerdings nur in den wenigen großen Handwerksbetrieben möglich. Die meisten Handwerksmeister kamen kaum über den Lebensstandard von Facharbeitern hinaus. Die Einkommen waren niedrig, der Besitz einer Wohnung oder Werkstatt war eher die Ausnahme, und die Geldvermögen waren bescheiden. Die monetären Transferleistungen mussten daher in der Regel aus dem Erwerbseinkommen der mittleren Generation erwirtschaftet werden.312 In der Arbeiterklasse blieb auch nach der Einführung der Invaliditäts- und Altersversicherung 1889 die familiale Solidarität eine wichtige Form der Alterssicherung. Im Ruhrgebiet lebte im späten Kaiserreich ein großer Teil der älteren Ehepaare, der Witwen und der Witwer bei den erwachsenen Kindern. Zeitgenössische Hinweise bestätigen eine „ohne Zweifel bedeutende Solidarität der Arbeiterfamilien gegenüber den Alten“.313 Im Südwesten der Rheinprovinz unterstützten im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert die erwachsenen Söhne, die in den benachbarten Saarbergbau abgewandert waren, ihre Eltern im Heimatdorf.314 Familiale Solidarität kam nicht nur in direkter Linie zwischen Eltern und Kindern vor. Karl Fischer, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im Alter von 61 Jahren seine Lebenserinnerungen schrieb, unterstützte in der Zeit, in der er ein regelmäßiges Einkommen hatte, eine alte Tante. Er selbst lebte im Alter halbinvalide, Hümmerich, Bäuerliche Verhältnisse im Unterwesterwaldkreis (wie Anm. 176), S. 170. Kartels, Lage des Bauernstandes in den Gebirgdistricten des Kreises Merzig (wie Anm. 177), S. 202. 311 Heim, Bäuerliche Verhältnisse in Sachsen-Meiningen (wie Anm. 212), S. 9. 312 Peter Borscheid, Geschichte des Alters. 16. – 18. Jahrhundert, Münster 1987, S. 219. 313 Reif, Soziale Lage und Erfahrungen des alternden Fabrikarbeiters (wie Anm. 110), S. 73. 314 Kartels, Lage des Bauernstandes in den Gebirgdistricten des Kreises Merzig (wie Anm. 177), S. 193 – 227. 309 310

184

3. Kap.: Die Konstituierung des bürgerlichen Generationenvertrages

ohne eine Rente zu beziehen, im Anhaltischen bei armen Verwandten, denen er ihr Gärtchen und das kleine Feld bestellte.315 Die Armut vieler Familien, aber auch die Mobilität der Arbeiter und Arbeiterinnen konnte allerdings zur Folge haben, dass die ältere Generation vernachlässigt wurde. Aus Nordhessen wurde im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert berichtet, dass die Jugendlichen in das Ruhrgebiet auswanderten, „oft unter Zurücklassung ihrer arbeitsunfähigen Angehörigen“.316 Auch unter den eingesessenen Arbeitern gab es neben der oft bewiesenen familialen Solidarität immer wieder Klagen, dass erwachsene Kinder ihre Eltern oder Schwiegereltern schlecht behandelten oder der Armenfürsorge überließen.317 d) Altersarmut Im Idealfall sollte eine Kombination der verschiedenen Einkommen aus der Altersarbeit, der beruflichen Altersversorgung, individuellen Ersparnissen, familialen Zuwendungen und der 1889 eingeführten öffentlichen Rentenversicherung ein ausreichendes Alterseinkommen gewährleisten. Das war aber keineswegs immer der Fall, wie etwa Max Webers Hinweis aus dem Jahr 1891 zeigt, dass Landarbeiter, die nicht auf den Gütern versorgt wurden, im Alter zum Betteln gezwungen wären.318 Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde das Alter immer noch mit großer Sorge gesehen, auch unter den Industriearbeitern, denen doch die öffentliche Rentenversicherung nutzen sollte. Fritz Schumann befragte 1910 in einer frühen betriebssoziologischen Untersuchung Arbeiter der Daimler-MotorenGesellschaft in Stuttgart-Untertürkheim, wovon sie zu leben gedächten, wenn sie nicht mehr arbeiten konnten. Die meisten Befragten, 44 Prozent, hielten ihre Situation im Alter für ganz ungewiss. Auf die Rentenversicherung vertrauten 18 Prozent. Immerhin sieben Prozent befürchteten, sich im Alter durch Hausieren oder Betteln ernähren zu müssen. Drei weitere Möglichkeiten, die Unterstützung durch die Ehefrau oder die Kinder, leichte Arbeiten, oder Ersparnisse, wurden von jeweils vier Prozent der Befragten angegeben. Die Furcht vor der Altersarmut, nicht die Erwartung eines gesicherten Ruhestandes, wird auch durch einzelne Antworten bestätigt. So schrieb ein Arbeiter in den Fragebogen: „Bin auf meine Kinder angewiesen, für welche ich auch gesorgt habe“. Ein anderer: „Wenn ich bei meinen Kindern nicht bleiben kann, muß mich die Stadt haben“; die „Stadt“ meinte die kommunale Armenfürsorge. Manche Arbeiter hofften auf eine Kombination verschiedener Altereinkünfte. So hieß es in einer Antwort: „Von Vervollkommnung der Alters- und Invalidenversicherung, etwas ererbtem Vermögen und durch even315 Karl Fischer, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Paul Göhre, Leipzig 1903. 316 Frankenstein, Ländliche Arbeitsverhältnisse in Hohenzollern (wie Anm. 81), S. 260. 317 Reif, Soziale Lage und Erfahrungen des alternden Fabrikarbeiters (wie Anm. 110), S. 73 – 89. 318 Weber, Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (wie Anm. 37), S. 129.

V. Alter

185

tuelle spätere Unterstützung meiner Kinder“. Andere Arbeiter bemerkten kurz: „Rente und Almosen“, oder „Rente und eventueller Nebenerwerb“. Sozialpolitische Zuversicht sprach aus der Antwort: „Hoffnung, daß die Rente höher wird durch Gesetz“.319 Marie Bernays fasste als Ergebnis der betriebssoziologischen Untersuchungen des Vereins für Socialpolitik zusammen, dass die Alters- und Invalidenrente von allen Arbeitern als „durchaus ungenügend“ betrachtet wurde. Familiale Transferleistungen waren ein wichtiger Beitrag zum Alterseinkommen. Manche Arbeiter hofften auf den Sieg der Sozialdemokratie, von dem sie ein „sorgenfreies Alter“ erwarteten.320

319 320

Schumann, Arbeiter der Daimler-Motoren-Gesellschaft (wie Anm. 114), S. 117 – 120. Bernays, Berufswahl und Berufsschicksal (wie Anm. 96), Teil 2, 915.

Viertes Kapitel

Reform und Krise I. Stabilisierung und Destabilisierung des Lebenslaufs 1. Die politische Dimension der Einkommensverteilung Der Generationenvertrag gehört zu den Strukturen der langen Zeit, die im Vergleich zu den wirtschaftlichen Konjunkturen und den Wechselfällen der Politik eine große Beharrlichkeit aufweisen. Trotz dieser stabilen Strukturen wurden die Bedingungen der intergenerativen Umverteilung aber in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts durch den Wechsel der politischen Systeme und durch die wirtschaftlichen Konjunkturen und Krisen bedroht. In der Zeit der Weimarer Republik gewann die sekundäre Einkommensverteilung durch die Sozialversicherung und den Staat erheblichen Einfluss auf den Generationenvertrag. Eine Folge dieser Entwicklung war, dass in der öffentlichen Verteilungsdebatte nicht nur die Einkommensverteilung zwischen den Klassen, sondern ausdrücklich auch die Einkommensverteilung zwischen den Generationen thematisiert wurde. Die sozialpolitischen Erwartungen wurden in der Weltwirtschaftskrise von 1929 – 1933 durch den Rückgang von Beschäftigung und Produktion und den Zusammenbruch der sozialen Sicherung enttäuscht.1 Unter der nationalsozialistischen Diktatur ging die Einkommensverteilung zwischen den Generationen in der umfassenden Ideologie der „Volksgemeinschaft“ auf. Der Begriff der „Volksgemeinschaft“ war im Parteiprogramm der NSDAP von 1920 noch nicht enthalten. Er wurde seit Ende der zwanziger Jahre in den Mittelpunkt der nationalsozialistischen Propaganda gerückt.2 Der Gemeinschaftsbegriff erinnerte an traditionelle Vorstellungen von Solidarität. In der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ erhielt der Begriff jedoch eine aggressive Wendung. Bestand und Zukunft der „Volksgemeinschaft“ beruhten nach nationalsozialistischer Definition auf der Unterdrückung jeder Opposition, auf der Verfolgung der jüdischen Minderheit und anderer Gruppen, denen man das Lebensrecht absprach, und auf der Eroberung von „Lebensraum“.3 1 Werner Abelshauser, Hg., Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, Stuttgart 1987; Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987. 2 Das Programm der NSDAP vom 25. Februar 1920, in: Reinhard Kühnl, Hg., Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln 1975, S. 105 – 108; Adolf Hitler, Der Weg zum Wiederaufstieg (1927), in: Kühnl, Hg., Der deutsche Faschismus, S. 119.

I. Stabilisierung und Destabilisierung des Lebenslaufs

187

Die politischen Konturen der deutschen Gesellschaft änderten sich. Als Folge des Ersten Weltkriegs wurden Posen, Westpreußen und einige kleinere Gebietsteile an Polen abgetreten, Elsass-Lothringen an Frankreich, Eupen und Malmedy an Belgien und Nordschleswig an Dänemark. Danzig wurde ein unabhängiger Stadtstaat, das Saarland wurde von 1919 bis 1935 unter der Aufsicht des Völkerbundes von Frankreich verwaltet. Insgesamt ging das Territorium des Deutschen Reiches auf 87 Prozent des Vorkriegsstandes zurück. Mit der Annexion Österreichs begann 1938 eine Expansionspolitik, die 1939 in den Zeiten Weltkrieg führte. Die Grenzen des „Großdeutsches Reiches“, das nach der Annexion Österreichs proklamiert worden war, wurden weit in fremde Länder ausgedehnt, bis der Krieg nach Deutschland zurückkehrte und das nationalsozialistische Regime in Schutt und Asche endete.4 2. Der Rückgang der Geburtenrate Der Anstieg der Lebenserwartung, der durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen worden war, setzte sich in der Weimarer Republik fort. 1924 – 1926 wurde die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt für Männer auf 56 Jahre und für Frauen auf 59 Jahre geschätzt. Ein wesentlicher Grund für die Stabilisierung der Lebenszeit war nach wie vor der Rückgang der Kindersterblichkeit, aber auch für die Erwachsenen wurde der vorzeitige Tod seltener. Die Zunahme der Lebenserwartung schlug sich bis zum Ende der Weimarer Republik statistisch in einem Rückgang der Sterberate nieder. 1932 betrug die Sterbeziffer 1,1 Prozent. Seitdem stagnierte die Sterberate mit geringen Fluktuationen. Zwar nahm die Lebenserwartung weiter zu, aber das Altern der Gesellschaft gewann an Einfluss. In einer alternden Gesellschaft treten mehr Todesfälle auf als in einer jugendlichen Gesellschaft.5 Die Geburtenrate stieg nach dem Krieg vorübergehend an, da junge Menschen die Gründung einer Familie, die sie in den Kriegsjahren aufgeschoben hatten, jetzt nachholten. In den zwanziger Jahren setzte sich jedoch wieder der langfristige Trend zum Rückgang der Geburtenrate durch. Am Ende der relativen Stabilisierung betrug 1928 die Geburtenrate 1,9 Prozent, und durch den Einfluss der Weltwirtschaftskrise sank sie bis 1932 auf 1,5 Prozent. Im Nationalsozialismus sollte eine rassistische Bevölkerungspolitik den Geburtenrückgang aufhalten und zu einer steigenden Bevölkerung führen. Der Bevölkerungswissenschaftler Burgdörfer führte den Geburtenrückgang darauf zurück, „daß der Vertrag von Versailles auch in biologischer Hinsicht unser Volk in seiner Lebenskraft und in seinem 3 Timothy W. Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1977. 4 Gerd Hardach, Nation building in Germany: The economic dimension, in: Alice Teichova / Herbert Matis, Hg., Nation, state and the economy in history, Cambridge 2003. 5 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 101 – 103.

188

4. Kap.: Reform und Krise

Lebenswillen gelähmt hat“.6 Das nationalsozialistische Regime warb mit massiver Propaganda und bescheidenen finanziellen Anreizen für mehr Eheschließungen und größere Familien. Die Wirkung der Bevölkerungspolitik ist schwer einzuschätzen. Die Geburtenrate, die in der Weltwirtschaftskrise von 1929 – 1933 stark zurückgegangen war, stieg in den dreißiger Jahren wieder an. Das lag aber wahrscheinlich unabhängig von der Bevölkerungspolitik vor allem daran, dass Eheschließungen und Kinderwünsche, die in der Krise aufgeschoben worden waren, nachgeholt wurden. 1938 war die Geburtenrate mit 2,0 Prozent etwas höher als Ende der zwanziger Jahre, während des Zweiten Weltkrieges ging sie wieder zurück.7 In der Weimarer Republik wurde Deutschland erneut zum Auswanderungsland. Viele Deutsche emigrierten, enttäuscht über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Hauptziel waren, wie schon in der Auswanderung des neunzehnten Jahrhunderts, die USA. Obwohl die amerikanische Immigrationspolitik insgesamt im Vergleich zur Vorkriegszeit restriktiver wurde, nahmen die USA in den zwanziger Jahren Hunderttausende von deutschen Einwanderern auf. Die nationalsozialistische Diktatur löste eine Ära von Flucht und Vertreibung aus. Seit 1933 flohen zahlreiche Deutsche, die von dem Naziregime aufgrund ihrer politischen Überzeugungen, ihrer Religion oder ihrer Abstammung verfolgt wurden, in das Ausland. Die Bevölkerung Deutschlands wurde durch den Friedensvertrag von 1919 nicht so stark reduziert wie das Staatsgebiet, denn die Bevölkerungsdichte war in dem verbleibenden Staatsgebiet im Durchschnitt höher als in den abgetretenen Grenzregionen, und außerdem zogen viele Deutsche aus den abgetretenen Landesteilen in das Reichsgebiet. 1919 hatte die Weimarer Republik 63 Millionen Einwohner. Im Vergleich zum Stand von 1913 bedeutete dies eine Abnahme um 6 Prozent. Am Ende der Weimarer Republik war die Bevölkerung 1932 auf 66 Millionen gestiegen. In den dreißiger Jahren wuchs die Bevölkerung allmählich wieder über den Vorkriegsstand hinaus. 1937 hatte Deutschland 68 Millionen Einwohner. Zu Beginn der Diktatur gab es ungefähr 500.000 Deutsche, die nach der nationalsozialistischen Definition zur jüdischen Minderheit gehörten. Drei Fünftel von ihnen wurden durch die Unterdrückung und Verfolgung aus der Heimat vertrieben. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, als eine Flucht kaum mehr möglich war, lebten noch 195.000 Deutsche jüdischer Abstammung in Deutschland. Im Oktober 1941 begannen die Deportationen und der Massenmord, den nur wenige der Verfolgten überlebten. Die Zahl der Kriegsopfer ist bis heute nicht genau bekannt. Man schätzt, dass 3,8 Millionen deutsche Soldaten und 3,1 Millionen zivile Opfer umkamen.8 F. Burgdörfer, Volk ohne Jugend, Heidelberg 1937, S. 437. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 101 – 103. 8 Peter Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1984, S. 149; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 90. 6 7

I. Stabilisierung und Destabilisierung des Lebenslaufs

189

Durch den Ersten Weltkrieg nahm die Frauenmehrheit zeitweilig zu, aber danach näherte die Geschlechterproportion sich wieder der langfristigen Quote an. 1925 war der weibliche Anteil der Bevölkerung mit 52 Prozent nur wenig größer als vor dem Krieg.9 Der Geburtenrückgang und die Stabilisierung der Lebenszeit veränderten den Altersaufbau der Gesellschaft. Der Anteil der jüngeren Generation an der Bevölkerung ging stark zurück. Dagegen nahm der Anteil der mittleren Generation der Erwerbstätigen und Familientätigen seit der Weimarer Republik erheblich zu, obwohl gerade aus dieser Generation viele Männer im Krieg umgekommen waren. Die Reduzierung der Kindersterblichkeit hatte zur Folge, dass mehr Kinder aus einem Geburtenjahrgang das Erwachsenenalter erreichten, und überdies traten die letzten geburtenstarken Jahrgänge aus der Zeit der Jahrhundertwende in die mittlere Lebensphase ein. Die Lebenserwartung im hohen Alter nahm zunächst nur wenig zu, deshalb stieg auch der Anteil der älteren Generation nur langsam an.10 Tabelle 6 Die Altersstruktur der deutschen Gesellschaft 1925 – 1939 (Prozent) bis 14 Jahre

15 – 64 Jahre

ab 65 Jahre

1925

26

68

6

1939

23

69

8

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 95.

In dem Modell der demographischen Belastungsquoten wird das Verhältnis der Jugendgeneration unter 15 Jahren zur mittleren Generation von 15 Jahren bis zu 64 Jahren als Jugendquote, das Verhältnis der Ruhestandsgeneration ab 65 Jahren zur mittleren Generation als Altersquote definiert. Durch den Rückgang der Geburtenrate und den Anstieg der Lebenserwartung ging die Jugendquote langfristig zurück, und die Altersquote nahm zu. Die gesamte demographische Belastungsquote war den konträren Einflüssen der sinkenden Jugendquote und der steigenden Altersquote ausgesetzt. In der Zeit des Kaiserreichs hatte die hohe Jugendquote eine sehr große Gesamtlastquote zur Folge. In der Zwischenkriegszeit war die Gesamtlastquote relativ niedrig, weil die Jugendquote stark zurückging und die Altersquote nur langsam anstieg.11

Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 90. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 95. 11 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 95. 9

10

190

4. Kap.: Reform und Krise Tabelle 7 Demographische Strukturquoten 1911 – 1939 (Prozent) Jugendquote

Altersquote

Gesamtlastquote

1911

56

8

64

1925

38

9

47

1939

33

12

45

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 95.

Obwohl der Anteil der älteren Generation an der Bevölkerung nur langsam zunahm, gab es in der Zeit der Weimarer Republik eine besorgte Debatte über die Konsequenzen, die das Altern der Gesellschaft für die Sozialpolitik haben würde.12 Wenn weniger Kinder geboren wurden und gleichzeitig die Lebenserwartung stieg, musste die erwerbstätige Generation auf die Dauer eine wachsende Zahl von Rentnern und Rentnerinnen unterstützen. Ende der zwanziger Jahre wurden die demographischen Perspektiven in einer Modellrechnung untersucht. 1925 betrug die Altersquote, definiert als die Bevölkerung im Ruhestandsalter ab 65 Jahren in Relation zu der mittleren, potentiell erwerbstätigen Bevölkerung von 15 bis 64 Jahren, neun Prozent. Nach der Prognose von W. Dobbernack würde die Altersquote bis 1965 auf zwanzig Prozent steigen.13 Trotz der Schocks von Krieg, Vertreibung und deutscher Teilung war die Prognose bemerkenswert genau, denn tatsächlich gab es 1965 in der Bundesrepublik Deutschland eine Altersquote von zwanzig Prozent.14 3. Wirtschaftliche Entwicklung a) Strukturwandel Die Erwerbsquote war in der Zeit der Weimarer Republik wesentlich höher als im Kaiserreich, obwohl viele Männer im Ersten Weltkrieg starben oder so schwer verwundet wurden, dass sie arbeitsunfähig blieben. 1925 erreichte die Erwerbsquote 51 Prozent. Die Ursache für die höhere Erwerbsbeteiligung war vor allem der langfristige demographische Wandel, der zu einer Stärkung der mittlere Generation führte.15 In den wenigen Friedensjahren unter der nationalsozialistischen Diktatur stieg die Erwerbsquote noch etwas weiter an. Die Jugendgeneration 12 Annette Penkert, Arbeit oder Rente? Die alternde Bevölkerung als sozialpolitische Herausforderung für die Weimarer Republik, Göttingen 1998, S. 8 – 17. 13 W. Dobbernack, Die Einwirkungen der Strukturwandlungen des deutschen Volkes und der sozialversicherten Bevölkerung auf Krankenstand, Invaliditätsziffer und Sterblichkeit, in: Die Reichsversicherung, 3 (1929), S. 169. 14 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 95. 15 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 95.

I. Stabilisierung und Destabilisierung des Lebenslaufs

191

wurde durch den Rückgang der Geburtenzahlen schmaler, die Erwerbstätigen aus den starken Geburtsjahrgängen der Jahrhundertwende waren aber noch nicht in den Ruhestand getreten. 1939 erreichte die Erwerbsquote, bezogen auf die alten Grenzen des Deutschen Reiches, 52 Prozent.16 Tabelle 8 Die Sozialstruktur der Erwerbstätigen in Deutschland 1925 – 1939 (Prozent) Arbeiter

Angestellte und Beamte

Selbständige

Angehörige

1925

49

17

17

17

1939

49

22

13

16

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1972 – 1972, Stuttgart 1972, S. 142.

Die Polarisierung der Sozialstruktur beschleunigte sich in den zwanziger Jahren; 1925 machten die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen 66 Prozent der Beschäftigten aus. Der Nationalsozialismus versprach, die alte Mittelklasse vor der Verdrängung durch den Konzentrationsprozess zu schützen. Bauern und Handwerker nahmen in der nationalsozialistischen Ideologie einen besonderen Platz ein. Im Gegensatz zu den Versprechungen der Propaganda schritt die Verdrängung der Familienbetriebe jedoch in der nationalsozialistischen Ära fort. 1939 war der Anteil der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an den Erwerbspersonen auf 71 Prozent gestiegen.17 Der Soziologe Theodor Geiger entwickelte auf der Grundlage der Volkszählung von 1925 ein quantitatives Modell der deutschen Sozialstruktur, das bis heute als beispielhaft gilt. Geiger unterschied nach der sozio-ökonomischen Lage drei Klassen, die Kapitalistenklasse, die Arbeiterklasse und eine heterogene Mittelklasse, zu der einerseits die alte Mittelklasse der Selbständigen und andererseits die neue Mittelklasse der Angestellten und Beamten gehörte. Nach der Stellung im Produktionsprozess waren nach Geiger ein großer Teil der Angestellten und Beamten, und ebenso die abhängigen Heimarbeiter und mithelfenden Familienangehörigen, zur Arbeiterklasse zu rechnen. Auf dieser Grundlage gehörten zur Arbeiterklasse 74 Prozent der Bevölkerung, zur alten Mittelklasse 18 Prozent, zur neuen Mittelklasse sieben Prozent, und zur Klasse der Kapitalisten nur ein Prozent. Wenn man neben der Stellung im Produktionsprozess die Lebensweise und die Mentalität berücksichtigte, differenzierte sich die Sozialstruktur. Viele Angestellte und Beamte, aber auch Kleinbauern und Heimarbeiter, die nach ihrer wirtschaftlichen Lage zur Arbeiterschaft gehörten, neigten in ihrer Mentalität zur Mittelklasse. Nach dem subjektiven Klassenbewusstsein gehörten zur Arbeiterklasse nur noch 51 Prozent 16 17

Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), 140. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 142.

192

4. Kap.: Reform und Krise

der Bevölkerung, zur alten Mittelklasse 31 Prozent, zur neuen Mittelklasse 17 Prozent, und zur Kapitalistenklasse ein Prozent.18 Die Polarisierung der Sozialstruktur war eng mit dem Wandel von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft verbunden. Die Folgen des Ersten Weltkriegs verstärkten den Strukturwandel, da ein großer Teil der landwirtschaftlich geprägten Regionen in Ostdeutschland an Polen abgetreten wurde. In den zwanziger Jahren geriet die Landwirtschaft unter einen starken Rationalisierungsdruck. Die protektionistische Zollpolitik der Weimarer Republik konnte den Rückgang der Agrarbeschäftigung nicht aufhalten. Die Industriegesellschaft trat in der Weimarer Republik stärker in den Vordergrund. Unter der nationalsozialistischen Diktatur wurde die Landwirtschaft durch die Autarkiepolitik stärker als bisher vor der internationalen Konkurrenz geschützt. Dennoch führte die Aufrüstung dazu, dass sich der Strukturwandel zur Industriegesellschaft im Vergleich zu den zwanziger Jahren noch beschleunigte.19 Tabelle 9 Die Erwerbstätigen nach Sektoren in Deutschland 1925 – 1939 (Prozent) Primärer Sektor

Sekundärer Sektor

Tertiärer Sektor

1925

32

40

28

1939

25

41

34

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 142.

Die Industriegesellschaft prägte nicht nur die Erwerbsbiographien. Sie bedeutete auch, dass die Jugend sich vor allem auf eine industrielle Erwerbstätigkeit vorbereitete, und dass die Alterseinkommen überwiegend aus einer industriellen Erwerbstätigkeit abgeleitet wurden. Der Pädagoge Heinrich Kautz meinte Ende der zwanziger Jahre zugespitzt, dass der soziale Wandel den neuen Typ des „Industriemenschen“ hervorgebracht habe. Die industrielle Entwicklung habe dazu geführt, „dass die Industrie samt Technik und Güterproduktion wirklich als Hauptfaktor bei der Gestaltung der Gegenwartskultur hervortritt und der moderne Mensch berechtigterweise als Industriemensch anzusprechen ist“.20 b) Wachstum und Konjunktur Der Erste Weltkrieg und seine Folgen unterbrachen den langfristigen Wachstumsprozess der deutschen Wirtschaft. Erst sechs Jahre nach dem Krieg trat die Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des Deutschen Volkes (1932), Darmstadt 1967. Walther G. Hoffmann / Franz Grumbach / Helmut Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 206. 20 Heinrich Kautz, Industrie formt Menschen. Versuch einer Normierung der Industriepädagogik, Einsiedeln 1929, S. 16 – 17. 18 19

I. Stabilisierung und Destabilisierung des Lebenslaufs

193

Volkswirtschaft in die Phase der relativen Stabilisierung ein, die von 1924 bis 1928 dauerte. 1927 übertraf das reale Nettosozialprodukt je Einwohner erstmals das Vorkriegsniveau von 1913. Die Stabilisierungsphase war kurz. Nur zwei Jahre, nachdem das Sozialprodukt das Vorkriegsniveau übertroffen hatte, wurde die Expansion durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 – 1933 unterbrochen. Von 1929 bis 1932 ging das reale Nettosozialprodukt je Einwohner um 20 Prozent zurück.21 Das nationalsozialistische Regime setzte die aktive Konjunkturpolitik fort, die 1932 eingeleitet worden war, und erweiterte den Umfang der Beschäftigungsprogramme. Die Konjunkturpolitik sollte aber nur der politischen Konsolidierung des Regimes dienen, langfristig standen andere Ziele im Vordergrund. Seit 1935 bestimmte die Aufrüstung die wirtschaftliche Entwicklung, und der Vierjahresplan von 1936 beschleunigte die Kriegsvorbereitung. Die massive Aufrüstung führte dazu, dass die Produktion stark anstieg. 1938 lag das reale Nettosozialprodukt je Einwohner um 46 Prozent über dem Niveau von 1929.22 Wenn man die Augen vor den Morden verschloss, die in aller Öffentlichkeit geschahen, vor den Konzentrationslagern und vor der Kriegsvorbereitung, konnte man die Wirtschaftspolitik des Nationalsozialismus für einen Erfolg halten. Im Zweiten Weltkrieg verflog die Illusion eines Wirtschaftsaufschwungs. Die Nominallöhne stiegen in der Inflation in extreme Höhen, blieben aber aufgrund des noch stärkeren Preisanstiegs real unter dem Vorkriegsniveau. 1924 wurde eine neue Währung eingeführt, die Reichsmark. Nach Krieg, Inflation und Stabilisierung betrug 1924 der durchschnittliche Bruttolohn der Arbeiter und Arbeiterinnen 103 RM im Monat. Die Lebenshaltungskosten waren höher als in der Vorkriegszeit, so dass der reale Monatslohn nur siebzig Prozent des Niveaus von 1913 erreichte.23 In der Phase der relativen Stabilisierung folgten die Löhne, die durch die kollektiven Tarifverträge und die staatliche Schlichtung festgelegt wurden, ungefähr der Produktivitätsentwicklung der Wirtschaft. Der Durchschnittslohn stieg bis 1929 auf 191 RM. In der Weltwirtschaftskrise ging er bis 1932 auf 128 RM zurück. Die Lebenshaltungskosten stiegen bis 1929 an und gingen dann in der Weltwirtschaftskrise stark zurück. Der reale Monatslohn stieg bis 1929 auf 110 Prozent des Vorkriegsniveaus, betrug 1932 aber nur noch 94 Prozent des Vorkriegsniveaus.24 Im Nationalsozialismus wurden die Stundenlöhne durch die staatliche Lohnregulierung auf dem Krisenniveau eingefroren. Die Monatsverdienste nahmen durch die längeren Arbeitszeiten etwas zu. Der durchschnittliche Nominallohn 21 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 19), S. 172 – 174, 827 – 828. 22 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 19), S. 172 – 174, 827 – 828. 23 Gerhard Bry, Wages in Germany 1871 – 1945, Princeton 1960, S. 58, 361 – 362. 24 Theo Balderston, The origins and course of the German economic crisis, November 1923 to May 1932, Berlin 1993, S. 36 – 48; Bry, Wages in Germany (wie Anm. 23), S. 58, 361 – 362.

13 Hardach

194

4. Kap.: Reform und Krise

stieg bis 1938 auf 162 RM im Monat. Ein Teil des Lohnanstiegs wurde durch die steigenden Lebenshaltungskosten aufgezehrt, denn trotz der staatlichen Kontrollen stieg das Preisniveau an. Der reale Monatsverdienst lag 1938 nur um vier Prozent über dem Niveaus von 1929. Da die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge angestiegen waren, gingen die verfügbaren Einkommen trotz der Rüstungskonjunktur real nicht über das Niveau hinaus, das vor der Weltwirtschaftskrise erreicht worden war.25 Im Zweiten Weltkrieg hatten die Löhne immer weniger Bedeutung für den Lebensstandard. Der Konsum wurde strikt rationiert. Soweit die Löhne nicht zur Bezahlung der knappen Rationen gebraucht wurden, sammelten sie sich auf Sparkonten, die durch die verdeckte Kriegsinflation ihren Wert verloren. Die Geldentwertung blieb dem Publikum verborgen, weil Löhne, Preise und andere Zahlungen kontrolliert wurden. Das Ausmaß der zurückgestauten Inflation wurde erst in der doppelten Währungsreform von 1948 in Westdeutschland und Ostdeutschland deutlich.26 Seit den zwanziger Jahren wurde die Lohnquote vom Statistischen Reichsamt als Anteil der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit am Volkseinkommen geschätzt. Diese Lohnquote war deutlich niedriger als vor dem Krieg, sie betrug in der Phase der relativen Stabilisierung von 1925 bis 1928 im Durchschnitt sechzig Prozent des Volkseinkommens.27 Der Rückgang gegenüber der Vorkriegszeit erklärt sich aus den unterschiedlichen Berechnungsmethoden, da das Statistische Reichsamt nur die Löhne und Gehälter in die Lohnquote einbezog und nicht die Erwerbsarbeitskomponente im Einkommen der Selbständigen berücksichtigte. Unter der nationalsozialistischen Diktatur veränderte die Einkommensverteilung sich durch die staatliche Lohnkontrolle zu Gunsten des Kapitals. Die Erwerbseinkommen blieben hinter der Entwicklung der Gewinne zurück. In den Jahren von 1934 bis 1938 betrug die Lohnquote im Durchschnitt nur noch 56 Prozent.28 Die Geldvermögen wurden durch die Inflation, die schon während des Krieges begann und sich in den Nachkriegsjahren beschleunigte, vernichtet. Besonders stark betroffen waren Sparguthaben und öffentliche Anleihen. Ende 1924 waren die Spareinlagen im deutschen Bankensystem auf 780 Millionen RM zusammengeschmolzen. Das entsprach nominal nur drei Prozent des Vorkriegsstandes von 1913. Real war die Vermögensvernichtung aufgrund des höheren Preisniveaus noch stärker.29 Produktionsvermögen, Grundbesitz und landwirtschaftliche Betriebsvermögen überstanden dagegen Krieg und Inflation besser. In der Phase der Bry, Wages in Germany (wie Anm. 23), S. 58, 361 – 362. Christoph Buchheim, Die Errichtung der Bank deutscher Länder und die Währungsreform in Westdeutschland, in: Deutsche Bundesbank, Hg., Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998. 27 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 262. 28 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 262. 29 Deutsche Bundesbank, Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876 – 1976, Frankfurt am Main 1976, S. 74 – 75. 25 26

I. Stabilisierung und Destabilisierung des Lebenslaufs

195

relativen Stabilisierung wurden die Inflationserfahrungen vergessen, und es setzte eine neue Sparwelle ein. Nach Haushaltsrechnungen aus den Jahren 1925 – 1927 bildeten nunmehr 45 Prozent der Arbeiterhaushalte, sechzig Prozent der Angestelltenhaushalte und 71 Prozent der Beamtenhaushalte regelmäßig Ersparnisse. Die Sparquoten waren allerdings nach wie vor bescheiden. Arbeiter sparten 2,2 Prozent des Haushaltseinkommens, Angestellte 2,8 Prozent und Beamte 2,3 Prozent.30 In den zwanziger Jahren entdeckten auch die Geschäftsbanken im Wettbewerb mit den Sparkassen und den Genossenschaften das Spargeschäft. Die Phase der relativen Stabilisierung war jedoch zu kurz, um das Sparvolumen wieder an das Vorkriegsniveau heranzuführen. 1930 erreichten die Spareinlagen im gesamten Bankensystem mit 14 Milliarden RM einen vorläufigen Höchststand. Im Durchschnitt verfügten die privaten Haushalte über ein Sparguthaben von 822 RM. Das entsprach einem durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen von fünf Monaten.31 In der Krise gingen die Spareinlagen zurück, weil viele Haushalte ihre Ersparnisse zur Finanzierung des Lebensunterhalts benötigten. In der Rüstungskonjunktur der dreißiger Jahre nahm die Spartätigkeit stark zu, obwohl die Einkommen sich nur langsam erholten. In den späten dreißiger Jahren war das Sparen nicht mehr ganz freiwillig, denn durch die Aufrüstung wurden die Konsummöglichkeiten eingeschränkt. Bis 1939 stiegen die Sparguthaben in Deutschland innerhalb der alten Grenzen im Durchschnitt auf 1264 RM je Haushalt.32 Das entsprach nunmehr neun Monatseinkommen der Arbeitnehmer.33 Die Sparreserven hatten somit in Relation zu den Erwerbseinkommen im Vergleich zu dem Stand vor der Krise deutlich zugenommen. Während des Krieges kam es zu einer Scheinblüte des Sparens. Da die privaten Konsummöglichkeiten zugunsten der Rüstungsproduktion zurückgedrängt wurden, der Staat aber mit Rücksicht auf die Stimmung der Bevölkerung die überschüssige Kaufkraft nicht durch Steuern oder Anleihen abzuschöpfen wagte, bildeten sich im Bankensystem erhebliche Zwangsersparnisse. Sparkassen und Banken waren genötigt, ihre liquiden Mittel in Staatspapieren anzulegen. Durch die „geräuschlose“ Methode der Kriegsfinanzierung flossen die Ersparnisse in die Rüstung und waren damit unwiederbringlich verloren. Da die staatlichen Preiskontrollen das Preisniveau ungefähr stabil hielten, 30 Armin Triebel, Zwei Klassen und die Vielfalt des Konsums. Haushaltsbudgetierung bei abhängig Erwrebstätigen in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, 2 Bde., Berlin 1991, Bd. 1, S. 294, 315. 31 Deutsche Bundesbank, Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen (wie Anm. 29), S. 74 – 75; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 98 – 102; Rüdiger Hohls, Arbeit und Verdienst. Entwicklung und Struktur der Abreitseinkommen im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik 1885 – 1985, Diss. Freie Universität Berlin 1991, S. 90. 32 Die Spareinlagen wurden auf die alten Grenzen umgerechnet unter der Annahme, dass der Anteil Österreichs an den Spareinlagen 1939 ebenso groß war wie 1938. 33 Deutsche Bundesbank, Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen (wie Anm. 29), S. 74 – 75; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 98; Bry, Wages in Germany (wie Anm. 23), S. 58.

13*

196

4. Kap.: Reform und Krise

blieb der Bevölkerung die Entwertung der Ersparnisse verborgen. Nach dem Krieg wurden in den vier Besatzungszonen die Preiskontrollen fortgesetzt. In der Währungsreform von 1948 wurde dann die reale Reduzierung der Geldvermögen sichtbar.34 Neben der Geldentwertung reduzierten die Enteignungen des nationalsozialistischen Regimes und die Kriegszerstörungen viele Vermögen. c) Öffentliche Transferleistungen In der Weimarer Republik wurde die Sozialpolitik erheblich ausgebaut. Die „Soziale Demokratie“ sollte nicht nur die politischen Rechte der Bevölkerung stärken, sondern auch zur Stabilisierung der Lebensverhältnisse beitragen. Der Ausbau der Sozialpolitik betraf sowohl die Regulierung, als auch die Transferleistungen.35 Der „Sozialstaat“ kam zwar als Begriff in der Verfassung nicht vor, aber er wurde im zeitgenössischen Diskurs gebraucht, um die Gesamtheit der wirtschafts- und sozialpolitischen Interventionen zu charakterisieren. So erklärte etwa der Zentrumspolitiker Erzberger im November 1919 in der Nationalversammlung, er wolle mit der Finanzreform auf den „Sozialstaat der Zukunft“ hinarbeiten.36 Zum Ausbau der sozialen Sicherung trugen die Sozialversicherung, die Fürsorge und das neue Instrument der sozialpolitischen Programme bei. Das Ziel der sozialen Sicherung war die Gewährleistung eines existenzsichernden Einkommens, das unabhängig von den Fluktuationen des Marktes und den Unwägbarkeiten der familialen Solidarität sein sollte. Der Weg in den Sozialstaat der Zukunft war jedoch weit schwieriger als erwartet. Die Sozialversicherung war in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in allen Zweigen durch die Inflation betroffen. Die Leistungen wurden nur unzulänglich der Geldentwertung angepasst und erfuhren daher eine reale Entwertung, und das Versicherungskapital wurde durch die Inflation vernichtet. In der Phase der relativen Stabilisierung wurde die Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung wieder hergestellt. 1927 wurde die Sozialversicherung durch die seit langem geforderte Arbeitslosenversicherung ergänzt. Träger des neuen Zweiges der Sozialversicherung wurde die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitslosenunterstützung wurde nunmehr eine Versicherungsleistung, die unabhängig von der individuellen Vermögenssituation gewährt wurde. Sie war auf ein halbes Jahr begrenzt. Die Leistungen hingen vom Lohn ab. Die Beiträge waren nach dem Lohn differenziert und wurden je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgebracht. In Notfällen konnte die Reichsanstalt staatliche Darlehen erhalten. Wenn die Arbeitslosenunterstützung auslief, konnten Deutsche Bundesbank, Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen (wie Anm. 29), S. 74. Werner Abelshauser, Die Weimarer Republik – ein Wohlfahrtsstaat? In: Werner Abelshauser, Hg., Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, Stuttgart 1987. 36 Sitzung vom 3. November 1919. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung, Bd. 331, S. 3848. 34 35

I. Stabilisierung und Destabilisierung des Lebenslaufs

197

bedürftige Arbeitslose sich an die Krisenfürsorge wenden und eine Krisenunterstützung erhalten, die ebenfalls auf ein halbes Jahr begrenzt war. Ein Jahr nach dem Eintritt der Arbeitslosigkeit blieb dann nur noch die allgemeine Fürsorge. Neben der Arbeitslosenunterstützung gehörte die Arbeitsvermittlung zu den Aufgaben der Reichsanstalt mit ihrem Unterbau von Landesarbeitsämtern und örtlichen Arbeitsämtern.37 Die Fürsorge löste sich in der Weimarer Republik von der diskriminierenden Armenpolitik alter Art. Die Fürsorgeleistungen entwickelten sich zu etablierten Ansprüchen an den Staat. Die soziale Aufwertung der Fürsorge wurde durch die Einführung neuer Fürsorgeprogramme gefördert.38 Da man während der Demobilisierung eine hohe Arbeitslosigkeit erwartete, wurde bereits am 13. November 1918 eine Erwerbslosenfürsorge eingerichtet. Sie war zunächst auf ein Jahr befristet, wurde aber immer wieder verlängert, bis sie 1927 durch die Arbeitslosigkeitsversicherung abgelöst wurde. Die Erwerbslosenfürsorge sah vor, dass bedürftige Arbeitslose eine besondere Unterstützung erhielten. Finanziert wurde die Unterstützung, ebenso wie die allgemeine Fürsorge, von den Gemeinden.39 Mit der Reform vom Oktober 1923 wurde die Erwerbslosenfürsorge in die Arbeitslosenfürsorge umgewandelt. Es wurden bereits einige Elemente einer Arbeitslosenversicherung in die Arbeitslosenfürsorge eingeführt. Anspruchsberechtigt waren Arbeitslose, die zuvor mindestens 13 Wochen als Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen beschäftigt waren. Die Arbeitslosenunterstützung sollte im Regelfall auf ein halbes Jahr begrenzt sein, in Ausnahmefällen konnte sie bis zu einem Jahr gewährt. werden. Die Finanzierung beruhte auf Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die durch Zuschüsse der Gemeinden, der Länder und des Reiches ergänzt wurden. Die Unterstützung war eng mit Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt verbunden.40 Nach der Arbeitslosenfürsorge wurden auch für andere soziale Gruppen besondere Fürsorgeprogramme eingerichtet. Neben der allgemeinen Fürsorge gab es 1924 sechs besondere Fürsorgeprogramme für Kriegsbeschädigte, für Sozialversicherungsrentner, deren Renten durch Krieg und Inflation unter das Existenzminimum gefallen waren, für „Kleinrentner“, deren individuelle Altersvorsorge entwertet worden war, für Schwerbeschädigte, für hilfsbedürftige Minderjährige und für Mütter.41 Die Ziele der Fürsorge wurden in der Fürsorgeverordnung von 1924 formuliert: „Im Falle der Hilfsbedürftigkeit ist – erforderlichenfalls auch ohne Antrag – als Mindestmaß der unentbehrliche Lebensunterhalt, insbesondere Obdach, Nahrung, 37 Gesetz über Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927. RGBl. 1927 I, S. 187 – 220. 38 Christoph Sachße / Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, 3 Bde., Stuttgart 1988 – 1998, Bd. 2, S. 88 – 142. 39 Peter Lewek, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung 1918 – 1927, Stuttgart 1992. 40 Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 38), Bd. 2, S. 94 – 98. 41 Verordnung über die Fürsorgepflicht vom 13. Februar 1924. RGBl. 1924 I, S. 100 – 107.

198

4. Kap.: Reform und Krise

Kleidung, die erforderliche Pflege in Krankheitsfällen und nach dem Ableben ein angemessenes Begräbnis zu gewähren. Hilfsbedürftigen Schwangeren und Wöchnerinnen ist die erforderliche Fürsorge zu gewähren“.42 Im Alltag ergaben sich immer wieder Überschneidungen zwischen dem Fürsorgeprinzip und dem Versicherungsprinzip. Die Sozialversicherung war aufgrund der Krise ihrer Finanzen auf erhebliche Staatszuschüsse angewiesen, und da sie trotz der Subventionen ihre Leistungen einschränken musste, wurden Rentner und andere Empfänger von Versicherungsleistungen zunehmend in die Fürsorge abgedrängt. Im Zusammenhang mit der Ausweitung der Fürsorgebereiche zog das Reich mehr Kompetenzen von den Ländern und Kommunen an sich. Es erließ nicht nur allgemeine Richtlinien, sondern griff auch gestaltend in die Fürsorgepolitik ein und beteiligte sich an der Finanzierung. Die Ausdehnung der Fürsorge brachte auch eine personelle Expansion mit sich. Die Zahl der Beschäftigten in der Fürsorge nahm erheblich zu, und gleichzeitig wurde die Fürsorgetätigkeit beruflich aufgewertet.43 Durch den wirtschaftlichen Aufschwung und durch die Rekonstruktion der öffentlichen Rentenversicherung ging in der Phase der relativen Stabilisierung die Beanspruchung der Fürsorge zurück. 1928 wurden von der Fürsorge 3,2 Millionen Personen unterstützt; das entsprach fünf Prozent der Bevölkerung.44 In der Weltwirtschaftskrise stieg die Zahl der Fürsorgeempfänger wieder stark an. 1932 wurden 9,5 Millionen Menschen von der Fürsorge unterstützt. Der Anteil der Unterstützten war damit auf 15 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Die Zunahme lag vor allem daran, dass die Arbeitslosenversicherung ihrer Aufgabe nicht gerecht wurde und eine zunehmende Zahl von Arbeitslosen nach dem Ablauf des allgemeinen Arbeitslosengeldes an die Fürsorge abgab. In der offenen Fürsorge machten die Erwerbslosen 63 Prozent der unterstützten Haushalte aus, die Hilfsbedürftigen der allgemeine Fürsorge 13 Prozent, die Sozialrentner ebenfalls 13 Prozent, die Kleinrentner sechs Prozent, die Pflegekinder vier Prozent und die Kriegsopfer ein Prozent. Die Höhe der Unterstützung hing von der Art der Fürsorge, der Haushaltsgröße und den Lebenshaltungskosten ab. Die durchschnittliche Unterstützung für einen Haushalt betrug in der Erwerbslosenfürsorge 42 RM im Monat, für Kleinrentner 31 RM, in der allgemeinen Fürsorge 28 RM, für Kriegsopfer 21 RM und für Sozialrentner 16 RM.45 Zur Ausdehnung der öffentlichen Umverteilung trugen in der Zeit der Weimarer Republik neue staatliche Transferprogramme bei. Ein wichtiges Programm war die Wohnungsförderung, die 1921 eingeführt und seitdem allmählich ausgebaut wurde. Sie sah eine besondere Abgabe auf Mieterträge vor, die zur Subventionierung des 42 Grundsätze über Voraussetzung, Art und Maß öffentlicher Fürsorgeleistungen vom 27. März 1924. RGBl. 1924 I, S. 379 – 380. 43 Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 38), Bd. 2, S. 68 – 88. 44 Länderrat des Amerikanischen Besatzungsgebietes, Hg., Statistisches Handbuch von Deutschland 1928 – 1944, München 1949, S. 610 – 613. 45 Statistisches Handbuch von Deutschland (wie Anm. 44), S. 610 – 613.

I. Stabilisierung und Destabilisierung des Lebenslaufs

199

Wohnungsbaus verwandt werden sollte. Bei der Wohnungsförderung wirkten verschiedene zeitbedingte Motive zusammen. Die Subventionierung sollte den Wohnungsbau ankurbeln, der durch die staatliche Kontrolle der Mieten, nach der Währungsstabilisierung von 1923 – 1924 aber auch durch das hohe Zinsniveau stark zurückgegangen war. Eine Belastung der Mieterträge schien angemessen, da die Hausbesitzer ihr Immobilienvermögen in der Inflation erhalten konnten, während die Hypothekenschulden entwertet wurden. Die sozialen Aspekte sollten dadurch berücksichtigt werden, dass die Förderung auf Kleinwohnungen konzentriert wurde.46 Die Sozialpolitik geriet in die Verteilungskonflikte der Zeit. Gemessen an den großen Erwartungen, die in der Gründungsphase der Weimarer Republik in die Sozialpolitik gesetzt wurden, waren die Leistungen oft bescheiden. Auf der anderen Seite wurden aber von den Unternehmern die hohen Kosten der sekundären Einkommensverteilung durch den Staat und die Sozialpolitik kritisiert. Die gesamten Staatsausgaben, einschließlich der Sozialversicherung, betrugen 1913 erst 16 Prozent des Bruttosozialprodukts. 1925 war die Staatsquote auf 21 Prozent gestiegen, 1929 auf 24 Prozent und im Krisenjahr 1932 auf 27 Prozent.47 In der Weltwirtschaftskrise entzogen die Unternehmer der Weimarer Republik, die eng mit dem Ausbau der sozialen Sicherung verbunden war, ihre Unterstützung. Sie stellten die Kosten der Sozialpolitik als unerträgliche Belastungen dar, die eine Überwindung der Krise und eine langfristige Stabilisierung der deutschen Wirtschaft verhinderten. Der autoritäre Staat sollte die Zugeständnisse an die Arbeiterklasse revidieren. Im Nationalsozialismus verlor die Sozialpolitik ihre eigenständige Bedeutung und wurde als Instrument der Diktatur missbraucht. Die öffentlichen Transferleistungen waren in der Diktatur nur noch ein Instrument, um die Loyalität der Bevölkerung gegenüber dem Regime zu erhalten. Die Sozialversicherung blieb mit ihren vier Zweigen, der Krankenversicherung, der Unfallversicherung, der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung in den Grundzügen bestehen. Die Selbstverwaltung der Sozialversicherung wurde jedoch im Juli 1934 aufgehoben und durch eine staatliche Leitung ersetzt.48 Damit wurden die Voraussetzungen für eine politische Manipulierung der Sozialversicherung geschaffen. Ziel war es, den Anteil der Sozialleistungen am Sozialprodukt zu reduzieren. Gleichzeitig hing die Glaubwürdigkeit der Ideologie der „Volksgemeinschaft“ aber davon ab, dass ein Mindeststandard der sozialen Sicherung erhalten blieb. Die öffentliche Rentenversicherung wurde 1938 durch die Einbeziehung der selbständigen Handwerker erweitert.49 Ein neues sozialpolitisches Programm war die 46 Johannes Frerich / Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 3 Bde., München 1996, Bd. 1, S. 238 – 241. 47 Abelshauser, Die Weimarer Republik – ein Wohlfahrtsstaat? (wie Anm. 35), S. 16. 48 Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung vom 5. Juli 1934. RGBl. 1934 I, S. 577 – 581. 49 Lil-Christine Schlegel, Von der Arbeitnehmerversicherung zur Volksversicherung: Die Handwerkerversicherung 1938, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 47 (2002); Lil-

200

4. Kap.: Reform und Krise

Förderung für kinderreiche Familien, die 1936 aus bevölkerungspolitischen Gründen eingeführt wurde.50 Am Beginn der nationalsozialistischen Diktatur wirkten sich die Folgen der Wirtschaftskrise noch massiv auf die Beanspruchung der Fürsorge aus. Im März 1933 wurden zwölf Millionen Fürsorgeempfänger unterstützt; das waren 17 Prozent der Bevölkerung. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung ging die Zahl der Fürsorgeempfänger in den dreißiger Jahren zurück. Bis 1938 sank die Zahl der Fürsorgeempfänger auf vier Millionen; der Anteil war damit auf sechs Prozent der Bevölkerung zurückgegangen. Die Höhe der Unterstützung lag nur wenig über dem niedrigen Krisenniveau. Der durchschnittliche Unterstützungssatz für einen Haushalt betrug für Erwerbslose 42 RM, für Kleinrentner 34 RM, für allgemeine Fürsorgeempfänger dreißig RM, für Kriegsopfer 22 RM und für Sozialrentner 17 RM.51 Im Krieg führte die Rationierung der Konsumgüter zu einer Erosion der öffentlichen Transferleistungen. Nicht die Geldleistungen, sondern die knapper werdenden Zuteilungen an Konsumgütern bestimmten den Lebensstandard.52 Neben die staatliche Fürsorge trat die zur NSDAP gehörende „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“. Das Ziel war, mit der Parteiorganisation ideologischen Druck auf die etablierte Sozialbürokratie auszuüben und die Kontrolle über die Bevölkerung zu verstärken. Die „Volkswohlfahrt“ war vor allem im Bereich der Beratung, Betreuung und Kontrolle tätig, auch in der Organisation von Spendenaktionen, während die Verwaltung der aus Steuermitteln und Beiträgen finanzierten Transferleistungen eine Aufgabe der staatlichen Institutionen und der Sozialversicherung blieb.53 Nach dem Pogrom vom November 1938 wurde auch in der Sozialpolitik die Diskriminierung der jüdischen Minderheit verschärft. Bedürftige Personen jüdischer Abstammung wurden seit Januar 1939 von der öffentlichen Fürsorge ausgeschlossen.54 Im Schatten des Terrors wurden jüdische Selbsthilfeorganisationen gegründet, die den Verfolgten halfen, wenn sie in wirtschaftliche Not gerieten. 1933 entstanden die „Zentralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe“, der „Zentralausschuß für Hilfe und Aufbau“ und die „Reichsvertretung der deutschen Juden“, die 1935 in die „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ umbenannt wurde. Die „Reichsvertretung“ war die zentrale Organisation der deutschen Juden. Sie versuchte, die Folgen der Repression zu mildern, half bei der Auswanderung und unterstützte Verfolgte, die durch die Verdrängung aus dem Beruf oder den Verlust Christine Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“. Zur Lebenslage der älteren Generation im Nationalsozialismus, Berlin 2005, S. 132 – 157. 50 Lisa Pine, Nazi Family Policy, 1933 – 1945, Oxford 1997. 51 Statistisches Handbuch von Deutschland (wie Anm. 44), S. 610 – 613. 52 Marie-Luise Recker, Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg, München 1985. 53 Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 38), Bd. 3, S. 110 – 150. 54 Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 38), Bd. 3, S. 183.

II. Jugend

201

ihres Vermögens verarmt waren. 1939 wurde die „Reichsvertretung“ durch die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ abgelöst. Nachdem die jüdische Bevölkerung von der Fürsorge ausgeschlossen war, wurden die Selbsthilfeorganisationen zur einzigen Hilfe. Nach dem Beginn der Deportationen setzten die Selbsthilfeorganisationen unter schwierigsten Bedingungen ihre Tätigkeit fort. Im Winter 1941 – 1942 unterstützte die jüdische Winterhilfe 19.000 Hilfsbedürftige. Auch das Personal der jüdischen Selbsthilfeorganisationen wurde schließlich deportiert und ermordet. Im Juli 1943 wurde das Büro der Reichsvereinigung geschlossen.55

II. Jugend 1. Die frühen Jahre Die Weimarer Republik übernahm aus dem Kaiserreich die institutionelle Arbeitsteilung zwischen Familie und Schule. In den ersten Lebensjahren sollte die Familie die wesentliche Sozialisationsinstanz sein. Vom sechsten Lebensjahr an trat die Schule neben die Familie. Die öffentliche Kleinkindererziehung sollte aber gestärkt werden. Nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz von 1922 gehörte der Kindergarten zu dem Bereich der Jugendfürsorge, deren Aufgabe es war, Defizite in der familialen Erziehung zu kompensieren.56 Diese Zuordnung war umstritten, da allmählich die Erziehungsfunktion des Kindergartens anerkannt wurde. Bildungsreformer betonten die allgemeinbildende Bedeutung der öffentlichen Kleinkindererziehung und forderten einen mindestens einjährigen Besuch des Kindergartens für alle Kinder zur Vorbereitung auf die Schule. Die Forderung scheiterte aber am Widerstand der bürgerlichen Parteien und der Kirchen.57

2. Schule Nachdem das Kaiserreich die allgemeine Schulpflicht durchgesetzt hatte, wollte die Weimarer Republik vor allem die allgemeine Schulbildung verbessern und die Klassenunterschiede im Schulsystem verringern. Die allgemeine Schulpflicht wurde 1919 bis zum 18. Lebensjahr verlängert. Die ersten vier Jahregangsstufen der Volksschule wurden 1920 als Grundschule zur Regelschule für alle Kinder bestimmt. Die „Vorschule“, die es bis dahin noch als besondere Grundstufe der weiterführenden Schulen gab, wurde abgeschafft. Nach der vierten Schulklasse, im 55 Gudrun Maierhof, Selbstbehauptung im Chaos. Frauen in der jüdischen Selbsthilfe 1933 – 1945, Frankfurt am Main 2002. 56 Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt vom 9. Juli 1922. Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1922 I, S. 633 – 647, § 1. 57 Christa Hasenclever, Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900, Göttingen 1978, S. 68.

202

4. Kap.: Reform und Krise

allgemeinen mit dem zehnten Lebensjahr, teilten sich die Bildungswege der Kinder. Der größte Teil der Schüler und Schülerinnen verbrachte weitere vier Jahre in der Volkschule. Nach acht Jahren, wenn die Schulzeit sich nicht durch die Wiederholung einer Klasse verlängerte, endete die Schulzeit für die meisten Kinder im Alter von 14 Jahren. Für die Jugendlichen, die nicht weiterführende Schulen besuchten, wurde das duale System von betrieblicher und schulischer Ausbildung ausgebaut. Die Berufsschulen erteilten parallel zur betrieblichen Ausbildung oder zur Erwerbstätigkeit einen zeitlich eingeschränkten Unterricht.58 Erste Ansätze zu einer Öffnung weiterführender Bildungswege waren die Einrichtung von Aufbaugymnasien für Volksschüler und Volksschülerinnen, und die Gründung von Abendgymnasien für Berufstätige.59 Unter der nationalsozialistischen Diktatur blieb der institutionelle Rahmen des Schulsystems im wesentlichen erhalten. Das Regime passte jedoch das Personal und die Lehrinhalte seinen Zielen an. Demokratische Lehrer und Lehrerinnen wurden ebenso aus den Schulen vertrieben wie die Lehrer und Lehrerinnen jüdischer Abstammung. Neben den allgemeinen weiterführenden Schulen wurden einzelne Spezialschulen eingerichtet, die den Nachwuchs für die Führungspositionen in der Partei und im Staat ausbilden sollten. Die „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten“ waren staatliche Internatsschulen mit besonderer ideologischer Prägung, die zum Abitur führten. Noch stärker parteipolitisch orientiert waren die „AdolfHitler-Schulen“, die ab 1937 gegründet wurden. Sie unterstanden nicht dem Staat, sondern der NSDAP und sollten vor allem den Führungsnachwuchs für die Partei ausbilden. Im wesentlichen verließ das Regime sich aber auf das allgemeine Schulsystem. 1940 gab es 1600 Oberschulen, 23 „Nationalpolitische Erziehungsanstalten“ und zwölf „Adolf-Hitler-Schulen“.60 Das Mindestalter von 13 Jahren für den Eintritt in die Arbeitswelt blieb in der Weimarer Republik bestehen. Sozialpolitiker forderten eine Heraufsetzung des Mindestalters und insbesondere auch eine konsequente Durchsetzung des Jugendschutzes, da die einschlägigen Bestimmungen im Alltag häufig missachtet wurden. Hermann Maaß, Vorsitzender des „Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände“, schrieb 1929: „Wir wollen eine Ordnung, welche die Jugend in Voraussicht künftiger Aufgaben als Mitträger des Volkes, des Staates, der Kultur, der Wirtschaft, zu Lebenskraft und Gesellschaftsfähigkeit heranreifen läßt; eine Ordnung, welche es als unsittlich, als gefährlich für den Bestand des Volkes verwirft, daß die Mehrzahl der jugendlichen Menschen durch eine frühzeitige, übermäßige 58 Albin Gladen, Berufliche Bildung in der deutschen Wirtschaft 1918 – 1945, in: Hans Pohl, Hg., Berufliche Aus- und Weiterbildung in der deutschen Wirtschaft seit dem neunzehnten Jahrhundert, Wiesbaden 1979; Peter Lundgreen, Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick, 2 Bde., Göttingen 1980 – 1981, Bd. 2, S. 32 – 33. 59 Walter Schulze / Christoph Führ, Das Schulwesen in der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1973, S. 19. 60 Margret Kraul, Das deutsche Gymnasium 1780 – 1980, Frankfurt am Main 1984, S. 173 – 178.

II. Jugend

203

Anspannung im Dienste der Gütererzeugung und Güterbewirtschaftung in der Bildung ihrer leiblichen, geistigen und sittlichen Kräfte gehemmt wird; wir erstreben für die Jugend eine gerechte Ordnung, in der Pflichten ihr Maß in Rechten finden“.61 Kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde 1938 das Mindestalter für die Erwerbstätigkeit auf 14 Jahre erhöht. „Alle Jugendlichen zu seelisch und körperlich gesunden Volksgenossen zu erziehen, ist völkische Notwendigkeit und nationalsozialistische Pflicht“, hieß es in der Präambel zu dem neuen Jugendschutzgesetz.62 Das angehobene Mindestalter hatte allerdings für den Alltag wenig Bedeutung, da die Jugendlichen nach Absolvierung der Schulpflicht ohnehin 14 bis 15 Jahre alt waren, wenn sie in den Beruf eintraten.

3. Parallelerziehung Zu den sozialpolitischen Initiativen der Weimarer Republik gehörte auch ein systematisches Konzept für die Jugendfürsorge. Grundlage war das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1922. Darin wurde ein allgemeiner Anspruch der Jugend auf Erziehung formuliert: „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“. Die Jugendfürsorge war nicht ein allgemeines Erziehungsprogramm, sondern sollte eintreten, wenn die Familie den Anspruch des Kindes auf Erziehung nicht erfüllte.63 Die wichtigsten Institutionen der Jugendfürsorge waren die kommunalen Jugendämter sowie die öffentlich kontrollierten und subventionierten privaten Institutionen. Den Jugendämtern wurde ein umfangreiches Programm zugewiesen. Zur Disziplinierungsfunktion gehörten die Mitwirkung bei der Schulaufsicht, die Fürsorgeerziehung, die Jugendgerichtshilfe, die Zusammenarbeit mit Polizeibehörden und die Unterbringung zur vorbeugenden Verwahrung. Wichtige Aufgaben aus dem Bereich der Schutzfunktion waren der Schutz der Pflegekinder, das Vormundschaftswesen und die Mitwirkung bei der Kontrolle der Erwerbsarbeit von Kindern und Jugendlichen. Die Jugendbildung wurde in Zusammenarbeit mit den Kirchen, den Wohlfahrtsverbänden und den Jugendorganisationen erheblich ausgedehnt. Auch die öffentliche Kleinkindererziehung blieb im Programm der Jugendfürsorge und der Jugendämter.64 Im ersten Reformeifer war noch eine eigenständige materielle Jugendfürsorge vorgesehen, aber dieses Projekt scheiterte an den knappen Finanzen. Der Alltag der Jugendfürsorge wurde durch den Widerspruch zwischen dem umfangreichen Programm und den begrenzten Mitteln, aber auch durch den Widerspruch zwischen dem Reformversprechen und dem Erbe des Obrigkeitsstaates be61 Hermann Maaß, Vorwort, in: Bernhard Mewes, Die erwerbstätige Jugend. Eine statistische Untersuchung, Berlin 1929. 62 Gesetz über Kinderarbeit und über die Arbeitszeit der Jugendlichen (Jugendschutzgesetz) vom 30. April 1938. RGBl. 1938 I, S. 437 – 445. 63 Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt vom 9. Juli 1922. RGBl. 1922 I, S. 633 – 647, § 1. 64 Hasenclever, Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung (wie Anm. 57), S. 68.

204

4. Kap.: Reform und Krise

herrscht. Die Jugendfürsorge war vor allem durch die Disziplinierung auffälliger, schwieriger oder abweichender Kinder und Jugendlichen geprägt. Auf Antrag des Jugendamtes konnte durch das Amtsgericht als Vormundschaftsgericht eine „Fürsorgeerziehung“ angeordnet werden, wenn in der elterlichen Familie „Verwahrlosung“ festgestellt wurde. Die Kinder oder Jugendlichen wurden dann meist in Heime eingewiesen.65 In vielen dieser Heime herrschten schlimme Zustände, unzulängliche Unterbringung, schlechte Ernährung und Gewalt. Die Jugendämter hatten es offenbar nicht verstanden, die Ziele der Jugendfürsorge im Alltag durchzusetzen. Die „Krise der Fürsorgeerziehung“ diskreditierte in der Öffentlichkeit die Reformansätze.66 Zu Beginn des Nationalsozialismus gab es Überlegungen, die Jugendfürsorge zu einem allgemeinen staatlichen Erziehungsprogramm auszubauen und für die Ziele des Regimes zu instrumentalisieren. Diese Pläne wurden aber durch die Entwicklung der „Hitler-Jugend“ zu einer staatlichen Jugendorganisation überholt.67 Die Fürsorgeaufgaben der Jugendämter gingen zum Teil auf die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ über. Der Jugendverwaltung blieben vor allem Aufgaben der Disziplinierung, die zunehmend in die Repression und Verfolgung von unangepassten oder oppositionellen Jugendlichen überging. Seit 1940 wurden Jugendschutzlager eingerichtet, die den Konzentrationslagern des Regimes ähnlich waren.68 Für die ideologische Unterwerfung der Kinder und Jugendlichen unter die nationalsozialistische Diktatur sollte vor allem die „Hitler-Jugend“ sorgen. Die „HitlerJugend“ wurde 1926 als Jugendorganisation der NSDAP gegründet. Ende 1932 hatte sie 108.000 Mitglieder. Nach dem Machtwechsel blieb sie zunächst eine Parteiorganisation mit freiwilliger Mitgliedschaft, wurde aber politisch aufgewertet. Baldur von Schirach, der seit 1931 als „Reichsjugendführer der NSDAP“ die Hitler-Jugend leitete, wurde im Juni 1933 zum „Jugendführer des Deutschen Reiches“ ernannt. Der neue Titel sollte über die Parteifunktion hinaus einen staatlichen Auftrag signalisieren. Alle anderen Jugendverbände wurden verboten.69 Die leitenden Funktionäre der Hitler-Jugend behaupteten, in besonderer Weise die Jugend als die Zukunft der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung zu vertreten. In dem 65 David Crew, „Eine Elternschaft zu Dritt“ – staatliche Eltern? Jugendwohlfahrt und Kontrolle der Familie in der Weimarer Republik 1999 – 1933, in: Alf Lüdtke, Hg., „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997, S. 271 – 273. 66 Detlev J. K. Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 – 1932, Köln 1986, S. 195 – 206. 67 Hasenclever, Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung (wie Anm. 57), S. 127 – 153. 68 Hasenclever, Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung (wie Anm. 57), S. 133 – 134; Peukert, Sozialdisziplinierung (wie Anm. 66), S. 300 – 301. 69 Michael H. Kater, Hitlerjugend und Schule im Dritten Reich, in: Historische Zeitschrift, 228 (1979); Michael H. Kater, Die deutsche Elternschaft im nationalsozialistischen Erziehungssystem. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Familie, in: Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte, 67 (1980); Arno Klönne, Jugend im Dritten Reich. Die HitlerJugend und ihre Gegner, Düsseldorf 1982.

II. Jugend

205

Gesetzentwurf zur Gründung einer Staatsjugend hieß es 1935: „Die Jugend ist mehr als nur ein Teil des Volkes. Sie ist seine Zukunft. Sie stellt dereinst die Träger des Staates, sie bestimmt einmal Gesicht und Haltung des Volkes, sie ist ,das Volk‘ von morgen. Es ist Aufgabe des Staates, den Einbau der Deutschen Jugend in den Staat, der sich in einem immerwährenden Erneuerungsprozeß vollzieht, zu sichern und eine Staatsjugend zu schaffen, aus der sich nach dem Prinzip der Auslese das Führerkorps des Staates und der Partei fortlaufend ergänzt.“70 Drei Stellen müssten bei der Erziehung und Bildung der deutschen Jugend zusammenwirken, erklärte Schirach im Januar 1936 auf einer „Führertagung“ der „Hitler-Jugend“ in Königsberg: „das deutsche Elternhaus, die deutsche Schule und die Jugendführung des Reiches mit ihren durchführenden Organen.“71 Die politische Aufwertung der „Hitler-Jugend“ schlug sich in steigenden Mitgliederzahlen nieder; Ende 1935 hatte die Organisation 3,9 Millionen Mitglieder.72 Im Dezember 1936 wurde die „Hitler-Jugend“ zu einer staatlichen Jugendorganisation mit Zwangsmitgliedschaft aufgewertet. In der Präambel des Gesetzes über die „Hitler-Jugend“ wurde der nationalsozialistische Anspruch auf die Jugend formuliert: „Von der Jugend hängt die Zukunft des Deutschen Volkes ab. Die gesamte deutsche Jugend muß deshalb auf ihre künftigen Pflichten vorbereitet werden.“73 Die deutsche Jugend war nach dem neuen Gesetz „außer in Elternhaus und Schule in der Hitlerjugend körperlich, geistig und sittlich im Geist des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen.“74 Für alle Kinder und Jugendlichen von zehn bis 18 Jahren wurde eine „Dienstpflicht“ in der Hitler-Jugend eingeführt. Die Jungen waren von zehn bis 14 Jahren Mitglied im „Deutschen Jungvolk“ (DJ) und von 14 bis 18 Jahren in der „Hitler-Jugend“ im engeren Sinne (HJ). Die Mädchen waren von zehn bis 14 Jahren Mitglied im „Jungmädelbund“ und von 14 bis 18 Jahren im „Bund Deutscher Mädel“ (BDM). Kinder jüdischer Abstammung waren von der Mitgliedschaft in der „Hitler-Jugend“ ausgeschlossen.75 Durch die Zwangsmitgliedschaft stieg die Mitgliederzahl noch einmal stark an. Ende 1938 waren 7,7 Millionen Kinder und Jugendliche in der „Hitler-Jugend“ organisiert. Die Indoktrination in der „Hitler-Jugend“ sollte auf die geschlechtsspezifischen Lebensläufe vorbereiten. Bei den vierzehn- bis achtzehnjährigen Jungen der „Hitler-Jugend“ im engeren Sinne standen der Weg in den Beruf, aber auch die Vorbereitung auf den Militärdienst im Vordergrund. Im 70 Jugendführer des Deutschen Reiches von Schirach an Staatssekretär Lammers, 12. Oktober 1935. Bundesarchiv Berlin (BArchB) R 43 II / 525. 71 Deutsches Nachrichtenbüro, 14. Januar 1936. BArchB R 43 II / 512. 72 Gabriele Kinz, Der Bund Deutscher Mädel. Ein Beitrag zur außerschulischen Mädchenerziehung im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1990, S. 25. 73 Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936. RGBl. 1936 I, S. 993. 74 Gesetz über die Hitlerjugend, § 2. Erste Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitler-Jugend vom 25. März 1939. RGBl. 1939 I, S. 709 – 710. 75 Zweite Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitler-Jugend vom 25. März 1939. RGBl. 1939 I, S. 710 – 712.

206

4. Kap.: Reform und Krise

„Jungmädelbund“ und im „Bund Deutscher Mädel“ wurden die Mädchen auf eine künftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet.76 Trotz des hohen ideologischen Anspruchs musste die Staatsjugend mit ihrem Zugriff auf die Zeit der Kinder und Jugendlichen hinter der Schule zurückstehen. In einem förmlichen Abkommen zwischen dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der staatlichen Jugendorganisation wurde 1938 festgelegt, dass die Vormittage von Montag bis Samstag der Schule gehörten und dass auch vier Nachmittage in der Woche für den Unterricht oder für Hausaufgaben bestimmt waren. Der „Hitler-Jugend“ blieben für ihre Aktivitäten nur der Mittwochnachmittag, der Samstagnachmittag und der Sonntag. Die gemeinsamen Ausflüge und Reisen, die ein wichtiger Teil des Erziehungskonzepts der Staatsjugend waren, sollten an den Wochenenden oder in den Schulferien stattfinden.77 Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges trat für die männlichen Jugendlichen der „Hitler-Jugend“ die vormilitärische Ausbildung in den Vordergrund. Die Militarisierung der „Hitler-Jugend“ wurde vor allem von Arthur Axmann betrieben, der 1940 Baldur von Schirach als „Jugendführer des Deutschen Reiches“ ablöste. Gegen Kriegsende mobilisierte die „Hitler-Jugend“ ihre Mitglieder als Kindersoldaten.78 4. Abrüstung und Wiederaufrüstung Die militärische Ausbildung verschwand in der Weimarer Republik aus dem Programm der Anforderungen, die von der Gesellschaft an die Jugend gestellt wurden. Es waren nicht die Deutschen selbst, sondern die alliierten Sieger, die 1919 die Wehrpflicht in Deutschland abschafften. Nach dem Versailler Vertrag durfte Deutschland nur eine personell begrenzte Berufsarmee aufstellen.79 Die nationalsozialistische Diktatur führte 1935 die allgemeine Wehrpflicht wieder ein. Das Mindestalter für den Militärdienst war im allgemeinen achtzehn Jahre. Einige Jugendliche traten aber auch schon im Alter von siebzehn Jahren in das Militär ein. Die Militärzeit dauerte anfangs ein Jahr, wurde aber schon 1936 auf zwei Jahre verlängert, und bald darauf ging die Wehrpflicht in den Krieg über. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden insgesamt 18 Millionen Männer zum 76 Kinz, Bund Deutscher Mädel (wie Anm. 72), S. 25; Martin Klaus, Mädchen in der Hitlerjugend. Die Erziehung zur „deutschen Frau“, Köln 1980. 77 Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Rust an Reichsjugendführer von Schirach, 5. Februar 1938. BArchB R 43 II / 522. 78 Rolf Schörken, Sozialisation inmitten des Zusammenbruchs. Der Kriegseinsatz von 15und 16-jährigen Schülern bei der deutschen Luftabwehr 1943 – 1945, in: Dittmar Dahlmann, Hg., Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution, Paderborn 2000. 79 Wolfram Wette, Deutsche Erfahrungen mit der Wehrpflicht 1918 – 1915. Abschaffung in der Republik und Wiedereinführung durch die Diktatur, in: Roland G. Foerster, Hg., Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-institutionelle Wirkung, München 1994.

II. Jugend

207

Militär eingezogen.80 Seit 1943 wurden Schüler im Alter von sechzehn bis siebzehn Jahren als „Luftwaffenhelfer“ zur Flugabwehr verpflichtet. Lehrlinge wurden in der Produktion gebraucht und mussten daher im allgemeinen nicht Luftwaffenhelfer werden. Der Begriff „Luftwaffenhelfer“ sollte einen Unterschied zu den regulären Soldaten suggerieren. Aber in den Bombenangriffen taten die Kindersoldaten den gleichen Dienst wie die anderen Soldaten der Flugabwehr. Als der Personalmangel sich verschärfte, wurden seit 1944 bei der Flugabwehr auch schon manche fünfzehnjährigen Schüler als Kindersoldaten eingesetzt. Im September 1944 wurde der „Deutsche Volkssturm“ gebildet. Alle männlichen Jugendlichen und Erwachsenen von 16 bis zu 60 Jahren wurden zum Kriegsdienst verpflichtet.81 Für Frauen gab es keine Wehrpflicht. Sie wurden als Freiwillige in verschiedene Tätigkeiten im Militärapparat beschäftigt, in der Pflege von Verwundeten und Kranken, als Nachrichtenhelferinnen, im Flugmeldedienst und in der Militärverwaltung. Seit 1943 wurden junge Frauen aus dem „Reichsarbeitsdienst für die weibliche Jugend“ zum Dienst in der Wehrmacht verpflichtet. In den letzten Kriegswochen wurden Frauen auch als bewaffnete Frontsoldatinnen eingesetzt.82

5. Jugenderfahrungen Die Jugenderfahrungen wurden durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen geprägt. Die Ausnahmesituation des Krieges schuf eine besondere Identität der Jugendlichen, die aus dem Beruf oder aus einer Ausbildung gerissen wurden, bevor sie sich in der Gesellschaft eingerichtet hatten, und die, selbst verändert, in eine veränderte Welt zurückkehrten. Zwar hatte der Krieg alle Menschen, Junge und Alte, Männer und Frauen, in Mitleidenschaft gezogen. Die Jugend der Jahrgänge von 1885 bis 1895, die den größten Teil der Frontsoldaten gestellt hatte, war nach allgemeiner Auffassung jedoch in besonderer Weise in ihrem weiteren Leben durch die Kriegserfahrungen geprägt. Die „fehlende Generation“ nannte Kurt Tucholsky sie, „dezimiert, auseinandergetrieben, direktionslos gemacht, in schlechtem Gesundheitszustand und selbst um Jahre nach vorn geworfen“.83 Karl Mannheim hatte die Generation der Frontkämpfer im Sinn, als er in den zwanziger 80 Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, S. 317 – 323. 81 Rudolf Absolon, Die Wehrmacht im Dritten Reich, Bd. 6, Boppard 1995, S. 592 – 594; Bernhard R. Koerner, „Soldaten der Arbeit“. Menschenpotential und Menschenmangel in Wehrmacht und Kriegswirtschaft, in: Dietrich Eichholtz, Hg., Krieg und Wirtschaft. Studien zur deutschen Wirtschaftsgeschichte 1939 – 1945, Berlin 1999, S. 125 – 127; Klaus Mammach, Der Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1944 / 45, Köln 1981. 82 Absolon, Wehrmacht im Dritten Reich (wie Anm. 81), S. 449 – 474, 593 – 594; Stefan Bajohr, Weiblicher Arbeitsdienst im „Dritten Reich“ zwischen Ideologie und Ökonomie, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 3 / 1980, S. 356 – 357. 83 Ignaz Wrobel (Kurt Tuchoksky), Die fehlende Generation, in: Die Weltbühne, 15. Juni 1926, S. 931.

208

4. Kap.: Reform und Krise

Jahren auf die „prägende Gewalt neuer Situationen“ für die Jugend hinwies, die im Unterschied zur älteren Generation ihren Erfahrungszusammenhang erst noch zu entwickeln hat.84 In einer Zeit politischer Umbrüche, sozialer Veränderungen und wirtschaftlicher Wechsellagen konnten kollektive Mentalitäten, Lebensstile und Ausdrucksformen zu den prägenden Jugenderfahrungen gehören. Im Mythos der „Frontkämpfer“ verschmolzen die Leidenserfahrungen der jungen Soldaten des Ersten Weltkriegs mit den Lebenserfahrungen der jungen Erwerbstätigen der zwanziger Jahre. Die jungen Frontkämpfer gehörten zu den geburtenstarken Jahrgängen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. In den zwanziger Jahren trafen die Angehörigen dieser Jahrgänge, nun zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren alt, auf einen Arbeitsmarkt, der unter dem Einfluss von Kriegsfolgen, Inflation und Deflation wenig flexibel war. Die älteren Daheimgebliebenen waren gegenüber den nachdrängenden Jüngeren im Vorteil, sie hatten sich beruflich etabliert und waren nicht gewillt, ihren Arbeitsplatz zu räumen.85 Die Kinder und Jugendlichen der nationalsozialistischen Ära sind im Rückblick als eine „betrogene Generation“ charakterisiert worden.86 Vom zehnten Lebensjahr an wurden sie einer massiven ideologischen Beeinflussung unterworfen. Hitler entwarf 1938 das Programm einer lückenlosen faschistischen Erziehung, Beeinflussung und Kontrolle der Jugend, die mit dem Eintritt in die „Hitler-Jugend“ beginnen sollte: „Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschen Spaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewusstsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei oder drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben. Und wenn mir einer sagt, ja, da werden aber doch immer noch welche überbleiben: Der Nationalsozialismus steht nicht am Ende seiner Tage, sondern erst am 84 Karl Mannheim, Das Problem der Generationen (1928), in: Martin Kohli, Hg., Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt 1978, S. 46. 85 Domenica Tölle, Altern in Deutschland 1815 – 1933. Eine Kulturgeschichte, Grafschaft 1996, S. 275 – 304. 86 Matthias von Hellfeld / Arno Klönne, Die betrogene Generation. Jugend in Deutschland unter dem Faschismus. Quellen und Dokumente, Köln 1985.

III. Beruf

209

Anfang.“87 Auf die ideologische Indoktrination der Jugend folgten die Kriegserfahrungen der jungen Erwachsenen. Die Befreiung im Mai 1945 war nicht nur ein politischer Umbruch, sondern auch ein umfassender Wertewandel. Die Erfahrungen von Diktatur und Krieg wurden von der Jugend aber nicht als Generationenkonflikt thematisiert. Im totalen Krieg verschwammen die Grenzen zwischen den Generationen ebenso wie die Grenzen zwischen Front und Heimat. Die Front konnte der Stellungskrieg sein, die Besatzungsmacht in fremden Ländern, der Wachturm eines Konzentrationslagers oder der Luftkrieg. Die identitätsstiftende Prägung war nicht die Auseinandersetzung mit der älteren Generation, sondern der individuelle Übergang aus der Ära von Diktatur, Nationalismus, Rassenwahn und Krieg in die neue Welt der Demokratie, der friedlichen Verständigung und der Betonung individueller Lebenschancen.88

III. Beruf 1. Beschäftigung und Arbeitslosigkeit In der Weimarer Republik wurden die Arbeitsbeziehungen auf der Grundlage eines sozialen Kompromisses zwischen Kapital und Arbeit unter Einbeziehung des Staates neu geregelt. In der Revolution von 1918 – 1919 vereinbarten die Unternehmerverbände und die Gewerkschaften wirtschafts- und sozialpolitische Eckpunkte wie die wechselseitige Anerkennung, kollektive Tarifverträge, die Errichtung der Zentralen Arbeitsgemeinschaft und die Einführung des Achtstundentages. Die Stellung der Unternehmerverbände und der Gewerkschaften wurde aufgewertet, der Staat behielt aber mit dem Instrument der Zwangsschlichtung wesentlichen Einfluss auf den Ausgleich der Interessen zwischen Kapital und Arbeit.89 Die Grenzen der Reformen lagen darin, dass der Regulierung der Arbeitsbeziehungen die Ergänzung durch eine aktive Wirtschaftspolitik fehlte. Die Weimarer Verfassung von 1919 gewährleistete ein Recht auf Arbeit, oder mindestens, wie einschränkend hinzugefügt wurde, ein Recht auf Unterstützung, wenn Arbeitsuchende keinen Arbeitsplatz fanden. Im Widerspruch zu dem Optimismus der Weimarer Verfassung war die Erwerbstätigkeit aber in extremer Weise den wirtschaftlichen Wechsellagen von der Inflation über die relative Stabilisierung bis zur Weltwirtschaftskrise ausgesetzt. In den Anfangsjahren der Weimarer Republik sorgte die Inflationskonjunktur noch für einen relativ hohen Beschäftigungsstand. Aber 1923 87 Rede in Reichenberg am 4. Dezember 1938. Zitiert nach Klönne, Jugend im Dritten Reich (wie Anm. 69), S. 30. 88 Ulrich Herbert, Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke / Elisabeth Müller-Luckner, Hg., Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 102 – 109. 89 Johannes Bähr, Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik, Tarifpolitik, Korporatismus und industrielle Konflikte zwischen Inflation und Deflation, Berlin 1989.

14 Hardach

210

4. Kap.: Reform und Krise

stürzte die Inflationskonjunktur in eine Inflationskrise ab, die Arbeitslosigkeit nahm stark zu. In der Phase der relativen Stabilisierung von 1924 bis 1928 herrschte durchweg eine hohe Arbeitslosigkeit, mit nur kurzen Unterbrechungen. Selbst im Aufschwungsjahr 1927 waren neun Prozent der Gewerkschaftsmitglieder arbeitslos. Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vermochte das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht zu lösen. Die Arbeitslosenversicherung wurde bald schon von dem Ansturm der Arbeitslosen überwältigt. Die Ursachen der Massenarbeitslosigkeit waren zum einen die relativ große Zahl von Arbeitssuchenden, die mit der demographischen Expansion der mittleren Jahrgänge zusammenhing, zum anderen das zu schwache wirtschaftliche Wachstum.90 In der Weltwirtschaftskrise von 1929 – 1933 wurde die Massenarbeitslosigkeit zu einem alle anderen Lebensbereiche überschattenden Problem. Bis 1932 stieg die Arbeitslosenquote auf dreißig Prozent der abhängigen Erwerbspersonen.91 In der Revolution von 1918 – 1919 wurde der Achtstundentag mit einer Wochenarbeitszeit von 48 Stunden eingeführt. Seit 1924 wurde der Achtstundentag jedoch zunehmend durchbrochen. 1927 lag die wöchentliche Arbeitszeit in Industrie, Bergbau und Handwerk mit fünfzig Stunden bereits deutlich höher als in der revolutionären Phase. Während der Weltwirtschaftskrise wurde die Wochenarbeitszeit stark reduziert. Da es keinen Lohnausgleich gab, gingen auch die Einkommen stark zurück.92 Unter der nationalsozialistischen Diktatur sollte die Kooperation von Kapital, Arbeit und Staat durch einen autoritären Staat ersetzt werden, der die Wirtschaft seinem Willen unterwarf. Die Gewerkschaften wurden verboten, ihre Funktionäre wurden verfolgt, viele von ihnen gehörten zu den ersten Opfern des Regimes. Die Festsetzung von Löhnen und Arbeitsbedingungen wurde staatlichen „Treuhändern der Arbeit“ übertragen. Garant der Stabilität sollte eine ständische Fassade sein, die der Nationalsozialismus vom italienischen Faschismus übernahm.93 Die Stabilisierung der Beschäftigung war in der nationalsozialistischen Propaganda ein wichtiger Programmpunkt, mit dem das Regime die Unterstützung der Arbeiterklasse gewinnen wollte. In den ersten Jahren der Diktatur gehörte die Überwindung der Weltwirtschaftskrise zu der Doppelstrategie des Regimes, die Institutionen und Ideen der Arbeiterbewegung zu unterdrücken und gleichzeitig die einzelnen Arbeiter an den nationalsozialistischen Staat zu binden.94 Der zyklische Auf90 Dietmar Petzina, Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik, in: Werner Abelshauser, Hg., Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Zum Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Industriegesellschaft, Stuttgart 1987. 91 Dietmar Petzina / Werner Abelshauser / Anselm Faust, Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914 – 1945. Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch 3, München 1978, S. 119. 92 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 19), S. 213 – 214. 93 Rüdiger Hachtmann, Industriearbeit im „Dritten Reich“. Untersuchungen zu den Lohnund Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933 – 1945, Göttingen 1989.

III. Beruf

211

schwung der Konjunktur, verstärkt durch die öffentliche Arbeitsbeschaffung und die Aufrüstung, ließ die Arbeitslosigkeit zurückgehen. Auch der Arbeitsdienst und die 1935 eingeführte Wehrpflicht reduzierten die Zahl der Arbeitslosen. Ein freiwilliger Arbeitsdienst war bereits in der Weltwirtschaftskrise 1931 eingeführt worden. 1935 wurde eine Arbeitsdienstpflicht eingeführt. Männliche und weibliche Jugendliche sollten nach dem achtzehnten Lebensjahr einen Arbeitsdienst von sechs Monaten leisten.95 Seit dem Vierjahresplan von 1936 näherte man sich der Vollbeschäftigung. Aufrüstung und Autarkie bereiteten den Krieg vor.96 In dem Rüstungsboom der dreißiger Jahre stiegen die Wochenarbeitszeiten und Wochenverdienste wieder an.97 2. Männerkarrieren Die Rationalisierungsbewegung förderte in der Zeit der Weimarer Republik die Qualifikation der Beschäftigten. Die Bedeutung der ungelernten Arbeit ging zurück. 1930 führte die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung eine formale Klassifizierung der Qualifikationsstufen ein. Ungelernte Arbeiter verrichteten einfache Tätigkeiten, für die eine kurze Einweisung genügte. Dazu gehörten die Unterstützung der Facharbeiter und angelernten Arbeiter an den Maschinen, Transportarbeiten, Reinigungsarbeiten oder Hofarbeiten Der angelernte Arbeiter war eine mittlere Qualifikationsstufe, die vor allem in der Großindustrie verbreitet war. Angelernte Arbeiter hatten eine Ausbildung, die von einigen Wochen bis zu einem Jahr reichen konnte. Sie sollten in dieser Zeit lernen, bestimmte Arbeitsvorgänge nach Anweisung durchzuführen. Neben den Facharbeitern leisteten die angelernten Arbeiter einen großen Teil der industriellen Produktion. Sie unterschieden sich vom Facharbeiter durch die engere Ausbildung, aber nicht durch die Qualität oder die Produktivität ihrer Arbeit. Facharbeiter erhielten eine Ausbildung von meist drei Jahren und sollten in dieser Zeit die Fähigkeit zu selbständiger Arbeit erwerben.98 Der technische Fortschritt und der Wandel der Betriebsorganisation führten zu einer Verlängerung der produktiven Erwerbsphase. Der Altersabstieg setzte im allgemeinen nicht mehr mit dem vierzigsten Lebensjahr ein, wie in der Zeit des Kaiserreichs, sondern mit dem fünfzigsten Lebensjahr. Die Gewerkschaften 94 Ulrich Herbert, Arbeiterschaft im „Dritten Reich“, in: Geschichte und Gesellschaft, 15 (1989); Eberhard Heuel, Der umworbene Stand. Die ideologische Integration der Arbeiter im Nationalsozialismus 1933 – 1935, Frankfurt am Main 1989. 95 Bajohr, Weiblicher Arbeitsdienst im „Dritten Reich“ (wie Anm. 82). 96 Abelshauser, Germany: Guns, Butter, and Economic Miracles, in: Mark Harrison, Hg., The Economics of World War II, Cambridge 2000. 97 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 255. 98 Brigitte Kassel, Frauen in einer Männerwelt. Frauenerwerbsarbeit in der Metallindustrie und ihre Interessenvertretung durch den Deutschen Metallarbeiter-Verband 1891 – 1933, Köln 1997, S. 108 – 109.

14*

212

4. Kap.: Reform und Krise

kämpften mit dem Instrument der kollektiven Tarifverträge für eine größere Stabilität der Erwerbsbiographie. Im Durchschnitt der Beschäftigten verschiedener Industriezweige und Qualifikationsstufen fiel der Altersabstieg nicht mehr so drastisch aus, wie er sich in den betriebssoziologischen Untersuchungen des Vereins für Socialpolitik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts darstellte. Nach einer Untersuchung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung aus dem Jahr 1928 verdienten die Arbeiter im Alter von 19 bis 20 Jahren im Durchschnitt 137 RM im Monat, im Alter von 41 bis 45 Jahren erreichten sie mit 201 RM im Monat ihren höchsten Lohn, und im Alter von 61 bis 65 Jahren ging der Lohn wieder auf 177 RM zurück.99

3. Frauenkarrieren Als der Frieden einkehrte, sollten die Frauen ihre neuen Arbeitsplätze wieder verlassen, um Arbeitsplätze für die heimkehrenden Soldaten zu schaffen. Verheiratete erwerbstätige Frauen wurden als „Doppelverdienerin“ kritisiert und mit dem Schlagwort „Die Frau gehört ins Haus“ aus dem Beruf gedrängt.100 Trotz mancher Widerstände setzte sich aber in der Weimarer Republik ein Wandel in der Erwerbstätigkeit der Frauen durch. Frauen traten zunehmend als Angestellte der großen Unternehmen, in der öffentlichen Verwaltung und in den Freien Berufen auf.101 Der Anteil der Frauen an den Beschäftigten blieb jedoch überraschend stabil. 1925 waren, wie schon vor dem Krieg, 36 Prozent der Beschäftigten weiblich.102 Es gab mehr Büroangestellte und Verkäuferinnen, und manche Frauen fanden den Weg in Berufe der neuen Mittelklasse, aber es gab weniger Bäuerinnen, Landarbeiterinnen, Textilarbeiterinnen oder Hausangestellte.103 Die Ideologie der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wurde offenbar durch die Modernisierung der Frauenerwerbstätigkeit nicht erschüttert. Die Vorbehalte Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 22 – 56. Susanne Rouette, Nach dem Krieg: Zurück zur normalen Hierarchie der Geschlechter, in: Karin Hausen, Hg., Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993. 101 Christina Benninghaus, Die anderen Jugendlichen. Arbeitermädchen in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1999; Karen Hagemann, Ausbildung für die „weibliche Doppelrolle“. Berufswünsche, Berufswahl und Berufschancen von Volksschülerinnen in der Weimarer Republik, in: Karin Hausen, Hg., Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993. 102 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 19), S. 204 – 205, 210; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 140, 144. 103 Stefan Bajohr, Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit 1914 bis 1945, Marburg 1979, S. 168 – 218; Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1986, S. 171 – 174; Karen Hagemann, Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 351 – 507. 99

100

III. Beruf

213

gegen die Berufstätigkeit der Frauen wurden exemplarisch in der Enquete zur Sozialpsychologie der Arbeiter und Angestellten deutlich, die das Institut für Sozialforschung am Ende der Weimarer Republik durchführte. In der Untersuchung sollten mit einem umfangreichen Fragebogen drei sozialpsychologische Profile charakterisiert werden, der autoritäre Charakter, der revolutionäre Charakter und der ambivalente Charakter. Eine der Fragen bezog sich auf die Berufstätigkeit der Frauen. Die Befragten, die dem autoritären Charakter zugeordnet wurden, lehnten die Berufstätigkeit der Frauen erwartungsgemäß ab. Ein städtischer Steuerbeamter und ein Korrektor antworteten übereinstimmend: „die Frau gehört ins Haus“. Ein Staatspolizist sah das ebenso: „nein, die Frau gehört in den Haushalt“. Die Antwort eines Pumpenwärters verweist auf die hohe Arbeitslosigkeit der Zeit: „nein; es ist ja für die Männer nicht genug Arbeit da.“ Ein Verwaltungsassistent im Statistischen Reichsamt begründete die Ablehnung ausführlicher: „Nein. Weil dadurch dem männlichen Geschlecht die Arbeitsstellen genommen werden. Dadurch werden die Ehen und Geburten vermindert und der Sinn für Familienleben geht verloren“.104 Auch die Reaktionen aus dem Spektrum des ambivalenten Charakters waren durchweg ablehnend. Ein Schriftgießer erklärte kategorisch: „nein, gehört ins Haus“. „Nein. Der Haushalt leidet darunter“, meinte ein Schlosser. Ein Schriftsetzer versuchte, die Hausarbeit aufzuwerten: „Nein. Haushalt pflegen ist mehr wert“. Zwei der Befragten präzisierten, dass sie die Berufstätigkeit verheirateter Frauen und Mütter ablehnten: „Nein. Eine verheiratete Frau gehört in den Haushalt“, antwortete ein Buchdrucker. Und eine Verkäuferin begründete ihre Ablehnung: „nein, eine Frau kann nicht ganz Mutter und Hausfrau sein, wenn sie noch beruflich tätig ist“.105 Überraschend ist vielleicht, dass auch die Männer, die dem revolutionären Charakter zugeordnet wurden, in linken Parteien organisiert waren und sozialistische Publikationen lasen, sich mehrheitlich gegen die Berufstätigkeit der Frauen aussprachen. „Nein; solange genug Männer vorhanden, sollen diese verwandt werden“, meinte ein Schrankenwärter. Ein Handschuhschneider verwies darauf, dass auch die Hausarbeit getan werden musste: „Nein, da Arbeit zu Hause genug“. Und ein Maschinensetzer nahm das Argument der Doppelverdiener-Kampagne auf: „nein, nur wenn alleinstehend, Mann arbeitslos“. Zu den Befürwortern der Frauenerwerbstätigkeit gehörten ein Kraftfahrer, der schlicht mit „Ja“ antwortete, und ein Schriftsetzer, der als einziger politisch argumentierte: „Ja, damit das Heim nicht zur Welt wird“.106 Zur nationalsozialistischen Ideologie gehörte die Verdrängung der Frauen aus dem Beruf. Mit dieser ideologisch begründeten Diskriminierung verband sich in den Anfangsjahren der Diktatur das wirtschaftspolitische Motiv, durch die Entlassung 104 Max Horkheimer, Hg., Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris 1936, S. 253. 105 Horkheimer, Autorität und Familie (wie Anm. 104), S. 267. 106 Horkheimer, Autorität und Familie (wie Anm. 104), S. 260.

214

4. Kap.: Reform und Krise

der Frauen mehr Arbeitsplätze für arbeitslose Männer zu gewinnen. Die geschlechtsspezifische Segmentierung des Arbeitsmarktes wurde daher verstärkt. Frauen wurde der Zugang zu akademischen Berufen und zu höheren Positionen erschwert oder gar versperrt. Seit dem Vierjahresplan von 1936 trat eine Wende in der Arbeitsmarktpolitik ein, da die Frauen nunmehr als notwendige Arbeitskräfte gesucht wurden. Die Ideologie der Geschlechterverhältnisse geriet in Konflikt mit den Zielen der Aufrüstung. Darüber hinaus sollten die Frauen auch der Landwirtschaft und den Haushalten als billige Arbeitkräfte erhalten bleiben. 1938 wurde ein „Pflichtjahr“ für junge Frauen eingeführt. Ledige Frauen wurden verpflichtet, zwischen Schule und Beruf ein Jahr in der Landwirtschaft oder in einem Haushalt tätig zu sein. Die Mobilisierung der Frauen für die Rüstungswirtschaft hatte aber bis zum Krieg kaum Erfolg. Das hatte verschiedene Gründe. Die nationalsozialistische Frauenideologie betonte nach wie vor die Bestimmung der Frau für die Familie, die „Doppelverdiener“-Kampagne wirkte nach, und die Arbeitsbedingungen und Löhne waren oft unattraktiv.107 Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs betrug 1939 der Anteil der Frauen an den Erwerbspersonen wie schon in früheren Generationen 36 Prozent.108 Im Zweiten Weltkrieg verstärkte das Regime seine Bemühungen, Frauen für die Rüstungsindustrie zu gewinnen, um Ersatz für die mobilisierten Männer zu finden. Diese Politik stieß jedoch auf hinhaltenden Widerstand. Das hatte wieder, wie schon die geringe Mobilisierung der Frauen für die Aufrüstung, verschiedene Gründe. Anders als im Ersten Weltkrieg waren die Frauen nicht durch wirtschaftliche Not zur Erwerbstätigkeit gezwungen. Mit Rücksicht auf die Stimmung der Bevölkerung wurde 1939 eine allgemeine Familienunterstützung für die Soldatenfamilien eingeführt. Im Unterschied zu der unzulänglichen Fürsorge des Ersten Weltkriegs sollte die Familienunterstützung einen Lohnersatz darstellen, der die Aufrechterhaltung des bisherigen Lebensstandards ermöglichte.109 Da die meisten Konsumgüter rationiert waren, boten zusätzliche Geldeinkommen aus einer Erwerbstätigkeit kaum einen Anreiz. Hinzu kam, dass die Doppelbelastung durch Familie und Beruf als Folge der Mangelwirtschaft, der schlechten Verkehrsverbindungen und des Luftkriegs unerträglich wurde. In den ersten Kriegsjahren ging die Zahl der erwerbstätigen Frauen sogar zurück. Ab 1942 gab es wieder einen Anstieg, und im Mai 1944 wurde ungefähr der Stand von 1939 erreicht.110 Der Mangel an Arbeitskräften in der Kriegswirtschaft sollte im wesentlichen durch ausländische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen ausgeglichen werden.111 Im 107 Bajohr, Die Hälfte der Fabrik (wie Anm. 103), S. 219 – 250; Frevert, Frauen-Geschichte (wie Anm. 103), S. 200 – 214. 108 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 90, 101 – 102, 140. 109 Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995. 110 Bajohr, Die Hälfte der Fabrik (wie Anm. 103), S. 251 – 297. 111 Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 1986.

III. Beruf

215

Mai 1944 machten deutsche Frauen 41 Prozent der Beschäftigten aus, deutsche Männer 39 Prozent, und ausländische Arbeitskräfte, meist Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, zwanzig Prozent.112 Manche traditionellen Frauenberufe gingen zurück, andere änderten sich.113 Die Arbeitsbedingungen der Hausangestellten wurden verbessert. Sie hatten mehr individuelle Freiheit, die drückende Abhängigkeit wurde gemindert. Die Gesindeordnung wurde im November 1918 aufgehoben. Die Arbeitszeit wurde geregelt, es gab feste Arbeitszeiten und freie Wochentage. Das gewandelte Berufsbild schlug sich auch in der amtlichen Statistik nieder. Waren in der Berufszählung von 1907 noch „Dienende für häusliche Dienste“ registriert worden, so gab es 1925 nur noch „Hausangestellte“. 114 Viele Frauen suchten immer noch eine Beschäftigung als Heimarbeiterin, weil die Heimarbeit besser mit der Haushaltsführung und der Pflege von Kindern zu vereinbaren war als die Fabrikarbeit. Gerade diese Tätigkeit blieb aber aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen, der langen Arbeitszeiten und der niedrigen Löhne extrem belastend. Die Arbeitszeitverkürzung, die in der Industrie durchgesetzt wurde, ging an der Heimarbeit vorbei. Manche Heimarbeiterinnen kamen in den zwanziger Jahren, wie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, zusammen mit der Familientätigkeit auf eine Arbeitszeit von 16 bis 18 Stunden am Tag.115 4. Familienkarrieren Familienkarrieren blieben vor allem in der Landwirtschaft üblich. Unter der nationalsozialistischen Diktatur sollten die bäuerlichen Familienbetriebe aus ideologischen Gründen gefördert werden. Das Schlagwort von „Blut und Boden“ gehörte zum unvermeidlichen Inventar der nationalsozialistischen Propaganda.116 Die „Erbhofpolitik“ sollte eine Kontinuität der bäuerlichen Erwerbstätigkeit von Generation zu Generation gewährleisten. Die Grundlage der Erbhofpolitik war die Verschärfung und allgemeine Durchsetzung des Anerbenrechts. Im Mai 1933 wurde die Erbhofpolitik zunächst in Preußen eingeführt. Bäuerliche Familienbetriebe konnten zum „Erbhof“ erklärt werden. Für Erbhöfe wurde in den bisherigen Anerbengebieten die geschlossene Besitzübergabe verbindlich vorgeschrieben, in den Realteilungsgebieten konnte sie auf Antrag des Eigentümers eines Betriebes eingeführt werden. Die Erbansprüche der vom Hof weichenden Erben wurden 112

Abelshauser, Germany: Guns, Butter, and Economic Miracle (wie Anm. 96), S. 160 –

162. 113 Angelika Willms-Herget, Frauenarbeit. Zur Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, Frankfurt am Main 1985. 114 Benninghaus, Die anderen Jugendlichen (wie Anm. 101), S. 205 – 207. 115 Bajohr, Die Hälfte der Fabrik (wie Anm. 103), S. 189 – 218. 116 Gustavo Corni / Horst Gies, „Blut und Boden“. Rassenideologie und Agrarpolitik im Staat Hitlers, Idstein 1994; Mathias Eidenbenz, „Blut und Boden“. Zu Funktion und Genese der Metaphern des Agrarismus und Biologismus in der nationalsozialistischen Bauernpropaganda R. W. Darrés, Frankfurt am Main 1993.

216

4. Kap.: Reform und Krise

stark reduziert. Die Söhne hatten nur noch Anspruch auf eine Ausbildung. Die Töchter sollten eine Aussteuer erhalten, darüber hinaus blieb ihnen ein eher abstrakter Anspruch, in einer wirtschaftlichen Notlage auf den Hof des erbenden Bruders zurückzukehren. Ein Verkauf des Hofes im Ganzen oder einzelner Grundstücke war nur noch mit Zustimmung von neu errichteten „Anerbengerichten“ möglich. Zwangsversteigerungen, die in den letzten Jahren der Weimarer Republik zu erheblichen bäuerlichen Protesten geführt hatten, waren ausgeschlossen.117 Im September 1933 wurde die Erbhofpolitik auf das ganze Reich ausgedehnt. Das Erbhofrecht sollte nach offizieller Darstellung „unter Sicherung alter deutscher Erbsitte das Bauerntum als Blutquelle des deutschen Volkes erhalten. Die Bauernhöfe sollen vor Überschuldung und Zersplitterung im Erbgang geschützt werden, damit sie dauernd als Erbe der Sippe in der Hand freier Menschen verbleiben“.118 Das Erbhofrecht konstruierte nach den Vorstellungen der Agrarideologen eine männliche Traditionslinie auf der Seite des Ehemannes; die Ehefrau war als Erbin ausgeschlossen. Der Erbe sollte im allgemeinen der jüngste Sohn sein, soweit nicht regionale Traditionen den ältesten Sohn als Erben vorsahen. Gab es keine Söhne, so kamen der Reihe nach auch ein Enkel oder Urenkel, der Vater, ein Bruder, eine Tochter oder schließlich eine Schwester des Bauern in Frage. Dass die landwirtschaftlichen Familienbetriebe durch die Erbhofpolitik vor Zwangsversteigerungen geschützt waren, wurde von der bäuerlichen Bevölkerung gerade nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise positiv aufgenommen. Auf der anderen Seite gab es aber auch Einwände, da die Eigentumsrechte der Landwirte stark eingeschränkt wurden. Auch die Eingriffe in das Erbrecht führten zu Protesten. In den Realteilungsgebieten wurde das Anerbenprinzip als ungerecht empfunden, und in den Anerbengebieten wurden die Enterbung der Ehefrau und der vom Hof weichenden Söhne und Töchter kritisiert. Das gesellschaftspolitische Ziel, durch die Erbhofpolitik die agrarische Lebensweise zu stärken, wurde nicht erreicht. Die Aufrüstung beschleunigte vielmehr den Strukturwandel von der Landwirtschaft zur Industrie.119

IV. Die Familie zwischen Reform und Repression 1. Familienpolitik Die Weimarer Verfassung stellte Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates. Damit war nicht nur die Garantie der Institution der Ehe und der Familie, sondern auch ein Auftrag zur Förderung verbunden: „Die Ehe steht als Grund117 Friedrich Grundmann, Agrarpolitik im Dritten Reich. Anspruch und Wirklichkeit des Reichserbhofgesetzes, Hamburg 1979, S. 33 – 38. 118 Reichserbhofgesetz vom 29. September 1933. RGBl. 1933 I, S. 685. 119 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 142 – 143.

IV. Die Familie zwischen Reform und Repression

217

lage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der Geschlechter. Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staates und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf soziale Fürsorge.“120 Das familienpolitische Leitbild wandelte sich in der Weimarer Republik allmählich von dem patriarchalischen Modell des Kaiserreichs zu größerer individueller Selbstbestimmung. Zu den Reformen, die vom Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) und im Parteienspektrum von Sozialdemokraten und Liberalen gefordert wurden, gehörten die Abschaffung des patriarchalischen Familienmodells, die Gleichstellung der Frau in der Berufswahl, der Kindererziehung und der Verfügung über Einkommen und Vermögen, die wirtschaftliche Unterstützung von Familien mit geringem Einkommen, weniger staatliche Regulierung und mehr persönliche Entscheidungsfreiheit der Ehepaare, zu der auch die Erleichterung der Ehescheidung gehören sollte. Gegen die Reformen stemmten sich aber konservative Politiker und Politikerinnen. Die Verteidigung der patriarchalischen Familie geriet ihnen zum Abwehrkampf gegen alle Ärgernisse der Zeit, von der Gleichberechtigung der Frauen über Revolution und Demokratie bis zum Versailler Vertrag. Ein wichtiger Konfliktpunkt war das Scheidungsrecht. Die SPD und die linksliberale Deutsche Demokratische Partei verlangten in den zwanziger Jahren in Übereinstimmung mit einer Forderung des Bundes Deutscher Frauenvereine, dass Ehescheidungen nach dem „Zerrüttungsprinzip“ ohne Schuldzuweisung ausgesprochen werden konnten. Sie scheiterten damit aber am Widerstand des Zentrums und der Konservativen.121 Überlagert wurde die Kontroverse um die Familienpolitik durch die Bevölkerungspolitik. Neben dem Schutz der Familie war die Bevölkerungspolitik als eigenes Ziel in der Verfassung verankert. Zwar war die pronatalistische Politik vorwiegend ein konservatives Thema, aber es gab auch in der Sozialdemokratie Unterstützung für eine Bevölkerungspolitik. Umstritten waren weniger die Ziele, als die Mittel der Bevölkerungspolitik. Während in den Frauenverbänden und in der Sozialdemokratie die Verbesserung der sozialen Lage der Mütter und der Familien im Vordergrund stand, wurden von konservativer Seite schärfere Sanktionen gegen empfängnisverhütende Mittel und gegen Schwangerschaftsunterbrechungen verlangt. Eine extreme Konsequenz aus der Verstaatlichung der Familie war die Lehre der „Eugenik“, die sich in der Bevölkerungstheorie und Bevölkerungspolitik etablierte. Die Eugenik geriet später als Wegbereiterin der nationalsozialistischen „Rassenpolitik“ in Verruf, war in den zwanziger Jahren aber nicht nur in Deutschland in der Wissenschaft und in der Politik eine anerkannte und einflussreiche Lehre. Sie 120 Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. RGBl. 1919, S. 1383 – 1418. Artikel 119. 121 Cornelie Usborne, Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1994.

218

4. Kap.: Reform und Krise

klassifizierte mit wissenschaftlichem Anspruch Menschen nach vermeintlichen biologischen Merkmalen.122 Die eugenisch orientierte Bevölkerungspolitik leitete aus der Klassifizierung der Menschengruppen die politische Forderung ab, Nachwuchs mit erwünschten erblichen Merkmalen zu fördern und Nachwuchs mit unerwünschten erblichen Merkmalen zu verhindern. Die Definition der unerwünschten Merkmale, die als erblich galten, war willkürlich. Sie begann bei Erbkrankheiten, konnte aber auch Kriminalität, anhaltende Arbeitslosigkeit, übermäßigen Alkoholkonsum, Prostitution oder ganz allgemein abweichendes Verhalten einschließen. Nicht nur die Rassisten der extremen Rechten beriefen sich auf die Eugenik. Auch manche Sozialreformer, die sich dem linken Spektrum zuordneten, sahen in der Eugenik einen Weg zur Gestaltung der Gesellschaft der Zukunft. Als angemessene Instrumente der eugenischen Bevölkerungsauslese galten Eheverbote, freiwillige Sterilisationen, aber auch Zwangssterilisationen.123 Unter der nationalsozialistischen Diktatur wurden Ehe und Familie einer rigorosen politischen Kontrolle unterworfen.124 Familienpolitik wurde ein Instrument der rassistischen Bevölkerungspolitik. Die größte Aufgabe und Pflicht der Regierung der nationalen Revolution sei es, „die Aufartung und Bestandserhaltung unseres deutschen Volkes im Herzen Europas zu gewährleisten“, erklärte Reichsinnenminister Frick im Juni 1933.125 Der Nationalsozialismus appellierte an traditionelle Familienwerte und suchte den Eindruck eines radikalen Bruchs zu vermeiden, weil die bevölkerungspolitischen Ziele nur zu erreichen waren, wenn die Familienpolitik in der Bevölkerung auf breite Akzeptanz stieß. Das patriarchalische Familienmodell, dessen Legitimation in der Weimarer Republik in Zweifel geraten war, wurde mit großem Aufwand als gesellschaftliches Leitbild propagiert. In Reden und Veröffentlichungen wurde die Rolle der Frau als Mutter beschworen. 1933 wurde der „Muttertag“ zum öffentlichen Feiertag erklärt. Eltern, die neun Kinder hatten oder, da Jungen dem Staat als künftige Soldaten besonders wertvoll waren, sieben Söhne hatten, konnten eine „Ehrenpatenschaft“ durch den Reichspräsidenten, den Reichskanzler oder in Preußen auch durch den preußischen Ministerpräsidenten beantragen. Die Ehrenpatenschaft war im wesentlichen als immaterielle Anerkennung gedacht, konnte aber mit einem kleinen Geldgeschenk verbunden sein. Nach einem Befehl Heinrich Himmlers sollten die Angehörigen der SS ausnahmslos frühzeitig heiraten und eine große Familie gründen, um damit ein familienpolitisches Beispiel zu geben. 1938 wurde das „Ehrenkreuz der deutschen Mut122 Heidrun Kaupen-Haas / Christian Saller, Hg., Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, Frankfurt am Main 1999. 123 Usborne, Frauenkörper (wie Anm. 121), S. 168 – 177. 124 Claus Mühlfeld / Friedrich Schönweiss, Nationalsozialistische Familienpolitik. Familiensoziologische Analyse der nationalsozialistischen Familienpolitik, Stuttgart 1989; Pine, Nazi Family Policy (wie Anm. 50). 125 Ansprache auf der ersten Sitzung des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik am 28. Juni 1933 in Breslau. Schriftenreihe des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst, Heft 1, Berlin 1933, S. 8.

IV. Die Familie zwischen Reform und Repression

219

ter“ für Mütter mit vier oder mehr Kindern eingeführt, je nach der Kinderzahl in Bronze, Silber oder Gold. Das „Zerrüttungsprinzip“, das die Reformer in den zwanziger Jahren in das Scheidungsrecht einführen wollten, wurde vom nationalsozialistischen Regime 1938 aus bevölkerungspolitischen Gründen anerkannt. Abweichend von dem bisherigen Schuldprinzip konnten Ehen geschieden werden, wenn ein Ehepaar keine Kinder hatte, oder wenn die Ehepartner eine Auflösung wünschten.126 Zerstrittene Ehepaare, so nahm man an, würden nicht zu dem politisch erwünschten Bevölkerungswachstum beitragen wollen.127 Zur Bevölkerungspolitik gehörte auch, dass führende nationalsozialistische Funktionäre sich gegen die Diskriminierung unehelicher Kinder wandten. Unverheiratete Mütter und ihre Kinder sollten, wenn sie der Definition der erwünschten Bevölkerung entsprachen, nicht benachteiligt werden. So stand das „Ehrenkreuz der deutschen Mutter“ auch unverheirateten Müttern zu; ein zahlreicher Nachwuchs war dem Staat wichtiger als die Einhaltung traditioneller Familiennormen. Von der SS, die sich allmählich zu einem Staat im Staate entwickelte, wurde 1935 der Verein „Lebensborn“ gegründet. Er unterhielt Heime, in denen ledigen Müttern Unterkunft und ärztliche Betreuung geboten wurde. Nachdem der Krieg begonnen hatte, erweckten manche Äußerungen von nationalsozialistischen Funktionären den Eindruck, dass der „Lebensborn“ uneheliche Geburten gezielt fördern sollte.128 Die repressive Familienpolitik begann mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom Juli 1933. Um unerwünschte Heiraten oder Familiengründungen zu verhindern, wurden in einer Vielzahl von Fällen Heiratsverbote verhängt oder Sterilisationen vorgenommen.129 Seit 1935 beschränkte die staatliche Kontrolle sich nicht mehr auf willkürlich definierte Minderheiten, sondern wurde auf alle Eheschließungen ausgedehnt. Heiratswillige Paare sollten nunmehr eine von dem zuständigen Gesundheitsamt ausgestellte Bescheinigung ihrer „Ehetauglichkeit“ vorweisen.130 Nach einer Phase des willkürlichen Terrors gegen die jüdische Minderheit wurde 1935 die staatliche Verfolgung gesetzlich geregelt. Im „Reichsbürgergesetz“ vom 15. September 1935 wurden die Voraussetzungen für die staatsbürgerliche Ausgrenzung der Deutschen jüdischer Abstammung und anderer verfolgter Minderheiten geschaffen.131 In dem „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom gleichen Tag wurden Ehen und auch außereheliche sexuelle Beziehungen zwischen Personen jüdischer Abstammung 126 Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet vom 6. Juli 1938. RGBl. 1938 I, S. 807. 127 Pine, Nazi Family Policy (wie Anm. 50), S. 18. 128 Mühlfeld / Schönweiss, Nationalsozialistische Familienpolitik (wie Anm. 124), S. 149 – 154. 129 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933. RGBl. 1933 I, S. 529 – 532. 130 Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18. Oktober 1935. RGBl. 1935 I, S. 1246. 131 Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935. RGBl. 1935 I, S. 1146.

220

4. Kap.: Reform und Krise

und Personen nichtjüdischer Abstammung verboten.132 Eine Durchführungsverordnung präzisierte im November 1935, wer zu den Ausgeschlossenen gehörte und wer noch am Rande der „Volksgemeinschaft“ geduldet wurde.133

2. Der Wandel der Familie Ehe und Familie blieben in der Zeit der Weimarer Republik die verbreitetste Lebensform. Die Ledigenquote betrug im Alter von fünfzig Jahren unter den Männern nur noch sechs Prozent und unter den Frauen zehn Prozent.134 Das Heiratsalter stieg zu Beginn der zwanziger Jahre im Vergleich zur Vorkriegszeit etwas an. Das lag wahrscheinlich an den wirtschaftlichen Problemen der Inflationszeit. In der Phase der relativen Stabilisierung von 1924 bis 1918 wurde wieder früher geheiratet. 1929 heirateten junge Leute im gleichen Alter wie ihre Eltern vor dem Ersten Weltkrieg, die Männer mit 27 Jahren, die Frauen mit 25 Jahren. In den Jahren der Diktatur nahm das Heiratsalter wieder etwas zu. Der Grund waren wahrscheinlich die neuen Pflichten, die der Jugend auferlegt wurden, der Arbeitsdienst, der Wehrdienst und das Haushaltsjahr. Männer waren 1938 bei einer ersten Heirat 29 Jahre alt, Frauen 26 Jahre.135 Trotz mancher Veränderungen in den Lebensverhältnissen blieben Ehe und Familie in den zwanziger und dreißiger Jahren eng verbunden. Zeitweilig ging der Kinderwunsch zwar etwas zurück. Von den Ehepaaren, die in den zwanziger Jahren heirateten, blieben ungefähr zwanzig Prozent kinderlos. Seitdem nahm die Quote kinderloser Ehepaare aber wieder ab.136 Die Kinderzahl in den Familien, ging, wie schon in den späten Jahren des Kaiserreichs, zurück. Der Trend zur Kleinfamilie wird deutlich, wenn ausgewählte Heiratsjahrgänge verglichen werden. Ehepaare, die vor 1899 heirateten, hatten im Durchschnitt fünf Kinder, die Paare, die 1910 heirateten, hatten im Durchschnitt drei Kinder, und bei den Paaren, die 1930 heirateten, waren es noch zwei Kinder. Zwischen den sozialen Klassen gab es deutliche Unterschiede in der Kinderzahl. Wenn die Eltern in der Zeit von 1925 bis 1929 geheiratet hatten, wurden in Bauernfamilien im Durchschnitt 2,7 Kinder geboren, in Arbeiterfamilien 2,1 Kinder, in Beamtenfamilien 1,6 Kinder und in Angestelltenfamilien 1,5 Kinder.137 132 Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935. RGBl. 1935 I, S. 1146 – 1147. 133 Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935. RGBl. 1935 I, S. 1333 – 1334. 134 John Knodel, The decline of fertility in Germany, 1871 – 1993, Princeton 1979, S. 70. 135 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 105. 136 Statistisches Bundesamt, Familien heute. Strukturen, Verläufe und Einstellungen, Stuttgart 1990. 137 William H. Hubbard, Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, München 1983, S. 101 – 104.

IV. Die Familie zwischen Reform und Repression

221

Die Sorge für eine Familie war mit einer vollen Erwerbtätigkeit kaum zu vereinbaren. Nach Dora Hansen-Blancke wandten erwerbstätige Mütter am Ende der Weimarer Republik im Durchschnitt für die Erwerbsarbeit acht Stunden täglich auf, für die Hausarbeit vier Stunden. Wenn Mütter kleiner Kinder erwerbstätig waren, nahmen sie Heimarbeit oder unregelmäßige Nebenbeschäftigungen auf, um die Erwerbsarbeit an die Anforderungen des Haushalts anzupassen, oder es mussten andere Betreuungsmöglichkeiten gefunden werden. In der Weltwirtschaftskrise wollten viele Mütter auf eine Erwerbstätigkeit nicht verzichten, weil die Väter arbeitslos waren. Mütter, Großmütter und Kinder teilten sich in Drei-GenerationenHaushalten die Erwerbsarbeit und die Betreuungsarbeit; nur die arbeitslosen Väter blieben seltsam teilnahmslos am Rande des Geschehens. „Unmöglich wird der Fabrikarbeiterin die eigentliche Kinderbetreuung. Für das Kleinkind stellt die Familie überwiegend den Mutterersatz aus der älteren Generation, durch die Großmutter. Die Leistung des erwerbslosen Vaters scheint auf diesem Gebiet nicht erheblich zu sein. Auf jeden Fall wird für das Kleinkind eine Betreuung beschafft, wenn nötig außerhalb der Familie in öffentlichen Anstalten oder bei Fremden gegen Bezahlung. Das ältere Schulkind bleibt vorwiegend sich selbst überlassen, zeichnet sich vielfach durch Selbständigkeit und durch Hilfeleistungen für die Häuslichkeit aus“.138 Erstrebenswert war diese Situation nicht. Die Arbeiterinnen hielten die Verbindung von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit für eine zu große Belastung. Nicht erst in der Bundesrepublik Deutschland, sondern schon in der Zeit der Weimarer Republik wurde argumentiert, dass das Vereinbarkeitsproblem ein Grund für den Geburtenrückgang war; „von der Schwierigkeit, Fabrikarbeit und Kinderaufzucht zu vereinen, droht die Gefahr, daß die Ehe der Fabrikarbeiterin nicht Familie wird“.139 Die Drei-Generationen-Familie konnte, wie das zitierte Beispiel zeigt, als Betreuungsinstitution wichtig sein. Ihre Verbreitung als Haushaltsgemeinschaft ging aber zurück. Das Zusammenleben der älteren Generation mit den erwachsenen Kindern wurde seltener, ältere Ehepaaren oder Alleinstehenden führten zunehmend einen eigenen Haushalt.140

3. Anfänge der dualen Familienunterstützung Mit der Finanzreform von 1920 wurde erstmals eine Reichseinkommensteuer eingeführt. Auch in der Reichseinkommenssteuer war die Steuerbegünstigung für Familien vorgesehen, die es vorher in einzelnen Ländern gab.141 Die öffentliche 138 Dora Hansen-Blancke, Die hauswirtschaftliche und Mutterschaftsleistung der Fabrikarbeiterin, Eberswalde o. J. (1932), S. 2, 40. 139 Hansen-Blancke, Hauswirtschaftliche und Mutterschaftsleistung (wie Anm. 138), S. 9. 140 Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994, S. 355 – 370. 141 Einkommensteuergesetz vom 29. März 1920. RGBl. 1920 I, S. 359 – 378.

222

4. Kap.: Reform und Krise

Debatte über den Geburtenrückgang, die damals schon seit einiger Zeit geführt wurde, hatte auf die Finanzreform keinen Einfluss. Die Steuerbegünstigung der Familien galt nicht als Familienförderung. Man ging vielmehr wie vorher schon bei der Einkommensteuer der Länder davon aus, dass nach dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit die Familien geringere Einkommensteuern und Vermögenssteuern tragen sollten als Alleinstehende oder kinderlose Paare.142 Das nationalsozialistische Regime missbrauchte die Familienunterstützung als Instrument der Bevölkerungspolitik. 1933 wurden Ehestandsdarlehen eingeführt. Ehepaare konnten nach der Heirat ein Ehestandsdarlehen in Höhe von 600 RM bis 1000 RM beantragen, das der Ausstattung ihres Haushalts dienen sollte. Bis 1937 war das Darlehen daran gebunden, dass die Ehefrau berufstätig gewesen war und ihren Beruf nach der Heirat aufgab. Bei der Geburt eines Kindes wurde jeweils ein Viertel der Darlehenssumme erlassen.143 Die steuerliche Familienförderung wurde 1934 ausgebaut. Die Steuersätze wurden nach dem Familienstand gestaffelt; Ledige zahlten einen höheren Steuersatz als verheiratete Paare ohne Kinder, und bei Familien wurde der Steuersatz für jedes Kind um einige Prozentpunkte ermäßigt.144 Der Bevölkerungswissenschaftler F. Burgdörfer schlug im August 1933 die Einrichtung einer „Reichsfamilienkasse“ vor. Sie sollte Familienbeihilfen für Familien mit drei und mehr Kindern leisten. Zur Finanzierung sollten Ledige, kinderlose Ehepaare und kinderarme Familien besondere Beiträge leisten, die proportional zum Bruttoeinkommen erhoben werden sollten. Dieser Vorschlag scheiterte jedoch am Einspruch des Reichsfinanzministeriums. 145 Auf sehr viel bescheidenerem Niveau wurde 1935 für bedürftige kinderreiche Familien von der Geburt des vierten Kindes an eine einmalige Kinderbeihilfe in Höhe von 100 RM eingeführt. Die bescheidene Beihilfe war der nationalsozialistischen Rassenpolitik angepasst. Die Familien mussten dem nationalsozialistischen Familienideal nach dem Erbgesundheitsgesetz von 1933 und den Nürnberger Gesetzen von 1935 entsprechen. 1936 wurde erstmals ein laufendes Kindergeld für kinderreiche Familien eingeführt. Für das fünfte Kind und jedes weitere Kind wurde eine Unterstützung von 10 RM im Monat gezahlt. Seit 1938 erhielten die Familien bereits vom dritten Kind an das Kindergeld. Bis 1941 galten für den Bezug des Kindergeldes Einkommensgrenzen.146 Mit der steuerlichen Begünstigung der Familien und dem Kindergeld entstanden auf damals noch sehr bescheidenem Niveau die Anfänge einer dualen Familienunterstützung. Parallel zur staatlichen Bevölkerungspolitik gründete die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), eine Organisation der NSDAP, 1934 das „Hilfswerk Mutter Fritz Terhalle, Finanzwissenschaft, Jena 1930, S. 303 – 326. Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 46), Bd. 1, 315 – 317. 144 Einkommensteuergesetz vom 16. Oktober 1934. RGBl. 1934 I, S. 1005. 145 Mühlfeld / Schönweiss, Nationalsozialistische Familienpolitik (wie Anm. 124), S. 190. 146 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 46), Bd. 1, 318 – 319; Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 38), Bd. 3, 177 – 182. 142 143

IV. Die Familie zwischen Reform und Repression

223

und Kind“. Das „Hilfswerk“ richtete Beratungsstellen für Mütter von Kleinkindern ein, verteilte in begrenztem Umfang Geldunterstützung und Sachspenden an bedürftige Familien, organisierte Erholungsaufenthalte für Mütter und unterhielt eigene Kinderkrippen und Kindergärten.147 Im Zusammenhang mit einer familiengerechten Finanzpolitik wird im allgemeinen auch die Besteuerung von Ehepaaren erwähnt. Als 1920 die Reichseinkommensteuer eingeführt wurde, galt als Regel, dass die Einkommen von Ehepaaren bei der Berechnung der Einkommensteuer zusammengerechnet wurden. Die gemeinsame Besteuerung benachteiligte berufstätige Ehepaare, da sie durch den Aufstieg in eine höhere Progressionsstufe mehr Steuern zahlten als zwei alleinstehende Berufstätige. Der Steuersatz begann in der untersten Stufe mit zehn Prozent und stieg in der höchsten Progressionsstufe bis auf sechzig Prozent. Die Einkommen von Kindern, die im Haushalt der Eltern lebten, wurden getrennt veranlagt, denn man wollte keinen finanziellen Anreiz schaffen, dass Kinder das Elternhaus verließen.148 1925 wurde an Stelle der Zusammenveranlagung berufstätiger Ehepaare die Einzelbesteuerung eingeführt. In der nationalsozialistischen Ära kehrte der Staat 1934 bewusst zu der Zusammenveranlagung zurück, um den finanziellen Anreiz für eine Berufstätigkeit von Ehefrauen zu reduzieren. Als in der Kriegswirtschaft die Erwerbstätigkeit von Frauen erwünscht war, wurde 1941 die Möglichkeit der Individualbesteuerung wieder hergestellt.149 4. Familienökonomie Die Haushaltsführung wurde in der Zeit der Weimarer Republik nicht mehr so massiv von der Sorge um das tägliche Brot beherrscht wie noch im späten neunzehnten Jahrhundert. In den Jahren von 1925 bis 1929 war der Anteil der Nahrungsmittel am privaten Verbrauch auf 33 Prozent gesunken, 15 Prozent entfielen auf die Wohnung, 13 Prozent auf Bekleidung, jeweils zehn Prozent auf Genussmittel sowie auf Möbel, Hausrat, Heizung und Beleuchtung, und die restlichen 19 Prozent auf häusliche Dienste, Gesundheitspflege, Verkehr, Bildung, Erholung und sonstige Ausgaben.150 Aber der Lebensstandard der meisten Familien war immer noch bescheiden, er ging erst am Ende der Stabilisierungsphase über den Vorkriegsstand hinaus und wurde bald darauf schon wieder durch die Weltwirtschaftskrise gedrückt. Die beengte wirtschaftliche und soziale Lage vieler Familien wird in der Familienuntersuchung deutlich, die Alice Salomon und Marie Baum gegen Ende der Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 38), Bd. 3, S. 110 – 150. Einkommensteuergesetz vom 20. März 1920. RGBl. 1920 I, S. 359 – 378. 149 Mechtild Veil, Frauenarbeit, Steuern und Familie: Familienbesteuerung aus der Sicht von Frauen, in: Zeitschrift für Frauenforschung, 3 (1995). 150 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 19), S. 116 – 117. 147 148

224

4. Kap.: Reform und Krise

Weimarer Republik mit dem Ziel durchführten, das „Wesen der modernen Familie“ zu erfassen. Alice Salomon wies darauf hin, dass das Ideal der modernen Familie im Widerspruch stand zu der Beengtheit und Eingeschränktheit des durchschnittlichen Lebens, nicht nur in der Arbeiterklasse, sondern auch in Teilen der alten und neuen Mittelklasse: „Eine Beengtheit in wirtschaftlicher und geistiger Beziehung, in Lebensraum und Lebensmöglichkeit“. Wie schon in den Autobiographien von Arbeitern und Arbeiterinnen vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde aber auch deutlich, dass Armut nicht unbedingt zerstörerisch auf die sozialen Beziehungen in der Familie wirkt. „Beengte wirtschaftliche Lage kann destruktiv wirken; sie kann aber auch die gegenseitige Hilfsbereitschaft und den Zusammenhalt befördern“.151

V. Alter 1. Von der Altersinvalidität zum Ruhestand Die Lebenserwartung im Alter nahm in den zwanziger Jahren zu. 1924 – 1926 wurde die durchschnittliche Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren für Männer auf elf Jahre und für Frauen auf zwölf Jahre geschätzt..152 Obwohl die Renten in der Zeit der Weimarer Republik allmählich besser wurden, suchten immer noch viele Menschen bis ins hohe Alter ein Erwerbseinkommen. 1925 gehörten in der älteren Generation ab 65 Jahren 47 Prozent der Männer und 18 Prozent der Frauen zu den Erwerbspersonen.153 Die Arbeitsuche im Alter war jedoch im Vergleich zum Kaiserreich schwieriger geworden. Durch die Stagnation der Landwirtschaft und durch die systematische Rationalisierungsbewegung verschwanden viele der einfachen und gering bezahlten Arbeitsplätze, die noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts alten Menschen eine Beschäftigungsmöglichkeit boten. Hinzu kam die strukturelle Arbeitslosigkeit, die Menschen in allen Altersgruppen betraf. Viele ältere Frauen und Männer, die eine Altersbeschäftigung suchten, fanden daher keinen Arbeitsplatz. Die relativ hohe Erwerbsquote der älteren Generation drückte zwar ein Interesse an einer Erwerbstätigkeit aus, aber dieses Interesse führte oft nur in die Arbeitslosigkeit.154 In der Weltwirtschaftskrise gaben viele ältere Menschen schließlich die Hoffnung auf, eine Arbeit zu finden, meldeten sich nicht mehr beim Arbeitsamt und schieden damit aus der Erwerbsstatistik aus. Die Erwerbsquote der älteren Generation ging daher stark zurück. 1933 war in der Generation ab 65 Jahren die Erwerbsquote der Männer 151

Alice Salomon / Marie Baum, Das Familienleben in der Gegenwart, Berlin 1930, S. 11,

375. 152 153 154

Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 110. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 144. Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 133 – 140.

V. Alter

225

auf 29 Prozent und die Erwerbsquote der Frauen ab 65 Jahren auf 13 Prozent gesunken.155 Das nationalsozialistische Regime war bestrebt, die Erwerbsphase zu verlängern. Dadurch sollten zunächst die Kosten der öffentlichen Rentenversicherung gesenkt werden. Nachdem in den späten dreißiger Jahren die Vollbeschäftigung erreicht war, ging es auch darum, die Arbeitskraft der älteren Menschen für die Aufrüstung zu nutzen. Die Gesundheitspolitik sollte konsequent auf eine Verlängerung der Erwerbsphase und eine intensivere Ausbeutung der Arbeitskraft ausgerichtet werden. In dem Entwurf der Deutschen Arbeitsfront zu einem „FührerErlass“ über das geplante „Gesundheitswerk des deutschen Volkes“ hieß es: „Im strengen Sinne biologisch und deswegen ein erstrebenswertes Ziel für die Gesundheitsführung ist aber erst der Zustand, wenn der Zeitpunkt des allmählichen Kräfteschwundes kurz vor dem Eintritt des physiologischen Todes liegt und der endgültige Kräfteverfall mit ihm zusammenfällt“. 156 Trotz des Rüstungsbooms nahm die Erwerbsorientierung der älteren Menschen jedoch nur unwesentlich zu. Bis 1939 stieg in der Altersgruppe ab 65 Jahren die Erwerbsquote der Männer auf dreißig Prozent und die Erwerbsquote der Frauen auf 14 Prozent.157

2. Die öffentliche Rentenversicherung In der Anfangszeit der Weimarer Republik musste die öffentliche Rentenversicherung sich mit dem Problem der rasch eskalierenden Inflation auseinandersetzen. Trotz der rapiden Geldentwertung hielt die Versicherung an dem Grundsatz der nominal fixierten Beitragsklassen und Rentenleistungen fest. Zwar wurden von Zeit zu Zeit Teuerungszulagen zu den Renten und entsprechende Beitragserhöhungen eingeführt, aber die Anpassung blieb weit hinter der Inflationsrate zurück. Der reale Wert der Leistungen und der Beiträge ging stark zurück. Das Versicherungskapital, das seit 1891 aufgebaut worden war, wurde durch die Inflation entwertet. Die Renten wurden auf sehr niedrigem Niveau durch unzulängliche Beiträge und Staatszuschüsse finanziert. Der Unterschied zwischen Altersrenten und Invaliditätsrenten, der durch das niedrige reale Niveau bedeutungslos geworden war, wurde 1922 aufgehoben. Die Renten waren schließlich völlig entwertet, und die Rentner wurden in die Fürsorge gedrängt. Die Angestelltenversicherung begann Anfang 1923 mit der Auszahlung der ersten Renten, nachdem die Gründergeneration der Versicherten ihre zehnjährige Beitragszeit erfüllt hatte. Ihre Leistungen und Beiträge waren ebenso entwertet wie in der Arbeiterversicherung, und auch das Versicherungskapital war weitgehend zerstört.158 155 Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 46 – 50; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 144. 156 Zitiert nach Hachtmann, Industriearbeit im „Dritten Reich“ (wie Anm. 93), S. 243. 157 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 5), S. 144.

15 Hardach

226

4. Kap.: Reform und Krise

Die Krise der Rentenversicherung führte zu einer allgemeinen Reformdiskussion. In diesem Kontext schlug der Gießener Professor Ernst Günther 1923 den Übergang zu einer dynamischen Rente vor. Günther kritisierte die Unzulänglichkeit einer kapitalgedeckten Versicherung: „Das Kapitaldeckungsverfahren kann doch stets nur eine bestimmte Geldrente sicherstellen, es kommt aber auf die Sachrente an, die Rente muß zur Bestreitung bestimmter Ausgaben langen“.159 Die Rente aus der öffentlichen Rentenversicherung sollte als „Sozialrente“ eine Lohnersatzfunktion haben. „Der Arbeitsfähige und der Arbeitsrentner gehören zusammen; die Sozialrente ist nichts anderes als der Arbeitslohn oder doch ein Teil des Arbeitslohnes des nicht mehr, oder doch nicht mehr voll Arbeitsfähigen. ( . . . ) Nur am zugehörigen Arbeitslohn kann festgestellt werden, ob die Rente genügt oder nicht“.160 Die Anpassung der Renten an die Löhne sollte durch einen „gleitenden Tarif“ gewährleistet werden, der die Beiträge proportional zu den aktuellen Löhnen festlegte. Aus den Durchschnittsbeiträgen und einer standardisierten Versicherungsdauer würde sich eine Standardrente ergeben. Höhere oder niedrigere Beiträge und längere oder kürzere Versicherungszeiten würden zu entsprechend höheren oder niedrigeren Renten führen. Nach Günthers Berechnungen konnte mit einem Beitrag von vier Prozent des Lohns und einer Versicherungsdauer von dreißig Jahren ein Rentenniveau von dreißig Prozent des Lohns erreicht werden. Günther empfahl eine Verbindung von „Individualprinzip“ und „Sozialprinzip“. Die Rentner sollten unabhängig von ihren Eigenleistungen eine Mindestrente erhalten, die das Existenzminimum sicherte. Auch die Mindestrente würde den Löhnen folgen und daher in Relation zu der Standardrente festgesetzt werden. Die Rentenfinanzierung sollte wie im Kaiserreich auf paritätischen Beiträgen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und einem Reichszuschuss beruhen. Der Reichszuschuss sollte in gleichem Tempo wie die Beiträge dynamisiert werden. Die Mindestrente sollte zu 71 Prozent aus Versicherungsmitteln und zu 29 Prozent aus staatlichen Subventionen bestehen, bei höheren Renten wäre der Staatszuschuss niedriger.161 Günthers Rentenmodell enthielt eine sorgfältig durchdachte Dynamisierung. Es scheiterte aber am Widerstand des Reichsarbeitsministeriums, das sich gegen eine Reform der öffentlichen Rentenversicherung sperrte. Nach der Währungsstabilisierung von 1923 – 1924 favorisierte auch die öffentliche Meinung die Wiederherstellung der bekannten Rentenversicherung.162 158 Conrad, Vom Greis zum Rentner (wie Anm. 140), S. 266; Martin Geyer, Soziale Rechte im Sozialstaat. Wiederaufbau, Krise und konservative Stabilisierung der deutschen Rentenversicherung, in: Klaus Tenfelde, Hg., Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 406; Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 141 – 148. 159 Ernst Günther, Die Tarife in der Invaliden- und Angestelltenversicherung, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungs-Wissenschaft, 23 (1923), S. 17. 160 Ernst Günther, Die Anpassung der Sozialversicherung an die Geldentwertung und Lohnsteigerung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 121 (1923), S. 2. 161 Günther, Anpassung der Sozialversicherung (wie Anm. 160), S. 8, 24 – 38.

V. Alter

227

Die Währungsreform von 1923 – 1924 schuf die Voraussetzung für eine Rekonstruktion der öffentlichen Rentenversicherung. Im Dezember 1923 wurde in der Arbeiterversicherung eine Einheitsrente von 13 Billionen Mark festgelegt. Das entsprach, wenn man die Zahl auf überschaubare Dimensionen zurückführen will, in der neuen Parallelwährung 13 Rentenmark. Die Witwenrente betrug neun Billionen Mark oder neun Rentenmark. In der Angestelltenversicherung betrug die Einheitsrente dreißig Billionen Mark oder dreißig Rentenmark, die Witwenrente 18 Billionen Mark oder 18 Rentenmark. Die mit den Beitragszahlungen erwobenen Versicherungsansprüche, die durch die Inflation entwertet waren, wurden zunächst gestrichen. Die Beitragsklassen wurden an die aktuellen Währungsverhältnisse angepasst. Da das Versicherungskapital durch die Inflation vernichtet war, wurden die Renten aus den laufenden Beiträgen und zusätzlichen staatlichen Subventionen finanziert. Das Umlageprinzip wurde damit auf unbestimmte Zeit verlängert.163 Die Inflation, hieß es in einer zeitgenössischen Darstellung, erzwang „den herzhaften Schritt zum Übergang auf das Umlageverfahren an Stelle des mathematisch zweifellos sichereren Durchschnittsprämienverfahrens“.164 Die Einheitsrente war nur als Übergangslösung gedacht. Nach der Sanierung der öffentlichen Rentenversicherung wollte man zu einer von der Erwerbsbiographie abhängigen Rente zurückkehren. Auch die Umlagefinanzierung galt nur als Übergang. Langfristig sollte ein neuer Kapitalstock aufgebaut werden, aus dessen Erträgen die Renten finanziert werden sollten. Eine Frist für den Übergang vom Umlageverfahren zur Kapitaldeckung wurde allerdings nicht genannt. Im April 1924 wurde in der Arbeiterversicherung wieder ein Steigerungsbetrag eingeführt, der von den ab Januar 1924, nach der Währungsstabilisierung, geleisteten Beiträgen abhing. Ab 1925 wurden auch die vor 1921 gezahlten Beiträge bei der Rentenberechnung berücksichtigt. Auch die Angestelltenversicherung kehrte 1924 zu einer erwerbsorientierten Rente zurück. In der Arbeiterversicherung wurden zwei neue Beitragsklassen eingeführt, um den Anstieg der Löhne und Gehälter zu berücksichtigen. Nach der erfolgreichen Sanierung wurden die Ziele der Rentenversicherung in doppelter Hinsicht neu definiert. Die öffentliche Rentenversicherung wurde nicht mehr als Instrument einer klassenspezifischen Umverteilung vom Bürgertum zur Arbeiterklasse verstanden, sondern als Instrument einer intergenerativen Umverteilung von der mittleren Generation an die ältere Generation. Der Wandel war bereits 1911 eingeleitet worden, als die öffentliche Rentenversicherung mit der 162 Lil-Christine Schlegel-Voß / Gerd Hardach, Die dynamische Rente. Ein Modell der Alterssicherung im hisotrischen Wandel, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 90 (2003), S. 294 – 296; Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 179 – 191. 163 Geyer, Soziale Rechte im Sozialstaat (wie Anm. 158), S. 411. 164 Zschimmer / Paul, Der Wiederaufbau der deutschen Invalidenversicherung 1924 / 26, in: Die Rentenversicherung, 1 (1927), S. 8.

15*

228

4. Kap.: Reform und Krise

Gründung der Angestelltenversicherung den Weg von der Arbeiterversicherung zur Volksversicherung einschlug. Er setzte sich im öffentlichen Bewusstsein aber erst durch, als die Angestelltenversicherung in den zwanziger Jahren ihre Rentenleistungen aufnahm. Seitdem etablierten sich die Angestelltenrenten neben den Arbeiterrenten und den Beamtenpensionen als charakteristisches Alterseinkommen, und die ältere Generation konstituierte sich insgesamt als Versorgungsklasse in der Konkurrenz um knappe Ressourcen. Die zweite Veränderung war der neue Grundsatz, dass die Rente einen Lohnersatz darstellen sollte, der das Existenzminimum im Alter sicherte. Man findet in den sozialpolitischen Debatten der Weimarer Republik nicht mehr das Argument, dass die Renten durch Altersarbeit und familiale Unterstützung ergänzt werden sollten, mit dem in der Zeit des Kaiserreichs das niedrige Rentenniveau gerechtfertigt worden war. Die Altersarmut und das Problem, dass viele ältere Menschen in die Fürsorge gedrängt wurden, stießen nicht zuletzt deshalb auf so breite öffentliche Kritik, weil die Lebensverhältnisse der Ruhestandgeneration am Ideal einer existenzsichernden Rente gemessen wurden.165 Das neue Leitbild der existenzsichernden Rente hatte zur Folge, dass im Unterschied zum stationären Leistungs- und Beitragssystem der alten Rentenversicherung der Grundsatz diskretionärer Rentenerhöhungen eingeführt wurde, die durch Beitragsanpassungen zu finanzieren waren. Das Rentenniveau wurde in mehreren Schritten angehoben. Die durchschnittliche Rente erreichte 1930, vor den Rentenkürzungen, die in der Krise vorgenommen wurden, in der Arbeiterversicherung 39 RM im Monat. Sie lag damit real um 62 Prozent über dem Rentenniveau von 1913 und erreichte 32 Prozent des Durchschnittslohns. Die durchschnittliche Angestelltenrente stieg bis 1930 auf 78 RM und erreichte damit 38 Prozent des durchschnittlichen Gehalts.166 Die steigenden Leistungen erforderten höhere Beiträge. Die Arbeiterversicherung benötigte außerdem auch in der Zeit der relativen Stabilisierung erhebliche Reichszuschüsse. Die Angestelltenversicherung war finanziell besser gestellt. Sie hatte erst relativ wenige Rentenansprüche zu erfüllen und gewann in den zwanziger Jahren zahlreiche neue Mitglieder. In der Knappschaftsversicherung wurden die bis dahin selbständigen regionalen Knappschaftsvereine 1923 zur Reichsknappschaft zusammengefasst. Die Knappschaftsversicherung stand vor erheblichen finanziellen Problemen. Sie hatte relativ viele Rentner zu unterstützen und zahlte vergleichsweise hohe Renten, hatte aber eine abnehmende Zahl von Mitgliedern. Die Beiträge waren hoch, trotzdem benötigte die Knappschaftsversicherung seit 1929 öffentliche Zuschüsse.167 165 Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 192 – 206; Conrad, Vom Greis zum Rentner (wie Anm. 140), S. 262 – 266. 166 Hohls, Arbeit und Verdienst (wie Anm. 31), S. 90; Petzina / Abelshauser / Faust, Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches (wie Anm. 91), S. 174; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1932, S. 387 – 390. 167 Geyer, Soziale Rechte im Sozialstaat (wie Anm. 158), S. 411 – 412.

V. Alter

229

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 – 1933 führte die öffentliche Rentenversicherung in eine neue Krise. Während die Ausgaben stiegen, gingen die Einnahmen stark zurück. Die Defizite wurden zum Teil aus dem akkumulierten Vermögen gedeckt. Der Aufbau einer Kapitalversicherung erlitt dadurch einen Rückschlag. Seit Dezember 1931 wurden durch Notverordnungen die Leistungen reduziert, die Wartezeiten verlängert und die Invaliditätsprüfungen restriktiver gehandhabt. Bis 1932 ging die durchschnittliche Rente in der Arbeiterversicherung auf 33 RM zurück, in der Angestelltenversicherung auf 71 RM. Ältere Menschen wurden häufig wieder in die Fürsorge abgedrängt.168 Die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ hatte in ihrem Parteiprogramm von 1920 einen großzügigen Ausbau der Altersversorgung gefordert.169 Diese Zusage wurde jedoch nach der Etablierung der Diktatur nicht eingehalten. Die Sparpolitik der Präsidialkabinette wurde noch verschärft. Die öffentliche Rentenversicherung sollte durch Leistungsbeschränkungen und Beitragserhöhungen saniert werden.170 Im Sanierungsgesetz vom Dezember 1933 wurde das Niveau der neu festgesetzten Invaliden- und Altersrenten gekürzt. Die Kürzungen machten im Durchschnitt ungefähr sieben Prozent aus. Manchen Invalidenrentnern sollte durch eine neue Prüfung ihrer Erwerbsunfähigkeit die Rente entzogen werden, bei neuen Anträgen auf eine Invalidenrente sollte möglichst restriktiv verfahren werden, und den politisch Verfolgten wurden die Rentenansprüche aberkannt. Die Beitragssätze wurden nicht geändert, die durchschnittliche Belastung blieb bei fünf Prozent der Löhne und Gehälter.171 1934 wurde die öffentliche Rentenversicherung ebenso wie die anderen Zweige der Sozialversicherung der staatlichen Leitung unterstellt, die Selbstverwaltung wurde aufgehoben. Die institutionelle Differenzierung der Sozialversicherung wurde jedoch beibehalten.172 Das Beitragsaufkommen der Rentenversicherung stieg mit der wirtschaftlichen Erholung und der Zunahme der Beschäftigung. Bis 1938 sammelte die Rentenversicherung ein Vermögen von 2,4 Milliarden RM an. Das Kapital musste in Staatsanleihen angelegt werden, so dass die Sozialversicherung zur Finanzierung der Aufrüstung beitrug.173 Angesichts des wachsenden Unmuts über die schlechte soziale Lage der älteren Menschen wurden mit dem „Ausbaugesetz“ von 1937 die Leistungen der öffentlichen Rentenversicherung etwas verbessert.174 Das Ausbaugesetz wurde als AbPenkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 196 – 199, 207 – 213. Parteiprogramm der NSDAP vom 25. Februar 1920, Punkt 15. Zitiert nach Kühnl, Hg., Der deutsche Faschismus (wie Anm. 2), S. 105 – 106. 170 Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 49), S. 49 – 82. 171 Gesetz zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Invaliden-, der Angestellten- und der knappschaftlichen Versicherung vom 7. Dezember 1933. RGBl. 1933 I, S. 1039 – 1044. 172 Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung vom 5. Juli 1934. RGBl. 1934 I, S. 577 – 580. 173 Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 49), S. 69. 174 Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937. RGBl. 1937 I, S. 1393 – 1408. 168 169

230

4. Kap.: Reform und Krise

schluss der Sanierung der Rentenversicherung deklariert und sollte auch die alte nationalsozialistische Forderung nach einem Ausbau der Altersversorgung erfüllen.175 Alle Deutschen im Alter ab 40 Jahren erhielten die Möglichkeit, freiwillig der öffentlichen Rentenversicherung beizutreten. Außerdem wurde die schon 1933 geplante Subventionierung der Rentenversicherung für Arbeiter durch die Arbeitslosenversicherung beschlossen, da die Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung seit dem Erreichen der Vollbeschäftigung erhebliche Überschüsse erzielte.176 Das Rentenalter betrug 1938 im Durchschnitt sechzig Jahre.177 Das Rentenniveau blieb bis Ende der dreißiger Jahre unzulänglich. Die durchschnittliche Rente betrug 1938 in der Arbeiterversicherung 32 RM im Monat. Sie lag damit real unter dem Krisenniveau von 1930 und erreichte nur noch 27 Prozent des Durchschnittslohns.178 Auch nach der Ansicht der „Deutschen Arbeitsfront“ war die Rente zu gering, um das Existenzminimum zu sichern. Bei bescheidenster Lebenshaltung wären mindestens 45 RM erforderlich.179 Während des Krieges wurden 1941 die Renten angehoben.180 Die Verbesserungen glichen in etwa die Kriseneinschränkungen aus. Die Anhebung der Renten war ein Zugeständnis an die öffentliche Meinung, da die Armut der älteren Generation auf Kritik stieß. Auf den Lebensstandard im Krieg hatten die nominalen Erhöhungen keinen Einfluss, da der Konsum rationiert wurde. Unterdessen wurde die Zukunft der öffentlichen Rentenversicherung durch die Kriegsinflation bedroht. Da die Inflation durch die Preis- und Lohnkontrollen verborgen blieb, wurde in der Öffentlichkeit die Entwertung des Versicherungskapitals aber erst nach dem Zusammenbruch des Regimes deutlich.181 Um von der rentenpolitischen Stagnation abzulenken, führte das nationalsozialistische Regime 1938 eine Pflichtversicherung für Handwerker ein, die bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts diskutiert worden war.182 Handwerker, die noch nicht fünfzig Jahre alt waren, wurden Pflichtmitglieder in der Angestelltenversicherung. Sie konnten sich von der Versicherungspflicht befreien lassen, wenn sie eine entsprechende Lebensversicherung abschlossen. Leistungen und Beiträge entsprachen den Regelungen für die Angestellten. Für die Invaliditätsrenten galt 175 W. Goeze, Fünfzig Jahre Deutsche Invalidenversicherung, in: Deutsche Rentenversicherung, 11 (1939), S. 124. 176 Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 49), S. 65 – 69. 177 Conrad, Vom Greis zum Rentner (wie Anm. 140), S. 336. 178 Hohls, Arbeit und Verdienst (wie Anm. 31), S. 90; Petzina, Abelshauser, Faust, Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches (wie Anm. 91), S. 107; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1939 / 41, S. 483 – 487. 179 Hachtmann, Industriearbeit im „Dritten Reich“ (wie Anm. 93), S. 278. 180 Gesetz über die Verbesserung der Leistungen der Rentenversicherung vom 24. Juli 1941. RGBl. 1941 I, S. 443 – 444. 181 Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 49), S. 83 – 110. 182 Schlegel, Von der Arbeitnehmerversicherung zur Volksversicherung (wie Anm. 49); Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 49), S. 132 – 157.

V. Alter

231

eine Wartezeit von fünf Jahren, für die Altersrenten eine Wartezeit von 15 Jahren.183 Die Rentenversicherung der Handwerker war daher auf absehbare Zeit eine Spardose, in die der Staat zur Finanzierung der Aufrüstung hineingriff.184 Gegen die Verarmung der älteren Generation gab es Protest in der „Deutschen Arbeitsfront“.185 Robert Ley, der Chef der „Deutschen Arbeitsfront“, forderte im Dezember 1935, dass aus dem nationalsozialistischen Arbeitsbegriff eine neue Art der Versorgung abgeleitet werden müsse für alle jene, die nicht mehr erwerbsfähig waren. „Der Nationalsozialismus stellt den Geist der sozialen Ehre in den Mittelpunkt unseres Arbeitslebens.“186 Die bestehende Sozialversicherung sollte durch eine beitragsfreie Staatsbürgerversorgung ersetzt werden, die für alle Staatsbürger in bestimmten Lebensumständen wie Krankheit, Invalidität oder Alter eine ausreichende Unterstützung leisten sollte. Diese Initiative hatte zunächst keine Konsequenzen, aber einige Jahre später, im März 1939, wiederholte Ley seine Forderung und legte einen Plan für einen „Deutschen Volksschutz“ vor. Nach nationalsozialistischem Verständnis sollte dem Recht auf Arbeit und der Pflicht zur Arbeit ein Anspruch auf Versorgung entsprechen. Ley bezog sich dabei auf die in dem Parteiprogramm von 1920 erhobene Forderung nach einem großzügigen Ausbau der Altersversorgung. Die Gemeinschaft sei verpflichtet, „jeden Deutschen aus bevölkerungspolitischen Gründen vor dem Untergang zu bewahren“, und sie sei auch verpflichtet, „jeden Deutschen, der in seinem Leben gearbeitet und Werte geschaffen hat, im Alter vor Not und Elend zu schützen“. Mit der Altersversorgung hätten der Staat und die Gemeinschaft eine „Dankesschuld und eine Ehrenpflicht“ zu leisten. Die bestehende institutionell und funktionell differenzierte Sozialversicherung sollte durch einen umfassenden „Deutschen Volksschutz“ ersetzt werden. Der neue „Volksschutz“ hatte vier Schwerpunkte: Arbeitsrecht und Arbeitspflicht, Gesundheitsvorsorge, Unfallversicherung und Alters- und Invalidenversorgung. In der Alters- und Invalidenversorgung war eine Einheitsrente vorgesehen, die das Existenzminimum sichern sollte. Sie sollte von allen Erwerbstätigen durch einen proportional zum Einkommen erhobenen Sozialbeitrag finanziert werden.187 In den Ministerien stieß Leys Plan auf strikte Ablehnung. Der Reichsarbeitsminister argumentierte, unterstützt vom Finanzminister, vom Wirtschaftsminister und vom Minister für Ernährung und Landwirtschaft, dass die Einheitsrente dem Grundsatz der Selbsthilfe und dem Leistungsprinzip widerspreche und dass der Rentenplan außerdem nicht finanzierbar wäre.188 183 Gesetz über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk, 21. Dezember 1938. RGBl. 1938 I, S. 1900 – 1901. 184 Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 49), S. 157. 185 Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 49), S. 158 – 175. 186 Robert Ley, Erörterung zur Frage einer Reform der deutschen Sozialversicherung. Rede vom 5. Dezember 1935. BArchB R 3901 / 20649. 187 Robert Ley, Der Deutsche Volksschutz, März 1939. BArchB R 3901 / 5599. 188 Der Reichsarbeitsminister, Stellungnahme zu dem Vorschlag von Staatrat Dr. Ley „Der Deutsche Volksschutz“, 15. Mai 1939. BArchB R 3901 / 20647.

232

4. Kap.: Reform und Krise

Trotz des einhelligen Widerstands der Ministerien verfolgte Ley seinen Rentenreformplan weiter. Im Dezember 1939 warb er bei Rudolf Hess um Unterstützung für sein Projekt: „Nach dem Parteiprogramm ist noch als Krönung der Sozialversicherung die allgemeine Altersversorgung des deutschen Volkes zu schaffen“. Die Schaffung einer „nationalsozialistischen Altersversorgung“ werde immer dringlicher, da die Nachteile der „aus der Vorkriegszeit und aus der Systemzeit“ übernommenen Sozialversicherung immer offensichtlicher würden.189 Neben der ideologischen Begründung als nationalsozialistisches Vorzeigeprojekt stellte Ley seinen Reformplan auch als Belohnung für die Opfer dar, die im Krieg gefordert wurden. In einem Vortrag in der Reichspressestelle der NSDAP erklärte er im April 1940, Hitler persönlich habe ihm den Auftrag zur Verwirklichung der Altersversorgung erteilt, „weil er wünscht, dass nach dem Siege der Sozialismus in Deutschland verwirklicht werden soll“. Im Laufe der Zeit sollten auch die Beamtenpensionen abgeschafft werden. Das ganze Volk werde in die allgemeine Altersversorgung integriert. In einem halben Jahr werde das Projekt fertiggestellt sein.190 Das Arbeitswissenschaftliche Institut der „Deutschen Arbeitsfront“ arbeitete nach Leys Vorgaben Pläne für eine Sozialreform aus. Gesundheitsversorgung und Altersversorgung standen nach wie vor in engem Zusammenhang, sollten aber im Unterschied zu dem Programm für einen „Deutschen Volksschutz“ institutionell getrennt bleiben, um die Realisierungschancen zu verbessern.191 Inzwischen bemühten sich aber auch die Gegner der Rentenreform um Unterstützung im engeren Führungszirkel von Partei und Staat. Der Staatssekretär im Arbeitsministerium verteidigte in einem an Heinrich Himmler gerichteten Memorandum das bestehende Rentensystem, weil es auf Leistung und Gegenleistung beruhe. Die von der „Deutschen Arbeitsfront“ geplante Altersversorgung beruhe dagegen auf staatlicher Finanzierung und widerspreche deshalb den „sittlichen Forderungen des Nationalsozialismus“.192 Himmler reagierte zustimmend auf das Memorandum, so dass die Verteidiger der bestehenden Rentenversicherung nunmehr Unterstützung aus dem inneren Führungskreis des Regimes erhielten.193 Im Oktober 1942 legte die „Deutsche Arbeitsfront“ einen Gesetzentwurf für ein „Versorgungswerk des Deutschen Volkes“ vor. Die Reform der Altersversorgung wurde als Erfüllung des Parteiprogramms, aber auch als Siegesprämie für die „Volksgemeinschaft“ dargestellt. „Dieses neue Gesetzeswerk des Aufbaus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft soll für alle Zeit unser Volk an den Ley an Hess, 21. Dezember 1939. BArchB R 1501 / 5599. Ausführungen des Reichsorganisationsleiters Dr. Ley in der Reichspressestelle der NSDAP vor Schriftleitern, April 1940. BArchB R 1501 / 5599. 191 Volkswirtschaftliche Gesichtspunkte zur Frage der Altersversorgung, 6. Juli 1940. BArchB R 3901 / 20649. 192 Staatssekretär Krohn an den „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler, 15. April 1941. BArchB R 3901 / 20649. 193 Himmler an Krohn, 2. Mai 1941. BArchB R 3901 / 20649. 189 190

V. Alter

233

gemeinsamen Kampf der Front und der Heimat um die Freiheit und Unabhängigkeit des Großdeutschen Reiches erinnern.“ Der wichtigste Teil der Reform war, dass das Versicherungsprinzip durch ein Sozialeinkommen ersetzt wurde. Die Alters- und Invalidenrenten sollten sich nicht mehr an den eingezahlten Beiträgen orientieren, sondern an dem aktuellen Lohnniveau. Statt der Einheitsrente, die auf erheblichen Widerstand gestoßen war, wurde eine Differenzierung vorgesehen. Die Altersrente oder Invalidenrente sollte sechzig Prozent des durchschnittlichen Erwerbseinkommens entsprechen, das in den letzten zehn Jahren vor dem Ruhestand erzielt worden war. Die Witwen- und Waisenrenten würden sich proportional nach den Alters- und Invalidenrenten richten. Die Mittel für die Altersversorgung sollten aus dem allgemeinen Steueraufkommen aufgebracht werden, die bisherigen Beiträge würden bis auf weiteres als Reichssteuern erhoben. Der Plan forderte hier ausdrücklich eine Solidarität zwischen den Generationen: „Jede Generation baut ihr Werk in wesentlichen Teilen auf den Leistungen der vorangegangenen auf. Es entspricht daher der Gerechtigkeit, wenn die Schaffenden einen Teil ihres Arbeitsertrages den Volksgenossen überlassen, die ihre Kräfte im Dienste der Gemeinschaft verbraucht haben“. Jede Art von Altersversorgung konnte nach dieser Argumentation nur von der jeweils erwerbstätigen Generation erwirtschaftet werden. Auch eine Kapitalversicherung bringe nur Zinsen, wenn eine erwerbsfähige Generation arbeite. Die Mittel für das Versorgungswerk hatte deshalb die jeweils arbeitende Generation aufzubringen. Den Einwänden gegen die hohen Kosten der neuen Altersversorgung wurde entgegengestellt, dass eine wachsende Wirtschaft die Finanzierung erleichtern werde.194 Das Rentenreformprojekt der „Deutschen Arbeitsfront“ war durch die neue keynesianische makroökonomische Theorie beeinflusst, die von den nationalsozialistischen Planern auch auf anderen Gebieten rezipiert wurde, und wirkte daher in seiner wirtschaftlichen Argumentation recht modern. Als die Experten der „Deutschen Arbeitsfront“ im Oktober 1942 ihren Gesetzentwurf vorlegten, war aber schon entschieden, dass es während des Krieges keine Systemänderung in der Rentenversicherung geben sollte. Der Rentenreformplan der „Deutschen Arbeitsfront“ verschwand ebenso wirkungslos wie alle anderen nationalsozialistischen Projekte, die nach dem Krieg realisiert werden sollten.195

194 Versorgungswerk des Deutschen Volkes. Gesetzentwurf mit kurzer Erläuterung. Bearbeitet im Arbeitswissenschaftlichen Institut der Deutschen Arbeitsfront, Oktober 1942. BArchB R 3901 / 20650. 195 Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 49), S. 172 – 175.

234

4. Kap.: Reform und Krise

3. Die Struktur der Alterseinkommen a) Die berufliche Altersversorgung In der Weimarer Verfassung wurde dem Reich und den Ländern das Recht eingeräumt, gesetzliche Altersgrenzen zur Versetzung von Richtern in den Ruhestand einzuführen. Diese Regelung wurde auch auf andere Beamte angewandt. Mit der Zwangspensionierung wollte man vor allem eine Möglichkeit schaffen, ältere, monarchistisch gesinnte Beamte aus dem Beruf zu drängen. Ein weiteres Motiv war aber auch, dass die Berufsaussichten für den Nachwuchs verbessert werden sollten. In Preußen wurde 1920 der Regelruhestand eingeführt. Verwaltungsbeamte sollten mit 65 Jahren in den Ruhestand versetzt werden, wenn nicht besondere Gründe für eine Verlängerung der Berufstätigkeit vorlagen, Richter mit 68 Jahren. Das Reich führte im November 1923 die Regelpensionierung mit 65 Jahren ein, nachdem die Währungsreform zu einem Ausgleich des Staatshaushalts mit strikten Sparmaßnahmen zwang. Im Vergleich zu allen anderen Alterssicherungssystemen war die Beamtenversorgung, die nach einer langen Karriere 75 Prozent des Gehalts erreichte, sehr günstig. Dennoch führte die Regelpensionierung zu Protesten, denn viele Beamte zogen es zu dieser Zeit noch vor, ihre Tätigkeit mit dem vollen Gehalt bis in das hohe Alter fortzusetzen.196 Die Altersversorgung der Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes durch die Rentenversicherung war wesentlich schlechter als die Beamtenversorgung. Um den Abstand zu verringern, wurde 1943 eine Zusatzversorgung für die Arbeiter und Angestellten des Reichs eingeführt.197 Die betriebliche Altersversorgung erlitt durch die Inflation einen schweren Rückschlag. Die institutionell selbständigen Formen der betrieblichen Altersversorgung, die vor der Inflation als vorbildlich galten, verloren ihre Existenzgrundlage, weil das Kapital der Unterstützungskassen und Pensionskassen durch die Geldentwertung weitgehend vernichtet wurden. Die Pensionskasse von Krupp stellte 1923 ihre Zahlungen ein, weil das Vermögen entwertet war. Weniger hart getroffen wurde die innerbetriebliche Altersversorgung, soweit die Renten an die Inflation angepasst wurden. In der Phase der relativen Stabilisierung von 1924 bis 1928 wurde die betriebliche Altersversorgung neu aufgebaut. Nach den Erfahrungen der Inflation gewann die innerbetriebliche Altersversorgung, die unmittelbar aus den Unternehmenserträgen finanziert wurde, an Bedeutung. Die Firma Krupp zum Beispiel stellte die Unterstützungskasse, die eine lange Tradition hatte, nicht wieder her, sondern führte stattdessen eine innerbetriebliche Altersversorgung ein. Das geringe Restvermögen, dass nach der Aufwertungsgesetzgebung blieb, wurde als einmalige 196 Josef Ehmer, Sozialgeschichte des Alters, Frankfurt am Main 1990, S. 78 – 86; Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 94 – 108. 197 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 46), Bd. 3, 60 – 61.

V. Alter

235

Zahlung an die Mitglieder der Unterstützungskasse verteilt.198 Die Unterstützungskassen und Pensionskassen konnten durch das Aufwertungsgesetz von 1925 einen Rest ihres Vermögens retten. Bei den betrieblichen Pensionskassen in Preußen ergab sich am Ende eine Abwertung auf 15 Prozent des Nominalvermögens. Das reichte für die Zahlung von Betriebsrenten nicht aus. Einige Unternehmen bauten aber betriebliche Unterstützungskassen oder Pensionskassen neu auf oder schlossen Lebensversicherungen für ihre Beschäftigten ab. Ende der zwanziger Jahre erhielten ungefähr zehn Prozent der Rentner und Rentnerinnen der öffentlichen Rentenversicherung eine zusätzliche Betriebsrente. Nachdem die Sozialversicherungsrenten in der Phase der relativen Stabilisierung deutlich erhöht wurden, galten die Betriebrenten als Zusatzsicherung. Sie waren deshalb im Unterschied zu der Zeit des Kaiserreichs im allgemeinen niedriger oder ähnlich hoch, aber nicht mehr höher als die Renten der Sozialversicherung. Die meisten Betriebsrenten lagen zwischen zwanzig und vierzig RM im Monat. Die Weltwirtschaftskrise unterbrach den kurzen Aufschwung der betrieblichen Altersversorgung. Die schlechte wirtschaftliche Lage der Unternehmen gefährdete besonders die innerbetriebliche Altersversorgung.199 Zu einem neuen Aufschwung der betrieblichen Altersversorgung führte die Rüstungskonjunktur der dreißiger Jahre. Viele Unternehmen erzielten hohe Gewinne. Da die Löhne staatlich festgelegt waren, wurden betriebliche Sozialleistungen als ein Ausgleich für ausbleibende Lohnerhöhungen betrachtet.200 In der Versicherungswirtschaft waren Betriebsrenten schon seit langer Zeit üblich. In der Industrie stellte 1936 ungefähr ein Viertel der Unternehmen den Beschäftigten eine Betriebsrente in Aussicht. Die Tendenz war steigend.201 Zunehmend richteten auch mittlere und kleine Betriebe eine betriebliche Alterversorgung ein. Aus staatlicher Sicht waren vor allem die institutionell selbständigen Formen der betrieblichen Altersvorsorge erwünscht, besonders die Pensionskassen, die schon in der Zeit des Kaiserreichs von der Sozialpolitik empfohlen wurden, aber auch die neuere Form der Gruppenlebensversicherung. Seit 1934 – 1935 wurden die institutionell selbständigen Modelle daher auch gegenüber der innerbetrieblichen Versorgung und den Unterstützungskassen steuerlich privilegiert. Trotzdem blieb die Direktzusage von Betriebsrenten aus den laufenden Unternehmenserträgen die verbreitetste Form der betrieblichen Altersversorgung. Die Betriebsrenten galten, wie schon in der Zeit der Weimarer Republik, als Zusatzsicherung. Die Betriebrenten von Siemens zum Beispiel betrugen 1938 für Arbeiter im Durchschnitt 28 RM und für Angestellte 59 RM im Monat.202 198 Vera Stercken / Reinhard Lahr, Erfolgsbeteiligung und Vermögensbildung der Arbeitnehmer bei Krupp von 1811 bis 1945, Stuttgart 1992, S. 83 – 87. 199 Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 214 – 225. 200 Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 49), S. 193 – 217. 201 Günter Kalbaum, Hg. Die freiwilligen sozialen Leistungen des Versicherungsgewerbes im Jahre 1936, Stuttgart 1990; Günter Kalbaum, Erfolgsbeteiligung und Vermögensbildung der Arbeitnehmer in der privaten Versicherungswirtschaft 1820 – 1948, Stuttgart 1993.

236

4. Kap.: Reform und Krise

Nicht alle Beschäftigten, die an einem System der betrieblichen Altersvorsorge teilnahmen, erhielten im Alter tatsächlich eine Betriebrente. Ein Wechsel des Betriebes oder eine zu kurze Betriebszugehörigkeit hatten oft zur Folge, dass die Rentenansprüche verfielen. Vor allem aber wurden viele Ansprüche auf eine Betriebsrente durch die beiden Inflationen des zwanzigsten Jahrhunderts vernichtet. Die Rentner der zwanziger und dreißiger Jahre litten unter den Nachwirkungen der ersten Inflation; die Rentenansprüche, die sie in der Zeit vor 1924 erworben hatten, waren verfallen. Die Erwerbstätigen der dreißiger Jahre nahmen zwar zunehmend an der betrieblichen Altersversorgung teil. Aber ihre Ansprüche standen im Schatten der neuen Inflation und wurden zum größten Teil entwertet, ohne jemals zu einer Rente zu führen. Für die Freien Berufe wie Ärzte, Apotheker, Architekten und Rechtsanwälte gab es lange Zeit nur die individuelle Vermögensbildung als Altersvorsorge. Erst nach den Erfahrungen der Inflation, in der viele Geldvermögen vernichtet wurden, kam es zur Gründung beruflicher Alterssicherungssysteme. Seit 1920 wurden für einzelne Berufsgruppen berufsständische Versorgungswerke eingerichtet. Als öffentlich-rechtliche Alterssicherungssysteme mit Pflichtmitgliedschaft waren sie zwar ein Teil der sozialpolitisch regulierten Altersvorsorge, blieben aber eigenständige Institutionen außerhalb der öffentlichen Rentenversicherung. Die berufsständischen Versorgungswerke waren nach dem Versicherungsprinzip organisiert.203 b) Die individuelle Vermögensbildung Der Erste Weltkrieg und die Inflation versetzten der Altersvorsorge durch Vermögensbildung in Form von Sparanlagen oder Versicherungen einen schweren Schlag. Sowohl die Geldanlagen in Sparguthaben oder öffentlichen Anleihen, als auch die Beiträge und Leistungen der Lebensversicherungen wurden entwertet. Einige Lebensversicherungsunternehmen gingen auf dem Höhepunkt der Inflation dazu über, wertbeständige Versicherungen auf der Basis der Goldmark anzubieten, einer Rechnungswährung, die auf der Basis der Vorkriegsparität von 4,20 Mark zu einem Dollar definiert war. Diese Angebote kamen jedoch zu spät für die älteren Menschen, die durch langjährige Beitragsleistungen Ansprüche auf einen Kapitalbetrag oder eine Rente erworben hatten. Ein Rentenanspruch, der vor dem Krieg einen bürgerlichen Lebensabend finanzieren sollte, reichte am Ende der Inflation nicht einmal mehr für das Porto des Briefes, in dem die Versicherungsgesellschaft ihrem Kunden mitteilte, dass die Rente wertlos geworden war.204 Nach einem Urteil des Reichsgerichts, das eine teilweise Anerkennung von Forderungen aus 202 Christoph Conrad, Erfolgsbeteiligung und Vermögensbildung der Arbeiter bei Siemens (1847 – 1945), Stuttgart 1986, S. 111. 203 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 46), Bd. 3, S. 58 – 59. 204 Ludwig Arps, Durch unruhige Zeiten. Deutsche Versicherungswirtschaft seit 1914, 2 Bde., Karlsruhe 1970 – 1976, Bd. 1, S. 229 – 292.

V. Alter

237

der Zeit vor der Inflation verlangte, wurden 1925 Staatsanleihen, Hypotheken und andere langfristige Forderungen, die durch die Inflation entwertet worden waren, mit Sätzen zwischen 2,5 Prozent und 25 Prozent aufgewertet. Die Lebensversicherungen werteten auf dieser Grundlage die alten Ansprüche im Durchschnitt zu einem Satz von 14,5 Prozent auf. Es dauerte danach noch einige Jahre, bis nach mühsamen Rechnungen 1932 die Auszahlungen begannen.205 Nach der Währungsstabilisierung kamen die laufenden Geschäfte der Lebensversicherungsunternehmen wieder in Gang. 1927 hatten die privaten und öffentlich-rechtlichen Lebensversicherungen einen Bestand von sechs Millionen Verträgen. Die Verbreitung der Lebensversicherung war damit schon wieder recht eindrucksvoll, der Durchschnittswert einer Versicherung betrug allerdings nur 1795 RM. Da die Lebenshaltungskosten gegenüber der Vorkriegszeit um 48 Prozent gestiegen waren, erreichte die durchschnittliche Versicherungssumme real 94 Prozent des Niveaus von 1913.206 Für einen wirksamen Ausbau der individuellen Vermögensbildung als Alterssicherung waren die Einkommen der meisten Erwerbstätigen immer noch zu gering. Nach Ansicht eines zeitgenössischen Experten zeigte die Schichtung der Bevölkerung nach dem Einkommen, „dass die weit überwiegende Zahl zu den minderbemittelten Schichten gehört, deren Einkommen stets nahe an der Grenze des Notbedarfs für den täglichen Lebensunterhalt liegt und deshalb keine sichere Basis abgibt, um die Vorsorge für das Alter lediglich dem freiwilligen Spartrieb zu überlassen“.207 Unter der nationalsozialistischen Diktatur gab es heftige politische Auseinandersetzungen um die Organisation der Lebensversicherung. Einige nationalsozialistische Funktionäre forderten eine Verstaatlichung der Versicherungswirtschaft.208 Sie argumentierten, dass die privatwirtschaftliche Organisation des Versicherungswesens der nationalsozialistischen Ideologie widersprach. Die Regierung hielt jedoch die gemischte Wirtschaftsordnung von Staat und Privatwirtschaft für eine unverzichtbare Grundlage der Aufrüstung und lehnte radikale Änderungen ab. 1938 wurde die Debatte um die Verstaatlichung abgebrochen.209 Der Einfluss des Regimes nahm jedoch vor allem durch die Aktivitäten der „Deutschen Arbeitsfront“ zu. Die „Volksfürsorge“ der Freien Gewerkschaften und Konsumvereine, der „Deutsche Ring“ des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes und der „Deutsche Versicherungs-Konzern“ der Christlichen Gewerkschaften wurden ent205 Peter Borscheid, Mit Sicherheit leben. Die Geschichte der deutschen Lebensversicherungswirtschaft und der Provinzial-Lebensversicherung von Westfalen, 2 Bde., Greven 1989, Bd. 1, 104 – 110. 206 Peter Borscheid / Anette Drees, Versicherungsstatistik Deutschlands 1750 – 1985, St. Katharinen 1988, S. 69; Bry, Wages in Germany (wie Anm. 23), S. 423. 207 Wilhelm Polligkeit, Forderungen für einen systematischen Ausbau der Altersfürsorge, Frankfurt am Main 1928, S. 13. 208 Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 49), S. 180 – 193. 209 Gerald Feldman, Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933 – 1945, München 2001, S. 188 – 232.

238

4. Kap.: Reform und Krise

eignet und der „Deutschen Arbeitsfront“ übertragen. Die „Deutsche Arbeitsfront“ nutzte ihren Einfluss als Massenorganisation, um für ihre Versicherungen zu werben, und erreichte einen erheblichen Marktanteil.210 Nachdem die Nominaleinkommen durch die Rüstungskonjunktur stiegen, nahm das Interesse des Publikums zu, Ersparnisse in Lebensversicherungen als Altersvorsorge zu investieren. Die Kriegsinflation entwertete jedoch zum zweiten Mal innerhalb einer Generation die Versicherungsansprüche.211 Den Deutschen jüdischer Abstammung wurde nach der Verdrängung aus der Wirtschaft auch die Existenzsicherung durch Lebensversicherungen entzogen. Bis 1938 wurden Zahlungen aus fälligen Versicherungen oder vorzeitigen Kündigungen noch regelmäßig geleistet. Allerdings wurde es für jüdische Flüchtlinge aufgrund der Devisenbewirtschaftung zunehmend schwieriger, Versicherungsleistungen oder anderes Geldvermögen in das Ausland zu transferieren. Ab 1938 wurden die Versicherungsleistungen zwar noch ausgezahlt, aber sie wurden anschließend bei den Flüchtlingen und auch bei den Juden, die im Lande blieben, weitgehend vom Staat konfisziert. Ab 1941 wurden alle Versicherungsansprüche von Juden beschlagnahmt, Zahlungen durften nur noch an staatliche Stellen geleistet werden.212 c) Die Debatte um die familiale Altersversorgung In der Sozialpolitik wurde in den zwanziger Jahren ein Rückgang der familialen Solidarität beklagt. So bemerkte ein Fürsorgeexperte 1920: „Der alte Spruch: eher kann ein Vater sieben Kinder ernähren als sieben Kinder einen Vater, tritt nur allzu deutlich und oft in Erscheinung.“213 Es wurde üblich, dass ältere Menschen möglichst lange einen eigenen Haushalt führten, und man nahm an, dass auch dadurch die Unterstützungsbereitschaft der erwachsenen Kinder nachließ.214 Die These von der nachlassenden Solidarität der Familien war jedoch umstritten. Die Geringschätzung der familialen Transferleistungen lag vor allem auch daran, dass sie nicht dem Leitbild der sozialpolitischen Verantwortung für die Alterssicherung entsprachen. In einer zeitgenössischen Darstellung hieß es dazu: „In der Fähigkeit und Bereitwilligkeit der Familie, die altgewordenen Angehörigen bei sich aufzunehmen und zu versorgen, stößt man heute namentlich in Kreisen der öffentlichen und privaten Fürsorge auf die Meinung, dass ein Nachlassen des Familien210 Ingo Bühle, Die Volksfürsorge Lebensversicherungs-AG – ein Unternehmen im „Dritten Reich“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 45 (2000); Feldman, Allianz (wie Anm. 209), S. 119 – 133, 344 – 346. 211 Arps, Durch unruhige Zeiten (wie Anm. 204), Bd. 2, S. 230 – 245. 212 Feldman, Allianz (wie Anm. 209), S. 285 – 332. 213 Häring, Soziale Zustände. Fürsorge für erwerbsunfähige Invalide, in: Soziale Praxis, 29 (1920). Zitiert nach Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 269. 214 Christoph Conrad, Alterssicherung, in: Hans Günter Hockerts, Hg., Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 347 – 397; Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 269 – 273.

V. Alter

239

sinns zu beobachten sei. Allerdings beruhen solche Urteile auf allgemeinen Eindrücken, nicht auf bestimmten Untersuchungen, und ihnen stehen entgegengesetzte Aeußerungen von Praktikern der Fürsorge gegenüber, dass zum mindesten der Wille, die alten Eltern zu versorgen, heute nicht geringer ist als früher“.215 Familiale Transferleistungen nahmen unter den Alterseinkommen nach der Rentenversicherung immer noch den zweiten Rang ein, und die Solidarität der Familie ersparte in vielen Fällen den Gang zur Fürsorge. Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 1929 wurden ungefähr 45 Prozent der Rentner und Rentnerinnen, die nicht auf die Fürsorge angewiesen waren, zusätzlich von den Familien unterstützt, und von den fürsorgebedürftigen Rentnern und Rentnerinnen erhielten noch ungefähr 30 Prozent zusätzliche Hilfe von ihren erwachsenen Kindern oder anderen Familienangehörigen. 216 Der Trend zur Selbständigkeit im Alter brachte es mit sich, dass Hilfe und Pflege, die früher im Rahmen der Familie geleistet wurden, als sozialpolitisches Problem thematisiert wurden. Hinzu kam, dass durch den Anstieg der Lebenserwartung die Zahl der hilfsbedürftigen oder pflegebedürftigen alten Menschen zunahm. Nach dem Ruhestand konstituierte sich die Hilfs- und Pflegebedürftigkeit als letzte Lebensphase. Für diese Lebensphase gewann als Alternative zu der Betreuung durch die Familie die Unterbringung in einem Altenheim an Bedeutung. Viele Sozialpolitiker und Sozialpolitiker sahen unter dem Einfluss der Rationalisierungsbewegung, die in allen Lebensbereichen den Kult der Konzentration pflegte, in der Anstalt das Zukunftsmodell der Altersversorgung. Das Altenheim als zeitgemäße Weiterentwicklung der Hospitäler, aber auch als Entlastung der Krankenhäuser, sollte nicht nur eine bessere, sondern auch eine kostengünstigere Unterbringung der älteren Generation gewährleisten. Nachdem die ersten Großanstalten errichtet worden waren, setzte jedoch eine Ernüchterung ein. Hohe Investitionen und Betreuungskosten machten die Heimunterbringung so aufwendig, dass die propagierte Gründungswelle von Altenheimen ausblieb. Am Ende der Weimarer Republik waren 2,4 Prozent der Menschen im Alter ab 65 Jahren in Heimen untergebracht.217 d) Alterseinkommen und Altersarmut Die Weimarer Republik begann schwierig für die ältere Generation. Die Altersversorgung hing mehr als zuvor von der öffentlichen Rentenversicherung ab. Das lag zum einen daran, dass die Ansätze zu einer institutionellen Differenzierung der Alterseinkommen durch die Folgen des Ersten Weltkriegs unterbrochen wurden. Sowohl die betriebliche Altersversorgung, als auch die individuelle Vermögensbildung wurden durch die Inflation weitgehend zerstört. Hinzu kam, dass sich die Polarisierung der Sozialstruktur mit einer zeitlichen Verzögerung in der Struktur 215 216 217

Polligkeit, Forderungen für einen systematischen Ausbau (wie Anm. 207), S. 14. Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 267 – 268. Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 251 – 265.

240

4. Kap.: Reform und Krise

der Alterseinkommen niederschlug. Es gab in den zwanziger Jahren mehr ehemalige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, deren Altereinkommen aus der Rentenversicherung abgeleitet war, und weniger Selbständige. Zugleich wurde aber die Rentenversicherung durch die Inflation ruiniert. Der Verfall der öffentlichen Rentenversicherung in der Inflation hatte zur Folge, dass in vielen Fällen die Rente als Alterseinkommen durch die Fürsorgeunterstützung abgelöst wurde. Da die Rentnerinnen und Rentner eigene Beiträge für ihre Altersicherung aufgebracht hatten, die der Geldentwertung zum Opfer gefallen war, sollten sie besser gestellt werden als die Empfänger der allgemeinen Fürsorgeunterstützung. 1921 wurde eine besondere Fürsorge für arme Rentner und Rentnerinnen eingeführt. Die Fürsorge für die Sozialrentner wurde zu achtzig Prozent vom Reich und zu zwanzig Prozent von den Kommunen finanziert. Zeitweilig wurde erwogen, die Rentnerfürsorge zu dynamisieren und an die Entwicklung der Löhne anzupassen. Die Unterstützungssätze der Sozialrentner hätten dann ungefähr 17 Prozent des durchschnittlichen aktuellen Lohnniveaus betragen sollen. Diese Pläne wurden aber aus Kostengründen aufgegeben. Stattdessen wurde ein fester Unterstützungsbetrag eingeführt, der von Zeit zu Zeit durch Teuerungszulagen angehoben wurde. Die Anpassung der Rentnerfürsorge blieb jedoch weit hinter der Geldentwertung zurück. Die Rentnerfürsorge lag schließlich sogar entgegen den ursprünglichen Versprechungen unter dem Niveau der allgemeinen Fürsorge. Wie sehr die Funktion der Sozialversicherung auf die Fürsorge überging, zeigt eine Schätzung des Reichsarbeitsministeriums vom November 1922; danach waren in manchen Städten dreißig bis fünfzig Prozent der Rentner und Rentnerinnen auf die Sozialrentnerfürsorge angewiesen.218 Eine weitere Form der Sonderfürsorge wurde für ältere Menschen eingerichtet, die vor dem Krieg ihre Alterssicherung aus eigenem Vermögen bestritten hatten und durch die Inflation verarmt waren. Nachdem die Sonderfürsorge für die Rentner und Rentnerinnen der Sozialversicherung eingeführt worden war, argumentierten vor allem die bürgerlichen Parteien, dass auch die früheren Vermögensbesitzer aufgrund ihrer eigenen Vorsorgebemühungen gegenüber der großen Zahl der allgemeinen Fürsorgeempfänger bevorzugt werden müssten, wenn sie im Alter in Armut gerieten. Die Adressaten der neuen Sonderfürsorge wurden als „Kleinrentner“ bezeichnet, um eine Parallele zu den Rentnern der Sozialversicherung herzustellen.219 Ab 1921 führten einzelne Städte und Länder eine besondere Kleinrentnerfürsorge ein. Der Unterstützungsbetrag sollte über der allgemeinen Fürsorge liegen, und die Bedürftigkeitsprüfung sollte weniger strikt angewendet werden. Vor allem sollten bescheidene Vermögensreste, die vor der Geldentwertung gerettet worden waren, geschützt werden. Mit fortschreitender Geldentwertung wurde Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 142 – 153. Robert Scholz, „Heraus aus der unwürdigen Fürsorge“. Zur sozialen Lage und politischen Orientierung der Kleinrentner in der Weimarer Republik, in: Christoph Conrad / HansJoachim von Kondratowitz, Hg., Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters, Berlin 1983. 218 219

V. Alter

241

Ende 1922 geschätzt, dass mehr als die Hälfte der Alten, die früher von Vermögenserträgen gelebt hatten, auf die Fürsorge angewiesen waren. Zu den neuen Armen gehörten vor allem Witwen von Handwerkern und anderen Selbständigen der städtischen alten Mittelklasse, die keinen Zugang zur öffentlichen Rentenversicherung hatten. Die Selbständigen setzten im allgemeinen so lange wie möglich ihre Erwerbstätigkeit fort und verließen sich im übrigen für die eigene Alterssicherung und für die Versorgung der Hinterbliebenen auf ein kleines Kapital oder eine Lebensversicherung. Im Februar 1923 schuf das Reich eine allgemeine Kleinrentnerfürsorge für ältere Menschen, die vor dem Krieg eine Altersvorsorge durch individuelle Vermögensbildung oder betriebliche Pensionszusagen aufgebaut hatten und durch die Folgen von Krieg und Inflation verarmt waren. 1922 wurden mehr als die Hälfte der Kleinrentner von der Kleinrentnerfürsorge unterstützt.220 Die starke Beanspruchung der Fürsorge führte dazu, dass eine Diskussion über den öffentlichen Generationenvertrag aufkam, die es in dieser Intensität im Kaiserreich nicht gegeben hatte. Der Nürnberger Kommunalpolitiker Hermann Heimerich forderte 1921 auf dem „Deutschen Fürsorgetag“, die begrenzten Fürsorgemittel bevorzugt für die Kinder- und Jugendfürsorge einzusetzen. „Was wir heute tun, um die Kriegswirkungen besonders bei der Jugend aufzuheben, wird uns vor ungeheuren Fürsorgekosten in der Zukunft bewahren. ( . . . ) Wir wollen den Alten und dauernd Arbeitsunfähigen gewiß nicht das Notwendigste versagen, aber unsere erste Sorge können sie nicht sein. Es fragt sich, ob es nicht besser wäre, anstatt eine große Alterssammlung einzuleiten, die Kinderhilfssammlung in Deutschland wieder neu aufleben zu lassen“.221 Die Sozialpolitik wirkte allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Der bescheidenen Unterstützung für die heranwachsende Generation, im wesentlichen durch die Steuererleichterungen für Familien und durch die Jugendfürsorge, standen umfangreiche öffentliche Transferleistungen an die ältere Generation durch die öffentliche Rentenversicherung und durch die altersspezifischen Fürsorgeleistungen gegenüber. Nach der Rekonstruktion der öffentlichen Rentenversicherung trat in der Phase der relativen Stabilisierung die Rente als Alterseinkommen wieder stärker in den Vordergrund. Die besonderen Fürsorgesysteme für Sozialrentner und Kleinrentner blieben jedoch bestehen. Für die Kleinrentner galt weiterhin die Schutzbestimmung, dass kleine Vermögen wie Sparguthaben oder die eigene Wohnung bei der Bedürftigkeitsprüfung nicht angerechnet werden sollten. Der Unterstützungssatz sollte um ungefähr 25 Prozent über dem allgemeinen Fürsorgesatz liegen.222 Ende der zwanziger Jahre erhielten noch über zwanzig Prozent der Rentner und Rentnerinnen der Sozialversicherung eine zusätzliche Unterstützung aus der Fürsorge.223 Die starke Beanspruchung von Fürsorgeleistungen ist schon in zeitgenössischen 220 221 222 223

Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 142 – 143. Zitiert nach Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 164. Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 171 – 178. Penkert, Arbeit oder Rente (wie Anm. 12), S. 266.

16 Hardach

242

4. Kap.: Reform und Krise

Kommentaren manchmal als Hinweis auf eine Verelendung im Alter interpretiert worden.224 Diese Interpretation ist jedoch nicht überzeugend, denn der Verbreitungsgrad der öffentlichen Rentenversicherung war grösser als in der Zeit des Kaiserreichs, und die Renten waren höher. Entscheidend war vielmehr, dass die Fürsorge leichter zugänglich wurde, und dass die Unterstützung sich an einem höheren kulturellen Existenzminimum orientierte als in der Vorkriegszeit. Insgesamt besserte sich die Situation der älteren Generation im Vergleich zur Vorkriegszeit, auch wenn es immer noch viele Beispiele von Altersarmut gab. Die größere materielle Selbständigkeit zeigte sich nicht zuletzt daran, dass eine wachsende Zahl von älteren Ehepaaren und Alleinstehenden einen eigenen Haushalt führte. Unter der nationalsozialistischen Diktatur verschlechterte die Lage der Rentner sich durch die restriktive Rentenpolitik. Die Rüstungskonjunktur begünstigte zwar den Ausbau der betrieblichen Altersversorgung und den Anstieg der individuellen Ersparnisse. Die Differenzierung der Alterssicherung kam aber für die aktuelle Ruhestandsgeneration zu spät und brachte infolge der verdeckten Kriegsinflation auch für die kommenden Ruhestandsgenerationen keinen Nutzen. Das nationalsozialistische Regime übernahm aus der Weimarer Republik die differenzierte Fürsorge, in der es neben der allgemeinen Fürsorge verschiedene Sonderfürsorgesysteme mit engeren Zielgruppen und höheren Leistungen gab.225 Die Unterstützungssätze in der Sozialrentnerfürsorge blieben niedrig. 1938 trat eine bescheidene Verbesserung ein, weil nach der Anhebung der Renten auch die Unterstützungssätze für die Sozialrentner entsprechend angehoben wurden. In der Kleinrentnerfürsorge wurde 1934 eine Differenzierung eingeführt, mit der die kleinbürgerliche Klientel von den Armen abgehoben werden sollte. Für Rentnerinnen und Rentner, die Anfang 1918 ein Vermögen von mindestens 12000 Mark besessen hatten, wurde eine besondere Kleinrentnerhilfe mit einer weiteren Lockerung der Bedürftigkeitsprüfung, Aufhebung der Rückerstattungspflicht und höheren Unterstützungssätzen eingerichtet. 1935 waren von den insgesamt 196.000 Kleinrentnerinnen und Kleinrentnern 58 Prozent in der Kleinrentnerfürsorge geblieben, während 42 Prozent in die neue Kleinrentnerhilfe befördert worden waren.226 Für die Altersversorgung der jüdischen Minderheit wurden die jüdischen Selbsthilfeorganisationen wichtig. Da es eher die Jüngeren waren, die vor der Unterdrückung ins Ausland flohen, und die Älteren trotz aller Drangsalierung oft die Heimat nicht verlassen wollten, wurden seit 1939 viele Altersheime gegründet, um die Auswanderung zu unterstützen. Die Flüchtlinge glaubten ihre Eltern oder Verwandte, die das Land nicht verlassen wollten, in den Altersheimen versorgt. Niemand konnte sich vorstellen, dass die jüdischen Altersheime bald darauf Todesfallen sein würden.227 224 225 226 227

Polligkeit, Forderungen für einen systematischen Ausbau (wie Anm. 207), S. 30. Schlegel-Voß, Alter in der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 49), S. 218 – 249. Sachße / Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 38), Bd. 3, S. 183. Maierhof, Selbstbehauptung im Chaos (wie Anm. 55), S. 307.

Fünftes Kapitel

Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat I. Die Spätzeit des bürgerlichen Generationenvertrages 1. Biographische Stabilisierung Die ersten drei historischen Ansätze, im Rahmen des bürgerlichen Generationenvertrages die industriekapitalistische Dynamik in eine den Produktivkräften entsprechende Stabilität des Lebenslaufs und des Lebenseinkommens umzusetzen, sind gescheitert. Zwar stiegen der Lebensstandard und die Lebenserwartung seit dem neunzehnten Jahrhundert im Trend deutlich an. Kriege und Krisen haben die Zunahme der biographischen Stabilität aber immer wieder unterbrochen. Die wirtschaftliche Expansionsphase des Kaiserreichs endete mit dem Ersten Weltkrieg. Die Weimarer Republik versprach eine umfassende Neuorientierung; Wirtschaft und Politik sollten sich an den Lebensbedürfnissen der Menschen orientieren. Dieses Programm scheiterte teils an wirtschaftlichen Problemen, teils an dem Versagen der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten, die in der Weltwirtschaftskrise die Weimarer Republik zerstörten, um ein autoritäres Regime zu errichten. Die „Volksgemeinschaft“, die das neue Regime versprach, war von Anfang an eine Täuschung. Gestützt auf Repression nach innen und Aggression nach außen, endete das System nach kurzer Zeit in allgemeinem Elend. Als Folge des Zweiten Weltkriegs wurde der bürgerliche Generationenvertrag in Deutschland auf einem stark reduzierten Territorium fortgeführt. Die Siegermächte setzten im Mai 1945 die deutsche Regierung ab und teilten das Land in vier Besatzungszonen. Die Gebiete östlich von Oder und Neiße wurden von Polen und der Sowjetunion annektiert. Als gemeinsame Autorität wurde im Juni 1945 der Alliierte Kontrollrat etabliert, dem die Militärgouverneure der vier Zonen angehörten. Im Potsdamer Protokoll vom August 1945 bekundeten die Alliierten ihre Absicht, Deutschland als politische Einheit zu erhalten. Differenzen zwischen den Alliierten über die Deutschlandpolitik, wirtschaftliche Schwierigkeiten und die weltweite Systemkonkurrenz, die seit 1947 dramatisch als ein „Kalter Krieg“ bezeichnet wurde, führten jedoch bald zur Teilung. Der Kontrollrat stellte 1948 seine Tätigkeit ein, 1949 kam es zur doppelten Staatsgründung. Die Bundesrepublik Deutschland erbte 53 Prozent des Vorkriegsterritoriums, die Deutsche Demokratische Republik 23 Prozent. Der Rest des Vorkriegsgebietes entfiel auf die von Polen und der Sowjetunion annektierten Landesteile. Das Saarland wurde in der Zeit der alliier16*

244

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

ten Herrschaft von Deutschland getrennt und hatte eine eigene Verwaltung, kehrte aber 1957 in die Bundesrepublik Deutschland zurück.1 In der Bundesrepublik Deutschland erreichten der Lebenslauf und das Lebenseinkommen eine bis dahin unbekannte Stabilität. Grundlage für die biographische Sicherheit war zunächst, dass die Bundesrepublik Deutschland sich durch die zuverlässige Wahrung des Friedens positiv von früheren Epochen der deutschen Geschichte unterschied. Ein weiterer Grund war, dass die Familie eine allgemein angestrebte Lebensweise blieb. Es gab daher keine dramatischen Veränderungen in der Altersstruktur und in der Struktur der intergenerativen Einkommensverteilung. Die materielle Grundlage des Generationenvertrages war die beachtliche wirtschaftliche Dynamik. Der Wiederaufbau ging Anfang der fünfziger Jahre in eine wirtschaftliche Wachstumsphase über, die bis Anfang der siebziger Jahre anhielt. Das wirtschaftliche Wachstum erhöhte den Lebensstandard und erweiterte das Verteilungspotential der Gesellschaft, setzte aber auch neue Maßstäbe für die intergenerative Umverteilung, da alle Generationengruppen am Anstieg der Realeinkommen partizipieren sollten. Ein wichtiger Stabilitätsfaktor war schließlich auch die Entwicklung des Sozialstaats. Nachdem die Abwege des imperialistischen Deutschland und der nationalsozialistischen Diktatur gebannt waren, erhielt die Sozialpolitik als Staatsaufgabe eine bis dahin nicht gekannte Priorität. Die Regulierung der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit trug zur Stabilisierung der Erwerbsbiographien bei und schuf mehr biographische Sicherheit. Der Soziologe Theodor Geiger argumentierte 1949, dass die „Institutionalisierung des Klassengegensatzes“ eine wichtige Voraussetzung für die Stabilität der kapitalistischen Gesellschaft war. Das Spannungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit war „als Strukturprinzip des Arbeitsmarktes anerkannt und zur gesellschaftlichen Rechtseinrichtung erhoben“.2 Die sekundäre Einkommensverteilung wurde erheblich ausgebaut, und damit nahm auch die öffentliche Umverteilung zwischen den Generationen zu. Neben der sekundären Einkommensverteilung trugen die generationsspezifischen staatlichen Ausgaben, insbesondere für Bildung und Gesundheit, zur Stabilisierung des Lebenseinkommens bei. Trotz des Gewinns an biographischer Stabilität war der bürgerliche Generationenvertrag kein zukunftsfähiges Modell. Die Gleichheit der Geschlechter, die im Grundgesetz von 1949 versprochen war, konnte auf die Dauer nicht verweigert werden. Es entwickelte sich eine wachsende Distanz zwischen dem Leitbild der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Realität einer zunehmenden Erwerbsorientierung von Frauen.3 Schließlich erzwang der Wandel der Geschlechter1 Gunther Mai, Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945 – 1948. Alliierte Einheit – deutsche Teilung? München 1995. 2 Theodor Geiger, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln 1949, S. 182 – 184. 3 Christiane Kuller, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949 – 1975, München 2004, S. 60 – 62; Statistisches Bundesamt, Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern und ihre berufliche Ausbildung, Stuttgart 1967.

I. Die Spätzeit des bürgerlichen Generationenvertrages

245

verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland eine Neuordnung der Generationenverhältnisse. 2. Demographischer Wandel In der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland nahm die Geburtenrate zu. Das lag zunächst wahrscheinlich daran, dass aufgeschobene Familienwünsche nachgeholt wurden, wie nach dem Ersten Weltkrieg und nach der Weltwirtschaftskrise. Aber auch die neue biographische Sicherheit könnte zu dem Anstieg der Geburtenrate beigetragen haben. 1950 lag die Geburtenrate mit 1,6 Prozent noch unter dem Niveau von 1928, stieg dann aber bis 1965 auf 1,8 Prozent. In der Mitte der sechziger Jahre setzte in beiden deutschen Gesellschaften ein neuer Rückgang der Geburtenrate ein. Die geburtenstarken Jahrgänge der frühen sechziger Jahre wanderten daher als „Babyboomer“ durch die Bevölkerungsstatistik, wurden ein Schülerberg, dann eine Welle von Arbeitssuchenden, um schließlich in den demographischen Prognosen als Ursache eines „Rentnerberges“ beschworen zu werden. Die Lebenserwartung nahm weiter zu. In der Bundesrepublik Deutschland betrug 1949 – 1951 die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer 65 Jahre und für Frauen 68 Jahre. Bis 1967 – 1969 stieg die Lebenserwartung für Männer auf 67 Jahre und für Frauen auf 74 Jahre.4 Das westdeutsche Bevölkerungswachstum wurde erheblich durch die innerdeutschen Wanderungen und die Arbeitsmigration beeinflusst.5 Die ersten Zuwanderer waren die Vertriebenen aus den von Polen und der Sowjetunion annektierten Gebieten, und Angehörige der deutschen Minderheiten, die aus den osteuropäischen Ländern abgeschoben wurden. Westdeutschland nahm bis 1950 insgesamt 8 Millionen Vertriebene auf. In den fünfziger Jahren kamen noch 500.000 Vertriebene nach, die anfänglich zurückgehalten worden waren.6 Eine neue Wanderungswelle setzte ein, als immer mehr Menschen aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen die Deutsche Demokratische Republik verließen und in die Bundesrepublik Deutschland flohen. 1961 schloss die ostdeutsche Regierung die Grenze. Bis dahin waren 3,5 Millionen Deutsche von Ostdeutschland nach Westdeutschland gezogen. Umgekehrt wanderten 600.000 Deutsche Richtung von West nach Ost. Ungefähr zwei Drittel von ihnen waren Rückwanderer.7 Auf die Binnenwanderung zwischen 4 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 103, 110. 5 Siegfried Bethlehem, Heimatvertreibung, DDR-Flucht, Gastarbeiter-Zuwanderung. Wanderungsströme und Wanderungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1982. 6 Klaus Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2002, S. 284 – 300; Peter Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1984, S. 149. 7 Andrea Schmelz, West-Ost-Migranten im geteilten Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre, in: Jan Motte / Rainer Ohliger, Anne von Oswald, Hg., 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt am Main 1999.

246

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

den beiden deutschen Staaten folgte die Arbeitsmigration aus Südeuropa. Bereits 1955 schloss die Bundesregierung mit Italien ein Abkommen über die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte. Es folgten Anwerbeabkommen mit Spanien und Griechenland 1960, mit der Türkei 1961, mit Portugal 1964 und mit Jugoslawien 1968. Die Einwanderung aus Südeuropa trug wesentlich zum Bevölkerungswachstum der sechziger Jahre bei. Durch die Rezession von 1965 – 1967 wurde die Zuwanderung von Arbeitskräften vorübergehend unterbrochen. In den siebziger Jahren nahm die Arbeitsmigration aber wieder zu. 1970 lebten vier Millionen Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland; das entsprach fünf Prozent der Wohnbevölkerung.8 Nach der Volkszählung vom Oktober 1946, die von den Alliierten veranlasst wurde, hatte Deutschland 65 Millionen Einwohner.9 Nach der deutschen Teilung war die Bundesrepublik Deutschland der weit größere deutsche Teilstaat. 1950 hatte sie 50 Millionen Einwohner; das entsprach der Bevölkerungszahl des Deutschen Reich von 1892. Die Bevölkerung nahm in den fünfziger Jahren sehr stark zu. In den sechziger Jahren ließ das Bevölkerungswachstum jedoch nach, weil die innerdeutsche Wanderung aufhörte und die Geburtenrate zurückging. 1970 hatte Westdeutschland 61 Millionen Einwohner. Als Folge des Zweiten Weltkriegs nahm der Frauenanteil an der Bevölkerung stark zu. 1950 war die Bevölkerung in Westdeutschland zu 53 Prozent weiblich. In den folgenden Jahrzehnten ging die weibliche Mehrheit wieder auf 51 Prozent zurück.10 Tabelle 10 Die Altersstruktur der westdeutschen Gesellschaft 1950 – 1989 (Prozent) bis 14 Jahre

15 – 64 Jahre

ab 65 Jahre

1950

23

69

9

1970

23

64

13

1989

15

70

15

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 95; Statistisches Jahrbuch für das vereinte Deutschland 1991, S. 64.

Da sich die Geburtenrate seit den dreißiger Jahren im Trend stabilisierte, blieb in der Bundesrepublik Deutschland der Anteil der mittleren Generation relativ hoch. Die Kinder aus der Zeit der relativ stabilen Geburtenrate traten nunmehr in das Erwachsenenalter ein. Die Lebenserwartung im hohen Alter nahm zwar zu, aber da die mittlere Generation durch die nachwachsende Jugend gestärkt wurde, 8 Barbara Sonnenberger, Nationale Migrationspolitik und regionale Erfahrung. Die Anfänge der Arbeitsmigration in Südhessen 1955 – 1967, Darmstadt 2003. 9 Marschalck, Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 7), S. 149. 10 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 90.

I. Die Spätzeit des bürgerlichen Generationenvertrages

247

stieg der Anteil der Ruhestandsgeneration nur langsam an.11 Trotzdem wurde in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland die Diskussion über das Altern der Gesellschaft fortgesetzt. 1950 wurde in einer Prognose für die nächste Dekade ein Rückgang der Geburtenrate angenommen, und nach dem Ende der Vertreibung aus den früheren ostdeutschen Regionen wurde keine große Zuwanderung mehr erwartet. Auf dieser Grundlage wurde bis 1959 nur eine leichte Bevölkerungszunahme auf 51 Millionen Personen geschätzt. Der Anteil der älteren Generation ab 65 Jahren an der Bevölkerung würde nach dieser Schätzung bis 1959 auf zehn Prozent steigen.12 Tatsächlich stieg die westdeutsche Bevölkerung durch die stabile Geburtenrate und die unvorhergesehene Flucht aus Ostdeutschland bis 1959 auf 55 Millionen Personen. Der Anteil der Ruhestandsgeneration ab 65 Jahren war dennoch recht gut geschätzt, er lag 1959 mit elf Prozent knapp über der Prognose.13 Noch in der Mitte der fünfziger Jahren nahmen die Autoren der „Rothenfelser Denkschrift“, Hans Achinger, Joseph Höffner, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer, einen Geburtenrückgang und eine demographische Stagnation an. Die westdeutsche Bevölkerung, die 1955 auf 52 Millionen gestiegen war, würde nach ihrer Schätzung bis 1970 auf 50 bis 51 Millionen zurückgehen. Der Anteil der Jugendgeneration an der Bevölkerung würde abnehmen, der Anteil der älteren Generation steigen.14 Auch die Prognose der „Rothenfelser Denkschrift“ wurde durch die Bevölkerungsdynamik überholt. Die Bevölkerung stieg bis 1970 auf 61 Millionen, der Anteil der Jugendgeneration an der Bevölkerung blieb aufgrund der steigenden Geburtenrate stabil, und der Anteil der Ruhestandsgeneration nahm etwas zu.15 Tabelle 11 Demographische Strukturquoten in Westdeutschland 1950 – 1989 (Prozent) Jugendquote

Altersquote

Gesamtlastquote

1950

33

13

46

1970

36

20

56

1989

21

21

42

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 95; Statistisches Jahrbuch für das vereinte Deutschland 1991, S. 64.

Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 95. Die Bevölkerung des Bundesgebietes in zehn Jahren, in: Wirtschaft und Statistik, 1 (1949 / 50), S. 345. 13 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 90, 95. 14 Hans Achinger / Joseph Höffner / Hans Muthesius / Ludwig Neundörfer, Neuordnung der sozialen Leistungen. Denkschrift auf Anregung des Herrn Bundeskanzlers erstattet, Köln 1955, S. 11 – 12. 15 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 95. 11 12

248

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

Insgesamt ließ die Stabilisierung der Geburtenrate die Jugendquote in der westdeutschen Gesellschaft zeitweilig ansteigen. Da auch die Altersquote zunahm, kam es bis 1970 zu einem starken Anstieg der Gesamtlastquote. Seit den siebziger Jahren ging die Jugendquote aber wieder zurück. Die Altersquote stieg nur wenig an, so dass die Gesamtlastquote abnahm.16

3. Die wirtschaftliche Entwicklung a) Der Strukturwandel der Wirtschaft Nach dem hohen Stand in der Zwischenkriegszeit war die Erwerbsquote in Westdeutschland in den frühen Wiederaufbaujahren von 1945 bis 1949 ausgesprochen niedrig. Während die Bevölkerung in dem verbleibenden deutschen Territorium durch Flucht und Vertreibung stark anstieg, blieb die Zahl der Erwerbstätigen unverändert. Der Rückgang der Erwerbsquote lag vor allem an der Wirtschaftspolitik der Zeit. Der private Konsum war durch die allgemeine Mangelsituation beschränkt. In vielen Haushalten reichte ein Erwerbseinkommen aus, um die knappen Rationen zu bezahlen, die durch das Bewirtschaftungssystem zugeteilt wurden. Verheiratete Frauen verzichteten daher oft auf eine Erwerbstätigkeit und wandten sich der private Ökonomie des täglichen Überlebens zu, die auf der Eigenversorgung, dem Tauschhandel, dem Schwarzen Markt und ähnlichen inoffiziellen Wirtschaftsbeziehungen beruhte.17 Aber auch später in der Bundesrepublik Deutschland, als sich die Arbeitsbedingungen normalisiert hatten, blieb die Erwerbsbeteiligung niedrig. 1950 betrug die Erwerbsquote nur 46 Prozent. In den nächsten zwei Jahrzehnten ging sie noch weiter zurück und erreichte 1970 mit 44 Prozent einen historischen Tiefstand.18 Der langfristige Trend zur Polarisierung der Sozialstruktur setzte sich in der westdeutschen Gesellschaft fort. Der Anteil der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an den Erwerbspersonen war 1950 mit 72 Prozent etwas höher als vor dem Krieg. Bis 1970 stieg der Anteil auf 83 Prozent.19 Da die Bundesrepublik Deutschland einen großen Teil der Industrieregionen des Deutschen Reiches geerbt hatte, war der Industrialisierungsgrad von Anfang an relativ hoch. In den fünfziger Jahren setzte eine starke Landflucht ein. Die Bedeutung des sekundären Sektors nahm noch etwas zu, vor allem expandierte aber 16 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 95; Statistisches Jahrbuch für das vereinte Deutschland 1991, S. 64. 17 Charlotte Arnold, Der Arbeitsmarkt in den Besatzungszonen, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Hg., Wirtschaftsprobleme der Besatzungszonen, Berlin 1948, S. 38 – 39. 18 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 140. 19 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 142.

I. Die Spätzeit des bürgerlichen Generationenvertrages

249

der Dienstleistungssektor. Um 1970 harrte nur noch eine kleine Minderheit der Beschäftigten auf dem Land aus, gestützt durch die protektionistische Agrarpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.20 Zur Modernisierung der Landwirtschaft gehörte ein starker Konzentrationsprozess. Viele kleine Familienbetriebe waren nicht mehr rentabel und wurden entweder aufgegeben oder als Nebenerwerb betrieben.21 Junge Landarbeiter wanderten, sobald sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, in die Industrie ab. Der ständige Strukturwandel, der die kapitalistische Dynamik ausmacht, verlangt von den Beschäftigten erhebliche Anpassungsleistungen. Kenntnisse und Fähigkeiten, die in einem Beruf erworben wurden, verlieren bei einem Wechsel an Bedeutung. Nicht nur ökonomisches Kapital, sondern auch Humankapital wird im Prozess der kapitalistischen Entwicklung ständig entwertet und neu gebildet.22 Tabelle 12 Die Sozialstruktur der Erwerbstätigen in Westdeutschland 1950 – 1989 (Prozent) Arbeiter

Angestellte und Beamte

Selbständige

Angehörige

1950

51

21

15

14

1970

47

36

10

7

1989

38

49

9

2

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 142; Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für das vereinte Deutschland 1991, S. 114 – 115.

Tabelle 13 Die Erwerbstätigen nach Sektoren in Westdeutschland 1950 – 1989 (Prozent) Primärer Sektor

Sekundärer Sektor

Tertiärer Sektor

1950

22

45

33

1970

9

49

42

1989

4

41

55

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 142; Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für das vereinte Deutschland 1991, S. 118.

Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 142. Arnd Bauernkämper, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in der Bundesrepublik in den 50er Jahren, in: Axel Schildt / Arnold Sywottek, Hg., Modernisierung im Wiederaufbau, Bonn 1993; Friedrich-Wilhelm Henning, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 2, Paderborn 1978, S. 254 – 285. 22 W. Kleber, Sektoraler und sozialer Wandel der Beschäftigungsstruktur in Deutschland 1882 – 1978: Eine Analyse aus der Perspektive des Lebenslaufs, in: K. J. Bade, Hg., Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter, Ostfildern 1984. 20 21

250

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

b) Wirtschaftliches Wachstum Der Wiederaufbau im geteilten Deutschland kam zunächst nur langsam voran. Die Schwierigkeiten lagen nicht nur an den Kriegsverlusten und Kriegszerstörungen, sondern vor allem an der Starrheit der Planwirtschaft und der Isolierung vom Weltmarkt. Nach zwei Jahren fruchtloser Verhandlungen verließen die drei westlichen Alliierten die gemeinsame Wirtschaftspolitik, um den Wiederaufbau in ihren Besatzungszonen zu beschleunigen. 1948 wurden in Westdeutschland mit dem Europäischen Wiederaufbauprogramm, der Währungsreform und der Wirtschaftsreform die Voraussetzungen für einen zügigen Wiederaufbau und für die Reintegration in den kapitalistischen Weltmarkt geschaffen.23 Die Währungsreform machte das Ausmaß der zurückgestauten Inflation deutlich, die durch die Kriegsfinanzierung ausgelöst wurde. Die Reichsmark wurde durch die Deutsche Mark abgelöst. Die laufenden Zahlungen wurden im Verhältnis von einer Reichsmark zu einer Deutschen Mark umgestellt; die Geldvermögen wurden auf 6,5 Prozent des Reichsmarkbetrages abgewertet.24 Die wirtschaftspolitischen Grundsatzentscheidungen aus der Zeit der alliierten Herrschaft wurden von der Bundesrepublik Deutschland übernommen. Bundeskanzler Adenauer bezeichnete in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949 die „Soziale Marktwirtschaft“ als wirtschaftspolitisches Leitbild. Sie sollte die Marktwirtschaft mit einer sozialpolitischen Komponente verbinden.25 Die Soziale Marktwirtschaft wurde in Westdeutschland die Grundlage des wirtschaftlichen Wachstums, der weltwirtschaftlichen Integration und der Sozialpolitik.26 Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ging der Wiederaufbau ohne Bruch in ein starkes wirtschaftliches Wachstum über. 1953 übertraf das reale Nettosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung erstmals das Vorkriegsniveau von 1938.27 In den sechziger Jahren führten die wachsenden Defizite der öffentlichen Haushalte und die Furcht vor einer Inflation zu einer Reform der Sozialen Marktwirtschaft. Eine aktive „Globalsteuerung“ sollte für wirtschaftliche Stabilität sorgen.28 Im Stabilitätsgesetz von 1967 wurden Preisniveaustabilität, Vollbeschäfti23 Gerd Hardach, Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948 – 1952, München 1994. 24 Christoph Buchheim, Die Errichtung der Bank deutscher Länder und die Währungsreform in Westdeutschland, in: Deutsche Bundesbank, Hg., Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998. 25 Bundestagssitzung vom 20. September 1949. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, 1. Wahlperiode 1949, Bd. 1, S. 24. 26 Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004. 27 Walther G. Hoffmann / Franz Grumbach / Helmuth Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 172 – 174, 827 – 828. 28 Gerd Hardach, Krise und Reform der Sozialen Marktwirtschaft. Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre, in: Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers, Hg., Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000.

I. Die Spätzeit des bürgerlichen Generationenvertrages

251

gung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und wirtschaftliches Wachstum als wirtschaftspolitische Ziele definiert.29 Insgesamt gelten die Jahre von 1950 bis 1973 in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in anderen entwickelten kapitalistischen Ländern, als das „goldene Zeitalter“ des wirtschaftlichen Wachstums. Eine wichtige Grundlage des Wirtschaftswachstums war in der Bundesrepublik Deutschland der Technologietransfer aus den USA. Der Rückstand in der Produktivität, der gegenüber der amerikanischen Wirtschaft bestand, wurde allmählich aufgeholt. Das reale Bruttosozialprodukt je Einwohner nahm in Westdeutschland von 1950 bis 1973 im Durchschnitt um 4,9 Prozent im Jahr zu.30 Das Monatseinkommen der Arbeiter, Angestellten und Beamten betrug 1950 im Durchschnitt 274 DM. Das Nominaleinkommen lag damit um sechzig Prozent über dem Niveau von 1938. Die Lebenshaltungskosten waren jedoch ebenfalls deutlich höher, so dass das durchschnittliche Realeinkommen nur um drei Prozent über dem Vorkriegsniveau lag. Bis 1970 stieg das durchschnittliche Monatseinkommen der Arbeiter, Angestellten und Beamten auf 1312 DM. Das reale Monatseinkommen erreichte 1970 damit 305 Prozent des Niveaus von 1950. Die Lohnquote betrug von 1950 bis 1959 im Durchschnitt 59 Prozent. Sie stieg danach in den Jahren von 1960 bis 1969 auf 64 Prozent.31 Der Anstieg ist durch die Polarisierung der Erwerbsstruktur zu erklären. Da der Anteil der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an den Beschäftigten zunahm, entfiel auf die Erwerbseinkommen ein wachsender Teil des Volkseinkommens. Die strukturbereinigte Lohnquote ging zurück. Da die Reallöhne regelmäßig stiegen, wurde die Verschlechterung der Verteilungsposition jedoch von den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen akzeptiert. Der Krieg und seine Folgen führten zu einer erheblichen Reduzierung der Vermögen. Die Geldvermögen wurden durch die Kriegsinflation entwertet. Nach dem Ende des Krieges waren Flucht und Vertreibung mit umfassenden Enteignungen verbunden. Der 1952 eingeführte Lastenausgleich sollte die materiellen Kriegslasten gleichmäßig verteilen. Er sah einen Ausgleich der Vermögensschäden vor, die als Folge des Krieges eingetreten waren. Wer Vermögensverluste erlitten hatte, erhielt eine Entschädigung. Die Leistungen wurden durch eine Abgabe auf die Vermögen finanziert, die den Krieg und seine Folgen überstanden hatten.32 Die lange Wachstumsphase der fünfziger und sechziger Jahre förderte die private Vermögensbildung. 1970 betrug die Sparquote im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt 14 Prozent des verfügbaren Einkommens.33 Eine breite Vermögens29 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967. Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1967 I, S. 582 – 589. 30 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2001, S. 44, 655. 31 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 250, 262 – 263. 32 Johannes Frerich / Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, 3 Bde., München 1996, Bd. 1, S. 32 – 37. 33 Deutsche Bundesbank, Zur Entwicklung der privaten Vermögenssituation seit Beginn der neunziger Jahre, in: Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, Januar 1999, S. 34.

252

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

bildung in allen sozialen Klassen wurde zu einem zentralen Argument in der Legitimation der Sozialen Marktwirtschaft.34 Eine erste Bestandsaufnahme zeigte allerdings, dass die neuen Vermögen weitgehend in den alten Strukturen der Klassengesellschaft gebildet wurden. Das Nettovermögen der privaten Haushalte betrug 1953 insgesamt 142 Milliarden DM und stieg bis 1960 auf 304 Milliarden DM. Den größten Anteil am Gesamtvermögen hatte 1960 das Grundvermögen mit 36 Prozent, gefolgt vom Produktivvermögen mit 35 Prozent, dem Geldvermögen mit 21 Prozent und dem zu jener Zeit noch wichtigen landwirtschaftlichen Vermögen mit acht Prozent. Das Nettovermögen je Einwohner betrug 1953 im Durchschnitt 2800 DM und nahm bis 1960 auf 5500 DM zu. An der Spitze der Vermögenspyramide gab es 291.000 Haushalte, die 1,63 Prozent der Gesamtheit darstellten, mit einem Vermögen von 100.000 DM bis unter 1 Million DM und 14.000 Haushalte, die nur 0,08 Prozent der Gesamtheit darstellten, mit einem Vermögen von 1 Million DM oder mehr. Die große Mehrheit der Bevölkerung hatte aber zwölf Jahre nach der Währungsreform nur ein bescheidenes Vermögen.35 Die verbreitetste Form der Vermögensbildung blieben die Geldvermögen. Die Spareinlagen im Bankensystem stiegen bis 1970 im Durchschnitt auf 9576 DM je Haushalt. Der Betrag entsprach einem durchschnittlichen Nettoeinkommen der Arbeitnehmer von zehn Monaten.36 Die in Relation zu den Erwerbseinkommen geringen Durchschnittsbeträge der Sparguthaben machen deutlich, dass das vorherrschende Sparmotiv immer noch das kurzfristige bis mittelfristige Sparen für besondere Anschaffungen oder für Notfälle war. Das langfristige Sparen blieb die Ausnahme. Seit den sechziger Jahren gewannen Versicherungen im Vergleich zu Bankeinlagen an Bedeutung, und auch der Immobilienbesitz nahm zu. Die Bundesrepublik Deutschland übernahm in den Grundzügen das Erbrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1896, das verschiedene Gruppen von Erbberechtigten nach der Nähe der Familienbeziehung definierte. Auch in der fiskalischen Bewertung des Erbes wurde die Familie begünstigt. Die Erbschaftssteuer war zwischen Ehepartnern und zwischen Eltern und Kindern relativ niedrig, um dann mit zunehmender familialer Entfernung anzusteigen. In der quantitativen Dimension der Erbschaften spiegelten sich in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland die allgemeinen Vermögensverhältnisse, besonders die Erfahrung von zwei Inflationen und eine massiv ungleiche Vermögensverteilung. In der Oberklasse und in der alten Mittelklasse konnte das Erben einen erheblichen Einfluss auf den Lebenslauf haben. Die meisten Erbschaften waren aber bescheiden. Nach einer Ludwig Erhard, Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957. W. Krelle / J. Schunck / J. Siebke, Überbetriebliche Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer. Mit einer Untersuchung über die Vermögensstruktur der Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde., Tübingen 1968, Bd. 2, S. 375 – 387; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 90. 36 Deutsche Bundesbank, Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876 – 1975, Frankfurt am Main 1976, S. 136 – 137; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 98, 263. 34 35

I. Die Spätzeit des bürgerlichen Generationenvertrages

253

Fallstudie in der Stadt Dortmund betrug 1960 der mittlere Wert oder Median der testamentarisch übertragenen Erbschaften 6000 DM; der Median ist in diesem Fall aussagekräftiger als das arithmetische Mittel, weil die typischen Erbschaften nicht durch einige Ausnahmefälle nach oben oder unten verzerrt werden. Die kleinste Erbschaft hatte einen Wert von fünfzig DM, die höchste Erbschaft betrug 180.000 DM. Die Währungsreform lag erst zwölf Jahre zurück, und die meisten älteren Menschen, die nicht über einen Familienbetrieb oder anderes Produktivvermögen verfügten, hatten noch keine großen Vermögen zu vererben.37 c) Öffentliche Transferleistungen Mit dem starken wirtschaftlichen Wachstum war in der Bundesrepublik Deutschland ein Ausbau der sekundären Einkommensverteilung verbunden. In der Zeit der Alliierten Herrschaft von 1945 bis 1949 wurde der Einfluss der nationalsozialistischen Diktatur auf das System der sozialen Sicherung beseitigt. In der Diskussion über die künftige Entwicklung der Sozialversicherung standen sich zwei Modelle gegenüber, das aus der Zeit des Kaiserreichs stammende institutionell differenzierte Versicherungssystem und die Einheitsversicherung. In Berlin wurden die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung im Juli 1945 zu einer Einheitsversicherung zusammengefasst. Träger wurde die Sozialversicherungsanstalt Berlin. Die sowjetische Militärregierung und ihre deutschen Berater empfahlen die Einheitsversicherung auch als gesamtdeutsches Modell. Der Alliiertre Kontrollrat einigte sich 1946 auf einen Gesetzentwurf für die Einführung der Einheitsversicherung. Nur die Arbeitslosenversicherung sollte aufgrund ihrer besonderen Risiken selbständig bleiben. Der Sozialversicherung sollten alle Arbeitnehmer sowie Selbständige mit bis zu fünf Beschäftigten als Pflichtmitglieder angehören. Die Beiträge zur Unfallversicherung sollten weiterhin allein von den Unternehmern getragen werden, die Beiträge zur Rentenversicherung und zur Krankenversicherung sollten proportional zum Lohn festgelegt und je zur Hälfte von Unternehmern und Arbeitnehmern gezahlt werden.38 Nachdem die Spannungen zwischen den Großmächten 1947 zum „Kalten Krieg“ eskalierten, schwanden jedoch die Aussichten auf eine gemeinsame Reform. Im März 1948 stellte der Kontrollrat seine Tätigkeit ein. Im Alltag bemühten sich die staatlichen Stellen und die Sozialversicherung, in schwierigen Zeiten eine Grundsicherung zu gewährleisten.39 37 Marianne Kossmann, Wie Frauen erben. Geschlechterverhältnis und Erbprozeß, Opladen 1998, S. 91. 38 Udo Wengst, Hg., Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente. Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2 / 2, Baden-Baden 2001, S. 148. 39 Marcel Boldorf, Sozialpolitik, in: Wolfgang Benz, Hg., Deutschland unter alliierter Besetzung 1945 – 1949 / 55, Berlin 1999; Winfried Schmähl, Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene, in: Udo Wengst, Hg., Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2 / 1, Baden-Baden 2001.

254

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

Die deutsche Teilung hatte zur Folge, dass sich die Sozialpolitik in Westdeutschland und in Ostdeutschland unterschiedlich entwickelte. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Sozialpolitik durch das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes gestärkt. Die westdeutsche Sozialpolitik schuf keine neue institutionelle Struktur der öffentlichen Transferleistungen, sondern verließ sich auf die historisch gewachsenen Instrumente. Dazu gehörten die Sozialversicherung, die staatliche Versorgung, die Fürsorge und verschiedene sozialpolitische Programme. Während die Notwendigkeit einer sekundären Einkommensverteilung unumstritten war, gingen die Auffassungen über ihren Umfang weit auseinander. Nicht nur zwischen Regierung und Opposition, sondern auch innerhalb der Regierung gab es heftige Diskussionen.40 Zunächst herrschte in der Sozialpolitik noch die Auffassung vor, dass die öffentlichen Transferleistungen in erster Linie der Umverteilung zwischen den sozialen Klassen dienen sollten. Dass die Umverteilung zwischen den Generationen allmählich die Umverteilung zwischen den Klassen überlagerte und zurückdrängte, wurde in der öffentlichen Wahrnehmung wenig beachtet. Größere Resonanz fand erst der Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Mackenroth, der 1952 argumentierte, dass das traditionelle Selbstverständnis der Sozialpolitik als Arbeiterpolitik historisch überholt sei. Das Bild einer unmündigen Arbeiterklasse, der ein wohlwollender Staat zu Hilfe kommen müsste, passte seiner Ansicht nach nicht in die moderne Demokratie. Auch eine allgemeine wirtschaftliche Notlage der Arbeiterklasse sei nicht mehr gegeben. Die wirtschaftliche Entwicklung habe trotz mancher Rückschläge durch Kriege und Krisen dazu geführt, dass man die Arbeiterklasse nicht mehr generell als bedürftig ansehen konnte. Er schlug vor, die traditionelle klassenspezifische „Sozialpolitik“ durch eine neue „Gesellschaftspolitik“ abzulösen. Die Gesellschaftspolitik sollte eng mit der Wirtschaftspolitik koordiniert werden, und sie sollte sich gezielt an Situationen sozialer Bedürftigkeit orientieren, die nicht klassenspezifisch definiert waren. Als Beispiel nannte er die Situation der Familien.41 Da das historisch gewachsene System der sozialen Sicherheit mit seiner Vielzahl von Institutionen und Leistungen unübersichtlich geworden war, schlug die Sozialdemokratische Partei Deutschlands Anfang 1952 im Bundestag die Einrichtung einer „Sozialen Studienkommission“ vor. Ihre Aufgabe sollte es sein, das bestehende differenzierte System der sozialen Sicherheit zu untersuchen und einen „Plan der sozialen Sicherung in Deutschland“ aufzustellen.42 Der Sozialexperte 40 Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik, Stuttgart 1980; Hans Günter Hockerts, Fürsorge und Vorsorge: Kontinuität und Wandel der sozialen Sicherung, in: Axel Schildt, Arnold Sywottek, Hg., Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993. 41 Gerhard Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, in: Verhandlungen auf der Sondertagung des Vereins für Sozialpolitik – Gesellschaftswissenschaften in Berlin 1952, Berlin 1952.

I. Die Spätzeit des bürgerlichen Generationenvertrages

255

Ludwig Preller erklärte zur Begründung, dass das System der sozialen Sicherung, das aus Versicherung, Versorgung und Fürsorge bestand, zwar unbestritten, aber auch unübersichtlich sei. Aus der historischen Entwicklung ergaben sich verwickelte Bestimmungen, Überschneidungen und ein Nebeneinander verschiedener Leistungen. Die SPD strebe eine Neuordnung des Systems der sozialen Sicherung an, bei der die sozialen Leistungen in drei Gruppen zusammengefasst werden sollten. Zur ersten Gruppe sollten Kinderbeihilfen, Ausbildung der Jugend und Unterbringung im Arbeitsprozess gehören, zur zweiten Gruppe Leistungen bei vorübergehenden Erwerbsminderungen durch Krankheit, Unfall oder Mutterschaft, zur dritten Gruppe die bei einer dauerhaften Erwerbsminderung vorgesehenen Renten. Die Arbeitslosenunterstützung blieb außerhalb dieses Systems, sie sollte im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktpolitik geregelt werden.43 Die Einsetzung der „Sozialen Studienkommission“ wurde von der bürgerlichen Mehrheit des Bundestages abgelehnt. Die Initiative der SPD brachte die Regierung jedoch in Zugzwang, denn die Idee einer systematischen Neuordnung der sozialen Sicherung war in der Öffentlichkeit weit verbreitet. Die Bundesregierung richtete statt einer unabhängigen Kommission im März 1953 einen „Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen“ ein, der dem Arbeitsministerium zugeordnet war. Eine Sozialenquête, die 1953 bis 1955 durchgeführt wurde, zeigt die große Bedeutung der verschiedenen öffentlichen Transferleistungen für den Lebensunterhalt der Bevölkerung. Insgesamt waren 14 Millionen Personen auf öffentliche Transferleistungen angewiesen; diese Zahl entsprach 27 Prozent der Gesamtbevölkerung. Von der öffentlichen Rentenversicherung wurden 13 Prozent der Bevölkerung unterstützt, von der Kriegsopferversorgung acht Prozent, von der allgemeinen Fürsorge und dem Lastenausgleichsprogramm jeweils zwei Prozent und von der Unfallversicherung und der Arbeitslosenversicherung, einschließlich der Arbeitslosenfürsorge, jeweils ein Prozent. Die Leistungen waren sehr unterschiedlich, bedingt durch die verschiedenen Anspruchsgrundlagen und Berechnungsverfahren. Das Arbeitslosengeld betrug im Durchschnitt 134 DM im Monat, die Angestelltenrente 121 DM im Monat, die Arbeitslosenfürsorge 107 DM, die Arbeiterrente achtzig DM, die Unfallrente 64 DM, die Unterstützung aus dem Lastenausgleich 61 DM, die allgemeine Fürsorgeleistung 56 DM und die Kriegsopferversorgung 38 DM.44 42 Antrag der Fraktion der SPD betr. Soziale Studienkommission vom 23. Januar 1952. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode 1949, Anlage-Band 14, Drucksache 3024. 43 Bundestagssitzung vom 21. Februar 1952. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, 1. Wahlperiode 1949, Bd. 10, S. 8376 – 8392. 44 Statistisches Bundesamt, Die sozialen Verhältnisse der Renten- und Unterstützungsempfänger. Heft 1: Die Sozialleistungen nach Leistungsfällen und Empfängern im September 1953. Statistik der Bundesrepublik Deutschland 137 / 1, Stuttgart 1955; Statistisches Bundesamt, Die sozialen Verhältnisse der Renten- und Unterstützungsempfänger, Heft 2: Die sozialen Verhältnisse der Haushalte mit Sozialleistungsempfängern im Frühjahr 1955. Statistik der Bundesrepublik Deutschland 137 / 2, Stuttgart 1957.

256

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

In seiner Regierungserklärung vom Oktober 1953 kündigte Bundeskanzler Adenauer eine Sozialreform an. Die Bundesregierung werde dazu ein „umfassendes Sozialprogramm“ vorlegen.45 Das Ministerium für Arbeit erhielt den Auftrag, ein Programm zur Neuordnung aller sozialen Leistungen auszuarbeiten. Die Planung wurde dem im März 1953 eingerichteten „Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen“ übertragen. Die Arbeiten kamen jedoch nur zögernd voran und nahmen nicht die Richtung, die Adenauer sich vorgestellt hatte.46 Während dem Kanzler ein umfassendes Reformprogramm mit breiter öffentlicher Resonanz vorschwebte, wollte Arbeitsminister Storch die Sozialreform auf die Verbesserung einzelner Sozialleistungen beschränken. Adenauer mahnte wiederholt zur Eile und betonte, dass es um eine umfassende Reform ging. Das Ziel sei nicht nur eine Neuordnung der Sozialversicherung, sondern eine Gesamtreform der sozialen Leistungen, zu denen die Sozialversicherung, die Beamtenversorgung und die Fürsorge als die „drei Säulen des Sozialleistungssystems“ gehörten.47 Im Oktober 1954 zeichnete sich ab, dass die Sozialreform unter der Regie des Arbeitsministeriums kaum noch bis zum Ende der Legislaturperiode realisiert werden konnte.48 Der Kanzler zog daraufhin die Planung an sich.49 Im Dezember 1954 wurde im Kabinett ein Ministerausschuss für die Sozialreform gebildet.50 Um die Planungen zu konkretisieren, beauftragte Adenauer im Februar 1955 eine kleine Gruppe von Experten, die Professoren Hans Achinger, Joseph Höffner, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer, bis Ende Mai eine Denkschrift zu den „Grundsatzfragen einer Sozialreform“ vorzulegen.51 Am 22. Mai 1955 legten die Gutachter einen Reformplan vor, der in der Öffentlichkeit als „Rothenfelser Denkschrift“ bekannt wurde. Der Reformplan zielte auf einen Kompromiss zwischen den historischen Traditionen der deutschen Sozialversicherung und der Forderung nach einer systematischen Verbindung von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik. Die Sozialversicherung sollte zwar einheitlich gestaltet werden, würde aber dezentral durch die bestehenden Institutionen durchgeführt werden. Im Mittelpunkt der Denkschrift stand die Neuordnung der öffentlichen Rentenversicherung. Die Experten empfahlen, die Renten künftig mit der Entwicklung der Löhne und Gehälter zu verbinden. Dazu würde es notwendig sein, die Finanzierung der Renten grundsätzlich vom Kapitaldeckungsprinzip auf ein Umlageverfahren umzustellen, das zum Teil schon seit 1891 angewandt wurde. 45 Bundestagssitzung vom 20. Oktober 1953. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, 2. Wahlperiode 1953, Bd. 18, S. 13. 46 Kanzleramt, Vermerk vom 3. November 1953. Bundesarchiv Koblenz (BArchK) B 136 / 766. Adenauer an Storch, 10. Februar 1954. BArchK B 136 / 1360. 47 Adenauer an Storch, 3. Mai 1954. BArchK B 136 / 766. 48 Kanzleramt, Vermerk vom 11. Oktober 1954. BArchK B 136 / 1360. 49 Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen (wie Anm. 40), S. 279 – 299. 50 Adenauer an Storch, 7. Januar 1955. BArchK B 136 / 1360. 51 Adenauer an die Professoren Achinger, Höffner, Muthesius und Neundörfer, 25. Februar 1955. BArchK B 136 / 1381.

I. Die Spätzeit des bürgerlichen Generationenvertrages

257

Neben der Rentenreform empfahlen die Experten einen Ausbau der Familienförderung.52 Der rentenpolitische Teil der „Rothenfelser Denkschrift“ war durch den Plan für einen „Solidar-Vertrag“ zwischen den Generationen beeinflusst, den Wilfrid Schreiber, der Geschäftsführer des „Bundes Katholischer Unternehmer“, ausgearbeitet hatte. Der Grundgedanke bestand darin, die Rentenversicherung und die Familienförderung im einheitlichen Rahmen der Sozialversicherung auszubauen und mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu verbinden. Die Renten der öffentlichen Rentenversicherung sollten regelmäßig an die Entwicklung der Löhne und Gehälter angepasst werden. Die Leistungen sollten nach dem Umlageverfahren finanziert werden; eine Kapitaldeckung war nicht mehr vorgesehen. Parallel zur Alterssicherung sollte eine „Kinder- und Jugendrente“ für jedes Kind bis zum 20. Lebensjahr eingeführt werden. Die „Kinder- und Jugendrente“ war ein einkommensabhängiges Kindergeld; sie sollte für jedes Kind ungefähr sieben Prozent des elterlichen Einkommens betragen. Die Leistungen sollten ähnlich wie die Altersrenten nach dem Umlageverfahren durch einen vom Einkommen abhängigen Beitrag finanziert werden. In der Parallelität von Kindergeld und Altersrente sollte ein „Solidar-Vertrag“ zwischen den Generationen zum Ausdruck kommen. Alle Erwerbstätigen, unabhängig davon, ob sie Kinder hatten oder nicht, würden sich durch die Finanzierung der „Kinder- und Jugendrente“ an den Kosten für die heranwachsende Generation beteiligen. Der gemeinsame Träger der Alterssicherung und der Familienförderung sollte eine neue „Rentenkasse des Deutschen Volkes“ werden. Nach Schreibers Schätzung müsste der gemeinsame Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeitrag zu der Rentenkasse ungefähr 21 Prozent des Bruttoeinkommens der Erwerbstätigen betragen. Davon würden 16 Prozent für die Altersrente und fünf Prozent für die „Kinder- und Jugendrente“ benötigt. Leistungen und Beiträge sollten innerhalb der „Rentenkasse“ ausgeglichen sein; eine staatliche Subventionierung war nicht vorgesehen. Durch Vermittlung von Joseph Höffner, dem geistlichen Berater des Bundes Katholischer Unternehmer, hatten die Experten der Rothenfelser Denkschrift frühzeitig von dem „Schreiber-Plan“ Kenntnis erhalten und nahmen das Prinzip der dynamischen Rente in ihren Reformvorschlag auf.53 Parallel zur Rothenfelser Denkschrift legte das Arbeitsministerium einen Reformplan vor, den der Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen in52 Achinger / Höffner, Muthesius und Neundörfer an Adenauer, 22. Mai 1955. BArchK B 136 / 1381. Vgl. auch die gedruckte Version: Achinger / Höffner / Muthesius / Neundörfer, Neuordnung der sozialen Leistungen (wie Anm. 14). 53 Wilfrid Schreiber, Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft, Köln o. J. (1955); Anne Dohle, Die Sozialpolitiklehre Wilfrid Schreibers zur Gesetzlichen Krankenversicherung und zum Familienlastenausgleich. Analyse, Rezeption und Würdigung seiner Konzeption, Köln 1990; Hartmut Hensen, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft. Zu einer gleichnamigen Schrift des Bundes Katholischer Unternehmer, in: Sozialer Fortschritt, 4 (1955); Elmar Löckenhoff, Die Sozialpolitiklehre Wilfrid Schreibers zur Gesetzlichen Rentenversicherung und Vermögensbildung. Analyse, Rezeption und Würdigung seiner Konzeption mit Vervollständigung seines Schriftenverzeichnisses seit 1969, Köln 1990.

17 Hardach

258

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

zwischen ausgearbeitet hatte.54 Der Reformplan des Beirats war jedoch aus der Sicht der Regierung enttäuschend. Er schlug einzelne Verbesserungen der Rentenleistungen vor, aber es fehlte ein systematisches Reformkonzept.55 Dieser Vorschlag entsprach nicht den Intentionen des Kanzlers, der nach wie vor darauf bestand, dass es auf ein Gesamtkonzept der Sozialleistungen und ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen ankam.56 Im Juli 1955 wurde ein Interministerieller Ausschuss mit Vertretern der Ministerien für Arbeit, Finanzen, Inneres, Vertriebene, Wirtschaft sowie des Ministers für besondere Aufgaben gebildet, der auf der Grundlage der Rothenfelser Denkschrift ein Reformprogramm ausarbeiten sollte. Das Programm wurde als „Neuordnung der sozialen Sicherung (Sozialreform)“ definiert. Die Neuordnung sollte die ganze Breite der sozialen Leistungen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfall, Berufsunfähigkeit, Invalidität, Alter, Tod des Ernährers, Mutterschaft, Familienund Jugendhilfen, und Kriegsfolgen umfassen.57 Wilfrid Schreiber wurde im August 1955 von Bundeskanzler Adenauer eingeladen, an den Planungsarbeiten zur Sozialreform mitzuwirken.58 Inzwischen geriet die Planung weiter unter Zeitdruck. Nicht nur die Opposition kritisierte den zögernden Gang der Sozialreform, auch in der Öffentlichkeit wurde die versprochene Sozialreform mit wachsender Ungeduld angemahnt. Angesichts der vielfältigen Probleme gab die Regierung nach zwei Jahren den Plan einer systematischen Sozialreform auf und beschloss Anfang Dezember 1955, sich auf eine Reform der öffentlichen Rentenversicherung zu konzentrieren.59 Das Ergebnis war die Rentenreform von 1957, die als das bedeutendste sozialpolitische Reformwerk der Sozialen Marktwirtschaft gilt.60 Die in Aussicht gestellte systematische Neuordnung der sozialen Sicherung war jedoch gescheitert und wurde bis zum Ende der alten Bundesrepublik auch nicht wieder versucht. Nachdem die Sozialreform nicht zustande gekommen war, bestanden die verschiedenen öffentlichen Transfersysteme der Sozialversicherung und des Staates weiterhin unkoordiniert nebeneinander. 54 Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen, Grundgedanken zur Reform der sozialen Leistungen, 7. April 1955. BArchK B 136 / 1379. 55 Kanzleramt, Vermerk vom 15. April 1955. BArchK B 136 / 1379. Kanzleramt, Vermerk für die Kabinettsitzung vom 11. Juli 1955. BArchK B 136 / 1360. 56 Adenauer an alle Bundesminister, 11. Juli 1955. BArchK R 136 / 1360. 57 Interministerieller Ausschuß für die Sozialreform, Sitzung vom 17. August 1955. BArchK B 136 / 1361. Ergebnisbericht des Interministeriellen Ausschusses, 8. September 1955. BArchK B 136 / 1361. 58 Kaplan Paul Adenauer an Ministerialrat Pfühl (Bundeskanzleramt), 26. August 1955. BArchK B 136 / 1384. Pfühl an Schreiber, 26. August 1955. BArchK B 136 / 1384. 59 Interministerieller Ausschuß für die Sozialreform, Die Gestaltung der Alterssicherung und ihre sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen, 1. Dezember 1955, BArchK B 136 / 1362. Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen (wie Anm. 40), S. 300 – 319. 60 Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter vom 23. Februar 1957. Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1957 I, S. 45 – 87; Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten vom 23. Februar 1957. BGBl. 1957 I, S. 88 – 131.

I. Die Spätzeit des bürgerlichen Generationenvertrages

259

Die Sozialversicherung trug wesentlich zum Ausbau der sozialen Sicherung bei. Die Rentenversicherung mit ihren drei Zweigen der Arbeiterversicherung, Angestelltenversicherung und Knappschaftsversicherung wurde durch die Rentenreform von 1957 neu gestaltet. In der Krankenversicherung wurde das Krankengeld für Arbeiter, das seit der Einführung der öffentlichen Krankenversicherung nur fünfzig Prozent des Lohns betrug, 1957 durch Zusatzleistungen der Arbeitgeber auf neunzig Prozent und 1961 auf einhundert Prozent angehoben. 1969 wurde die Lohn- und Gehaltsfortzahlung für Arbeiter oder Arbeiterinnen und Angestellte einheitlich geregelt. Seitdem erhielten alle Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen, die durch eine Krankheit arbeitsunfähig wurden, vom Arbeitgeber ihren Lohn oder ihr Gehalt für die Dauer von bis zu sechs Wochen weiter gezahlt. In der Unfallversicherung wurden die Altrenten, die durch den Anstieg der Löhne und der Lebenshaltungskosten unzulänglich geworden waren, 1957 und 1961 an das aktuelle Lohn- und Gehaltsniveau angepasst. Seit 1963 waren die Unfallrenten nach dem Vorbild der öffentlichen Rentenversicherung regelmäßig mit der Entwicklung der Löhne und Gehälter verbunden. Die Arbeitslosenversicherung wurde nach den 1927 geschaffenen Regeln weitergeführt. 1952 wurde als Nachfolgeinstitution der Reichsanstalt die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Nürnberg gegründet. Das Arbeitslosengeld galt als Versicherungsleistung, ein Leistungsanspruch bestand daher unabhängig von der wirtschaftlichen Situation der Arbeitslosen.61 Die Fürsorge bestand aus der allgemeinen Fürsorge und besonderen Fürsorgeprogrammen für Kriegsopfer und für Arbeitslose. 1961 wurde die Fürsorge durch das neue System der Sozialhilfe abgelöst.62 Die traditionellen Voraussetzungen der öffentlichen Unterstützung, die individuelle Bedürftigkeit und der Abstand zum Mindestlohn, blieben bestehen. Der Zugang zur Sozialhilfe wurde jedoch erleichtert, und die Leistungen wurden der wirtschaftlichen Entwicklung angepasst.63 Die Sozialhilfe blieb ein Angebot, das möglichst nicht in Anspruch genommen werden sollte. Sie trat ein, wenn alle anderen Einkommensquellen versagt hatten, wenn weder Markteinkommen aus Erwerbstätigkeit, noch öffentliche Transferleistungen aus der Sozialversicherung oder aus den sozialpolitischen Programmen, noch familiale Transferleistungen verfügbar waren. Das wirtschaftliche Wachstum und der Ausbau der Sozialversicherung hatten einen Rückgang der Sozialhilfequote zur Folge. 1963 nahmen nur 1,3 Prozent der Bevölkerung die Sozialhilfe in Anspruch.64 Die Arbeitslosenfürsorge wurde seit 1956 als ArbeitslosenFrerich / Frei, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 32), Bd. 3, 43 – 92. Bundessozialhilfegesetz vom 30. Juni 1961. BGBl. 1961 I, S. 815 – 841. 63 Hans-Jürgen Andreß, Steigende Sozialhilfezahlen. Wer bleibt, wer geht und wir sollte die Sozialverwaltung darauf reagieren? In: Michael M. Zwick, Hg., Einmal arm, immer arm? Neue Befunde zur Armut in Deutschland, Frankfurt am Main 1994; Wilfried Rudloff, Öffentliche Fürsorge, in: Hans Günter Hockerts, Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998. 64 Richard Hauser / Peter Semrau, Zur Entwicklung der Einkommensarmut von 1963 bis 1986, in: Sozialer Fortschritt, 39 (1990), S. 30. 61 62

17*

260

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

hilfe bezeichnet und von der Fürsorge abgegrenzt. Zwar gab es weiterhin nur bei nachgewiesener Bedürftigkeit einen Leistungsanspruch. Die Arbeitslosenhilfe orientierte sich aber im Unterschied zur Fürsorge an dem Erwerbseinkommen, das vor der Arbeitslosigkeit erzielt wurde. Der Abstand zu dem Erwerbseinkommen war daher geringer.65 Unter den neuen Transferprogrammen gewann neben der Familienförderung vor allem die Wohnungsförderung an Bedeutung. Das extreme Ungleichgewicht auf dem Wohnungsmarkt, das durch die Kriegszerstörungen und das Bevölkerungswachstum hervorgerufen wurde, führte seit 1950 zu einer umfangreichen Wohnungsförderung. Instrumente der Wohnungspolitik waren Zuschüsse, zinsbegünstigte Darlehen und Steuerermäßigungen für den Bau von Mietwohnungen und Wohneigentum. Neben die Überwindung der Wohnungsnot trat in den fünfziger Jahren als neues sozialpolitisches Motiv die Förderung der privaten Eigentumsbildung im Wohnungsbau, die dazu beitragen sollte, die Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft gesellschaftspolitisch zu legitimieren. Nachdem der Wohnungsmarkt allmählich dereguliert wurde, sollten die höheren Mieten durch Mietbeihilfen für einkommensschwache Familien sozial verträglich aufgefangen werden. Mietbeihilfen wurden erstmals 1955 eingeführt. Seit 1965 wurden die Beihilfen als „Wohngeld“ bezeichnet, um die soziale Akzeptanz der Förderung zu verbessern. Die verschiedenen Motive, die Beseitigung eines Marktungleichgewichts, die Förderung des individuellen Eigentums und schließlich die dem Fürsorgebereich zuzuordnende Mietsubventionierung für einkommensschwache Haushalte, verschmolzen zu einer äußerst unklaren Legitimation der Wohnungsförderung.66 Insgesamt nahmen die öffentlichen Transferleistungen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland nicht nur in absoluten Beträgen, sondern auch in Relation zum Sozialprodukt zu. Zu einem wichtigen Indikator für die Bedeutung der sozialen Sicherung wurde das Sozialbudget, in dem die verschiedenen Sozialleistungen zusammengefasst wurden. Systematisch kann man drei Komponenten des Sozialbudgets unterscheiden. Den größten Teil machten die Leistungen der Sozialversicherung aus, die durch Beiträge und zum Teil durch staatliche Zuschüsse finanziert wurden. Eine zweite Komponente des Sozialbudgets bestand in den staatlichen Leistungen, die aus allgemeinen Steuermitteln finanziert wurden. Dazu gehörten vor allem die Fürsorge, die seit 1961 zur Sozialhilfe weiterentwickelt wurde, die staatlichen Pensionssysteme und die sozialpolitischen Programme. Eine dritte Komponente des Sozialbudgets stellten die Steuerermäßigungen dar. Der größte Teil entfiel auf die Familienförderung und das Ehegattensplitting. Die Steuerermäßigungen waren überwiegend aus dem Prinzip der Steuergerechtig65 Gisela Plassmann, Der Einfluss der Arbeitslosenversicherung auf die Arbeitslosigkeit in Deutschland, Nürnberg 2002, S. 34 – 35; Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871 – 2002, Nürnberg 2003, S. 445 – 446. 66 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 32), Bd. 3, S. 128 – 136; Axel Schildt, Wohnungspolitik, in: Hans Günter Hockerts, Hg., Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, S. 166 – 178.

I. Die Spätzeit des bürgerlichen Generationenvertrages

261

keit abgeleitet. Da diese Beträge nach allgemeinen steuerpolitischen Grundsätzen dem Staat gar nicht zustanden, war ihre Zuordnung zum Sozialbudget umstritten.67 Das Sozialbudget im weiteren Sinne, unter Einschluss der Steuerermäßigungen, machte Anfang der fünfziger Jahre 19 Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Es stieg bis 1960 auf 21 Prozent und bis 1970 auf 27 Prozent des Bruttosozialprodukts. Ein wichtiger Grund für den Anstieg der Sozialquote war, dass die Sozialpolitik im System der Sozialen Marktwirtschaft allmählich an Bedeutung gewann. In der Wiederaufbauphase stand zunächst die Steigerung der Produktion im Vordergrund. Mit der Verstetigung des Wirtschaftswachstums wurde dann ein größerer Bedarf an sozialer Umverteilung anerkannt. Ein weiterer Grund war die Eigendynamik der Sozialversicherung. Da das Leistungsniveau verbessert wurde und die Dauer der Lebensphasen zunahm, in denen nach den institutionellen Rahmenbedingungen ein Sozialeinkommen gewährt wurde, nahmen die Transferleistungen stark zu. Schließlich sorgten auch die Steuerermäßigungen für eine steigende Sozialquote. Ihr Umfang nahm aufgrund der Steuerprogression mit steigenden Einkommen überproportional zu. Die Differenzierung des Sozialbudgets nach Funktionen zeigt die große Bedeutung der intergenerativen Umverteilung. 1970 beanspruchte die Altersversorgung vierzig Prozent des Sozialbudgets. Es folgten das Gesundheitswesen mit dreißig Prozent, die Förderung von Ehe und Familie mit 17 Prozent, die Arbeitslosenunterstützung mit drei Prozent und alle übrigen Bereiche, zu denen Kriegsopferversorgung, Wohnungsförderung, Vermögensbildung und Sozialhilfe gehörten, mit insgesamt zehn Prozent. Zur intergenerativen Umverteilung gehörten nicht nur die Altersversorgung und die Familienförderung, sondern auch Teile aus anderen Positionen des Sozialbudgets wie die Renten der Unfallversicherung, die generationsspezifische Beanspruchung des Gesundheitswesens und die Invalidenrenten der öffentlichen Rentenversicherung, die dem Gesundheitswesen zugerechnet wurden, und in geringerem Umfang auch die generationsspezifischen Anteile der Kriegsopferversorgung und der Sozialhilfe.68 Das Netz der sozialen Sicherung war weithin akzeptiert und trug wesentlich zum Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft bei. Immer wieder wurde aber die Unübersichtlichkeit und fehlende Systematik des historisch gewachsenen Systems der sozialen Sicherheit kritisiert, nachdem der „Plan der sozialen Sicherung in Deutschland“, den die SPD 1952 gefordert hatte, ebenso gescheitert war wie die von der Regierung 1953 angekündigte umfassende Sozialreform. Christian von Ferber meinte 1967, die Sozialpolitik beschränke sich auf die „Umverteilung von Markteinkommen unter gesetzlichem Zwang, geleitet von der Fiktion, unabweisbare individuelle Existenzbedürfnisse zu befriedigen“. Nicht die systematische Bestandsaufnahme und Analyse der sozialpolitischen Interventionsfelder bestimmte nach Ferbers Kritik das sozialpolitische Programm, sondern die Konkurrenz der Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbericht 1970, Bonn 1970. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbericht 1990, Bonn 1990, S. 202 – 205. 67 68

262

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

politischen Parteien und der Interessenorganisationen. Deshalb gab es nach seiner These nur eine „Fiktion“ der Bedürfnisbefriedigung. Die Folge seien eine Zufälligkeit der Interventionen und ein Mangel an Systematik.69 Ende der sechziger Jahre erwartete die Bundesregierung, dass bei der öffentlichen Umverteilung eine gewisse Sättigung erreicht war. In Zukunft sollten die Sozialleistungen nur noch im gleichen Tempo wie das Volkseinkommen steigen, und die öffentliche soziale Sicherung wäre dann verstärkt durch private Vorsorge zu ergänzen. „Die gesetzlichen Vorsorgeverpflichtungen werden mehr und mehr als eine Grundsicherung aufgefasst, auf der mit steigendem Einkommen in wachsendem Umfang eine private Vorsorge aufgebaut wird“.70 Dieser Ansatz zu einer Neuorientierung der Sozialpolitik hatte damals aber keine politischen Konsequenzen; auf den Regierungswechsel von 1969 folgte im Gegenteil noch einmal ein Ausbau der Sozialpolitik. Erst 35 Jahre später wurde die Synthese aus öffentlicher Grundsicherung und privater Vorsorge zum Leitbild des Reformprogramms „Agenda 2010“. d) Die Haushaltsproduktion Das Sozialprodukt und die daraus abgeleiteten öffentlichen Transferleistungen wurden auch in der Zeit des bürgerlichen Generationenvertrages durch beträchtliche eigene Leistungen der Haushalte ergänzt. Nach der institutionellen Trennung von Haushalt und Betrieb blieb die produktive Funktion der Haushalte in der öffentlichen Diskussion zunächst verborgen, weil der Haushalt in der Wirtschaftswissenschaft ausschließlich als Institution des Konsums interpretiert wurde. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung berücksichtigte nur die marktorientierten Leistungen. Während die Arbeit von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern, Hausangestellten und professionellen Pflegediensten als produktiv galt und das Sozialprodukt mehrte, galten die hauswirtschaftliche Tätigkeit, die Betreuung von Kindern oder die Pflege alter Menschen durch die Angehörigen nicht als produktiv und gingen nicht in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein. Erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde in der Wirtschaftswissenschaft die Produktionsleistung der Familien wiederentdeckt. Helga Schmucker wies 1961 auf die „werteschaffende Leistung der Hausfrau im Haushalt“ hin.71 Die Arbeitszeiten am „Arbeitsplatz Familie“ blieben lang, obwohl die Verbreitung von Haushaltsgeräten die Hausarbeit erleichterte.72 Die vereinzelten Zeitstudien zur Hausarbeit wurden allerdings nach unterschiedlichen Methoden erChristian von Ferber, Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Hamburg 1967, S. 9. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbudget 1968, Bonn 1969, S. 7. 71 Helga Schmucker, Über die Hälfte des Volkseinkommens geht durch die Hände der Frau (1961), in: Helga Schmucker, Studien zur empirischen Haushalts- und Verbrauchsforschung, Berlin 1980, S. 143 – 184. 72 Merith Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945 – 1960, Göttingen 2001, S. 284 – 288. 69 70

II. Jugend

263

hoben. In den fünfziger Jahren gaben Hausfrauen, die nicht erwerbstätig waren, ihre wöchentliche Familienarbeit in einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern mit siebzig Stunden an. Teilerwerbstätige Frauen nannten für die Erwerbsarbeit 12 1/2 Stunden und für die Hausarbeit 61 Stunden, während voll erwerbstätige Frauen für die Erwerbsarbeit 41 Stunden und für die Hausarbeit 44 Stunden angaben. In den sechziger Jahren waren die Arbeitszeiten noch länger. Nicht erwerbstätige Hausfrauen gaben ihre wöchentliche Familienarbeit in einem Vier-Personen-Haushalt mit 72 Stunden an. Teilerwerbstätige Frauen nannten eine wöchentliche Erwerbsarbeit von 17 Stunden und eine Familienarbeit von siebzig Stunden.73 Da die Haushaltsproduktion kein eigenes Preissystem hat, wird ihr Wert im allgemeinen in Anlehnung an ähnliche marktorientierte Tätigkeiten geschätzt.74 Helga Schmucker ermittelte in einer regionalen Untersuchung für Bayern den Wert der Haushaltsproduktion auf der Grundlage des Gehalts für Hausangestellte. Nach ihrer Schätzung entsprach 1959 die Wertschöpfung im Haushalt 31 bis 42 Prozent des Nettoinlandsprodukts75. Ein Gutachten für das Familienministerium bezifferte 1965 den Geldwert der Arbeitsleistung einer Hausfrau in einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern aufgrund der langen Arbeitszeit auf 957 DM im Monat. Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen erreichten in der damals üblichen 44-Stunden-Woche ein Erwerbseinkommen von 400 DM bis 600 DM im Monat.76

II. Jugend 1. Die frühen Jahre Der Zweite Weltkrieg ließ zahlreiche unvollständige Familien zurück, Frauen ohne Partner und Kinder ohne Väter.77 Heinrich Böll hat diese Familien in den fünfziger Jahren in der Geschichte von den beiden Schulfreunden Heinrich Brielach und Martin Bach beschrieben, deren Väter im Krieg gestorben sind. Heinrichs Mutter ist arm und Martins Mutter ist reich, aber sie teilen eine Kindheit, die an73 Ernst Zander, Arbeitszeitaufwand in städtischen Haushalten. Ergebnisse einer Untersuchung der Bundesforschungsanstalt für Hauswirtschaft, in: Hauswirtschaft und Wissenschaft, 15 (1967). 74 Jörg Althammer / Simone Wenzler, Interfamiliale Zeitallokation, Haushaltsproduktion und Frauenerwerbstätigkeit, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 215 (1996); Bundesministerium für Familie und Senioren, Fünfter Familienbericht. Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens, Bonn 1994, S. 139 – 140. 75 Schmucker, Über die Hälfte des Volkseinkommens (wie Anm. 71), S. 149 – 150. 76 Georg Scheffler, Gutachten über die Frage, welcher Wert der Arbeitsleistung einer Ehefrau und Mutter im Haushalt und bei der Pflege und Erziehung der Kinder beizumessen ist. Erstattet im Auftrag des Herrn Bundesministers für Familie und Jugend, 18. Dezember 1965. BArchK B 189 / 6208. 77 Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft (wie Anm. 72).

264

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

ders ist als die Kindheit der anderen, mit abwesenden Vätern, die in Bildern und Geschichten präsent sind, und mit „Onkeln“, die in das Familienleben eintreten, ohne die Beständigkeit von Vätern zu haben.78 Hilde Thurnwald fand in ihrer sehr frühen familiensoziologischen Untersuchung, die sie im zerstörten Berlin in der Zeit von Februar 1946 bis Sommer 1947 durchführte, dass die unvollständigen Familien häufig besonders ausgeprägte Solidargemeinschaften bildeten. Die Kinder übernahmen frühzeitig Verantwortung und trugen nach besten Kräften dazu bei, für das tägliche Überleben zu sorgen. In manchen Familien traten Erziehungsprobleme auf, wenn Jugendliche sich aus der familialen Solidarität zurückzogen; aber das blieb die Ausnahme.79 Nachdem in den fünfziger Jahren die Restauration der Standardfamilie eintrat, wurden im Rückblick die Probleme unvollständiger Familien betont. Nach Helmut Schelskys Interpretation litten die unvollständigen Familien unter einer doppelten Belastung, durch die Armut und durch die neue Rollenverteilung in einer Familie, die ohne den Ehemann und Vater auskommen musste. „Hier bindet die Familie die Mutter mit stärksten Verpflichtungen; sie muß nicht nur in den meisten Fällen durch ihre Berufstätigkeit die Kinder erhalten oder muß sich in großer Kargheit mit ihren Kindern von einer Rente durchbringen, sondern hier treten auch alle seelischen Ansprüche der Kinder, die sonst auf das Ehepaar verteilt werden, allein und besonders stark an die Mutter heran“.80 Mit der Generation neuer Eltern, die in der Nachkriegszeit Kinder bekamen, nahm die Bedeutung der Standardfamilie, die aus einem auf Lebenszeit verheirateten Ehepaar und dessen Kindern bestand, zu. Durch die allgemeine Stabilisierung der Lebenszeit kam es nicht mehr oft vor, dass ein vorzeitiger Tod der Mutter oder des Vaters die Familien traf. Die unvollständige Familie oder auch die rekonstruierte Familie, die Stieffamilie, wurden selten. Dass Kinder außerhalb einer Ehe geboren wurden, blieb bis weit in die Zeit der Bundesrepublik Deutschland trotz mancher Veränderungen in den Werten und in den Lebensverhältnissen die Ausnahme. 1970 hatten acht Prozent der Kinder unverheiratete Eltern. Das entsprach den Verhältnissen in Preußen im frühen neunzehnten Jahrhundert.81 Gegen die öffentliche Erziehung von Kindern bis zu drei Jahren gab es in der westdeutschen Gesellschaft noch lange Zeit erhebliche Vorbehalte. Das Angebot an institutionalisierter Betreuung für diese Altersgruppe blieb daher gering. Der Kindergarten für Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren wurde dagegen zunehmend als sinnvolle pädagogische Veranstaltung anerkannt.82 Trotz mancher Heinrich Böll, Haus ohne Hüter, Köln 1954. Hilde Thrunwald, Gegenwartsprobleme Berliner Familien. Eine soziologische Untersuchung an 498 Familien, Berlin 1948. 80 Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart (1953), Stuttgart 1960, S. 71. 81 Bundesministerium für Familie und Senioren, Fünfter Familienbericht. Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens, Bonn 1994, S. 55. 82 Kuller, Familienpolitik (wie Anm. 3), S. 285 – 311; Karl Neumann, Geschichte der Kleinkindererziehung von 1945 bis in die Gegenwart, in: Günter Erning / Karl Neumann / 78 79

II. Jugend

265

Reformvorschläge blieben die Kindergärten in der Zuständigkeit der Jugendämter. Als allgemeine Erziehungsinstitution passte der Kindergarten im Grunde nicht mehr in das herkömmliche Profil der Jugendfürsorge. Aber die Jugendfürsorge war bestrebt, ihr Programm von der Minderheit der schwierigen oder schutzbedürftigen Kinder und Jugendlichen auf die gesamte Jugend auszuweiten und damit auch ihren Status als Erziehungsinstitution aufzuwerten. Auf diesem Weg war die öffentliche Kleinkindererziehung ein wichtiges Argument, denn sie war der Teil der Jugendfürsorge, der die größte Akzeptanz in der Bevölkerung hatte.83

2. Bildungsreform Das Schulwesen verharrte in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland noch in den institutionellen Strukturen des späten neunzehnten Jahrhunderts. Es gab Unterschiede zwischen den Ländern, aber 1955 wurde das traditionelle dreigliedrige Schulsystem mit den drei Schultypen der Volksschule, der Realschule und des Gymnasiums weitgehend vereinheitlicht. In einigen Ländern wurde die Volksschule auf neun Jahre verlängert. Aber erst 1964 wurde die neunjährige Volksschule einheitlich auf alle Bundesländer ausgedehnt.84 Für die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen galt nach wie vor die Volksschule als ausreichende Bildung. Noch 1970 verließen 86 Prozent aller Jugendlichen die Schule mit dem Abschluss der Volksschule.85 Die Mittelschule bereitete auf eine Berufstätigkeit in den unteren Positionen der neuen Mittelklasse der Angestellten und Beamten vor. Die Oberschule galt im wesentlichen als Vorbereitung auf die Universität oder Technische Hochschule. Dem Grundsatz nach war das Bildungswesen offen. Bildung öffnete einen Weg zur sozialen Mobilität, denn längere Bildungswege führten im allgemeinen zu einem höherem Status und größerem Einkommen. Die Einführung der Schulgeldfreiheit und Stipendien sollten Kindern und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem Einkommen den Zugang zu längeren Bildungswegen erleichtern. Im allgemeinen hatte die intergenerative Tradition jedoch erheblichen Einfluss auf die Ausbildung. 1968 kamen nur neun Prozent der Studierenden an den deutschen Hochschulen aus Arbeiterfamilien.86 Neben der sozialen Jürgen Reyer, Hg., Geschichte des Kindergartens, 2 Bde., Freiburg 1987; Jürgen Reyer / Heidrun Kleine, Die Kinderkrippe in Deutschland. Sozialgeschichte einer umstrittenen Einrichtung, Freiburg 1997, S. 155 – 173. 83 Bundesministerium für Familie und Jugend, Bericht über die Lage der Jugend und die Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe. Jugendbericht, Bonn 1965. 84 Walter Schulze / Christoph Führ, Das Schulwesen in der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1973, S. 22. 85 Martin Osterland / Wilfried Deppe / Frank Gerlach / Ulrich Mergner / Klaus Pelte / Manfred Schlösser, Materialien zur Arbeitssituation der Industriearbeiter in der BRD, Frankfurt am Main 1973, S. 216. 86 Osterland / Deppe / Gerlach / Mergner / Pelte / Schlösser, Arbeitssituation der Industriearbeiter (wie Anm. 85), S. 218.

266

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

Herkunft prägte das Geschlecht die Ausbildung. Jungen erhielten im allgemeinen eine längere Ausbildung als Mädchen. Da die Erwerbstätigkeit nach herrschender Auffassung für den weiblichen Lebenslauf eine geringere Bedeutung hatte als für den männlichen Lebenslauf, galten längere Ausbildungswege für Mädchen als weniger wichtig. Diese unterschiedlichen Erwartungen setzten sich nach der Schule in der Wahl der beruflichen Ausbildung fort.

3. Parallelerziehung Die Jugendfürsorge wurde in der Bundesrepublik Deutschland auf demokratischer Grundlage neu aufgebaut. Die Beziehungen von Staat und Verbänden wurden unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip, das in den fünfziger Jahren erheblichen Einfluss auf die Sozialpolitik gewann, zu Gunsten des Verbandseinflusses verändert. Die Stellung der Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Jugendorganisationen wurde gegenüber den Jugendämtern gestärkt.87 Neben den Jugendbehörden betätigten sich Freie Wohlfahrtsverbände, Kirchen und sonstige Religionsgemeinschaften, politische und studentische Jugendorganisationen sowie Fachorganisationen zur Förderung der Jugendwohlfahrt in der Jugendfürsorge.88 Das Programm der Jugendfürsorge wurde zunächst aus der Weimarer Republik übernommen. Als Orientierungspunkt galt das im Jugendwohlfahrtsgesetz von 1922 definierte Recht der Kinder auf Erziehung. Die Jugendfürsorge sollte bei einem Versagen der familialen Erziehung eingreifen. Seit den fünfziger Jahren strebten aber Kommunen, Verbände und vor allem auch die Beschäftigten der Jugendverwaltungen mit Unterstützung von Jugendexperten und Jugendexpertinnen eine Neuorientierung an, mit der die Jugendfürsorge zur allgemeinen Bildungsinstitution aufgewertet werden sollte. In einer Erklärung des Deutschen Städtetages hieß es 1950: „Nicht nur Gefährdete und Verwahrloste, nicht nur der wirtschaftlich Schwache, nicht nur Erziehungsnot verschiedenster Art geht uns an. Das weite Feld der gesunden und vorwärtsstrebenden Jugend ist die Orientierung für das neue Jugendamt“.89 Das Ziel der Jugendpolitik sollte die „Institutionalisierung der außerschulischen Jugendarbeit als dritte Erziehungsmacht neben Schule und Familie“ sein.90 Zu einem vorläufigen Abschluss kam die programmatische Neuorientierung der Jugendfürsorge in dem neuen Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961. Das Recht des Kindes auf Erziehung wurde aus dem Jugendwohlfahrtsgesetz von 1922 über87 Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Reichsjugendwohlfahrtgesetzes vom 28. August 1953. Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1953 I, S. 1035 – 1037. 88 Bundesministerium für Familie und Jugend, Erster Jugendbericht (wie Anm. 83). 89 Zitiert nach Detlev J. Peukert / Richard Münchmeier, Historische Entwicklungsstrukturen und Grundprobleme der Deutschen Jugendhilfe, in: Jugendhilfe – historischer Rückblick und neue Entwicklungen. Materialien zum 8. Jugendbericht 1, Weinheim 1990, S. 35 – 36. 90 Annelie Keil, Jugendpolitik und Bundesjugendplan. Analyse und Kritik der staatlichen Jugendförderung, München 1969, S. 64.

II. Jugend

267

nommen. Das Ziel der Jugendfürsorge wurde neu definiert. Dabei wurde ein Kompromiss gesucht zwischen den Elternrechten, die durch das Grundgesetz geschützt waren, und dem Expansionsbestreben der Parallelerziehung. „Die öffentliche Jugendhilfe soll die in der Familie des Kindes begonnene Erziehung unterstützen und ergänzen.“91 Die Institutionen der Jugendfürsorge kamen mit der programmatischen Aufwertung ihrem Ziel näher, aus der Beschränkung auf Problemgruppen auszubrechen und als allgemeine Bildungsinstitution anerkannt zu werden. Die Aufgaben wurden erweitert, und mit den Aufgaben wuchsen die Ausgaben, der Personalbestand und die Professionalisierung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Die Expansion war aber eher quantitative Ausdehnung als qualitativer Wandel. Zwischen den etablierten primären Bildungsinstitutionen, der Familie und der Schule, blieb die Jugendfürsorge eine sekundäre Bildungsinstitution, deren Funktionen nach wie vor im wesentlichen defizitär definiert waren. Schwerpunkte waren die Disziplinierungsfunktion, die demokratisiert und modernisiert wurde, die Schutzfunktion und die Jugendbildung. Vor allem in der Jugendbildung gab es Chancen zur institutionellen Expansion. Im Laufe der Zeit wurde ein umfangreiches Programm an Bildungsangeboten und Freizeitangeboten entwickelt. Im Mittelpunkt der Kooperation von staatlichen Institutionen und nichtstaatlichen Trägern der Jugendpolitik stand der Bundesjugendplan, der 1950 eingeführt wurde. Im Rahmen des Bundesjugendplans wurden den nichtstaatlichen Akteuren der Jugendpolitik öffentliche Mittel zugewiesen, über die sie unter staatlicher Aufsicht verfügen konnten.92 Die öffentliche Kleinkindererziehung blieb institutionell der Jugendfürsorge zugeordnet, etablierte sich aber zunehmend als eigene Bildungsinstitution.93

4. Wehrpflicht Unter alliierter Herrschaft wurde Deutschland gründlich demilitarisiert. In Verbindung mit der Westintegration führte die Bundesrepublik Deutschland jedoch 1956 eine Wehrpflicht ein. Der Grundwehrdienst dauerte zunächst zwölf Monate. Nach dem Bau der Berliner Mauer und der absehbaren Einführung der Wehrpflicht in der Deutschen Demokratischen Republik wurde er 1962 auf achtzehn Monate erhöht. In den nächsten zehn Jahren bleib es bei dieser Dauer.94 Gesetz über Jugendwohlfahrt vom 11. August 1961. BGBl. 1961 I, S. 1206 – 1219. Keil, Jugendpolitik und Bundesjugendplan (wie Anm. 90). 93 Sabine Hering / Richard Münchmeier, Geschichte der Sozialen Arbeit, Weinheim 2000; Erwin Jordan / Dieter Sengling, Kinder- und Jugendhilfe, Weinheim 2000. 94 Günter Hahnenfeld / Wolfgang Boehm-Tettelbach, Wehrpflichtgesetz und Kriegsdienstverweigerungsgesetz. Kommentar, München 2003; Wilhelm Meier-Dörnberg, Die Auseinandersetzung um die Einführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland, in: Roland G. Foerster, Hg., Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politischinstitutionelle Wirkung, München 1994. 91 92

268

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

5. Humankapital Die Theorie des Humankapitals, die seit den sechziger Jahren in den USA entwickelt wurde, interpretiert den Aufwand für den Unterhalt und die Ausbildung der Jugend als eine Investition, die ähnlich den Investitionen in Sachkapital die Produktivität der Gesellschaft steigert. Ähnliche Überlegungen hatte Heinz Potthoff in Deutschland bereits 1913 formuliert; seine Hinweise fanden damals aber keine Resonanz. In der Jugend wird ein Humankapital aufgebaut, das die Grundausstattung für das weitere Leben bilden soll. Das Humankapital umfasst nach der Definition von Gary S. Becker „Wissen und Fertigkeiten der Menschen, ihren Gesundheitszustand und die Qualität ihrer Arbeitsgewohnheiten“.95 Die Investitionen in das Humankapital bestehen zum einen in den direkten Kosten für den Unterhalt und die Ausbildung, zum anderen in den Opportunitätskosten, die durch den Verzicht der erwerbsfähigen Jugendlichen auf ein Erwerbseinkommen entstehen. Da die Schaffung, Verbreitung und Nutzung von Wissen in modernen Gesellschaften großen Einfluss auf die Produktivität hat, leisten Investitionen in Humankapital einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Wachstum. Nach einer Schätzung Gary Beckers investierten industrielle Gesellschaften in den sechziger Jahren mehr als zwanzig Prozent der Gesamtinvestitionen in verschiedene Formen von Humankapital.96

6. Jugenderfahrungen Kontinuitätsbrüche haben immer wieder Tradierungskrisen in den Generationenbeziehungen ausgelöst. Das war in besonderem Maße nach der Katastrophe von 1933 – 1945 der Fall. Nach der Befreiung vom Faschismus suchten die Jugendlichen nach neuen Orientierungen. Der Soziologe Helmut Schelsky beschrieb 1957 die westdeutsche Jugend des „Nachkriegsjahrzehnts“ von 1945 bis 1955 als eine „skeptische Generation“. Er verstand darunter eine Entpolitisierung und Entideologisierung des jugendlichen Bewusstseins, Realitätssinn, eine starke Berufszugewandtheit, nicht zuletzt auch eine Anpassung an die Strukturen der Modernität.97 In ihrem späteren Erwerbsleben haben die Jugendlichen der „skeptischen Generation“ sich mit ungewöhnlichem Eifer dem Bruttosozialprodukt gewidmet. Annette Niederfranke hat in den achtziger Jahren Arbeiter und Angestellte der Jahrgänge 1925 bis 1927 befragt, die im Alter von 57 bis 59 Jahren in den Vorruhestand eingetreten waren. Die Erwerbstätigkeit hatte in der Biographie der Interviewpartner überragende Bedeutung. Viele Männer fühlten sich, wie es einer der Interviewpartner in einer charakteristischen Formulierung ausdrückte, eher mit ihrem Be95 Gary S. Becker, Familie, Gesellschaft und Politik – Die ökonomische Perspektive, Tübingen 1996, S. 220. 96 Becker, Familie, Gesellschaft und Politik (wie Anm. 95), S. 220. 97 Helmut Schelsky, Die skeptische Generation (1957), Düsseldorf 1963.

II. Jugend

269

trieb „verheiratet“ als mit ihrer Ehefrau. Lange Arbeitszeiten, Überstunden und nicht selten auch Schwarzarbeit in der „Schattenwirtschaft“ mussten zusammenkommen, um die begehrten Konsumgüter erreichbar zu machen. Im Rückblick kamen Schuldgefühle auf gegenüber der Familie, die durch die extreme Berufsorientierung vernachlässigt wurde, vor allem gegenüber der Ehefrau. Manche Männer hofften, das Versäumte im Ruhestand wiederzugewinnen. Aber die Schwelle zum siebten Lebensjahrzehnt war ein später Zeitpunkt, um die Familie zu entdecken.98 Die Jugendlichen der sechziger Jahre erfuhren eine veränderte Gesellschaft. Die Auseinandersetzung mit der faschistischen Diktatur, dem Krieg und dem Völkermord trat im allgemeinen Bewusstsein zurück. Der Sinn war auf das Praktische gerichtet, auf die individuelle Lebensgestaltung in einer als stabil wahrgenommenen Welt. Dies war, nach einem Begriff von V. von Blücher, die „Generation der Unbefangenen“.99 Die Unbefangenheit war, wie Elisabeth Pfeil in einer Untersuchung dieser Generation dargelegt hat, nicht selbstverständlich. Die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen der frühen sechziger Jahre hatten eine durch die Zeitumstände erschwerte Sozialisation hinter sich. Ihre Kindheit war geprägt durch Kontinuitätsbrüche, Gefahren, Mangel, Risiken. Die existentiellen Bedrohungen hatten verschiedene Ursachen: die Abwesenheit der Väter, die Evakuierung, der Luftkrieg in den Städten, Flucht und Vertreibung. Von einem depressiven Lebensgefühl, wie man es nach diesen Kindheitserfahrungen vielleicht erwarten konnte, war jedoch keine Rede. Das mag daran gelegen haben, dass auf die Behinderungen und Entbehrungen der Kindheit die Stabilitätserfahrungen des Wirtschaftswachstums folgten. Das wirtschaftliche Wachstum glättete die Klassenwidersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, es versprach gute Berufsaussichten und materielle Sicherheit. Die Familie hatte in den Lebensentwürfen der jungen Erwachsenen eine zentrale Bedeutung. Man lebte lange in der Elternfamilie und erwartete, nach kurzer Übergangszeit eine eigene Familie zu gründen. Die jungen Erwachsenen waren von Lebenszuversicht erfüllt: „Entschlossen zur Ehe und Familiengründung, im Beruf voller Hoffnungen auf Vorwärtskommen: auf wachsendes Einkommen, leitende oder doch gehobene Stellung, Selbständigwerden; damit einhergehend weit verbreitet die Überzeugung über den sozialen Status der Eltern hinauszugelangen, sehen sie sich in einer Gesellschaft, deren Positionen dem Tüchtigen offen stehen“.100 Im Rückblick erscheint die Lebensplanung der Jugendlichen allerdings merkwürdig gebrochen. Denn dies war die erste Generation, die ihre überzeugend vorgetragenen Familienpläne keineswegs immer realisierte. Mitte der sechziger Jahre setzte der Geburtenrückgang in der westdeutschen Gesellschaft ein. 98 Annette Niederfranke, Vor-Ruhestand: Erleben und Formen der Auseinandersetzung bei Männern aus psychologischer Sicht, Diss. Bonn 1987, S. 184. 99 V. von Blücher, Die Generation der Unbefangenen, Düsseldorf 1966. 100 Elisabeth Pfeil, Das Generationenprofil der 23Jährigen. Ihr Lebensgefühl und ihre Vorstellung vom gereiften Menschen, in: Elisabeth Pfeil, Hg., Die 23Jährigen. Eine Untersuchung zum Geburtenjahrgang 1941, Tübingen 1968, S. 350.

270

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

Ende der sechziger Jahre traten neue Einflüsse auf. Nicht alle, aber doch manche Jugendliche richteten ihr Interesse weniger auf das Vorwärtskommen in dem bestehenden System, als auf das Verändern des Systems. Die jugendlichen Akteure der Protestbewegung von 1967 – 1969 gingen als kritische „Achtundsechziger“ in die kollektive Erinnerung ein.101

III. Beruf 1. Beschäftigung und Arbeitslosigkeit In den Wiederaufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg war die Arbeitslosigkeit zunächst niedrig. Allerdings gab es eine hohe verdeckte Arbeitslosigkeit, da viele erwerbsfähige Erwachsene aus Mangel an materiellen Anreizen wenig Interesse an einer Beschäftigung zeigten und deshalb auch nicht als Arbeitslose registriert wurden. Nach dem Übergang zur Marktwirtschaft schlug die Situation auf dem Arbeitsmarkt um. Während das Interesse an einer Erwerbstätigkeit stark zunahm und eine wachsende Zahl von Vertriebenen und Flüchtlingen Arbeit suchte, führte die Marktwirtschaft in den Unternehmen zu Rationalisierung und Arbeitsplatzabbau. Auch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland herrschte noch eine hohe Arbeitslosigkeit. 1950 gab es im Jahresdurchschnitt 1,9 Millionen Arbeitslose; das entsprach einer Arbeitslosenquote von 11 Prozent der abhängig Beschäftigten.102 In den fünfziger Jahren führte das wirtschaftliche Wachstum in Westdeutschland zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit. Ende der fünfziger Jahre wurde die Vollbeschäftigung erreicht. Die Arbeitslosenquote erreichte 1962 mit 0,7 Prozent einen historischen Tiefstand. In der Rezession der sechziger Jahre stieg die Arbeitslosenquote 1967 vorübergehend auf 2,1 Prozent; das galt damals als alarmierend. In dem folgenden starken Aufschwung ging sie jedoch wieder auf beruhigende 0,7 Prozent zurück.103 Der Aufschwung stärkte das Vertrauen in die Globalsteuerung, die mit dem Stabilitätsgesetz von 1967 eingeführt wurde. Man ging davon aus, mit der keynesianischen Wirtschaftspolitik über ein wirksames Instrument zu verfügen, das Vollbeschäftigung gewährleistete. Das wirtschaftliche Wachstum schlug sich nicht nur in steigenden Reallöhnen, sondern auch in kürzeren Arbeitszeiten nieder. 1950 betrug die durchschnittliche Wochenarbeitszeit 48 Stunden und hatte damit den gleichen Umfang wie in den Anfangsjahren der Weimarer Republik. Seitdem wurden die Arbeitszeiten stetig reduziert. 1970 betrug die durchschnittliche Arbeitszeit in der Industrie für Männer vierzig Stunden und für Frauen 36 Stunden.104 101 Ingrid Gilcher-Holtey, Hg., 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998. 102 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 148. 103 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 148. 104 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 255.

III. Beruf

271

2. Der Wandel der Frauenerwerbstätigkeit In den frühen Wiederaufbaujahren von 1945 bis 1949 war die Erwerbsbeteiligung der Frauen niedriger als in der Vorkriegszeit. Viele verheiratete Frauen verzichteten auf eine Erwerbstätigkeit, weil die Hauswirtschaft für das tägliche Überleben wichtiger war als ein Erwerbseinkommen, für das man wenig kaufen konnte. Frauen konservierten Lebensmittel, reparierten und änderten Kleidungsstücke, verbrachten unendlich viel Zeit in Warteschlangen vor den Geschäften, unternahmen lange Reisen auf das Land, um Lebensmittel einzutauschen, oder versuchten, aus eigenen Kleingärten die Rationen aufzubessern.105 Eine Ausnahme, die in der Öffentlichkeit viel beachtet wurde und auch im Rückblick zum Bild der Nachkriegszeit gehört, waren die „Trümmerfrauen“. Nach einer Verordnung des Kontrollrates konnten erwerbslose Frauen und Männer von den Behörden zu Notstandsarbeiten verpflichtet werden. Die Bestimmung wurde vor allem in Berlin angewandt. Tausende von Frauen halfen in den vier Sektoren der Stadt, den Kriegsschutt wegzuräumen. Ende 1946 gab es in Berlin 40.000 „Trümmerfrauen“, bis Ende 1947 ging die Zahl dann auf 21.000 Frauen zurück. Für die Bauwirtschaft, in der traditionell wenig Frauen beschäftigt wurden, bedeutete die Arbeit der Frauen eine große Veränderung. In der Gesamtzahl der Beschäftigten waren die „Trümmerfrauen“ zu jener Zeit jedoch eine kleine Minderheit. Im Dezember 1946 gab es in Berlin 1,3 Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, davon 164 Tausend Beschäftigte in der Berliner Bauwirtschaft. In anderen Städten blieb die Beschäftigung von Frauen im Baugewerbe eine Ausnahme.106 Nach der Währungsreform und Wirtschaftsreform von 1948 nahm die Erwerbsbeteiligung der Frauen wieder zu. Die Verbesserung der Berufschancen für Frauen, die in der Weimarer Republik begonnen hatte, setzte sich in der westdeutschen Gesellschaft fort. Die traditionellen Bereiche der Frauenerwerbstätigkeit verloren dagegen an Bedeutung. Es gab eine wachsende Zahl von Frauen in Bürotätigkeiten, im Verkauf und in den Berufen der neuen Mittelklasse, aber weniger mithelfende Familienangehörige, weniger Landarbeiterinnen und kaum noch Hausangestellte. Trotz der Erweiterung der beruflichen Optionen blieben Frauen in qualifizierten und entsprechend besser entlohnten Positionen unterrepräsentiert.107 105 Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft (wie Anm. 72), S. 60 – 98; Thurnwald, Gegenwartsprobleme Berliner Familien (wie Anm. 79), S. 63 – 83; Barbara Willenbacher, Zerrüttung und Bewährung der Nachkriegs-Familie, in: Martin Broszat / Klaus-Dieter Henke / Hans Woller, Hg., Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988. 106 Arnold, Der Arbeitsmarkt in den Besatzungszonen (wie Anm. 17), S. 45 – 47. 107 Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft (wie Anm. 72), S. 214 – 284; Elisabeth Pfeil, Die Berufstätigkeit von Müttern, Tübingen 1961; Klaus-Jörg Ruhl, Verordnete Unterordnung. Berufstätige Frauen zwischen Wirtschaftswachstum und konservativer Ideologie in der Nachkriegszeit 1945 – 1963, München 1994; Ingrid Sommerkorn, Die erwerbstätige Mutter in der Bundesrepublik: Einstellungs- und Problemveränderungen, in: Rosemarie Nave-Herz, Hg., Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988.

272

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

Quantitativ glichen sich die Zunahme der Beschäftigung in neuen Frauenberufen und der Rückgang in den traditionellen Frauenberufen aus. Der Anteil der Frauen an den Erwerbspersonen blieb konstant, er betrug 1950 und 1970 gleichbleibend 36 Prozent.108 Die weibliche Erwerbsquote betrug 1971 nur dreißig Prozent und war damit wesentlich geringer als die männliche Erwerbsquote. Im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern nahm die Erwerbsbeteiligung der Frauen in der Bundesrepublik Deutschland Anfang der siebziger Jahre einen Mittelplatz ein. In Großbritannien betrug die weibliche Erwerbsquote 32 Prozent, in der Schweiz ebenfalls 32 Prozent, in Österreich dreißig Prozent, und in Frankreich 29 Prozent. In den skandinavischen Ländern waren die weiblichen Erwerbsquoten deutlich höher; so betrugen sie in Schweden 38 Prozent und in Dänemark 37 Prozent. Eine geringere weibliche Erwerbsquote gab es in Italien mit 19 Prozent und in den Niederlanden mit 17 Prozent.109 Der Unterschied in der Erwerbsquote von Frauen und Männern lag im wesentlichen daran, dass Frauen vorzeitig aus dem Beruf ausschieden. Frauen, die nie in ihrem Leben erwerbstätig waren, blieben eine Ausnahme. Nach einer Untersuchung zu weiblichen Biographien, die in den siebziger Jahren durchgeführt wurde, waren 88 Prozent der Frauen der Geburtsjahrgänge 1901 – 1915 in ihrem Leben erwerbstätig gewesen. Bei Frauen der Geburtsjahrgänge 1916 – 1926 stieg der Anteil der Frauen, die in irgendeiner Form erwerbstätig gewesen waren, auf 92 Prozent.110 Als Ideal der Frauenerwerbstätigkeit wurde der „Interimsberuf“ zwischen Schule und Ehe empfohlen. Für ein junges Mädchen, meinte Wilfrid Schreiber 1955, sei es „ein durchaus gesundes Lebensprogramm“, wenn es in jungen Jahren eine gewerbliche Arbeit sucht, „um später, wenn es einen Ehepartner gefunden hat, diesen Interimsberuf mit dem eigentlichen Beruf der Frau, nämlich dem der Gattin und Mutter zu vertauschen“.111 Zu dem Konzept des Interimsberufs gehörte der Verzicht auf eine höhere Qualifikation, so dass Frauen vor allem das Arbeitsangebot für einfache Tätigkeiten darstellen sollten. „Denn gerade dieser Typ von Jungarbeiterin, die in ihrer gewerblichen Arbeit keinen verpflichtenden Beruf sieht, und sich gern mit einer der weiblichen Natur angepassten Anlern-Arbeit zufrieden gibt, ist an vielen Stellen der industriellen Produktion hervorragend gut ansetzbar und daher begehrt. Ganz zu schweigen von dem gelernten Beruf der Kontoristin oder Sekretärin.“112 108

Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 90, 101 – 102,

140. 109 Bundesanstalt für Arbeit, Überlegungen zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik, Nürnberg 1974, S. 58. 110 Anita Pfaff, Typische Lebensverläufe von Frauen der Geburtsjahrgänge 1910 – 1975, in: Sachverständigenkommission für die soziale Stellung der Frau und der Hinterbliebenen, Anlageband 2, Bonn 1979, S. 148. 111 Wilfrid Schreiber, Familie und Wirtschaftsordnung. Vortrag zum 58. Verbandstag des KKV zu München am 18. Juni 1955. BArchK Nachlass Schreiber N 1331, Bd. 21, S. 27. 112 Schreiber, Familie und Wirtschaftsordnung (wie Anm. 111), S. 28.

III. Beruf

273

In den fünfziger Jahren argumentierten A. Myrdal und A. Klein, dass Frauen durch das sinkende Heiratsalter, durch die Verkürzung der Familienphase auf ein bis zwei Kinder und durch den Anstieg der Lebenserwartung bessere Möglichkeiten hatten, nach einer Familienphase wieder in den Beruf zurück zu kehren. Nach dem Drei-Phasen-Modell sollten Frauen sich zunächst konsequent der Ausbildung und der Berufstätigkeit widmen. Nach der Heirat, oder spätestens nach der Geburt des ersten Kindes, würden sie sich aus der Erwerbstätigkeit zurückziehen, um sich der Familie zu widmen. Wenn die Kinder herangewachsen waren, sollten die Frauen wieder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen.113 Das Drei-Phasen-Modell wurde zuerst in Skandinavien entwickelt, aber es wurde seit den sechziger Jahren auch in der Bundesrepublik Deutschland empfohlen.114 Als Alternative zum Phasenmodell entschieden viele Frauen sich für eine eingeschränkte Erwerbstätigkeit, um Beruf und Familie besser verbinden zu können. Die regelmäßige Teilzeitarbeit entwickelte sich seit den sechziger Jahren zu einer arbeitsrechtlich institutionalisierten Form der eingeschränkten Erwerbsarbeit. Als Teilzeitarbeit galt dem Grundsatz nach jede Unterschreitung der tariflichen Wochenarbeitszeit. Das ließ theoretisch viele Varianten zu, von unregelmäßigen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen im Umfang weniger Wochenstunden bis zu einer Tätigkeit, die nur knapp unter der vollen Arbeitszeit lag. Im wesentlichen wurden von den Unternehmen und Behörden aber nur zwei Formen von Teilzeitarbeit angeboten, zum einen die regelmäßige Halbtagsarbeit, zum anderen die geringfügige Beschäftigung mit weniger als der halben üblichen Wochenarbeitszeit.115 Bis Anfang der sechziger Jahre war die Teilzeitarbeit wenig verbreitet. Nur sechs Prozent aller Arbeitnehmerinnen und ein Prozent der Arbeitnehmer gingen 1960 einer reduzierten Erwerbstätigkeit nach.116 Seitdem nahm die Teilzeitarbeit zu. Die Unternehmen entdeckten die Teilzeitarbeit als Instrument, um mehr Frauen als Arbeitskräfte zu gewinnen und um eine größere Flexibilität der Personalpolitik zu erreichen. 1972 widmeten sich in Westdeutschland 60 Prozent der Mütter ausschließlich der Familie, 21 Prozent waren vollerwerbstätig und 19 Prozent waren teilzeitbeschäftigt. 117

A. Myrdal / A. Klein, Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf, Köln 1956. Kuller, Familienpolitik (wie Anm. 3), S. 67 – 68. 115 Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948 – 1969, Göttingen 1999. 116 Kerstin Altendorf, Hindernisse für Teilzeitarbeit und flexible Arbeitsorganisation in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Mainz 1998, S. 48. 117 Wolfgang Lauterbach, Berufsverläufe von Frauen. Erwerbstätigkeit, Unterbrechung und Wiedereintritt, Frankfurt am Main 1994, S. 181 – 182. 113 114

18 Hardach

274

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

3. Die Stabilisierung der Erwerbsbiographien Nachdem der Wiederaufbau in der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland in ein anhaltendes wirtschaftliches Wachstum überging und die Arbeitsmarktkrise überwunden wurde, erreichten die Erwerbsbiographien eine Stabilität, wie man sie bis dahin nicht gekannt hatte. An dieser Stabilisierung hatte neben dem wirtschaftlichen Wachstum und der Vollbeschäftigung die Regulierung der Arbeitsbeziehungen wesentlichen Anteil. Noch vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, im April 1949, wurden in Westdeutschland die Tarifautonomie und das System der kollektiven Tarifverträge wieder hergestellt. Die Möglichkeit einer freiwilligen Schlichtung blieb erhalten, eine staatliche Zwangsschlichtung war aber nicht mehr vorgesehen.118 Die qualifizierte Arbeit behauptete sich als Kern der industriellen Produktion. Facharbeiter wurden entweder durch eine formale Ausbildung qualifiziert, die im allgemeinen durch den Facharbeiterbrief nachgewiesen wurde, oder durch eine längere Berufserfahrung.119 Die institutionalisierte Ausbildung in besonderen Lehrwerkstätten war nach wie vor eine Ausnahme. In der Industrie machten in den sechziger Jahren die Facharbeiter 56 Prozent aller Arbeiter aus, die angelernten Arbeiter 32 Prozent und die ungelernten Arbeiter 12 Prozent. Die Arbeiterinnen blieben dagegen überwiegend in den unteren Qualifikationsstufen. Nur sechs Prozent aller Arbeiterinnen waren zur Facharbeiterin ausgebildet, 49 Prozent waren angelernte Arbeiterinnen und 45 Prozent ungelernte Arbeiterinnen.120 Der Unterschied zwischen der Risikobiographie der Arbeiter und Arbeiterinnen und der bürgerlichen Laufbahn wurde geringer, aber er verschwand nicht. Das Problem des frühen Altersabstiegs der Arbeiter war auch in der entwickelten Industriegesellschaft nicht gelöst. In den sechziger Jahren war es immer noch üblich, dass die älteren Arbeiter weniger qualifizierte Tätigkeiten ausführten als die jungen Arbeiter. Nach wie vor war die berufliche Mobilität in der Arbeiterklasse auch wesentlich größer als in der neuen Mittelklasse. Nur zwanzig Prozent der Arbeiter waren nach einer Untersuchung aus den sechziger Jahren 15 Jahre oder länger in einem Unternehmen beschäftigt; unter den Arbeiterinnen sank der Anteil auf acht Prozent.121 Die Trennung von Kapital und Kontrolle in den großen Unternehmen, die im neunzehnten Jahrhundert begonnen hatte, beschleunigte sich. Die selbständigen 118 Jürgen P. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland. Das Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949, Frankfurt am Main 1985. 119 Osterland / Deppe / Gerlach / Mergner / Pelte / Schlösser, Arbeitssituation der Industriearbeiter (wie Anm. 85), S. 224; Friedrich Weltz / G. Schmidt / J. Sass, Facharbeiter im Industriebetrieb. Eine Untersuchung in metallverarbeitenden Betrieben, Frankfurt am Main 1974, S. 17 – 18. 120 Wolf v. d. Decken, Zur Struktur der Arbeiterschaft. Ergebnis der Gehalts- und Lohnstrukturerhebung 1966, in: Wirtschaft und Statistik, 21 (1966), S. 144. 121 V. d. Decken, Zur Struktur der Arbeiterschaft (wie Anm. 120), S. 145.

IV. Familie

275

Unternehmer wurden zunehmend durch angestellte Unternehmer verdrängt. Auch in der Leitung der großen Unternehmen setzte sich damit das Laufbahnmodell durch. In westdeutschen Großunternehmen hatten Ende der sechziger Jahre die meisten leitenden Angestellten ihre Berufstätigkeit nach einem Studium der Wirtschaftswissenschaften, Recht, Ingenieurwissenschaften oder Naturwissenschaften begonnen. Sie waren dann Stufe für Stufe aufgestiegen, manchmal in dem gleichen Unternehmen, überwiegend aber in verschiedenen Unternehmen. Erfahrung galt als eine wichtige Qualifikation für höhere Positionen. Nach einer von 1965 bis 1968 durchgeführten empirischen Untersuchung waren nur vier Prozent der Vorstandmitglieder weniger als 40 Jahre alt, 13 Prozent gehörten zu der Altersgruppe von 40 bis 49 Jahren, die Mehrheit von 55 Prozent war in der Altersgruppe von 50 bis 59 Jahren, und immerhin 28 Prozent waren sechzig Jahre oder älter.122 Der Aufstieg der angestellten Unternehmer konstituierte das charakteristische „Prinzipal-Agent“ Problem. Die Eigentümer einer Kapitalgesellschaft als kollektiver „Prinzipal“ beauftragen mit der Wahrnehmung ihrer Interessen die Manager als „Agenten“. Die asymmetrische Verteilung von Informationen und unvollständige Kontrollmöglichkeiten haben aber zur Folge, dass die „Agenten“ ihre eigenen Ziele verfolgen können, die nicht unbedingt die Ziele des „Prinzipals“ sind.123 Die leitenden Angestellten hatten mehr Möglichkeiten als andere Erwerbstätige, ihre Einkommen zu gestalten. Ihr Einkommen konnte daher in den späten Jahren ihrer Erwerbsbiographie enorm steigen.

IV. Familie 1. Die Kontinuität des bürgerlichen Familienmodells Die Bundesrepublik Deutschland übernahm das patriarchalische Familienmodell des Kaiserreichs, aber die individuellen Rechte von Erwachsenen und Kindern in Ehe und Familie wurden gestärkt.124 Ehe und Familie hatten Anspruch auf den Schutz des Staates.125 Im Gleichberechtigungsgesetz von 1957 wurde immer noch der Grundsatz der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Ehe als familienpolitisches Leitbild aufrechterhalten. Der Ehemann konnte der Ehefrau die Erwerbstätigkeit aber nicht mehr verbieten. Die Ehefrau war nunmehr „berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar 122

Helge Pross / Karl W. Boetticher, Manager des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1971,

S. 76. 123 Rudolf Richter / Eirik G. Furubotn, Neue Institutionenökonomik, Tübingen 1999, S. 197 – 242. 124 Viola von Bethusy-Huc, Familienpolitik, Tübingen 1987; Kuller, Familienpolitik (wie Anm. 3); Ursula Münch, Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Maßnahmen, Defizite, Organisation familienpolitischer Staatstätigkeit, Freiburg 1990. 125 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949. BGBl. 1949, S. 1 – 20. Artikel 6.

18*

276

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

ist“.126 Seit den sechziger Jahren wurde das patriarchalische Familienmodell zunehmend von der Wirklichkeit überholt. Im ersten Familienbericht der Bundesregierung wurde Ende der sechziger Jahre eine „Demokratisierung des Familienlebens“ beschrieben. Es dominierte nunmehr das Leitbild der Partnerschaft und Gleichrangigkeit.127 2. Familienleben In den Jahren des Wiederaufbaus bewährte sich die Solidarität der Familien. Die im Krieg getrennten Familien fanden wieder zusammen. Für die vielen Vertriebenen und Flüchtlinge, die ihr Leben in einer neuen Umgebung unter schwierigen Umständen gestalteten, wurde die Familie zum Zufluchtsort.128 Hilde Thurnwald fand in ihrer Untersuchung über die Lebensverhältnisse Berliner Familien unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg den Eindruck bestätigt, denn Alice Salomon und Marie Braun in der Spätzeit der Weimarer gewonnen hatten. Die Not konnte zu Auflösungserscheinungen in den Familien führen, aber sie konnte auch in dem gemeinsamen Überlebenswillen die Solidarität und den inneren Zusammenhalt der Familienmitglieder stärken.129 Die Attraktivität der Ehe als Lebensform blieb auch in den folgenden Jahren unverändert. 1970 waren in der Altersgruppe von 45 bis 49 Jahren nur fünf Prozent der Männer und zehn Prozent der Frauen ledig.130 Das Heiratsalter ging zurück. 1950 waren die Männer bei einer ersten Eheschließung im Durchschnitt 28 Jahre alt, die Frauen 25 Jahre. Seitdem entschlossen sich junge Frauen und Männer immer früher zur Ehe. 1970 war das durchschnittliche Heiratsalter bei Männern auf 26 Jahre und bei Frauen auf 23 Jahre gesunken.131 Nach dem Zweiten Weltkrieg waren manche zeitgenössische Beobachter durch die hohen Scheidungsziffern irritiert. Die Zunahme der Ehescheidungen war aber durch die Zeitumstände bedingt. Wenn der Ehemann und Vater nach langer Abwesenheit durch den Krieg und oft auch noch durch eine längere Kriegsgefangenschaft in die Familie zurückkehrte, waren die Rollen neu zu verteilen. Das konnte 126 Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts vom 18. Juni 1957. BGBl. 1957 I, S. 609 – 640. Artikel 1, § 1356 BGB in neuer Fassung. 127 Bundesministerium für Familie und Jugend, Bericht über die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1968, S. 47. 128 Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft (wie Anm. 72); Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie (wie Anm. 80). 129 Thurnwald, Gegenwartsprobleme Berliner Familien (wie Anm. 79), S. 181 – 185; Alice Salomon / Marie Baum, Das Familienleben in der Gegenwart, Berlin 1930. 130 Heribert Engstler / Sonja Menning, Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Lebensformen, Familienstrukturen, wirtschaftliche Situation der Familien und familiendemographische Entwicklung in Deutschland, Berlin 2003, S. 67; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft (wie Anm. 72), S. 296 – 378. 131 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik (wie Anm. 130), S. 65.

IV. Familie

277

dann zu Zerwürfnissen führen. Die Institution der Ehe wurde jedoch nicht in Frage gestellt, und nach der Normalisierung der Lebensverhältnisse gingen die Scheidungsziffern wieder zurück.132 Ehe und Familie blieben eng verbunden. Die Ehepaare, die zwischen 1950 und 1954 heirateten, hatten in ländlichen Gemeinden zu 94 Prozent Kinder, in den Großstädten waren es immerhin noch 82 Prozent.133 Im Durchschnitt hatten die Ehepaare zwei Kinder.134 Erst seit den sechziger Jahren nahm die Zahl der kinderlosen Ehen zu. Parallel zum sinkenden Heiratsalter wurden auch die Eltern jünger. 1960 waren Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes im Durchschnitt 25 Jahre alt, 1970 war das Alter der Mutterschaft auf 24 Jahre gesunken. Die Väter waren nur wenig älter.135 Wenn die Kinder erwachsen wurden, löste sich die familiale Haushaltsgemeinschaft im allgemeinen auf. Die ältere Generation führte so weit wie möglich ihren eigenen Haushalt, zumal das wirtschaftliche Wachstum und der Ausbau der Sozialpolitik den Lebensstandard erhöhten. Das Ideal blieb jedoch, dass die erwachsenen Kinder und die ältere Generation in enger räumlicher Nähe lebten.136 Der bürgerliche Familienzyklus, von der Jugend über die Heirat und die Gründung einer eigenen Familie bis zur nachfamilialen Partnerschaft, wurde in lebensgeschichtlichen Interviews als die dominante Lebensform bestätigt; 1987 wurden Frauen im Alter von 36 Jahren bis 60 Jahren zu ihrer Familiensituation befragt. Die meisten Frauen hatten geheiratet und lebten mit ihrem ersten Ehepartner zusammen, und die große Mehrheit hatte Kinder; im Durchschnitt waren es zwei Kinder. Bei der Heirat waren die Frauen im Durchschnitt 24 Jahre alt, bei der Geburt des ersten Kindes 26 Jahre. Die älteren Frauen hatten, nachdem die Kinder aus dem Haus gegangen waren, die Familienphase abgeschlossen.137

3. Die Familienförderung Unter der alliierten Herrschaft blieb die steuerliche Begünstigung der Familien erhalten. Der steuerfreie Einkommensanteil betrug nach der Währungsreform von 132 Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft (wie Anm. 72); Willenbacher, Zerrüttung und Bewährung der Nachkriegs-Familie (wie Anm. 105). 133 Merith Niehuss, Kontinuität und Wandel der Familie in den 50er Jahren, in: Axel Schildt / Arnold Sywottek, Hg., Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 333. 134 William Hubbard, Familiengeschichte. Materialin zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, München 1983, S. 101 – 104. 135 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik (wie Anm. 130), S. 77. 136 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik (wie Anm. 130), S. 31 – 32, 145. 137 Statistisches Bundesamt, Familien heute. Strukturen, Verläufe und Einstellungen, Stuttgart 1990, S. 201 – 204.

278

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

1948 für jedes Kind einheitlich fünfzig DM im Monat. Außerdem gab es familienbezogene Beitragsermäßigungen oder Leistungszuschläge bei der Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung und Kriegsopferversorgung. Das nationalsozialistische Kindergeld wurde abgeschafft, weil es als Instrument der Bevölkerungspolitik ideologisch belastet war.138 In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Familienförderung mit dem Sozialstaatsgebot, aber besonders auch mit dem Schutz von Ehe und Familie begründet. Die Begründung erlaubte einen breiten Interpretationsrahmen. Für die Sozialdemokratie war der Ausgleich der sozialen Lebenslagen das Leitbild der Familienförderung. Im April 1950 legte die SPD im Bundestag einen Gesetzentwurf vor, der ein einheitliches Kindergeld vorsah. Aus sozialdemokratischer Sicht war ein allgemeines Kindergeld der indirekten Familienförderung durch Steuerbegünstigungen vorzuziehen, da die Steuerersparnis die Familien mit hohen Einkommen begünstigte. Das Kindergeld sollte zwanzig DM im Monat für jedes Kind betragen und aus dem Bundeshaushalt finanziert werden.139 Nach den Vorstellungen der CDU sollte dagegen ein Ausgleich zwischen Familien und kinderlosen Alleinstehenden oder Paaren innerhalb der gleichen sozialen Klasse angestrebt werden. Dazu war die indirekte Familienförderung durch Steuervergünstigungen das geeignete Instrument, weil die steuerliche Entlastung mit steigendem Einkommen zunahm. Außerdem verband die CDU die Familienförderung mit der Propagierung eines konservativen Familienmodells.140 In den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland war, wie schon unter der alliierten Herrschaft, die Steuerbegünstigung das einzige Instrument der Familienförderung. Da große Familien inzwischen selten geworden waren, wurde der Freibetrag für das vierte Kind und jedes weitere Kind im Juni 1953 auf siebzig DM erhöht.141 Zu der Sozialreform, die Bundeskanzler Adenauer in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1953 ankündigte, sollte auch eine Verbesserung der Fami138 Ursula Münch / Gisela Helwig / Barbara Hille, Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Udo Wengst, Hg., Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier Deutscher Staaten. Geschichte der deutschen Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2 / 1, BadenBaden 2001, S. 656 – 657; Dagmar Nelleßen-Strauch, Der Kampf ums Kindergeld. Grundanschauungen, Konzeptionen und Gesetzgebung 1949 – 1964, Düsseldorf 2003, S. 28. 139 Entwurf eines Gesetzes über die Gewährung von Kinderbeihilfen. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. 1. Wahlperiode, Bd. 3, Bundestags-Drucksache 1 / 774. Bundestagssitzung vom 28. April 1950. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte. 1. Wahlperiode, Bd. 3, S. 2196 – 2207. 140 Astrid Joosten, Die Frau das „segenspendende Herz der Familie“. Familienpolitik als Frauenpolitik in der „Ära Adenauer“, Pfaffenweiler 1990; Kuller, Familienpolitik (wie Anm. 3), S. 155 – 222; Nelleßen-Strauch, Kampf ums Kindergeld (wie Anm. 138), S. 45 – 90; Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft (wie Anm. 72), S. 190 – 214; Bernd Schäfer, Familienlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland. Darstellung und empirische Analyse des bestehenden Systems und ausgewählte Reformvorschläge, Frankfurt am Main 1996. 141 Gesetz zur Änderung der steuerlichen Vorschriften und zur Sicherung der Haushaltsführung vom 24. Juni 1953. BGBl. 1953 I, S. 413 – 445.

IV. Familie

279

lienförderung gehören.142 Der neue Familienminister Franz-Josef Wuermeling betonte, die Familienförderung sei nicht eine Form der Fürsorge, sondern „die gerechte Verteilung der Kosten für die nächste Generation“.143 Die Beratung über die Gesamtreform der sozialen Leistungen kamen aber nur langsam voran. Um dem Drängen der SPD und den Erwartungen der Öffentlichkeit entgegenzukommen, führte die Regierung im November 1954 ein Kindergeld für kinderreiche Familien ein und stellte damit die duale Familienförderung wieder her. Die Familien von Erwerbstätigen erhielten für das dritte und jedes weitere Kind bis zum 18. Lebensjahr eine bescheidene Unterstützung von 25 DM im Monat. Finanziert wurde das Kindergeld durch Beiträge der Arbeitgeber, die sich nach der Lohnsumme richteten. Das Kindergeld wurde durch neu geschaffene Familienausgleichskassen verwaltet, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts bei den Berufsgenossenschaften eingerichtet wurden.144 Nach der Einführung des Kindergeldes, das sich in erster Linie an die Familien mit niedrigem Einkommen richtete, wurde auch die Förderung für die Familien mit höherem Einkommen verbessert. Im Dezember 1954 wurde der Freibetrag für das erste und zweite Kind auf sechzig DM im Monat und für alle weiteren Kinder auf 140 DM im Monat erhöht.145 Es gab zwar keine direkte Verbindung zwischen Kindergeld und Freibeträgen, aber die beiden Instrumente wurden im allgemeinen gleichmäßig verändert. Im Januar 1955 wurden die Kinderzuschläge in der Sozialversicherung und in der Kriegsopferversorgung an die neue Kindergeldregelung angepasst.146 Im sozialpolitischen Diskurs der fünfziger Jahre wurde immer wieder die Bedeutung der Familienförderung betont. Gerhard Mackenroth verlangte 1952, die Sozialpolitik solle sich nicht mehr an einer Klasse, sondern an der Familie quer durch alle Klassen und Schichten orientieren. Das Familienprinzip müsse „über eine sehr viel stärkere Berücksichtigung des Kindes und des Jugendlichen durchgesetzt werden.“ Dazu sei eine „grundsätzliche Neugestaltung“ der Verteilungsordnung notwendig, mit dem Ziel einer Umschichtung „nicht zwischen Einkommens- und Sozialschichten, sondern innerhalb jeder Schicht zwischen den Familien.“147 Hans Achinger, Joseph Höffner, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer, die im Auftrag von Bundeskanzler Adenauer ein Konzept für eine Sozialreform 142 Bundestagssitzung vom 20. Oktober 1953. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte. 2. Wahlperiode, Bd. 18, S. 13. 143 Zitiert nach Ingrid Langer, Familienpolitik: Tendenzen, Chancen, Notwendigkeiten, Frankfurt am Main 1980, S. 99. 144 Gesetz über die Gewährung von Kindergeld und die Errichtung von Familienausgleichskassen vom 13. November 1954. BGBl. 1954 I, S. 333 – 340. 145 Gesetz zur Neuordnung der Steuern vom 16. Dezember 1954. BGBl. 1954 I, S. 373 – 392. 146 Kindergeldanpassungsgesetz vom 7. Januar 1955. BGBl. 1955 I, S. 17 – 22. 147 Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan (wie Anm. 41), S. 57 – 59.

280

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

entwickelten, empfahlen in der „Rothenfelser Denkschrift“ vom Mai 1955 einen Ausbau des „Familienlastenausgleichs“. Allerdings führten sie dieses Thema nicht näher aus.148 Ein anspruchvoller Plan zur Weiterentwicklung der Familienförderung war der „Solidar-Vertrag“ zwischen den Generationen, den Wilfrid Schreiber 1955 vorschlug. Schreibers Plan sah vor, symmetrisch zur Altersrente ein vom Einkommen der Eltern abhängiges Kindergeld einzuführen, das im Rahmen der Sozialversicherung nach dem Umlageverfahren finanziert werden sollte.149 Das Ziel des „Solidar-Vertrages“ zwischen den Generationen sollte es sein, Institutionen zu schaffen, „die dem Arbeitnehmer die sinnvolle Verteilung seines Lebenseinkommens auf die drei Lebensphasen Kindheit, Arbeitsalter und Lebensabend erleichtern.“150 Schreiber war als Experte an der Planung der Sozialreform beteiligt. Allerdings beschränkte seine Beratertätigkeit sich auf die rentenpolitischen Aspekte des „Solidar-Vertrages“.151 Nach der Rentenreform kommentierte Schreiber, die familienpolitischen Komponente seines Plans sei „im Sturm der Rentendebatte unter den Tisch gefallen“.152 Er versuchte, den Bund Katholischer Unternehmer für eine neue Initiative zur Reform der Familienförderung zu gewinnen, hatte damit jedoch keinen Erfolg. Auch später spielten Schreibers Vorschläge zu einem einkommensbezogenen dynamischen Kindergeld in dem langwierigen Streit um den Ausbau der Familienförderung keine Rolle.153 Das lag vor allem an der sozialen Asymmetrie des Plans. Konservative Politiker und Experten, die wie Schreiber eine vom Einkommen der Eltern abhängige Familienförderung verlangten, zogen als Instrument die indirekte Unterstützung durch die Steuerpolitik vor. Durch die Freibeträge bei der Einkommensteuer wurde eine schichtspezifische Differenzierung erreicht, ohne dass die soziale Ungleichheit der Förderung allzu deutlich in Erscheinung trat. Die Reformer wiederum, die ähnlich wie Schreiber das duale System abschaffen und die Familienförderung ausschließlich auf das Kindergeld abstellen wollten, lehnten ein nach dem Einkommen der Eltern gestaffeltes Kindergeld ab. Schreibers Vorschlag zur Familienförderung stieß deshalb auch bei katholischen Familienpolitikern auf Kritik.154 148 Achinger / Höffner / Muthesius / Neundörfer an Adenauer, 22. Mai 1955. BArchK B 136 / 1381; Hans Achinger, Joseph Höffner, Hans Muthesius, Ludwig Neundörfer, Neuordnung der sozialen Leistungen (wie Anm. 14). 149 Schreiber, Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft (wie Anm. 53). 150 Schreiber an Pühl, Referat „Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft“ (Entwurf) für die Sitzung am 13. Dezember 1955. BArchK B 136 / 1384. 151 Staatssekretär des Bundeskanzleramtes Globke an Schreiber, 6. Dezember 1955. BArchK B 136 / 1384. 152 Schreiber an Oswald von Nell-Breuning, 21. August 1957. BArchK Nachlass Schreiber N 1331 / 1. 153 Wilfrid Schreiber, Familienpolitische Einkommensverteilung in der Sozialen Marktwirtschaft (1964), in: Wilfrid Schreiber., Sozialpolitische Perspektiven, Köln 1972; Wilfrid Schreiber, Hg., Kindergeld im sozio-ökonomischen Prozeß. Familienlastenausgleich als Prozeß zeitlicher Kaufkraft-Umschichtung im Individual-Bereich, Köln 1964.

IV. Familie

281

Als sich abzeichnete, dass die Sozialreform sich auf die Neuordnung der Rentenversicherung konzentrieren würde, brachte Familienminister Wuermeling die Familienförderung mit einem eigenen Plan in Erinnerung. Im November 1955 stellte er im Kabinett, gleichzeitig aber auch in der Öffentlichkeit ein Programm zur Reform des „Familien-Lastenausgleichs“ vor. Er berief sich darauf, dass er bei seiner Amtsübernahme vom Kanzler den Auftrag erhalten habe, Vorschläge zu erarbeiten, wie „angesichts der immer bedrohlicheren Überalterung und ihrer Folgen“ eine „Stärkung der Familie und damit des Willens zum Kinde“ erreicht werden könne.155 Der Plan zur Reform der Familienförderung war vom Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen erarbeitet worden. Zu den Mitgliedern des Beirats gehörten neben Vertretern der Praxis und der Verbände die Professoren Höffner und Neundörfer, die Mitverfasser der Rothenfelser Denkschrift waren, und der Soziologe Helmut Schelsky. Der Beirat verwies auf Mackenroths Vorschlag zur Sozialreform, auf eine Entschließung des Deutschen Fürsorgetages und vor allem auch auf die Rothenfelser Denkschrift, in der die Notwendigkeit des „FamilienLastenausgleichs“ betont worden war. Die Experten erwähnten zwar die demographische Bedeutung der Familie, grenzten die Familienpolitik aber strikt von der Bevölkerungspolitik ab: „Für die Bevölkerungspolitik sind Mensch und Familie Objekte, d. h. Mittel zum Zweck, für die Familienpolitik der Zweck selbst.“156 Die Forderung nach einer Verbesserung der Familienförderung wurde in erster Linie mit der notwendigen Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Familien und Eingenerationenhaushalten begründet. Der Beirat empfahl ein duales System der Familienförderung, das aus Steuervergünstigungen und Kindergeld bestehen sollte. Der Freibetrag für das zweite Kind sollte erhöht werden, und das 1954 eingeführte Kindergeld für das dritte Kind einer Familie sollte auf das zweite Kind ausgedehnt werden. Langfristig war nach Ansicht der Familienexperten anzustreben, dass die Familienförderung die Hälfte der Kosten für Kinder ausglich. Der aktuelle Vorschlag, das Kindergeld auf das zweite Kind in einer Familie auszudehnen und den steuerlichen Freibetrag für das zweite Kind zu erhöhen, sollte den Beitrag der Familienförderung zu den Kosten der Kinder im Durchschnitt auf ein Drittel erhöhen. Die Familien sollten zwei Drittel der Kosten tragen.157 Der Vorschlag zur Reform der Familienförderung wurde von den Familienverbänden sofort unterstützt.158 Im Kabinett waren die Reaktionen auf den Vorstoß 154 Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Arbeitskreis „Reform des Familienlastenausgleichs“, Protokoll der Sitzung vom 19. Dezember 1967. BArchK Nachlass Schreiber N 1331 / 9. 155 Wuermeling an Adenauer, 12. November 1955. BArchK B 136 / 6134. 156 Der Familienlastenausgleich. Erwägungen zur gesetzlichen Verwirklichung. Eine Denkschrift des Bundesministeriums für Familienfragen. Bonn, November 1955. BArchK B 136 / 6134. 157 Der Familienlastenausgleich (wie Anm. 156). BArchK B 136 / 6134. 158 Arbeitsgemeinschaft Deutscher Familienorganisationen (Deutscher Familienverband, Familienbund Deutscher Katholiken, Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen) an Adenauer, 30. November 1955. BArchK B 136 / 6134.

282

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

des Familienministers jedoch überwiegend ablehnend. Finanzminister Schäffer fand die Erhöhung der Familienförderung zu aufwändig und war erbost, dass der Reformvorschlag in der Öffentlichkeit hohe Erwartungen weckte.159 Wirtschaftsminister Erhard kritisierte, dass die Forderung nach einem Ausbau der Familienförderung seine Aufrufe zur Preisstabilität und zum „Maßhalten“ störte.160 Auch Arbeitsminister Storch meinte, dass der Reformvorschlag zu großzügig sei. Ein Kindergeld für das zweite Kind in einer Familie sei nur in Einzelfällen berechtigt, wenn die Belastung zu groß würde.161 Wuermeling entgegnete auf die Einwände, der Familienlastenausgleich sei ein Gebot „staatspolitischer Gerechtigkeit“ und nicht ein „Anliegen der Sozialpolitik im engeren Sinne“.162 Bundeskanzler Adenauer war jedoch nicht bereit, die Reform der Familienförderung zu unterstützen. Für ihn war die Reform der öffentlichen Rentenversicherung vordringlich. Der Vorschlag zum Ausbau der Familienförderung, der öffentlich darauf hinwies, dass nicht nur das Alter, sondern auch Kinder ein Armutsrisiko sein konnten, kam dem Kanzler in dieser Situation ungelegen.163 Durch die Rentenreform von 1957 wurde die Asymmetrie des öffentlichen Generationenvertrages verstärkt. Die Alterssicherung wurde erheblich ausgebaut, die Familienförderung fand dagegen nur geringes Interesse. Diese Asymmetrie blieb auch in den folgenden Jahren erhalten. Zwar wurde die Familienförderung allmählich verbessert. Die Maßnahmen waren aber nur dem Drängen der Opposition, der Beharrlichkeit des Familienministers und wahltaktischen Überlegungen zu verdanken, und nicht einem systematischen Konzept. Im Dezember 1955 wurde der Empfängerkreis für das 1954 eingeführte Kindergeld erweitert; seitdem hatten auch Eltern, die nicht erwerbstätig waren, Anspruch auf das Kindergeld von 25 DM im Monat für das dritte Kind und weitere Kinder.164 In der indirekten Familienförderung wurde im Oktober 1956 der Steuerfreibetrag für das zweite Kind auf 120 DM heraufgesetzt; die Freibeträge von sechzig DM für das erste Kind und 140 DM für das dritte Kind und alle weiteren Kinder blieben unverändert.165 Ende 1956, als die Rentenreform kurz vor der Entscheidung stand, unternahm Familienminister Wuermeling einen neuen Vorstoß zur Reform des „Familienlastenausgleichs“. Zur Begründung wies er zum einen auf den „Geburtenschwund“ und das Altern der Gesellschaft hin, zum anderen auf die schwierige Lage großer Familien, die sich seit der Familiendenkschrift vom November 1955 nicht gebessert hatte. Familien mit drei oder mehr Kindern lebten am Existenzminimum, oder Schäffer an Wuermeling, 18. November 1955. BArchK B 136 / 6134. Erhard an Wuermeling, 20. Januar 1956. BArchK B 136 / 6134. 161 Storch an Wuermeling, 12. Mai 1956. BArchK B 136 / 6134. 162 Wuermeling an Storch, 14. Juni 1956. BArchK B 136 / 6134. 163 Adenauer an Staatssekretär Globke, 23. November 1955. BArchK B 136 / 6134. 164 Kindergeldergänzungsgesetz vom 27. Dezember 1955. BGBl. 1955 I, S. 841 – 849. 165 Gesetz zur Änderung des Einkommensteuergesetzes und Körperschaftssteuergesetzes vom 5. Oktober 1956. BGBl. 1956 I, S. 781 – 784. 159 160

IV. Familie

283

die Mutter müsse außerhalb des Hauses erwerbstätig sein. „Die Familien, welche die für die Gemeinschaft lebenswichtige Leistung erbringen, werden also in unserer heutigen Ordnung dafür geradezu bestraft.“166 Das demographische Argument beeindruckte den Kanzler mehr als die in der Familiendenkschrift vom November 1955 aufgezeigten wirtschaftlichen Probleme der Familien. Im April 1957 legte Wuermeling auf Wunsch Adenauers eine Denkschrift vor, in der er die demographische Bedeutung der Familienförderung darlegte. Die Denkschrift ging davon aus, dass die Geburtenzahlen in Deutschland seit fünfzig Jahren abnahmen. Die vorübergehende Stabilisierung der Geburtenrate in den dreißiger Jahren und in den frühen fünfziger Jahren wurde nicht als Trendwende gesehen. Nach Ansicht des Familienministers gab es eine ganze Reihe von Gründen für diese Entwicklung: (1) Die veränderte wirtschaftliche Situation der Familie, die nicht mehr Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft war, (2) die Überbewertung des Lebensstandards, (3) die Erwerbstätigkeit der verheirateten Frauen, (4) die Wohnungsnot, (5) Verhütung und Abtreibung, (6) der Frauenüberschuss als Folge der zwei Weltkriege, (7) die Zunahme der Ehescheidungen, (8) mangelndes Vertrauen und allgemeine Lebensangst. Die Denkschrift zitierte eine Umfrage des EMNID-Instituts, dass Ehepaare sich im Grunde mehr Kinder wünschten, als sie hatten. Weniger als ein Viertel aller kinderlosen Paare hielt eine Ehe ohne Kinder für die ideale Lebensform. Deshalb müsse vor allem die wirtschaftliche Situation der Familien verbessert werden, um junge Paare zur Familiengründung zu ermutigen. „Es kann für die Gemeinschaft nicht gleichgültig sein, wenn das Fundament der Lebenspyramide des Volkes, die Jugendgeneration, dauernd schwächer wird.“167 Eine Reform der Familienförderung scheiterte auch dieses Mal an dem Kostenargument. Im Hinblick auf die bevorstehenden Bundestagswahl wurde jedoch im Juli 1957 das Kindergeld, das Familien vom dritten Kind an erhielten, von 25 auf dreißig DM im Monat erhöht.168 Nachdem die CDU bei der Bundestagswahl vom September 1957 die absolute Mehrheit erreicht hatte, bestand kein Druck mehr zu weiteren Reformen. Außerdem entschärfte der Familienminister selbst das demographische Argument für die Familienförderung. Um die Bedeutung der Familienpolitik zu unterstreichen, informierte Wuermeling Adenauer im September 1957, dass die Geburtenzahl in letzter Zeit ansteige. Er interpretierte dies als Zeichen, „daß mit dem Einsatz unserer neuen Familienpolitik tatsächlich eine Wende eingetreten ist, indem die bis dahin fallende Kurve der Geburtenziffern seitdem wieder ansteigt, also der gefährliche abfallende Trend gebrochen ist.“169 Adenauer sah sich durch die demographische Stabilisierung in seiner zögerlichen Familienpolitik 166 Kurz-Denkschrift des Familienministeriums für Familienfragen zur Familienpolitik, 12. Dezember 1956. BArchK B 136 / 6134. 167 Denkschrift „Die Gründe unseres Geburtenrückgangs“. Wuermeling an Adenauer, 17. April 1957. BArchK B 136 / 6134. 168 Gesetz zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften der Kindergeldgesetze vom 27 Juni 1957. BGBl. 1957 I, S. 1061 – 1063. 169 Wuermeling an Adenauer, 3. September 1957. BArchK B 136 / 6134.

284

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

bestätigt.170 Die Bundesregierung achtete allerdings weiterhin auf eine gewisse Parallelität der beiden Komponenten der dualen Familienförderung. Nachdem im Juli 1957 das Kindergeld erhöht worden war, wurden im Juli 1958 die Steuerfreibeträge für das erste Kind auf 75 DM im Monat, für das zweite Kind auf 140 DM und für jedes weitere Kind auf 150 DM heraufgesetzt.171 In der Öffentlichkeit machte das familienpolitische Desinteresse der Bundesregierung keinen guten Eindruck. Anfang Januar 1959 einigte sich Familienminister Wuermeling mit dem Fraktionsvorsitzenden Heinrich Krone auf Maßnahmen, um das familienpolitische Image der CDU zu verbessern: „Gute Optik über grundsätzlich positive Einstellung der Fraktion wie der Bundesregierung zur Frage des Familienlastenausgleichs muss wieder hergestellt werden.“ Deshalb werde der Kanzler den Familienminister beauftragen, eine neue Denkschrift über die wirtschaftliche Situation der Familien zu erstellen. Außerdem sollte eine Expertenkommission zum „Familienausgleich“ gebildet werden, und das Kindergeld sollte demnächst angehoben werden.172 Das Kindergeld blieb nach wie vor auf kinderreiche Familien mit drei oder mehr Kindern beschränkt. Das Versprechen eines höheren Kindergeldes wurde aber im März 1959 eingelöst, mit einer Anhebung von dreißig auf vierzig DM im Monat.173 Im Juni 1959 übersandte Wuermeling dem Kanzler und dem Kabinett die vereinbarte Denkschrift zur wirtschaftlichen Situation der Familien, die wieder vom Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen erarbeitet worden war. Die Denkschrift begründete die Notwendigkeit einer Reform der Familienförderung mit dem langfristigen Geburtenrückgang und der Überalterung der Gesellschaft. Im Durchschnitt gebe es derzeit nur 1,8 Kinder in einer Familie. Als Hauptgrund für den Geburtenrückgang wurde die wirtschaftliche Situation der Familien angesehen. Es war nach Ansicht der Denkschrift staatspolitisch bedenklich, die Aufwendungen für die nächste Generation nur den Familien aufzuladen, denn die Familien sicherten auch die Altersversorgung der Personen, die keine Kinder aufzogen. Gefordert wurde eine Verbesserung des „Familienlastenausgleichs“, die innerhalb jeder Einkommensschicht einen Ausgleich zwischen Familien und Kinderlosen herstellen müsse.174 Die Denkschrift führte im Kabinett zu einem Sturm der Entrüstung, allerdings wieder einmal nicht über die schwierige Situation der Familien, sondern über Adenauer an Wuermeling, 13. September 1957. BArchK B 136 / 6134. Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften auf dem Gebiet von Einkommen und Ertrag und des Verfahrensrechts vom 18. Juli 1958. BGBl. 1958 I, S. 473 – 491. 172 Ergebnis einer Besprechung von Dr. Krone und Dr. Wuermeling, 22. Januar 1959. B 136 / 6135. 173 Zweites Gesetz zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften der Kindergeldgesetze vom 16. März 1959. BGBl. 1959 I, S. 153 – 154. 174 Denkschrift des Bundesministeriums für Familien- und Jugendfragen: Die wirtschaftliche Situation der Familien in der Bundesrepublik, 25. Juni 1959. BArchK B 136 / 6135. 170 171

IV. Familie

285

den Familienminister, der mit seiner Denkschrift auf die schwierige Situation der Familien aufmerksam machte. Die Kritik des Kabinetts war noch heftiger als die Reaktion auf die Familiendenkschrift vom November 1955. Mitte der fünfziger Jahre war der Wiederaufbau gerade erst in einen wirtschaftlichen Wachstumsprozess übergegangen, und dass es in dieser Situation noch viele Menschen in Not gab, war allgemein bekannt. Ende der fünfziger Jahre rechnete die Bundesregierung sich jedoch als Erfolg an, dass ihre Wirtschaftspolitik zu einem kräftigen Anstieg des Lebensstandards geführt habe, und der Nachweis, dass ein großer Teil der Familien in Armut lebte, passte nicht in dieses harmonische Bild. In einer Ressortbesprechung am 15. Juli 1959 brachte das Wirtschaftsministerium den Unmut auf den Punkt: „Es steckt hier auch im Grunde genommen eine massive Kritik am Wirtschaftssystem.“175 Die Familiendenkschrift wurde zurückgezogen und sollte überarbeitet werden.176 Aber auch die nachgebesserte Version, die der Familienminister im November 1959 vorlegte, wurde vom Kabinett abgelehnt.177 Inzwischen wurde die Familiendenkschrift jedoch trotz der offiziellen Ablehnung in der Öffentlichkeit bekannt. Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen veröffentlichte schließlich die Denkschrift 1961 in eigener Verantwortung.178 Wieder einmal war es dem Familienminister nicht gelungen, Kanzler und Kabinett mit einer wissenschaftlichen Analyse der Situation der Familien von der Notwendigkeit einer angemessenen Familienförderung zu überzeugen. Die neue Familiendenkschrift brachte jedoch Bewegung in die bis dahin stagnierende Familienpolitik.179 Die SPD stellte im Oktober 1959 im Bundestag eine große Anfrage zum Kindergeld. Das in der Öffentlichkeit verbreitete Image der CDU als Hüterin der Familie war beschädigt. Nicht die Konservativen, sondern die Sozialdemokraten erschienen als die treibende Kraft zum Ausbau der Familienförderung. In der Kabinettsitzung vom 19. Oktober 1959 wurde daraufhin beschlossen, dass das Kindergeld auf das zweite Kind in einer Familie ausdehnt werden sollte.180 Unterdessen verstärkte sich der Druck der Öffentlichkeit auf die Regierung. Der Präsident des Deutschen Familienverbandes Frank Umstaetter mahnte im November 1959 bei dem Fraktionsvorsitzenden Krone einen Ausbau des „Familienlastenausgleichs“ an und kritisierte die bisherige mangelhafte Familienpolitik. Es habe nur Worte gegeben, keine Taten.181 Ein Jahr später drängte Umstaetter im Novem175

Kanzleramt, Protokoll der Ressortbesprechung vom 15. Juli 1959. BArchK B 136 /

6135. Kanzleramt an Adenauer, 24. Juli 1959. BArchK B 136 / 6135.. Kanzleramt, Vermerk vom 23. November 1959. BArchK B 136 / 6135. 178 Helga Schmucker / Hermann Schubnell / Oswald von Nell-Breuning / Willi Albers / Gerhard Wurzbacher, Die ökonomische Lage der Familie in der Bundesrepublik Deutschland. Tatbestände und Zusammenhänge, Stuttgart 1961. 179 Kuller, Familienpolitik (wie Anm. 3), S. 177 – 184; Nelleßen-Strauch, Kampf ums Kindergeld (wie Anm. 138), S. 216 – 245. 180 Kanzleramt, Vermerk vom 25. Oktober 1959. BArchK B 136 / 6135. 181 Umstaetter an Krone, 4. November 1959. BArchK B 136 / 6135. 176 177

286

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

ber 1960 erneut auf eine Verbesserung des „Familienlastenausgleichs“, diesmal bei Bundeskanzler Adenauer. Er verlangte konkret die Ausdehnung des Kindergeldes auf das zweite Kind in allen Familien.182 Im Februar 1961 legte Adenauer in einer Besprechung mit Familienminister Wuermeling und Arbeitsminister Blank die Ziele für eine Verbesserung der Familienförderung fest. Für das zweite Kind in einer Familie sollte ein Kindergeld von 25 DM im Monat eingeführt werden, begrenzt auf Familien bis zu einem Monatseinkommen von 550 DM. Für das neue Kindergeld sollte eine besondere Kindergeldkasse als Anstalt des öffentlichen Rechts bei der Bundesanstalt für Arbeit eingerichtet werden. Die Leistungen sollten durch Beiträge der Unternehmer und des Bundes finanziert werden.183 Im Juli 1961 wurde das Kindergeld für das zweite Kind eingeführt. Es war auf Familien mit einem Monatseinkommen bis zu 600 DM beschränkt und betrug 25 DM. Die Finanzierung erfolgte im Unterschied zu den früheren Plänen ausschließlich aus Steuermitteln. Die Verwaltung des neuen Kindergeldes wurde einer neuen Kindergeldkasse übertragen, die bei der Bundesanstalt für Arbeit eingerichtet wurde.184 In der indirekten Familienförderung wurde im August 1961 der Freibetrag für das erste Kind auf 100 DM erhöht; die Freibeträge von 140 DM für das zweite Kind und 150 DM für das dritte Kind und alle weiteren Kinder blieben unverändert.185 Mit der Einführung einer staatlichen Unterstützung für das zweite Kind in einer Familie wurde das Kindergeld allmählich aus dem Legitimationszusammenhang des Familienlohns gelöst und als staatliche Sozialleistung anerkannt. Aber das System der Familienförderung blieb immer noch unübersichtlich und auch unzulänglich. Wuermeling wandte sich im November 1962 in einer persönlichen Intervention an Adenauer. Er beklagte, dass das Arbeitsministerium seit Jahren den Ausbau der Familienförderung blockiere, und drängte Adenauer, die Initiative zu einer Reform zu ergreifen. Die Kritik traf im Grunde nicht nur den Arbeitsminister, sondern ebenso den Kanzler.186 Erfolg hatte Wuermeling mit seinem Appell nicht; in der Regierungspartei galt der unliebsame Mahner inzwischen als lästiger Querulant. Dass die Forderung nach einer Reform der Familienförderung aus der Perspektive der Generationengerechtigkeit begründet war, wurde aber durch eine Untersuchung des Familienministeriums über die generationenspezifischen Sozialausgaben bestätigt. Danach entfielen 1963 von den gesamten staatlichen Leistungen für die soziale Sicherheit auf die öffentliche Rentenversicherung 53 Prozent, auf den Familienlastenausgleich dagegen nur acht Prozent.187 Umstaetter an Adenauer, 13. November 1960. BArchK B 136 / 6135. Kanzleramt, Vermerk vom 2. Februar 1961. BArchK B 136 / 6135. 184 Gesetz über die Gewährung von Kindergeld für zweite Kinder und die Errichtung einer Kindergeldkasse vom 18. Juli 1961. BGBl. 1961 I, S. 1001 – 1009. 185 Gesetz zur Änderung des Einkommensteuergesetzes vom 15. August 1961. BGBl. 1961 I, S. 1254 – 1291. 186 Wuermeling an Adenauer, 26. November 1962. BArchK B 136 / 6136. 182 183

IV. Familie

287

Bundeskanzler Ludwig Erhard versprach in seiner Regierungserklärung 1963 eine Verbesserung des „Familien-Lastenausgleichs“. 188 Das war ein Zugeständnis an die öffentliche Meinung, aber kein besonders Anliegen des neuen Kanzlers, der in seiner Zeit als Wirtschaftsminister beharrlich als Kritiker der Familienförderung aufgetreten war. Im Dezember 1963 nannte Erhard in einem Vortrag vor der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände in Bad Godesberg als Beispiel für die gefährliche Tendenz zur Kollektivierung ausgerechnet das Kindergeld, sehr zur Irritation des neuen Familienministers Bruno Heck.189 Dennoch wurde 1964 eine Reform der Familienförderung durchgeführt, die nach dem bisherigen Stückwerk einen deutlichen Fortschritt darstellte.190 Grundlage der Familienförderung blieb das duale System, das aus Kindergeld und Steuerermäßigungen bestand. Das Kindergeld wurde einheitlich aus dem Bundeshaushalt finanziert. Die direkte Familienförderung durch das Kindergeld sollte in einkommensschwachen Familien die indirekte Förderung durch die Steuerermäßigungen ergänzen, weil die Steuerersparnis bei niedrigen Einkommen gering war. Die Einkommensgrenze wurde für kleine Familien auf 600 DM im Monat und für Familien mit drei oder mehr Kindern auf 700 DM festgelegt. Das Kindergeld betrug, gestaffelt nach der Zahl der Kinder, für das zweite Kind 25 DM, für das dritte Kind fünfzig DM, für das vierte Kind sechzig DM, für das fünfte und alle weiteren Kinder siebzig DM. Für die Familien mit höherem Einkommen, die kein Kindergeld erhielten, galt die indirekte Familienförderung durch die Steuerfreibeträge als ausreichend.191 Für kinderreiche Familien mit mehr als zwei Kindern wurden die Einkommensgrenzen 1965 aufgehoben.192 Inzwischen wurde es zur Routine, dass das Familienministerium bei jedem Regierungswechsel einen Ausbau der Familienförderung anmahnte. So wies das Familienministerium, nachdem die Regierung der Großen Koalition gebildet worden war, 1967 wieder einmal auf das „gesellschaftspolitisch unbefriedigende Ungleichgewicht von Altersversorgung und Familienlastenausgleich“ hin, das sich bei einem Vergleich der sozialen Leistungen für beide Bereiche zeige.193 Die Besteuerung von Ehepaaren war seit der Einführung der Reichseinkommensteuer 1920 umstritten. Die Bundesrepublik Deutschland übernahm zunächst das 1941 eingeführte Verfahren, nach dem die Zusammenveranlagung die Regel und 187 Bundesministerium für Familie und Jugend, Anteil des Familienlastenausgleichs an den Gesamtausgaben für soziale Sicherheit, 16. Juni 1967. BArchK B 189 / 533. 188 Bundestagssitzung vom 18. Oktober 1963. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 4. Wahlperiode, Stenographische Berichte, Bd. 53, S. 4202. 189 Heck an Erhard, 9. Dezember 1963. BArchK B 136 / 3136. 190 Nelleßen-Strauch, Kampf ums Kindergeld (wie Anm. 138), S. 246 – 270. 191 Bundeskindergeldgesetz vom 14. April 1964. BGBl. 1964 I, S. 265 – 276. 192 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 32), Bd. 3, 115 – 118. 193 Bundesministerium für Familie und Jugend, Anteil des Familienlastenausgleichs an den Gesamtausgaben für soziale Sicherheit, 16. Juni 1967. BArchK B 189 / 533.

288

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

die individuelle Besteuerung der Ehepartner eine Ausnahmemöglichkeit war.194 1957 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Zusammenveranlagung für verfassungswidrig. Da ein Ehepaar bei der Zusammenrechnung der Einkünfte in eine höhere Progressionsstufe geriet als zwei Alleinstehende mit vergleichbaren Einkommen, widersprach das Verfahren nach dem Urteil der Verfassungsrichter dem im Grundgesetz gewährten Schutz der Ehe.195 Um eine verfassungskonforme Lösung zu finden, wurde 1958 ein Verfahren eingeführt, das seitdem als EhegattenSplitting bekannt geworden ist. Das Familieneinkommen wurde nach wie vor zusammen veranlagt, wenn die Ehepartner nicht ausdrücklich eine getrennte Veranlagung wünschten. Das Gesamteinkommen wurde rechnerisch geteilt, und jede Hälfte wurde mit der entsprechenden Progressionsstufe besteuert. Das gemeinsame Einkommen eines Ehepaares wurde im Durchschnitt in der gleichen Höhe besteuert wie zwei individuelle Einkommen.196 Die Steuerreduzierung durch das Ehegattensplitting war wesentlich größer als der Gesamtbetrag der dualen Familienförderung. Nach einer Schätzung des Finanzministeriums betrug 1965 das Gesamtvolumen der Ehe- und Familienförderung 19 Milliarden DM. Davon entfielen auf das Ehegattensplitting 53 Prozent, auf die Steuervergünstigungen für Familien 21 Prozent, auf das Kindergeld 14 Prozent, auf die Kinderzulagen im öffentlichen Dienst neun Prozent und auf die Leistungen der Sozialversicherungsträger für Kinder drei Prozent.197 Da in den fünfziger Jahren die meisten Heiraten früher oder später zur Gründung einer Familie führten, galt das Ehegatten-Splitting indirekt auch als Instrument der Familienförderung. Nachdem die Zahl der kinderlosen Ehen zunahm, ging die familienpolitische Bedeutung des Ehegatten-Splitting zurück. Die Legitimation des Verfahrens wurde durch diese Entwicklung jedoch nicht berührt, da das Ziel die Vermeidung einer steuerlichen Diskriminierung von Ehepaaren und nicht die Familienförderung war. 4. Familienökonomie In der Nachkriegszeit und in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland war die materielle Not noch weit verbreitet. Hilde Thurnwald zeigte die Not Berliner Familien am Beginn des Wiederaufbaus. Das Monatseinkommen eines Facharbeiters oder Angestellten genügte in der Regel, um die wenigen rationierten Lebensmittel und anderen Konsumgütern zu kaufen. Das reichte aber nicht aus, um Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu erhalten. Wenn andere Familienmitglieder ein regelmäßiges Einkommen hatten oder durch Schwarzarbeit Geld 194 Kuller, Familienpolitik (wie Anm. 3), S. 173 – 175; Mechtild Veil, Frauenarbeit, Steuern und Familie: Familienbesteuerung aus der Sicht von Frauen, in: Zeitschrift für Frauenforschung, 3 (1995). 195 Entscheidung vom 17. Januar 1957. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 6, S. 55 – 84. 196 Steueränderungsgesetz vom 18. Juli 1958. BGBl. 1958 I, S. 473 – 513. 197 Vermerk über kinderbezogene Leistungen, Stand 1965 / 66. BArchK B 136 / 6141.

IV. Familie

289

verdienten, waren Zukäufe auf dem Schwarzen Markt möglich. Häufig wurde versucht, durch den Verkauf von Haushaltsgegenständen und sonstigen Vermögenswerten, durch mühsame Hamsterfahrten oder durch Schwarzmarkthandel an Lebensmittel, Textilien, Schuhe und Heizmaterial zu gelangen. Neben der individuellen Geschicklichkeit in der Kunst des Überlebens hatte der Familienzyklus Einfluss auf den Lebensstandard. Familien mit kleinen Kindern litten besonders unter der Not. Günstiger war die Situation, wenn die Kinder größer waren und zum Familieneinkommen beitragen konnten.198 Nach der Währungsreform verbesserte sich mit steigenden Realeinkommen die Lebenssituation der Familien. In den Untersuchungen der fünfziger Jahre stand nicht mehr die allgemeine Not, sondern die Differenzierung der Einkommen und des Konsums im Vordergrund. Eine Enquête, die zu Beginn der fünfziger Jahre in Hessen durchgeführt wurde, wies besonders darauf hin, dass trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs Kinder ein Armutsrisiko waren. In Familien, die von dem Lohn eines ungelernten Arbeiters lebten, lag das Einkommen manchmal schon bei zwei Kindern, in der Regel bei drei Kindern unter dem Niveau der Fürsorge. Die Lebensverhältnisse der Familien von ungelernten Arbeitern, hieß es, „sind nahe an der Elendsgrenze“.199 Die Beobachter fanden es auch nachteilig, dass die unzulänglichen Einkommen im Widerspruch zu dem bürgerlichen Familienideal standen. Die wirtschaftliche Lage vieler Familien „legt auch Frauen mit jüngeren Kindern die Erwerbstätigkeit nahe. Die Erziehungsaufgaben machen es erwünscht, dass diese Erwerbstätigkeit möglichst unterbleibt“.200 Eine in der Mitte der fünfziger Jahre in Westberlin durchgeführte Untersuchung zeigte, dass sich die Verhältnisse seit den ersten Nachkriegsjahren wesentlich verbessert haben. Armut bedeutete nicht mehr Hunger, zerrissene Kleidung und das Überwintern in kalten Wohnungen, wohl aber ein Zurückbleiben hinter dem allgemeinen Lebensstandard. Die Armutsgrenze wurde nach der Zusammensetzung der Haushalte errechnet. Nach den Löhnen und Preisen von 1954 galten für einen alleinstehenden Erwerbstätigen 150 DM monatlich, für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern 280 DM und für eine Familie mit vier Kindern 360 DM als Armutsgrenze. Nach diesen Kriterien waren 22 Prozent der Haushalte objektiv arm. Kinderreichtum konnte auch bei einem regelmäßigen Erwerbseinkommen zu Armut führen. Das zeigte das Beispiel einer Arbeiterfamilie, die dem familienpolitischen Ideal der Zeit folgte, mit einem erwerbstätigen Mann, einer nicht erwerbstätigen Hausfrau und zwei minderjährigen Kindern. Der Mann war zwar regelmäßig beschäftigt, aber da er als ungelernter Arbeiter wenig verdiente, lebte die Familie unterhalb der Armutsgrenze. Andere Armutsursachen waren Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter, Kriegsfolgen wie Invalidität, Kriegswitwen, Unterbrechung von Ausbildung Thurnwald, Gegenwartsprobleme Berliner Familien (wie Anm. 79), S. 63 – 83. H. Achinger / S. Archinal / W. Bangert, Reicht der Lohn für Kinder? Eine Untersuchung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten Frankfurt / Main über die wirtschaftliche Lage junger Familien, Frankfurt am Main 1952, S. 62. 200 Achinger / Archinal / Bangert, Reicht der Lohn für Kinder (wie Anm. 199), S. 47. 198 199

19 Hardach

290

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

oder Beruf, und Vermögensverluste.201 Die bedrückte Lage vieler kinderreicher Familien zeigte auch die Denkschrift, die der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen im November 1955 in der politischen Debatte um die Reform der Familienförderung vorlegte. Die Familienexperten wiesen darauf hin, dass die Familien einen erheblichen Teil ihres Einkommens für die Versorgung der Kinder aufwandten. Bei einem Erwerbstätigen in der Familie und einem für damalige Verhältnisse durchschnittlichen Monatseinkommen von 400 DM wurden die Kosten für das erste Kind auf achtzig DM, für das zweite Kind auf 72 DM und für das dritte Kind und alle weiteren Kinder auf jeweils 68 DM geschätzt. Das Aufziehen mehrerer Kinder brachte eine Familie auch bei einem mittleren Einkommen in die Nähe der Bezüge der Fürsorgeempfänger, oder noch darunter. Da der allgemeine Lebensstandard zunehmend von kinderlosen Paaren oder Familien mit einem Kind bestimmt wurde, gab es eine „Deklassierung der Mehrkinderfamilie“.202 Andere Untersuchungen bestätigten, dass das bürgerliche Familienideal, nach dem der Ehemann der einzige Erwerbstätige sein sollte, in Arbeiterfamilien mit mehreren Kindern zu Armut führen konnte.203 Das wirtschaftliche Wachstum ließ den Lebensstandard in allen Generationen ansteigen. Die höheren Realeinkommen drängten die Bedeutung der Ernährung im Haushaltsbudget weiter zurück und eröffnete differenziertere Konsummöglichkeiten. In den Jahren 1955 – 1959 machten Nahrungsmittel nur noch dreißig Prozent des privaten Verbrauchs aus, 15 Prozent entfielen auf Bekleidung, zehn Prozent auf die Wohnung, 14 Prozent auf Möbel, Hausrat, Heizung und Beleuchtung, elf Prozent auf Verkehr, neun Prozent auf Genussmittel und elf Prozent auf häusliche Dienste, Gesundheitspflege, Bildung, Erholung und sonstige Ausgaben.204 Dennoch war Ende der fünfziger Jahre die materielle Lage vieler Familien immer noch schwierig. Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen schätzte 1959, dass die untere Grenze für die Versorgung eines Kindes achtzig DM betrug. Das entsprach der Unterstützung, die von der Fürsorge für Kinder bis zum 18. Lebensjahr geleistet wurde. In den letzten Jahren war die Familienförderung zwar verbessert worden, aber das wichtigste Instrument, die Erhöhung der Freibeträge für Kinder bei der Einkommensteuer, kam vor allem den Familien mit höherem Einkommen 201 Stephanie Münke, Die Armut in der heutigen Gesellschaft. Ergebnisse einer Untersuchung in Westberlin, Berlin 1956. 202 Der Familien-Lastenausgleich. Erwägungen zur gesetzgeberischen Verwirklichung. Eine Denkschrift des Bundesministers für Familienfragen. Bonn, November 1955. BArchK B 136 / 6134. 203 Peter Deneff, Die Aufwendungen für Kinder in Arbeitnehmerhaushaltungen, in: Wirtschaft und Statistik, 7 (1955); Manfred Euler, Der Einfluß steigender Kinderzahl auf die Lebenshaltung von Arbeitnehmerhaushalten. Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1962 / 63, in: Wirtschaft und Statistik, 18 (1966); Helga Schmucker, Zur sozialpolitischen Bedeutung des Familieneinkommens, in: Zeitschrift für Sozialen Fortschritt (1955), Heft 3, S. 62 – 64. 204 Hoffmann / Grumbach / Hesse, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 27), S. 116 – 117.

V. Alter

291

zugute. Nach Ansicht der Familienexperten wurde der Lebensstandard in vielen Familien nach wie vor durch Kinder erheblich beeinträchtigt. Wenn nur ein Einkommen in der Familie erzielt werde, sinke die Lebenshaltung bei vielen Familien auf den Status der Fürsorgeempfänger. Ein Viertel der Familien mit zwei Kindern lebte nach Meinung der Experten auf dem Fürsorgeniveau, von den Familien mit drei Kindern wäre es schon ein Drittel, und von den Familien mit vier Kindern würden nach den Fürsorgerichtlinien sogar zwei Drittel als arm gelten.205

V. Alter 1. Die Ausdehnung des Ruhestandes Der steigende Lebensstandard schlug sich in der Bundesrepublik Deutschland auch in einer Zunahme der Lebenserwartung der älteren Menschen nieder. 1967 – 1969 war die Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren für Männer auf zwölf Jahre und für Frauen auf 15 Jahre gestiegen.206 Die Altersarbeit hatte zunächst noch einige Bedeutung. 1950 gehörten in der Altersgruppe ab 65 Jahren noch 26 Prozent der Männer und neun Prozent der Frauen zu den Erwerbspersonen. Das wirtschaftliche Wachstum und die Rentenreform von 1957, mit der die meisten Renten zu einem ausreichenden Sozialeinkommen ausgebaut wurden, ließen die Altersarbeit jedoch zurückgehen. 1971 war die Erwerbsquote in der Altersgruppe ab 65 Jahren bei den Männern auf 18 Prozent und bei den Frauen auf sechs Prozent gesunken.207

2. Die Rente als Sozialeinkommen Nachdem die Pläne des Kontrollrats für eine einheitliche Sozialversicherung gescheitert waren, knüpfte man in Westdeutschland an die Tradition der öffentlichen Rentenversicherung aus der Zeit der Weimarer Republik an. Die Selbstverwaltung der Rentenversicherung wurde wiederhergestellt. Die Differenzierung der Rentenversicherung in die Arbeiterversicherung, die Angestelltenversicherung und die Knappschaftliche Versicherung blieb bestehen. Für die Arbeiterversicherung blieben die Landesversicherungsanstalten zuständig. Als Trägerin der Angestelltenversicherung wurde 1953 die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte gegründet. Auch in West-Berlin wurde die Einheitsversicherung aufgelöst, und es wurde wieder die institutionell differenzierte Sozialversicherung eingeführt.208 205 Denkschrift des Bundesministeriums für Familien- und Jugendfragen: Die wirtschaftliche Situation der Familien in der Bundesrepublik, 25. Juni 1959. BArchK B 136 / 6135. 206 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 110. 207 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 4), S. 144. 208 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 32), Bd. 3, S. 43 – 46.

19*

292

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

Nach dem Krieg fielen die Rentenzahlungen für einige Monate aus, da die Verwaltung der Sozialversicherung zusammengebrochen war. Bis Anfang 1946 wurden die Rentenzahlungen aber in den vier Besatzungszonen und in Berlin nach und nach wieder aufgenommen.209 Mit der Währungsreform von 1948 wurde die Rentenversicherung auf die neue Währung umgestellt. Im Juni 1949, kurz vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, wurde in der Amerikanisch-Britischen Bizone eine Rentenreform durchgeführt. Die Renten wurden etwas erhöht, waren aber auch danach bescheiden. Die Mindestrente betrug fünfzig DM im Monat für Versicherte, vierzig DM für Witwen oder Witwer und dreißig DM für Waisen. Der Beitragssatz wurde von den unrealistisch niedrigen sechs Prozent auf zehn Prozent erhöht.210 In den frühen fünfziger Jahren wurden die Renten wiederholt angehoben. 1955 betrug die Rente im Durchschnitt aller Versicherungszweige 117 DM im Monat. Sie erreichte damit 38 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.211 Das Rentenniveau galt immer noch als unzulänglich, aber zu dieser Zeit hatte bereits die Rentenreform begonnen. Die Rentenreform sollte ursprünglich ein Bestandteil der umfassenden Sozialreform sein, die Bundeskanzler Adenauer in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1953 ankündigte. In der „Rothenfelser Denkschrift vom Mai 1955 stellten die Professoren Hans Achinger, Joseph Höffner, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer einen Reformplan vor, in dessen Mittelpunkt eine Rentenreform stand. Die Experten empfahlen in Übereinstimmung mit den rentenpolitischen Vorstellungen, die Wilfrid Schreiber im Rahmen seines „Solidar-Pakts“ zwischen den Generationen entwickelt hatte, die Renten jährlich an die Entwicklung der Löhne und Gehälter anzupassen. Dadurch wurde es erforderlich, das Umlageverfahren, das neben der Kapitaldeckung schon seit 1889 bestand, zur einzigen Finanzierungsgrundlage der Rentenversicherung zu machen. Die Experten gingen davon aus, dass die Alterseinkommen unter Berücksichtigung der Lebenssituation älterer Menschen im Durchschnitt 75 Prozent des aktuellen Erwerbseinkommens erreichen müssten. Ein Drittel des Alterseinkommens sollte durch private Vorsorge oder betriebliche Zusatzrenten finanziert werden, so dass durch die öffentliche Rentenversicherung eine Altersrente in Höhe von fünfzig Prozent des letzten Erwerbseinkommens zu finanzieren wäre. Die Beiträge sollten so festgesetzt werden, dass sie die Finanzierung des aktuellen Rentenvolumens und die Bildung einer bescheidenen Rücklage ermöglichten.212 Anfang Dezember 1955 wurde das Ziel einer umfassenden Sozialreform aufgegeben, und die Planung konzentrierte sich auf eine Reform der Rentenversiche209

Schmähl, Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene (wie Anm. 39), S. 421 –

429. 210

Schmähl, Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene (wie Anm. 39), S. 454 –

457. Arbeits- und Sozialstatistik, 27 (1976), S. 286. Achinger / Höffner / Muthesius / Neundörfer an Adenauer, 22. Mai 1955. BArchK B 136 / 1381; Schreiber, Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft (wie Anm. 53). 211 212

V. Alter

293

rung. Nach einem Memorandum des Interministeriellen Ausschusses, in dem Experten aus mehreren Bundesministerien vertreten waren, war die Rentenreform notwendig, weil die Renten, die aus dem Erwerbseinkommen früherer Perioden abgeleitet wurden, hinter der Entwicklung der Löhne und Gehälter zurückblieben. Die derzeitigen Renten seien „offensichtlich unzureichend“. Die Renten müssten regelmäßig an die Löhne und Gehälter angepasst werden, und dazu war ein Übergang von der Kapitaldeckung zur Umlagefinanzierung notwendig. Der Aufwand für die höheren Renten war beträchtlich, galt aber als finanzierbar. Der Verteilungsdiskurs hatte sich von der Klasse zur Generation verschoben. Adressat der Rentenreform war nicht mehr, wie bei der Einführung der Rentenversicherung 1889, die Arbeiterklasse, sondern die Ruhestandsgeneration. Die Anpassung der Renten an die aktuellen Gehälter sei „Voraussetzung für die Anerkennung der sozialen Marktwirtschaft durch die aus dem Produktionsprozeß ausgeschiedenen Personen.“213 Wilfrid Schreiber, der die Diskussion über eine lohnbezogene Rente angestoßen hatte, konnte im Dezember 1955 seine rentenpolitischen Vorstellungen einbringen. Das Konzept seines „Solidar-Vertrages“ zwischen den Generationen, nach dem parallel zur Rentenreform die Familienförderung ausgebaut werden sollte, wurde von der Politik aber nicht aufgenommen.214 Schreibers Intervention gab den Beratungen zu diesem Zeitpunkt keine neue Wendung mehr, bestärkte Bundeskanzler Adenauer und das Kabinett aber in dem Entschluss, die Sozialreform auf die Neugestaltung der Altersrenten zu konzentrieren. Kern der Neuordnung sollte, wie es nach einer Sitzung des Sozialkabinetts im Januar 1956 hieß, der „Übergang von der statischen zur sogenannten dynamischen Leistungsrente“ sein.215 Der Begriff der „dynamischen Rente“, der von dem Wirtschaftswissenschaftler J. H. Müller stammte, stieß auf Bedenken und sollte im offiziellen Sprachgebrauch durch den Ausdruck „Produktivitätsrente“ ersetzt werden. In der Öffentlichkeit setzte sich jedoch der Begriff der „dynamischen Rente“ durch. Anfang 1956 begann die parlamentarische Auseinandersetzung um die Rentenreform, begleitet von einer intensiven öffentlichen Diskussion. Für Bundeskanzler Adenauer war die Rentenreform ein Prestigeprojekt, mit dem er nicht zuletzt auch die umstrittene 1956 eingeführte Wehrpflicht politisch ausbalancieren wollte. Er 213 Interministerieller Ausschuss für die Sozialreform, Die Gestaltung der Alterssicherung für die in der sozialen Rentenversicherung pflichtversicherten Personen, 23. November 1955. BArchK B 136 / 1362. 214 Staatssekretär des Bundeskanzleramtes Globke an Schreiber, 6. Dezember 1955. BArchK B 136 / 1384; Schreiber an Pühl, Referat „Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft“ (Entwurf) für die Sitzung am 13. Dezember 1955. BArchK B 136 / 1384; Wilfrid Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, 13. Dezember 1955. BArchK Nachlass Schreiber N 1331 / 22; Wilfrid Schreiber, Zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Memorandum zur Ergänzung meines Referats vor dem Ministerausschuss für die Sozialreform zu Bonn am 13. Dezember 1955. Dem Herrn Bundeskanzler und dem Ministerausschuss der Bundesregierung vorgelegt am 31. Dezember 1955. BArchK B 136 / 1384. 215 Kanzleramt, Beschlüsse des Sozialkabinetts zur Sozialreform, 19. Januar 1956. BArchK B 149 / 392; Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen (wie Anm. 40), S. 312.

294

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

konnte sich aber, ähnlich wie Bismarck bei der Sozialreform von 1881 – 1889, nicht auf eine feste Regierungsmehrheit stützen, sondern musste im Parlament um Zustimmung werben. Die kleinen Koalitionspartner waren mehrheitlich gegen die Reform eingestellt, und auch unter den Abgeordneten der CDU gab es viele Skeptiker. Zu den Reformgegnern gehörten sogar wichtige Kabinettsmitglieder wie Wirtschaftsminister Erhard und Finanzminister Schäffer. Unterstützung konnte der Kanzler von der SPD erwarten, allerdings musste er dann ihren Vorstellungen entgegenkommen. Im Spektrum der Interessenverbände traten die Unternehmerverbände heftig gegen die Rentenreform auf, während bei den Gewerkschaften die Zustimmung überwog.216 Im April 1956 ergriff die SPD die Initiative und legte im Bundestag einen Gesetzentwurf zur Reform der Rentenversicherung vor. Der Entwurf übernahm aus dem Konzept der Regierung, das inzwischen durch eine breite öffentliche Diskussion bekannt war, die Anpassung der Renten an die Löhne und Gehälter und den Übergang zur Umlagefinanzierung. Der Beitragssatz, der wie bisher je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufzubringen war, sollte zwölf Prozent betragen.217 Anfang Mai überwies der Bundestag den Gesetzentwurf der SPD an den Ausschuss für Sozialpolitik.218 Die Regierung leitete dem Bundestag im Juni 1956 einen eigenen Entwurf zu.219 Beide Entwürfe waren von dem Ziel geprägt, einen parlamentarischen Kompromiss zu erreichen und wichen daher nicht weit voneinander ab. Im September 1956 nahm der Sozialpolitische Ausschuss des Bundestages die Beratungen über die Rentenreform auf und legte im Januar 1957 seinen Bericht vor. Der Bericht beruhte auf dem Regierungsentwurf, nahm aber auch viele Vorschläge der SPD auf.220 Die Rentenreform wurde am 21. Januar 1957 mit einer großen Mehrheit von 397 Stimmen bei 32 Gegenstimmen und 10 Enthaltungen beschlossen.221 Ziel der Reform war es, die Altersrenten aus dem Armutsniveau früherer Zeiten herausführen und zu einem existenzsichernden Sozialeinkommen ausbauen. Die Renten Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen (wie Anm. 40), S. 320 – 421. Antrag der Fraktion der SPD. Entwurf eines Gesetzes über die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (Rentenversicherungsgesetz), 18. April 1956. Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode 1953, Anlagen-Band 41, Drucksache 2314. 218 Bundestagssitzung vom 4. Mai 1956. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, 2. Wahlperiode 1953, Bd. 29, 7563 – 7573. 219 Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 5. Juni 1956. Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode 1953, AnlagenBand 41, Drucksache 2437. 220 Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten und den Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, 10. Januar 1957. Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode 1953, Anlagen-Band 48, Drucksache 3080. 221 Bundestagssitzung vom 21. Januar 1957. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, Bd. 34, S. 10507 – 10637. 216 217

V. Alter

295

der Arbeiter und Angestellten wurden im Wesentlichen einheitlich geregelt, die institutionelle Trennung in die Landesversicherungsanstalten, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und die Knappschaftsversicherung blieb jedoch erhalten. In der Angestelltenversicherung blieb eine Einkommensgrenze für die Mitgliedschaft bestehen. Die Renten hingen von der Dauer der beitragspflichtigen Erwerbstätigkeit oder beitragsfreier Anrechnungszeiten, von der Höhe des Einkommens und einer allgemeinen Anpassung an die aktuellen Arbeitseinkommen ab. Die Bruttoanpassung wurde bewusst gewählt, um die große Lücke, die zwischen den Erwerbseinkommen und den Renten bestand, allmählich zu verringern. Da die Renten von der Besteuerung weitgehend ausgenommen waren, stiegen bei einer Bruttoanpassung die Nettorenten stärker als die Nettolöhne. Die höchste Rente, die auch als Standardrente bezeichnet wurde, sollte nach 45 Jahren sechzig Prozent des Bruttoeinkommens erreichen. Die Witwenrenten oder Witwerrenten wurden auf sechzig Prozent der Altersrenten festgesetzt, die Waisenrenten auf zwanzig Prozent für Vollwaisen und zehn Prozent für Halbweisen. Die Mindestrenten wurden abgeschafft, da sie nach der Dynamisierung der Renten nicht mehr notwendig zu sein schienen. Der Aufbau einer Kapitaldeckung war nicht mehr vorgesehen. Die regulären Renten sollten zu gleichen Teilen von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern finanziert werden. Staatliche Zuschüsse aus allgemeinen Steuermitteln sollten nur noch zum Ausgleich für politisch gewollte besondere Leistungen der Rentenversicherung gewährt werden. Der gemeinsame Beitrag von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wurde auf 14 Prozent der Löhne und Gehälter festgesetzt.222 Die Pflichtmitgliedschaft in der öffentlichen Rentenversicherung wurde nach der Rentenreform weiter ausgedehnt. Die als mithelfende Familienangehörige beschäftigten Ehepartner von Selbständigen wurden 1966 in die Rentenversicherung einbezogen.223 1967 wurde die Einkommensgrenze für die Pflichtmitgliedschaft in der Angestelltenversicherung aufgehoben, um den Kreis der Beitragszahler und Beitragszahlerinnen zu erweitern.224 Die Beiträge und damit auch das Leistungsniveau blieben allerdings durch die Beitragsbemessungsgrenze limitiert. 1970 betrug die Bemessungsgrenze 1800 DM. Einkommensbestandteile, die über diese Grenze hinausgingen, waren nicht beitragspflichtig, und sie gingen auch nicht in die Rentenberechnung ein.225 Durch die institutionelle Erweiterung, aber auch durch den wachsenden Anteil der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an den Beschäftigten, nahm der Umfang der öffentlichen Rentenversicherung weiter zu.226 222 Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter vom 23. Februar 1957. BGBl. 1957 I, S. 45 – 87. Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten vom 23. Februar 1957. BGBl. 1957 I, S. 88 – 131. 223 Zweites Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 27. Dezember 1966. BGBl. 1966 I, S. 745. 224 Finanzänderungsgesetz vom 21. Dezember 1967. BGBl. 1967 I, S. 1259. 225 Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Rentenversicherung in Zeitreihen, Frankfurt am Main 2001, S. 245.

296

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

1970 hatte die Rentenversicherung 19 Millionen Mitglieder. Sie unterstützte sechs Millionen Rentner und Rentnerinnen und vier Millionen Witwen, Witwer und Waisen. Der Schwerpunkt der Leistungen hatte sich seit der Zeit des Kaiserreichs von den Invalidenrenten zu den Altersrenten verschoben. 1970 erhielten 63 Prozent der Rentner und Rentnerinnen die Regelaltersrente, 27 Prozent eine Invalidenrente und zehn Prozent eine vorzeitige Altersrente. Das Rentenalter war im Durchschnitt 61 Jahre. Die durchschnittliche Rentendauer betrug für Männer zehn Jahre und für Frauen 13 Jahre. Die Ruhestandsdauer der Arbeiter oder Arbeiterinnen und Angestellten näherte sich damit der allgemeinen Lebenserwartung im Alter an. Die Standardrente stieg von 1957 bis 1970 von 241 auf 550 DM. Viele Renten lagen allerdings unter der Standardrente. Im Durchschnitt kam die Rente 1970 auf 363 DM im Monat. Sie war damit auf 44 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens gestiegen. Ein Strukturproblem der erwerbsorientierten Rente war die geschlechtsspezifische Diskriminierung im Alter. Männer erhielten im Durchschnitt eine Rente von 508 DM, Frauen dagegen aufgrund kürzerer Erwerbsbiographien und niedrigerer Löhne oder Gehälter nur 215 DM.227 Die steigenden Renten, die wachsende Zahl der Rentnerinnen und Rentner und der längere Ruhestand erforderten höhere Beiträge. 1967 wurde der Beitragssatz von 14 Prozent auf 15 Prozent erhöht. Die kostenlose Krankenversicherung der Rentnerinnen und Rentner wurde gestrichen. Frauen, die nach der Heirat ihre Erwerbstätigkeit aufgaben, hatten nicht mehr einen Anspruch auf Beitragserstattung.228 Diese Maßnahmen reichten nur kurze Zeit aus, 1969 musste der Beitragssatz auf 16 Prozent heraufgesetzt werden.229 Die Kommission zur Untersuchung der sozialen Sicherung, die 1964 von der Bundesregierung eingesetzt wurde, bezeichnete die öffentliche Rentenversicherung als das „Rückgrat der deutschen Alterssicherung“.230 Allerdings wies die Kommission schon damals auf die künftige demographische Belastung der Rentenversicherung hin. Sie erwartete, dass sich der Altersaufbau der deutschen Gesellschaft in absehbarer Zeit verschlechtern würde. Durch das Altern der Gesellschaft würde der Umfang der Rentenleistungen künftig ansteigen. Schon für das Jahr 1975 wurde ein „Rentenberg“ erwartet. Der Übergang zu einer kapitalgedeckten 226 Richard Roth, Rentenpolitik in der Bundesrepublik. Zum Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und der Gestaltung eines sozialstaatlichen Teilbereichs 1957 – 1986, Marburg 1989; Dieter Schewe, Von der ersten zur zweiten Rentenreform 1957 – 1976. Die Entwicklung der Gesetzgebung über die Rentenversicherung, in: Reinhart Bartholomäi / Wolfgang Bodenbender / Hardo Henkel / Renate Hüttel, Hg., Sozialpolitik nach 1945. Geschichte und Analysen, Bonn 1977. 227 Rentenversicherung in Zeitreihen 2001 (wie Anm. 225), S. 13, 111, 133, 142 – 148, 160 – 161, 238. 228 Finanzänderungsgesetz vom 21. Dezember 1967. BGBl. 1967 I, S. 1259. 229 Drittes Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 28. Juli 1969. BGBl. 1969 I, S. 956 – 973. 230 Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Bericht der SozialenquêteKommission, Stuttgart 1966, S. 163 – 164.

V. Alter

297

Rentenversicherung war nach Ansicht der Kommission keine Lösung, weil die Mitglieder dann für eine längere Übergangszeit zwei Rentenbeiträge zu leisten hätten, zur Erfüllung der bestehenden Rentenansprüche und zum Aufbau einer eigenen kapitalgedeckten Versicherung. Die Finanzierungsprobleme sollten im Rahmen des Umlageverfahrens durch einen Kompromiss zwischen Beitragsziel und Niveausicherungsziel gelöst werden.231 3. Die Struktur der Alterseinkommen a) Berufliche Altersversorgung Die Beamten und Beamtinnen des Bundes, der Länder und der Kommunen erhielten in historischer Kontinuität durch die öffentlichen Pensionssysteme eine Altersversorgung, die mit der Entwicklung der Gehälter verbunden war. Für die Arbeiter oder Arbeiterinnen und Angestellten des Bundes wurde als Ergänzung zu der öffentlichen Rentenversicherung 1950 eine Zusatzversorgung eingeführt, die der im Deutschen Reich vorgenommenen Regelung entsprach. 1952 wurde die Zusatzversorgung auf die Länder ausgedehnt, 1962 auch auf die Gemeinden. Das Ziel war, die Alterversorgung der Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst dem Versorgungsniveau der Beamten anzunähern. Nach dem Vorbild des öffentlichen Dienstes richteten die Kirchen ebenfalls eine Zusatzversorgung ein. Als Träger der Zusatzversorgung wurden die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder sowie verschiedene Anstalten für die Beschäftigten der Gemeinden und der Kirchen gegründet.232 Die betriebliche Altersversorgung wurde durch die Kriegsinflation beeinträchtigt. Zwar wurden die Renten aus der innerbetrieblichen Altersversorgung, soweit die Unternehmen noch existierten und zahlungsfähig waren, meist ebenso wie die Löhne und Gehälter im Verhältnis von einer Reichsmark zu einer Deutschen Mark umgestellt. Auch die freiwillige Zusatzversicherung in der Sozialversicherung wurde im Verhältnis von eins zu eins in die neue Währung umgerechnet. Die Rentenansprüche aus Unterstützungskassen, Pensionskassen und Gruppenversicherungen bei Versicherungsunternehmen wurden jedoch auf zehn Prozent ihres Reichsmarkbetrages abgewertet. Erst 1952 wurde aus sozialpolitischen Gründen für die Rentenansprüche aus betrieblichen Pensionskassen und Gruppenversicherungen eine Teilaufwertung beschlossen. Danach wurden die ersten siebzig RM eines Rentenanspruchs im Verhältnis eins zu eins in Deutsche Mark umgerechnet, die nächsten dreißig RM wurden auf die Hälfte abgewertet, und erst der darüber hinausgehende Betrag verschwand zu neunzig Prozent. Die Teilaufwertung wurde durch öffentliche Subventionen finanziert.233 Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 230), S. 165 – 169. Diether Döring, Die Zukunft der Alterssicherung. Europäische Strategien und der deutsche Weg, Frankfurt am Main 2002, S. 69; Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 32), Bd. 3, 60 – 61. 231 232

298

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

Die stabilen Währungsverhältnisse und das wirtschaftliche Wachstum schufen die Voraussetzung dafür, dass die seit dem Ersten Weltkrieg unterbrochene Entwicklung der betrieblichen Altersversorgung wieder fortgesetzt werden konnte. Nach einer Erhebung aus dem Jahr 1973 gab es in 27 Prozent der Unternehmen mit 61 Prozent aller Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen eine betriebliche Altersversorgung. Die institutionellen Formen der betrieblichen Altersversorgung waren unverändert. Es gab die innerbetriebliche Altersversorgung, betriebliche Unterstützungskassen, betriebliche Pensionskassen, die Gruppenversicherung bei Versicherungsunternehmen und die freiwillige Zusatzversicherung in der Sozialversicherung.234 Am verbreitetsten war 1973 die innerbetriebliche Altersversorgung mit 51 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die Mitglied der betrieblichen Altersversorgung waren, gefolgt von den Unterstützungskassen mit 38 Prozent, den Pensionskassen mit sechs Prozent und der Gruppenversicherung mit fünf Prozent. Da die betriebliche Altersversorgung zunahm, erwartete die Sozialpolitik seit dem Ende der sechziger Jahre, dass sie langfristig eine wirksame Ergänzung der öffentlichen Rentenversicherung darstellen sollte.235 Seit der Weimarer Republik entstanden die ersten berufsständischen Versorgungswerke als Alterssicherung für die Angehörigen der Freien Berufe. In der Bundesrepublik Deutschland wurden die Versorgungswerke auf alle Angehörigen der Freien Berufe ausgedehnt. Sie beruhten auf einer Pflichtmitgliedschaft, waren aber nicht nach dem Umlageverfahren, sondern nach dem Versicherungsprinzip organisiert.236 Für die selbständigen Landwirte blieb das Altenteil als Relikt traditioneller Altersversorgung erhalten. In den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland wurde der Hof im allgemeinen im Alter von sechzig Jahren übergeben, um der nachfolgenden Generation den Weg freizumachen. Oft zögerte das ältere Bauernpaar aber, den Hof zu räumen, weil es den Abstieg in die Altersabhängigkeit fürchtete. Obwohl Einkommen und Lebensstandard sich seit dem neunzehnten Jahrhundert erheblich verbessert hatten, gab es immer noch Streit um die Versorgung der älteren Generation. Die Altenteiler erfreuten sich durchaus nicht immer der bereitwilligen Solidarität ihrer Kinder, die in nostalgischen Schilderungen beschworen 233 Albrecht Weiß, Begriff und Entwicklung der betrieblichen Altersfürsorge, in: Albrecht Weiß, Hg., Handbuch der betrieblichen Altersfürsorge, 2. Aufl., München 1952, S. 18 – 21. 234 Helga Graef, Die betriebliche Altersvorsorge. Historischer Ursprung, rechtliche Entwicklung und sozialpolitische Bedeutung im Lichte der Rentenreform, Düsseldorf o. J. (1960); Hans Rohs / Günther Hartmann, Grundsätze und Formen betrieblicher Altersversorgung, Düsseldorf o. J. (1951). 235 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbericht 1976, Bonn 1976, S. 34 – 36. 236 Michael Jung, Berufsständische Versorgung, in: Jörg E. Cramer / Wolfgang Förster / Franz Ruland, Hg., Handbuch zur Altersversorgung. Gesetzliche, betriebliche und private Vorsorge in Deutschland, Frankfurt am Main 1998; G. Wannagat, Zur Ausgestaltung der Alterssicherung der Selbständigen und freien Berufe, in: Soziale Sicherheit, 17 (1968).

V. Alter

299

wird. Eine Untersuchung aus den frühen fünfziger Jahren kam zu dem Ergebnis: „Bei relativ hohen Lebensansprüchen der jüngeren Generation wird die Anwesenheit der Altenteiler sehr stark nach ökonomisch-rationalen Gesichtspunkten beurteilt. Solange die Altenteiler als Arbeitskräfte für den Betrieb ins Gewicht fallen, besteht in der Regel ein zwar gleichgültiges, aber für beide Seiten erträgliches Nebeneinander der einzelnen generationsverschiedenen Kleinfamilien. Die Beziehungen verschlechterten sich wesentlich, sobald die Arbeitsleistung der Altenteiler für das Betriebsgeschehen auf ein Minimum herabsinkt oder gänzlich ausfällt“.237 Durch den raschen Strukturwandel der Landwirtschaft ging die Bedeutung des Altenteils zurück. Die österreichischen Autoren Carl Merz und Helmut Qualtinger wandten sich in den fünfziger Jahren mit ihrer Satire über die „Ahndlvertilgung“ gegen die Idyllisierung der traditionellen ländlichen Altersversorgung. Sie zitieren aus dem Werk des „bekannten ländlichen Schriftstellers und Ökonomen Diplomlandwirt Ferdinand Unhold“ allerlei regionale Bräuche, die angeblich in der österreichischen Landbevölkerung zur „Bekämpfung des Ausgedinges“ gepflegt wurden. In der grünen Steiermark verwendet der Landwirt die Jauchegrube; im sonnigen Kärnten benutzt man die Hacke; im schönen Burgenland ist das Häuserlanzünden beliebt, gerne in Verbindung mit einem Versicherungsschaden; auf den herrlichen Matten des Tauernmassivs wird der Vorfahre in den Stall gesperrt; in Tirol hat man für diese Fälle das Arsen im Schrank; in Salzburg greift man zur Axt; im Salzkammergut gibt es zahlreiche Seen, in denen die ganze ältere Verwandtschaft Platz hat; in Niederösterreich, dem Land des herrlichen Weins, hat man das im Weinbau benötigte Kupfervitriol zur Hand; und in Oberösterreich produziert man einen Most, „der allein imstande ist, dem härtesten Großvater das Handwerk zu legen“.238 Bald nachdem Merz und Qualtinger ironisch auf die Gefahren des Altenteils hinwiesen, wurde in der Bundesrepublik Deutschland eine Reform der ländlichen Alterssicherung beschlossen. 1957 wurde eine Altershilfe für Landwirte eingeführt.239 Sie wies durch die sozialpolitische Regulierung, die Pflichtmitgliedschaft und die staatliche Subventionierung einige Parallelen zur öffentlichen Rentenversicherung auf, war aber ein eigenständiges berufliches Versorgungssystem.240 Die Landwirtschaftliche Altershilfe sollte ein Zusatzeinkommen zum Altenteil sein. Sie stand selbständigen Landwirten zu, die das 65. Lebensjahr erreicht und 237 C. von Dietze / M. Rolfes / G. Weippert, Lebensverhältnisse in kleinbäuerlichen Dörfern. Ergebnisse einer Untersuchung in der Bundesrepublik 1952, Hamburg 1953, S. 159 – 160. 238 Carl Merz / Helmut Qualtinger, Die Ahndlvertilgung (1956), in: Werkausgabe, Bd. 5, München und Wien 1997, S. 150 – 151. 239 Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte vom 27. Juli 1957. BGBl. 1957 I, S. 1063 – 1068. 240 Harald Deisler, Die Alterssicherung der Landwirte, in: Jörg E. Cramer / Wolfgang Förster / Franz Ruland, Hg., Handbuch zur Altersversorgung. Gesetzliche, betriebliche und private Vorsorge in Deutschland, Frankfurt am Main 1998; Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 32), Bd. 3, S. 55 – 58.

300

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

den Hof an einen Nachfolger übergeben hatten. Seit 1963 begründete ähnlich wie in der öffentlichen Rentenversicherung statt der Altersgrenze auch die Erwerbsunfähigkeit einen Anspruch auf das Altersgeld. Leistungen und Beiträge wurden zunächst in absoluten Beträgen festgelegt. Da die Altershilfe als Zusatzeinkommen geplant wurde, war sie anfangs recht bescheiden. 1957 betrug das Altersgeld für Verheiratete sechzig DM und für Unverheiratete vierzig DM; der Beitrag wurde unabhängig vom Einkommen auf zehn DM festgelegt. Seitdem wurden Leistungen und Beiträge mehrfach angehoben. Bis 1972 stieg das Altersgeld für Verheiratete auf 240 DM und für Unverheiratete auf 160 DM, der Beitrag wurde auf dreißig DM heraufgesetzt.241 Bei der Einführung der landwirtschaftlichen Altershilfe ging man davon aus, dass die Beiträge zur Finanzierung ausreichen sollten. Das erwies sich sehr schnell als eine Fehleinschätzung. Durch die Abwanderung vom Land verringerte sich die Zahl der Beitragszahler so sehr, dass eine Anpassung der Beiträge an die Leistungen viele Betriebe überfordert hätte. 1961 wurde die Landwirtschaftliche Altershilfe daher in die allgemeine Agrarsubventionierung einbezogen und in steigendem Umfang durch den Bundeshaushalt finanziert; die Subventionierung galt auch rückwirkend für die seit 1957 angesammelten Defizite. 1973 wurde die Landwirtschaftliche Altershilfe nach dem Vorbild der öffentlichen Rentenversicherung dynamisiert. Die Finanzierung erfolgte zu dieser Zeit nur noch zu 12,5 Prozent durch Beiträge und zu 87,5 Prozent durch staatliche Subventionen; diese Relation sollte auch in Zukunft angewandt werden.242 b) Individuelle Vermögensbildung Die individuelle Vermögensbildung als Altersvorsorge wurde durch die Kriegsinflation weitgehend entwertet. Nach der Währungsreform von 1948 war von den Geldvermögen nur ein kümmerlicher Rest übriggeblieben. Eine neue Alterssicherung musste, soweit es möglich war, erst wieder mühsam aufgebaut werden. Die Lebensversicherung war zwar weit verbreitet, aber die Anlagebeträge waren sehr niedrig. 1950 hatten die Lebensversicherungsunternehmen 24 Millionen Policen mit einer durchschnittlichen Versicherungssumme von nur 592 DM.243 Seitdem förderte die anhaltende wirtschaftliche Expansion die individuelle Altersvorsorge durch Vermögensbildung. Die Rentenreform von 1957 hat den privaten Lebensversicherungen nicht geschadet, sondern hat ihnen im Gegenteil, wie schon die Gründung der öffentlichen Rentenversicherung und ihre Ausweitung auf die Angestellten gezeigt hatten, durch die weitere Popularisierung des Versicherungsgedankens genutzt. Der Verband der Lebensversicherungsunternehmen wies auf die histoKonrad Hagedorn, Agrarsozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1982. Hagedorn, Agrarsozialpolitik (wie Anm. 241), S. 20 – 47. 243 Peter Borscheid / Annette Drews, Versicherungsstatistik Deutschlands 1750 – 1985, St. Katharinen 1988, S. 70. 241 242

V. Alter

301

rische Parallele hin: „Ähnlich wie seinerzeit bei Einführung der Angestelltenversicherung, hat die Reform der Sozialversicherung zu einer Stärkung des Verantwortungsbewusstseins geführt und hat das Streben nach zusätzlicher Vorsorge gefördert“.244 In der Phase des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums näherte sich die Zahl der Policen bei den Lebensversicherern allmählich der Einwohnerzahl der Bundesrepublik Deutschland an. 1970 gab es bei den Lebensversicherungsunternehmen 53 Millionen Policen mit einer durchschnittlichen Versicherungssumme von 4407 DM.245 c) Die Überwindung der Altersnot In der unmittelbaren Nachkriegszeit und in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland war das Alter immer noch oft mit Alternot verbunden. Seit dem Übergang vom Wiederaufbau zum Wirtschaftswachstum und dem Anstieg dess allgemeinen Lebensstandards verbesserte sich aber auch die Lage der älteren Generation. Ein Vergleich von Arbeitnehmerhaushalten und Rentnerhaushalten in den Jahren 1956 – 1957, kurz vor der Rentenreform, zeigt bereits eine Annäherung der Lebensverhältnisse von Rentnern und Rentnerinnen an den allgemeinen Lebensstandard. In Angestellten- und Beamtenhaushalten betrug das Haushaltseinkommen im Durchschnitt 638 DM im Monat, in Arbeiterhaushalten 490 DM und in Rentnerhaushalten 342 DM. Wenn man die Gesamteinkommen auf die Haushaltsmitglieder verteilt, wirkte sich die geringere Personenzahl der Rentnerhaushalte aus. Bei einem Vergleich der Pro-Kopf-Einkommen standen sich die Rentnerhaushalte zwar schlechter als die Haushalte der Angestellten und Beamten, aber besser als die Arbeiterhaushalte. Im Durchschnitt entfielen auf jedes Haushaltsmitglied in Angestellten- und Beamtenhaushalten 213 DM, in Arbeiterhaushalten 152 DM und in Rentnerhaushalten 162 DM im Monat.246 Mit der Rentenreform von 1957 wurden die Renten zu einem Sozialeinkommen ausgebaut. Andere Transferleistungen und Vermögenseinkommen ergänzten die Renten, erreichten aber nicht die Bedeutung, die man erwartet hatte. Nach einer Untersuchung aus den frühen sechziger Jahren reichte die Rente aus, wenn dem Ruhestand eine normale Erwerbsbiographie vorausging. Abweichungen von dem Standardmodell durch ein sehr geringes Einkommen, durch Erwerbsunterbrechungen oder durch eine Frühinvalidität nach einer kurzen Erwerbsbiographie hatten aber immer noch einen niedrigen Lebensstandard im Alter zur Folge.247 Dass ältere Menschen auf die Sozialhilfe angewiesen waren, wurde allerdings zur Aus244 Verband der Lebensversicherungs-Unternehmen, Die deutsche Lebensversicherung. Jahrbuch 1960, Bonn 1960, S. 13. 245 Borscheid / Drees, Versicherungsstatistik Deutschlands (wie Anm. 243), S. 73. 246 Gerhard Fürst / Kurt Horstmann, Die Arbeitnehmer- und Rentnerhaushalte nach der Höhe ihres Haushaltseinkommens, in: Wirtschaft und Statistik, 11 (1959), S. 409. 247 Stephanie Münke, Vorzeitige Invalidität. Untersuchungen ihrer Gründe und ihrer Folgen für die Lebenslage der Rentner, Stuttgart 1964, S. 106 – 109.

302

5. Kap.: Der bürgerliche Generationenvertrag im Sozialstaat

nahme. 1963 waren 1,3 Prozent der Bevölkerung auf Sozialhilfe angewiesen. In der Jugendgeneration bis zu 17 Jahren betrug die Sozialhilfequote für Jungen 1,7 Prozent und für Mädchen 1,8 Prozent. In der älteren Generation ab 65 Jahren betrug die Sozialhilfequote für Männer 1,8 Prozent und für Frauen 4,7 Prozent.248 Nachdem die Renten regelmäßig anstiegen, waren ältere Menschen im allgemeinen nicht mehr auf die Unterstützung durch ihre erwachsenen Kinder angewiesen. Erst im hohen Alter wurde die Unterstützung durch die Angehörigen wichtig. Die Unterstützung bestand dann aber nicht in monetären Transferleistungen, sondern in dem Aufwand für die Betreuung und Pflege der alten Menschen. Die materielle Unabhängigkeit der meisten Rentnerinnen und Rentner verbesserte die Beziehungen zwischen den Generationen. Rudolf Tartler charakterisierte die Beziehungen zwischen den Alten und ihren erwachsen gewordenen Kindern als „innere Nähe durch äußere Distanz“.249 Nachdem der gesicherte Ruhestand für viele ältere Menschen zur Realität wurde, traten die Probleme der Sinnstiftung im Alter stärker in den Vordergrund. Das Alter erforderte eine neue Definition des Lebenssinns in einer vom individuellen Leistungsprinzip bestimmten Gesellschaft.

248 249

Hauser / Semrau, Zur Entwicklung der Einkommensarmut (wie Anm. 64), S. 30. Rudolf Tartler, Das Alter in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 1961, S. 79.

Sechstes Kapitel

Ein Umweg I. Der asymmetrische Standardlebenslauf 1. Der Wandel der Generationenverhältnisse Der moderne Generationenvertrag war in der ostdeutschen Gesellschaft keine spontane Entwicklung, sondern war ein Teil des staatssozialistischen Systems, das von der Sowjetunion und ihren deutschen Partnern durchgesetzt wurde. Die Revolution von oben begann schon unter der sowjetischen Militärregierung in der Zeit von 1945 bis 1949. Die großen Unternehmen in Industrie, Handel, Banken und Versicherungen wurden verstaatlicht. Die Agrarreform zielte zunächst auf eine Förderung der kleinen und mittleren Betriebe. Der Großgrundbesitz wurde enteignet und in Kleinbauernstellen für landarme Bauern, Landarbeiter und Neusiedler aufgeteilt. Die Förderung der selbständigen Erwerbstätigkeit in der Landwirtschaft war jedoch nur eine Übergangsphase.1 Die Staatsgründung von 1949 beschleunigte die Etablierung des staatssozialistischen Systems. 1952 wurde der Aufbau des Sozialismus zum offiziellen Programm erhoben.2 Nach den Großbetrieben wurden nunmehr auch kleine und mittlere gewerbliche Betriebe verstaatlicht. Die bäuerlichen Familienbetriebe, die zum Teil gerade erst aus der Bodenreform hervorgegangen waren, wurden in mehreren Schritten zu Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zusammengeschlossen.3 Zu Beginn der siebziger Jahre galt der Übergang zur sozialistischen Gesellschaft als vollendet. Ihre wesentlichen Elemente waren die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Planwirtschaft und, im Widerspruch zu der demokratischen Tradition der Arbeiterbewegung, eine diktatorische Kontrolle von Partei und Staat über die Gesellschaft.4 1 André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 19 – 82. 2 Gerold Ambrosius, Staat und Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München 1990, S. 114 – 120. 3 Arnd Bauernkämper, Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur. Zwangsmodernisierung und Tradition in Brandenburg 1945 – 1963, Köln 2002, S. 159 – 194; Antonia Maria Humm, Auf dem Weg zum sozialistischen Dorf? Zum Wandel der dörflichen Lebenswelt in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland 1952 – 1969, Göttingen 1999. 4 Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr, Hg., Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994.

304

6. Kap.: Ein Umweg

Nach dem Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung distanzierte sich der ostdeutsche Staat allmählich von dem historischen Erbe der deutschen Gemeinsamkeit. In der Verfassung von 1968 wurde die Deutsche Demokratische Republik noch als „sozialistischer Staat deutscher Nation“ bezeichnet. Anfang der siebziger Jahre nahm man jedoch eine stärkere ideologische Abgrenzung vor. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands stellte auf ihrem VIII. Parteitag 1971 eine neue Doktrin vor, nach der sich in der Deutschen Demokratischen Republik eine „sozialistische Nation“ herausgebildet hatte, während in der Bundesrepublik Deutschland eine „bürgerliche Nation“ fortbestand. In der Verfassung von 1974 verschwand jeder Hinweis auf eine deutsch-deutsche Gemeinsamkeit, die Deutsche Demokratische Republik wurde nunmehr als ein „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ definiert.5 Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Beruf, eine Grundlage des modernen Generationenvertrages, galt als ein wichtiges Element der neuen Gesellschaftsordnung.6 Es entsprach der Tradition der Arbeiterbewegung, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen der entscheidende Schritt zur Gleichberechtigung sein sollte. Die Frauenerwerbstätigkeit war aber auch wirtschaftspolitisch erwünscht, da es in der ostdeutschen Wirtschaft stets einen Arbeitskräftemangel gab. Daher galt die Erwerbstätigkeit für Frauen nicht nur als individuelles Recht, sondern auch als gesellschaftliche Verpflichtung. Die Modernisierung der Geschlechterverhältnisse und damit auch der Generationenverhältnisse blieb in der staatssozialistischen Gesellschaft allerdings unvollständig, da die Verantwortung für die Familie ganz überwiegend den Frauen zugesprochen wurde. Arbeitsmarktpolitische und familienpolitische Maßnahmen sollten es den Frauen erleichtern, Beruf und Familie zu vereinbaren. Eine Neuordnung der Geschlechterverhältnisse in der Familie war aber nicht vorgesehen.7 Die individuellen Lebenswege wurden in der Deutschen Demokratischen Republik in ein umfassendes System der Betreuung und Unterstützung, aber auch der Lenkung und Kontrolle integriert, das von der öffentlichen Kleinkinderbetreuung über die Ausbildung, die Berufswahl und Berufsausübung, die Familienförderung und die Gestaltung der Freizeit bis zur Alterssicherung reichte. Aspekte wie die soziale Öffnung längerer Bildungswege, die Gleichberechtigung im Beruf, die 5 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968. Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (GBl.) 1968 I, S. 199 – 222. Artikel 1, Satz 1; Joachim Hoffmann, Ein neues Deutschland soll es sein. Zur Frage nach der Nation in der Geschichte der DDR und der Politik der SED, Berlin 1989, S. 251; Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974. GBl. 1974 I, S. 432 – 456. Artikel 1. 6 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949. GBl. 1949, S. 5 – 16, Artikel 7. 7 Christine Amend-Wegmann, Vereinbarkeitspolitik in Deutschland, Hamburg 2003, S. 258 – 264.

I. Der asymmetrische Standardlebenslauf

305

Vollbeschäftigung, die Angebote zur Vereinbarung von Beruf und Familie oder die soziale Sicherheit werden im nostalgischen Rückblick manchmal als Vorteil des staatssozialistischen Modells beschworen.8 Aus der Sicht der Bevölkerung wogen diese staatlichen Angebote jedoch nicht die doppelte politische und wirtschaftliche Belastung durch die Diktatur und durch die Ineffizienz der Planwirtschaft auf. Beides, die Abwehr jeglicher politischer Reformen und die wirtschaftliche Ineffizienz, verstärkten sich wechselseitig und führten schließlich den Untergang des staatssozialistischen Systems herbei. Nach einem Umweg von vierzig Jahren schwenkte die ostdeutsche Gesellschaft auf den postindustriellen Entwicklungspfad der Bundesrepublik Deutschland ein.

2. Demographische Stagnation Die Geburtenrate und die Lebenserwartung unterschieden sich in der ostdeutschen Gesellschaft zunächst nicht wesentlich von der westdeutschen Gesellschaft. Die Geburtenrate betrug 1950 in Ostdeutschland 1,7 Prozent. Bis Mitte der sechziger Jahre blieb die Geburtenziffer mit geringen Fluktuationen auf diesem Niveau, 1965 betrug sie ebenfalls 1,7 Prozent. In der Mitte der sechziger Jahre setzte, ähnlich wie in Westdeutschland, nach dreißigjähriger Stabilität ein neuer Geburtenrückgang ein. Als Ursachen für den Geburtenrückgang galten die materielle Belastung der Familien und das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, das seit den sechziger Jahren stärker in den Vordergrund trat. Nachdem die informelle Kinderbetreuung durch Familienangehörige zurückging, eine öffentliche Betreuung aber noch nicht in dem erforderlichen Umfang abgeboten wurde, entschieden sich junge Paare zunehmend für eine kleinere Familie oder für ein Leben ohne Kinder. Seit den siebziger Jahren wurde die Familienförderung ausgebaut, und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wurde verbessert. Daraufhin stabilisierte sich die Geburtenrate, 1989 betrug sie 1,2 Prozent.9 Die Lebenserwartung bei der Geburt reichte schon Anfang der fünfziger Jahre bis in das Rentenalter. 1952 betrug die männliche Lebenserwartung 64 Jahre, die weibliche Lebenserwartung 68 Jahre. Bis 1989 stieg die männliche Lebenserwartung auf siebzig Jahre und die weibliche Lebenserwartung auf 76 Jahre. Die Sterberate ging trotz der steigenden Lebenserwartung nicht zurück, sondern stieg im Zeitraum von 1950 bis 1970 von 1,2 Prozent auf 1,4 Prozent an. Das lag an der ungünstigen Altersstruktur, die eine Folge der steigenden Lebenserwartung und vor allem der Abwanderung nach Westdeutschland war. Nachdem die Grenze geschlossen wurde, ging die Sterberate bis 1989 wieder auf 1,2 Prozent zurück.10 8 Gunnar Winkler, Ziele und Inhalte der Sozialpolitik, in: Günter Manz / Ekkehard Sachse / Gunnar Winkler, Hg., Sozialpolitik in der DDR – Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001. 9 Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, S. 404 – 405. 10 Statistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 404 – 405, 428.

20 Hardach

306

6. Kap.: Ein Umweg

In den ersten Nachkriegsjahren nahm die Sowjetische Zone zahlreiche Vertriebene aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße auf. 1950 gab es in der Deutschen Demokratischen Republik 4 Millionen Vertriebene; sie wurden aus politischen Gründen als „Umsiedler“ bezeichnet. Der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Bevölkerung war mit 22 Prozent höher als in der Bundesrepublik Deutschland.11 Nach der unfreiwilligen Zuwanderung gewann die Abwanderung nach Westdeutschland erheblichen Einfluss auf die Bevölkerungszahl und auf die Altersstruktur der ostdeutschen Gesellschaft. Von 1949 bis 1961 zogen 3,5 Millionen Menschen von Ostdeutschland nach Westdeutschland. Umgekehrt gingen 600.000 Menschen den umgekehrten Weg von Westdeutschland nach Ostdeutschland. Die meisten West-Ost-Wanderer waren Rückwanderer, die Heimweh hatten, von der Bundesrepublik Deutschland enttäuscht waren oder auch konkrete Schwierigkeiten im Beruf oder bei der Wohnungssuche hatten. Die ostdeutsche Regierung versuchte, mit Repressionen und zum Teil auch mit Zugeständnissen an bestimmte Bevölkerungsgruppen die Abwanderung aufzuhalten. Schließlich wurde im August 1961 die Grenze gesperrt.12 Die Deutsche Demokratische Republik war wesentlich kleiner als die Bundesrepublik Deutschland; sie erbte 23 Prozent des deutschen Vorkriegsterritoriums und hatte 1950 nur 18 Millionen Einwohner. Die Bevölkerung ging in den fünfziger Jahren durch die starke Abwanderung auf 17 Millionen zurück und stagnierte seitdem. Nachdem 1961 die Grenze geschlossen wurde, erwarteten Partei und Regierung eine Zunahme der Bevölkerung. Zu diesem Anstieg ist es jedoch nicht gekommen, weil seit der Mitte der sechziger Jahre die Geburtenrate zurückging. Die Bevölkerung stagnierte daher weiterhin. Die Stabilisierung der Geburtenrate, die in den letzten Jahren der Deutschen Demokratischen Republik eintrat, verhinderte einen Bevölkerungsrückgang, reichte aber nicht aus, um die Bevölkerung ansteigen zu lassen. 1989 hatte Ostdeutschland wie in den fünfziger Jahren 17 Millionen Einwohner.13 Der Anstieg der Lebenserwartung und vor allem die massive Abwanderung ließen die ostdeutsche Bevölkerung in den fünfziger Jahren rasch altern. Es wanderten vor allem junge Frauen und Männer ab, während die Älteren eher im Lande blieben. Seit den sechziger Jahren änderte sich die Situation. Zwar nahm die Ge11 Mathias Beer, Alteingesessene und Flüchtlinge in Deutschland 1945 – 1949: Eine Konfliktgemeinschaft, in: Arno Surminski, Hg., Der Neubeginn. Deutschland zwischen 1945 und 1949, Hamburg 2005, S. 90 – 91. 12 Volker Ackermann, Politische Flüchtlinge oder unpolitische Zuwanderer aus der DDR? Die Debatte um den echten Flüchtling in Westdeutschland von 1945 bis 1961, in: Jan Motte / Rainer Ohliger / Anne von Oswald, Hg., 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt am Main 1999; Andrea Schmelz, West-Ost-Migranten im geteilten Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre, in: Jan Motte / Rainer Ohliger / Anne von Oswald, Hg., 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt am Main 1999. 13 Statistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 1, 404 – 405.

I. Der asymmetrische Standardlebenslauf

307

burtenrate ab und die Lebenserwartung stieg weiter an, aber da die Jugend und die mittlere Generation nunmehr im Lande bleiben mussten, wurde die Gesellschaft wieder etwas jünger. Die Fluktuationen der Geburtenrate, die Stabilisierung der Lebenszeit und die Wanderungen hatten erhebliche Veränderungen der demographischen Belastungsquoten zur Folge. Die Jugendquote, definiert als das Verhältnis der Bevölkerung unter 15 Jahren zur mittleren Generation von 15 bis zu 65 Jahren, stieg zunächst an. Das lag an der stabilen Geburtenrate und auch an der Altersstruktur der Flüchtlinge, da Familien mit kleinen Kindern, ähnlich wie die Älteren, eher im Land blieben. In den siebziger und achtziger Jahren ging die Jugendquote aber durch die niedrigere Geburtenrate stark zurück.14 Tabelle 14 Die Altersstruktur der ostdeutschen Gesellschaft 1950 – 1989 (Prozent) bis 14 Jahre

15 – 64 Jahre

ab 65 Jahre

1950

23

66

11

1970

23

61

16

1989

16

71

13

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1958, S. 23; Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, S. 392.

Tabelle 15 Demographische Strukturquoten der ostdeutschen Gesellschaft 1950 – 1989 (Prozent) Jugendquote

Altersquote

Gesamtlastquote

1950

35

17

52

1970

38

26

64

1989

23

18

41

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1958, S. 23; Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, S. 392.

Die Altersquote war schon 1950 höher als in Westdeutschland und nahm seitdem stark zu. Nach der Schließung der Grenze ging die Altersquote aber zurück, da nun die mittleren Jahrgänge stärker vertreten waren. Die Gesamtlastquote war 1970 durch das Zusammentreffen einer hohen Jugendquote und einer hohen Altersquote sehr hoch. Bis 1989 ging sie aber deutlich zurück. Während der wirtschaftspolitischen Debatten der späten sechziger und frühen siebziger Jahre war der intergene14 Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1958, S. 23; Statistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 392.

20*

308

6. Kap.: Ein Umweg

rative Umverteilungsbedarf sehr hoch. In den späten Jahren des Staatssozialismus war die Verteilungssituation dagegen ausgesprochen günstig.

3. Die wirtschaftliche Entwicklung a) Der Strukturwandel der Wirtschaft Trotz der höheren Erwerbsbeteiligung der Frauen war die Erwerbsquote in der Deutschen Demokratischen Republik im langfristigen Vergleich zunächst sehr niedrig. 1950 gehörten nur 41 Prozent der Bevölkerung zu den Erwerbspersonen. Die geringe Erwerbsbeteiligung ist vor allem durch die ungünstige Altersstruktur zu erklären. Viele Männer der mittleren Generation waren im Krieg umgekommen. Außerdem machte sich bereits die Fluchtbewegung bemerkbar, an der junge Erwachsene relativ stark beteiligt waren. Durch die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen stieg auch die gesamte Erwerbsquote an. 1989 gehörten 53 Prozent der Bevölkerung zu den Erwerbspersonen.15 Die Wirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik wurde beherrscht von dem sozialistischen Sektor, der aus den staatlichen Betrieben und den vom Staat kontrollierten Genossenschaften bestand. Private Betriebe, die in den Anfangsjahren noch eine gewisse Bedeutung hatten, wurden an den Rand der Wirtschaft gedrängt. Die ostdeutsche Gesellschaft blieb nach dem offiziellen Selbstverständnis in Klassen und Schichten differenziert. Als wichtigste Klassen und Schichten der entwickelten sozialistischen Gesellschaft galten die Arbeiterklasse, die Klasse der Genossenschaftsbauern und die sozialistische Intelligenz. Hinzu kamen noch die „anderen werktätigen Schichten“. Mit diesem Sammelbegriff waren vor allem die Genossenschaftshandwerker sowie die wenigen privaten Handwerker und anderen Gewerbetreibenden gemeint. Das neue Klassenbild lässt noch die Konturen der alten Klassen erkennen, die in der sozialistischen Gesellschaft aufgegangen waren, die Arbeiterklasse, die alte Mittelklasse der Bauern und Handwerker und die neue Mittelklasse („Intelligenz“). Die Bourgeoisie war im Verlauf der fünfziger Jahre verschwunden. In der sozialistischen Gesellschaft sollte im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft der Antagonismus zwischen den Klassen überwunden sein, und die Klassen und Schichten sollten sich in ihren Lebenslagen annähern.16 In dem harmonisierenden offiziellen Bild der Struktur der ostdeutschen Gesellschaft war für die neuen Klassen und Klassenkonflikte, die sich aus dem politischen Machtmonopol und der zentralen Planung ableiteten, kein Platz. Die „Parteielite“ der oberen Parteifunktionäre etablierte sich als die neue herrschende Klasse. Eine Statistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 1, 17. Siegfried Grundmann / Manfred Lötsch / Rudi Weidig, Zur Entwicklung der Arbeiterklasse und ihrer Struktur in der DDR, Berlin 1976, S. 240 – 272; Wolfgang Schneider / HansJoachim Fieber / Klaus Hentschel / Ilse Krasemann / Rolf Müller / Hermann Wandschneider, Zur Entwicklung der Klassen und Schichten in der DDR, Berlin 1977. 15 16

I. Der asymmetrische Standardlebenslauf

309

obere Mittelklasse stellte die „administrative Dienstklasse“ aus Regierung, Abgeordneten, Kombinatsleitern und den führenden Vertretern von Militär, Staatssicherheit und Wissenschaft dar. Als untere Mittelklasse bildete sich eine „operative Dienstklasse“, die aus den Kadern der mittleren Führungsebene, qualifizierten Angestellten, Ärzten, Wissenschaftlern, Künstlern und Lehrern bestand. Die Basis der sozialen Pyramide bildeten die Arbeiterklasse und die Genossenschaftsbauern. Soziale Unterschiede manifestierten sich in den Entscheidungskompetenzen, im Geldeinkommen, im sozialen Status und in mancherlei Naturaleinkommen, die in einem komplizierten Verteilungssystem zugewiesen wurden. Dazu gehörten die bevorzugte Versorgung mit Wohnungen, die Zuteilung begehrter Konsumgüter, Reiseprivilegien, der Zugang zu Freizeitstätten und Urlaubsmöglichkeiten. In der Öffentlichkeit fiel besonders die bevorzugte Versorgung der neuen herrschenden Klasse mit Konsumgütern unangenehm auf. Insgesamt waren die Unterschiede im Einkommen und im sozialen Status sowohl zwischen den sozialen Klassen, als auch innerhalb der Klassen jedoch wesentlich geringer als in der bürgerlichen Gesellschaft.17 Tabelle 16 Die Sozialstruktur der Erwerbstätigen in Ostdeutschland 1950 – 1989 (in Prozent) Arbeiter und Angestellte

Genossenschaftsmitglieder

Selbständige und mithelfende Familienangehörige

1950

78

2

19

1970

84

12

3

1989

88

10

2

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1971, S. 52; Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, S. 127.

Tabelle 17 Die Erwerbstätigen nach Sektoren in Ostdeutschland 1950 – 1989 (in Prozent) Primärer Sektor

Sekundärer Sektor

Tertiärer Sektor

1950

28

44

28

1970

13

49

38

1989

10

47

43

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1971, S. 22; Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, S. 125. 17 Hartmut Kaelble, Die Gesellschaft der DDR im internationalen Vergleich, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr, Hg., Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994; Ina Merkel, Arbeiter und Konsum im real existierenden Sozialismus, in: Peter Hübner / Klaus Tenfelde, Hg., Arbeiter in der SBZ-DDR, Essen 1999; Heike Solga, Auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, Berlin 1995.

310

6. Kap.: Ein Umweg

Die ostdeutsche Wirtschaft war nicht so intensiv wie die westdeutsche Wirtschaft in die internationale Arbeitsteilung integriert. Die einheimische Landwirtschaft war daher vor dem internationalen Wettbewerb geschützt und ging nicht so massiv zurück wie in Westdeutschland. Der Dienstleistungssektor war weniger umfangreich als in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften. Die Planwirtschaft unterwarf viele Dienstleistungen wie Handel, Banken und Versicherungen, Tourismus und Gastronomie einer strikten Kontrolle, weil sie im Vergleich zur materiellen Produktion weniger wichtig erschienen. Die geringe Präsenz des Dienstleistungssektors gehörte bald, neben dem schlechten Zustand von Gebäuden und Straßen, zu den auffälligsten Unterschieden im Erscheinungsbild ostdeutscher und westdeutscher Städte. Die ostdeutsche Gesellschaft blieb bis zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik eine Industriegesellschaft, auch wenn der Dienstleistungssektor nach dem Umfang der Beschäftigung inzwischen nahe an den sekundären Sektor herankam.18 b) Der Schluss ist anders als im Märchen Rivalität unter Geschwistern ist ein beliebtes Motiv in deutschen Märchen. Aschenputtel und die hochmütigen Schwestern, Goldjungfrau und Pechjungfrau, Bruder Goldschmied und Bruder Besenbinder und viele andere Geschichten thematisieren den Kontrast von armen und reichen Brüdern oder Schwestern.19 Insofern bewegt man sich auf klassischem literarischen Boden, wenn man die wirtschaftliche Entwicklung der beiden deutschen Staaten vergleicht. Der Vergleich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist kein von außen angelegtes Kriterium, sondern entsprach der inneren Logik der beiden Wirtschaftssysteme. In den Wiederaufbaujahren war die Überwindung der Kriegsfolgen in ganz Deutschland eine unabweisbare Notwendigkeit. Die Parteiführung der SED 1947 gab die Parole aus: „Mehr produzieren, richtig verteilen und besser leben“.20 Die Wirtschaft der Sowjetischen Zone wies Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zu den drei Westzonen auf. Zu den Ähnlichkeiten gehörten die qualifizierten Arbeitskräfte und eine Ausstattung mit Produktionsmitteln, die den Krieg überraschend gut überstanden hatte. Zu den Unterschieden gehörte eine ungünstige Wirtschaftsstruktur, die höhere Belastung mit Reparationen und vor allem das Wirtschaftssystem. In den ersten Nachkriegsjahren galt auch in den Westzonen eine Planwirtschaft als unvermeidlich, um die knappen Güter einigermaßen gerecht zu verteilen. Während man sich in den Westzonen aber 1948 für die produktionsstimulierende Wirkung der Marktwirtschaft entschied, wurde in Ostdeutschland der Zentralismus in der Planwirtschaft verstärkt. Zur Zeit der doppelten Staatsgründung 1949 beStatistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 125. Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen (1812), 3 Bde., Frankfurt am Main 1974, Bd. 1, S. 153 – 162, 168 – 172, 347 – 371. 20 Horst Barthel, Die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen der DDR, Berlin 1979, S. 126. 18 19

I. Der asymmetrische Standardlebenslauf

311

stand bereits ein deutliches Produktivitätsgefälle zwischen den beiden deutschen Volkswirtschaften. Auch nach eigener Einschätzung blieb die ostdeutsche Wirtschaft in den frühen fünfziger Jahren in der Produktivität und im Konsumniveau hinter der westdeutschen Wirtschaft zurück. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 bestätigte die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren für die verbreitete Unbeliebtheit des Systems.21 Mitte der fünfziger Jahre, etwas später als in der Bundesrepublik Deutschland, ging der Wiederaufbau allmählich in ein wirtschaftliches Wachstum über. 1955 – 1956 erreichte das reale Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung das Vorkriegsniveau.22 Die Partei- und Staatsführung definierte daraufhin nach sowjetischem Vorbild das Wirtschaftswachstum als Erfolgskriterium im Wettbewerb der Systeme. Walter Ulbricht nannte auf dem V. Parteitag der SED 1958 als ökonomische Hauptaufgabe: „Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik ist innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, dass die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird und infolgedessen der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft“.23 Der laufende zweite Fünfjahresplan wurde 1959 durch einen neuen Siebenjahrplan mit höheren Wachstumszielen ersetzt. Die Wachstumsoffensive scheiterte jedoch, die Zuwachsraten der Produktion gingen stark zurück. Die wirtschaftliche Krise trug dazu bei, dass die Abwanderung in die Bundesrepublik Deutschland zunahm. Im Mai 1961 wurden die Ziele des Siebenjahresplans herabgesetzt. Um den Bevölkerungsschwund aufzuhalten, wurde im August 1961 die Grenze geschlossen.24 Nach dem Misserfolg der Zentralisierung wurde 1961 ein neues Planungssystem eingeführt, das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“. Das neue Konzept sah eine Dezentralisierung der Planwirtschaft vor. Die Betriebe sollten mehr Kompetenzen und Verantwortung bei der Aufstellung und Durchführung der Pläne erhalten. Dadurch hoffte man, Innovationen zu fördern, die Modernisierung der Volkswirtschaft zu beschleunigen und die Produktivität zu steigern. Die gezielte Förderung von Wachstumsindustrien sollte Impulse für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung geben. Die Reform war jedoch unvollständig, denn Partei und Staat wollten die Kontrolle über die Wirtschaft nicht 21 André Steiner, Von „Hauptaufgabe“ zu „Hauptaufgabe“. Zur Wirtschaftsentwicklung der langen 60er Jahre in der DDR, in: Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers, Hg., Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 219. 22 Steiner, Von Plan zu Plan (wie Anm. 1), S. 101. 23 Walter Ulbricht, Zur sozialistischen Entwicklung der Volkswirtschaft seit 1945, Berlin 1960, S. 618. 24 André Steiner, Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999, S. 38 – 48.

312

6. Kap.: Ein Umweg

aufgeben. Die Krise wurde zwar überwunden, aber das wirtschaftliche Wachstum blieb hinter den Erwartungen zurück.25 Seitdem setzte die Wirtschaftspolitik wieder auf eine stärkere Zentralisierung der Planung und auf eine gleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung. Erich Honecker, der 1971 den gescheiterten Ulbricht als Parteichef ablöste, nannte 1971 als wirtschaftspolitisches Ziel die „Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der Arbeitsproduktivität“.26 1975 versprach Honecker mit dem Programm der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ die Verbesserung des Konsums und den Ausbau der Sozialpolitik. Es gab keine spektakulären Versuche mehr, das wirtschaftliche Wachstum durch Reformen zu beschleunigen. Partei und Regierung hofften, die Bevölkerung durch die Vollbeschäftigung, den allmählichen Anstieg des Lebensstandard und eine umfassende soziale Sicherung, wenn auch auf bescheidenem Niveau, zu gewinnen.27 Das Märchen liebt den überraschenden Effekt. Am Ende ist es das arme Aschenputtel, das den Prinzen gewinnt, und der als dumm verspottete Sohn wird reich und heiratet die Königstochter.28 In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war die Zeit der Märchen vorbei. Die ostdeutsche Wirtschaft konnte den Rückstand gegenüber der westdeutschen Wirtschaft nie aufholen. Dieser Befund ist allgemein akzeptiert; nur das Ausmaß des Rückstandes ist umstritten. Die offiziellen Zahlen wiesen regelmäßig ein starkes Wachstum der ostdeutschen Wirtschaft aus. Diese Statistiken galten aber nach westdeutschen Schätzungen stets als unzuverlässig. Neben der Korrektur von offenkundigen Fehlinformation stellte sich das Problem einer realistischen Bewertung der ostdeutschen Wirtschaftsentwicklung. Zunächst ging es darum, die Entwicklung des Realeinkommens immanent nach den Gegebenheiten des Binnenmarktes, seiner Produktionsverflechtungen, der Qualitätsstandards und des Preisgefüges zu rekonstruieren. In einem weiteren Schritt war die wirtschaftliche Entwicklung in den beiden deutschen Staaten zu vergleichen. Dieser Vergleich war nicht nur wegen der unterschiedlichen Systeme der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, sondern vor allem auch aufgrund der Unterschiede im Güterangebot, in den Qualitätsstandards und im Preisgefüge schwierig. Unter der ersten und letzten demokratischen Regierung der Deutschen Demokratischen Republik wurde versucht, realistische Zahlen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu rekonstruieren. Das reale Nationaleinkommen je Einwohner wies danach von 1950 bis 1989 eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate Steiner, Die DDR-Wirtschaftsreform (wie Anm. 24), S. 503 – 520. Zitiert nach Steiner, Von „Hauptaufgabe“ zu „Hauptaufgabe“ (wie Anm. 21), S. 218. 27 Steiner, Von Plan zu Plan (wie Anm. 1), S. 167 – 178. 28 J. Grimm / W. Grimm, Kinder- und Hausmärchen (wie Anm. 19), Bd. 1, S. 153 – 162, 49 – 60. 25 26

I. Der asymmetrische Standardlebenslauf

313

von 6,1 Prozent auf.29 Diese frühen Schätzungen strebten zwar ein ungeschöntes Bild der wirtschaftlichen Entwicklung an, hingen letztlich aber doch sehr stark von den Vorarbeiten, Daten und Interpretationen der alten Planungsbehörden ab.30 Deshalb gelten sie inzwischen als überhöht. Albert Ritschl hat 1995 eine Schätzung vorgelegt, in der das wirtschaftliche Wachstum deutlich nach unten korrigiert wurde. Danach lag in der Zeit von 1950 bis 1973 die durchschnittliche Wachstumsrate des realen Pro-Kopf-Einkommens bei 3,2 bis 4,7 Prozent. Seit den siebziger Jahren verlangsamte sich das Wachstumstempo, so dass von 1973 bis 1989 die durchschnittliche Wachstumsrate des realen Pro-Kopf-Einkommens nur noch 1,3 bis 3,2 Prozent im Jahr betrug. Die Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft erreichte am Vorabend der Wiedervereinigung, von Januar bis September 1990, zwischen vierzig und sechzig Prozent des westdeutschen Niveaus.31 Die Löhne und Gehälter wurden im Rahmen der zentralen Planung festgelegt. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund war nicht eine autonome Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern war in die staatliche Lohnpolitik eingebunden. Zu seinen Aufgaben gehörte die Beratung der Partei und der Regierung in Lohnfragen, mehr aber noch die Mitwirkung bei der Durchsetzung von Entscheidungen der Partei oder der Regierung gegenüber den Beschäftigten. Das Selbstverständnis des FDGB als Agent der Macht wurde im Alltag immer wieder betont. „Die Gewerkschaften vertreten sowohl die täglichen Interessen der Arbeiter wie auch das Gesamtinteresse, das in der Durchführung der staatlichen Gesetze zum Ausdruck kommt.“32 Die staatlichen Betriebe hatten einen erheblichen Spielraum bei der Festsetzung der Preise und konnten daher die Lohnkosten und andere Kosten auf die Abnehmer überwälzen. Die Betriebe hatten auch eine gewisse Mitwirkungsmöglichkeit bei der Festlegung von Steuern und Subventionen im öffentlichen Finanzsystem. Die Staatseinnahmen wurden zum größten Teil durch Unternehmenssteuern aufgebracht, und umgekehrt machten die Subventionen, die zur Förderung bestimmter Unternehmen oder zur Verbilligung des Grundbedarfs an die Staatsbetriebe, an die Landwirtschaft oder an die Wohnungswirtschaft geleistet wurden, einen erheblichen Teil der Staatsausgaben aus. Wenn Betriebe ihre Situation gegenüber den Planungsbehörden geschickt darstellten, konnten sie hohe Lohnkosten nicht nur auf die Abnehmer, sondern auch in Form von niedrigeren Steuern oder höheren Subventionen auf den Staat überwälzen.33 Statistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 13 – 14. Ralf Hein / Doris Hoeppner / Silke Stapel, Das Bruttosozialprodukt für die ehemalige DDR 1989 und im ersten Halbjahr 1990, in: Statistisches Bundesamt, Hg., Rückrechnungen gesamtwirtschaftlicher Daten für die ehemalige DDR, Wiesbaden 1993. 31 Albert Ritschl, Aufstieg und Niedergang der Wirtschaft der DDR: Ein Zahlenbild 1945 – 1989, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1995 / II, S. 13. 32 Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes an die Abteilung Gewerkschaften und Sozialpolitik beim ZK der SED, 26. März 1962. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) DY 30 / IV 2 / 6.11 / 77. 33 J. Kornai, The socialist System, Oxford 1992. 29 30

314

6. Kap.: Ein Umweg

Das Monatseinkommen der Arbeiter und Angestellten in volkseigenen Betrieben betrug 1949 im Durchschnitt 295 Mark. Bis 1989 stieg das Monatseinkommen auf 1311 Mark. Die Mark wechselte in der ostdeutschen Wirtschaft wiederholt den Namen. In der Sowjetischen Zone galt zunächst wie in den Westzonen die alte Reichsmark (RM) weiter. Im Juni 1948, wenige Tage nach der westdeutschen Währungsreform, wurde in der Sowjetischen Zone die Reichsmark (RM) durch die Deutsche Mark (DM) ersetzt. Mit der zunehmenden Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland wurde die Deutsche Mark 1964 im Verhältnis von eins zu eins durch die Mark der Deutschen Notenbank (MDN) ersetzt. Wenig später wurde im Dezember 1967, wieder im Verhältnis eins zu eins, die Mark der Deutschen Demokratischen Republik (M) eingeführt. Die Währungsreformen von 1964 und 1967 drückten nur den wechselnden politischen Zeitgeschmack aus und hatten keinen Einfluss auf die Kaufkraft der ostdeutschen Mark.34 Nach der Berücksichtigung des Preisanstiegs, der im Vergleich zu kapitalistischen Volkswirtschaften gering war, erreichte das durchschnittliche Monatseinkommen 1989 etwa 289 Prozent des Niveaus von 1949.35 Die Förderung der Vermögensbildung war kein Ziel der staatsozialistischen Wirtschaftspolitik. Die bescheidenen Einkommen machten das Sparen nicht einfach. Durch die umfangreiche öffentliche Versorgung galt eine individuelle Risikovorsorge auch nicht als besonders dringlich. Es wurden nur wenige Sparmöglichkeiten angeboten, im wesentlichen Spareinlagen und Lebensversicherungen. Das Ziel des Sparens waren Rücklagen für größere Anschaffungen. Eine individuelle Vermögensbildung als Vorsorge für Existenzrisiken oder für das Alter war nicht üblich.36 1970 betrug die private Sparquote, definiert als Anteil der Ersparnisse an den Nettoeinkommen der Bevölkerung, nur 5,8 Prozent, und bis 1989 stieg sie auf 6,4 Prozent an.37 Trotz allem sammelten sich im Laufe der Zeit einige Ersparnisse an. 1989 betrugen die Spareinlagen insgesamt 160 Milliarden Mark. Im Durchschnitt entfiel auf jede Familie ein Sparguthaben von 25.000 Mark. Das entsprach dem Erwerbseinkommen von einem Jahr und sieben Monaten.38 Bei der Währungsunion, die im Mai 1990 beschlossen wurde und im Juli 1990 in Kraft trat, wurden die laufenden Zahlungen zum Kurs von einer Mark der Deutschen Demokratischen Republik (M) zu einer Deutschen Mark (DM) umgestellt. Die Geldvermögen sollten dagegen beträchtlich abgewertet werden, weil die Bundesregierung und die Bundesbank befürchteten, dass von einer Umstellung „eins 34 Niklot Klüßendorf, Zwischen Reform und Union. Das deutsche Geldwesen von 1945 bis 1990 im Spiegel der Zeitgeschichte, in: Reiner Cunz, Hg., Währungsunionen. Beiträge zur Geschichte überregionaler Münz- und Geldpolitik, Hamburg 2002. 35 Statistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 144, 305. 36 Oskar Schwarzer, Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ / DDR. Ergebnisse eines ordnungspolitischen Experiments (1945 – 1989), Stuttgart 1999, S. 193 – 201. 37 Statistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 315. 38 Günter Manz, Armut in der DDR-Bevölkerung. Lebensstandard und Konsumniveau vor und nach der Wende, Augsburg 1992, S. 91 – 92.

I. Der asymmetrische Standardlebenslauf

315

zu eins“ eine Inflationsgefahr für die Deutsche Mark ausgehen könnte. Für die Geldvermögen der privaten Haushalte sollte ein allgemeiner Umrechnungskurs von zwei Ostmark zu einer Westmark gelten. Es waren jedoch Grundbeträge vorgesehen, die im Verhältnis „eins zu eins“ umgestellt werden sollten. Der Grundbetrag war für Personen bis zu 14 Jahren 2000 Mark, für Personen von 15 bis 59 Jahren 4000 Mark und für Personen ab 60 Jahren 6000 Mark. Die Geldvermögen, die in westdeutschem Besitz waren, wurden im Verhältnis von drei Mark der DDR zu einer DM abgewertet, weil man davon ausging, dass die Anleger diese Beträge zu dem niedrigen Außenkurs der ostdeutschen Mark entsprechend billig erworben hatten. Insgesamt wurden Geldvermögen von ungefähr 66 Milliarden Mark der DDR im Verhältnis „eins zu eins“ umgestellt und 172 Milliarden Mark der DDR zum Kurs von zwei Mark der DDR zu einer DM.39 Mit der Abwertung der Ersparnisse wurde der ostdeutschen Bevölkerung ein umstrittenes „Stabilitätsopfer“ abverlangt, denn die von der Bundesbank und der Bundesregierung beschworene Inflationsgefahr war aufgrund der relativ niedrigen Geldvermögen der ostdeutschen Bevölkerung schon damals nicht realistisch und wurde durch die nachfolgende Entwicklung auch nicht bestätigt. Die Dominanz der Erwerbseinkommen trug neben dem egalitären gesellschaftlichen Leitbild und der zentralen Planung dazu bei, dass die Einkommensverteilung in Ostdeutschland gleichmäßiger war als in Westdeutschland. Auf das obere Fünftel der Personen in der Einkommensskala entfielen 1990 in Ostdeutschland dreißig Prozent des Gesamteinkommens, während es 1989 in Westdeutschland 37 Prozent waren. Auf das unterste Fünftel entfielen 1990 in Ostdeutschland zwölf Prozent des Gesamteinkommens, in Westdeutschland waren es 1989 nur neun Prozent.40 c) Öffentliche Transferleistungen Die Bedeutung der Sozialpolitik wurde in der Deutschen Demokratischen Republik nur zögernd anerkannt. Die in der kapitalistischen Marktwirtschaft entwickelte Legitimation, dass die Sozialpolitik ein Marktversagen kompensieren soll, ließ sich auf die sozialistische Planwirtschaft nicht übertragen. Man ging davon aus, dass die individuellen Lebensverhältnisse in der Wirtschaftsplanung angemessen berücksichtigt werden sollten. Dennoch waren auch in der Planwirtschaft öffentliche Transferleistungen notwendig, um einen Ausfall von Erwerbseinkommen zu kompensieren.41 Die Deutsche Demokratische Republik übernahm die 39 Manfred E. Streit, Die deutsche Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Hg., Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998. 40 Gert Wagner / Richard Hauser / Klaus Müller / Jochen Frick, Einkommensverteilung und Einkommenszufriedenheit in den neuen und alten Bundesländern, in: Wolfgang Glatzer / Heinz-Herbert Noll, Hg., Lebensverhältnisse in Deutschland: Ungleichheit und Angleichung, Frankfurt am Main 1992, S. 95.

316

6. Kap.: Ein Umweg

Sozialversicherung und die Fürsorge als wichtigste Träger öffentlicher Transferleistungen aus dem Erbe der bürgerlichen Gesellschaft, ordnete sie aber strikt der zentralen Planung unter. Erst seit den sechziger Jahren wurde eine Theorie der sozialistischen Sozialpolitik entwickelt. Schutz, Unterstützung und Fürsorge wurden als besondere Aufgaben der Sozialpolitik im Rahmen der allgemeinen Wirtschaftsplanung anerkannt. Auf dem Siebten Parteitag der SED wurde 1967 das Programm einer „marxistisch-leninistischen Sozialpolitik“ vorgestellt.42 Die Sozialversicherung als wichtiger Teilbereich der Sozialpolitik wurde in der Sowjetischen Besatzungszone 1947 als Einheitsversicherung gestaltet, in der die Krankenversicherung, die Unfallversicherung und die Alters- und Invalidenversicherung zusammengefasst waren. Auch die selbständigen Landwirte wurden nunmehr in die Sozialversicherung einbezogen. Die Arbeitslosenversicherung blieb von den übrigen Versicherungszweigen institutionell getrennt und wurde von den Landesarbeitsämtern verwaltet. Der Beitrag zur Sozialversicherung, der auch die Arbeitslosenversicherung einschloss, war auf insgesamt zwanzig Prozent des Bruttoeinkommens festgesetzt und wurde von den Beschäftigten und den Betrieben zu gleichen Teilen getragen. Die Bemessungsgrenze der Beiträge und Leistungen wurde auf 600 RM Monatseinkommen festgelegt. Staatliche Zuschüsse waren zunächst nicht vorgesehen. Die Sowjetische Militärregierung und die Deutsche Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge empfahlen die neue Einheitsversicherung auch als gesamtdeutsches Modell.43 Mit der Sozialversicherungsreform von 1956 wurde das Prinzip der Einheitsversicherung wieder teilweise zurückgenommen. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund übernahm die Verwaltung der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten. Für die Sozialversicherung der Genossenschaftsmitglieder und der Selbständigen wurde dagegen die Deutsche Versicherungsanstalt zuständig, die seit 1952 als staatliches Versicherungsunternehmen tätig war.44 Da der FDGB sich als Teil des Herrschaftssystems verstand, hatte die Neuorganisation für die Politik der Sozialversicherung keine Bedeutung. Die gewerkschaftliche Verwaltung der Sozialversicherung betonte 1960 in Übereinstimmung mit der Politik von Partei und Regierung die zentrale Bedeutung der Produktivität für die Sozialpolitik. „Die Gewerkschaften helfen, wie der 5. FDGB-Kongreß darlegte, die Produktivkräfte allseitig zu entwickeln und dadurch Wohlstand und Reichtum des Volkes und jedes einzelnen Werktätigen und seiner Familie zu erhöhen. Deshalb ist die Gesundheits- und Sozialpolitik der Gewerkschaften darauf gerichtet, für alle Werktätigen Gesund41 Heinz Eberth, Soziale Sicherung. Sozialversicherung der DDR, in: Günter Manz / Ekkehard Sachse / Gunnar Winkler, Hg., Sozialpolitik in der DDR – Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001. 42 Heike Trappe, Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995, S. 65. 43 Dierk Hoffmann, Sozialpolitische Neuordnung in der SBZ / DDR. Der Umbau der Sozialversicherung 1945 – 1956, München 1994, S. 67 – 170. 44 Hoffmann, Sozialpolitische Neuordnung (wie Anm. 43), S. 285 – 327.

I. Der asymmetrische Standardlebenslauf

317

heit, Lebensfreude und Schaffenskraft bis ins hohe Alter zu gewährleisten. Die Arbeiter-und-Bauern-Macht und die sozialistischen Produktionsverhältnisse sind hierfür die Grundlage und Voraussetzung. Gesundheit, Lebensfreude und Schaffenskraft wirken sich wiederum fördernd auf die Steigerung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit aus, sichert die Erfüllung der ökonomischen Aufgaben und vergrößert den Reichtum der gesamten Gesellschaft.“45 Die Fürsorge wurde in der Sowjetischen Zone 1947 durch eine neue „Sozialfürsorge“ abgelöst. Alle wichtigen Entscheidungen wurden von den kommunalen und regionalen Institutionen auf die zentralen Verwaltungen übertragen und gingen 1949 auf die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik über. Mit der Zentralisierung war auch eine Integration der Fürsorge in die Wirtschaftsplanung verbunden. Die Aufgaben der Sozialfürsorge wurden im Kern in Anlehnung an die bisherige Fürsorge definiert. Die Sozialfürsorge sollte den Lebensunterhalt für hilfsbedürftige Personen sichern, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen konnten und von anderer Seite keine Unterstützung zu erwarten hatten. Die Tendenz ging zunächst zu einer einheitlichen Fürsorgeunterstützung, so dass die früheren Sonderfürsorgebereiche abgeschafft wurden. Eine Ausnahme war die neue Sonderfürsorge für die Opfer des Faschismus. 1948 wurde auch die besondere Kriegsopferversorgung wieder eingeführt. Die Unterstützung der Arbeitslosen gehörte nicht zur Fürsorge, sondern zur Sozialversicherung. Neben der Bedürftigkeitsprüfung wurde eine Arbeitsfähigkeitsprüfung eingeführt. Arbeitsfähige Personen wurden konsequent zur Aufnahme einer Beschäftigung gedrängt.46 Die schlechte wirtschaftliche Lage und der Zustrom von Vertriebenen führten dazu, dass die Zahl der Fürsorgeempfänger in den ersten Nachkriegsjahren sehr hoch war. Ende 1946 lebten 1,1 Millionen Menschen von der Fürsorge; das entsprach 6,1 Prozent der Bevölkerung. In den folgenden Jahren wurde die Zahl der Fürsorgeempfänger stark verringert. Das hatte mehrere Gründe. Den arbeitsfähigen Bedürftigen wurde so weit wie möglich eine Beschäftigung vermittelt. Für diejenigen, die nicht erwerbsfähig waren, sollte die Sozialversicherung den Lebensunterhalt sichern. Dafür war vor allem die Mindestrente von Bedeutung, die in der Rentenversicherung eingeführt wurde. Schließlich sorgte auch die Subventionierung des Grundbedarfs dafür, dass viele Personen auch mit einem niedrigen Einkommen ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten, ohne auf die Sozialfürsorge angewiesen zu sein. 1952 war die Zahl der Fürsorgeempfänger bereits auf 434.000 Personen 45 FDGB Bundesvorstand, Verwaltung der Sozialversicherung, Entwurf Perspektivplan: „Die Aufgaben der Gewerkschaften zur Entwicklung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes und der Leistungen der Sozialversicherung bis 1965, 3. Mai 1960. SAPMO DY 30 / IV 2 / 6.11 / 76. 46 Marcel Boldorf, Sozialfürsorge in der SBZ / DDR 1945 – 1953. Ursachen, Ausmaß und Bewältigung der Nachkriegsarmut, Stuttgart 1998; Matthias Willing / Marcel Boldorf, Fürsorge / Sozialhilfe (Westzonen) und Sozialfürsorge (SBZ), in: Udo Wengst, Hg., Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2 / 1, Baden-Baden 2001.

318

6. Kap.: Ein Umweg

oder 2,5 Prozent der Bevölkerung gesunken, 1970 gab es nur noch 57.000 Fürsorgeempfänger. 1989 war die Sozialfürsorge fast verschwunden, nur noch 6.000 Personen erhielten eine laufende Unterstützung.47 Aus der traditionellen Fürsorgepolitik wurde der Grundsatz übernommen, dass die Sozialfürsorge den Lohn eines ungelernten Arbeiters nicht überschreiten sollte. Anstelle der früher üblichen regionalen Differenzierung wurden 1947 einheitliche Unterstützungssätze eingeführt. Für Hauptunterstützte waren dreißig RM im Monat vorgesehen, für jedes weitere jugendliche oder erwachsene Familienmitglied zwanzig RM und für Kinder unter 15 Jahren 17,50 RM. Um den Abstand zu den Erwerbseinkommen zu wahren, wurden als Höchstgrenze für einen Haushalt neunzig RM festgelegt, bei größeren Familien mit fünf oder mehr Kindern ausnahmsweise bis zu 135 RM. Bei der Währungsreform von 1948 wurden die Fürsorgesätze im Verhältnis von einer Reichsmark zu einer Deutschen Mark umgestellt. In den folgenden Jahren wurden die Fürsorgeleistungen schrittweise erhöht. 1989 betrug die Unterstützung für Alleinstehende 290 Mark im Monat, für Ehepaare 480 Mark und für jedes Kind sechzig Mark.48 Ergänzend zur staatlichen Sozialfürsorge wurde 1946 die „Volkssolidarität“ gegründet. Sie galt als unabhängige, überparteiliche Organisation, wurde aber von der SED gelenkt. Die „Volkssolidarität“ sollte die staatliche Unterstützung nicht ersetzen, sondern durch Vorsorgemaßnahmen, temporäre Hilfsmaßnahmen in Notsituationen und Schwerpunktprogramme zur Überwindung bestimmter Versorgungsprobleme ergänzen. Neben der von der Partei und der Regierung kontrollierten Leitung und einem Kern professioneller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beschäftigte die Volkssolidarität eine große Zahl von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern.49 Nachdem sich die wirtschaftliche Situation besserte, widmete die Volkssolidarität sich vor allem der Betreuung der älteren Generation. Im Rahmen der Betreuung organisierte die Volkssolidarität auch verschiedene Programme, in denen sich ältere Frauen und Männer durch freiwillige Arbeiten nützlich machen konnten. Zu diesen Initiativen gehörten „Rentnerbrigaden“, die Reparaturen für die Kommunalen Wohnungsverwaltungen ausführten, „Stopf- und Nähbrigaden“, auch „Omabrigaden“ genannt, als Hilfe für kinderreiche Familien, die Kinderbetreuung, und die Altenbetreuung nach dem Grundsatz „Rentner betreuen Rentner“.50 Insgesamt zeigt der innerdeutsche Vergleich große Unterschiede in der Bedeutung der Sozialleistungen. So betrug 1967 die Sozialleistungsquote in Westdeutschland 22 Prozent, in Ostdeutschland nur 14 Prozent des Nettosozialprodukts.51 47 Johannes Frerich / Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, 3 Bde., München 1996, Bd. 2, S. 369. 48 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 47), Bd. 2, S. 364 – 371. 49 Boldorf, Sozialfürsorge (wie Anm. 46), S. 173 – 186. 50 Siegfried Mrochen, Alter in der DDR. Arbeit, Freizeit, materielle Sicherung und Betreuung, Weinheim 1980, S. 122 – 138.

II. Jugend

319

Zur sekundären Einkommensverteilung durch den Staat gehörte in der ostdeutschen Gesellschaft eine umfangreiche Subventionierung des Grundbedarfs. Grundnahrungsmittel, Wohnungsmieten, Licht und Heizung, öffentliche Verkehrsmittel, Verpflegung im Betrieb, Kinderbetreuung, kulturelle Veranstaltungen und Urlaubsreisen wurden stark subventioniert. Andere Produkte, insbesondere industrielle Konsumgüter wie Haushaltsgeräte, Autos oder Unterhaltungselektronik, wurden dagegen zu überhöhten Preisen verkauft.52 Die Subventionspolitik nutzte vor allem den Familien, die einen relativ großen Teil ihres Einkommens für den Grundbedarf ausgaben, und war auch für viele ältere Menschen wichtig, die sonst mit ihren niedrigen Renten nicht existieren konnten. Insofern kompensierte die Subventionspolitik manche Defizite, die sich aus der Einkommensverteilung ergaben. Allerdings verursachte die Subventionierung erhebliche Kosten und trat dadurch zunehmend in Konkurrenz zu den Mitteln, die in den Jahresplänen für die Erhöhung der individuellen Einkommen verfügbar waren.53

II. Jugend 1. Die frühen Jahre Die Transformation vom Kapitalismus zum Sozialismus und das neue Leitbild der berufstätigen Frau veränderten in der ostdeutschen Gesellschaft die institutionelle Arbeitsteilung zwischen der Familienerziehung und der öffentlichen Erziehung. Die Familie blieb zwar die wichtigste Institution, in der die Kinder ihre frühen Lebensjahre verbrachten. Die öffentliche Kleinkindererziehung gewann jedoch an Bedeutung. Der Zielkonflikt zwischen Betreuung und Erziehung, der seit dem neunzehnten Jahrhundert diskutiert worden war, wurde zu Gunsten der Erziehung entschieden. Schon unter der Sowjetischen Militärregierung wurde die öffentliche Kleinkindererziehung organisatorisch von der Jugendfürsorge getrennt und in das Erziehungswesen integriert. Nach den Schulpolitischen Richtlinien, die im August 1949 von der SED beschlossen wurden, sollte die öffentliche Kleinkindererziehung ihre sozialfürsorgerische Funktion verlieren und eine „organische Vorstufe der Schulerziehung“ werden.54 Nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik unterstand die Kleinkindererziehung dem Ministerium für 51 Reinhard Peterhoff, Sozialpolitik – Rahmenbedingungen und Strukturen, in: Hannelore Hamel, Hg., BRD-DDR. Die Wirtschaftssysteme. Soziale Marktwirtschaft und Sozialistische Planwirtschaft im Systemvergleich, München 1977, S. 315. 52 Annette Kaminsky / Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001; Günther Manz, Einkommens- und Subventionspolitik, in: Günter Manz / Ekkehard Sachse / Gunnar Winkler, Hg., Sozialpolitik in der DDR – Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001. 53 Günter Manz, Armut in der DDR-Bevölkerung (wie Anm. 38), S. 18 – 32. 54 Zitiert nach Gert Geißler, Geschichte des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 bis 1962, Frankfurt am Main 2000, S. 248.

320

6. Kap.: Ein Umweg

Volksbildung.55 Nachdem 1958 der wirtschaftliche Wettbewerb mit der Bundesrepublik Deutschland zur Hauptaufgabe erklärt worden war, sollte die öffentliche Kleinkindererziehung weiter ausgebaut werden, um die Berufstätigkeit der Mütter zu fördern. Vorgesehen waren im einzelnen mehr Krippenplätze, eine Verbesserung der Betreuung in Krippen und Heimen und die Weiterentwicklung der Kleinkinderpädagogik.56 Hauptträger der Kinderkrippen waren die Kommunen und die Betriebe. Die institutionelle Betreuung konnte schon im Alter von wenigen Wochen beginnen. 1976 wurde das „Babyjahr“ eingeführt. Erwerbstätige Mütter konnten ihre Berufstätigkeit ein Jahr unterbrechen und erhielten in dieser Zeit eine staatliche Unterstützung, um sich der Familie zu widmen. Seitdem blieben die Kleinkinder im ersten Lebensjahr im allgemeinen in der Familie und traten erst im zweiten Lebensjahr in die Krippe ein.57 Die Kindergartenerziehung wurde seit den fünfziger Jahren erheblich ausgebaut.58 In den siebziger Jahren wurden zunehmend auch Kinderhorte eingerichtet, in denen Kinder ergänzend zur Schule im Alter von sechs bis zehn Jahren betreut wurden. 1990 gab es Kinderkrippen für 56 Prozent, Kindergärten für 95 Prozent und Kinderhorte für 81 Prozent der Kinder der entsprechenden Jahrgänge.59 2. Bildungsreform Eine Bildungsreform galt unter der Sowjetischen Militärregierung und später in der Deutschen Demokratischen Republik als ein wichtiger Aspekt der Umgestaltung der Gesellschaft. 1946 wurde von der Sowjetischen Militärregierung eine Schulreform durchgeführt, um die Schulen vom Einfluss des Nationalsozialismus befreien, darüber hinaus aber auch die sozialen Differenzen im Schulwesen zu überwinden. Die Schulreform orientierte sich an Reformvorstellungen aus der Zeit der Weimarer Republik. Die alte Volksschule wurde durch eine einheitliche achtjährige Grundschule für alle Kinder vom siebten bis zum vierzehnten Lebensjahr abgelöst. An die Grundschule konnte sich als weiterführende Schule eine vierjährige Oberschule anschließen. Die Oberschule war in einen neusprachlichen Zweig, einen mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig und einen altsprachlichen Geißler, Geschichte des Schulwesens (wie Anm. 54), S. 252. Protokoll über den Erfahrungsaustausch zwischen den Referatsleitern „Mutter und Kind“ und den Sachgebietsleiterinnen der „Krippen und Heime“ der Räte der Bezirke und einiger Städte, 20. November 1959. SAPMO DY 30 / IV 2 / 6.11 / 56. 57 Gunnar Winkler, Sozialreport DDR 1990. Daten und Fakten zur sozialen Lage in der DDR, Stuttgart 1990, S. 49 – 51. 58 Monika Müller-Rieger, Hg., „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht. . .“. Zur Geschichte des Kindergartens in der DDR, Dresden 1997. 59 Uwe Braun / Thomas Klein, Der berufliche Wiedereinstieg der Mutter im Lebensverlauf der Kinder, in: Bernhard Nauck / Hans Bertram, Hg., Kinder in Deutschland. Lebensverhältnisse von Kindern im Regionalvergleich, Opladen 1995, S. 232 – 235. 55 56

II. Jugend

321

Zweig differenziert. Nach vier Jahren führte die Oberschule zum Abitur, das die Voraussetzung für die Zulassung zu den Hochschulen und Universitäten war. Die Jugendlichen, die nach der Grundschule in den Beruf gingen, besuchten bis zum achtzehnten Lebensjahr die Berufsschule.60 Die wesentlichen Ergebnisse der Schulreform bestanden darin, dass die Differenzierung nicht schon nach vier Jahren, sondern erst nach acht Jahren einsetzte, und dass der Weg zum Abitur von dreizehn Jahren auf zwölf Jahre verkürzt wurde. Das ostdeutsche Schulwesen blieb aber zunächst restriktiv. Die meisten Schüler oder Schülerinnen verließen wie bisher nach acht Jahren die Schule, nur wenige besuchten die Oberschule. Um den Zugang zu den Universitäten zu erleichtern, wurden für Schüler und Schülerinnen ohne Abitur 1949 an den Universitäten Arbeiter- und Bauernfakultäten zur Vorbereitung auf das Studium eingerichtet. Die Mittelschulen wurden vorübergehend abgeschafft, aber 1951 wieder eingeführt. Sie führten im Anschluss an die Grundschule in weiteren zwei Jahren zur mittleren Reife.61 Größere Veränderungen brachte die Schulreform von 1959, mit der die „sozialistische Entwicklung des Schulwesens“ eingeleitet werden sollte. Das Ziel war, das allgemeine Qualifikationsniveau zu erhöhen und die Jugendlichen besser auf die Arbeitswelt vorzubereiten. Die achtjährige Grundschule verschwand und wurde durch eine zehnklassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule abgelöst. Sie teilte sich in eine Unterstufe von der ersten bis zur vierten Klasse, und eine Oberstufe von der fünften bis zur zehnten Klasse. Die Binnendifferenzierung erinnerte noch an die alte vierjährige Elementarschule. Der Regelabschluss der allgemeinen Schule entsprach nunmehr der früheren mittleren Reife. Als weiterführende Schule gab es die Erweiterte Oberschule, die im Anschluss an die allgemeine polytechnische Oberschule in weiteren zwei Jahren zum Abitur führte. Andere Wege zum Abitur waren die Arbeiter- und Bauernfakultäten, die Abendoberschule und die Betriebsoberschule.62 Die Arbeiter- und Bauernfakultäten galten jedoch nach der Schulreform und der sozialen Öffnung der weiterführenden Schulen als historisch überholt und wurden 1963 abgeschafft.63 Die Struktur, die mit der Schulreform von 1959 eingeführt wurde, blieb bis zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik bestehen. Bei der Bildungsreform von 1965 ging es nur um geringfügige Änderungen. Die Oberschule teilte sich nunmehr in eine Unterstufe von der ersten bis zur dritten Klasse, eine Mittelstufe von der vierten bis zur sechsten Klasse und eine Oberstufe von der siebten bis zur zehnten Klasse.64 60 Geißler, Geschichte des Schulwesens (wie Anm. 54), S. 85 – 89; Gero Lenhardt / Manfred Stock, Bildung, Bürger, Arbeitskraft: Schulentwicklung und Sozialstruktur in der BRD und der DDR, Frankfurt 1997, S. 137 – 138. 61 Geißler, Geschichte des Schulwesens (wie Anm. 54), S. 264 – 267; Lenhardt / Stock, Bildung, Bürger, Arbeitskraft (wie Anm. 60), S. 148 – 150. 62 Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik vom 2. Dezember 1959. GBl. 1959 I, S. 859 – 863. 63 Geißler, Geschichte des Schulwesens (wie Anm. 54), S. 264. 64 Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25. Februar 1965. GBl. 1965 I, S. 83 – 106.

21 Hardach

322

6. Kap.: Ein Umweg

Die Einführung der zehnjährigen Regelschule konnte im innerdeutschen Vergleich als Fortschritt gelten, denn in Westdeutschland war zu der Zeit noch als Mindeststandard die achtjährige Schule üblich. Der Zugang zu den Universitäten und Hochschulen blieb in Ostdeutschland jedoch restriktiv, obwohl durch den zweiten Bildungsweg neue Wege zum Abitur geschaffen wurden. Die staatliche Bildungsplanung und Berufsplanung strebte weder eine starke Erhöhung der Abiturientenzahlen, noch eine Ausweitung des Studiums an Universitäten und Hochschulen an. Im politischen Diskurs entwickelte sich seit den sechziger Jahren die „wissenschaftlich-technische Revolution“ zu einem Schlüsselbegriff. An der bewussten Durchsetzung der wissenschaftlich-technischen Revolution sollte sich die Überlegenheit der sozialistischen Produktionsverhältnisse gegenüber dem Kapitalismus erweisen.65 Die wissenschaftliche Ausbildung an Hochschulen und Universitäten wurde jedoch vernachlässigt. Für das Bildungsdefizit war nicht nur die Knappheit an Ressourcen und eine Fehleinschätzung der künftigen Entwicklung verantwortlich, sondern auch die Furcht der Partei- und Staatsführung vor einer kritischen Jugend.66 Seit den siebziger Jahren geriet das ostdeutsche Bildungswesen im innerdeutschen Vergleich, aber auch im Vergleich mit anderen Ländern in einen Rückstand. 1980 erreichten acht Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs die Hochschulreife, 1989 war die Quote mit neun Prozent nur wenig höher.67 Das Leitbild der ostdeutschen Bildungspolitik war nicht die Erweiterung der individuellen Lebensoptionen, sondern die Integration der jungen Generation in die sozialistische Arbeitsgesellschaft.68 3. Wehrpflicht Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs blieb die ostdeutsche Jugend ebenso wie die westdeutsche Jugend einige Jahre von militärischen Störungen im Lebenslauf verschont. Der Kalte Krieg führte jedoch zu einer Remilitarisierung. 1956 wurde die Nationale Volksarmee gegründet. Sie war zunächst eine Berufsarmee. Nach der Sperrung der Grenze wurde 1962 die Wehrpflicht eingeführt. Der Grundwehrdienst dauerte bis zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik achtzehn Monate.69 65 Georg Klaus / Manfred Buhr, Hg., Philosophisches Wörterbuch, 2 Bde., Leipzig 1974, Bd. 2, S. 1313. 66 Martin Kohli, Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale Differenzierung, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr, Hg., Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 54. 67 Alexander Reinberg / Markus Hummel, Bildung und Beschäftigung im vereinigten Deutschland. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 226, Nürnberg 1999, S. 57. 68 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Neunter Jugendbericht. Bericht über die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern, Bonn 1994, S. 24. 69 Detlev Bald, Hg., Die Nationale Volksarmee, Baden-Baden 1992; Peter Joachim Lapp, Die Nationale Volksarmee 1956 – 1990, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbei-

II. Jugend

323

4. Parallelerziehung Zur importierten Revolution gehörte von Anfang an das Programm einer umfassenden Parallelerziehung, mit der die Jugend in die neue Gesellschaft integriert werden sollte. Partei und Regierung wussten, dass das staatssozialistische Modell nur bei einer Minderheit der Bevölkerung Zustimmung fand. Sie vertrauten aber darauf, dass die Jugend, die im Sozialismus aufwuchs, eher bereit sein werde, die neue Gesellschaftsordnung zu vertreten. Deshalb sollte die Integration der Jugend in das Gesellschaftssystem systematisch gefördert werden. „Sozialisten werden nicht geboren, sondern erzogen“, hieß es 1963 programmatisch in einem Bericht über die Arbeit der „Pionierorganisation“, einer der SED zugeordneten Kinderorganisation, an den Sechsten Parteitag der SED.70 Eine führende Rolle bei der Integration der Jugend sollten die neuen Jugendorganisationen übernehmen. Im März 1946 wurde die „Freie Deutsche Jugend“ gegründet, im Dezember 1948 die „Pionierorganisation“ für Kinder. Die „Freie Deutsche Jugend“ stellte sich als Interessenvertretung der Jugend dar, war aber tatsächlich ein Teil des Herrschaftsapparates. Ihre wichtigste Aufgabe war die ideologische Beeinflussung der Jugend. Die Abhängigkeit von Partei und Staat machte die Jugendorganisation bei ihren Adressaten aber unglaubwürdig. Schon 1952 kritisierte die Parteiführung, dass die „Freie Deutsche Jugend“ wenig Einfluss auf die Jugendlichen hatte.71 Halbherzige Versuche, auf die Jugend zuzugehen, scheiterten immer wieder daran, dass die „Freie Deutsche Jugend“ als Instrument politischer Ziele benutzt wurde. So sollte die Jugendorganisation zusätzliche Arbeitseinsätze organisieren, weil es aufgrund der geringen Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft ständig einen Mangel an Arbeitskräften gab. Nach der Remilitarisierung 1956 wurde die Werbung für die Volksarmee zu einer wichtigen Aufgabe der „Freien Deutschen Jugend“. Nach der Schließung der Grenze im August 1961 setzte eine „Eiszeit“ in den Beziehungen zwischen Partei und Staat und der Jugend ein, die bis zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik anhielt.72 Die Jugendfürsorge passte nicht in das Selbstverständnis der ostdeutschen Gesellschaft. Sie galt als Begleiterscheinung der kapitalistischen Gesellschaft und sollte in der sozialistischen Gesellschaft überflüssig werden. Daher wurde die Jutung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. II / 3, Baden-Baden 1995; Rüdiger Wenzke, Die Wehrpflicht im Spiegel der marxistisch-leninistischen Theorie und der „realsozialistischen“ Praxis der DDR, in: Roland G. Foerster, Hg., Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-institutionelle Wirkung, München 1994. 70 Zitiert nach Sabine Andresen, „Sozialisten werden nicht geboren, sondern erzogen“. Kindheit und Politik – Pionierbiographien der DDR, in: Imbke Behnken / Jürgen Zinnecker, Hg., Kinder, Kindheit, Lebensgeschichte. Ein Handbuch, Seelze-Velbert 2001, S. 1014. 71 Peter Skyba, Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDR und Jugendpolitik der SED 1949 – 1961, Köln 2000. 72 Skyba, Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko (wie Anm. 71), S. 422. 21*

324

6. Kap.: Ein Umweg

gendfürsorge auf die Kernbereiche der Betreuung und Disziplinierung Jugendlicher bis hin zur Heimerziehung begrenzt. Es gab keine Bestrebungen, die Jugendfürsorge zu einer allgemeinen Bildungsinstitution auszubauen.73

5. Jugenderfahrungen Trotz der zeitlos starren Herrschaftsverhältnisse gab es auch in der ostdeutschen Gesellschaft einen Wandel in den Einstellungen der Jugendgeneration zur Gesellschaft. Im Anschluss an Bernd Lindner kann man drei Jugendgenerationen unterscheiden. Als Jugend gilt in Anlehnung an das Jugendgesetz der Deutschen Demokratischen Republik von 1974 die Altersgruppe von 14 bis 25 Jahren, mit einer gewissen Flexibilität am unteren und am oberen Rande. Die Jugendlichen der Zeit von 1945 bis zur Mitte der fünfziger Jahre, geboren zwischen 1930 und 1940, werden als die „Aufbaugeneration“ charakterisiert. Prägende Erfahrungen waren der Aufstand von 1953, die massive Flucht nach Westdeutschland, aber auch Hoffnungen, die sich mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung verbanden. Zwischen dem Bau der Mauer 1961 und der Mitte der siebziger Jahre trat eine neue Jugendgeneration in den Vordergrund, geboren zwischen 1945 und 1961. Diese Jugendlichen werden als eine „integrierte Generation“ bezeichnet. Sie richteten sich auf ein Leben in der Deutschen Demokratischen Republik ein. Das Gesellschaftssystem nahmen sie als gefestigt, aber noch entwicklungsfähig wahr. Das wirtschaftliche Wachstum und der Ausbau der Sozialpolitik wurden im Alltag spürbar. Den Jugendlichen standen neue Berufe offen, und die Bildungsreform förderte den sozialen Aufstieg. Der Lebensstandard lag zwar trotz der 1959 beschlossenen Wachstumsoffensive immer noch unter dem westdeutschen Niveau, ging aber wesentlich über die Erfahrungen der älteren Generation hinaus.74 Die Staatsmacht erlaubte in dieser Zeit innerhalb der Systemgrenzen mehr individuelle Freiheiten.75 Die moderate Integration, die für diese Jugendgeneration gelten mochte, war jedoch nicht von Dauer. Die nächste Jugendgeneration, von der Mitte der siebziger Jahre bis zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik, war zwischen 1961 und 1975 geboren. Obwohl sie ihr ganzes Leben in der als gefestigt deklarierten sozialistischen Gesellschaft verbracht hatte, wurde sie eine „distanzierte Generation“. Ihr Grundzug war die Abkehr vom System. Die brüchig gewordenen politi73 Sabine Hering / Richard Münchmeier, Geschichte der Sozialen Arbeit, Weinheim 2000, S. 218 – 221. 74 Bernd Lindner, „Bau auf, Freie Deutsche Jugend“ – und was dann? Kriterien für ein Modell der Jugendorganisation der DDR, in: Jürgen Reulecke / Elisabeth Müller-Luckner, Hg., Generationen und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 199 – 209. 75 Dorothee Wierling, Wie (er)findet man eine Generation? Das Beispiel der Geburtsjahrgangs 1949 in der DDR, in: Jürgen Reulecke / Elisabeth Müller-Luckner, Hg., Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 223 – 224.

II. Jugend

325

schen Appelle von Partei und Staat prallten an den Jugendlichen ab. Die materiellen Lebensbedingungen wurden nicht nach den internen Kriterien von Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und subventionierter Grundversorgung bewertet, sondern nach dem Rückstand gegenüber der westdeutschen Wirtschaft, der entgegen allen offiziellen Versprechungen nicht aufgeholt wurde.76 Auf die verweigerte Anpassung der Jugendlichen, die in der Deutschen Demokratischen Republik geboren und aufgewachsen waren, hat auch Harry Müller hingewiesen. Nach seinen Beobachtungen suchten die Jugendlichen seit den siebziger Jahren den Sinn ihres Lebens zunehmend in Bereichen, die außerhalb der Indoktrination und Kontrolle von Partei und Staat lagen. Das Gesellschaftskonzept des Staatssozialismus wurde durch den Widerspruch zwischen der politischen Repression, den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und den materiellen Einschränkungen auf der einen Seite, und einer schönfärberischen Berichterstattung auf der anderen Seite, bei der Jugend immer unglaubwürdiger.77 Auch der anhaltende Misserfolg der offiziellen Jugendorganisation bestätigt, dass der Konflikt zwischen der Jugend und der Partei- und Staatsführung der Deutschen Demokratischen Republik kein Relikt aus der Übergangszeit von der bürgerlichen Gesellschaft zum Sozialismus war. Die Jugenderfahrungen scheinen den weiteren Lebensweg auf unterschiedliche Weise beeinflusst zu haben. In den lebensgeschichtlichen Interviews, die Lutz Niethammer, Alexander von Plato und Dorothee Wierling kurz vor der Revolution in Ostdeutschland durchführten, kamen die zwischen 1930 und 1940 geborenen Angehörigen der „Aufbaugeneration“ als ältere Erwerbstätige oder häufig auch schon als Rentner oder Rentnerinnen zu Wort. Aspekte wie die hohe Arbeitsmotivation, der individuelle Aufstieg und eine gewisse Identifizierung mit dem ostdeutschen Sonderweg, die in den Interviews deutlich wurden, könnten darauf hinweisen, dass die Jugendlichen ihre Aufbaumentalität auf dem Weg durch die Generationengruppen mitgenommen haben.78 Dagegen scheint es im Lebensweg der zwischen 1945 und 1961 geborenen Angehörigen der „integrierten Generation“ eher einen Bruch gegeben zu haben, denn die integrierten Jugendlichen wurden in ihrem späteren Leben die Hauptträger der Revolution von 1989 – 1990.79

Lindner, „Bau auf, Freie Deutsche Jugend“ (wie Anm. 74), S. 209 – 211. Harry Müller, Lebenswerte und nationale Identität, in: Walter Friedrich / Hartmut Griese, Hg., Jugend und Jugendforschung in der DDR. Gesellschaftliche Situationen, Sozialisation und Mentalitätsentwicklung in den achtziger Jahren, Opladen 1991, S. 124. 78 Lutz Niethammer, / Alexander von Plato / Dorothee Wierling, Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991. 79 Lindner, „Bau auf, Freie Deutsche Jugend“ (wie Anm. 74), S. 210. 76 77

326

6. Kap.: Ein Umweg

III. Beruf 1. Gleichberechtigung in Theorie und Praxis Die berufliche Gleichstellung von Frauen und Männern galt in der Deutschen Demokratischen Republik als wichtiges gesellschaftspolitisches Ziel. Im Alltag war es aber nicht einfach, das Erbe der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, das in der Bevölkerung, in den Betrieben und in den Verwaltungen noch präsent war, zu überwinden. 1950 betrug der Anteil der Frauen an den Beschäftigten 40 Prozent. Es war damit etwas höher als in früheren Generationen. In den folgenden Jahrzehnten nahm die Erwerbsorientierung der Frauen stetig zu. 1970 stellten die Frauen 48 Prozent der Beschäftigten, 1989 waren es 49 Prozent.80 Anfang der sechziger Jahre gab es noch einen erheblichen Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Leitbild der Gleichberechtigung und einer alltäglichen geschlechtsspezifischen Segmentierung in der Arbeitswelt. Männliche und weibliche Lebenswege wurden immer noch geschlechtsspezifisch definiert. Die Frauen sollten erwerbstätig sein, zusätzlich aber auch die Sorge für die Familie übernehmen. So hieß es in den sechziger Jahren, das Anliegen der sozialistischen Gesellschaft sollte die Schaffung von Bedingungen sein, „die es der Frau gestatten, am gesellschaftlichen Arbeitsprozeß schöpferisch teilzunehmen bei gleichzeitiger Erfüllung ihrer Pflichten als Hausfrau und Mutter“.81 Der Grundsatz der beruflichen Gleichstellung von Frauen und Männern setzte sich in den Betrieben nur zögernd durch. Frauen wurden in den fünfziger Jahren vor allem als ungelernte oder angelernte Arbeiterinnen beschäftigt. Als Frauenberufe galten Maschinenarbeiterin, Montiererin, Straßenbahnschaffnerin oder Bauhilfsarbeiterin. Verhältnismäßig wenige Frauen wurden zu Facharbeiterinnen ausgebildet oder auf Leitungsaufgaben vorbereitet.82 Seit den sechziger Jahren erkannten Partei und Regierung das Qualifikationsproblem. Die Ausbildung und Weiterbildung von Frauen sollte nunmehr besonders gefördert werden. In der Verfassung von 1968 wurde nicht nur der Gleichheitsgrundsatz bestätigt, sondern es wurde auch betont, dass die Förderung der Frauen, besonders in der beruflichen Qualifizierung, eine gesellschaftliche und staatliche Aufgabe war.83 Die Angleichung von männlichen und weiblichen Erwerbsbiographien verzögerte sich auch deshalb, weil Frauen eher als Männer bereit waren, ihr berufliches Engagement zu Gunsten der Familie einzuschränken.84 Seit den siebziger Statistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 1, 17. Helga Ulbricht / Annelies Nötzold / Otto Simon / Helmut Thiemann, Probleme der Frauenarbeit, Berlin 1963, S. 9. 82 Trappe, Emanzipation oder Zwang (wie Anm. 42), S. 50. 83 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik 1968 (wie Anm. 5), Artikel 20. 84 Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1986, S. 244 – 248. 80 81

III. Beruf

327

Jahren wurden arbeitspolitische und familienpolitische Maßnahmen eingeführt, mit denen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden sollte. Das Leitbild der neuen Vereinbarkeitspolitik war das Parallelmodell, das eine Verbindung von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit vorsah. Die arbeitspolitischen und familienpolitischen Angebote der neuen Vereinbarkeitspolitik richteten sich, in Übereinstimmung mit dem Leitbild des asymmetrischen Standardlebenslaufs, fast ausschließlich an Frauen. Erst 1986 wurde der Erziehungsurlaub auf Männer ausgedehnt.85 Insgesamt gab es erhebliche Fortschritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung. Frauen erreichten allmählich die gleiche Schulbildung, Hochschulbildung und Berufsausbildung wie Männer, und Frauen wurden zunehmend außerhalb der traditionellen Frauenberufe beschäftigt. Der Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft unterstützte die Annäherung der Erwerbsbiographien, weil viele neue Berufe entstanden, in denen nicht ein historisches Erbe an geschlechtsspezifischer Segmentierung zu überwinden war. Die weiblichen Erwerbsbiographien näherten sich allmählich dem Modell der kontinuierlichen Beschäftigung von der Jugend bis zum Ruhestand an.86 Das idealisierende Leitbild, das durch die Massenmedien verbreitet wurde, waren Frauen, die „Vollerwerbstätigkeit, Kindererziehung, Haushalt, politisches Engagement, eigene Weiterbildung, kulturelle Bedürfnisse quasi problemlos realisieren“.87 Trotz der Annäherung gab es aber noch keine Gleichheit der Erwerbsbiographien von Frauen und Männern. Die Mehrheit der Frauen war immer noch in den traditionellen Frauenberufen beschäftigt. Frauen wurden öfter als Männer unterhalb ihrer Qualifikation beschäftigt, sie hatten weniger Aufstiegschancen als Männer, und sie waren in den Leitungen der großen staatlichen Betriebe und in den Führungspositionen von Partei und Staat unterrepräsentiert. Der Grundsatz, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt werden sollte, wurde im Allgemeinen beachtet, aber durch die strukturelle Benachteiligung im Beruf hatten Frauen auch geringere Löhne und Gehälter als die Männer. Damit wurde die Rolle des Mannes als Hauptverdiener betont.88

85 Amend-Wegmann, Vereinbarkeitspolitik (wie Anm. 7), S. 254 – 264; Barbara Hille, Familie und Sozialstruktur in der DDR, Opladen 1985, S. 65 – 66. 86 Dagmar Deutschmann-Temel, Vergleichbarkeit oder Unvergleichbarkeit von Arbeitszeitformen der Frauenerwerbsarbeit in der ehemaligen DDR und alten Bundesrepublik, in: Sabine Gensior, Hg., Vergesellschaftung und Frauenerwerbsarbeit. Ost-West-Vergleiche, Berlin 1995; Trappe, Emanzipation oder Zwang (wie Anm. 42), S. 94 – 101. 87 Uta Schlegel, Junge Frauen, in: Walter Friedrich / Hartmut Griese, Hg., Jugend und Jugendforschung in der DDR. Gesellschaftliche Situationen, Sozialisation und Mentalitätsentwicklung in den achtziger Jahren, Opladen 1991, S. 166. 88 Hildegard Maria Nickel, „Mitgestalterinnen des Sozialismus“ – Frauenarbeit in der DDR, in: Gisela Helwig / Hildegard Maria Nickel, Hg., Frauen in Deutschland 1945 – 1992, Berlin 1993.

328

6. Kap.: Ein Umweg

2. Die Stabilisierung der Erwerbsbiographien Die zentrale Planung förderte die Stabilität und Kontinuität der Erwerbsbiographien. Das Recht auf Arbeit war nicht nur ein Verfassungsanspruch, sondern wurde durch die Wirtschaftsplanung im Alltag durchgeführt. Die Stetigkeit der Beschäftigung wurde auch dadurch gefördert, dass die Betriebe in der Planwirtschaft nicht dem gleichen Rationalisierungsdruck ausgesetzt waren wie in einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Seit den sechziger Jahren galt es als wichtiges Ziel, das Qualifikationsniveau der Beschäftigten anzuheben. Die ungelernten und angelernten Arbeiter und Arbeiterinnen sollten so weit wie möglich durch bessere individuelle Ausbildung und Weiterbildung und durch die Modernisierung der Betriebsorganisation zu Facharbeitern qualifiziert werden. Die Einkommensdifferenzen zwischen den Arbeitern und Arbeiterinnen verschiedener Qualifikationsstufen wurden reduziert. 1989 betrug der monatliche Durchschnittslohn für einen ungelernten oder angelernten Arbeiter 912 Mark, für einen Facharbeiter 1037 Mark. Es gab zwar einige Leistungsanreize, um die Produktivität zu fördern, aber die Lohndifferenzierung blieb gering.89 Trotz der Planung der Arbeit gab es auch in der sozialistischen Gesellschaft eine berufliche Mobilität. Die Weiterbildung und berufliche Förderung der Beschäftigten entsprach den ideologischen Zielen der staatssozialistischen Gesellschaft, war aber auch wirtschaftlich notwendig, um die abgewanderten Experten der neuen Mittelklasse zu ersetzen. Aufstiegschancen gab es vor allem für Männer, mit Einschränkungen aber auch für Frauen. Ein weiterer Grund der Mobilität war der Strukturwandel der Wirtschaft. Er hatte zur Folge, dass ständig Arbeitskräfte aus schrumpfenden Branchen in expandierende Branchen wechseln mussten. Schließlich gab es neben dem beruflichen Aufstieg und dem Strukturwandel die Mobilität von Arbeitern oder Arbeiterinnen, die aus eigener Initiative den Betrieb wechselten. Die Stabilisierung der Erwerbsbiographien führte dazu, dass der Altersabstieg in der ostdeutschen Gesellschaft weniger ausgeprägt war als in früheren Generationen. Ältere Facharbeiter und Facharbeiterinnen wechselten manchmal in eine Tätigkeit als angelernte oder ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen. Dieser Wechsel war aber, im Unterschied zum früheren Altersabstieg, nicht mehr mit gravierenden Einkommensverlusten verbunden.90 Da in der ostdeutschen Wirtschaft ständig ein Mangel an Arbeitskräften herrschte, waren vollständige Erwerbsbiographien erwünscht. Dieses arbeitsmarktpolitische Ziel galt nicht nur für die Männer, sondern auch für die Frauen. Tatsächlich nahmen die meisten Mütter nach dem Ablauf des Mutterschaftsurlaubs und der 89 Martin Diewald / Heike Solga, Soziale Ungleichheiten in der DDR: Die feinen, aber deutlichen Unterschiede am Vorabend der Wende, in: Johannes Huinink / Karl Ulrich Mayer, Hg., Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, Berlin 1995, S. 269. 90 Johannes Huinink / Karl Ulrich Mayer / Heike Trappe, Staatliche Lenkung und individuelle Karrierechancen: Bildungs- und Berufsverläufe, in: Johannes Huinink / Karl Ulrich Mayer, Hg., Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, Berlin 1995.

III. Beruf

329

1976 eingeführten Erziehungszeit wieder ihre Erwerbstätigkeit auf.91 In den sechziger Jahren wurde die Teilzeitbeschäftigung empfohlen, um Frauen, denen die doppelte Belastung durch die Familientätigkeit und eine volle Berufstätigkeit zu hoch erschien, für eine Berufstätigkeit zu gewinnen. Die Teilzeitbeschäftigung, hieß es damals, sei „ein Schritt zur weiteren Durchsetzung des Prinzips der Gleichberechtigung der Frau“.92 Gedacht war daran, dass eine Teilzeitbeschäftigung den Frauen nach einer Unterbrechung der Erwerbstätigkeit den Wiedereinstieg in den Beruf ebnen sollte. Ein Widerspruch lag aber darin, dass die Teilzeitbeschäftigung, die vorwiegend von Frauen und nicht von Männern ausgeübt wurde, die geschlechtsspezifische Segmentierung des Arbeitsmarktes verstärkte. Seit den sechziger Jahren nahmen zahlreiche Frauen die neuen Angebote von Teilzeitarbeit in Anspruch. Für eine Teilzeitarbeit entschieden sich aber nicht nur die bisher nicht erwerbstätigen Frauen, für die dieses Angebot gedacht war. Auch viele erwerbstätige Frauen, denen die doppelte Belastung durch eine volle Stelle und die Familie zu groß war, suchten sich eine Teilzeitbeschäftigung. Nachdem immer mehr Frauen von einer Vollzeittätigkeit in eine Teilzeittätigkeit wechselten, wurde die Arbeitsmarktpolitik revidiert. Seit den späten siebziger Jahren schränkten die Betriebe und die öffentliche Verwaltung das Angebot an Teilzeitstellen wieder ein.93 Die Arbeitsproduktivität war in der ostdeutschen Wirtschaft von Anfang an geringer als in der westdeutschen Wirtschaft, und es gelang auch nicht, den Rückstand aufzuholen. Aufgrund des mäßigen Produktivitätswachstums wurden die Arbeitszeiten in Ostdeutschland wesentlich zögerlicher reduziert als in Westdeutschland. Anfang der fünfziger Jahre betrug die Arbeitszeit 48 Wochenstunden, verteilt auf sechs Arbeitstage. 1989 galt die Fünftagewoche mit einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 43 Stunden.94 Die Wechselwirkung zwischen bescheidenen Produktivitätsfortschritten und langen Arbeitszeiten führte in den ostdeutschen Erwerbsbiographien zu einem Kompensationsmechanismus. „Wo die Arbeit als Tätigkeit enttäuschte, wurden die Arbeitsbeziehungen zum Ersatz. Nicht in der Produktivität oder Rationalität der Arbeit, sondern in der Kollegialität und Solidarität der Arbeitsgruppe wurden Sinn und Befriedigung gesucht und nicht selten gefunden.“95

91 92 93 94 95

Amend-Wegmann, Vereinbarkeitspolitik (wie Anm. 7), S. 257 – 258. Ulbricht / Nötzold / Simon, Thiemann, Probleme der Frauenarbeit (wie Anm. 81), S. 75. Schlegel, Junge Frauen (wie Anm. 87), S. 166 – 167. Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (Anm. 47), Bd. 2, S. 110, 145. Wierling, Wie (er)findet man eine Generation? (wie Anm. 75), S. 223.

330

6. Kap.: Ein Umweg

IV. Familie 1. Die kleinste Zelle der Gesellschaft Die Berufstätigkeit der Frauen sollte in der Deutschen Demokratischen Republik nicht zu Lasten der Familie gehen. Gesellschaftspolitisch und auch wirtschaftspolitisch erwünscht war beides, Beruf und Familie. Ehe und Familie bildeten nach der Verfassung vom Oktober 1949 die Grundlage des Gemeinschaftslebens und standen unter dem Schutz des Staates.96 Nach der herrschenden Ideologie sollte mit der Durchsetzung der sozialistischen Lebensweise auch eine sozialistische Familie entstehen, die sich von der bürgerlichen Familie unterschied. Als theoretische Grundlage galt die historische Theorie der Familie, die Friedrich Engels im Anschluss an die Forschungen von Lewis H. Morgan entwickelt hatte. Engels hatte darin die Marxsche Theorie der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse durch eine Entwicklungstheorie der Familie ergänzt. Wirtschaft und Familie, die Produktion und die Reproduktion des unmittelbaren Lebens, entwickelten sich parallel zueinander. Mit der sozialistischen Gesellschaft würde daher auch eine sozialistische Familie entstehen. Zu der „Ordnung der Geschlechtsverhältnisse nach der kommenden Wegfegung der kapitalistischen Produktion“ machte Engels aber nur wenige Andeutungen, die sich eher auf die Ehe als auf die Familie bezogen. Die ökonomischen Zwänge, die seiner Ansicht nach die bürgerliche Ehe belasteten, würden verschwinden und durch eine selbstbestimmte Partnerschaft abgelöst werden. Im übrigen würde eine künftige Generation die sozialistische Familie gestalten, wenn die Zeit gekommen war.97 Nach dem Selbstverständnis der staatssozialistischen Gesellschaft war der Übergang zum Sozialismus die Voraussetzung für die Überwindung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. „Die wirkliche, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfassende Gleichberechtigung der Frau kann nur in der sozialistischen Gesellschaftsordnung verwirklicht werden.“98 Die Charakterisierung der sozialistischen Ehe als selbstbestimmte Partnerschaft entsprach den Auffassungen der Arbeiterbewegung und beeinflusste auch die Ehegesetzgebung in der Deutschen Demokratischen Republik. Zwar wurde die Ehe zusammen mit der Familie gewürdigt und unter den Schutz des Staates gestellt. Ehescheidungen wurden aber erleichtert, und die Diskriminierung nichtehelicher Lebensformen wurde abgeschafft. Familien, die auf nichtehelichen Lebensgemeinschaften beruhten, und unvollständige Familien von allein erziehenden Müttern oder Vätern wurden der Ehepaarfamilie gleich gestellt. Trotz der proklamierten Gleichberechtigung unterschieden sich männliche und weibliche Lebenswege, denn die Familientätigkeit blieb in der staatssozialistischen Gesellschaft geschlechtsVerfassung der Deutschen Demokratischen Republik 1949 (wie Anm. 6), Artikel 30. Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (1884), in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke 21, Berlin 1975, S. 83. 98 Ulbricht / Nötzold / Simon / Thiemann, Probleme der Frauenarbeit (wie Anm. 81), S. 9. 96 97

IV. Familie

331

spezifisch definiert. Die Verfassung von 1949 nannte zwar Familienpflichten der Frauen, aber keine Familienpflichten der Männer: „Durch Gesetz der Republik werden Einrichtungen geschaffen, die es gewährleisten, dass die Frau ihre Aufgabe als Bürgerin und Schaffende mit ihren Pflichten als Frau und Mutter vereinbaren kann“.99 Die Vereinbarung von Beruf und Familie galt bis zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik vor allem als Aufgabe der Frauen. Bei der Entwicklung einer sozialistischen Familienideologie stand nicht die individuelle Entscheidungsfreiheit im Vordergrund, sondern eher das gegenteilige Bestreben, die Institution der Familie den Zielen von Partei und Staat nutzbar zu machen. Die Familien sollten für eine wachsende Bevölkerung sorgen, und sie sollten die Kinder im Sinne der herrschenden Ordnung erziehen. Die Verbindung von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit und die damit verbundene doppelte Belastung der Frauen galt nicht als individuelle Option, sondern als gesellschaftliche Verpflichtung.100 In dem 1965 eingeführten Familiengesetzbuch wurde die Familie als die „kleinste Zelle der Gesellschaft“ bezeichnet.101 Der Begriff war ein etwas unbeholfener Versuch, eine neue sozialistische Familie zu definieren und die Familie gegenüber der Produktionsmentalität, die in der ostdeutschen Gesellschaft herrschte, ideologisch aufzuwerten. Das Familiengesetzbuch bestätigte das konventionelle Familienbild und erklärte, dass die Familie auf der für das Leben geschlossenen Ehe beruhen sollte. Zugleich wurde aber der wechselseitige Zusammenhang zwischen der Familie und der sozialistischen Gesellschaft betont. „Die Familie, die ein angesehenes und voll gleichberechtigtes Glied der sozialistischen Gesellschaft ist, identifiziert sich mit deren Zielen und Plänen, weil die Gesellschaft Voraussetzung und Garantie ihrer Existenz ist“.102 Durch die Anerkennung als „kleinste Zelle der Gesellschaft“ wurde die Familie zu einer öffentlichen Institution, die das herrschende System stützen und fördern sollte. Im Alltag wurden die Intentionen der staatlichen Familienpolitik aber oft unterlaufen. Die Familienförderung wurde akzeptiert, gleichzeitig wurde die Familie aber zu einem geschützten Privatraum gestaltet, in den man sich zurückzog, wenn die Anforderungen von Partei und Staat lästig wurden. Die Familie war daher in mancher Hinsicht ein privates Gegenmodell zur Gesellschaft.103 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik 1949 (wie Anm. 6), Artikel 18 (5). Irene Gerlach, Familie und staatliches Handeln. Ideologie und politische Praxis in Deutschland, Opladen 1996, S. 166 – 171. 101 Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965. GBl. 1966 I, S. 2 – 18. 102 Karl-Heinz Beyer / Lilli Piater, Die Familie in der DDR. Was ist anders und warum? Eine Information aus erster Hand, Berlin 1974, S. 21. 103 Johannes Huinink / Michael Wagner, Partnerschaft, Ehe und Familie in der DDR, in: Johannes Huinink / Karl Ulrich Mayer, Hg., Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, Berlin 1995, S. 151; Norbert E. Schneider, Familie und private Lebensführung in West- und Ostdeutschland. Eine vergleichende Analyse des Familienlebens 1970 – 1992, Stuttgart 1994, S. 24 – 26. 99

100

332

6. Kap.: Ein Umweg

Junge Paare heirateten in der ostdeutschen Gesellschaft früher als die vorangegangenen Generationen. 1950 waren die Männer bei einer ersten Eheschließung im Durchschnitt 26 Jahre alt, Frauen 24 Jahre. Bis 1970 ging das Heiratsalter der Männer auf 24 Jahre, das Heiratsalter der Frauen auf 22 Jahre zurück. In den achtziger Jahren stieg das Heiratsalter wieder etwas an. 1989 betrug es wieder, wie schon in der Anfangszeit der Deutschen Demokratischen Republik, bei Männern 26 Jahre und bei Frauen 24 Jahre.104 Eine neue Entwicklung war, dass viele Paare vor der Heirat schon einige Zeit zusammen lebten. Oft war die Heirat nicht der Beginn einer Lebensgemeinschaft, sondern bestätigte eine bereits bestehende Beziehung. Die Ehescheidung wurde in der Deutschen Demokratischen Republik wesentlich erleichtert. Das Schuldprinzip als Begründung einer Ehescheidung wurde abgeschafft, der Wille eines oder beider Partner, die Ehe aufzulösen, galt als hinreichender Grund für eine Ehescheidung. In den Wiederaufbaujahren waren die Scheidungsziffern in Ostdeutschland ebenso wie in Westdeutschland sehr hoch. In den fünfziger Jahren ging die Zahl der Ehescheidungen durch die Normalisierung des Lebens stark zurück. Seit der Mitte der sechziger Jahre nahmen die Scheidungsziffern wieder zu. 1989 nahm man an, dass 37 Prozent aller Ehen geschieden würden. Ehen hatten nicht mehr die gleiche Stabilität wie in früheren Generationen.105 Die meisten Ehen führten bald zur Gründung einer Familie. Kinder setzten aber nicht unbedingt eine Eheschließung voraus. Die Unehelichenquote war wesentlich höher als in früheren Generationen und auch höher als in Westdeutschland. 1989 wurden 34 Prozent der Kinder unehelich geboren.106 Das bedeutete nicht unbedingt, dass sie in unvollständigen Familien aufwuchsen. In vielen Fällen lebten die Eltern unehelicher Kinder zusammen, und oft heirateten sie später. Da viele Eltern nicht verheiratet waren, hatte der Anstieg des Heiratsalters in den achtziger Jahren kaum Einfluss auf das Alter der Eltern bei der Geburt des ersten Kindes. 1970 waren die Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes im Durchschnitt 22 Jahre als, 1989 war das Durchschnittsalter mit 23 Jahren nur wenig höher. Dass Frauen oder Männer sich für ein Leben ohne Kinder entschieden, war in Ostdeutschland seltener als in Westdeutschland. Von den Frauen des Geburtsjahrgangs 1950 blieben acht Prozent kinderlos, von den Frauen des Geburtsjahrgangs 1960 werden wahrscheinlich elf Prozent kinderlos bleiben.107 Die Familienphase begann im typischen Familienzyklus in jungen Jahren, und sie war daher auch relativ früh abgeschlossen. Der charakteristische Familien104 Heribert Engstler / Sonja Menning, Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Lebensformen, Familienstrukturen, wirtschaftliche Situation der Familien und familiendemographische Entwicklung in Deutschland, Berlin 2003, S. 65. 105 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. (wie Anm. 104), S. 81. 106 Bundesministerium für Familie und Senioren, Fünfter Familienbericht. Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens, Bonn 1994, S. 55. 107 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. (wie Anm. 104), S. 74, 77; Huinink / Wagner, Partnerschaft, Ehe und Familie (wie Anm. 103), S. 151 – 153.

IV. Familie

333

zyklus teilte sich in der ostdeutschen Gesellschaft in die Zeit in der Herkunftsfamilie bis zum fünfzehnten Lebensjahr, die Paarbildung vom sechzehnten bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr, die Familiengründung, Betreuung und Erziehung der Kinder vom dreiundzwanzigsten bis zum vierzigsten oder fünfundvierzigsten Lebensjahr, die Verselbständigung der Kinder und der Beginn der nachelterlichen Phase nach dem vierzigsten bis fünfundvierzigsten Lebensjahr, eventuell die Betreuung der Enkelkinder oder der alten Eltern ab dem sechzigsten Lebensjahr und schließlich die Betreuung durch die eigenen Kinder ab dem siebzigsten Lebensjahr.108 Da Frauen nach der Heirat und nach der Geburt ihrer Kinder im allgemeinen berufstätig blieben und zusätzlich zur Erwerbsarbeit die Familienarbeit übernahmen, trugen sie eine doppelte Arbeitsbelastung. Männer beteiligten sich nur in geringem Umfang an der Hausarbeit. Die unzulängliche Ausstattung der Haushalte mit arbeitssparenden Geräten, die unregelmäßige Versorgung und das ungenügende Angebot von Dienstleistungen erschwerten die Haushaltsführung. In den sechziger Jahren leisteten berufstätige Mütter im Durchschnitt täglich sechs Stunden Hausarbeit.109 Die Schwierigkeiten, die Sorge für eine Familie mit der Berufstätigkeit zu verbinden, und die Doppelbelastung der Frauen führten dazu, dass die Familien kleiner wurden. Seit Mitte der sechziger Jahre ging die Geburtenrate zurück. Die neue Vereinbarkeitspolitik und die Familienförderung trugen jedoch zur Stabilisierung der Familie bei. Seit dem Ende der siebziger Jahre stieg die Zahl der Geburten wieder etwas an. Familien hatten im allgemeinen ein Kind oder zwei Kinder. Die Durchschnittsgröße der Familien zeigte schichtspezifische Unterschiede. Die Familien der Genossenschaftsbauern hatten 1980 im Durchschnitt 2,0 Kinder, die Familien der privilegierten Dienstleistungsklasse der „Intelligenz“ 1,7 Kinder, die Arbeiterfamilien ebenfalls 1,7 Kinder und die Familien der Angestellten 1,6 Kinder. Mehr als zwei Kinder aufzuziehen, war unter den schwierigen Lebensbedingungen eine Aufgabe, die sich nur wenige Eltern zutrauten.110

2. Familienförderung Die Familienförderung sollte in der Deutschen Demokratischen Republik nicht nur die Lebensbedingungen der Familien verbessern, sondern galt ausdrücklich auch als Instrument der Bevölkerungspolitik. Ziele der Maßnahmen zum MutterBarbara Hille, Familie und Sozialstruktur in der DDR, Opladen 1985, S. 26. Annemette Soerensen / Heike Trappe, Frauen und Männer: Gleichberechtigung – Gleichstellung – Gleichheit? In: Johannes Huinink / Karl Ulrich Mayer, Hg., Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, Berlin 1995; Ulbricht / Nötzold / Simon / Thiemann, Probleme der Frauenarbeit (wie Anm. 81), S. 28. 110 Gisela Helwig, Jugend und Familie in der DDR. Leitbild und Alltag im Widerspruch, Köln 1984, S. 98 – 99. 108 109

334

6. Kap.: Ein Umweg

und Kinderschutz und zur Verbesserung der Rechte der Frauen waren, wie 1960 formuliert wurde, „die Sorge um die Kinder, die Festigung der Familie und die Förderung des Kinderreichtums“. Nach dem Geburtenausfall in zwei Weltkriegen gelte es, „die anomale Zusammensetzung unserer Bevölkerung zu überwinden.“111 Die Familienpolitik förderte nicht nur die Standardfamilie von Mutter, Vater und Kindern, sondern auch die unvollständigen Familien. Im allgemeinen waren die unvollständigen Familien allein erziehende Mütter mit Kindern; allein erziehende Väter kamen selten vor.112 Die Förderung der Familie begann mit einer stärkeren Rücksichtnahme auf erwerbstätige schwangere Frauen und auf Mütter. 1950 wurde ein bezahlter Schwangerschaftsurlaub von fünf Wochen vor der Geburt und ein Genesungsurlaub von sechs Wochen nach der Geburt eingeführt. In dieser Zeit wurde eine Unterstützung geleistet, die dem durchschnittlichen Einkommen in den letzten drei Monaten vor der Arbeitsunterbrechung entsprach. Der Schwangerschafts- und Genesungsurlaub wurde 1963 auf 14 Wochen, 1972 auf 18 Wochen und 1976 auf ein halbes Jahr verlängert.113 In den fünfziger Jahren beruhte die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in erheblichem Umfang auf dem historischen Erbe des bürgerlichen Familienmodells. Wenn beide Eltern berufstätig waren, halfen oft die Großmütter, die in der Regel nicht erwerbstätig waren, bei der Versorgung und Betreuung der Kinder. Seit den sechziger Jahren wurde die familiale Lösung des Vereinbarkeitsproblems jedoch schwieriger. Die Generation der familienorientierten Großmütter wurde älter und starb schließlich aus. Die nachwachsenden Großmütter waren selbst berufstätig.114 Seit den siebziger Jahren reagierte die Familienpolitik auf den Geburtenrückgang. Verschiedene Neuerungen sollten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. Die Kinderbetreuung in kommunalen oder auch betrieblichen Institutionen wurde ausgebaut. Mit dem sozialpolitischen Programm von 1972 wurde für Mütter, die keinen Kinderkrippenplatz fanden, die Möglichkeit einer befristeten Erziehungszeit geschaffen, in der sie ihre Berufstätigkeit unterbrechen konnten und eine staatliche Unterstützung erhielten. Da die öffentliche Kinderbetreuung stark ausgebaut wurde, war diese Regelung für Ausnahmesituationen gedacht. Bald darauf wurde 1976 ein allgemeines „Babyjahr“ eingeführt. Mütter konnten nach der Geburt des zweiten Kindes ihre Erwerbstätigkeit für die Dauer eines Jah111 Bericht der zentralen Regierungskommission an den Präsidenten des Ministerrates zum 10. Jahrestag des Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau, 29. September 1960. SAPMO DY 30 / IV 2 / 6.11 / 56. 112 Anita Grandke, Familienpolitik, in: Günter Manz / Ekkehard Sachse / Gunnar Winkler, Hg., Sozialpolitik in der DDR – Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001; Huinink / Wagner, Partnerschaft, Ehe und Familie (wie Anm. 103), S. 147 – 153; Hartmut Wendt, Familienbildung und Familienpolitik in der ehemaligen DDR, Wiesbaden 1993. 113 Braun / Klein, Der berufliche Wiedereinstieg der Mutter (wie Anm. 59), S. 235 – 237; Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 47), Bd. 2, S. 304 – 314. 114 Huinink / Wagner, Partnerschaft, Ehe und Familie (wie Anm. 103), S. 160.

IV. Familie

335

res unterbrechen, wenn sie sich ausschließlich der Kinderbetreuung widmen wollten. Während der Freistellung wurde die Rückkehr an den Arbeitsplatz garantiert, und es wurde eine Unterstützung gezahlt, die dem Krankengeld entsprach und siebzig bis neunzig Prozent des Lohns betrug. Vom dritten Kind an konnte die Erziehungszeit auf 18 Monate verlängert werden. Seit 1986 konnte die Erziehungszeit bereits für die Betreuung des ersten Kindes beantragt werden, nicht nur von Müttern, sondern auch von Vätern.115 Die Wochenarbeitszeit wurde für vollbeschäftigte Mütter mit Kindern unter 16 Jahren bei vollem Lohn von 43 Stunden auf vierzig Wochenstunden reduziert. Vollbeschäftigte Frauen erhielten auch einen bezahlten Hausarbeitstag im Monat, wenn Kinder bis zu 18 Jahren oder pflegebedürftige Angehörige im Haushalt lebten, oder wenn sie über vierzig Jahre alt waren. Der Jahresurlaub erhöhte sich für erwerbstätige Mütter je nach der Tätigkeit und der Zahl der Kinder von 18 Tagen auf bis zu 23 Tagen.116 Die finanzielle Familienförderung begann in der Deutschen Demokratischen Republik sehr bescheiden. 1950 wurde ein Kindergeld für kinderreiche Familien eingeführt. Es wurde bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs gezahlt und betrug für das vierte Kind zwanzig Mark und für das fünfte Kind und alle weiteren Kinder 25 Mark. Zusätzlich zu dem Kindergeld für kinderreiche Familien wurde, nachdem die Abschaffung der Lebensmittelkarten zu Preiserhöhungen führte, seit 1958 ein allgemeiner „Kinderzuschlag“ von zwanzig Mark für jedes Kind gewährt. Seit 1967 wurden Kindergeld und Kinderzuschlag bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs gezahlt. Sie betrugen zusammen für das erste bis dritte Kind zwanzig Mark, für das vierte Kind sechzig Mark und für jedes weitere Kind siebzig Mark. Nachdem Familien mit mehr als zwei Kindern selten wurden, gab es seit 1969 bereits für das dritte Kind ein höheres Kindergeld von fünfzig Mark. Kindergeld und Kinderzuschlag wurden 1975 zusammengefasst. Das neue Kindergeld betrug für das erste und zweite Kind zwanzig Mark, für das dritte Kind dreißig Mark, für das vierte Kind sechzig Mark und für jedes weitere Kind siebzig Mark monatlich. 1987 wurde das Kindergeld für das erste Kind auf fünfzig Mark, für das zweite Kind auf 100 Mark und für jedes weitere Kind auf 150 Mark angehoben.117 Außer dem laufenden Kindergeld wurden einmalige „Geburtenbeihilfen“ gewährt. 1950 wurde eine Beihilfe für kinderreiche Familien eingeführt; sie betrug für das dritte Kind 100 Mark, für das vierte Kind 250 Mark und für das fünfte sowie alle weiteren Kinder 500 Mark. 1958 wurde die einmalige Beihilfe auf alle Kinder ausgedehnt und erhöht. Für das erste Kind wurden 500 Mark gezahlt, für das zweite Kind 600 Mark, für das dritte Kind 700 Mark, für das vierte Kind 850 Mark und für jedes weitere Kind 1000 Mark. Schließlich wurde die „Geburten115 Braun / Klein, Der berufliche Wiedereinstieg der Mutter (wie Anm. 59), S. 237 – 238; Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 47), Bd. 2, S. 414 – 422. 116 Sibylle Meyer / Eva Schulze, Familie im Umbruch. Zur Lage der Familien in der ehemaligen DDR, Stuttgart 1992, S. 10 – 12. 117 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 47), Bd. 2, 405 – 422.

336

6. Kap.: Ein Umweg

beihilfe“ 1972 einheitlich auf 1000 Mark für jedes Kind festgesetzt. Junge Ehepaare mit niedrigem Einkommen konnten seit dieser Zeit zur Einrichtung ihres Haushalts einen zinslosen Kredit von bis zu 5000 Mark beantragen. Bei der Geburt eines Kindes wurde jeweils ein Teil der Kreditsumme erlassen, gestaffelt nach der Kinderzahl beim ersten Kind 1000 Mark, beim zweiten Kind 1500 Mark und beim dritten Kind 2500 Mark.118 3. Familienökonomie Die Familienökonomie beruhte in der ostdeutschen Gesellschaft im allgemeinen auf zwei Erwerbseinkommen. Hinzu kam, abhängig von der Zahl und dem Alter der Kinder, die Familienförderung. Indirekt trug auch die Subventionierung des Grundbedarfs zum Familieneinkommen bei.119 Die Differenzierung der Familieneinkommen wurde in den Interviews deutlich, die der westdeutsche Journalist Wolfgang Plat Anfang der siebziger Jahre mit Familien in der Deutschen Demokratischen Republik führte. In der Familie Scheffer, die aus zwei Erwachsenen und zwei minderjährigen Kindern bestand, war die Frau Chemiefacharbeiterin und der Mann Kraftfahrer. Das Familieneinkommen betrug 950 Mark. Fast das ganze Einkommen wurde für den Lebensunterhalt ausgegeben, nur fünfzig Mark wurden gespart. In der Familie Wartmann, ebenfalls aus zwei Erwachsenen und zwei minderjährigen Kindern bestehend, war die Frau Chemie-Ingenieurin und der Mann Lehrer. Das Einkommen dieser Familie war mit 1300 Mark deutlich höher. Die Familie konnte ihren Grundbedarf ebenso günstig erwerben wie Familie Scheffer, und sparte 450 bis 500 Mark für Anschaffungen.120 Wie in diesen Beispielen bedeuteten auch in anderen Haushalten höhere Einkommen vor allem, dass eine Familie mehr Chancen hatte, für die Anschaffung hochwertiger Konsumgüter des täglichen Bedarfs zu sparen.

V. Alter 1. Die Ausdehnung des Ruhestandes Der Anstieg der Lebenserwartung beruhte in der Deutschen Demokratischen Republik vor allem auf den besseren Überlebenschancen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Wenn die Menschen das Ruhestandsalter erreicht hatten, konnten nur die Frauen, nicht aber die Männer einen Anstieg der Lebens118 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 47), Bd. 2, 405 – 422; Hille, Familie und Sozialstruktur (wie Anm. 84), S. 67 – 68. 119 Gert Wagner / Richard Hauser / Klaus Müller / Jochen Frick, Einkommensverteilung und Einkommenszufriedenheit in den neuen und alten Bundesländern, in: Wolfgang Glatzer / Heinz-Herbert Noll, Hg., Lebensverhältnisse in Deutschland. Ungleichheit und Angleichung, Frankfurt am Main 1992, S. 99 – 107. 120 Wolfgang Plat, Die Familie in der DDR, Frankfurt am Main 1972, S. 38 – 42.

V. Alter

337

zeit erwarten. Im Alter von 65 Jahren hatten Männer 1950 eine Lebenserwartung von 13 Jahren und Frauen eine Lebenserwartung von 14 Jahren. 1989 betrug die Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren für Männer immer noch 13 Jahre, für Frauen war sie auf 16 Jahre gestiegen.121 In den fünfziger und sechziger Jahren war für viele ältere Menschen aufgrund der niedrigen Renten die Fortsetzung der Erwerbstätigkeit bis ins hohe Alter wirtschaftlich notwendig. Eine lange Erwerbsphase war aber auch aus wirtschaftspolitischen Gründen erwünscht, da in der ostdeutschen Wirtschaft stets ein Arbeitskräftemangel herrschte. Findige Planer im Stab des Zentralkomitees der SED empfahlen im Sommer 1960 die Gründung von „Invalidengenossenschaften“, um die Wiedereingliederung von Rentnern in den Produktionsprozess zu fördern.122 Das Projekt wurde zwar nicht realisiert. Die Erwerbsbeteiligung der älteren Generation blieb jedoch höher als in Westdeutschland. 1970 waren 32 Prozent der Männer und neun Prozent der Frauen im Alter ab 65 Jahren erwerbstätig. Seit den siebziger Jahren wurden die Renten deutlich verbessert, und die Erwerbsbeteiligung der älteren Generation ging zurück. 1989 waren aus der Bevölkerung im Rentenalter noch elf Prozent der Männer und fünf Prozent der Frauen erwerbstätig.123 Wirtschaftliche Motive hatten als Begründung der Altersarbeit in Ostdeutschland aber nach wie vor größere Bedeutung als in Westdeutschland. Bei einer Befragung von erwerbstätigen Rentnerinnen und Rentnern in Berlin und Chemnitz zu den Motiven für die Erwerbstätigkeit wurden verschiedene Begründungen für die Altersarbeit zur Auswahl gestellt. Der Begründung „Um zur Rente hinzuverdienen“ stimmten 32 Prozent der Befragten zu, „Die Arbeit hat mir immer Spaß gemacht“ 29 Prozent, „Weil mein Betrieb mich brauchte“ 26 Prozent und „Weil ich ein gutes Verhältnis zu Kollegen hatte“ 17 Prozent.124

2. Eine Einheitsversicherung mit Nischen Die öffentliche Rentenversicherung wurde in der Sowjetischen Zone 1947 im Rahmen der neuen Einheitsversicherung reformiert. Alle Erwerbstätigen wurden in die Einheitsversicherung einbezogen. Die Beamtenpensionen wurden ebenso abgeschafft wie die besondere Rentenversicherung für Angestellte. Auch die betriebliche Altersvorsorge wurde eingestellt; sie sollte durch ausreichende Sozialversicherungsrenten überflüssig werden. Die Abschaffung der Beamtenversorgung wurde zum Teil dadurch ausgeglichen, dass die staatlichen Beschäftigten besonStatistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 404 – 405, 428. Arbeitsprogramm der Unterkommission „Versorgung im Alter“ für die Erarbeitung der Perspektive 1965 – 1980, 16. Juni 1960. SAPMO DY 30 / IV 2 / 6.11 / 76. 123 Statistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 1, 128 – 131, 392. 124 Klaus-Peter Schwitzer, Die Lebenssituation der älteren und alten Generation in der DDR und deren Bedarf bei Aufgabe der Preissubventionen, in: Sozialer Fortschritt, 39 (1990), S. 128. 121 122

22 Hardach

338

6. Kap.: Ein Umweg

dere Zusatzrenten zu ihrer Sozialversicherungsrente erhielten. Auch einige andere Berufsgruppen wie Künstler oder Künstlerinnen, Parteiangestellte und Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen erhielten Zusatzrenten.125 Das Rentenalter wurde 1947 für Frauen auf sechzig Jahre herabgesetzt, für Männer blieb es bei dem Rentenalter von 65 Jahren. Die Invalidenrenten hingen von einer ärztlichen Prüfung ab. Voraussetzung für einen Rentenanspruch war bei den Invalidenrenten eine Versicherungsdauer von fünf Jahren, bei den Altersrenten waren es fünfzehn Jahre. Die Renten setzten sich aus einem einheitlichen Grundbetrag von dreißig RM im Monat und einem Steigerungsbetrag, der von der Dauer der Erwerbstätigkeit und der Höhe des Lohns abhing, zusammen. Außerdem konnten verschiedene Zuschläge zur Rente gewährt werden. Die versicherungsberechtigten Erwerbstätigen hatten Anspruch auf eine Mindestrente, die etwas über dem Grundbetrag lag. Die erwerbsunfähigen Angehörigen hatten beim Tode von Versicherten einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung. Witwen oder Witwer erhielten fünfzig Prozent, Vollwaisen 35 Prozent und Halbwaisen 25 Prozent der Vollrente. Der Beitragssatz betrug zehn Prozent der Löhne und Gehälter und sollte von den Beschäftigten und von den Betrieben zu gleichen Teilen getragen werden. Die Bemessungsgrenze für Beiträge und Leistungen wurde auf 600 RM im Monat festgelegt.126 Im Juni 1948, unmittelbar vor der Währungsreform, betrug die Mindestrente für Rentner oder Rentnerinnen fünfzig RM, für Witwen und Vollwaisen vierzig RM und für Halbwaisen zwanzig RM. Da die Summe aus Grundbetrag und Steigerungsbetrag im allgemeinen gering war, erhielten die meisten Rentnerinnen und Rentner die Mindestrente. Die Renten waren zwar dürftig, waren aber immerhin etwas besser als in der Vorkriegszeit. 1938 hatten nach den Berechnungen der Deutschen Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge die Renten der Arbeiterversicherung für Versicherte im Durchschnitt nur 36 RM, für Witwen 24 RM und für Waisen 13 RM betragen.127 In der Währungsreform wurden die Renten im Verhältnis von einer Reichsmark (RM) zu einer Deutschen Mark (DM) umgestellt. Um die ärgste Altersnot zu lindern, wurden von Zeit zu Zeit diskretionäre Rentenerhöhungen vorgenommen. Die Mindestrente wurde 1949 auf 55 DM, 1950 auf 65 DM und 1953 auf 75 DM erhöht. Die gleichen Zuschläge galten auch für alle anderen Renten.128 Trotz der Erhöhungen blieben die Renten unzulänglich, wie auch die Mitglieder des Politbüros der SED im März 1956 konstatierten.129 125 Schwitzer, Die Lebenssituation der älteren und alten Generation (wie Anm. 124), S. 126. 126 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 47), Bd. 2, S. 329 – 331. 127 Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge, Die wichtigsten Gesichtspunkte der Neugestaltung dser Sozialversicherung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Juni 1948. SAPMO DY 30 / IV 2 / 2.027 / 42. 128 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 47), Bd. 2, 329 – 350. 129 Dierk Hoffmann, Sozialistische Rentenreform? Die Debatte um die Verbesserung der Altersversorgung in der DDR 1956 / 57, in: Stefan Fisch / Ulrike Haerendel, Hg., Geschichte

V. Alter

339

Im Mai 1956 begann in der Führung der SED eine Diskussion über eine Rentenreform. Der Anlass war die westdeutsche Rentendebatte, deren Kernpunkt, die Dynamisierung der Renten, in der ostdeutschen Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt wurde. Hinzu kam, dass im laufenden zweiten Fünfjahrplan erhebliche Produktivitätsfortschritte erwartet wurden, so dass eine größere Rentenerhöhung auch finanzierbar erschien. Das Ziel der Reform sollte eine deutliche Erhöhung des Rentenniveaus sein, und außerdem sollten die Renten wieder stärker nach der Dauer der Erwerbsphase und dem Lohn differenziert werden. Nach einem im Juni 1956 ausgearbeiteten Konzept sollte die Mindestrente auf 130 DM angehoben werden. Die neuen Renten sollten bei den unteren Einkommen ungefähr siebzig Prozent und bei höheren Einkommen ungefähr fünfzig Prozent des letzten Lohns erreichen. Eine Dynamisierung mit einer regelgebundenen Anpassung der Neurenten und insbesondere auch der Altrenten an die aktuelle Lohnentwicklung war im Unterschied zur westdeutschen Rentenreform nicht vorgesehen. Da der Beitrag zur Rentenversicherung nicht angehoben werden sollte, würden die vorgesehenen Rentenerhöhungen auch ohne eine Dynamisierung zu einem hohen Subventionsbedarf führen.130 Parallel zu der Rentenreform wurde eine institutionelle Reform der Sozialversicherung vorbereitet. Im August 1956 wurde die Verantwortung für die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten auf den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund übertragen. Für die Rentenversicherung der Genossenschaftsmitglieder und der Selbständigen wurde dagegen die Deutsche Versicherungsanstalt zuständig, das staatliche Versicherungsmonopol. Das wichtigste Ziel, das mit der institutionellen Teilung der Rentenversicherung verfolgt wurde, war eine Differenzierung der Beiträge und Leistungen. Die gewerkschaftliche Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten führte die Rentenversicherung im wesentlichen nach den bisherigen Grundsätzen weiter. Die Deutsche Versicherungsanstalt verlangte dagegen höhere Beiträge. Trotzdem kam auch sie nicht ohne einen Staatszuschuss aus.131 Nach der institutionellen Umgestaltung der Sozialversicherung ließ der Reformeifer nach. Die Zielvorstellungen vom Juni 1956 erwiesen sich bei näherer Prüfung als nicht finanzierbar. Nach dieser Rückkehr in den planwirtschaftlichen Alltag wurde beschlossen, auf proportionale Rentenerhöhungen und eine stärkere Differenzierung des Rentenniveaus zu verzichten, um Mittel für die Verbesserung der Mindestrenten zu sparen. Im November 1956 wurden die Renten um einen einheitlichen Zuschlag von dreißig Mark erhöht.132 Als Hindernis für eine Anpassung der Renten an die allgemeine Einkommensentwicklung erwies sich immer mehr der starre Rentenversicherungsbeitrag von zehn Prozent, den sich Beschäftigte und und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland. Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherung im Sozialstaat, Berlin 2000, S. 294. 130 Hoffmann, Sozialistische Rentenreform (wie Anm. 127), S. 294 – 309. 131 Hoffmann, Sozialpolitische Neuordnung (wie Anm. 43), S. 285 – 327. 132 Hoffmann, Sozialistische Rentenreform (wie Anm. 127), S. 306 – 307. 22*

340

6. Kap.: Ein Umweg

Betriebe teilten. Der niedrige Beitragssatz galt als ein zentrales Kriterium der Sozialstaatlichkeit und sollte aus politischen Gründen nicht erhöht werden.133 Die verschiedenen Leistungserhöhungen führten infolgedessen zu einem wachsenden Defizit der Rentenversicherung, das aus dem allgemeinen Staatshaushalt gedeckt wurde.134 Die westdeutsche Rentenreform übte auf die ostdeutsche Rentenpolitik einen erheblichen Reformdruck aus, der durch die bescheidene Rentenerhöhung vom November 1956 nicht aufgefangen wurde. Die westdeutsche Reform wurde von der Parteiführung und der Regierung abgewertet, von der Bevölkerung aber aufmerksam verfolgt. Außerdem weckte die mit dem Siebenjahrplan 1959 eingeleitete Wachstumspolitik erhebliche Erwartungen auf eine Verbesserung des Lebensstandards, an der auch die ältere Generation teilhaben wollte. Der Einfluss der westdeutschen Rentenreform zeigt sich an einem Rundbrief, den der Bundesvorstand des FDGB im August 1961 als „Argumentationsmaterial“ an alle Bezirks- und Kreisvorstände verschickte. Während in der Bundesrepublik Deutschland „unter der Herrschaft der Monopolherren und Militaristen die sozialen Rechte des werktätigen Volkes im Zuge der forcierten Aufrüstung fortgesetzt beschnitten und immer mehr abgebaut werden“, stehe „in der friedliebenden Deutschen Demokratischen Republik die Sorge um den Menschen und die ständige Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen im Vordergrund aller Maßnahmen unseres Arbeiter- und Bauern-Staates“. So seien in Westdeutschland „mit der betrügerischen Rentenreform der Adenauer-Regierung“ die Mindestrenten für die Alten und Invaliden rücksichtslos gestrichen worden. In Ostdeutschland seien die Mindestrenten dagegen erhöht worden und sollten im Verlauf des Siebenjahrplans 1959 – 1965 weiter heraufgesetzt werden. Im Durchschnitt sollten die Altersrenten bis zum Ende des Siebenjahrplans um fünfzig Prozent bis 55 Prozent steigen.135 Dass die Situation der ostdeutschen Rentner und Rentnerinnen der Propaganda widersprach, war sowohl in der Partei, als auch in der gewerkschaftlichen Verwaltung der Sozialversicherung bekannt. Die Abteilung Gewerkschaften und Sozialpolitik des Zentralkomitees der SED forderte im Juli 1962 die „Schaffung eines sozialistischen Rentensystems, das alle Überreste des Kapitalismus beseitigt, besonders die Benachteiligung großer Teile der Arbeiterklasse“.136 Es wurde eingeräumt, dass sich die Lage der Rentner im Verhältnis zu den Erwerbstätigen in den letzten Jahren verschlechtert hatte. 1956 betrug die durchschnittliche Alters133 Elke Hoffmann, Das Alterssicherungssystem in der DDR: Zur Geschichte der Rentengesetzgebung 1946 – 1990, Berlin 1995. 134 Statistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 380. 135 FDGB Bundesvorstand, Material über die Entwicklung der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten der DDR in den letzten Jahren in Gegenüberstellung zu Westdeutschland, 1. August 1961. SAPMO DY 30 / IV 2 / 6.11 / 76. 136 ZK der SED, Abteilung Gewerkschaften und Sozialpolitik, Zu den wichtigsten sozialpolitischen Perspektiv-Aufgaben, 19. Juli 1962. SAPMO DY 30 / IV 2 / 6.11 / 56.

V. Alter

341

rente 39 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns, 1961 nur noch 34 Prozent. Die Experten schlugen vor, die Trennung von Altersrenten und Invalidenrenten aufzuheben und bei der Rentenberechnung künftig die individuelle Erwerbsbiographie nach der Dauer der Beitragsleistung und der Höhe des Einkommens stärker zu berücksichtigen. Mit der Forderung nach einer differenzierten Rentenberechnung griffen die Experten einen egalitären Grundsatz der ostdeutschen Rentenversicherung an, denn seit der Einführung der Einheitsversicherung 1947 war bei den Rentenerhöhungen für alle Renten der gleiche Steigerungsbetrag angewandt worden.137 Durch die öffentlichen Versprechungen begaben sich die sozialpolitischen Akteure von Partei, Staat und Gewerkschaft in einen Zugzwang. Das bestätigte ein interner Kommentar der Verwaltung der Sozialversicherung vom Oktober 1962. „Allgemein erhalten wir Hinweise der Kreise, daß bei Rentenzahlungen, Versammlungen der Nationalen Front u. ä. Zusammenkünften von Rentnern wiederholt die Frage gestellt wird, wann eine Realisierung der im 7-Jahrplan vorgesehenen Rentenverbesserungen zu erwarten ist.“138 Es gab keine große Rentenreform, aber immerhin eine Rentenerhöhung. 1963 wurden die Renten mit Wirkung vom 1. Januar 1964 erhöht. Die Verbesserungen betrafen 3,4 Millionen Rentnerinnen und Rentner. Die Mindestrente wurde auf 120 Mark heraufgesetzt. Diese Verbesserung war von erheblicher Bedeutung, da 56 Prozent der Rentner und Rentnerinnen die Mindestrente bezogen. Bei den regulären Alters- und Invalidenrenten wurde erstmals kein fester Zuschlag eingeführt, sondern der Steigerungsbetrag wurde nach der Versicherungsdauer differenziert. Dadurch stiegen von 1963 bis 1964 die durchschnittlichen Altersrenten für Männer von 166 Mark auf 187 Mark und für Frauen von 129 Mark auf 142 Mark. Damit stieg die Durchschnittsrente 1964 auf 37 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns an. In einer ersten Auswertung wurde festgestellt, dass die Rentenerhöhung von der Bevölkerung positiv aufgenommen wurde, und dass besonders auch die Differenzierung des Steigerungsbetrages nach der Dauer der Beitragsleistung Zustimmung fand.139 Mit der Rentenreform von 1968 versuchten Partei und Staat, das Problem der Rentenanpassung durch die Einführung einer Freiwilligen Zusatzversicherung zu lösen. Die Zusatzversicherung stand allen Beschäftigten offen, aber sie richtete sich vor allem an Beschäftigte mit höheren Einkommen. Sie konnten durch freiwillige Versicherungsbeiträge zusätzliche Rentenansprüche erwerben und damit ihre Altersversorgung dem Erwerbseinkommen anpassen. Die Freiwillige Zusatzversicherung war keine eigenständige Institution, sondern wurde ebenso wie die Pflichtversicherung von der Sozialversicherung verwaltet. Dass die Freiwillige 137 ZK der SED, Abteilung Gewerkschaften und Sozialpolitik, Zu den wichtigsten sozialpolitischen Perspektiv-Aufgaben, 19. Juli 1962. SAPMO DY 30 / IV 2 / 6.11 / 56. 138 FDGB, Verwaltung der Sozialversicherung, Hausmitteilung, 10. Oktober 1962. SAPMO DY 30 / IV 2 / 6.11 / 77. 139 Kommission für Arbeit und Löhne, Analyse über die Auswirkungen der Rentenerhöhung ab 1. 1. 1964, 15. Juli 1964. Bundesarchiv Berlin (BArchB) DQ 3 / 3919.

342

6. Kap.: Ein Umweg

Zusatzrente kein Luxus war, sondern eine notwendige Ergänzung der dürftigen Pflichtrente, wurde von der Verwaltung der Sozialversicherung implizit anerkannt, denn im allgemeinen wurden in den Rentenstatistiken die Pflichtrente und die Freiwillige Zusatzrente zu einem einheitlichen Renteneinkommen zusammengefasst. Die Freiwillige Zusatzversicherung fand jedoch nicht den erwarteten Zuspruch. Ein Jahr nach der Einführung hatten im Juli 1969 von den 2,2 Millionen Erwerbstätigen, die ein Einkommen von mehr als 600 Mark bezogen, nur knapp 21.000 Personen eine Zusatzversicherung abgeschlossen. Nach Ansicht der staatlichen Sozialpolitiker lag die Zurückhaltung daran, dass die Arbeiter und Angestellten auf eine Weiterentwicklung der Pflichtrente vertrauten.140 Nach langen Untersuchungen, Planungen und Beratungen legte das Staatliche Amt für Arbeit und Löhne schließlich im August 1970 ein neues Rentenmodell vor, das die Alterssicherung spürbar verbessern sollte.141 Die Planer beriefen sich darauf, dass die Verfassung eine ausreichende Altersversorgung versprach: „Die Verfassung der DDR garantiert jedem Bürger das Recht auf Fürsorge der Gesellschaft im Alter und bei Invalidität. Dieses Recht wird durch eine steigende materielle, soziale und kulturelle Versorgung und Betreuung alter und arbeitsunfähiger Bürger gewährleistet.“142 Das bestehende Rentensystem, das auf der Pflichtversicherung und der Freiwilligen Zusatzversicherung beruhte, sollte dem Grundsatz nach bestehen bleiben, aber es sollte an die Anforderungen einer wachsenden Volkswirtschaft angepasst werden. Die künftige Rentenpolitik sollte sich an sechs Prinzipien orientieren. (1) Die Pflichtversicherung sollte ihre dominierende Rolle behalten. (2) Leistungsprinzip und soziale Gesichtspunkte sollten im Rentenrecht verbunden werden. (3) Die Obergrenze der Pflichtversicherung sollte mit dem Anstieg der Löhne und Gehälter erhöht werden. (4) Die Rentner würden durch Rentenverbesserungen „an der sich aus der dynamischen Entwicklung der Volkswirtschaft ergebenden ständigen Verbesserung der Lebenslage der Werktätigen beteiligt“. (5) Der Personenkreis, der Anspruch auf eine Rente hatte, sollte „entsprechend den sozialpolitischen Erfordernissen und den ökonomischen Möglichkeiten“ erweitert werden. (6) Durch die Freiwillige Zusatzversicherung sollten die Werktätigen die Möglichkeit behalten, die Pflichtrente durch freiwillige Beiträge „entsprechend ihren Bedürfnissen und Wünschen“ zu ergänzen. Die wichtigste Maßnahme des neuen Rentenmodell war die Aufhebung der festen Einkommensgrenze für die Rentenberechnung. 1960 verdiente bereits ein Drittel der Arbeiter und Angestellten über 600 Mark, 1975 würde es die Hälfte 140 Staatliches Amt für Arbeit und Löhne, Abteilung Sozialpolitik, Aufgabenstellung zur Weiterführung der Prognosearbeit auf dem Gebiet der Rentenversicherung, 1970. BArchB DQ 3 / 3927. 141 Lil-Christine Schlegel-Voß / Gerd Hardach, Die dynamische Rente. Ein Modell der Alterssicherung im historischen Wandel, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 90 (2003), S. 309 – 311. 142 Staatliches Amt für Arbeit und Löhne, Langfristige Konzeption zur Entwicklung auf dem Rentengebiet, 27. August 1970. BArchB DQ 3 / 3927, S. 1.

V. Alter

343

sein, und 1995 würde kaum noch ein Arbeiter oder Angestellter weniger als 600 Mark verdienen. Eine starre Einkommensgrenze musste unter diesen Umständen auf die Dauer dazu führen, dass die Leistungsdifferenzierung der Renten aufgehoben wurde und sich wieder, wie in den Anfangsjahren der ostdeutschen Rentenversicherung, eine Einheitsrente durchsetzte. Deshalb sollte die Obergrenze der Versicherung stetig an die Einkommensentwicklung angepasst werden und jeweils ungefähr 150 Prozent des Durchschnittseinkommens entsprechen. Beiträge und Leistungen der Sozialpflichtversicherung würden damit entsprechend steigen. Da die Beiträge nach dem neuen Rentenmodell sofort steigen, die neu festgesetzten Renten aber erst in zehn bis zwanzig Jahren zu zahlen sein würden, sollten die zusätzlichen Beitragseinnahmen in der Zwischenzeit zur Erhöhung der bereits festgesetzten Altrenten verwendet werden. Das ostdeutsche Rentenmodell sah damit zwar einen gewissen Anstieg der Altrenten vor, aber nicht den massiven Gründerbonus, den die westdeutsche Rentenreform von 1957 der damaligen Ruhestandsgeneration bescherte. Bei der Festsetzung der Renten sollte einerseits das aktuelle durchschnittliche Einkommensniveau, andererseits aber auch die Leistungs- und Verdienstkurve der individuellen Erwerbsbiographie stärker als bisher berücksichtigt werden. Die Bemessungsgrundlage sollte nicht mehr das Durchschnittseinkommen der letzten zwanzig Jahre sein, sondern das Einkommen der zehn günstigsten Jahren innerhalb der letzten zwanzig Jahre. Damit würde „sowohl für diejenigen Werktätigen, deren höchste Leistungsfähigkeit bereits vor dem Rentenalter überschritten wird, als auch für diejenigen, die infolge der Art ihrer Tätigkeit erst mit dem Ende ihres Berufslebens den Leistungshöchststand erreichen (z. B. Wissenschaftler)“, eine Rente ermöglicht, die „ihrer Leistung für die Gesellschaft und dem darauf aufbauenden individuellen Lebensstandard“ entsprach. Neben der Verbesserung der Berechnungsgrundlage war eine „dynamische Angleichung der festgesetzten Renten an die Lohnentwicklung“ vorgesehen. Die bestehenden Renten sollten alle zwei Jahre entsprechend der allgemeinen Entwicklung des Lebensstandards angehoben werden. Nach dem neuen Rentenmodell sollte die Durchschnittsrente bis 1980 auf fünfzig Prozent, bis 1985 auf sechzig Prozent, bis 1990 auf 65 Prozent und bis 1995 auf siebzig Prozent des durchschnittlichen Erwerbseinkommens steigen. Die Freiwillige Zusatzversicherung sollte nicht mehr eine Ergänzung der Grundversorgung sein, sondern eine individuelle Option für gut verdienende Erwerbstätige, die sich auch im Ruhestand einen gehobenen Lebensstandard leisten wollten. Das neue Rentenmodell beruhte auf einer optimistischen Prognose der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung. Die wissenschaftlich-technische Revolution sollte zu einer sprunghaften Steigerung der Arbeitsproduktivität und des Nationaleinkommens führen. Außerdem wurde erwartet, dass sich ab Mitte der siebziger Jahre die Altersstruktur der Bevölkerung langfristig verbessern würde. Die Planer nahmen an, dass von 1975 bis 1995 die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter um ungefähr 1,5 Millionen Personen steigen und die Zahl der Rentnerinnen

344

6. Kap.: Ein Umweg

und Rentner um 500.000 Personen sinken würde.143 Es gab in dem neuen Rentenmodell keinen Hinweis auf die westdeutsche Rentenreform von 1957; das war auch kaum anders zu erwarten. Konrad Jarausch hat jedoch auf gewisse Eigentümlichkeiten im offiziellen Sprachstil der DDR hingewiesen. Kontroverse, kritische oder innovative Positionen, die von der aktuellen Beschlusslage abwichen, wurden häufig nicht offen ausgesprochen, sondern indirekt durch bestimmte Begriffe, Formulierungen oder Zitate angedeutet.144 Wenn demnach in dem Plan wiederholt auf die „dynamischen“ Eigenschaften des neuen Rentenmodell hingewiesen wurde, dürfte die Parallele allgemein verstanden worden sein. Die Implementierung des neuen Rentenmodells, und damit die Chance der ostdeutschen Sozialpolitiker, mit einem eigenen wachstumsorientierten Rentensystem in Konkurrenz zur westdeutschen Rentenversicherung zu treten, scheiterte an der wirtschaftlichen Krise der siebziger Jahre. Als das Amt für Arbeit und Löhne sein neues Rentenmodell vorlegte, das noch von dem Reformoptimismus der sechziger Jahre geprägt war, zeichnete sich schon eine wirtschaftspolitische Wende ab. Unter dem Einfluss der Wirtschaftskrise von 1969 – 1970 wurde das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ abgebrochen. 1971 kehrte die DDR wieder zu einer zentralistischeren Wirtschaftspolitik zurück, und gleichzeitig wurden die Ziele vorsichtiger definiert.145 Das mit erheblichen finanziellen Risiken verbundene Modell einer „dynamischen Rente“ passte nicht mehr zu der neuen wirtschaftspolitischen Bescheidenheit. Statt einer Grundsatzreform des Rentensystems wurde das duale Modell ausgebaut, das aus einer niedrigen Pflichtrente und einer Freiwilligen Zusatzversicherung bestand. 1972 wurden die Konditionen der Freiwilligen Zusatzversicherung verbessert, und es wurden intensive Werbekampagnen in den Betrieben durchgeführt. Bis Mai 1972 hatten sich bereits 911.000 Arbeiter und Angestellte der Freiwilligen Zusatzversicherung angeschlossen; das entsprach 58 Prozent der Beitrittsberechtigten. 146 Trotz der Zusatzversicherung blieben die Renten bis zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik hinter der wirtschaftlichen Entwicklung zurück. 1989 betrugen die Alters- und Invalidenrenten im Durchschnitt 451 Mark. Die Renten, die durch die Freiwillige Zusatzversicherung aufgestockt wurde, waren mit 568 Mark etwas höher. Der Ruhestand bedeutete immer noch einen erheblichen Einkommensrückgang. Die Pflichtrente entsprach nur 34 Prozent des Nettolohns; die Verteilungsposition der Rentner und Rentnerinnen war also wieder auf den 143 Staatliches Amt für Arbeit und Löhne, Langfristige Konzeption zur Entwicklung auf dem Rentengebiet (wie Anm. 140), S. 1 – 14. 144 Konrad Jarausch, Die gescheiterte Gegengesellschaft. Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der DDR, in: Archiv für Sozialgeschichte, 39 (1999). 145 Steiner, DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre (wie Anm. 24), S. 503 – 550. 146 FDGB, Verwaltung für Sozialversicherung, Gesamtbericht über den Stand der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung, 1. Juni 1972. SAPMO DY 30 / vorl. SED / 32433 / 2.

V. Alter

345

niedrigen Stand der frühen sechziger Jahren zurückgefallen. Nur durch die Zusatzversicherung wurde die Lebenssituation erträglich, sie erhöhte das Rentenniveau auf 43 Prozent des Arbeitseinkommens.147

3. Die Struktur der Alterseinkommen Eine Differenzierung der Alterssicherung hat es in Ostdeutschland kaum gegeben. Die Einkommen der älteren Generation bestanden im wesentlichen in den Renten der Sozialversicherung; andere Alterseinkommen spielten nur eine geringe Rolle.148 Die betriebliche Altersvorsorge sollte von der Einheitsversicherung übernommen werden. Davon ließen die bescheidenen Renten aber nichts erkennen. Der Alltag sah eher so aus, dass die betrieblichen Leistungen, die ja traditionell als Zusatzeinkommen zur öffentlichen Rentenversicherung galten, ersatzlos wegfielen. Eine individuelle Altersvorsorge durch Sparen war grundsätzlich möglich, hatte aber keine große Bedeutung. Wichtig für die Rentnerhaushalte war die Subventionierung von Lebensmitteln, Wohnungen und verschiedenen anderen Waren und Dienstleistungen.149 Die intergenerative Einkommensverteilung war in der staatssozialistischen Variante des modernen Generationenvertrages von den Prioritäten einer Arbeitsgesellschaft bestimmt. Die Lage der älteren Generation war relativ schlecht. Auf die Pensionierung folgte ein drastischer Abstieg vom Erwerbseinkommen zum Alterseinkommen. Nachdem schon die Erwerbseinkommen nicht sehr hoch waren, konnte der Einkommensabstieg im Alter schnell zur Armut führen. Ältere Menschen erreichten trotz der Subventionierung des Grundbedarfs oft nicht das Mindesteinkommen, das zur Befriedigung der als notwendig anerkannten Bedürfnisse erforderlich war.150 Die Diskriminierung des Alters wurde auch in den Gesprächen thematisiert, die Lutz Niethammer, Alexander von Plato und Dorothee Wierling kurz vor der Revolution mit älteren Frauen und Männern führten. Ein Angehöriger der „Aufbaugeneration“, jetzt im Ruhestand, kritisierte die junge Generation, die seiner Ansicht nach nicht mehr die richtige Einstellung zur Arbeit und zum Staat hatte. Sie werde mit Sozialleistungen überschüttet, und das sei im Verhältnis zu den niedrigen Renten ungerecht.151

Statistisches Jahrbuch 1990 (wie Anm. 9), S. 144, 384. Klaus-Peter Schwitzer, Senioren, in: Günter Manz / Ekkehard Sachse / Gunnar Winkler, Hg., Sozialpolitik in der DDR – Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001. 149 Schwitzer, Lebenssituation der älteren und alten Generation (wie Anm. 124), S. 127. 150 Günter Manz, Armut in der DDR-Bevölkerung. Lebensstandard und Konsumniveau vor und nach der Wende, Augsburg 1992, S. 33 – 38, 61 – 88. 151 Niethammer / von Plato / Wierling, Die volkseigene Erfahrung (wie Anm. 78), S. 447 – 448. 147 148

Siebtes Kapitel

Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft I. Ein neuer Generationenvertrag 1. Differenzierung der Lebenswege Die Entwicklung zum modernen Generationenvertrag begann in der westdeutschen Gesellschaft mit der Kritik der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung von Beruf und Familie. Die berufliche Diskriminierung der Frauen und ihre Beschränkung auf die Familienrolle vertrugen sich nicht mit dem Gleichheitsgrundsatz einer demokratischen Gesellschaft. Neben dem Gleichheitsgrundsatz trugen auch wirtschaftliche Faktoren zum Wandel des Generationenvertrages bei. Durch den Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft öffneten sich den Frauen neue Berufe, in denen die geschlechtsspezifische Segmentierung weniger ausgeprägt war. Seit den siebziger Jahren nahm die Erwerbsbeteiligung der Frauen zu. Die Verbesserung der Berufschancen von Frauen veränderte die Modalitäten einer Entscheidung zwischen Beruf und Familie. Bei einer längeren Ausbildung und besseren Karrierechancen fiel Frauen der Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit, den der bürgerliche Generationenvertrag vorsah, schwerer. Zu den direkten Kosten einer Familie kamen steigende Opportunitätskosten, die das vorzeitige Ende einer qualifizierten Berufstätigkeit mit sich brachte. Die Familie war für die Kontinuität der Gesellschaft nach wie vor unverzichtbar, aber die Familientätigkeit als individuelle Option verlor gegenüber der Berufstätigkeit an Attraktivität. Das Ziel der Gleichberechtigung und gleichen Verantwortung von Frauen und Männern im Beruf und in der Familie war im Alltag schwer zu realisieren.1 In den zwei Jahrzehnten vom Beginn der sozialdemokratischen Reformära bis zur Wiedervereinigung folgten Stabilität und Unsicherheit in den Generationenverhältnissen und Generationenbeziehungen dicht aufeinander. In den frühen siebziger Jahren prägten das wirtschaftliche Wachstum, die Vollbeschäftigung, der Ausbau des Sozialstaats, die Bildungsreform und die Familienreform die Generationenverhältnisse. Zunehmende Qualifikation, Arbeitsplatzsicherheit und die Modernisierung der Geschlechterverhältnisse sollten es der mittleren Generation 1

Christine Amend-Wegmann, Vereinbarkeitspolitik in Deutschland, Hamburg 2003.

I. Ein neuer Generationenvertrag

347

ermöglichen, ihre Erwerbsbiographie oder Familienbiographie nicht nach tradierten Vorgaben, sondern nach individuellen Wünschen zu gestalten. Die Rentenreform und eine Differenzierung der Alterseinkommen sollten einen Ruhestand ohne materielle Sorgen garantieren. Seit der Krise von 1974 – 1975 nahmen jedoch die Lebensrisiken zu. In der mittleren Generation waren die Erwerbsbiographien von der eskalierenden Arbeitsmarktkrise bedroht, und das angestrebte neue partnerschaftliche Familienmodell war mit einer doppelten Erwerbstätigkeit schwer zu vereinbaren. Der demographische Wandel weckte Befürchtungen über die Sicherheit der Altersversorgung. Ende der achtziger Jahre stieß die Charakterisierung der postindustriellen Gesellschaft als „Risikogesellschaft“ auf breite Resonanz.2 Es trat eine neue Differenzierung des Lebenslaufs und des Lebenslaufs ein, zwischen stetigen und prekären Erwerbsbiographien, zwischen familialen und nichtfamilialen Lebenswegen. Nachdem sich das wirtschaftliche Wachstum abschwächte, wurde es schwieriger, Defizite in den Lebenslagen durch die öffentliche Solidarität des Sozialstaats zu kompensieren.

2. Die ergraute Gesellschaft Nachdem die Geburtenrate in Deutschland ungefähr dreißig Jahre mit Fluktuationen stabil geblieben war, begann in der westdeutschen Gesellschaft in der Mitte der sechziger Jahre ein neuer Geburtenrückgang. Von 1965 bis 1989 sank die Geburtenrate von 1,8 Prozent auf 1,0 Prozent. Der Anstieg der Lebenserwartung setzte sich in der postindustriellen Gesellschaft fort. 1986 – 1988 schätzte man die männliche Lebenserwartung bei der Geburt auf 72 Jahre, die weibliche Lebenserwartung auf 79 Jahre. Die Sterberate änderte sich wenig, da der Anstieg der Lebenserwartung weiterhin statistisch durch das Altern der Gesellschaft kompensiert wurde. Von 1965 bis 1989 ging die Sterberate von 1,2 Prozent auf 1,1 Prozent zurück.3 Die Zuwanderung hielt trotz des schwächeren Wirtschaftswachstums an. In den achtziger Jahren gewann neben der Arbeitsmigration die Einwanderung politischer Flüchtlinge an Bedeutung. 1989 wohnten 4,8 Millionen Ausländer in der Bundesrepublik; das entsprach acht Prozent der Gesamtbevölkerung. Die meisten Einwanderer stammten aus der Türkei, gefolgt von Jugoslawien und Italien.4 Als Folge des demographischen Wandels stagnierte die westdeutsche Bevölkerung seit den siebziger Jahren. 1989 war die Einwohnerzahl mit 62 Millionen nur wenig höher als zwanzig Jahre zuvor.5 Durch den Rückgang der Geburtenrate und die Zunahme der Lebenserwartung ging bis 1989 der Anteil der Jugend bis zu 14 2 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986. 3 Statistisches Jahrbuch für das vereinte Deutschland 1991, S. 75. 4 Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 72. 5 Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 52.

348

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

Jahren an der Gesamtbevölkerung auf 15 Prozent zurück, während der Anteil der älteren Generation ab 65 Jahren auf ebenfalls 15 Prozent anstieg.6 Seit den achtziger Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland als eine „ergraute Gesellschaft“ bezeichnet.7 Da der Anteil der Jugendgeneration sehr schnell abnahm und der Anteil der Ruhestandgeneration nur langsam stieg, waren die demographischen Verteilungsbedingungen in den siebziger und achtziger Jahren im langfristigen Vergleich allerdings noch sehr günstig. 1989 betrug die Jugendquote, die das Verhältnis der Jugendgeneration unter 15 Jahren zur mittleren Generation von 15 bis 64 Jahren ausdrückt, 21 Prozent, die Altersquote, die das Verhältnis der Ruhestandsgeneration ab 65 Jahren zur mittleren Generation ausdrückt, ebenfalls 21 Prozent und die Gesamtlastquote 42 Prozent.8 Mit der demographischen Stagnation begann in der Bundesrepublik Deutschland eine neue Diskussion über das Altern der Gesellschaft.9 Nach einer 1976 vorgelegten Prognose würde bis 1999 der Anteil der Jugendgeneration unter 15 Jahren auf 16 Prozent sinken und der Anteil der Ruhestandsgeneration ab 65 Jahren auf 16 Prozent steigen. Diese Prognose erwies sich als realistisch, tatsächlich hatten 1999 im vereinten Deutschland die Jugendgeneration und die Altersgeneration jeweils einen Anteil von 16 Prozent an der Bevölkerung.10 1987 wurde erstmals eine langfristige demographische Prognosen für das Jahr 2030 vorgestellt, in dem die letzten geburtenstarken Jahrgänge aus den frühen sechziger Jahren in das Rentenalter eintreten werden. Nach dieser Schätzung würde in der Bundesrepublik Deutschland bis 2030 durch den Rückgang der Geburtenrate und die Zunahme der Lebenserwartung der Anteil der Jugendgeneration unter 15 Jahren an der Bevölkerung auf 13 bis 14 Prozent zurückgehen und der Anteil der älteren Generation ab 60 Jahren auf 34 bis 35 Prozent steigen.11 Obwohl die Verteilungsbedingungen zunächst noch günstig waren, wurde die Debatte über die intergenerative Einkommensverteilung zunehmend von Zukunftssorgen beherrscht.

Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 64. Deutsches Zentrum für Alternsfragen, Hg., Die ergraute Gesellschaft, Berlin 1987. 8 Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 64. 9 Lutz Leisering, Sozialstaat und demographischer Wandel. Wechselwirkungen, Generationenverhältnisse, politisch-institutionelle Steuerung, Frankfurt am Main 1992. 10 Arbeits- und Sozialstatistik, 27 (1976), S. 72; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2001, S. 58. 11 Konrad Eckerl / H. J. Barth / P. Hofer / K. Schilling, Gesamtwirtschaftliche Entwicklungen und gesetzliche Rentenversicherung vor dem Hintergrund einer schrumpfenden Bevölkerung. Prognos Gutachten, Basel 1987, S. 23. 6 7

I. Ein neuer Generationenvertrag

349

3. Die wirtschaftliche Entwicklung a) Von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft In einer Zeit, in der eine breite Protestbewegung die Universitäten veränderte, diskutierte der Deutsche Soziologentag 1968 über die Frage, ob die westdeutsche Gesellschaft als „Spätkapitalismus“ oder als „Industriegesellschaft“ zu charakterisieren sei. Der Begriff der Industriegesellschaft stand in der intellektuellen Situation der Zeit für Systemkontinuität und für die Stabilität einer Gesellschaft, die sich durch Industrialisierung, wirtschaftliches Wachstum und steigenden Lebensstandard auszeichnete. Die Industriegesellschaft galt als universalhistorisches Modell. Nicht nur die entwickelten kapitalistischen Länder, sondern auch die sozialistischen Länder waren Industriegesellschaften oder wollten es werden, und die Länder der Dritten Welt setzten auf die Industrialisierung als Modernisierungsweg, um die Armut zu überwinden. Der Begriff des Spätkapitalismus stand dagegen für Systemkritik und potentiell für Systemveränderung, denn ein „später“ Kapitalismus machte als Epochenbegriff nur Sinn, wenn in einer nicht allzu fernen Zukunft eine neue, postkapitalistische Gesellschaft zu erwarten war.12 Fünf Jahre später machte der amerikanische Soziologe Daniel Bell darauf aufmerksam, dass die Systemveränderung bereits unterwegs war. Das Ziel war allerdings nicht eine postkapitalistische Industriegesellschaft, sondern eine postindustrielle kapitalistische Gesellschaft.13 Die zunehmende Erwerbsorientierung der Frauen wirkte seit den siebziger Jahren auf eine Erhöhung der Erwerbsquote hin. Auch die demographische Entwicklung begünstigte eine hohe Erwerbsquote, denn die geburtenstarken Jahrgänge aus den fünfziger Jahren traten nunmehr in die mittlere Generation über, während der Anteil der Ruhestandgeneration erst langsam zunahm.14 Die Verlängerung der Ausbildungswege wirkte dagegen auf eine niedrigere Erwerbsquote hin. Auch die Arbeitsmarktkrise, die seit der Krise von 1974 – 1975 einsetzte, beeinflusste die Erwerbsquote negativ. Arbeitslose wurden zwar zu den Erwerbspersonen gezählt, so dass die Arbeitslosigkeit an sich nicht die Erwerbsquote reduzierte. Viele Arbeitslose, die nach längerer Zeit keine Unterstützung mehr erhielten und die Hoffnung auf einen Arbeitsplatz aufgegeben hatten, meldeten sich nicht mehr bei den Arbeitsämtern und verschwanden damit auch aus der Erwerbsstatistik. Insgesamt setzten sich die Einflüsse durch, die auf eine stärkere Erwerbsbeteiligung hinwirkten. Die Erwerbsquote stieg von 1970 bis 1989 von 44 Prozent auf 48 Prozent an.15 Die Bedeutung des industriellen Sektors erreichte in der Bundesrepublik in den siebziger Jahren ihren Höhepunkt. Seitdem verschob sich der Schwerpunkt der 12 Theodor W. Adorno, Hg., Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1969. 13 Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (1973), Frankfurt am Main 1975. 14 Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 64. 15 Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 113.

350

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

Beschäftigung und der Produktion vom primären Sektor und sekundären Sektor zum tertiären Sektor. 1989 gehörten nur noch vier Prozent der Beschäftigten zum primären Sektor, 41 Prozent zum sekundären Sektor und 55 Prozent zum tertiären Sektor.16 Die westdeutsche Gesellschaft verwandelte sich von einer Industriegesellschaft in eine postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft. Wieder einmal, wie schon vor hundert Jahren, hatte die Übergangsphase zur Folge, dass viele Menschen im Verlauf ihrer Erwerbsbiographie den Beruf wechselten.17 Die ländliche Gesellschaft wurde im Prozess der Modernisierung zunehmend marginalisiert.18 Der langfristige Trend zur Polarisierung von Arbeit und Kapital setzte sich in der postindustriellen Gesellschaft fort. Der Anteil der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an den Erwerbspersonen stieg bis 1989 auf 89 Prozent. Die Arbeiter gerieten gegenüber den Angestellten und Beamten in die Minderheit. 1989 gehörten 57 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu den Angestellten oder Beamten, nur noch 43 Prozent waren Arbeiter oder Arbeiterinnen.19 Die abhängige Arbeit wurde immer weniger durch die Fabrikarbeit, und immer mehr durch die verschiedenen Dienstleistungsberufe repräsentiert. In den Fabriken löste die Rationalisierung die dicht besetzten Arbeitsgruppen auf und isolierte die Arbeiter und Arbeiterinnen. Eine Untersuchung aus den frühen siebziger Jahren versuchte, in der Tradition Theodor Geigers aus der Erwerbsstatistik die Sozialstruktur der westdeutschen Gesellschaft zu rekonstruieren. Die Leitenden Angestellten an der Spitze der großen Unternehmen wurden zur Unternehmerklasse gerechnet, die nachgeordneten Angestellten und Beamten mit Leitungskompetenz zur neuen Mittelklasse, zu der noch die Angehörigen der Freien Berufe kamen. Die große Zahl der Angestellten und Beamten, die keine Leitungsfunktionen ausübten, wurden dagegen zur Arbeiterklasse gezählt. Nach diesem Modell gehörten 1970 zur Arbeiterklasse 73 Prozent der Bevölkerung, zur alten Mittelklasse 16 Prozent, zur neuen Mittelklasse acht Prozent und zur Klasse der Kapitalisten drei Prozent.20 Der Wandel der Arbeitswelt, das wirtschaftliche Wachstum, die zunehmende Diskontinuität von Erwerbsbiographien durch eigene Entscheidungen oder unter dem Einfluss der Arbeitsmarktkrise ließen neue Lebensstile und Milieus entstehen, die in mancher Hinsicht die traditionellen Strukturen sozialer Ungleichheit, die aus der Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft resultierten, überlagerten.21 Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 118. W. Kleber, Sektoraler und sozialer Wandel der Beschäftigungsstruktur in Deutschland 1882 – 1978: Eine Analyse aus der Perspektive des Lebenslaufs, in: K. J. Bade, Hg., Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter, Ostfildern 1984. 18 Beate Brüggemann / Rainer Riehle, Das Dorf. Über die Modernisierung einer Idylle, Frankfurt am Main 1986. 19 Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 114 – 115. 20 Institut für marxistische Studien und Forschungen, Hg., Klassen- und Sozialstruktur der BRD 1950 – 1970, 3 Bde., Frankfurt am Main 1973 – 1975. 21 Beck, Risikogesellschaft (wie Anm. 2), S. 121 – 160; Peter A. Berger / Stefan Hradil, Hg., Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990. 16 17

I. Ein neuer Generationenvertrag

351

b) Die Abschwächung des Wirtschaftswachstums Die Krise von 1974 – 1975 war nicht nur ein zyklischer Abschwung, sondern eine historische Zäsur. Nach der exzeptionellen Wachstumsphase des „goldenen Zeitalters“ schwächte sich das wirtschaftliche Wachstum deutlich ab. Von 1973 bis 1989 betrug die Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts je Einwohner im Durchschnitt nur noch 2,0 Prozent im Jahr.22 Im langfristigen Vergleich waren die Wachstumsraten der siebziger und achtziger Jahre immer noch beachtlich. Ein reales Wirtschaftswachstum von zwei Prozent im Jahr wurde, mit Ausnahme des „goldenen Zeitalters“ von 1950 bis 1973, selten erreicht. Man kann die Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums daher auch als Anpassung an den langfristigen Wachstumspfad der kapitalistischen Wirtschaft interpretieren. Die Löhne und Gehälter entwickelten sich ungefähr parallel zum Sozialprodukt. Das monatliche Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen betrug 1970 im Durchschnitt 1150 DM und stieg bis 1989 auf 3340 DM. Auch nach Berücksichtigung der Inflationsrate, die besonders in den siebziger Jahren heftig an der Kaufkraft der Mark nagte, gab es noch einen erheblichen Zuwachs. Real lagen die Löhne und Gehälter 1989 um 43 Prozent über dem Niveau von 1970. Da der Anteil der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an den Beschäftigten zunahm, stieg trotz des langsameren Wirtschaftswachstums und der hohen Arbeitslosigkeit die Lohnquote von 1970 bis 1989 von 68 Prozent auf 72 Prozent an.23 Seit den siebziger Jahren nahm in der Bundesrepublik Deutschland die Sparquote nicht mehr zu.24 Entscheidend war aber, dass die Kapitalakkumulation nicht mehr durch Inflationen und Währungskrisen gestört wurde. Private Vermögen wuchsen durch Reinvestition der Vermögenserträge und konnten von Generation zu Generation weitergegeben werden. 1990 betrug das Nettovermögen aller privaten Haushalte in Westdeutschland 7,9 Billionen DM. Im Durchschnitt entfiel auf jeden Haushalt ein Nettovermögen von 280.000 DM, auf jeden Einwohner ein Nettovermögen von 125.000 DM. Den größten Anteil an den privaten Vermögen hatte mit 55 Prozent der Immobilienbesitz. Es folgten das Geldvermögen, einschließlich Aktien, mit 34 Prozent und das Gebrauchsvermögen mit 11 Prozent.25 Durch die Zunahme der Vermögen wurden auch die Erbschaften umfangreicher. Die Familienbeziehungen, die sich im Vererben und Erben spiegeln, hat Marianne Kossmann am Beispiel der Stadt Dortmund untersucht. 1985 erreichte der mittlere Wert oder Median der testamentarisch übertragenen Erbschaften 65.000 DM. Die bescheidenste Erbschaft betrug nur 241 DM, die größte Erbschaft 2,5 MillioStatistisches Jahrbuch 2001 (wie Anm. 7), S. 44, 655. Statistisches Jahrbuch 2001 (wie Anm. 7), S. 636, 655. 24 Deutsche Bundesbank, Zur Entwicklung der privaten Vermögenssituation seit Beginn der neunziger Jahre, in: Monatsbericht Januar 1999, S. 34. 25 Deutsche Bundesbank, Entwicklung der privaten Vermögenssituation (wie Anm. 24), S. 47. 22 23

352

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

nen DM. Die ältere Generation setzte sich in den Testamenten oft recht gründlich und differenziert mit der Verteilung des Erbes auseinander. Im Trend nahmen partnerschaftliche Verfügungen zu. Ehepartner bevorzugten sich wechselseitig in ihren Erbverfügungen gegenüber den Söhnen und Töchtern, eine Regelung, die bei den betroffenen Kindern im allgemeinen auch auf Verständnis stieß. Kinder wurden in den Testamenten meistens gleich behandelt. Allerdings gab es in einigen Situationen geschlechtsspezifische Abweichungen. Söhne wurden bevorzugt, wenn ein Familienbetrieb vererbt wurde, während Töchter manchmal als Anerkennung für ihre Pflegeleistungen ein größeres Erbteil erhielten. Es kam auch häufiger vor, dass ältere Menschen einen Teil ihres Vermögens familienfremden Erben zusprachen.26 c) Einsturzgefahr Die sozialdemokratische Regierung kündigte 1969 eine umfassende Reform der Sozialpolitik an. Nach dem neuen Verständnis sollte die Sozialpolitik sich nicht mehr darauf beschränken, Defizite der Marktwirtschaft auszugleichen, sondern sie erhielt eine aktive Rolle zugewiesen. „Angesichts des sozialen und wirtschaftlichen Wandels stellen sich für die Sozialpolitik neue Aufgaben. Staat und Gesellschaft sind aufgerufen, mehr als in der Vergangenheit den sozialen Entwicklungsprozeß zu gestalten mit dem Ziel, allen Bürgern die Voraussetzung für eine Entfaltung in unserer Gesellschaft zu schaffen“.27 Die wichtigsten Reformen der frühen siebziger Jahre waren die Rentenreform von 1972, die Reform der Familienförderung von 1974 und die Reform der betrieblichen Alterssicherung aus dem gleichen Jahr. Der Sozialstaat wirkte in gewisser Weise der Differenzierung der Lebenswege, die in der postindustriellen Gesellschaft eintrat, entgegen. Viele öffentliche Leistungen wurden generationsspezifisch angeboten und stärkten damit die Bedeutung der Alterszäsuren im Lebenslauf.28 Der Ausbau der Sozialpolitik wurde durch die Krise von 1974 – 1975 unterbrochen. Die Abschwächung des Wirtschaftswachstums hatte zur Folge, dass die Staatseinnahmen nur noch langsam stiegen. Gleichzeitig nahmen aber die Ansprüche an die soziale Sicherung zu. Unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise wuchs bei den Unternehmen der Widerstand gegen das paritätische Modell der Sozialpolitik. Sozialbeiträge und Steuern, die in der Zeit des hohen wirtschaftlichen Wachstums tragbar erschienen, wurden unter den neuen Bedingungen als überhöht kritisiert.29 26 Marianne Kossmann, Wie Frauen erben. Geschlechterverhältnis und Erbprozeß, Opladen 1998, S. 277 – 280. 27 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbericht 1970, Bonn 1970, Teil A, S. 13. 28 Karl Ulrich Mayer / Walter Müller, Individualisierung und Standardisierung im Strukturwandel der Moderne. Lebensläufe im Wohlfahrtsstaat, in: Ansgar Weymann, Hg., Handlungsspielräume. Untersuchungen zur Individualisierung und Institutionalisierung von Lebensläufen in der Moderne, Stuttgart 1989, S. 52.

I. Ein neuer Generationenvertrag

353

Die Bundesregierung beauftragte Ende der siebziger Jahre eine Expertenkommission, das System der öffentlichen Transferleistungen zu überprüfen. Im Gegensatz zu manchen Kritikern waren die Experten der Meinung, dass sich das bestehende Modell der Sozialpolitik mit seinen verschiedenen Elementen der Versicherung, der Versorgung und der Fürsorge bewährt hatte. Die soziale Sicherung hatte sich von der Umverteilung zwischen Klassen und Schichten zur Umverteilung zwischen den Generationen entwickelt. Der Schwerpunkt der Sozialpolitik war nicht mehr die Linderung materieller Not, sondern die Stabilisierung der Lebenseinkommen. Mit steigenden Einkommen nahmen daher auch die Ansprüche an die sekundäre Einkommensverteilung zu. Der Kommissionsbericht bestätigte, dass die Sozialleistungen bis zur Mitte der siebziger Jahre schneller als das Sozialprodukt zugenommen hatten. Von 1970 bis 1975 stieg das Sozialbudget von 26 Prozent auf 32 Prozent des Bruttosozialprodukts. Die wichtigsten Ursachen für den Anstieg der Sozialquote waren die Einführung der flexiblen Altersgrenze, die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen, die Einführung der Rente nach Mindesteinkommen, die Verbesserung der Altersversorgung für Landwirte, die Dynamisierung der Rentenanpassung in der Kriegsopferversorgung und die Familienförderung. Seit der Krise von 1974 – 1975 trug auch die steigende Arbeitslosigkeit zu einem Anstieg der Sozialausgaben bei. Durch die Sparpolitik, die nach der Krise eingeleitet wurde, konnte die Sozialquote jedoch bis 1980 wieder auf dreißig Prozent des Bruttoinlandsprodukt zurückgeführt werden.30 Die Struktur des Sozialbudgets zeigte den hohen Anteil der intergenerativen Umverteilung durch die Alterssicherung und die Familienförderung, dazu noch durch die generationsspezifischen Ausgaben, die in anderen Sozialleistungen enthalten waren. 1978 machte die Alterssicherung 38 Prozent des Budgets aus, die Gesundheitsversorgung 34 Prozent, die Familienförderung 14 Prozent, die Arbeitslosenunterstützung fünf Prozent, und die Wohnungsförderung, Sparförderung, Sozialhilfe und andere Unterstützungen insgesamt neun Prozent. Auf der Finanzierungsseite zeigte sich das Übergewicht der Beiträge gegenüber den Steuern, das für das deutsche Modell der sozialen Sicherung charakteristisch war. Die Sozialleistungen wurden zu 62 Prozent aus Beiträgen finanziert, zu 36 Prozent aus allgemeinen Steuermitteln und zu zwei Prozent aus sonstigen Einnahmen.31 Die seit den fünfziger Jahren immer wieder geforderte systematische Neubegründung der sozialen Sicherung war nach Ansicht der Kommission nicht erforderlich. Sie empfahl stattdessen „punktuelle Korrekturen“, um die langfristige Stabilität der sozialen Sicherung zu erhalten. Zu diesen Korrekturen gehörte die bereits geplante Neu29 Winfried Schmähl, Alterssicherung und Einkommensverteilung. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Finanzierung, Leistungsgewährung und zur Verteilung zwischen Generationen, Tübingen 1977, S. 517. 30 Das Transfersystem in der Bundesrepublik Deutschland. Bericht der Sachverständigenkommission zur Ermittlung des Einflusses staatlicher Transfereinkommen auf das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte, Bonn 1981. 31 Das Transfersystem in der Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 30), S, 14 – 15, 23, 54.

23 Hardach

354

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

regelung der Hinterbliebenenversorgung, eine bessere Abstimmung der verschiedenen Sicherungssysteme, um die Kumulation von Sozialleistungen künftig auszuschließen, und eine Kontrolle der Ausgaben, um die Wirtschaft nicht zu überfordern und die politische Akzeptanz der sozialen Sicherung nicht zu gefährden.32 Nachdem 1982 ein Kurswechsel von einer keynesianischen zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik eingetreten war, nahm die Kritik am Sozialstaat zu.33 Arbeitsund Sozialminister Norbert Blüm warnte 1986 dramatisch vor der „Einsturzgefahr“ der öffentlichen sozialen Sicherung.34 Anders als die Warnung suggerierte, stieg die Sozialquote in den achtziger Jahren aber nicht mehr an. 1989 machte das Sozialbudget immer noch dreißig Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Die Alterssicherung beanspruchte nach wie vor mit vierzig Prozent den größten Anteil der Sozialleistungen, der Anteil des Gesundheitswesens war auf 33 Prozent gestiegen, und der Anteil der durch die Arbeitslosigkeit verursachten Aufwendungen auf acht Prozent. Die Förderung von Ehe und Familie war dagegen auf 13 Prozent des Sozialbudgets zurückgegangen, und der Anteil aller übrigen Bereiche auf sechs Prozent.35 Die Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums und die Arbeitsmarktkrise hatten zur Folge, dass die Armut am Rande der Gesellschaft zunahm. 1973 wurden 860.000 Personen durch die Sozialhilfe unterstützt; das entsprach 1,4 Prozent der westdeutschen Bevölkerung. Bis 1986 stieg die Zahl der unterstützten Personen auf 2,2 Millionen und die Sozialhilfequote auf 3,5 Prozent. Zum Teil war der Anstieg durch die größere soziale Akzeptanz der öffentlichen Transferleistungen zu erklären. Man schätzte, dass in den siebziger Jahren nur ungefähr fünfzig Prozent der Berechtigten die Sozialhilfe in Anspruch nahmen, in den achtziger Jahren dagegen siebzig Prozent. Im wesentlichen drückte die steigende Sozialhilfequote aber eine zunehmende Armut aus.36 d) Die Haushaltsproduktion Die produktiven Leistungen der Familien wurden in der postindustriellen Gesellschaft stärker beachtet, auch wenn sie nach wie vor nicht in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung eingingen.37 Das Unterscheidungskriterium zwischen Das Transfersystem in der Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 30), S. 293 – 298. Winfried Schmähl, Versicherungsprinzip und soziale Sicherung, Tübingen 1985. 34 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbericht 1986, Bonn 1986, S. 6. 35 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbericht 1990, Bonn 1990, S. 202 – 205. 36 Richard Hauser / Peter Semrau, Zur Entwicklung der Einkommensarmut von 1963 bis 1986, in: Sozialer Fortschritt, 39 (1990), S. 28 – 30. 37 Manfred Hilzenbrecher, Die (schattenwirtschaftliche) Wertschöpfung der Haushalte. Eine empirische Untersuchung für die Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 201 (1986); Rosemarie von Schweitzer, Wert und Bewertung 32 33

II. Jugend

355

Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit blieb die Marktorientierung. „Erwerbstätigkeit ist für wirtschaftliche und kulturelle Zwecke ausgeübte, zeitlich geregelte und geldlich entlohnte vermarktete Arbeitszeit. Unter Familientätigkeit sollen hier all diejenigen Tätigkeiten gefasst werden, die der unmittelbaren Versorgung, Pflege und Erziehung im privaten Haushalt dienen“.38 Die gesamte Wertschöpfung der Haushalte wurde 1982 auf 68 Prozent des Bruttosozialprodukts geschätzt.39 Während Rationalisierung und Arbeitszeitverkürzung den Anteil der Erwerbstätigkeit an der Lebenszeit reduzierten, blieben die Arbeitszeiten der Familientätigkeit lang. Nach einer Untersuchung aus den siebziger Jahren betrug der wöchentliche Aufwand für die Hausarbeit bei Ehefrauen, die sich ausschließlich der Familientätigkeit widmeten, 51 Stunden und bei erwerbstätigen Ehefrauen vierzig Stunden.40

II. Jugend 1. Die frühen Jahre In den frühen siebziger Jahren hatte in der westdeutschen Gesellschaft die Standardfamilie, in der die Kinder mit ihren verheirateten Eltern zusammenlebten, ihre größte Verbreitung. Die Nachkriegsjahre, in denen viele Kinder ohne die im Krieg umgekommenen Väter aufwuchsen, oder in denen Eltern ihre während des Krieges geschlossene Ehe auflösten, waren vorbei.41 Die Zeiten, in denen die neue Zunahme der Ehescheidungen oder der Verzicht auf eine Ehe zur Folge hatten, dass viele Kinder in alternativen Familienformen lebten, lagen noch in der Zukunft.42 Die öffentliche Kleinkindererziehung als Sozialisationsphase zwischen Familie und Schule war in den siebziger Jahren immer noch umstritten. Nach herrschender Auffassung sollten Kinder bis zum Alter von drei Jahren in der Familie aufwachsen.43 Die Betreuung in Kinderkrippen oder anderen Tagespflegeeinrichtungen galt nur dann als gerechtfertigt, wenn ein „Erziehungsnotstand“ drohte, der auf der Arbeit im Haushalt, in: Rosemarie von Schweitzer, Hg., Leitbilder für Familie und Familienpolitik, Berlin 1981. 38 Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Vierter Familienbericht. Die Situation der älteren Menschen in der Familie, Bonn 1986, S. 161. 39 Hilzenbrecher, Die (schattenwirtschaftliche) Wertschöpfung (wie Anm. 37), S. 124. 40 Rosemarie von Schweitzer / Helge Pross, Die Familienhaushalte im wirtschaftlichen und sozialen Wandel, Göttingen 1976, S. 416. 41 Merith Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945 – 1960, Göttingen 2001. 42 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kinder und ihre Kindheit in Deutschland. Eine Politik für Kinder im Kontext der Familienpolitik. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Stuttgart 1998, S. 130. 43 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Probleme der Familie und der Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1973. 23*

356

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

andere Weise nicht zu beheben war.44 Die öffentliche Betreuung von Kleinkindern in den ersten drei Lebensjahren wurde im zweiten Familienbericht der Bundesregierung abwertend als „Familienersatz“ charakterisiert. Das Problem der „gesellschaftlichen Organisation außerfamilialer Erziehungsmilieus, die dem Kinde ein hinreichendes Maß an sozialer Zuwendung von hoher Konsistenz, Stabilität und Freundlichkeit sichern“, galt als kaum lösbar.45 Die Betreuungsangebote für Kleinkinder blieben unzulänglich. 1990 standen nur für 1,8 Prozent der Kinder bis zu drei Jahren Plätze in Kinderkrippen zur Verfügung. Die wenigen Kinderkrippen konzentrierten sich auf die Großstädte. In Kleinstädten und auf dem Lande waren dagegen kaum Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder vorhanden.46 Der Kindergarten wurde, im Unterschied zur Kinderkrippe, zunehmend als pädagogische Einrichtung akzeptiert. Seine Funktion wandelte sich von der Betreuung zur Erziehung. Das Angebot an Kindergärten unterschiedlicher Träger nahm entsprechend zu. 1990 waren für 78 Prozent aller Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren Kindergartenplätze vorhanden.47

2. Die Bildungsreform Die Bildungsreform der siebziger Jahre zielte darauf, die alte, noch aus dem Kaiserreich stammende Klassenschule zu überwinden, die Bildungschancen der Jugend zu verbessern und das Bildungswesen an die steigenden Qualifikationsanforderungen in der postindustriellen Gesellschaft anzupassen. Ein breites, allgemein zugängliches und differenzierteres Bildungsangebot sollte neue Chancen für eine individuelle Lebensgestaltung schaffen. Jugendliche sollten sich nach ihren individuellen Fähigkeiten und Leistungen unabhängig von der sozialen Lage der Eltern für längere Ausbildungswege entscheiden können. Die verfassungsmäßige Zuständigkeit der Länder für das Bildungswesen wurde gewahrt, aber die Bundesregierung entwickelte Initiativen, mit denen sie die Bildungspolitik der Länder nachhaltig beeinflusste. Die institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern war die Grundlage der Bildungsreform. 1971 wurde ein Bildungsgesamtplan aufgestellt und anschließend schrittweise durchgeführt.48 44 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Diskussionsentwurf eines Jugendhilfegesetzes, Bonn 1973, S. 34. Zitiert nach Jürgen Reyer / Heidrun Kleine, Die Kinderkrippe in Deutschland. Sozialgeschichte einer umstrittenen Einrichtung, Freiburg 1997, S. 162. 45 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Zweiter Familienbericht. Familie und Sozialisation – Leistungen und Leistungsgrenzen der Familie hinsichtlich des Erziehungs- und Bildungsprozesses der jungen Generation, Bonn 1975, S. 60. 46 Wolfgang Tietze / Hans-Günter Rossbach / Karin Roitsch, Betreuungsangebote für Kinder im vorschulischen Alter, Stuttgart 1989. 47 Uwe Braun / Thomas Klein, Der berufliche Wiedereinstieg der Mutter im Lebensverlauf der Kinder, in: Bernhard Nauck / Hans Bertram, Hg., Kinder in Deutschland. Lebensverhältnisse im Regionalvergleich, Opladen 1995, S. 232 – 235; Reyer / Kleine, Kinderkrippe in Deutschland (wie Anm. 44), S. 159.

II. Jugend

357

Die institutionelle Struktur des Schulwesens bestand weiterhin in der Grundschule und der anschließenden Differenzierung in die Hauptschule, die Realschule und das Gymnasium. Die Grundschule dauerte in den meisten Bundesländern vier Jahre, nur in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg war sie als Regelschule auf sechs Jahre angelegt. Die Schulzeit endete in der Regel in der Hauptschule nach neun Schuljahren, in der Realschule nach zehn Jahren und im Gymnasium nach dreizehn Jahren. Um die Barrieren zwischen den Schultypen abzubauen und die Mobilität zu fördern, wurden quer durch die Institutionen allgemeine Bildungsstufen definiert. Die Primarstufe bestand aus den ersten vier Jahrgangsstufen, die Sekundarstufe I aus den Jahrgangsstufen fünf bis zehn, unabhängig vom Schultyp, und die Sekundarstufe II aus den Jahrgangsstufen elf bis dreizehn. Auch das berufliche Schulwesen bis zum Ende der Schulpflicht mit 18 Jahren gehörte zur Sekundarstufe II. An das Schulsystem im engeren Sinne schloss sich der tertiäre Bereich mit Fachhochschulen, Hochschulen und Universitäten an.49 Das Angebot an längeren Bildungswegen stieß auf breite Resonanz. Von 1956 bis 1975 stieg der Anteil der Jugendlichen im Alter von 16 bis 19 Jahren, die das Gymnasium besuchten, bei den Jungen von sieben auf 18 Prozent und bei den Mädchen von vier auf 16 Prozent.50 Die Bildungsexpansion hatte zur Folge, dass auch die Erziehungs- und Betreuungsverantwortung der Familien zunahm. Die Schule wurde in Deutschland nach wie vor als eine Halbtagsveranstaltung verstanden. Es fehlte an Ganztagsschulen oder anderen Angeboten zur Betreuung von Schulkindern. Kinderhorte, in denen Kinder außerhalb der Schulzeiten betreut wurden, standen 1990 nur für fünf Prozent aller Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren zur Verfügung51. Der Ausbau des Bildungswesens wurde durch eine Ausdehnung des Jugendschutzes unterstützt. Mit dem Jugendschutzgesetz von 1976 wurde das Mindestalter für die Erwerbstätigkeit von Jugendlichen auf 15 Jahre heraufgesetzt. Die Arbeitszeit von Jugendlichen bis zu 18 Jahren durfte acht Stunden täglich und vierzig Stunden wöchentlich nicht überschreiten, und die Nachtarbeit von Jugendlichen war zwischen acht Uhr abends und sieben Uhr morgens verboten.52

48 Christoph Führ, Deutsches Bildungswesen seit 1945. Grundzüge und Probleme, Neuwied 1997; Walter Schulze / Christoph Führ, Das Schulwesen in der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1973. 49 Führ, Deutsches Bildungswesen (wie Anm. 48), S. 85 – 89. 50 Peter Lundgreen, Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick, 2 Bde., Göttingen 1980 – 1981, Bd. 2, S. 119. 51 Braun / Klein, Der berufliche Wiedereinstieg der Mutter (wie Anm. 47), S. 233. 52 Gesetz zum Schutz der arbeitenden Jugend vom 12. April 1976. Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1976 I, S. 965 – 984.

358

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

3. Wehrpflicht Der Anspruch des Militärdienstes an die Jugendlichen ging seit den siebziger Jahren zurück. Die neue Ostpolitik brachte eine militärpolitische Entspannung mit sich. Der Grundwehrdienst wurde 1972 von 18 Monaten auf 15 Monate herabgesetzt. 1986 kam es noch einmal zu einer überraschenden Gegenbewegung. Die Wehrdienst sollte ab 1989 wieder auf 18 Monate verlängert werden. Aber diese Planung wurde nicht ausgeführt. Im Sommer 1989 wurde die Verlängerung ausgesetzt, und bald darauf schuf die Wiedervereinigung eine ganz neue militärpolitische Situation.53 4. Humankapital Die Investitionen in das Humankapital der Gesellschaft unterlagen konträren Einflüssen. Die Verlängerung der Bildungswege bedeutete, dass die Aufwendungen der Familien und des Staates für die einzelnen Kinder und Jugendlichen zunahmen. Eine gründlichere Bildung und Ausbildung der Jugend gehörte zu den Voraussetzungen für den Wandel von der extensiven Arbeit zur intensiven Arbeit, mit kürzeren Arbeitszeiten und höherer Produktivität. Andererseits ging aber die Geburtenrate langfristig zurück, und der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Bevölkerung nahm ab. 1990 wurde geschätzt, dass jeder westdeutsche Erwerbstätige durch die kumulierten Lebenshaltungskosten und Ausbildungskosten ein Humankapital von 161.000 DM repräsentierte. Das gesamte Humankapital der westdeutschen Gesellschaft wurde auf 8,1 Billionen DM oder ungefähr dreißig Prozent des Sachkapitals geschätzt.54 Das würde gegenüber der Annahme von Gary S. Becker, dass die Industrieländer in den sechziger Jahren zwanzig Prozent der laufenden Gesamtinvestitionen oder 25 Prozent der Sachkapitalinvestitionen in ihr Humankapital investierten, einen Anstieg bedeuten.55 Die Schätzungen sind jedoch nicht vergleichbar. Im Trend ging in Deutschland der Umfang der Investitionen in das Humankapital durch den sinkenden Anteil von Kindern und Jugendlichen an der Bevölkerung eher zurück.

5. Jugenderfahrungen In den frühen siebziger Jahren wurde der Jugend eine Erweiterung der Lebenschancen in Aussicht gestellt. Man nahm an, dass die politisch begründete Forderung nach mehr Bildungsgerechtigkeit von der ökonomischen Seite her durch den 53 Günter Hahnenfeld / Wolfgang Boehm-Tettelbach, Wehrpflichtgesetz und Kriegsdienstverweigerungsgesetz. Kommentar, München 2003. 54 Georg Ewerhart, Humankapital in Deutschland. Bildungsinvestitionen, Bildungsvermögen und Abschreibungen auf Bildung, Nürnberg 2001, S. 33 – 34. 55 Gary S. Becker, Familie, Gesellschaft und Politik – Die ökonomische Perspektive, Tübingen 1996, S. 220.

III. Beruf

359

Bedarf der Unternehmen und das Staates an höher qualifizierten Arbeitskräften gestützt wurde. Durch die Arbeitsmarktkrise sah die Jugendgeneration sich aber mit einer Diskrepanz zwischen den Lebenserwartungen und der Lebenswirklichkeit konfrontiert. Die steigende Arbeitslosigkeit bedeutete, dass eine längere Ausbildung nicht unbedingt in die angestrebten Positionen mit überdurchschnittlichem Einkommen und Prestige führte. Der Soziologe Claus Richter stellte in den siebziger Jahren fest, dass die Arbeitsmarktkrise unter den Jugendlichen erhebliche Frustrationen auslöste. Die Jugendlichen gewannen seiner Ansicht nach zunehmend den Eindruck, eine „überflüssige Generation“ zu sein.56 Nachdem sich die Arbeitsmarktkrise verschärfte, konstatierten Sozialforscher in den achtziger Jahren eine „verunsicherte Generation“.57

III. Beruf 1. Die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit Seit den siebziger Jahren nahm in der Bundesrepublik Deutschland die Erwerbstätigkeit von Frauen zu.58 Ein wichtiger Grund für die stärkere Erwerbsorientierung waren die besseren Bildungschancen für Mädchen und Frauen. Nach einer langen Ausbildung wurden die Opportunitätskosten bei einem Verzicht auf eine Berufstätigkeit höher. Auch der Wandel der Arbeitswelt trug zum Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit bei. Geschlechtsspezifische Abgrenzungen waren in vielen Dienstleistungsberufen weniger ausgeprägt als im Industriebetrieb.59 In der Arbeitsmarktpolitik wurde Anfang der siebziger Jahre eine stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen mit dem Grundrecht der Chancengleichheit beider Geschlechter 56 Claus Richter, Uneingelöste Versprechen, oder: Wie eine Generation im Stich gelassen wird, in: Claus Richter, Hg., Die überflüssige Generation. Jugend zwischen Apathie und Aggression, Königstein 1979. 57 SINUS-Institut, Die verunsicherte Generation. Jugend und Wertewandel, Opladen 1983. 58 Karin Jurczyk, Frauenarbeit und Frauenrolle. Zum Zusammenhang von Familienpolitik und Frauenerwerbstätigkeit in Deutschland von 1918 – 1975, Frankfurt am Main 1977; Friedrich Weltz / Angelika Diezinger / Veronika Lullies / Regine Marquardt, Junge Frauen zwischen Beruf und Familie, Frankfurt am Main 1979. 59 Hans-Peter Blossfeld, Kohortendifferenzierung und Karriereprozeß – eine Längsschnittstudie über die Veränderung der Bildungs- und Erwerbschancen im Lebenslauf, Frankfurt am Main 1989; Hans-Peter Blossfeld, Ausbildungsniveau, Berufschancen und Erwerbsverlauf. Der Wandel von Ausbildung und Berufseinstieg bei Frauen, in: Karl Ulrich Mayer / Jutta Allmendinger / Johannes Huinink, Hg., Vom Regen in die Traufe: Frauen in Beruf und Familie, Frankfurt am Main 1991; Hans-Peter Blossfeld, Berufsverläufe und Arbeitsmarktprozesse. Ergebnisse sozialstruktureller Längsschnittuntersuchungen, in: Karl Ulrich Mayer, Hg., Lebensverläufe und sozialer Wandel, Opladen 1991; Ingrid Sommerkorn, Die erwerbstätige Mutter in der Bundesrepublik: Einstellungs- und Problemveränderungen, in: Rosemarie Nave-Herz, Hg., Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988.

360

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

in allen Lebensbereichen, aber auch mit dem Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft begründet. Die gleichberechtigte Integration der Frauen in das Erwerbsleben sollte durch eine Einstellungsänderung gegenüber der Rolle der Geschlechter, durch eine positive Einstellung der gesellschaftlichen Institutionen zur Frauenerwerbstätigkeit und durch gezielte Förderungsmaßnahmen erreicht werden.60 Bis 1989 stieg der Anteil der Frauen an den Beschäftigten auf vierzig Prozent.61 Trotz des Anstiegs der Frauenerwerbstätigkeit gab es sowohl auf der Nachfrageseite, als auch auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes Faktoren, die eine Angleichung der Erwerbsbiographien von Frauen und Männern hemmten. Geschlechtsspezifische Unterschiede wurden oft schon durch die Sozialisation geprägt. Jungen wurden auf eine konsequente Erwerbsarbeit vorbereitet, Mädchen dagegen häufig noch auf einen Lebensentwurf, der durch den Konflikt zwischen den Anforderungen der Erwerbstätigkeit und der Familientätigkeit geprägt war.62 Frauen waren zwar in der postindustriellen Gesellschaft stärker erwerbsorientiert als im Industriekapitalismus, und ihre Erwerbsbiographie nahm einen größeren Teil der Lebenszeit ein. Dennoch waren sie immer noch eher als Männer bereit waren, ihre Erwerbstätigkeit den Anforderungen der Familientätigkeit anzupassen.63 Eine verbreitete Vereinbarkeitsstrategie war das Drei-Phasen-Modell, das in den fünfziger Jahren in Schweden von Myrdal und Klein empfohlen wurde und seit den sechziger Jahren auch in der Bundesrepublik Deutschland an Einfluss gewann.64 Da die Familien in der postindustriellen Gesellschaft weniger Kinder hatten, wurde die Familienphase oft schon relativ früh abgeschlossen. Damit verbesserten sich die Aussichten der Mütter, in den Beruf zurückzukehren.65 Charakteristisch war der Lebensplan einer jungen Bankkauffrau, die in einer soziologischen Untersuchung aus den siebziger Jahren zitiert wurde: „Die nächsten Jahre möchte ich in der gleichen Abteilung bleiben und werde dann mal heiraten, und wenn ich dann Kinder habe, zu Hause bleiben, und wenn die dann in den Kindergarten gehen, wieder arbeiten, und wenn das geht, dann würde ich wieder gern in die Bank 60 Bundesanstalt für Arbeit, Überlegungen zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik, Nürnberg 1974, S. 55. 61 Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 118. 62 Elisabeth Beck-Gernsheim, Der geschlechtsspezifische Arbeitsmarkt. Zur Ideologie und Realität von Frauenberufen, Frankfurt am Main 1976, S. 25 – 73. 63 Friederike Maier, Zwischen Arbeitsmarkt und Familie – Frauen in den alten Bundesländern, in: Gisela Helwig / Hildegard Maria Nickel, Hg., Frauen in Deutschland 1945 – 1992, Berlin 1993; Ilona Ostner, Beruf und Hausarbeit. Die Arbeit der Frau in unserer Gesellschaft, Frankfurt am Main 1979; Annemette Soerensen, Unterschiede im Lebenslauf von Frauen und Männern, in: Karl Ulrich Mayer, Hg., Lebensverläufe und sozialer Wandel, Opladen 1990; Angelika Tölke, Lebensverläufe von Frauen. Familiäre Ereignisse, Ausbildungs- und Erwerbsverhalten, München 1989; K. F. Zimmermann, Familienökonomie. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Frauenerwerbstätigkeit und Geburtenentwicklung, Berlin 1985. 64 A. Myrdal / A. Klein, Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf, Köln 1956. 65 Angelika Willms-Herget, Frauenarbeit. Zur Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, Frankfurt am Main 1985, S. 276.

III. Beruf

361

gehen und dann das machen, was ich jetzt mache, eventuell nur halbtags“.66 Eine Untersuchung vom Ende der siebziger Jahren zeigte, dass das Drei-Phasen-Modell als Lebensform zunahm. Die Frauen des Jahrgangs 1910, die zur Zeit der Untersuchung nahezu siebzig Jahre alt waren, hatten im Durchschnitt mit 14 Jahren eine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Schon mit 23 bis 24 Jahren hatten sie den Beruf endgültig aufgegeben, meistens nach der Heirat. Die Frauen, die 1920 geboren waren, hatten ihr Erwerbsleben etwas später, mit 14 bis 15 Jahren, begonnen. Sie hatten eher geheiratet und hatten daher ihre Erwerbstätigkeit etwas früher, mit 22 bis 24 Jahren, aufgegeben, um sich der Familie zu widmen. Es kam in dieser Gruppe aber auch schon öfter vor, dass Frauen nach dem Ende der Familienphase wieder eine Erwerbstätigkeit aufnahmen. Frauen des Jahrgangs 1935 zeigten eine stärkere Erwerbsorientierung. Arbeiterinnen hatten ihre Erwerbstätigkeit im Durchschnitt mit 15 Jahren begonnen, Angestellte mit 18 Jahren. Die Arbeiterinnen hatten ihre Erwerbstätigkeit mit der Heirat oder der Geburt des ersten Kindes unterbrochen und waren seitdem im allgemeinen nicht mehr erwerbstätig. Die Angestellten hatten ihre Erwerbstätigkeit mit der Heirat oder der Geburt eines Kindes ebenfalls unterbrochen, waren aber nach einer kurzen Familienphase wieder in den Beruf zurückgekehrt.67 Obwohl das Drei-Phasen-Modell als Leitbild für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie empfohlen wurde, brachte es einige Probleme mit sich. So stand der Einkommenszyklus der Haushalte im Widerspruch zum Familienzyklus. Das Haushaltseinkommen ging in der Zeit, in der junge Familien hohe Ausgaben hatten, durch den Verzicht auf ein Erwerbseinkommen stark zurück und stieg erst wieder an, wenn die erwachsenen Kinder das Elternhaus verließen. Auch war der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt nach einer längeren Familienphase nicht einfach. Berufliche Qualifikationen ließen sich nicht beliebig konservieren, und ältere Arbeitnehmerinnen waren bei der Stellensuche benachteiligt. In höher qualifizierten Positionen war ein Wiedereinstieg nach längerer Berufsunterbrechung nur in Ausnahmefällen möglich. Schließlich verschlechterte sich durch die mehrjährige Unterbrechung der Erwerbsphase die Altersversorgung.68 Eine andere Vereinbarkeitsstrategie war die Anpassung der Erwerbsarbeitszeiten an die Anforderungen der Familientätigkeit.69 Viele Frauen, die ihre Erwerbstätig66 Weltz / Diezinger / Lullies / Marquardt, Junge Frauen zwischen Beruf und Familie (wie Anm. 58), S. 47. 67 Anita Pfaff, Typische Lebensverläufe von Frauen der Geburtsjahrgänge 1910 – 1975, in: Sachverständigenkommission für die soziale Stellung der Frau und der Hinterbliebenen, Anlageband 2, Bonn 1979, S. 177 – 189. 68 Erika Schulz / Ellen Kirner, Das „Drei-Phasen-Modell“ der Erwerbsbeteiligung von Frauen – Begründung, Norm und empirische Relevanz, in: Notburga Ott / Gerhard Wagner, Hg., Familie und Erwerbstätigkeit im Umbruch, Berlin 1992. 69 Burkhard Strümpel / Harald Bielinski, Familienfreundliche Arbeitszeitregelungen – Fakten, Wünsche, Hindernisse, in: Andreas Hoff, Hg., Vereinbarkeit von Familie und Beruf – Neue Forschungsergebnisse im Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis, Stuttgart 1987.

362

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

keit nicht völlig zu Gunsten einer Familientätigkeit aufgeben wollten, entschieden sich für eine eingeschränkte Beschäftigung. Auch die Unternehmen erkannten die betrieblichen Vorteile der Teilzeitarbeit, die vor allem in einer Flexibilisierung der Beschäftigung bestanden. In manchen Fällen konnten auch die Lohnnebenkosten gesenkt werden, weil Beschäftigte mit niedriger Wochenarbeitszeit und geringem Lohn nicht sozialversicherungspflichtig waren. Die Teilzeitarbeit entwickelte sich zu einem besonderes Segment des Arbeitsmarktes mit niedrigem Lohn, geringen Aufstiegschancen und unzulänglicher Alterssicherung.70 Männer entschieden sich nur selten für eine eingeschränkte Erwerbstätigkeit.71 1990 gingen in der Bundesrepublik Deutschland 34 Prozent aller abhängig erwerbstätigen Frauen einer Teilzeitarbeit nach. Unter den abhängig erwerbstätigen Männern betrug die Teilzeitquote dagegen nur zwei Prozent.72 Die Segmentierung des Arbeitsmarktes ging zwar zurück, aber sie wurde nicht völlig ausgeräumt. Frauen hatten im Durchschnitt geringere berufliche Aufstiegschancen, und sie erhielten in manchen Fällen immer noch bei gleicher Arbeit einen geringeren Lohn. Zwischen Angebotsfaktoren und Nachfragefaktoren bestand eine Wechselwirkung. Frauen in gering bezahlten Positionen waren eher bereit, ihre Erwerbstätigkeit einzuschränken. Andererseits begründeten die Unternehmen die niedrigeren Qualifikationschancen von Frauen mit dem Argument, dass Frauen ihre Berufslaufbahn nicht mit der gleichen Konsequenz wie Männer verfolgten.73 2. Die Arbeitsmarktkrise Der Arbeitsmarkt war in den frühen siebziger Jahre noch durch das starke Wirtschaftswachstum des „goldenen Zeitalters“ geprägt. Die Rezession von 1965 – 1967 war bald überwunden. Im Aufschwungjahr 1970 betrug die Arbeitslosenquote nur 0,7 Prozent. Die Massenarbeitslosigkeit begann mit der Krise von 1974 – 1975. Die Zahl der Arbeitslosen stieg 1975 auf 1,1 Millionen und überschritt damit erstmals seit den frühen fünfziger Jahren wieder die Millionengrenze; die Arbeitslosenquote betrug 4,7 Prozent. In dem nächsten Aufschwung ging die Arbeitslosigkeit wieder etwas zurück, näherte sich aber nicht mehr dem Vollbeschäftigungsniveau.74 Das reale Sozialprodukt nahm im Trend zwar weiterhin zu, aber das Wirtschaftswachstum reichte nicht aus, um Vollbeschäftigung zu ge70 Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948 – 1969, Göttingen 1999. 71 Burkhard Strümpel, Teilzeitarbeitende Männer und Hausmänner. Motive und Konsequenzen einer eingeschränkten Erwerbstätigkeit von Männern, Berlin 1989. 72 Kerstin Altendorf, Hindernisse für Teilzeitarbeit und flexible Arbeitsorganisation in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Mainz 1998, S. 48. 73 Werner Sengenberger, Die Segmentation des Arbeitsmarktes als politisches und wissenschaftliches Problem, in: Werner Sengenberger., Hg., Der gespaltene Arbeitsmarkt. Probleme der Arbeitsmarktsegmentation, Frankfurt am Main 1978. 74 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1978, S. 94, 105.

III. Beruf

363

währleisten. Die Massenarbeitslosigkeit wurde zu einem Dauerzustand. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation führte zu dem Regierungswechsel von 1982 und zu einer Kursänderung der Wirtschaftspolitik. Die neoliberale Doktrin versprach, dass ein stabiles Preisniveau und ein verstärkter Druck auf Löhne und Lohnnebenkosten mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen würden. Am Ende der alten Bundesrepublik war das neoliberale Experiment jedoch gescheitert. 1989 waren die Staatsschulden höher als 1982, und es gab im Jahresdurchschnitt 2,0 Millionen Arbeitslose, die einer Arbeitslosenquote von 7,9 Prozent entsprachen.75 Tabelle 18 Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1970 – 1989 Millionen

Prozent

1970

0,1

0,7

1975

1,1

4,7

1980

0,9

3,8

1985

2,3

9,3

1989

2,0

7,9

Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1978, S. 94, 105; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1981, S. 108; Statistisches Jahrbuch für das vereinte Deutschland 1991, S. 130. – Die Arbeitslosenquote ist in Relation zu den abhängigen Erwerbspersonen definiert.

Durch die Arbeitsmarktkrise nahm die Beanspruchung der Arbeitslosenversicherung und die Arbeitslosenhilfe zu. Erwerbslose erhielten bis zum Alter von 45 Jahren für maximal zwölf Monate Arbeitslosengeld, danach mit dem Alter ansteigend für eine Dauer von maximal 32 Monaten. Nach dem Ende der Versicherungsleistung konnten Erwerbslose bei nachgewiesener Bedürftigkeit für unbegrenzte Zeit die aus allgemeinen Steuermitteln des Bundes finanzierte Arbeitslosenhilfe erhalten. Das Arbeitslosengeld betrug in der Regel sechzig Prozent des Nettolohns und sah darüber hinaus Zuschläge für Familien vor. Die Arbeitslosenhilfe war 1984 mit 56 Prozent des Nettolohns etwas geringer.76 Arbeitslosigkeit war für die Betroffenen nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern schuf in weiterem Sinne biographische Unsicherheit. Es wurde schwieriger, den Lebenslauf und das Lebenseinkommen langfristig zu planen und zu gestalten.77 Die biographische Unsicherheit zog sich über den gesamten Lebenslauf. Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 130. Gisela Plassmann, Der Einfluss der Arbeitslosenversicherung auf die Arbeitslosigkeit in Deutschland, Nürnberg 2002, S. 26 – 35. 77 Dieter Göbel, Lebenseinkommen und Erwerbsbiographie, Frankfurt am Main 1983; Elisabeth Liefmann-Keil, Das Problem der Lebenseinkommen, in: Bernhard Külp / Wilfrid 75 76

364

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

Jugendliche hatten oft Schwierigkeiten, einen Ausbildungsplatz und einen Beruf zu finden, der ihren Kenntnissen und Fähigkeiten entsprach. Die Beschäftigten spürten stärker als früher die Ungewissheiten der Konjunktur. Betriebliche Rationalisierung oder Betriebsstillegungen konnten auch die als sicher eingeschätzten Arbeitsplätze bedrohen. Das Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren, nahm zu, und die Eskalation der Arbeitsmarktkrise machte es immer schwieriger, eine neue Beschäftigung zu finden. Ältere Arbeitnehmer wurden auch gegen ihren Wunsch vorzeitig in den Ruhestand gedrängt.78 3. Die Differenzierung der Erwerbsbiographien Der Wandel von der extensiven Arbeit zur intensiven Arbeit setzte sich in der postindustriellen Gesellschaft fort. Die Erwerbsphase nahm gegenüber der längeren Ausbildungsphase und dem ausgedehnten Ruhestand eine kürzere Lebensspanne in Anspruch, die täglichen, wöchentlichen und monatlichen Arbeitszeiten wurden weiter verkürzt, der Urlaub nahm zu. 1970 betrug die tarifliche Wochenarbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten 41,5 Stunden, bis 1990 ging sie auf 38,5 Stunden zurück. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen hatten 1970 im Durchschnitt Anspruch auf einen Jahresurlaub von 22 Werktagen, 1990 war der Jahresurlaub auf 31 Werktage verlängert.79 Erwerbstätige in einer Vollzeitbeschäftigung arbeiteten 1950 im Durchschnitt 2500 Stunden im Jahr. 1970 betrug die Arbeitszeit 1939 Stunden im Jahr, und 1990 war sie auf 1662 Stunden im Jahr zurückgegangen.80 Den Kern der Beschäftigten bildeten auch in der postindustriellen Gesellschaft die Facharbeiter oder Facharbeiterinnen und Angestellten mit einer mehrjährigen Ausbildung.81 Die qualifizierte Arbeit garantierte aber nicht die Kontinuität des Erwerbseinkommens. Der Unterschied zwischen der bürgerlichen Laufbahn und der proletarischen Risikobiographie blieb erhalten.82 Arbeiter oder Arbeiterinnen Schreiber, Hg., Soziale Sicherheit, Köln 1971; Karl Ulrich Mayer / Hans-Peter Blossfeld, Die gesellschaftliche Konstruktion sozialer Ungleichheit im Lebenslauf, in: Peter A. Berger / Stefan Hradil, Hg., Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990. 78 Gerd Mutz, Unterbrechungen im Erwerbsverlauf und soziale Ungleichheit, in: Michael M. Zwick, Einmal arm, immer arm? Neue Befunde zur Armut in Deutschland, Frankfurt am Main 1994. 79 Susanne Wanger, Arbeitszeit und Arbeitsvolumen in der Bundesrepublik Deutschland 1970 – 1990, Nürnberg 2003, S. 23. 80 Harald Bielinski / Burkhard Strümpel / Wolfgang Prenzel / Florian Schramm, Eingeschränkte Erwerbsarbeit bei Frauen und Männern. Fakten, Wünsche, Realisierungschancen, Opladen 1988, S. 3; Wanger, Arbeitszeit und Arbeitsvolumen (wie Anm. 79), S. 19 – 20. 81 F. Weltz / G. Schmidt / J. Sass, Facharbeiter im Industriebetrieb. Eine Untersuchung in metallverarbeitenden Betrieben, Frankfurt am Main 1974. 82 Martin Osterland, Lebensbilanzen und Lebensperspektiven von Industriearbeitern, in: Martin Kohli, Hg., Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt 1978; Martin Osterland / Wilfried Deppe / Frank Gerlach / Ulrich Mergner / Klaus Pelte / Manfred Schlösser, Materialien zur Arbeitssituation der Industriearbeiter in der BRD, Frankfurt am Main 1973.

III. Beruf

365

waren nach wie vor von einem vorzeitigen Altersabstieg bedroht. Die zweite Hälfte des Erwerbslebens galt für die Mehrheit der erwerbstätigen Bevölkerung als „Problemphase“. Ab einem Alter von vierzig Jahren war in vielen Berufen eine innerbetriebliche Umsetzung in weniger belastende Tätigkeiten üblich. Häufig war dieser Wechsel mit Einkommenseinbußen verbunden.83 Nach einer Untersuchung, die Anfang der siebziger Jahre in der westdeutschen Industrie durchgeführt wurde, trat im Alter von 45 Jahren ein Übergang vom „jüngeren“ zum „älteren“ Arbeiter ein. Eine anspruchsvolle Tätigkeit als Facharbeiter trauten die Unternehmensleitungen den Älteren nicht mehr zu. Ältere Arbeiter wurden beruflich herabgestuft und auf Arbeitsplätze mit geringerem Lohn abgeschoben. Sie hatten trotz der damals noch herrschenden Vollbeschäftigung wenig Aussichten, den Betrieb zu wechseln. Häufig wurden ältere Beschäftigte daher durch die berufliche Herabstufung veranlasst, in den Vorruhestand zu gehen.84 Seit den späten siebziger Jahren nahmen die Abweichungen von dem Modell der kontinuierlichen Vollzeitbeschäftigung zu. Zwar strebten die meisten Beschäftigten nach wie vor eine vollständige Erwerbsbiographie an, und die Unternehmen und Verwaltungen boten überwiegend kontinuierliche Arbeitsverhältnisse mit Vollzeitarbeit an. Es gab aber mehr unterbrochene Erwerbsbiographien, mehr Teilzeitbeschäftigung und mehr flexible Arbeitsverhältnisse. Die Veränderungen wurden insgesamt als „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ diskutiert.85 Der wichtigste Grund für die Zunahme unvollständiger Erwerbsbiographien war die Arbeitsmarktkrise.86 Ein weiterer Grund war der Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit. Berufstätige Mütter unterbrachen häufig ihre Berufstätigkeit, oder sie entschieden sich für eine Teilzeitbeschäftigung, um Zeit für die Familie zu gewinnen. Die steigende Frauenerwerbstätigkeit schlug sich daher statistisch in einer Zunahme der unvollständigen Erwerbsbiographien nieder. Als dritte Ursache kam hinzu, dass der Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt erforderte, die häufig mit Erwerbsunterbrechungen verbunden war.87

83 Knuth Dohse / Ulrich Jürgens / Harald Russig, Die gegenwärtige Situation älterer Arbeitnehmer im Beschäftigungssystem, in: Knuth Dohse / Ulrich Jürgens / Harald Russig, Hg., Ältere Arbeitnehmer zwischen Unternehmensinteresse und Sozialpolitik, Frankfurt am Main 1982. 84 Gisela Kiesau, Die Lebenslage älterer Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Analyse der Mängel und Vorschläge zur Verbesserung, Köln 1976. 85 U. Mückenberger, Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses, in: Zeitschrift für Sozialreform, 31 (1985); Martin Osterland, „Normalbiographie“ und „Normalarbeitsverhältnis“, in: Peter A. Berger / Stefan Hradil, Hg., Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990. 86 Bielinski / Strümpel / Prenzel / Schramm, Eingeschränkte Erwerbsarbeit (wie Anm. 80). 87 Martin Kohli, Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbbiographie, in: Dietmar Brock / Hans-Rudolph Leu / Christine Preiß / Hans-Rolf Vetter, Hg., Subjektivität im gesellschaftlichen Wandel, München 1989; Brigitte Pfau-Effinger, Erwerbsverlauf und Risiko, Weinheim 1990.

366

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

IV. Der Wandel der Familie 1. Ein neues Leitbild für Ehe und Familie Die westdeutsche Gesellschaft verabschiedete sich seit den sechziger Jahren vom patriarchalischen Familienmodell des neunzehnten Jahrhunderts. Die Reform des Familienrechts von 1976 bestätigte den Wandel der Familie, der sich in der Bevölkerung vollzog, und definierte die partnerschaftliche Ehe als neues gesellschaftspolitisches Leitbild. Die Arbeitsteilung innerhalb der Familie wurde nunmehr neutral formuliert. Beide Ehepartner waren ausdrücklich „berechtigt“, erwerbstätig zu sein. Bei der Wahl und Ausübung der Erwerbstätigkeit sollten sie auf die Belange der Familie Rücksicht nehmen. Die Berechtigung zur Berufstätigkeit bedeutete keine Verpflichtung. Die Ehepartner konnten ihren Beitrag zum Unterhalt der Familie durch eine Erwerbstätigkeit oder durch die Haushaltsführung leisten.88 Das neue Familienmodell lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Experten konstatierten, dass die Zeitallokation zwischen Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit ein schwieriges Problem war, boten aber keine Lösung ein. Trotz des neuen Leitbildes der Berufstätigkeit beider Ehepartner galt die Sorge für die Kinder nach wie vor als Aufgabe der Frauen.89 Seit den achtziger Jahren wurden arbeitsmarktpolitische, familienpolitische und sozialpolitische Maßnahmen eingeführt, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu fördern. Die westdeutsche Vereinbarkeitspolitik orientierte sich an dem „Phasenmodell“, das einen Wechsel von Berufstätigkeit und Familientätigkeit vorsah. Sie unterschied sich damit von dem „Parallelmodell“ einer gleichzeitigen Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit, das in der ostdeutschen Vereinbarkeitspolitik vorherrschte. Begründet wurde der Vorrang des Phasenmodells mit der Notwendigkeit einer intensiven Betreuung der Kinder in den ersten Lebensjahren. Die Erwerbsunterbrechung würde nicht allzu lange dauern, da sich durch den Trend zur kleineren Familie die Phase der Betreuung und Erziehung von Kindern im Familienzyklus verkürzte. Frauen hätten dadurch bessere Chancen zur Rückkehr in den Beruf.90 Instrumente wie der Erziehungsurlaub, das Erziehungsgeld und die Anrechnung der Erziehungszeiten in der öffentlichen Rentenversicherung sollten es Müttern oder Vätern erleichtern, ihre Berufstätigkeit zu unterbrechen, um sich den Kindern zu widmen.91 88 Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976. Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1976 I, S. 1421 – 1463. §§ 1356 und 1360 BGB in der neuen Fassung. 89 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland. Dritter Familienbericht, Bonn 1979, S. 30 – 31; Ilona Ostner, „Immer noch wartet die Frau zu Hause“. Zur sozialpolitischen Regulierung weiblicher Lebenschancen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Lutz Leisering / Birgit Geissler / Ulrich Mergner / Ursula Rabe-Kleberg, Hg. Moderne Lebensläufe im Wandel, Weinheim 1993. 90 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Dritter Familienbericht (wie Anm. 89), S. 30.

IV. Der Wandel der Familie

367

2. Die sinkende Attraktivität der Familie Seit den sechziger Jahren trat in der Bundesrepublik ein Wandel in Ehe und Familie ein. Die Heiratsneigung nahm ab, die Scheidungsziffern stiegen, und die Bedeutung der Familie als Lebensform ging zurück. Die Veränderungen wurden mit Besorgnis als Krise der Familie wahrgenommen. Im Hinblick auf die Erweiterungen der individuellen Entscheidungsmöglichkeiten wurden sie aber auch positiv als Pluralisierung der Lebensformen interpretiert.92 Die Ehe hatte in den individuellen Lebenswegen nicht mehr die gleiche Bedeutung wie in früheren Generationen.93 Für die sinkende Heiratsneigung gab es verschiedene Gründe. Zunächst ist der allgemeine Trend zur Individualisierung zu nennen, der das Alleinleben förderte. Hinzu kam, dass Frauen und Männer eine Heirat als Hindernis empfinden konnten, wenn es darum ging, eine Erwerbskarriere aufzubauen, und wenn der Arbeitsmarkt hohe Anforderungen an die Mobilität der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen stellte. Schließlich traten auch neue Formen der Partnerschaft in Konkurrenz zur Ehe, insbesondere die nichtehelichen Lebensgemeinschaften. 94 Das Heiratsalter, das in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland zurückgegangen war, stieg seit den siebziger Jahren wieder an. Das hatte verschiedene Ursachen. Die Ausbildungswege wurden länger, die berufliche Beanspruchung in der Qualifikationsphase nahm zu, und die Arbeitsmarktkrise rief eine allgemeine Existenzunsicherheit hervor, in der viele junge Menschen zögerten, feste Bindungen einzugehen. 1990 war das Heiratsalter in Westdeutschland wieder ähnlich hoch wie in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland. Männer heirateten im Durchschnitt mit 28 Jahren, Frauen mit 26 Jahren.95 Ehen hatten nicht mehr die gleiche Verbindlichkeit wie in früheren Generationen. Die Zahl der Ehescheidungen stieg an.96 Der Trend ging insgesamt dahin, die Ehe nicht 91 Amend-Wegmann, Vereinbarkeitspolitik in Deutschland (wie Anm. 1), S. 250 – 270; Christine Vollmer, Konflikt Beruf und Familie. Eine gesellschaftliche Schlüsselfrage, Hamburg 1989. 92 Walter Bien, Leben in Mehrgenerationenfamilien – Regel oder Sonderfall? In: Walter Bien., Hg., Eigeninteresse oder Solidarität. Beziehungen in modernen Mehrgenerationenfamilien, Opladen 1994; Johannes Huinink, Warum noch Familie? Zur Attraktivität von Partnerschaft und Elternschaft in unserer Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995; Franz-Xaver Kaufmann, Zukunft der Familie im vereinten Deutschland. Gesellschaftliche und politische Bedingungen, München 1995; Rüdiger Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, Opladen 1991. 93 Heribert Engstler / Sonja Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Lebensformen, Familienstrukturen, wirtschaftliche Situation der Familien und familiendemographische Entwicklung in Deutschland, Berlin 2003, S. 67. 94 Peuckert, Familienformen (wie Anm. 92), S. 35 – 36. 95 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. (wie Anm. 93), S. 65. 96 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. (wie Anm. 93), S. 81.

368

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

mehr als privilegierte Lebensform, sondern als ein privates Arrangement zwischen den Partnern zu sehen.97 Als Alternative zur Ehe nahmen die nichtehelichen Lebensgemeinschaften seit den siebziger Jahren stark zu. Der Rückgang der Heiraten bedeutete daher in manchen Fällen nicht einen Verzicht auf eine Paarbeziehung, sondern konnte eine Entscheidung für eine andere Form des Zusammenlebens sein. 1972 gab es 137.000 nichteheliche Lebensgemeinschaften, 1988 waren es 820.000.98 Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung waren die nichtehelichen Lebensgemeinschaften aber immer noch eine recht exklusive Lebensform. Parallel zum Anstieg des Heiratsalters schoben junge Paare die Entscheidung auf, Kinder zu haben. 1970 waren Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes im Durchschnitt 24 Jahre alt, Väter entsprechend dem höheren Heiratsalter etwas älter. Bis 1989 stieg das Alter der Mütter auf 27 Jahre.99 Die Zahl der Kinder in den Familien ging zurück.100 Die Zwei-Kinder-Familie der Industriegesellschaft wurde durch die Ein-Kind-Familie der postindustriellen Gesellschaft abgelöst. Von 1970 bis 1989 stieg unter den Familien mit Kindern bis zu 18 Jahren der Anteil der Familien mit einem Kind von 45 Prozent auf 54 Prozent, während der Anteil der größeren Familien mit drei oder mehr Kindern von 21 Prozent auf elf Prozent zurückging.101 Schon seit den sechziger Jahren stieg die Zahl der kinderlosen Ehen an.102 Kinderlosigkeit wurde nicht unbedingt langfristig geplant. Sie ergab sich oft daraus, dass Ehepaare ihren Kinderwunsch aufgrund ungünstiger Lebensumstände immer wieder aufschoben und schließlich ganz aufgaben.103 Die Zahl der Familien mit alleinstehenden Eltern oder mit Eltern in nichtehelichen Lebensgemeinschaften nahm allmählich zu. 1970 betrug der Anteil unehelicher Kinder an allen Geburten acht Prozent; das entsprach den Verhältnissen in Preußen im frühen neunzehnten Jahrhundert. Seitdem stieg die Unehelichenquote bis zum Ende der alten Bundesrepublik langsam an, 1989 betrug sie zehn Prozent. Die Zunahme der alternativen Familienformen war aber nicht so groß, dass sie die wachsende Zahl von kinderlosen Ehen kompensiert hätte.104 Die wichtigsten Gründe für die sinkende Neigung Kaufmann, Zukunft der Familie (wie Anm. 92), S. 112 – 122. Bundesministerium für Familie und Senioren, Fünfter Familienbericht. Familie und Familienpolitik im geeinten Deutschland Zukunft des Humanvermögens, Bonn 1994, S. 51. 99 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. (wie Anm. 93), S. 77. 100 William H. Hubbard, Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, München 1983, S. 101. 101 Peuckert, Familienformen (wie Anm. 92), S. 75. 102 Statistisches Bundesamt, Familien heute. Strukturen, Verläufe und Einstellungen, Stuttgart 1990, S. 199. 103 Rosemarie Nave-Herz, Kinderlose Ehen. Eine empirische Studie über die Lebenssituation kinderloser Ehepaare und die Gründe für ihre Kinderlosigkeit, Weinheim 1988. 104 Bundesministerium für Familie und Senioren, Fünfter Familienbericht (wie Anm. 98), S. 55. 97 98

IV. Der Wandel der Familie

369

zur Familiengründung waren die wirtschaftlichen Nachteile und die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf.105 Die wirtschaftlichen Nachteile bestanden nicht nur in dem Aufwand für die Kinder, sondern auch in den Opportunitätskosten, die durch den Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit verursacht wurden, und in der schlechteren Altersversorgung, die aus einer Einschränkung der Erwerbstätigkeit folgte.106 Die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurde schon in der Zeit der Weimarer Republik als Grund für den Rückgang der Geburtenrate genannt, trat aber mit dem Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit stärker in den Vordergrund. „Zweifellos steht die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf in unmittelbarem Zusammenhang mit einer veränderten Geburtenentwicklung“, hieß es in den siebziger Jahren. Es wäre günstig für die Stabilität der Familie als Lebensform, „wenn das Verständnis für die Probleme um die Doppelrolle der Frau in der Gesellschaft gefördert und Maßnahmen ergriffen würden, um der Frau eine Vereinbarkeit von familiären und beruflichen Pflichten zu erleichtern“.107 Insgesamt galten Kinder, wie es im dritten Familienbericht 1979 hieß, als „Hemmfaktoren auf dem Weg zur Berufskarriere und Wohlstandsentwicklung“.108 Junge Paare entschieden sich nicht mehr mit der Selbstverständlichkeit früherer Generationen für Kinder, sondern sahen zunehmend Kinder oder Konsum als unterschiedliche Lebensziele.109 Der Anstieg des Alters, in dem Paare sich für eine Familiengründung entschieden, und der Trend zu kleineren Familien veränderten den Familienzyklus. In den achtziger Jahren begann die Familienphase im allgemeinen mit 25 bis dreißig Jahren. Die Dauer der Familienphase verkürzte sich durch die geringere Kinderzahl. Wenn die Kinder die Familiengemeinschaft verließen, waren die Eltern 45 bis fünfzig Jahre alt. Bei längeren Ausbildungswegen, die seit den siebziger Jahren zunahmen, konnten sich der Beginn und das Ende der Familienphase um einige Jahre verschieben. Anschließend begann die nachfamiliale Phase, deren Dauer mit steigender Lebenserwartung zunahm. Einige Jahre später konnte eine zweite Familienphase beginnen, in der die alten Eltern oder Schwiegereltern gepflegt wurden. Mit dem Anstieg der Lebenserwartung nahm die Zahl hilfsbedürftiger und pflegebedürftiger alter Menschen zu. Im allgemeinen übernahmen die Frauen die Pflege der älteren Angehörigen.110 105 Georgis Papastefanou, Familiengründung im Lebenslauf. Eine empirische Analyse sozialstruktureller Bedingungen der Familiengründung bei den Kohorten 1929 – 31, 1939 – 41 und 1949 – 51, Stuttgart 1990. 106 Heinz Peter Galler, Familiale Lebenslagen und Familienlastenausgleich. Zu den Opportunitätskosten familialer Entscheidungen, in: Bernhard Felderer, Hg., Familienlastenausgleich und demographische Entwicklung, Berlin 1988; Rosemarie von Schweitzer, Kinder und ihre Kosten, in: Kurt Lüscher, Hg., Sozialpolitik für das Kind, Stuttgart 1979. 107 Jürgen Gross, Geburtenentwicklung: Langfristige Perspektiven, in: Arbeits- und Sozialstatistik, 27 (1976), S. 36. 108 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Dritter Familienbericht (wie Anm. 89), S. 30. 109 Günther Oppitz, Kind oder Konsum? Eine ökonomisch-psychologische Studie zur Verhaltensrelevanz von Werthaltungen junger Ehepaare, Boppard 1984.

24 Hardach

370

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

3. Die Reform der Familienförderung Die Familienförderung galt in der Bundesrepublik Deutschland Anfang der siebziger Jahre immer noch als unzulänglich. Die sozialdemokratische Regierung erhöhte 1970 das Kindergeld für das dritte Kind auf sechzig DM. Das war eine bescheidene Geste, denn alle anderen Sätze blieben unverändert. Das Kindergeld betrug für das zweite Kind weiterhin 25 DM, für das vierte Kind sechzig DM, für das fünfte und alle weiteren Kinder siebzig DM.111 Das Familienministerium hielt die Anhebung für unzureichend und wies darauf hin, dass die Kinderfreibeträge seit 1961 unverändert geblieben waren. Die Steuerersparnis für ein Kind betrug, je nach dem Einkommen und der Zahl der Kinder einer Familie, zwischen zwanzig und achtzig DM im Monat.112 Die Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Familienorganisationen legte Bundeskanzler Brandt im Dezember 1972 eine Denkschrift zur Verbesserung des „Familienlastenausgleichs“ vor. Die Familienorganisationen forderten gleiche Leistungen unabhängig vom Einkommen der Eltern und eine deutliche Anhebung des Niveaus der Förderung. Ein gerechter „Familienlastenausgleich“ müsse sich am durchschnittlichen soziokulturellen Normbedarf eines Kindes orientieren und sollte „der Entwicklung der Preise und Einkommen in regelmäßigen Abständen angepasst werden“.113 Die Lebenshaltungskosten für ein Kind wurden 1972 aufgrund der Kosten, die als Grundbedarfsätze für die Betreuung von Kindern in Pflegefamilien galten, im Durchschnitt auf mindestens 250 DM im Monat veranschlagt. Die Familienförderung blieb weit hinter diesem Niveau zurück.114 Nach längerer Vorbereitung wurde 1974 eine Reform der Familienförderung durchgeführt. Sie orientierte sich an dem Modell des einheitlichen Kindergeldes, das von der SPD schon 1950 gefordert worden war. Die Familienförderung sollte nicht mehr schichtspezifische Unterschiede tradieren, sondern die Chancengleich110 Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Vierter Familienbericht. Die Situation der älteren Menschen in der Familie, Bonn 1986, S. 36 – 37; Norbert E. Schneider, Familie und private Lebensführung in West- und Ostdeutschland. Eine vergleichende Analyse des Familienlebens 1970 – 1992, Stuttgart 1994, S. 114. 111 Zweites Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Bundeskindergeldgesetzes vom 16. Dezember 1970. BGBl. 1970 I, S. 1725 – 1726. 112 Aufzeichnungen des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit über die in der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit vom 1. Januar 1969 bis zum 31. Dezember 1971 getroffenen Maßnahmen zum Familienlastenausgleich, 26. Januar 1972. Bundesarchiv Koblenz (BArchK) B 136 / 6140. 113 Gemeinsame Forderungen der deutschen Familienorganisationen an den VII. Deutschen Bundestag und die Bundesregierung. Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen als Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Familienorganisationen an Bundeskanzler Brandt, 10. Dezember 1972. BArchK B 136 / 6138. 114 F. U. Willeke / R. Oncken, Allgemeiner Familienlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland. Eine empirische Analyse zu drei Jahrzehnten monetärer Familienpolitik, Frankfurt am Main 1990, S. 341.

IV. Der Wandel der Familie

371

heit für die heranwachsende Generation verbessern. Die duale Familienförderung wurde durch ein einheitliches Kindergeld ersetzt, das unabhängig vom Einkommen war und steuerfrei gewährt wurde. Erstmals bestand nun vom ersten Kind an ein Anspruch auf Kindergeld. Die Leistungen betrugen für das erste Kind fünfzig DM, für das zweite Kind siebzig DM, für das dritte Kind und alle weiteren Kinder 120 DM.115 Das neue System der Familienförderung war umstritten, da für Familien mit höheren Einkommen das neue Kindergeld niedriger war als der frühere Förderungsbetrag, der sich aus dem Kindergeld und der Steuerermäßigung zusammensetzte. Das Bundesverfassungsgericht entschied schließlich 1976, dass die Kindergeldreform verfassungskonform war. Es sei zwar ein Gebot der Steuergerechtigkeit, dass die Besteuerung sich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen richtete. Der Gesetzgeber sei aber nicht verpflichtet, die nach der sozialen Stellung der Familien unterschiedlich hohen Unterhaltskosten für Kinder in vollem Umfang durch eine steuerliche Entlastung zu kompensieren. Er könne das Kindergeld so gestalten, dass die bestehende Ungleichheit der Startchancen von Kindern nicht noch verstärkt werde.116 Seit der Reform von 1974 wurde das Kindergeld in mehreren Schritten erhöht. 1978 wurde das Kindergeld für das zweite Kind auf achtzig DM und für das dritte Kind und alle weiteren Kinder auf 150 DM heraufgesetzt. Schon ein Jahr später folgte eine neue Anhebung, das Kindergeld wurde 1979 für das zweite Kind auf einhundert DM und für das dritte Kind und alle weiteren Kinder auf zweihundert DM erhöht. Schließlich folgte 1980 eine Erhöhung für das zweite Kind auf 120 DM und für das dritte Kind und alle weiteren Kinder auf 240 DM monatlich. Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen mahnte eine weitere Verbesserung der Familienförderung an, denn die bisherigen Leistungen seien „keine ausreichende Kompensation der Einkommensschwäche von kinderreichen Familie“.117 Die Mahnung wurde jedoch wieder einmal überhört. Die Familienförderung wurde nicht verbessert, sondern ganz im Gegenteil 1981 aus finanzpolitischen Gründen wieder eingeschränkt. Das Kindergeld wurde für das zweite Kind auf 100 DM und für das dritte Kind auf 220 DM reduziert. Das Kindergeld für das erste Kind von fünfzig DM und für das vierte Kind und alle weiteren Kinder von 240 DM monatlich blieb unverändert.118

115 Gesetz zur Reform der Einkommensteuer, des Familienlastenausgleichs und der Sparförderung vom 5. August 1974. BGBl. 1974 I, S. 1769 – 1855. 116 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. November 1976. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 43, S. 108 – 125. 117 Familien mit Kleinkindern. Spezifische Belastungssituationen in der frühkindlichen Entwicklung. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Stuttgart 1980, S. 153. 118 Johannes Frerich / Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 3 Bde., München 1996, Bd. 3, S. 336 – 337.

24*

372

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

Nach dem Regierungswechsel vom Oktober 1982 strebte die konservative Regierung eine Wiederherstellung der dualen Familienförderung an. Die Neuregelung wurde schon im Dezember 1982 mit Wirkung ab Januar 1983 eingeführt.119 Es gab wieder einen Steuerfreibetrag für Kinder, der aber mit 36 DM im Monat sehr gering war. Für das Kindergeld wurde vom zweiten Kind an eine Einkommensbegrenzung eingeführt, da höhere Einkommen durch die Steuerfreibeträge entlastet werden sollten. Die Grenze war für ein Ehepaar mit zwei Kindern ein Nettoeinkommen von 3500 DM im Monat und erhöhte sich für jedes weitere Kind um 650 DM. Für Familien, deren Einkommen über dieser Grenze lag, blieb das Kindergeld für das erste Kind unverändert bei fünfzig DM. Für alle weiteren Kinder wurde das Kindergeld erheblich reduziert, und zwar für das zweite Kind auf siebzig DM und für das dritte Kind und alle weiteren Kinder auf 140 DM. Die Reform von 1982 stieß auf erhebliche Kritik. Für viele Familien verschlechterte sich die Förderung, da die geringe steuerliche Entlastung die Reduzierung des Kindergeldes nicht ausglich.120 Seit der Mitte der achtziger Jahre wurde die Familienförderung wieder etwas verbessert. 1985 wurde der Kinderfreibetrag auf 237 DM monatlich für jedes Kind erhöht und 1988 auf 252 DM. Für Familien mit niedrigen Einkommen wurde 1985 als Ausgleich ein Kindergeldzuschlag eingeführt. Nach den Verbesserungen der steuerlichen Förderung kam Anfang 1989 eine Anhebung des Kindergeldes an die Reihe, allerdings nur in geringem Umfang. Für Familien, deren Einkommen unterhalb der 1982 eingeführten Grenze lag, wurde das Kindergeld für das zweite Kind auf 130 DM erhöht. Alle anderen Kindergeldsätze blieben unverändert.121 Das Bundesverfassungsgericht stellte der konzeptionslosen Familienförderung, die in den achtziger Jahren betrieben wurde, ein schlechtes Zeugnis aus. Es bewertete in einem Beschluss vom Mai 1990 die 1982 eingeführte Kürzung des Kindergeldes für Familien mit höheren Einkommen als verfassungswidrig.122 Noch deutlicher als in seiner Entscheidung vom November 1976 betonte das Gericht, dass nach dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit „bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muß.“123 Es müssten zwar nicht die gesamten Unterhaltskosten ausgeglichen werden, aber 119 Gesetz zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts vom 20. Dezember 1982, Art. 13. BGBl. 1982 I, S. 1883 – 1884. 120 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 118), Bd. 3, S. 337 – 338, 403; Bernd Schäfer, Familienlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland. Darstellung und empirische Analyse des bestehenden Systems und ausgewählte Reformvorschläge, Frankfurt am Main 1996, S. 84 – 89. 121 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 118), Bd. 3, S. 338 – 339, 405 – 406; Schäfer, Familienlastenausgleich (wie Anm. 120), S. 84 – 89. 122 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990. BVerfGE 82, S. 60 – 105. 123 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 (wie Anm. 122), S. 85.

IV. Der Wandel der Familie

373

die Entlastung müsste sich doch an den Mindestkosten für Kinder orientieren. Das gekürzte Kindergeld werde den Anforderungen nicht gerecht, auch wenn man den neu eingeführten Freibetrag berücksichtige. In einer weiteren Entscheidung vom Juni 1990 bemängelte das Verfassungsgericht, dass auch die 1982 festgesetzten Kinderfreibeträge verfassungswidrig waren, weil sie die Unterhaltskosten für Kinder nicht angemessen berücksichtigten.124 Der traditionelle Grundsatz der Steuergerechtigkeit entwickelte sich durch die Entscheidungen des Verfassungsgerichts zu einem Instrument, mit dem Mindeststandards für die Familienförderung definiert wurden.125 Ein neues Instrument der Familienförderung war der Erziehungsurlaub. Er orientierte sich am Drei-Phasen-Modell der Vereinbarkeitspolitik und sollte Frauen nach einer Familienphase die Rückkehr in den Beruf erleichtern. Beamtinnen konnten sich seit 1969 ohne Bezüge beurlauben lassen oder mit reduziertem Gehalt in eine Teilzeitbeschäftigung wechseln, wenn sie sich der Betreuung ihres Kindes widmen wollten. Die Beurlaubung war bis zu einer Dauer von sechs Jahren möglich, Beurlaubung und Teilzeitbeschäftigung zusammen bis zu einer Dauer von zwölf Jahren. Seit 1974 konnten auch Väter als Beamte einen Erziehungsurlaub beantragen. Die Höchstdauer der unbezahlten Beurlaubung wurde 1984 auf neun Jahre ausgedehnt, die Höchstdauer von Beurlaubung und Teilzeitbeschäftigung zusammen 1980 auf 15 Jahre und 1984 auf 18 Jahre. Ein allgemeiner Erziehungsurlaub für erwerbstätige Mütter oder Väter, aber auch für Großeltern oder Pflegeeltern, und ein staatliches Erziehungsgeld wurden 1985 mit Wirkung ab dem 1. Januar 1986 eingeführt. Arbeiter oder Arbeiterinnen und Angestellte hatten Anspruch auf einen unbezahlten Erziehungsurlaub oder konnten in eine Teilzeitbeschäftigung wechseln, wenn sie sich der Kindererziehung widmen wollten. Der Erziehungsurlaub war zunächst auf zehn Monate befristet. Er wurde stufenweise auf ein Jahr, dann auf 15 Monate und 1990 auf 18 Monate verlängert. Eltern, Großeltern oder Pflegeeltern, die sich der Kinderbetreuung widmen wollten und nicht erwerbstätig oder eingeschränkt erwerbstätig waren, erhielten ein Erziehungsgeld. Es wurde sechs Monate unabhängig vom Einkommen gezahlt und betrug 600 DM. Familien mit niedrigem Einkommen konnten das Kindergeld für weitere sechs Monate erhalten. Die Kindererziehung wurde für die Dauer von bis zu einem Jahr in der Rentenversicherung ohne eigene Beitragsleistung als Versicherungszeit anerkannt.126 Die neuen Instrumente der Familienförderung wurden überwiegend 124

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juni 1990. BVerfGE 82, S. 198 –

208 125 Bundesministerium für Familie und Senioren, Zur Berechnung des steuerfreien Existenzminimums für den Lebensunterhalt eines Kindes. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Stuttgart 1992. 126 Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub, und Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Stuttgart 1989, S. 25 – 34; Bundesministerium für Familie,

374

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

von Frauen in Anspruch genommen. Männer waren selten bereit, die Nachteile zu akzeptieren, die eine Unterbrechung der Berufstätigkeit mit sich brachte. Das Phasenmodell wurde daher schon bald als „statistische Diskriminierung“ von Frauen kritisiert.127 Die Familienpolitik des Bundes wurde in manchen Bundesländern durch eigene familienpolitische Programme ergänzt. Die häufigste Landesförderung waren zinsbegünstigte Darlehen oder auch Zuschüsse, die bei der Heirat oder bei der Geburt eines Kindes gezahlt wurden. Einige Länder führten auch ein Landeserziehungsgeld ein, das dann seit 1985 das vom Bund gewährte Erziehungsgeld ergänzte.128 Im Trend nahmen zwar die Förderungsbeträge für das einzelne Kind nicht nur nominal, sondern auch real erheblich zu. Da die Kinder den Lebensstandard der Eltern teilten, nahm durch das wirtschaftliche Wachstum aber auch der Aufwand der Familien für die Kinderbetreuung zu. Experten und Expertinnen beklagten immer wieder, dass die Familienförderung hinter der wirtschaftlichen Entwicklung zurückblieb. Die Mindestkosten eines Kindes, die 1972 auf 250 DM im Monat geschätzt wurden, stiegen bis 1980 auf 490 DM und bis 1986 auf 625 DM.129 Die Familienförderung durch Kindergeld, steuerliche Entlastung, familienbezogene Leistungen im öffentlichen Dienst und verschiedene kleinere Familienentlastungen blieb weit unter den Mindestkinderkosten. 1979 wurde geschätzt, dass die Familien 47 Prozent der monetären Aufwendungen für die heranwachsende Generation trugen. Wenn man den Zeitaufwand für die häusliche Kinderbetreuung berücksichtigte, stieg der Anteil der familialen Leistungen sogar auf 74 Prozent.130

Senioren, Frauen und Jugend, Gerechtigkeit für Familien. Zur Begründung und Weiterentwicklung des Familienlasten- und Familienleistungsausgleichs. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Stuttgart 2002, S. 31. 127 Notburga Ott / Gert Wagner, Instrumente der Gleichstellung von Frau und Mann am Arbeitsmarkt und im Haushalt: Mindestvorsorge in der Alterssicherung, in: Arbeits- und Sozialpolitik, 43 (1989). 128 Karl Schwarz, Demographische Wirkungen der Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland und in den Bundesländern nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Bernhard Felderer, Hg., Bevölkerung und Wirtschaft, Berlin 1990. 129 Willeke / Oncken, Allgemeiner Familienlastenausgleich (wie Anm. 114), S. 341. 130 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Leistungen für die nachwachsende Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Stuttgart 1979, S. 99 – 102.

V. Alter

375

V. Alter 1. Die Verlängerung des Ruhestandes Die ältere Generation lebte in der postindustriellen Gesellschaft länger als in früheren Zeiten. 1986 – 1988 betrug in der Bundesrepublik Deutschland die Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren für Männer 14 Jahre und für Frauen 18 Jahre.131 Die Altersjahre entwickelten sich immer mehr zu einer Ruhestandsphase. Durch den Anstieg der Renten waren ältere Menschen im allgemeinen nicht mehr zur Erwerbstätigkeit gezwungen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Sozialpolitik förderte die Ausdehnung des Ruhestandes noch, denn mit der Rentenreform von 1972 wurde der vorzeitige Ruhestand erleichtert. Der vorgezogene Ruhestand war ursprünglich als ein Angebot für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gedacht, denen mit fortgeschrittenem Alter die Erwerbstätigkeit zu mühsam wurde. Seit der Krise von 1974 – 1975 war die Frühpensionierung aber nicht immer freiwillig. Ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wurden zunehmend aus den Betrieben gedrängt.132 1989 ging schon nach dem sechzigsten Lebensjahr die Erwerbsbeteiligung stark zurück. Im Alter von sechzig Jahren bis 64 Jahren waren noch 34 Prozent der Männer und elf Prozent der Frauen erwerbstätig. Nach dem fünfundsechzigsten Geburtstag harrten nur noch einige Selbständige im Beruf aus.133

2. Vom Ausbau zur Konsolidierung der Rentenversicherung Bundeskanzler Willy Brandt kündigte in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969 eine Rentenreform an, um Strukturmängel des bestehenden Systems zu beseitigen und die Rentenversicherung an den gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Im September 1972 wurde die Rentenreform verabschiedet. Die Reform war noch vom Wachstumsoptimismus des „goldenen Zeitalters“ geprägt. Alle Selbständigen konnten, soweit sie nicht schon wie die Handwerker pflichtversichert waren, in die öffentliche Rentenversicherung eintreten. Um die niedrigen Renten anzuheben, erhielten Versicherte frühestens nach 25 Versicherungsjahren eine Mindestrente, die sich an 75 Prozent des Durchschnittseinkommens orientierte. Das noch aus der Zeit des Kaiserreichs stammende Rentenalter von 65 Jahren wurde dem Grundsatz nach beibehalten, aber es wurde ein vorzeitiger Eintritt in die Altersrente ermöglicht. Erwerbstätige mit mindestens 35 Versicherungsjahren Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 82 – 83. Annette Niederfranke, Vor-Ruhestand: Erleben und Formen der Auseinandersetzung bei Männern aus psychologischer Sicht, Diss. Bonn 1987. 133 Edeltraut Hoffmann / Gerhard Kühlewind, Arbeitsmarkt- und Kostenaspekte zur Vorruhestandregelung, in: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Hg., Arbeitszeit und flexible Altersgrenze. Aspekte und Fakten zur aktuellen Diskussion, Nürnberg 1986; Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 89. 131 132

376

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

konnten bereits mit 63 Jahren eine vorgezogene Rente beantragen, Behinderte, Berufsunfähige und Erwerbsunfähige mit 62 Jahren. Die Rente wurde dann allerdings gekürzt. Umgekehrt erhielten Erwerbstätige, die ihre Rente erst nach dem 65. Lebensjahr beantragten, einen Zuschlag zur Rente.134 Die Finanzgrundlage wurde durch Beitragserhöhungen verbessert. 1970 wurde der Beitragssatz in der Arbeiterversicherung und Angestelltenversicherung auf 17 Prozent erhöht, 1973 auf 18 Prozent. Die Beiträge der Knappschaftsversicherung waren wesentlich höher, da die Beschäftigung im Bergbau stark zurückging, aber viele Rentner zu versorgen waren.135 Arbeits- und Sozialminister Walter Arendt vertraute 1975 noch darauf, dass sich die Geburtenrate in den nächsten Jahren stabilisieren würde, so dass die finanzielle Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung nicht gefährdet wäre.136 Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung warnte jedoch in seinem Jahresgutachten 1975, dass das Altern der Gesellschaft unter unveränderten institutionellen Bedingungen zu einem langfristigen Beitragsanstieg führen werde. Er empfahl, die Renten künftig nicht mehr an die Bruttolöhne, sondern an die Nettolöhne anzupassen. Da die Steuerbelastung der Erwerbseinkommen langfristig zunahm, würde bei einer Anpassung der Renten an die Nettolöhne der Rentenanstieg niedriger ausfallen, und damit würde auch der Beitragsanstieg gebremst.137 Unter dem doppelten Einfluss der Krise von 1974 – 1975 und der demographischen Stagnation begann schließlich 1977 ein Kurswechsel in der Rentenpolitik. Das Berechnungsverfahren wurde geändert, so dass die hohen Nominallohnsteigerungen der siebziger Jahre nicht in voller Höhe zu Rentensteigerungen führten. Es gab Einschränkungen bei Kinderzuschüssen, Waisenrenten und Rehabilitationsmaßnahmen. Die Ausbildungszeiten wurden geringer als bisher bewertet. Die Rücklage wurde reduziert, um die Liquidität der Rentenversicherung kurzfristig zu verbessern. Durch die Konsolidierungsmaßnahmen konnte der Beitragssatz von 18 Prozent noch einige Jahre aufrecht erhalten werden.138 Die Expertenkommission, die Ende der siebziger Jahren von der Bundesregierung eingesetzt wurde, um das System der öffentlichen Transferleistungen zu untersuchen, widmete der Rentenversicherung einen eigenen Bericht. Auch nach Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972. BGBl. 1972 I, S. 1965 – 1997. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Rentenversicherung in Zeitreihen, Frankfurt am Main 2001, S. 243. 136 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Übersicht über die Soziale Sicherung, Bonn 1975, S. 51. 137 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Vor dem Aufschwung. Jahresgutachten 1975 / 76, Stuttgart 1975, S. 143. 138 Frerich / Frey, Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 118), Bd. 3, 228 – 232; Richard Roth, Rentenpolitik in der Bundesrepublik. Zum Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und der Gestaltung eines sozialstaatlichen Teilbereichs 1957 – 1986, Marburg 1989; Friedbert Rüb / Frank Nullmeier, Alterssicherung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bernhard Blanke / Hellmut Wollmann, Hg., Die alte Bundesrepublik, Opladen 1991. 134 135

V. Alter

377

der Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums sorgte die öffentliche Rentenversicherung für eine angemessene Altersversorgung. Die Rentnerhaushalte hatten zwar im Durchschnitt ein niedrigeres Einkommen als die Haushalte der Erwerbstätigen. Da in einem Rentnerhaushalt aber im allgemeinen weniger Personen lebten als in einem Erwerbstätigenhaushalt, war das Pro-Kopf-Einkommen der Rentner und Rentnerinnen vom durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung nicht weit entfernt. Ein Problem der Rentenversicherung war der große Abstand zwischen Männerrenten und Frauenrenten. Da die Renten aus der Erwerbstätigkeit abgeleitet waren, hatten Männer im allgemeinen eine ausreichende Rente, während Frauen, die aufgrund der längeren Lebenserwartung die Mehrheit der älteren Generation ausmachten, im Durchschnitt eine sehr niedrige Altersrente oder Witwenrente erhielten.139 In Zukunft kamen nach der Ansicht der Transfer-Enquête-Kommission durch den demographischen Wandel erhebliche Belastungen auf die Rentenversicherung zu, da die Erwerbstätigen eine wachsende Ruhestandsgeneration unterstützen müssten. Der Schwerpunkt der öffentlichen Umverteilung würde sich massiv zu Gunsten der älteren Generation verschieben. Nach der Schätzung der Kommission betrug der Anteil der älteren Generation am Sozialbudget, zu dem neben den Renten und Pensionen auch der alterspezifische Anteil an den Gesundheitsausgaben gehörte, Mitte der siebziger Jahre etwas mehr als fünfzig Prozent. Bei unveränderten institutionellen Rahmenbedingungen würde dieser Anteil durch das Altern der Gesellschaft bis 2030 auf nahezu siebzig Prozent steigen.140 Auch der Sozialbeirat wies seit Beginn der achtziger Jahre auf die langfristige Belastung der Rentenversicherung durch den demographischen Wandel hin. Nach der Jahrhundertwende würde die Rentenversicherung vor der Entscheidung stehen, entweder den gemeinsamen Beitragssatz von Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf über zwanzig Prozent zu erhöhen, oder das Rentenniveau im Vergleich zu den Löhnen deutlich abzusenken. Ein aktuelles Problem war nach Ansicht des Sozialbeirats die Diskriminierung der kindererziehenden Frau in der Alterssicherung. Es sei nicht haltbar, „dass die Frau, die mit der Kindererziehung langfristig zur Stabilisierung der Renten beiträgt, hierfür auch noch mit einer unzureichenden Altersversorgung bestraft wird“.141 Die Gutachten der Transfer-Enquête-Kommission und des Sozialbeirats machten deutlich, dass in einer alternden Gesellschaft das Beitragssatzziel und das Niveausicherungsziel in der Rentenversicherung in einen Widerspruch gerieten. Die Rentenpolitik musste zwischen einem stabilen Rentenniveau mit steigenden Beiträgen oder einem stabilen Beitragssatz mit sinkendem Renteniveau wählen.142 139 Zur Einkommenslage der Rentner. Zwischenbericht der Sachverständigenkommission zur Ermittlung des Einflusses staatlicher Transfereinkommen auf das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte, Stuttgart 1979. 140 Das Transfersystem in der Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 30), S. 229 – 231. 141 Gutachten des Sozialbeirats über langfristige Probleme der Alterssicherung in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Juli 1981. Deutscher Bundestag, 9. Wahlperiode, Bd. 274, Drucksache 9 / 632, S. 73.

378

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

Anfang der achtziger Jahre führte die Verschärfung der Wirtschaftskrise zu neuen Finanzierungsproblemen der Rentenversicherung. 1981 musste der Beitragssatz auf 18,5 Prozent heraufgesetzt werden. Nach dem Regierungswechsel wurden im Dezember 1982 neue Sparmaßnahmen verfügt. Die wichtigste Neuerung war, dass die Rentnerinnen und Rentner ab 1985 einen eigenen Beitrag zur Krankenversicherung in Höhe von fünf Prozent der Rente zu leisten hatten, der die Pauschalbeiträge der Rentenversicherung an die Krankenversicherung ergänzte Die öffentliche Meinung unterstützte nach einer Umfrage aus dem Jahr 1983 die bestehende Rentenversicherung, erwartete aber eine gleichmäßige Verteilung der künftigen Lasten auf die beitragszahlende mittlere Generation und auf die Rentner oder Rentnerinnen. Eine stärkere Besteuerung der höheren Renten wurde von 61 Prozent der Befragten befürwortet, ein langsamerer Anstieg der Renten von 51 Prozent, eine Erhöhung des Beitragssatzes ohne Strukturreform dagegen nur von 23 Prozent.143 Mit der Rentenreform von 1985 wurden einige Veränderungen eingeführt, die zum Teil schon länger überfällig waren. Die Hinterbliebenenversorgung wurde an den Gleichheitsgrundsatz angepasst. Als 1911 in der öffentlichen Rentenversicherung eine Hinterbliebenenversorgung eingeführt worden war, hatte man sich am bürgerlichen Familienmodell orientiert. Die Witwerrente wurde an strengere Voraussetzungen geknüpft als die Witwenrente, sie sollte eher die Ausnahme sein. Einem Witwer stand nur dann eine Rente zu, wenn die verstorbene Ehefrau, die einen eigenen Rentenanspruch hatte, den Lebensunterhalt des Haushalts verdient hatte.144 Das Bundesverfassungsgericht hielt diese Regelung 1963 noch für verfassungskonform. Man ging davon aus, dass die Diskriminierung keine praktische Bedeutung hatte, da Frauen nur selten einen eigenen Rentenanspruch hatten und Männer im Alter im allgemeinen auch nicht auf eine Hinterbliebenenrente angewiesen waren.145 Durch die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen stellte sich die Situation aber anders dar. 1975 entschieden die Richter, dass unter den veränderten Verhältnissen der erschwerte Zugang der Männer zur Hinterbliebenenrente dem Gleichheitsgrundsatz widersprach und daher verfassungswidrig war.146 Mit der Rentenreform von 1985 wurden die Zugangsbedingungen von Witwern und Witwen zu einer Hinterbliebenenrente einheitlich geregelt. Durch die Verbesserung der Hinterbliebenenversorgung wurde es notwendig, die Kumulation von Leistungen einzuschränken. 1984 bezogen 68 Prozent der Rentner und Rentnerinnen ausschließlich eine Versichertenrente, 19 Prozent aus142 Reiner Dinkel, Intergenerative Verteilungswirkungen umlagefinanzierter Rentenversicherungssysteme, in: Deutsche Rentenversicherung, 3 – 4 / 1986. 143 Jens Alber, Der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland 1950 – 1983, Frankfurt am Main 1989, S. 308. 144 Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911. Reichsgesetzblatt 1911, S. 509 – 838, § 1260. 145 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 1963. BVerfGE 17, S. 1 – 38. 146 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1975. BVerfGE 39, S. 169 – 196.

V. Alter

379

schließlich eine Hinterbliebenenrente, und 13 Prozent gleichzeitig eine Hinterbliebenenrente und eine Versichertenrente. Die Rentenkumulation führte nach dem damaligen Stand im allgemeinen nicht zu einer Überversorgung, sondern war sinnvoll, um die niedrigen Witwenrenten aufzubessern. Das Gesamteinkommen aus den verschiedenen Alterssicherungssystemen betrug bei Personen mit einer eigenen Rente 1401 DM monatlich, bei Personen mit einer Hinterbliebenenrente 1036 DM monatlich und bei Personen, die sowohl eine eigene, als auch eine abgeleitete Rente erhielten, 1396 DM.147 Es war aber zu erwarten, dass durch die steigende Erwerbstätigkeit der Frauen und die Zunahme der Witwerrenten in Zukunft eine wachsende Zahl von Rentnern und Rentnerinnen doppelte Rentenansprüche haben würde.148 Um die Kumulation von Versicherungsleistungen einzuschränken, wurden eigene Renten der Witwen oder Witwer und auch Erwerbseinkommen, die einen geringen Freibetrag überschritten, zu vierzig Prozent von der Hinterbliebenenrente abgezogen. Die Kindererziehung sollte künftig in begrenztem Umfang einen Rentenanspruch begründen. Wenn Frauen oder auch Männer nach der Geburt eines Kindes ihre Erwerbstätigkeit unterbrachen, um sich der Erziehung zu widmen, wurde ihnen ein Jahr ohne eigene Beitragsleitung als Versicherungszeit anerkannt. Für das zweite Kind und jedes weitere Kind verlängerte sich die Versicherungszeit. Die Erziehungszeit wurde mit 75 Prozent des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten bewertet.149 Dass neben der Erwerbstätigkeit auch die Familientätigkeit als Begründung einer Altersrente anerkannt wurde, war sozialpolitisch überfällig, hatte langfristig aber auch Konsequenzen für die Finanzierung der öffentlichen Rentenversicherung. Nach dem Äquivalenzprinzip der Sozialversicherung waren die Renten, die aus der Erziehungstätigkeit abgeleitet wurden, nicht aus den Beiträgen der Unternehmen und der Beschäftigten zu finanzieren, sondern aus allgemeinen Steuermitteln. Die staatlichen Zuschüsse, die bis dahin als Ausnahme galten, wurden damit ein wesentlicher Systembestandteil der Rentenversicherung. Unterdessen galt eine Konsolidierung der Rentenversicherung als dringend notwendig. Der Beitragssatz konnte durch die verschiedenen Sparmaßnahmen 1982 vorübergehend auf 18 Prozent ermäßigt werden. Er stieg aber 1983 wieder auf 18,5 Prozent und 1985 auf 19,2 Prozent. Damit näherte er sich der als politisch sensibel geltenden Zwanzig-Prozent-Schwelle.150 Angesichts der wachsenden 147 Gabriele Rolf / Hans-Jürgen Stubig, Zum Zusammentreffen von eigenen und abgeleiteten Leistungen aus Alterssicherungssystemen, in: Hans-Jürgen Krupp / Ute Hanefeld, Hg., Lebenslagen im Wandel: Analysen 1987, Frankfurt am Main 1987. 148 Laszlo Vaskovics / Hans-Peter Buba, Soziale Lage von Verwitweten. Vergleichende Datenanalyse zur demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Lage von Verwitweten in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988. 149 Gesetz zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 11. Juli 1985. BGBl. 1985 I, S. 1450 – 1471. 150 Rentenversicherung in Zeitreihen 2001 (wie Anm. 135), S. 209, 243.

380

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

Finanzierungsprobleme beschäftigte sich der Sozialbeirat 1986 erneut mit den Perspektiven der öffentlichen Rentenversicherung. Die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit, die Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums, die kürzeren Beitragszeiten, die Ausdehnung des Ruhestandes und das Altern der Gesellschaft belasteten die Rentenversicherung. Der Beirat empfahl als neuen Grundsatz der Rentenpolitik einen Kompromiss zwischen Beitragsziel und Rentenniveauziel. Als Konsolidierungsmaßnahmen wurden die Besteuerung der Renten, um damit einen höheren Staatszuschuss zur Rentenversicherung zu finanzieren, und der Übergang von der Bruttoanpassung zu einer Nettoanpassung der Renten diskutiert.151 Inzwischen alarmierte eine wachsende Zahl von „Horrorprognosen“ über die demographische Bedrohung des Generationenvertrages die Öffentlichkeit.152 Nach der 1987 vorgestellten langfristigen Prognose über den demographischen Wandel und seine Konsequenzen für die Rentenversicherung würde das Altern der Gesellschaft zur Folge haben, dass der Beitragssatz zur öffentlichen Rentenversicherung bei unveränderten institutionellen Rahmenbedingungen bis 2030 auf 37 bis 42 Prozent steigen müsste.153 Manche Kritiker nahmen die steigenden Beitragssätze zum Anlass, um einen radikalen Wechsel von der Umlagefinanzierung zu einer kapitalgedeckten Rentenversicherung zu fordern. Das Hauptargument war, dass eine kapitalgedeckte Rente eine höhere Rendite aufweisen sollte als das bestehende Rentensystem. Seit der Rentenreform von 1957 entsprach der Anstieg der Rentenansprüche, die mit den laufenden Beitragszahlungen erworben wurden, dem nominalen Wachstum der Erwerbseinkommen. Wenn man annimmt, dass die nominale Kapitalrendite im Durchschnitt langfristig über der nominalen Entwicklung der Erwerbseinkommen liegt, werden die Beiträge in einer kapitalgedeckten Rentenversicherung besser verzinst.154 Das angestrebte Rentenniveau könnte dann mit geringeren Beiträgen erreicht werden. Volkswirtschaftlich sollte eine kapitalgedeckte Rentenversicherung den Vorteil bieten, dass die Rentenbeiträge nicht in die aktuelle Umverteilung flossen, sondern Ersparnisse darstellten, die für produktive Investitionen zur Verfügung standen.155 Das Versprechen, dass die Rentenbeiträge durch einen System151 Gutachten des Sozialbeirats über eine Strukturreform zur längerfristigen finanziellen Konsolidierung und systematischen Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung im Rahmen der gesamten Alterssicherung, 16. April 1986. Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, Bd. 334, Drucksache 10 / 5332. 152 Hans-Jürgen Krupp, Kontroversen um den Sozialstaat, in: B. Gahlen / H. Hesse / H. J. Ramser / G. Bombach, Hg., Theorie und Politik der Sozialversicherung, Tübingen 1990, S. 6. 153 Eckerle / Barth / Hofer / Schilling, Gesamtwirtschaftliche Entwicklungen und gesetzliche Rentenversicherung (wie Anm. 8), S. 59 – 60. 154 Henry Aaron, The social insurance paradox, in: Canadian Journal of Economics, 32 (1966). 155 Bernhard Felderer, Hg., Kapitaldeckungsverfahren versus Umlageverfahren. Demographische Entwicklung und Finanzierung von Alterssicherung und Familienlastenausgleich, Berlin 1987; Wolfgang Franz, Ökonomische Aspekte der Alterssicherung. Revision des Generationenvertrages? In: B. Gahlen / H. Hesse / H. J. Ramser / G. Bombach, Hg., Theorie und

V. Alter

381

wechsel langfristig gesenkt werden könnten, beruhte allerdings auf optimistischen Prognosen der langfristigen Rentabilität und Sicherheit einer kapitalgedeckten Rentenversicherung. Die Frage, wie der enorme Kapitalstock, der zur Finanzierung der Renten erforderlich war, rentabel investiert werden konnte, und welche Renditen nach einem scharfen Anstieg der Kapitalintensität noch erwartet werden konnten, blieb ungeklärt. Wenn die steigende Kapitalintensität zu sinkenden Renditen führt, würde der Aufbau eines Kapitalstocks keine Vorteile bringen. Auch die Verlässlichkeit einer Alterssicherung, die nicht mehr durch staatlichen Garantien geschützt wäre, blieb ungewiss. Dass spätere Generationen von Krisen und Katastrophen verschont bleiben würden, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts das Versicherungskapital zwei mal vernichtet hatten, konnte man zwar hoffen, aber nicht garantieren. Der wichtigste Einwand war aber, dass die Kapitaldeckung, von der das optimistische Zukunftsszenario abhing, erst in einem langen Sparprozess akkumuliert werden musste. Nach dem Stand der späten achtziger Jahre wurde der Kapitalstock, der zur Finanzierung der damaligen Rentenleistungen erforderlich gewesen wäre, auf sechs bis sieben Billionen DM geschätzt. Dieses Kapital entsprach nach der unteren Schätzung 76 Prozent, nach der oberen Schätzung 89 Prozent des gesamten Nettovermögens, das die privaten Haushalte in Westdeutschland 1990 besaßen.156 Gleichzeitig müssten die Erwerbstätigen und zum Teil auch noch die heranwachsende Generation künftiger Erwerbstätiger weiterhin Beiträge zu dem umlagefinanzierten Rentensystem leisten, weil die Rentenansprüche und die Renten der bestehenden Rentenversicherung rechtlich geschützt waren. Diese Beiträge wären problematisch, da sie keine eigenen Rentenansprüche mehr begründeten und damit dem Äquivalenzprinzip der Sozialversicherung widersprachen. Selbst wenn man sich über diese Bedenken hinwegsetzen wollte, würden die Rentenbeiträge bei einem Wechsel zum Kapitaldeckungsmodell zunächst nicht niedriger, sondern höher. Die mittlere Generation müsste längere Zeit einen doppelten Beitrag leisten, um die bestehenden Ansprüche zu finanzieren und eine eigene Altersvorsorge aufzubauen. Für die aktuellen Probleme der öffentlichen Rentenversicherung bot die Umstellung auf ein Kapitaldeckungsmodell daher keine Lösung.157 Politik der Sozialversicherung, Tübingen 1990; Norbert Jäger, Die Umstellung der Gesetzlichen Rentenversicherung auf ein partiell kapitalgedecktes Finanzierungsverfahren. Eine Simulationsanalyse, Frankfurt am Main 1990; Manfred Neumann, Möglichkeiten zur Entlastung der Gesetzlichen Rentenversicherung durch kapitalbildende Vorsorgemaßnahmen. Walter Eucken Institut, Vorträge und Aufsätze 107, Tübingen 1986; Wolfgang Peters, Reform oder Privatisierung der Alterssicherung. Spielraum der Umlagefinanzierung und Chancen des Kapitaldeckungsverfahrens, in: B. Gahlen / H. Hesse / H. J. Ramser / G. Bombach, Hg., Theorie und Politik der Sozialversicherung, Tübingen 1990. 156 Werner Tegtmeier, Die gesetzliche Rentenversicherung in der Gesamtwirtschaft, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, 78 (1989); Deutsche Bundesbank, Zur Entwicklung der privaten Vermögenssituation (wie Anm. 24), S. 47. 157 Winfried Schmähl, Reform der Rentenversicherung: Gründe, Strategien und Wirkungen – Das Beispiel der „Rentenreform 1992“, in: B. Gahlen / H. Hesse / H. J. Ramser / G. Bombach, Hg., Theorie und Politik der Sozialversicherung, Tübingen 1990.

382

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

Ein Reformvorschlag, der durch die Alterssicherungssysteme in einigen Nachbarländern beeinflusst wurde, war das Grundsicherungsmodell. Nach diesem Modell gewährt der Staat allen älteren Menschen unabhängig von ihrer Erwerbsbiographie eine Grundversorgung. Da die Rente allen älteren Bürgern und Bürgerinnen zusteht, könnte sie aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden, so dass sich die Finanzierung gleichmäßiger auf alle Einkommen verteilen würde. Die Grundversorgung soll über dem Niveau der Sozialhilfe liegen und ist nicht von dem Nachweis einer individuellen Bedürftigkeit abhängig. Eine über den Mindestbedarf hinausgehende Alterssicherung, die einen gehobenen Lebensstandard ermöglicht, gehört nach dem Grundsicherungsmodell nicht in den Bereich der öffentlichen Pflichtversicherung, sondern soll durch die berufliche Altersversorgung oder die individuelle Altersvorsorge erreicht werden. Durch die Reduzierung der Leistungen auf eine Grundsicherung und durch die Umstellung von einer Beitragsfinanzierung auf eine Steuerfinanzierung werden die Erwerbseinkommen entlastet. Außerdem wird im Bereich der Grundsicherung die Gleichstellung von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit erreicht. Das Gesamtsystem der Alterssicherung soll aus einer Kombination von staatlicher Grundsicherung, beruflicher Altersversorgung und individueller Altersvorsorge durch Vermögensbildung bestehen. Insgesamt würde die Familientätigkeit allerdings auch bei einem Grundsicherungsmodell zu einer Diskriminierung im Alter führen, da der Zugang zur beruflichen Altersversorgung nur über die Erwerbstätigkeit vermittelt wird, und da Alleinstehende oder kinderlose Paare im allgemeinen eine größere Sparfähigkeit haben als Familien. Eine angemessene Anerkennung der Familienleistungen lässt sich allein über das Grundsicherungsmodell nicht erreichen. Auch bei dem Systemwechsel zu einem Grundsicherungsmodell gäbe es Umstellungsprobleme, die allerdings nicht so massiv wären wie bei dem Übergang zu einer Kapitaldeckung. Die Erwerbstätigen würden noch einige Zeit die bestehenden Ansprüche an die öffentliche Rentenversicherung finanzieren müssen, könnten selbst im Alter aber nur eine Grundsicherung erwarten. Diese Asymmetrie könnte sich aber aus der Perspektive der Erwerbstätigen dadurch kompensieren, dass das Grundsicherungsmodell aufgrund seiner breiten Finanzierungsbasis das künftige Versorgungsniveau mit größerer Verlässlichkeit als ein beitragsfinanziertes System versprechen kann.158 Die Rentenreform von 1989 stellte die öffentliche Rentenversicherung auf eine neue Grundlage. Ab 1992 sollten sich die Renten nicht mehr an den Bruttoeinkommen, sondern an den Nettoeinkommen orientieren. Da der Anteil der Steuern und Sozialabgaben an den Bruttoeinkommen tendenziell zunahm, sollte die Nettoanpassung den Anstieg des Rentenniveaus dämpfen. Nach 45 Berufsjahren konnten Arbeitnehmer eine Rente in Höhe von 70 Prozent des Nettolohns erwarten. Die 158 Petra Heinzel / Gundi Schuck, Mindestsicherung. Wege zur Verminderung von Armut und zur Aufhebung der Spaltung von Armen- und Arbeiterpolitik, Köln 1989; Meinhard Miegel, Sicherheit im Alter. Plädoyer für die Weiterentwicklung des Rentensystems, Stuttgart 1981; Meinhard Miegel / Stefanie Wahl, Gesetzliche Grundsicherung, private Vorsorge. Der Weg aus der Rentenkrise, Stuttgart 1985.

V. Alter

383

Witwen- und Witwerrenten betrugen je nach dem Alter 25 bis sechzig Prozent, die Waisenrente zwanzig Prozent und die Halbwaisenrente zehn Prozent. Die Rentenreform wurde vor der Wiedervereinigung beschlossen, trat aber erst im vereinten Deutschland in Kraft.159 Am Ende der alten Bundesrepublik Deutschland war die öffentliche Rentenversicherung nach wie vor das wichtigste Alterssicherungssystem. 1989 hatte die Rentenversicherung in ihren drei Zweigen, der Arbeiterversicherung, der Angestelltenversicherung und der Knappschaftsversicherung, 21 Millionen Mitglieder. Es wurden zehn Millionen Altersrenten und Invalidenrenten sowie fünf Millionen Witwen- oder Witwerrenten und Waisenrenten geleistet. Ein Teil der Rentner und vor allem der Rentnerinnen erhielt sowohl eine Versichertenrente, als auch eine Hinterbliebenenrente. Die durchschnittliche Versichertenrente betrug 1033 DM; das entsprach 46 Prozent des damaligen Nettoeinkommens der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Die Durchschnittsrente ergab sich aus sehr unterschiedlichen individuellen Renten. Besonders auffällig waren nach wie vor die geschlechtsspezifischen Differenzen. Während die Rentner im Durchschnitt 1569 DM im Monat erhielten, bezogen die Rentnerinnen aufgrund der niedrigeren Erwerbseinkommen und der kürzeren Erwerbszeiten im Durchschnitt nur 660 DM. Der Beitragssatz wurde 1987 auf 18,7 Prozent gesenkt und blieb bis zum Ende der alten Bundesrepublik Deutschland auf diesem Niveau.160

3. Die Struktur der Alterseinkommen a) Die drei Musketiere Seit Anfang der siebziger Jahre wurde in der Bundesrepublik Deutschland eine Differenzierung der Alterssicherung empfohlen. Die öffentliche Rentenversicherung, die berufliche Altersversorgung und die Altersvorsorge durch individuelle Vermögensbildung sollten sich zu einem „Drei-Säulen-Modell“ der Alterssicherung ergänzen.161 Eigentlich war es eher ein Modell der „Drei Musketiere“.162 Denn so wie Aramis, Athos und Porthos erst durch den vierten Musketier d’Artagnan komplett werden, trug die Familie wesentlich zur Alterssicherung bei.163 159 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 18. Dezember 1989. BGBl. 1989 I, S. 2261 – 2395. 160 Rentenversicherung in Zeitreihen 2001 (wie Anm. 135), S. 22, 143 – 148, 160 – 161, 243, 253. 161 Dieter Farny, Entwicklungslinien, Stand und wirtschaftliche Bedeutung des Versicherungswesens in Deutschland, in: Friedrich-Wilhelm Henning, Hg., Entwicklung und Aufgaben von Versicherungen und Banken in der Industrialisierung, Berlin 1980, S. 14. 162 Gerd Hardach, Optionen der Altersvorsorge im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 48 (2003), S. 25 – 26. 163 Alexandre Dumas, Les trois mousquetaires (1844), Paris 1995.

384

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

Die Familie war lange Zeit aus der sozialpolitischen Diskussion über Alter und Alterssicherung verschwunden. Als Relikt traditioneller Generationenbeziehungen gab es die Institution des Altenteils, die aber mit dem Rückgang der Landwirtschaft nur noch wenig verbreitet war.164 Ansonsten hatte die Familie für die Geldeinkommen der älteren Generation wenig Bedeutung. 1989 gaben nur noch knapp ein Prozent der Männer in der Generation ab 65 Jahren an, dass sie ihren Lebensunterhalt überwiegend durch Angehörige erhielten. Bei den Frauen war der Anteil höher, aber die Angehörigen waren nicht die erwachsenen Kinder, sondern die Ehepartner.165 Durch die steigende Lebenserwartung gewann die Familie aber an Bedeutung für die Altersversorgung. Eine wachsende Zahl von alten Menschen erreichte ein hohes Alter, in dem Hilfsbedürftigkeit und Pflegebedürftigkeit stark zunahmen. Die Zeitaufwendungen für die Betreuung und Pflege der älteren Generation wurden überwiegend von den Familienangehörigen erbracht.166 Auf die Familie kam daher eine wesentliche Hilfs- und Unterstützungsaufgabe zu.167 b) Die berufliche Altersversorgung Zur beruflichen Altersversorgung gehörten die Pensionssysteme von Bund, Ländern und Gemeinden, die landwirtschaftliche Altershilfe, die berufsständischen Versorgungswerke, die Zusatzversorgung für den öffentlichen Dienst und die betriebliche Altersversorgung. Vor allem in die betriebliche Altersversorgung wurden zu Beginn der siebziger Jahre große Erwartungen gesetzt. Das wirtschaftliche Wachstum hatte den Ausbau der betrieblichen Sozialpolitik gefördert, und die Verbreitung von betrieblichen Rentensystemen nahm erheblich zu. 1973 konnten 61 Prozent aller Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen eine betriebliche Altersversorgung erwarten.168 Die institutionellen Rahmenbedingungen der betrieblichen Altersvorsorge wurden 1974 verbessert. Die Ansprüche galten seitdem als „unverfallbar“ und blieben bei einem Wechsel des Betriebes erhalten. Die Unternehmen sollten alle drei Jahre die betrieblichen Leistungen prüfen mit dem Ziel, eine Anpassung an die Entwicklung der Löhne und Gehälter vorzunehmen. Die sozialpolitischen Empfehlungen zielten darauf, die betriebliche Altersvorsorge an die Verlässlichkeit und an die Dynamik der öffentlichen Rentenversicherung anzunähern.169 Die Sachverständigenkommission zur Untersuchung der Alterssicherung betonte in ihrem Bericht, den sie Anfang der achtziger Jahre vorlegte, die Bedeutung Konrad Hagedorn, Agrarsozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1982. Statistisches Bundesamt, Im Blickpunkt: Ältere Menschen, Stuttgart 1992, S. 92. 166 Das Transfersystem in der Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 30), S. 178 – 186. 167 Hans-Peter Tews, Soziologie des Alterns, Heidelberg 1979, S. 389. 168 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbericht 1976, Bonn 1976, S. 34 – 36. 169 Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung vom 19. Dezember 1974. BGBl. 1974 I, S. 3610. 164 165

V. Alter

385

der beruflichen Altersversorgung, wies aber auch auf die großen Unterschiede zwischen dem öffentlichen Dienst und der privaten Wirtschaft hin. Die Altersversorgung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen war im öffentlichen Dienst durch die Pensionssysteme und die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes wesentlich besser als in der Privatwirtschaft. Die Betriebsrenten nahmen zwar allmählich zu, waren aber besonders unter den Frauen immer noch wenig verbreitet. 1982 erhielten unter den Rentnern und Rentnerinnen im Alter von sechzig bis achtzig Jahren vierzig Prozent der Männer und elf Prozent der Frauen eine Betriebsrente. Die Diskrepanz zwischen der Mitgliedschaft in betrieblichen Versorgungssystemen und der relativ geringen Verbreitung der Betriebrenten erklärte sich daraus, das trotz der Unverfallbarkeit nach wie vor viele Rentenansprüche verloren gingen, insbesondere durch zu kurze Erwerbszeiten. Vor allem Frauen erfüllten aufgrund ihrer kürzeren Erwerbsbiographien selten die Voraussetzungen für eine Betriebsrente. Am seltensten waren Betriebsrenten unter den Rentnern und Rentnerinnen mit einer geringen Sozialversicherungsrente, die am nötigsten ein Zusatzeinkommen brauchten. Rentner und Rentnerinnen mit einer höheren Sozialrente hatten auch eher eine zusätzliche Betriebsrente. Vor allem die ehemaligen mittleren und leitenden Angestellten bezogen häufig eine relativ hohe Betriebsrente. Die Sachverständigenkommission empfahl eine stärkere Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung und eine Anhebung des Niveaus der unteren Betriebsrenten.170 Durch den Einfluss des schwächeren Wirtschaftswachstums geriet der Ausbau der betrieblichen Altersversorgung jedoch ins Stocken. Die Verbreitung der Betriebsrenten unter den Männern stagnierte in den achtziger Jahren, unter den Frauen ging sie sogar zurück. 1986 bezogen vierzig Prozent der Rentner und sieben Prozent der Rentnerinnen zusätzlich zu ihrer Rente aus der öffentlichen Rentenversicherung eine Betriebsrente. Die Betriebsrenten der Männer betrugen 1986 im Durchschnitt 471 DM, die Betriebsrenten der Frauen 204 DM.171 c) Die individuelle Altersvorsorge Die individuelle Vermögensbildung als Alterssicherung konnte in Immobilien, Bankguthaben, Wertpapieren oder Lebensversicherungen bestehen. In der Sozialpolitik galten vor allem die Lebensversicherungen als dritte Säule der Altersvorsorge, da nur bei dieser Form der Vermögensbildung der Zweck der Alterssicherung deutlich im Vordergrund stand. Seit 1970 wurde die Lebensversicherung im Rahmen der privaten Vermögensbildung staatlich gefördert.172 Als Folge des wirt170 Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme, Vergleich der Alterssicherungssysteme und Empfehlungen der Kommission. Gutachten der Sachverständigenkommission vom 19. November 1983. Berichtsband 1, Stuttgart 1983, S. 121 – 139. 171 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Alterssicherung in Deutschland 1986. Zusammenfassender Bericht, Bonn 1992, S. 63.

25 Hardach

386

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

schaftlichen Wachstums veränderten sich die individuellen Risikoeinschätzungen und Vorsorgemotive. Langfristig nahm der Anteil der Versicherungen an der jährlichen Geldvermögensbildung der Haushalte zu, während der Anteil der Spareinlagen und anderer Anlagen im Bankensystem zurückging. Von 1960 bis 1989 stieg der Anteil der Lebensversicherungen an der jährlichen Geldvermögensbildung von 16 Prozent auf 25 Prozent.173 Lebensversicherungen waren in den achtziger Jahren in allen sozialen Klassen verbreitet. Allerdings war die Höhe der Sparleistungen und der Versicherungssummen nach wie vor sehr unterschiedlich. 1989 gab es in der Bundesrepublik Deutschland 108 Lebensversicherungsunternehmen. Sie hatten einen Gesamtbestand von 70 Millionen Policen mit einer durchschnittlichen Versicherungssumme von 22479 DM. Statistisch kamen damit auf jeden Einwohner im Durchschnitt 1,1 Policen.174 Nach einer Untersuchung aus den achtziger Jahren besaßen in der erwachsenen Bevölkerung zwei Drittel der Männer und ein Drittel der Frauen mindestens eine, manchmal aber auch mehrere Versicherungspolicen. Die Versicherungssummen waren sehr unterschiedlich. Jüngere Versicherte hatten im allgemeinen höhere Vertragssummen als ältere Versicherte, die ihre Verträge zu einer Zeit abgeschlossen hatten, als die Löhne und Gehälter wesentlich niedriger waren. Ein substantielles Alterseinkommen von monatlich 300 DM oder mehr konnten nur 15 Prozent der versicherten Männer und fünf Prozent der versicherten Frauen erwarten.175 d) Die Stabilisierung der Alterseinkommen Das wirtschaftliche Wachstum und der Ausbau der Alterssicherung hatten zur Folge, dass sich die Alterseinkommen in den siebziger und achtziger Jahren dem allgemeinen Einkommensniveau annäherten. Die Leistungen der öffentlichen Rentenversicherung erreichten zwar nur etwas weniger als die Hälfte der Nettoeinkommen. In die Gesamteinkommen der älteren Generation gingen aber auch die Einkommen aus der Hinterbliebenenversorgung, soweit sie nicht verrechnet wurden, aus anderen Zweigen der Sozialversicherung, aus der beruflichen Altersversorgung und aus Vermögen ein. Außerdem stellt sich die Einkommenssituation im Alter relativ günstig dar, weil von einer Rente im allgemeinen weniger Familienangehörige abhängen als von einem Erwerbseinkommen. Nach der Unter172 Burkhardt Müller, Die Bedeutung der Lebensversicherung im System der Alterssicherung unter besonderer Berücksichtigung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten bei wachsender Alterslast, München 1988, S. 187. 173 Verband der Lebensversicherungs-Unternehmen, Die deutsche Lebensversicherung. Jahrbuch 1970, Bonn 1970, S. 8 – 9; Verband der Lebensversicherungs-Unternehmen, Die deutsche Lebensversicherung. Jahrbuch 1990, Bonn 1990, S. 25 – 26. 174 Die deutsche Lebensversicherung, Jahrbuch 1990 (wie Anm. 173), S. 14, 44. 175 Müller, Die Bedeutung der Lebensversicherung (wie Anm. 172), S. 178.

V. Alter

387

suchung über Alterseinkommen, die 1986 durchgeführt wurde, betrug das Nettoeinkommen der Generation im Alter ab 65 Jahren im Durchschnitt 1514 DM im Monat. Die Senioren und Senioren erreichten damit 91 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens der Gesamtbevölkerung, das im gleichen Jahr 1664 DM monatlich betrug.176 Zwar wurde eine Differenzierung der Alterssicherung angestrebt, aber die einzelnen Komponenten im Modell der drei Musketiere waren noch sehr ungleich. Die wichtigsten Alterssicherungssysteme, sowohl nach ihrer Verbreitung wie auch nach dem Niveau der Leistungen, blieben die öffentliche Rentenversicherung und die staatlichen Pensionssysteme. 1986 lebten in der Bundesrepublik Deutschland 9,8 Millionen Personen im Alter ab 65 Jahren. Die öffentlichen Rentenversicherung unterstützte mit eigenen oder abgeleiteten Renten 83 Prozent dieser Altersgruppe, die staatlichen Pensionssysteme zwölf Prozent, die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes acht Prozent, die betriebliche Altersversorgung ebenfalls acht Prozent, die Landwirtschaftliche Altershilfe fünf Prozent und die berufsständischen Versorgungswerke weniger als ein Prozent. Kumulationen gab es insbesondere bei ehemaligen Arbeitern oder Arbeiterinnen und Angestellten des öffentlichen Dienstes, die zu ihrer Sozialversicherungsrente eine Rente aus der Zusatzversorgung bezogen. Aber auch manche frühere Beamte oder Beamtinnen hatten während einer zeitweiligen sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit zusätzliche Rentenansprüche an die öffentliche Rentenversicherung erworben. Außerdem gab es nach wie vor die Kumulation von eigenen Renten und Hinterbliebenrenten; allerdings wurden die Zahlungsbeträge seit der Neuregelung von 1985 teilweise verrechnet. Die Zusammensetzung der individuellen Alterseinkommen reflektierte die Lebenslage vor dem Alter.177 Für die früheren Arbeiter oder Arbeiterinnen und Angestellten war die öffentliche Rentenversicherung mit großem Abstand die wichtigste Institution der Altersvorsorge. Bei den Männern machte die eigene Rente im Durchschnitt 78 Prozent des Bruttoeinkommens aus. Bei den Frauen machte die eigene Rente im Durchschnitt nur fünfzig Prozent des Alterseinkommens aus, da sich die kürzeren Erwerbsphasen auswirkten, und die Witwenrente trug 28 Prozent zum Alterseinkommen bei. Weitere Renten, darunter besonders die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes und die Betriebsrenten, trugen bei den Rentnern 15 Prozent und bei den Rentnerinnen elf Prozent zum Bruttoeinkommen bei. Eine Ergänzung der Renten durch andere Alterseinkommen, insbesondere Erwerbseinkommen oder Vermögenseinkommen, fand nur in geringem Umfang statt. Bei den pensionierten Beamten und Beamtinnen waren die öffentlichen 176 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Alterssicherung in Deutschland 1986 (wie Anm. 171), S. 88; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1988, S. 52, 557. 177 Anne-Marie Guilllemard, Old age, retirement, and the social class structure. Toward an analysis of the structural dynamics of the latter stages of life, in: Tamara K. Hareven / Kathleen Adams, Hg., Aging and life course transitions. An interdisciplinary perspective, New York 1982, S. 222 – 223.

25*

388

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

Transfereinkommen im Alter noch dominanter. Die Pension machte bei Männern im Durchschnitt 81 Prozent und bei Frauen 87 Prozent des Bruttoeinkommens aus. An zweiter Stelle standen die Renten aus einer zeitweiligen versicherungspflichtigen Tätigkeit, die bei den Männern elf Prozent und bei den Frauen sechs Prozent des Bruttoeinkommens betrugen. Die Bedeutung aller anderen Alterseinkommen war entsprechend gering.178

VI. Die intergenerative Einkommensverteilung Das Altern der Gesellschaft und die Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums hatten zur Folge, dass die öffentliche Debatte über die Generationengerechtigkeit an Intensität gewann. In diesem Kontext wurde erstmals auch versucht, die intergenerative Einkommensverteilung zu quantifizieren. Da die Einkommensverteilung zwischen den Generationen nicht statistisch erfasst wird, wurden in den Modellrechnungen die Anteile der Generationen am Bruttosozialprodukt geschätzt, soweit die einzelnen Komponenten generationsspezifisch zugeordnet werden können. Das Ergebnis hängt daher wesentlich von den Annahmen über die Verteilung des Konsums innerhalb der Haushalte und über die Anteile der einzelnen Generationen an den öffentlichen Gütern ab. Hilde Wander teilte in ihrem Modell die Bevölkerung in drei Generationengruppen, die Jugendgeneration bis zu 14 Jahren, die mittlere Generation von 15 bis zu 64 Jahren und die Ruhestandsgeneration ab 65 Jahren. Nach ihrer Schätzung waren die Anteile der Generationen am privaten und öffentlichen Konsum ungleich verteilt. Die Jugendgeneration hatte 1977 einen Anteil von 18 Prozent an der Bevölkerung, erhielt aber nur 14 Prozent des Sozialprodukts; die mittlere Generation hatte einen Anteil von 67 Prozent an der Bevölkerung und erhielt 75 Prozent des Sozialprodukts; die ältere Generation hatte einen Anteil von 15 Prozent an der Bevölkerung und erhielt elf Prozent des Sozialprodukts.179 Das Ergebnis entspricht der im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert verbreiteten Auffassung, dass die Jugendgeneration und die Altersgeneration über ein geringeres Pro-Kopf-Einkommen verfügen als die mittlere Generation. Nach einer regionalen Modellrechnung von Peter Linder über die intergenerative Einkommensverteilung in Baden-Württemberg 1979 traf diese Verteilungsannahme aber nicht mehr zu. Linder teilte die Bevölkerung in vier Generationengruppen ein, die Jugendlichen bis zu 24 Jahren, die Erwerbspersonen von 25 bis 64 Jahren, die Hausfrauen und andere Nichterwerbspersonen von 25 bis 64 Jahren 178 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Alterssicherung in Deutschland 1986 (wie Anm. 171), S. 57 – 86, 138, 141. 179 Hilde Wander, Der Aufwand für die junge und alte Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Versuch einer vergleichenden Bewertung, in: Sabine Rupp / Karl Schwarz, Hg., Beiträge aus der bevölkerungswissenschaftlichen Forschung, Boppard 1983; Statistisches Jahrbuch 1991 (wie Anm. 3), S. 64.

VI. Die intergenerative Einkommensverteilung

389

und die Ruhestandsgeneration ab 65 Jahren. Zwar hatte auch nach dieser Modellrechnung die mittlere Generation einen höheren Anteil am privaten Konsum. Dieser Vorteil wurde aber durch den größeren Anteil der Jugend und des Alters am öffentlichen Konsum kompensiert. Während der Jugend die Bildungsausgaben zugerechnet wurden, nahm die ältere Generation das Gesundheitswesen relativ stark in Anspruch. Insgesamt entfielen auf die Jugendgeneration 27 Prozent der Bevölkerung und 25 Prozent des Sozialprodukts, auf die erwerbstätige mittlere Generation 46 Prozent der Bevölkerung und 47 Prozent des Sozialprodukts, auf die nicht erwerbstätige mittlere Generation 13 Prozent der Bevölkerung und 14 Prozent des Sozialprodukts, und auf die Ruhestandsgeneration 14 Prozent der Bevölkerung und die gleichen 14 Prozent des Sozialprodukts. Die Ausdehnung der Staatstätigkeit hätte demnach zu einer gleichmäßigeren intergenerativen Einkommensverteilung geführt.180 Obwohl die Durchschnittszahlen auf einen Trend zu einer gleichmäßigeren intergenerativern Einkommensverteilung hinweisen, blieb die Armut in den Generationen unterschiedlich verteilt. Wird die Armut an der Beanspruchung der Sozialhilfe gemessen, so waren in den siebziger Jahren die Jugendgeneration und die ältere Generation überdurchschnittlich von Armut betroffen. „Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen sind am stärksten auf Sozialhilfe angewiesen“.181 Seit Ende der siebziger Jahre ließ die Zunahme unvollständiger Erwerbsbiographien vor allem das Problem unzureichender Familieneinkommen stärker in den Vordergrund treten.182 In den achtziger Jahren nahm die Armut unter Kindern und Jugendlichen zu. Von 1973 bis 1986 stieg unter der männlichen Jugend bis zu 17 Jahren die Sozialhilfequote von 1,9 Prozent auf 5,9 Prozent, unter der weiblichen Jugend im gleichen Alter von 1,9 Prozent auf 6,0 Prozent. Der Grund war vor allem die wachsende Zahl von unvollständigen Familien mit alleinerziehenden Müttern, da das Familieneinkommen oft sehr niedrig war. In der Altersgruppe ab 65 Jahren ging die Sozialhilfequote dagegen zurück, bei den Männern von 1,7 Prozent auf 1,0 Prozent und bei den Frauen von 3,4 Prozent auf 2,4 Prozent.183 Armut galt im allgemeinen als temporäre Notsituation. Längere Armut konnte sich aber zu „Armutskarrieren“ verfestigen, aus denen die Betroffenen nur schwer einen Ausweg fanden. Als typische biographische Muster galten zum einen Arbeitslose, 180 Peter Linder, Aufwendungen für die nachwachsende und ältere Generation und Auswirkungen der demographischen Entwicklung, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl, 30 (1982), S. 282 – 287. 181 Gross, Geburtenentwicklung: Langfristige Perspektiven (wie Anm. 107), S. 250. 182 Lutz Leisering, Armutsbilder im Wandel. Öffentliche Problemwahrnehmung und neuere soziologische Analysen, in: Lutz Leisering / Birgit Geissler / Ulrich Mergner / Ursula RabeKleberg, Hg., Moderne Lebensläufe im Wandel, Weinheim 1993; Bernhard Schäfers / Gunter E. Zimmermann, Armut und Familie – Zunahme der Familienverarmung seit den siebziger Jahren, in: Bernhard Nauck / Corinna Omen-Isemann, Hg., Familie im Brennpunkt von Wissenschaft und Forschung, Neuwied 1995. 183 Hauser / Semrau, Zur Entwicklung der Einkommensarmut (wie Anm. 36), S. 28 – 30.

390

7. Kap.: Der Generationenvertrag in der postindustriellen Gesellschaft

die nicht den Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit schafften, und zum anderen alleinzerziehende Mütter. Durch die Anpassung an restriktive finanzielle und soziale Bedingungen entstand eine „Kultur der Armut“, die in den betroffenen Familien auch an die nächste Generation vererbt werden konnte.184

184 Petra Buhr / Monika Ludwig, Deklassierung oder biographischer Übergang? Modernisierte Armutskarrieren in den achtziger Jahren, in: Michael M. Zwick, Hg., Einmal arm, immer arm? Neue Befunde zur Armut in Deutschland, Frankfurt am Main 1994, S. 197.

Achtes Kapitel

Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland I. Vielfalt der Lebensformen 1. Die Wiedervereinigung Durch die Wiedervereinigung von 1989 – 1990 wurden die unterschiedlichen Varianten des modernen Generationenvertrages, die sich in der ostdeutschen und der westdeutschen Gesellschaft entwickelt hatten, zusammengeführt. Da die ostdeutsche Bevölkerung auf eine rasche Vereinigung drängte, übernahm die Deutsche Demokratische Republik bereits mit dem Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom Mai 1990, der im Juli 1990 in Kraft trat, die westdeutsche Währung und die Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft. Im Oktober 1990 wurde die staatliche Einheit hergestellt. Auf die politische Wiedervereinigung, mit der die beiden inzwischen recht unterschiedlich gewordenen deutschen Gesellschaften in einem Staat zusammengefasst wurden, folgte ein längerer wirtschaftlicher und sozialer Integrationsprozess. Die institutionellen Strukturen in Westdeutschland und Ostdeutschland wurden aneinander angeglichen. Sehr viel schwieriger sollte es werden, die Unterschiede in den Lebenslagen, Mentalitäten und Lebensstilen zu überwinden.1 In der deutschen Gesellschaft der neunziger Jahre überlagerten sich die Folgen der Wiedervereinigung mit dem langfristigen Strukturwandel der kapitalistischen Gesellschaft, der bereits in der alten Bundesrepublik Deutschland begonnen hatte. In den neuen Bundesländern verbesserte die Integration in eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die durch demokratische Herrschaft, ein höheres Produktivitätsniveau und ein umfangreiches System der sozialen Sicherheit charakterisiert war, die individuellen und kollektiven Chancen, Lebenslauf und Lebenseinkommen zu gestalten. Zugleich brachte die kapitalistische Wirtschaftsordnung aber auch biographische Risiken, vor allem durch die Arbeitsmarktkrise, und eine soziale Ungleichheit mit sich, die man in dieser Form bisher nicht kannte. Gleichzeitig setzten sich aus der westdeutschen Tradition die Erosion der Familie und die Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums als gesamtdeutsche Trends durch. Die sinkende Akzeptanz der Familie und die Konkurrenz verschiedener Lebenslaufmodelle wurde im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert als „Vielfalt der 1

639.

Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2, München 2000, S. 489 –

392

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

Lebensformen“ anerkannt.2 Die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft hatte aber zur Folge, dass die demographischen Konsequenzen, die sich aus der Differenzierung der Lebenswege ergaben, schwierig zu bewältigen waren. Der Generationenvertrag war daher im vereinten Deutschland erheblichen Belastungen ausgesetzt.3 2. Bedrohte Kontinuität In der demographischen Entwicklung gab es in den neunziger Jahren erhebliche Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Vor der Wiedervereinigung ging in Westdeutschland die Geburtenziffer kontinuierlich zurück, während die Geburtenrate sich in Ostdeutschland stabilisiert hatte. Nach der Wiedervereinigung setzte sich in Westdeutschland die langsame Abnahme der Geburtenrate fort. In Ostdeutschland führte dagegen die wirtschaftliche Krise zu einem dramatischen Rückgang der Geburtenzahlen. Im gesamtdeutschen Durchschnitt betrug 2002 die Geburtenrate 0,9 Prozent.4 Angesichts der sinkenden Geburtenrate wurde in der Generationendebatte immer häufiger auf die fehlende Jugendgeneration hingewiesen. Der Fünfte Familienbericht erinnerte 1994 an die Bedeutung der sozialen Kontinuität: „Jede Gesellschaft ist darauf angewiesen, daß neue Generationen nachwachsen und ihre wesentlichen kulturellen, technischen und ökonomischen Errungenschaften übernehmen und weiterentwickeln“.5 Die Lebenserwartung nahm in den neunziger Jahren in ganz Deutschland weiter zu. Den Jungen, die in den Jahren 2000 – 2002 geboren wurden, prognostizierte man eine durchschnittliche Lebenserwartung von 75 Jahren, den Mädchen eine Lebenserwartung von 81 Jahren. Die Sterbeziffer blieb in den neunziger Jahren unverändert, da sich weiterhin der Anstieg der Lebenserwartung und das Altern der Bevölkerung statistisch kompensierten. 2002 betrug die Sterberate im vereinten Deutschland 1,0 Prozent.6 Die Einwanderung ließ in den neunziger Jahren aufgrund der Arbeitsmarktkrise nach.7 Der Anteil der politischen Flüchtlinge an den Einwanderern nahm am 2 Bundesministerium für Familie und Senioren, Fünfter Familienbericht. Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens, Bonn 1994, S. 18. 3 Christine Amend-Wegmann / Gerd Hardach, Der Sozialstaat in der Defensive. Generationenerfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Helmut Wohnout, Hg., Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der christlichen Demokratie in Österreich, 1 (1997); Gerd Hardach, Der Generationenvertrag in der Arbeitsmarktkrise, in: Kai Eicker-Wolf / Ralf Käpenick / Torsten Niechoj / Sabine Reiner / Jens Weiß, Hg., Die arbeitslose Gesellschaft und ihr Sozialstaat, Marburg 1998. 4 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2004, S. 50. 5 Bundesministerium für Familie und Senioren, Fünfter Familienbericht (wie Anm. 2), S. 34. 6 Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 50, 54. 7 Erika Schulz, Zuwanderung nach Deutschland und Ausländerbeschäftigung. Eine empirische Analyse, in: Hartmut Wendt, Hg., Zuwanderung nach Deutschland – Prozesse und

I. Vielfalt der Lebensformen

393

Beginn der neunziger Jahre zu und stieg 1992 bis auf 28 Prozent, ging seitdem aber wieder durch schärfere Kontrollen zurück. 2003 war die ausländische Wohnbevölkerung auf sieben Millionen gestiegen; das entsprach neun Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung erklärt sich nicht nur aus der Einwanderung, sondern auch aus der Eigentümlichkeit des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts. Die Kinder der Einwanderer bleiben nach deutschem Recht Ausländer, sofern sie nicht eingebürgert werden. 1998 waren 19 Prozent der Ausländer, die in Deutschland lebten, im Lande geboren. Die Einwanderer deutscher Abstammung aus Osteuropa, die aus historischen Gründen die deutsche Staatsbürgerschaft beanspruchen konnten, wurden nicht zu der ausländischen Wohnbevölkerung gerechnet.8 Tabelle 19 Die Altersstruktur der deutschen Gesellschaft 1991 – 2002 (Prozent) bis 14 Jahre

15 – 64 Jahre

ab 65 Jahre

1991

16

69

15

2002

15

68

17

Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2004, S. 41.

Das vereinte Deutschland hatte 1991 eine Bevölkerung von 80 Millionen. Die Einwanderung führte dazu, dass die Bevölkerung trotz des Geburtendefizits anstieg; 2003 hatte Deutschland 83 Millionen Einwohner. Durch den Rückgang der Geburtenrate und den Anstieg der Lebenserwartung setzte sich der Trend zum Altern der deutschen Gesellschaft fort. Die Immigration bremste vorübergehend das Altern der Gesellschaft, da die Einwanderer im Durchschnitt jünger waren als die deutsche Bevölkerung.9 1998 gehörten 21 Prozent der deutschen Staatsangehörigen, aber 26 Prozent der ausländischen Wohnbevölkerung zur Jugendgeneration unter 20 Jahren, und am anderen Ende der Altersskala gehörten 23 Prozent der deutschen Staatsangehörigen, aber nur sieben Prozent der ausländischen Wohnbevölkerung zu der Ruhestandsgeneration ab 60 Jahren. Langfristig ist der Einfluss der Einwanderung auf die Altersstruktur aber geringer, als oft angenommen wird, weil die Immigranten mit der Zeit in die Altersgeneration eintreten werden.10 Herausforderungen. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Heft 94, Wiesbaden 1999, S. 99. 8 Rainer Münz / Wolfgang Seifert / Ralf Ulrich, Zuwanderung nach Deutschland. Strukturen, Wirkungen, Perspektiven, Frankfurt am Main 1999, S. 58, 18 – 19; Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 27, 47. 9 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Sechster Familienbericht, Berlin 2000, S. 68. 10 Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, München 2001, S. 217; Münz / Seifert / Ulrich, Zuwanderung nach Deutschland (wie Anm. 8), S. 178.

394

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland Tabelle 20 Demographische Strukturquoten 1991 – 2002 (Prozent) Jugendquote

Altersquote

Gesamtlastquote

1991

23

22

45

2002

22

25

47

Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2004, S. 41.

Die Veränderung der Altersstruktur spiegelte sich sehr deutlich in den demographischen Belastungsquoten des Jahres 2002. Die Jugendquote ging weiter zurück auf 22 Prozent, während die Altersquote auf 25 Prozent anstieg. Die Gesamtlastquote stieg auf 47 Prozent. Sie erreichte damit noch nicht das hohe Niveau, das in den Anfangsjahren des Kaiserreichs bestand. Im Trend nahm die Gesamtlastquote aber zu, und der Umverteilungsbedarf wurde größer.11 Hinzu kam, dass längere Ausbildungswege und die Ausdehnung des Ruhestandes die aktive Phase in der Mitte des Lebens verkürzten. Der Generationendiskurs wurde zunehmend durch das Altern der Gesellschaft beherrscht.12 3. Die wirtschaftliche Entwicklung a) Der Strukturwandel der Wirtschaft Durch die Wiedervereinigung wurden zwei Volkswirtschaften zusammengeführt, die in der Wirtschaftsordnung und in der Wirtschaftsstruktur sehr unterschiedlich waren. Die Integration verlief im wesentlichen als einseitige Anpassung der ostdeutschen Wirtschaft an die westdeutschen Strukturen. Die Staatsbetriebe wurden privatisiert und einem massiven Konkurrenzdruck unterworfen, den nur wenige überstanden. Die Produktionsstruktur der ostdeutschen Wirtschaft, in der Landwirtschaft und Industrie noch relativ stark vertreten waren, wurde durch den Markt in kürzester Zeit an die Dienstleistungsgesellschaft angepasst. Die Erwerbsbevölkerung wurde aus der zentralen Arbeitsplanung in den kapitalistischen Arbeitsmarkt entlassen. Die Beschäftigten aus den staatlichen Betrieben, dem GenossenschaftsStatistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 27, 41. Peter Schimany, Die Alterung der Gesellschaft. Ursachen und Folgen des demographischen Umbruchs, Frankfurt am Main 2003; J.-Matthias Graf von der Schulenburg, Bevölkerungsentwicklung und intergenerative Verteilungsgerechtigkeit: Meßkonzepte, empirische Untersuchungen, in: Stephan Fickl, Hg., Bevölkerungsentwicklung und öffentliche Haushalte, Frankfurt am Main 1991; Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft an den einzelnen und die Politik“, 1998. Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13 / 11460, S. 36 – 37; Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, 28. März 2002. Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14 / 8800. 11 12

I. Vielfalt der Lebensformen

395

sektor und der Verwaltung sortierten sich in die westdeutschen Kategorien von Arbeitern oder Arbeiterinnen, Angestellten, Beamten oder Beamtinnen, Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen. Viele Arbeitsplätze gingen in der Transformationskrise verloren; die entlassenen Beschäftigten wurden als Arbeitslose registriert oder zogen sich vom Arbeitsmarkt und damit auch aus der Arbeitsstatistik zurück. Die Erwerbsbeteiligung stieg in Westdeutschland weiter an, in Ostdeutschland ging sie dagegen zurück. 2003 war die Erwerbsquote im vereinten Deutschland mit 49 Prozent etwas höher als in der alten Bundesrepublik Deutschland, aber niedriger als zuletzt in der Deutschen Demokratischen Republik.13 Die Polarisierung der Erwerbsstruktur war im vereinten Deutschland zunächst stärker ausgeprägt als in der alten Bundesrepublik. Das lag an dem Einfluss der neuen Bundesländer, in denen vor der Wiedervereinigung die selbständige Erwerbstätigkeit nur eine geringe Rolle gespielt hatte. Die Expansion des Dienstleistungssektors eröffnete jedoch in den neunziger Jahren neue Chancen zur Selbständigkeit. Der Anteil der Selbständigen an den Erwerbstätigen stieg daher leicht an. Ein Trend, der sich aus der alten Bundesrepublik Deutschland fortsetzte, war die Zunahme der Angestellten und die Verdrängung der Arbeiter. 2003 machten die Angestellten 52 Prozent der Erwerbspersonen aus, die Arbeiter und Arbeiterinnen 31 Prozent, die Beamten und Beamtinnen sechs Prozent, die Selbständigen zehn Prozent und die wenigen mithelfenden Familienangehörigen ein Prozent.14 Tabelle 21 Die Sozialstruktur der Erwerbstätigen in Deutschland 1991 – 2003 (Prozent) Arbeiter und Arbeiterinnen

Angestellte, Beamte und Beamtinnen

Selbständige

Mithelfende Angehörige

1991

39

52

8

1

2003

31

58

10

1

Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1993, S. 117; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2004, S. 74.

In Westdeutschland setzte sich in den neunziger Jahren der langfristige Strukturwandel zum tertiären Sektor weiter fort. In Ostdeutschland führte die Transformationskrise zu einem Rückgang der Landwirtschaft, die nunmehr einem starken Wettbewerbsdruck ausgesetzt war, und einer massiven Deindustrialisierung. Der Dienstleistungsbereich, der zu einem erheblichen Teil standortgebunden war und deshalb nicht dem gleichen Konkurrenzdruck ausgesetzt wurde, konnte sich dagegen besser behaupten. Ostdeutsche Erwerbstätige fanden am ehesten noch in 13 14

Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 71 Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 74.

396

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

Behörden, Banken oder Einkaufszentren eine Beschäftigung. Die Wirtschaftsstruktur in den neuen Bundesländern wurde daher schockartig an die westdeutsche Dienstleistungsgesellschaft angepasst. Insgesamt ging in Deutschland bis 2003 der Anteil des primären Sektors an den Erwerbstätigen auf drei Prozent und der Anteil des sekundären Sektors auf 31 Prozent zurück, während der Anteil des tertiären Sektors auf 66 Prozent anstieg.15 In der Landwirtschaft gab es auch im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert noch die Familienökonomie, die den Kern des traditionellen Generationenvertrages gebildet hatte. Ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung ging jedoch stark zurück.16 Tabelle 22 Die Erwerbstätigen nach Sektoren in Deutschland 1991 – 2003 (Prozent) Primärer Sektor

Sekundärer Sektor

Tertiärer Sektor

1991

4

37

59

2003

3

31

66

Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2004, S. 112.

Trotz der Angleichung der Wirtschaftsstruktur in Ostdeutschland und Westdeutschland blieben einige Unterschiede bestehen. Die Arbeitslosigkeit war in Ostdeutschland wesentlich höher, die Einkommen waren im Durchschnitt niedriger als in Westdeutschland. Auffällig ist auch, dass die in den Grundzügen ähnliche Sozialstruktur in Ostdeutschland und Westdeutschland ganz unterschiedlich wahrgenommen wurde. Als kurz nach der Wiedervereinigung eine Erhebung über die Selbsteinstufung nach Schichten durchgeführt wurde, gehörten nach der eigenen Einschätzung in Westdeutschland 25 Prozent der Befragten zur Arbeiterschicht, 62 Prozent zur Mittelschicht und 13 Prozent zur „oberen Mittelschicht“ oder zur Oberschicht. In Ostdeutschland dagegen meinten 62 Prozent der Befragten, dass sie zur Arbeiterschicht gehörten, 37 Prozent zur Mittelschicht und nur zwei Prozent zur „oberen Mittelschicht“ oder zur Oberschicht.17 b) Wachstum und Konjunktur Für kurze Zeit herrschte in der Politik und in großen Teilen der Bevölkerung die optimistische Erwartung, dass die Wiedervereinigung eine Revitalisierung der 15 Statistisches Jahrbuch für das vereinte Deutschland 1991, S. 116 – 117; Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 112. 16 Thomas Fliege, Bauernfamilien zwischen Tradition und Moderne. Eine Ethnographie bäuerlicher Lebensstile, Frankfurt am Main 1998. 17 Heinz-Herbert Noll / Friedrich Schuster, Soziale Schichtung und Wahrnehmung sozialer Ungleichheit im Ost-West-Vergleich, in: Wolfgang Glatzer / Heinz-Herbert Noll, Hg., Lebensverhältnisse in Deutschland: Ungleichheit und Angleichung, Frankfurt am Main 1992, S. 213.

I. Vielfalt der Lebensformen

397

Sozialen Marktwirtschaft auslösen würde, ähnlich dem langen Aufschwung, der auf die Gründungsjahre von 1948 – 1949 folgte. Die Erweiterung des nationalen Marktes, der Nachholbedarf an Konsumgütern und Investitionsgütern in den neuen Bundesländern und die weite Öffnung des osteuropäischen Marktes schienen günstige Bedingungen für eine Beschleunigung des wirtschaftlichen Wachstum und damit auch für eine Überwindung der Arbeitsmarktkrise zu bieten. Es kam jedoch anders. In der westdeutschen Wirtschaft löste die Wiedervereinigung durch die zusätzliche Nachfrage aus den neuen Bundesländern einen kurzfristigen Aufschwung aus. Bereits 1993 endete dieser Boom jedoch. In den neuen Bundesländern führte unterdessen die Transformationskrise zu einem dramatischen Rückgang der Produktion. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung war daher im vereinten Deutschland 1991 niedriger, als es in der alten Bundesrepublik 1989 gewesen war. Die Transformationskrise der ostdeutschen Wirtschaft hielt in den neunziger Jahren an. Die Arbeitslosigkeit blieb höher, das Einkommensniveau niedriger als in Westdeutschland. Die Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts je Einwohner betrug von 1991 bis 2003 im Durchschnitt nur 1,0 Prozent im Jahr.18 Die Optionen der Wirtschaftspolitik wurden durch die Europäische Integration eingeschränkt. Mit dem Maastricht-Vertrag von 1992 wurde der Weg zu einer gemeinsamen europäischen Währung eingeschlagen. 1999 wurde der Euro als neue europäische Währung eingeführt, mit einer Parität von 1,96 DM zu einem Euro. Zum 1. Januar 2002 löste der Euro im Geldumlauf in Deutschland und elf weiteren Ländern die nationalen Währungen ab. Die Mitgliedsländer der Währungsunion verpflichteten sich mit der gemeinsamen Währungspolitik auch zur Koordinierung ihrer Wirtschaftspolitik und Finanzpolitik. Die Politik der neuen Europäischen Zentralbank sollte sich an dem Ziel der Preisniveaustabilität orientieren. Die Bedeutung des Stabilitätsgesetzes von 1967, in dem Preisniveaustabilität, Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftliches Gleichgewicht als gleichwertige Ziele definiert waren, wurde dadurch relativiert.19 Die Erwerbseinkommen lagen im gesamtdeutschen Durchschnitt zunächst unter dem Niveau der alten Bundesrepublik, da sich die niedrigeren Einkommen in den neuen Bundesländern auswirkten. Die Löhne und Gehälter betrugen 1991 im Durchschnitt 3230 DM. Bis 2003 stiegen sie in der neuen Währung auf 2230 Euro. Das bedeutete eine nominale Zunahme von 2,5 Prozent im Jahr. Der Nominallohnzuwachs wurde aber weitgehend durch den Anstieg des Preisniveaus aufgezehrt. Real nahmen die Löhne und Gehälter nur um bescheidene 0,5 Prozent im Jahr zu. Die Arbeitsmarktkrise und die schwächere Stellung der Gewerkschaften drückten auf die Löhne. Die Lohnquote, die 1991 noch 73 Prozent betrug, ging bis 2003 auf 72 Prozent des Volkseinkommens zurück.20 Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 27, 729. Tommaso Padoa-Schioppa, The Euro and its central bank. Getting united after the Union, Cambridge 2004. 20 Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 576, 729. 18 19

398

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

Die individuelle Vermögensbildung wurde in den neunziger Jahren durch das schwache Wirtschaftswachstum gebremst. Die Sparquote der privaten Haushalte ging von 1991 bis 1994 von 14 Prozent auf zwölf Prozent zurück und blieb in den folgenden Jahren mit geringen Fluktuationen auf diesem Niveau. Da das Wirtschaftswachstum anhielt, wenn auch mit geringeren Wachstumsraten, nahmen die privaten Vermögen aber weiterhin zu. Das Nettovermögen der privaten Haushalte betrug 1990 in Deutschland insgesamt 8,3 Billionen DM und stieg bis 1997 auf 12,2 Billionen DM. Im gesamtdeutschen Durchschnitt entfiel 1990 auf jeden Haushalt ein Nettovermögen von 237.000 DM und auf jeden Einwohner ein Nettovermögen von 105.000 DM. Bis 1997 stieg das durchschnittliche Nettovermögen je Haushalt auf 327.000 DM und je Einwohner auf 149.000 DM. Das Nettovermögen je Einwohner entsprach 1997 dem durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen von drei Jahren.21 Allerdings waren die Vermögen nach wie vor sehr ungleich verteilt. Von 1978 bis 1993 nahm in Westdeutschland die Ungleichheit der Vermögensverteilung zu. 1998 gab es am oberen Ende der Vermögensskala 1,5 Millionen Haushalte, die vier Prozent aller deutschen Haushalte ausmachten, mit einem Vermögen ab einer Million DM. Am unteren Ende der Vermögensskala gab es viele Haushalte, die kein Vermögen hatten oder nur ein geringes Vermögen besaßen.22 Die soziale Schichtung der Vermögen wurde durch die regionalen Unterschiede überlagert, da die Vermögen in den neuen Bundesländern aufgrund der geringen Ersparnisse vor der Wiedervereinigung und des Einkommensrückstands in den neunziger Jahren sehr viel niedriger waren als in den alten Bundesländern. Immobilien machten 1997 mit 51 Prozent den größten Anteil des Vermögens aus, gefolgt von Geldvermögen, einschließlich Aktien, mit 37 Prozent und Gebrauchsvermögen mit zwölf Prozent. Der größte Teil der Geldvermögen war in Sparguthaben, festverzinslichen Wertpapieren oder Lebensversicherungen angelegt. Nur elf Prozent aller Privathaushalte verfügten über Aktienbesitz.23 Das Versicherungssparen gewann gegenüber den Sparkonten und den Wertpapieren weiter an Bedeutung. In dem Zeitraum von 1995 bis 1999 entfielen im Durchschnitt 45 Prozent der jährlichen Geldvermögensbildung auf Versicherungen. Die Versicherungen wurden nicht nur als Altersvorsorge abgeschlossen, sondern konnten auch mittelfristigen Sparzielen dienen.24 21 Deutsche Bundesbank, Zur Entwicklung der privaten Vermögenssituation seit Beginn der neunziger Jahre, in: Monatsbericht 1999, S. 34, S. 43 – 47; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1998, S. 654. 22 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2 Bde., Bonn 2001, Bd. 1, S. 43 – 67; Reinhard Schüssler / Oliver Lang / Hermann Buslei, Wohlstandsverteilung in Deutschland 1978 – 1993, Düsseldorf 2000; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1999, S. 63. 23 Deutsche Bundesbank, Entwicklung der privaten Vermögenssituation (wie Anm. 21), S. 43 – 47; Statistisches Jahrbuch 1999 (wie Anm. 22), S. 63. 24 Rainer Braun / Meinhard Miegel / Ulrich Pfeiffer, Vermögensbildung unter neuen Rahmenbedingungen, Köln 2000, S. 50; Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, Geschäftsentwicklung 2001. Die deutsche Lebensversicherung in Zahlen, Berlin 2002, S. 7, 27.

I. Vielfalt der Lebensformen

399

Der Gesamtumfang der Erbschaften, die Jahr für Jahr von der älteren Generation an die nachwachsende Generation weitergegeben wurden, nahm erheblich zu. Ende der neunziger Jahre wurden in Deutschland nach einer Schätzung der Deutschen Bundesbank jedes Jahr 200 Milliarden DM bis 250 Milliarden DM vererbt. Setzt man den Umfang der Erbschaften in Beziehung zu den 846.000 Verstorbenen des Jahres 1999, wurden bei jedem Todesfall im statistischen Durchschnitt 236.000 DM bis 296.000 DM vererbt.25 Da die Vermögen ungleich verteilt waren, gab es auch eine erhebliche Asymmetrie in der Verteilung der Erbschaften. Große Erbschaften waren selten. Im Alters-Survey von 1996, einer repräsentativen Untersuchung zur Lebenssituation der Bevölkerung im Alter von vierzig bis 85 Jahren, gaben 47 Prozent der Befragten an, schon einmal etwas geerbt zu haben. Meistens ging es um kleinere Beträge. Nur ein Prozent der Befragten nannte ein Erbe von einer Million DM oder mehr, immerhin zwölf Prozent der Befragten nannten zwischen 100.000 DM und einer Million DM. Die Angaben mögen im Verhältnis zu dem bekannten Umfang der Erbschaften in der modernen Gesellschaft zu niedrig sein; die Befragten zögerten offenbar, ihre finanzielle Situation darzulegen.26 Die ungestörte Vermögensbildung führte zur Paradoxie des Erbens in der modernen Gesellschaft. Zwar nahm das Volumen der Erbschaften zu, aber der Einfluss des Erbens auf die individuellen Lebenswege ging zurück. Grundlage der Existenz wurde in der postindustriellen Gesellschaft mehr denn je die individuelle Erwerbskarriere. Die Zeiten, in denen viele Erwerbskarrieren sich auf einen von den Eltern übernommenen bäuerlichen Familienbetrieb oder Handwerksbetrieb gründeten, waren vorbei. Ein Erbe verbesserte zwar in vielen Fällen die Konsummöglichkeiten, gab aber nur selten dem individuellen Lebensweg eine andere Wendung. c) Alices Katze Die Transformationskrise in den neuen Bundesländern und strukturelle Bedingungen wie die Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums, die Arbeitsmarktkrise und der demographische Wandel stellten erhebliche Anforderungen an den Sozialstaat. Dennoch war die Sozialleistungsquote im vereinten Deutschland zunächst nicht höher als in der alten Bundesrepublik Deutschland. 1991 entsprach das Sozialbudget 28 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In der Struktur der Sozialleistungen gab es im Vergleich zur alten Bundesrepublik Deutschland nur geringe Veränderungen, die vor allem durch die anhaltende Arbeitsmarktkrise und durch höhere Gesundheitskosten bedingt waren. Der Anteil der Altersversorgung am 25 Deutsche Bundesbank, Entwicklung der privaten Vermögenssituation (wie Anm. 21), S. 35; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2001, S. 67. 26 Wolfgang Lauterbach / Kurt Lüscher, Erben und die Verbundenheit der Lebensverläufe von Familienmitgliedern, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48 (1996); Mark Szydlik, Erben in der Bundesrepublik Deutschland. Zum Verhältnis von familialer Solidarität und sozialer Ungleichheit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 51 (1999).

400

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

Sozialbudget ging auf 38 Prozent zurück, die Gesundheitsversorgung stieg auf 35 Prozent, Steuerbegünstigungen oder direkte Leistungen für Ehe und Familie zeigten eine leichte Zunahme auf 14 Prozent, der Aufwand für Arbeitslosenunterstützung und Beschäftigungspolitik stieg auf zehn Prozent, und der Anteil der übrigen Bereiche ging auf insgesamt vier Prozent zurück.27 In den nächsten Jahren kam es zu einer beträchtlichen Expansion der Sozialleistungen. Bis 2000 stieg die Sozialquote auf 32 Prozent und bis 2002 auf 32,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die wichtigsten funktionalen Ausgabengruppen waren 2002 ähnlich wie in den früheren Jahren die Alterssicherung mit 38 Prozent, die Gesundheitspolitik mit 34 Prozent, die Förderung von Ehe und Familie mit 14 Prozent und die Arbeitsmarktpolitik mit zehn Prozent. Für alle anderen Ausgaben blieben unverändert vier Prozent.28 Bei der Finanzierung entfielen 2002 auf Beiträge sechzig Prozent, auf Steuern 38 Prozent und auf sonstige Mittel zwei Prozent. Der Steueranteil nahm vor allem durch die Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung sowie das höhere Kindergeld zu, während die Versicherungsbeiträge durch den Rückgang der versicherungspflichtigen Beschäftigung reduziert wurden.29 Nach dem paritätischen Modell der Sozialpolitik, das in Deutschland seit dem späten neunzehnten Jahrhundert entwickelt wurde, wird ein großer Teil der öffentlichen Transferleistungen durch Beiträge der Unternehmen und der Beschäftigten finanziert. Als Vorteile des paritätischen Modells gelten, im Unterschied zu einer Steuerfinanzierung, die Selbstverwaltung durch die Beteiligten, die Äquivalenz von Leistungen und Beiträgen, und die Transparenz des Systems.30 In der Arbeitsmarktkrise erwies es sich aber als Problem, dass die Finanzierung der sozialen Sicherung überwiegend auf der Erwerbstätigkeit lastete.31 Dem steigenden Aufwand der Sozialversicherung stand eine schrumpfende Finanzierungsbasis gegenüber. Von 1993 bis 2003 stieg zwar die Zahl der Erwerbstätigen von 36 Millionen auf 38 Millionen an, aber die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ging von 29 Millionen auf 27 Millionen zurück.32 2003 erreichten die von Beschäftigten und Unternehmen gemeinsam zu zahlenden Beiträge zur Sozialver27 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Materialband zum Sozialbudget 2001, Bonn 2002, S. 12. 28 Roland Berntsen, Das Sozialbudget 2002 – Aktuelle Entwicklungen im sozialen Sicherungssystem Deutschlands, in: Bundesarbeitsblatt, S. 7 – 8 / 2004; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Materialband zum Sozialbudget 2001 (wie Anm. 27), S. 18. 29 Berntsen, Das Sozialbudget 2002 (wie Anm. 28), S. 8. 30 Heinz Lampert / Jörg Althammer, Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin 2004. 31 Ute Klammer, Reformbedarf und Reformoptionen der sozialen Sicherung vor dem Hintergrund der „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“, in: Kai Eicker-Wolf / Ralf Käpenick / Torsten Niechoj / Sabine Reiner / Jens Weiß, Hg., Die arbeitslose Gesellschaft und ihr Sozialstaat, Marburg 1998; Martin Lambert, Hg., Umbau der Sozialsysteme, Krefeld 1994. 32 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1995, S. 108; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1996, S. 116; Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 83 – 84.

I. Vielfalt der Lebensformen

401

sicherung 42 Prozent der Löhne und Gehälter.33 Mehr noch als die aktuelle Situation gab die künftige Belastung der Erwerbseinkommen Anlass zur Besorgnis. Es wurde geschätzt, dass die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung, die Krankenversicherung, die Pflegeversicherung und die Rentenversicherung bei unveränderten institutionellen Rahmenbedingungen 2030 auf mehr als die Hälfte der Arbeitseinkommen steigen werden.34 Seit Ende der neunziger Jahre folgten in raschem Tempo verschiedene Reformversuche, um den Anstieg der Sozialausgaben zu bremsen oder neue Einnahmen zu erschließen.35 Die konservative Regierung begann mit dem wichtigsten Bereich der Sozialleistungen, der öffentlichen Rentenversicherung. Die Rentenreform von 1997 sah eine deutliche Reduzierung der Leistungen vor; zugleich wurden die staatlichen Subventionen erhöht. Die Verlagerung der Finanzierung von Beiträgen zu Steuern änderte zwar nichts an dem Gesamtaufwand, galt aber als sinnvoll, um die Lohnnebenkosten zu senken.36 Die sozialdemokratische Regierung, die 1998 ins Amt kam, vertraute zunächst auf einen konjunkturellen Aufschwung und suspendierte die Leistungskürzungen der Rentenversicherung. Nachdem sich die Konjunktur verschlechterte, sah sie sich jedoch zu einem Kurswechsel gezwungen und verfügte mit der Rentenreform von 2001 Kürzungen, die der Reform von 1997 ähnlich waren.37 Um der finanziellen Erosion der Sozialversicherung entgegenzuwirken, wurde die Beitragspflicht 1999 auf geringfügige Beschäftigungsverhältnisse erweitert. Diese Erweiterung wurde aber aus arbeitsmarktpolitischen Gründen 2002 wieder aufgehoben.38 Das wichtigste Reformprojekt war die Arbeitsmarktreform, die 2002 eingeleitet wurde. Sie sollte die Leistungen reduzieren, die Beratung und Vermittlung verbessern, den Arbeitsmarkt flexibler gestalten und 33 Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Rentenversicherung in Zeitreihen, Frankfurt am Main 2004, S. 243. 34 Bernd Hof, Auswirkungen und Konsequenzen der demographischen Entwicklung auf die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, Köln 2001. 35 Winfried Schmähl, Gesundheits- und Alterssicherung. Analysen und Vorschläge vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen für die Sozialpolitik, in: Herbert Rische / Winfried Schmähl, Hg., Gesundheits- und Alterssicherung – gleiche Herausforderung, gleiche Lösung? Münster 2004. 36 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 16. Dezember 1997. BGBl. 1997 I, S. 2998 – 3038; Gesetz zur Finanzierung eines zusätzlichen Bundeszuschusses zur gesetzlichen Rentenversicherung vom 19. Dezember 1997. BGBl. 1997 I, S. 3121 – 3126. 37 Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte vom 19. Dezember 1998. BGBl. 1998 I, S. 3843 – 3852; Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens vom 21. März 2001. BGBl. 2001 I, S. 403 – 418; Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens vom 26. Juni 2001. BGBl. 2001 I, S. 1310 – 1343. 38 Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse vom 24. März 1999. BGBl. 1999 I, S. 388 – 395; Zweites Gesetz für Moderne Dienstleistungen vom 23. Dezember 2002. BGBl. 2002 I, S. 4621 – 4636.

26 Hardach

402

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

insgesamt die Beschäftigung verbessern.39 Als sozialpolitisches Ziel wurde 2002 definiert, die Sozialleistungsquote bis 2005 wieder auf dreißig Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückzuführen. Dazu sollten sozialpolitische Einsparungen und eine Beschleunigung des wirtschaftlichen Wachstums beitragen.40 Im März 2003 wurde unter dem Begriff „Agenda 2010“ ein Reformprogramm angekündigt, das die Sozialleistungsquote senken, Investitionen und Wachstum fördern und die Beschäftigung verbessern sollte. Schwerpunkte waren die Fortsetzung der Arbeitsmarktreform, die bereits 2002 begonnen hatte, eine Gesundheitsreform und eine neue Rentenreform, mit der die Reform von 2001 nachgebessert werden sollte.41 Die Arbeitsmarktreform wurde bis Ende 2003 abgeschlossen. Das wichtigste Ergebnis war eine neue Regelung der Arbeitsvermittlung und der Transferleistungen, die mit der vierten Stufe der Arbeitsmarktreform beschlossen wurde und 2005 wirksam wurde. Die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerinnen wurden zu Arbeitslosen erklärt und sollten in die Arbeitsvermittlung einbezogen werden. Die alten und die neuen Arbeitslosen erhielten eine einheitliche Unterstützung, die nicht mehr als Arbeitslosenhilfe, sondern als „Arbeitslosengeld II“ bezeichnet wurde. Die nach dem Einkommen differenzierte Arbeitslosenhilfe, die bedürftige Arbeitslose im Anschluss an das Arbeitslosengeld erhielten, wurde zum Jahresende 2004 eingestellt. Das Arbeitslosengeld II entsprach nur noch dem Sozialhilfeniveau. Der Grundbetrag wurde für Westdeutschland auf 345 Euro, für Ostdeutschland auf 331 Euro monatlich festgelegt; er konnte durch verschiedene Zulagen, vor allem für Familienangehörige und für die Wohnung, ergänzt werden. Die neue Unterstützung wurde aus Bundesmitteln finanziert, so dass die Kommunen entlastet wurden, so weit ihre Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerinnen in die Zuständigkeit der Arbeitsmarktpolitik wechselten.42 2003 wurde die Gesundheitsreform beschlossen. Sie sah vor allem eine stärkere Eigenbeteiligung an den Gesundheitskosten vor, um den Beitragssatz zur öffentlichen Krankenversicherung zu stabilisieren.43 Die Nachbesserung der Rentenreform folgte 2004; sie schränkte das Leistungsniveau weiter ein, da die bisherigen Maßnahmen nicht zur Stabilisierung des Rentenbeitrags ausreichten.44 39 Erstes Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002. BGBl. 2002 I, S. 4607 – 4620; Zweites Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 (wie Anm. 38), S. 4621 – 4636. 40 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbericht 2001, Bonn 2002, S. 388. 41 Bundeskanzler Schröder in der Sitzung des Bundestages vom 14. März 2003. Verhandlungen des Bundestages. Stenographische Berichte, 15. Wahlperiode, Bd. 215, S. 2481. 42 Drittes Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003. BGBl. 2003 I, S. 2848 – 2918; Viertes Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003. BGBl. 2003 I, S. 2954 – 3000. 43 Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14. November 2003. BGBl. 2003 I, S. 2190 – 2258. 44 Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 21. Juli 2004. BGBl. 2004 I, S. 1791 – 1805.

I. Vielfalt der Lebensformen

403

Durch das Agenda-Programm wurden einige Sozialleistungen deutlich gekürzt. Der Rückzug der Sozialversicherung und des Staates wurde entweder durch höhere private Vorsorgeleistungen kompensiert, oder er führte zu einer Absenkung des Versorgungsniveaus. Zum Teil standen den Einsparungen auch neue Ansprüche gegenüber, da durch die vierte Stufe der Arbeitsmarktreform der Zugang zum Arbeitslosengeld II im Vergleich zur Arbeitslosenhilfe und zur Sozialhilfe erleichtert wurde. Die Belebung von Produktion und Beschäftigung, die mit der Reduzierung des Sozialaufwandes erreicht werden sollte, blieb aus. 2005 fand die „Agenda 2010“ mit den vorgezogenen Neuwahlen zum Bundestag ein frühes Ende. Öffentliche Transferleistungen blieben trotz der heftigen Diskussion über den Sozialstaat ein wesentliches Einkommen für Familien, für die ältere Generation und ganz allgemein für Personen ohne ausreichendes Markteinkommen. Armut wurde wieder ein sozialpolitisches Thema.45 Die Beanspruchung der Sozialhilfe nahm allerdings nicht zu. 2003 erhielten 2,8 Millionen Personen Sozialhilfe; diese Zahl entsprach, ähnlich wie in Westdeutschland in den späten achtziger Jahren, 3,4 Prozent der Bevölkerung.46 Die kleine Alice traf auf ihrer Reise in das Wunderland eine grinsende Katze, die irritierend schnell auftauchte und verschwand. Nachdem Alice sich beschwerte, dass dies kein freundlicher Umgang war, zeigte die Katze, dass sie sich auch auf eine besonders langsame Weise verabschieden konnte, „beginning with the end of the tail, and ending with the grin, which remained some time after the rest of it had gone“.47 Eine Politik der sozialen Einschränkungen kann auf die Dauer keine Lösung zur Stabilisierung des Generationenvertrages sein. Am Ende wäre der Sozialstaat nach der Art von Alices Katze verschwunden, und es würde nur noch, wie das freundliche Grinsen, eine Erinnerung an die öffentliche Solidarität bleiben. d) Haushaltsproduktion Der Generationenvertrag beruhte auch in der postindustriellen Gesellschaft in erheblichem Umfang auf den produktiven Leistungen der Familien. Zur Haushaltsproduktion werden nach dem „Dritt-Personen-Kriterium“ alle Tätigkeiten gerechnet, die auch von Außenstehenden gegen Entgelt angeboten werden. Dazu gehören vor allem die Betreuung der Kinder und die Pflege älterer Menschen.48 Im wei45 Berthold Dietz, Soziologie der Armut, Frankfurt am Main 1997; Walter Hanesch, Armut im vereinten Deutschland. Konturen einer Armut im Umbruch, in: Wolfgang Glatzer / Heinz-Herbert Noll, Hg., Getrennt vereint. Lebensverhältnisse in Deutschland seit der Wiedervereinigung, Frankfurt am Main 1995; Stephan Leibfried / Lutz Leisering / Petra Buhr / Monika Ludwig / Eva Mädje / Thomas Olk / Wolfgang Voges / Michael Zwick, Zeit der Armut. Lebensläufe im Sozialstaat, Frankfurt am Main 1995. 46 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2005, S. 34, 214. 47 Lewis Carroll (Charles Dodgson), Alice in Wonderland (1865), London 1966, S. 56. 48 Arnd Kölling, Armutsmaße für die Bundesrepublik Deutschland, in: Wirtschaft und Statistik, 6 / 1999, S. 481.

26*

404

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

teren Sinne werden manchmal auch über das Dritt-Personen-Kriterium hinaus immaterielle Werte wie die Pflege der Familienbeziehungen, emotionale Stabilität oder Zuwendung als „Beziehungsarbeit“ zur Familienarbeit gezählt. Das lässt jedoch die Grenzen zwischen produktiver Arbeit und Konsum verschwimmen.49 Da der Anteil der heranwachsenden Generation an der Bevölkerung zurückging, nahm der Zeitaufwand der Familien für die Kinderbetreuung ab. Andererseits stieg aber mit der Zunahme der Lebenserwartung der Aufwand für die Betreuung und Pflege älterer Familienangehöriger an.50 Wenn der Zeitaufwand für die Haushaltsproduktion mit dem Marktlohn für entsprechende Tätigkeiten bewertet wird, betrug der Wert der Haushaltsproduktion im vereinten Deutschland 1992 etwa 1,2 Billionen DM; das entsprach 43 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.51

II. Jugend 1. Die frühen Jahre Die meisten Kinder wuchsen auch in den neunziger Jahren in der Standardfamilie auf, mit Eltern, die auf Lebenszeit verheiratet waren. Allerdings nahmen die alternativen Familienformen zu.52 Es gab viele Gründe, warum das familiale Umfeld eines Kindes von der Standardfamilie abweichen konnte.53 Die Zahl der 49 Dieter Schäfer / Norbert Schwarz, Der Wert der unbezahlten Arbeit der privaten Haushalte – Das Satellitensystem Haushaltsproduktion, in: Karen Blanke / Manfred Ebeling / Norbert Schwarz, Hg., Zeit im Blickfeld. Ergebnisse einer repräsentativen Zeitbudgeterhebung, Stuttgart 1996, S. 23 – 37. 50 Jörg Althammer, Simone Wenzler, Interfamiliale Zeitallokation, Haushaltsproduktion und Frauenerwerbstätigkeit, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 215 (1996); Brigitte Beck / Gerhard Naegele / Monika Reichert / Ursula Dallinger, Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege, Stuttgart 1997; Karen Blanke / Manfred Ehling / Norbert Schwarz, Hg., Zeit im Blickfeld. Ergebnisse einer repräsentativen Zeitbudgeterhebung, Stuttgart 1996; Jane Lewis, Erwerbstätigkeit versus Betreuungsarbeit, in: Ute Gerhard / Trudie Knijn / Anja Weckwert, Hg., Erwerbstätige Mütter. Ein europäischer Vergleich, München 2003; Rosemarie von Schweitzer, Haushaltsproduktion und Aufwendungen der Haushalte für die nachwachsende Generation, in: Sylvia Gräbe, Hg., Der private Haushalt als Wirtschaftsfaktor, Frankfurt am Main 1991. 51 Schäfer / Schwarz, Der Wert der unbezahlten Arbeit der privaten Haushalte (wie Anm. 49), S. 65 – 67. 52 Christian Alt, Kindheit in Ost und West. Wandel der familialen Lebensformen aus Kindersicht, Opladen 2001; Walter Bien, Hg., Kind ja, Ehe nein? Status und Wandel der Lebensverhältnisse von nichtehelichen Kindern und Kindern in nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Opladen 1998; Yvonne Schütze, Zur Veränderung im Eltern-Kind-Verhältnis seit der Nachkriegszeit, in: Rosemarie Nave-Herz, Hg., Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988. 53 Heribert Engstler / Sonja Menning, Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Lebensformen, Familienstrukturen, wirtschaftliche Situation der Familien und familiendemographische Entwicklung in Deutschland, Berlin 2003, S. 37 – 43.

II. Jugend

405

unvollständigen Familien, die seit jeher zu den alternativen Familienformen gehörten, nahm zu. Unvollständige Familien entstanden, wenn Eltern von Anfang an getrennt lebten, wenn Vater oder Mutter starben, wenn Ehen geschieden wurden oder nichteheliche Partnerschaften aufgelöst wurden. Von 1988 bis 2000 stieg der Anteil von Kindern mit alleinerziehenden Müttern oder Vätern in Westdeutschland von fünf Prozent auf zehn Prozent, in Ostdeutschland von sieben Prozent auf zwanzig Prozent.54 Problematisch war nach wie vor, dass die Abweichung von der Standardfamilie oft eine Verschlechterung des Lebensstandards zur Folge hatte und für die Kinder wie für die Eltern ein relativ hohes Armutsrisiko mit sich brachte. Die Zunahme der unvollständigen Familien war der Hauptgrund dafür, dass die Kinderarmut inmitten einer reichen Gesellschaft anstieg.55 Ein weiterer Grund für die wachsende Bedeutung alternativer Familienformen waren die vollständigen Familien, in denen die Eltern in nichtehelichen Partnerschaften verbunden waren. Auch die Zahl der Kinder in Stieffamilien nahm zu. Die Ursache war nicht mehr wie in früheren Zeiten der vorzeitige Tod der Mutter oder des Vaters, sondern die zunehmende Zahl von Ehescheidungen und Wiederverheiratungen. 1999 wuchsen sechs Prozent aller Kinder in Stieffamilien auf. Die Zeit der Märchen, in denen man befürchtete, dass Stiefmütter oder Stiefväter den Kindern nicht genug Zuneigung entgegenbrachten, war vorbei. In der neueren Diskussion ging es vor allem darum, dass Kinder in Stieffamilien sich schon in jungen Jahren mit einem Wechsel der Bezugspersonen auseinandersetzen mussten. Das familiale Umfeld mancher Kinder konnte sich durch die Ehescheidung der Eltern von der Standardfamilie zur unvollständigen Familie, und durch eine neue Eheschließung zu einer vollständigen Stieffamilie verändern.56 Es gehörte zur Pluralisierung der Lebensformen, dass die soziale Akzeptanz der alternativen Familienformen zunahm. Wichtig waren die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern und die wirtschaftliche Situation der Familien. Auf die institutionelle Form der Familie kam es nicht mehr an. Die Unterschiede in der öffentlichen Kleinkindererziehung, die früher im innerdeutschen Vergleich besonders auffällig waren, gingen nach der Wiedervereinigung zurück. In Westdeutschland setzte sich der Trend zur größeren Akzeptanz der öffentlichen Kleinkindererziehung fort. Kinderkrippen und Kindergärten wurden 54 Christian Alt, Wandel familialer Lebensverhältnisse minderjähriger Kinder in Zeiten der Pluralisierung, in: Walter Bien / Jan H. Marbach, Hg., Partnerschaft und Familiengründung, Opladen 2003, S. 241. 55 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kinder und ihre Kindheit in Deutschland. Eine Politik für Kinder im Kontext der Familienpolitik. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Stuttgart 1998, S. 128. 56 Walter Bien / Angela Hartl / Magnus Teubner, Hg., Stieffamilien in Deutschland. Eltern und Kinder zwischen Normalität und Konflikt, Opladen 2002; Max Wingen, Die Scheidungswaisen im Spiegel der amtlichen Statistik. Befunde zur Lebenslage der Scheidungswaisen aus sozialwissenschaftlich-statistischer Sicht mit einigen familienpolitischen Schlussfolgerungen, in: Otto Kraus, Hg., Die Scheidungswaisen, Göttingen 1993.

406

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

als „Elementarerziehung“ für eine Welt, die sich in raschem Wandel befand, anerkannt.57 In Ostdeutschland wurde das früher sehr dichte Netz der öffentlichen Kleinkindererziehung reduziert. Das Angebot an Betreuungsplätzen wurde eingeschränkt, da viele Betreuungseinrichtungen aus finanziellen Gründen geschlossen wurden. Aber auch die Nachfrage nach Betreuungsplätzen ging zurück, weil viele Frauen, die in der Transformationskrise ihren Arbeitsplatz verloren, nunmehr selbst die Kinderbetreuung übernahmen. Trotzdem war im Übergang vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Jahrhundert das Betreuungsangebot in Ostdeutschland immer noch deutlich besser als in Westdeutschland.58

2. Längere Bildungswege Das Schulsystem und das Hochschulsystem wurden in Ostdeutschland im wesentlichen dem westdeutschen Modell angeglichen. Der Trend zu längeren Ausbildungswegen setzte sich nach der Aufhebung der politischen Restriktionen auch in Ostdeutschland durch. Die Mehrheit der Jugendlichen entschied sich für weiterführende Schulen. Die Mittelschule wurde zur Standardausbildung, und eine wachsende Zahl von Jugendlichen strebte die Fachhochschulreife oder das Abitur an. Ostdeutsche Schüler und Schülerinnen hatten den Vorteil, dass der kürzere zwölfjährige Weg zum Abitur bestehen blieb. 1995 schlossen in Westdeutschland 23 Prozent der Jugendlichen, in Ostdeutschland 29 Prozent die Schule mit der Fachhochschulreife oder dem Abitur ab.59 Die Verlängerung der Bildungswege ließ das Durchschnittsalter beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf steigen. Die konventionelle Zäsur von 15 Jahren als Übergang von der Jugendphase zur Erwerbsphase verlor an Bedeutung.60 Im Jahr 2000 waren in der Altersgruppe von 15 bis 19 Jahren, die man früher der Erwerbsbevölkerung zurechnete, die Erwerbstätigen zur Minderheit geworden. Nur 36 Prozent der männlichen Jugendlichen und 29 Prozent der weiblichen Jugendlichen dieser Altersgruppe gehörten zu den Erwerbspersonen.61 Nicht alle Jugendlichen folgten den Bildungsreformern auf dem langen Weg durch die Bildungsinstitutionen. Es gab nach wie vor Jugendliche, die nur das Minimalpro57 Heidrun Großmann, Sozialer Wandel und seine Folgen für die Lebenssituation von Kindern – eine soziologische Perspektive, in: Dietmar Sturzbecher, Hg., Kindertagesbetreuung in Deutschland – Bilanzen und Perspektiven, Freiburg 1998, S. 9. 58 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Berlin 2002. 59 Alexander Reinberg / Markus Hummel, Bildung und Beschäftigung im vereinigten Deutschland. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 226, Nürnberg 1999, S. 25, 57. 60 Walter R. Heinz, Arbeit, Beruf und Lebenslauf. Eine Einführung in die berufliche Sozialisation, Weinheim 1995. 61 Statistisches Jahrbuch 2001 (wie Anm. 25), S. 102.

II. Jugend

407

gramm an schulischer Bildung absolvierten. Die Hauptschule wurde aber immer mehr zu einer Restschule, und die Auswahl an Berufen, für die ein Hauptschulabschluss oder gar eine Hauptschulbildung ohne formalen Abschluss als ausreichende Qualifikation galt, wurde immer geringer. Im Durchschnitt betrug 1995 das Abgangsalter von allgemeinbildenden Schulen in Ostdeutschland 17 Jahre und in Westdeutschland 18 Jahre. Eine Universitätsausbildung wurde im Durchschnitt in Ostdeutschland mit 27 Jahren und in Westdeutschland mit 29 Jahren abgeschlossen.62 3. Parallelerziehung Kurz vor der Wiedervereinigung, im Juni 1990, wurde in der Bundesrepublik Deutschland eine Reform der Kinder- und Jugendhilfe durchgeführt, die bald darauf auch in den neuen Bundesländern übernommen wurde. Sie sollte der öffentlichen Parallelerziehung die lange angestrebte Anerkennung als dritte Erziehungsinstitution neben Familie und Schule bringen.63 Im Kinder- und Jugendbericht wurde 2002 selbstbewusst ein „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ proklamiert. Nach der Empfehlung der Expertinnen und Experten verlangten die Bedingungen des Aufwachsens in der gegenwärtigen Gesellschaft „ein verändertes Ineinandergreifen von privater und öffentlicher Verantwortung“. Die neue Verteilung der Verantwortung zielte auf eine Aufwertung der Kinder- und Jugendarbeit, die sich „nicht mehr nur an die schwierigen und auffälligen, sondern an alle Kinder und Jugendlichen“ wenden wollte. Sie sollte die Jugend bei der „Erfüllung ihrer Entwicklungsaufgaben“ und bei der „Bewältigung ihrer Lebensprob-leme“ unterstützen. Darüber hinaus sollte die Kinder- und Jugendhilfe einen Beitrag zur „Schaffung positiver Lebensbedingungen für alle Kinder und Jugendlichen und für ihre Familien“ leisten und damit „Teil einer allgemeinen Jugendpolitik“ sein.64 Trotz der ideologischen Aufwertung änderte sich das Programm der Kinder- und Jugendhilfe in den neunziger Jahren nicht. Die wesentlichen Aufgaben waren Pflegschaft, Vormundschaft und Gerichtshilfe, Hilfe zur Erziehung einschließlich der Unterbringung außerhalb der eigenen Familie, Beratungs- und Unterstützungsangebote, Bildungsangebote und Freizeitgestaltung, und vor allem die öffentliche Kleinkindererziehung. 65 Die Verbreitung der verschiedenen Angebote war nach wie vor sehr unterschiedlich. Die Kindergärten und andere Betreuungseinrichtungen wurden in der Bevölkerung in hohem Maße akzeptiert.66 Die öffentliche 62 Reinberg / Hummel, Bildung und Beschäftigung im vereinigten Deutschland (wie Anm. 59), S. 38, 68. 63 Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts vom 26. Juni 1990. BGBl. 1990 I, S. 1163 – 1195. 64 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Elfter Kinder- und Jugendbericht (wie Anm. 58), S. 42. 65 Erwin Jordan / Dieter Sengling, Kinder- und Jugendhilfe, Weinheim 2000, S. 75 – 77.

408

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

Kleinkindererziehung war auch nach dem Personal und den eingesetzten Mitteln mit großem Abstand der wichtigste Bereich; 1998 beanspruchte sie 55 Prozent des Finanzvolumens der Kinder- und Jugendhilfe.67 Durch den Funktionswandel von der Betreuung zur Erziehung wurde die öffentliche Kleinkindererziehung aber in der allgemeinen Wahrnehmung kaum noch mit der Kinder- und Jugendhilfe in Verbindung gebracht. Die anderen Angebote blieben im wesentlichen auf den engeren Kreis von schutzbedürftigen, schwierigen oder auffälligen Kindern und Jugendlichen beschränkt. Waren die Kinder erst aus dem Kindergarten herausgewachsen, kamen sie mit der Kinder- und Jugendhilfe nur noch in Ausnahmefällen in Berührung. 4. Friedensdividende Der Militärdienst oder der Ersatzdienst griffen im vereinten Deutschland seltener und kürzer in das Leben männlicher Jugendlicher ein als in der alten Bundesrepublik Deutschland oder in der Deutschen Demokratischen Republik. Deutschland war von Freunden umgeben, es gab keine als bedrohlich empfundenen Nachbarn mehr. Die internationalen Vereinbarungen sahen eine Reduzierung der Bundeswehr vor, und die auf Einsparungen erpichte Finanzpolitik war ein weiteres Argument zur Verringerung der Streitkräfte. Der Grundwehrdienst wurde im November 1990 als Wiedervereinigungsbonus auf zwölf Monate reduziert, 1995 auf zehn Monate und 2001 auf neun Monate.68 Die Wehrpflicht stieß immer mehr auf Kritik. In dieser Situation wurde der Zivildienst zum Retter des Militärdienstes. Das Problem war weniger der Bedarf an Soldaten, als vielmehr das Dilemma, dass die Gesellschaft mit der Abschaffung der Wehrpflicht die vielen Helfer des Zivildienstes verlieren würde, auf die sie nicht verzichten mochte.69

5. Humankapital Der steigende Lebensstandard und die längeren Ausbildungszeiten hatten zur Folge, dass der Aufwand für den Lebensweg von der Geburt bis zum Eintritt in den Beruf zunahm. Jedes Kind war, in den Kategorien der Humankapitaltheorie ausgedrückt, für die Eltern und für den Staat ein kostspieliges Investitionsprojekt. 66 Joachim Merchel, Zehn Jahre Kinder- und Jugendhilfegesetz. Zwischenbilanz zur Reform der Jugendhilfe, in: Kinder- und Jugendhilfe im Reformprozess. Materialien zum Elften Kinder- und Jugendbericht 2, München 2003, S. 64. 67 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Elfter Kinder- und Jugendbericht (wie Anm. 58), S. 72. 68 Günter Hahnenfeld, Wolfgang Boehm-Tettelbach, Wehrpflichtgesetz und Kriegsdienstverweigerungsgesetz. Kommentar, München 2003. 69 Jürgen Rose, Die prekär gewordene Legitimität der Wehrpflicht – Anmerkungen zu einer unerwünschten Debatte, in: Jürgen Groß / Dieter S. Lutz, Hg., Wehrpflicht ausgedient, Baden-Baden 1998.

II. Jugend

409

Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen schätzte auf der Basis des Jahres 1996 den Gesamtaufwand für ein Kind von der Geburt bis zum Eintritt in den Beruf bei einer beruflichen Ausbildung auf 760.000 DM. Bei einem Hochschulstudium erhöhte sich der Aufwand auf 973.000 DM. In dem Gesamtaufwand waren die monetären Transferleistungen der Familien, der bewertete Zeitaufwand für die Kinderbetreuung, die staatlichen Bildungsausgaben von der Kinderkrippe bis zur Universität und die öffentlichen Transferleistungen an die Familien enthalten. Die öffentlichen Leistungen für die heranwachsende Generation hingen im Einzelfall von der Dauer der Ausbildung und von der Familiensituation ab, die sich auf die Familienförderung auswirkte. Im Durchschnitt betrug der öffentliche Anteil an dem Gesamtaufwand bei einer kürzeren berufsbezogenen Ausbildungsweg 37 Prozent des Gesamtaufwandes, bei einem längeren Ausbildungsweg bis zu einem Hochschulabschluss 47 Prozent.70 Trotz der höheren Kosten der längeren Ausbildungszeiten ging der Gesamtaufwand für die heranwachsende Generation zurück, da der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Bevölkerung abnahm.

6. Jugenderfahrungen Die Wiedervereinigung war vor allem für die ostdeutschen Jugendlichen ein Ereignis, dass neue Chancen und zugleich Unsicherheit mit sich brachte.71 Aber auch für die westdeutschen Jugendlichen änderte sich das soziale Umfeld durch die stärkere Differenzierung der Lebensverhältnisse, ständige Qualifizierung, Mobilitätsanforderungen, neue Optionen und Risiken. Trotzdem empfanden die Jugendlichen sich nicht, wie die westdeutschen Jugendgenerationen der siebziger und achtziger Jahre, als „überflüssige Generation“ oder als „verunsicherte Generation“. Die Mehrheit der Jugendlichen hatte sich offenbar in der Risikogesellschaft eingerichtet.72 Nach einer empirischen Untersuchung aus den späten neunziger Jahren blickten fünfzig Prozent der Jugendlichen „eher zuversichtlich“ in ihre persönliche Zukunft, „gemischt – mal so, mal so“ meinten 41 Prozent und „eher düster“ sahen neun Prozent ihre Zukunft.73 Die meisten Jugendlichen erwarteten nach einer 2000 durchgeführten Jugendstudie einen Lebenslauf, der dem Leitbild des modernen 70 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gerechtigkeit für Familien. Zur Begründung und Weiterentwicklung des Familienlasten- und Familienleistungsausgleichs. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Stuttgart 2002, S. 165. 71 Karin Fobe / Uwe Hartung / Anita Henning / Bert Irmert / Catherina Schmidt / Ingrid Siegel, Der Wandel der Lebensentwürfe ostdeutscher Jugendlicher vor, während und mach der „Wende“, in: Hubert Sydow / Uta Schlegel / Andreas Helmke, Chancen und Risiken im Lebenslauf: Beiträge zum gesellschaftlichen Wandel in Ostdeutschland, Berlin 1995, S. 20 – 21. 72 Wilfried Ferchhoff, Jugend an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile, Opladen 1999, S. 79 – 81. 73 Werner Fuchs-Heinritz, Zukunftsorientierungen und Verhältnis zu den Eltern, in: Arthur Fischer / Yvonne Fritzsche / Werner Fuchs-Heinritz / Richard Münchmeier, Hg., Jugend 2000. Dreizehnte Shell-Jugendstudie, 2 Bde., Opladen 2000, Bd. 1, S. 24.

410

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

Generationenvertrages entspricht. Sie wünschten sich eine gute Ausbildung, einen sicheren Arbeitsplatz und eine Familie, und sie nahmen an, dass sich Beruf und Familie vereinbaren lassen. Die Familie wurde „als Ressource, als emotionaler Rückhalt, als Ort von Verlässlichkeit, Treue, Häuslichkeit und Partnerschaft verstanden“.74 Die Asymmetrie der intergenerativen Einkommensverteilung wurde von der Jugend allerdings wahrgenommen und kritisiert. Nach Befragungen, die in längeren Abständen wiederholt wurden, nahm das Vertrauen der Jugendlichen in den Staat langfristig ab. 1955 waren 50 Prozent der befragten Jugendlichen der Meinung, dass die Regierung genug für die Jugend tut, 1984 waren 26 Prozent dieser Meinung, und 2001 waren es nur noch 17 Prozent.75 Noch nicht abzusehen ist, wie sich der demographische Wandel künftig auf die Jugenderfahrungen auswirken wird. „Demographisch befindet sich die Jugend auf dem Weg zu einer Bevölkerungs-Minderheit, die im Rahmen von alternden Wahl-Demokratien politisch durch ältere Altersgruppen majorisiert zu werden droht“.76

III. Beruf 1. Annäherung mit Einschränkungen Die Erwerbtätigkeit von Frauen entwickelte sich nach der Wiedervereinigung in Westdeutschland und in Ostdeutschland unterschiedlich. In Westdeutschland setzte sich der Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit fort. In Ostdeutschland ging dagegen die relativ hohe Frauenerwerbstätigkeit, die in der Deutschen Demokratischen Republik erreicht worden war, durch die Transformationskrise zurück. Frauen waren besonders stark von der Arbeitsmarktkrise betroffen. Sie resignierten auch eher als Männer und zogen sich oft ganz vom Arbeitsmarkt zurück, wenn sie ihren Arbeitsplatz verloren. Im Trend näherte sich die Erwerbsbeteiligung der Frauen in beiden Teilen Deutschlands durch den Anstieg der Frauenerwerbsquote im Westen und den Rückgang der Frauenerwerbsquote im Osten an.77 Im gesamtdeutschen Durchschnitt betrug 2003 der Anteil der Frauen an den Erwerbspersonen 45 Prozent. Er 74 Arthur Fischer / Yvonne Fritzsche / Werner Fuchs-Heinrich / Richard Münchmeier, Hauptergebnisse, in: Arthur Fischer / Yvonne Fritzsche / Werner Fuchs-Heinritz / Richard Münchmeier, Hg., Jugend 2000. Dreizehnte Shell-Jugendstudie, 2 Bde., Opladen 2000, Bd. 1, S. 14. 75 Jürgen Zinnecker / Imbke Behnken / Sabine Maschke / Ludwig Stecher, Null zoff und voll busy. Die erste Jugendgeneration des neuen Jahrtausends. Ein Selbstbild, Opladen 2003, S. 117, 160. 76 Jürgen Zinnecker, „Das Problem der „Generationen“. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischem Text, in: Jürgen Reulecke / Elisabeth Müller-Luckner, Hg., Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 50. 77 Erika Schulz / Ellen Kirner, Arbeitskräfteangebot von Frauen in Deutschland bis zum Jahr 2010. Empirische Ergebnisse und Ansätze zu einer kohortenspezifischen Projektion, in: Petra Beckmann / Gerhard Engelbrech, Hg., Arbeitsmarkt für Frauen 2000. Ein Schritt vor oder ein Schritt zurück? Kompendium zur Erwerbstätigkeit von Frauen, Nürnberg 1994.

III. Beruf

411

war damit höher als in der alten Bundesrepublik Deutschland, aber niedriger als in der Spätphase der Deutschen Demokratischen Republik.78 Die Berufsaussichten für Frauen, die eine konsequente Erwerbsbiographie verfolgten, verbesserten sich in den neunziger Jahren weiter. Der Trend ging, wie Claudia Born optimistisch bemerkte, „in Richtung Angleichung zwischen den Geschlechtern“.79 Es gab allerdings immer noch geschlechtsspezifische Unterschiede. Die erwerbstätigen Frauen konzentrierten sich zu einem großen Teil auf einige charakteristische Frauenberufe mit schlechteren Arbeitsbedingungen und niedrigeren Einkommen, sie hatten weniger Zugang zu qualifizierten Positionen, und sie erhielten zum Teil noch, wenngleich das seltener wurde, für die gleiche Arbeit geringere Löhne als Männer.80 Ein ungelöstes Problem blieb der Konflikt zwischen Beruf und Familie. Wenn Paare sich für eine Familie entschieden, akzeptierten die Frauen im allgemeinen nach wie vor die Hauptverantwortung für die Familie.81 Wichtige Aspekte der Berufstätigkeit wie die verfügbare Zeit, Flexibilität und Mobilität waren damit eingeschränkt. Dass Väter die Berufstätigkeit der Ehefrau unterstützten und die Verantwortung für die Familie übernahmen, blieb die Ausnahme.82 Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hatte daher sowohl für die Erwerbstätigkeit, als auch für die Familie wachsende Bedeutung.83 Als Leitbild der Vereinbarkeitspolitik galt im Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 74. Claudia Born, Bildung und Beruf – für Männer und Frauen gleiche Kategorien? In: Walter R. Heinz / Werner Dressel / Dieter Blaschke / Gerhard Engelbrech, Hg., Was prägt Berufsbiographien? Lebenslaufdynamik und Institutionenpolitik, Nürnberg 1998, S. 89. 80 Jutta Allmendinger, Lebenslauf und Sozialpolitik. Die Ungleichheit von Mann und Frau und ihre öffentlicher Ertrag, Frankfurt am Main 1994; Renate Schubert, Zur ökonomischen Diskriminierung von Frauen: Bedeutung, Ausmass, Konsequenzen, in: Gerd Grözinger / Renate Schubert / Jürgen Backhaus, Hg., Jenseits von Diskriminierung. Zu den institutionellen Bedingungen weiblicher Arbeit in Beruf und Familie, Marburg 1993; Angelika Tölke, Beruflich erfolgreich durch Ehe und Familie? Der Zusammenhang von Lebensform und Berufskarriere, in: Mechtild Oechsle / Birgit Geissler, Hg., Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis, Opladen 1998. 81 Johann Handl, Berufschancen und Heiratsmuster von Frauen. Empirische Untersuchungen zu Prozessen sozialer Mobilität, Frankfurt am Main 1988; Wolfgang Lauterbach / Johannes Huinink / Rolf Becker, Erwerbsbeteiligung und Berufschancen von Frauen. Theoretische Ansätze, methodische Verfahren und empirische Ergebnisse aus der Lebensverlaufsperspektive, in: Petra Beckmann / Gerhard Engelbrecht, Hg. Arbeitsmarkt für Frauen 2000. Ein Schritt vor oder ein Schritt zurück? Kompendium zur Erwerbstätigkeit von Frauen. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 179, Nürnberg 1994; Angelika Tölke, Geschlechtsspezifische Aspekte der Berufs- und Familienentwicklung, in: Bernhard Nauck, Hg., Familie im Brennpunkt von Wissenschaft und Forschung, Neuwied 1995. 82 Jan Künzler, Familiale Arbeitsteilung. Die Beteiligung von Männern an der Hausarbeit, Bielefeld 1994. 83 Christine Amend-Wegmann, Vereinbarkeitspolitik in Deutschland, Hamburg 2003, S. 250 – 364; Sigrid Heinritz / Sabine Walter, Erwerbsbeteiligung von Müttern. Zum Einfluss von sozioökonomischen Ressourcen, Berufsunterbrechungen und Einstellungen, in: Bernhard Nauck, Hg., Lebensgestaltung von Frauen. Eine Regionalanalyse zur Integration von Fami78 79

412

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

vereinten Deutschland, wie vorher schon in der alten Bundesrepublik Deutschland, das Drei-Phasen-Modell. Viele Frauen entschieden sich für dieses Modell, mit einem Wechsel von Berufsphasen und Familienphasen. Die Familienphase hatte im allgemeinen aber nicht die lange Dauer, die im ursprünglichen Drei-PhasenModell der fünfziger Jahre vorgesehen war. Manche Frauen, die nach der Geburt eine Kindes die Erwerbstätigkeit unterbrochen hatten, kehrten schon nach wenigen Monaten oder nach zwei bis drei Jahren in den Beruf zurück. Diese Unterbrechung wurde durch die Elternzeit, wie der frühere Erziehungsurlaub genannt wurde, und durch das Erziehungsgeld unterstützt. Statt des Drei-Phasen-Modells konnte es auch mehrfache Berufsunterbrechungen und Berufseintritte geben, die unregelmäßig über den Lebenslauf verteilt waren. Wichtig war für die Rückkehr in den Beruf eine institutionalisierte Kinderbetreuung, besonders durch den Ausbau von Kinderkrippen, Kindergärten und Kinderhorten.84 Eine andere Vereinbarkeitsstrategie blieb das Parallelmodell in Form der Teilzeitarbeit, weil eine reduzierte Arbeitszeit mehr Zeit für die Familie ließ. Da die Unternehmen die Vorteile der reduzierten Wochenarbeitszeit als Instrument der Arbeitsflexibilisierung erkannten, gab es auch mehr Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit. Daher nahm die Teilzeitarbeit in den neunziger Jahren erheblich zu. In manchen Dienstleistungsbranchen wurde die ursprünglich als Ausnahme gedachte Teilzeitbeschäftigung zu dem vorherrschenden Arbeitsverhältnis.85 Die Politik förderte die Teilzeitarbeit sowohl aus arbeitsmarktpolitischen, als auch aus familienpolitischen Gründen. 2001 wurde den Beschäftigten daher ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit eingeräumt.86 Obwohl die Teilzeitbeschäftigung sich zu einer allgemein anerkannten Vereinbarkeitsstrategie entwickelte, brachte sie verschiedene Probleme mit sich. Teilzeitarbeit wurde im allgemeinen nur für einfache, niedrig entlohnte Tätigkeiten angeboten. Die Entscheidung für eine Teilzeitbeschäftigung bedeutete daher meistens einen Verzicht auf Beförderungen und Karrierechancen. Da die Teilzeitbeschäftigung eine weibliche Domäne war, verstärkte sie die berufliche lien- und Erwerbstätigkeit im Lebensverlauf, Weinheim 1993; Heinz Lampert, Aufgaben der Arbeitsmarktpolitik aus familienpolitischer Perspektive, in: Friedrich Buttler, Hg., Europa und Deutschland: Zusammenwachsende Arbeitsmärkte und Sozialräume, Stuttgart 1993; Notburga Ott / Gert Wagner, Hg., Familie und Erwerbstätigkeit im Umbruch. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Sonderheft 148, Berlin 1992; Harald Seehausen, Familie, Arbeit, Kinderbetreuung. Berufstätige Eltern und ihre Kinder im Konfliktdreieck, Opladen 1995; Brigitte Stolz, Vereinbarkeit von Beruf und Familie als Herausforderung für Gewerkschaften und Sozialstaat, Diss. Freie Universität Berlin 1994. 84 Andreas Kapphan, Frauen am Arbeitsmarkt, Frankfurt am Main 1994; Wolfgang Lauterbach, Berufsverläufe von Frauen. Erwerbstätigkeit, Unterbrechung und Wiedereintritt, Frankfurt am Main 1994; Wolfgang Lauterbach / Thomas Klein, Erwerbsunterbrechung von Müttern, in: Bernhard Noack / Hans Bertram, Hg., Kinder in Deutschland. Lebensverhältnisse von Kindern im Regionalvergleich, Opladen 1995. 85 Kerstin Altendorf, Hindernisse für Teilzeitarbeit und flexible Arbeitsorganisation in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Mainz 1998, S. 48. 86 Petra Beckmann, Zwischen Wunsch und Wirklichkeit, in: Bundesarbeitsblatt, 11 / 2002, S. 13.

III. Beruf

413

Diskriminierung von Frauen. Weil die soziale Sicherung auf der kontinuierlichen Erwerbsbiographie aufbaute, war mit der Teilzeitbeschäftigung im allgemeinen auch eine schlechtere soziale Sicherung verbunden, vor allem eine Minderversorgung im Alter. Eine besondere Form der Teilzeitarbeit waren die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse mit kurzer Wochenarbeitszeit und niedrigem Lohn, die in den neunziger Jahren stark zunahmen. Die Nachteile der Teilzeitarbeit im Hinblick auf Lohn, Berufsperspektive und Alterssicherung waren bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen besonders ausgeprägt.87 Trotz der bekannten Nachteile gewann die Teilzeitarbeit als Vereinbarkeitsstrategie an Bedeutung. Die meisten Eltern strebten nach einer 2000 durchgeführten Umfrage sowohl in Westdeutschland als auch in Ostdeutschland ein asymmetrisches Arbeitszeitmodell an, mit einem in Vollzeit tätigen Ehemann und einer in Teilzeit tätigen Ehefrau, auch wenn sich dieser Wunsch nicht immer realisieren ließ. In Westdeutschland verlor das Alleinverdienermodell, mit einem in Vollzeit tätigen Ehemann und einer nicht erwerbstätigen Ehefrau, an Akzeptanz. Die Mehrzahl der Mütter mit kleinen Kindern war nicht berufstätig, aber gewünscht wurde diese Lebensweise nur von einer Minderheit. Die Mütter würden gerne einer Teilzeitarbeit nachgehen, während der Ehemann in Vollzeit tätig sein sollte. In Ostdeutschland ging unterdessen die Akzeptanz des egalitären Arbeitszeitmodells, mit einer doppelten Vollzeittätigkeit, zurück. Die meisten Mütter hatten zwar eine Vollzeitarbeit, aber sie fühlten sich überlastet und würden eine Teilzeitarbeit vorziehen, wenn es entsprechende Arbeitsplätze gäbe. Der Ehemann sollte mit einer Vollzeittätigkeit der Hauptverdiener sein. Wenn sich die Präferenzen der Eltern durchsetzen, würde die Entwicklung in Westdeutschland und Ostdeutschland von den entgegengesetzten Polen des westdeutschen Alleinverdienermodells und des ostdeutschen egalitären Arbeitszeitmodells zu einem gemeinsamen asymmetrischen Arbeitszeitmodell konvergieren, mit einem in Vollzeit tätigen Ehemann und einer in Teilzeit tätigen Ehefrau.88 Einer vollen Angleichung von Frauenkarrieren und Männerkarrieren stand insgesamt nach wie vor die Wechselwirkung zwischen Angebotsfaktoren und Nachfragefaktoren entgegen. Die häufig noch weniger konsequente Erwerbsorientierung von Frauen konnte ein Grund zur beruflichen Diskriminierung sein. Einfache Tätigkeiten wurden wiederum eher aufgegeben oder eingeschränkt als höher qualifizierte und besser bezahlte Tätigkeiten.89 87 Ilona Ostner, Was heißt hier normal? Normalarbeit, Teilzeit, Arbeit im Lebenszyklus, in: Hans G. Nutzinger / Martin Held, Hg., Geteilte Arbeit und ganzer Mensch. Perspektiven der Arbeitsgesellschaft, Frankfurt am Main 2000. 88 Beckmann, Zwischen Wunsch und Wirklichkeit (wie Anm. 86); Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. (wie Anm. 53), S. 105 – 113. 89 Brigitte Geissler, Weibliche Lebensführung und Erwerbsverlauf. Ein lebenslauf-theoretischer Beitrag zur Analyse der Frauenarbeit, in: Brigitte Geissler / Friederike Maier / Birgit Pfau-Effinger, Hg., FrauenArbeitsMarkt. Der Beitrag der Frauenforschung zur sozioökonomischen Theorieentwicklung, Berlin 1997; Notburga Ott / Karin Rinne, Was können öko-

414

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

2. Die Eskalation der Arbeitsmarktkrise Die Arbeitsmarktkrise eskalierte in den neunziger Jahren. In Ostdeutschland führte die Transformationskrise dazu, dass zahlreiche Betriebe die Beschäftigung reduzierten oder stillgelegt wurden. Auch im öffentlichen Dienst wurde das Personal eingeschränkt. Von den zehn Millionen Beschäftigten, die es Anfang 1990 in Ostdeutschland gab, blieben Ende 1991 nur sieben Millionen Beschäftigte übrig. Die verlorenen Arbeitskräfte wurden nur zum Teil als Arbeitslose registriert; viele verschwanden auch aus der Erwerbsstatistik.90 In Westdeutschland wurde der Arbeitsmarkt durch die Wiedervereinigung zeitweilig entlastet. Es gab einen kurzen wirtschaftlichen Aufschwung, der aber schon 1993 abbrach.91 Die Arbeitslosigkeit nahm stetig zu; 1997 gab es 4,4 Millionen Arbeitslose. Die Arbeitslosenversicherung und die steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe gewährten nach wie vor einen Mindeststandard des Lebenseinkommens. 1994 betrug das Arbeitslosengeld für alleinstehende Arbeitslose sechzig Prozent des vorherigen Nettolohns und für Arbeitslose mit Familienangehörigen 67 Prozent. Die im Anschluss daran bei Bedürftigkeit gewährte Arbeitslosenhilfe betrug für alleinstehende Arbeitslose 53 Prozent des Nettolohns und für Arbeitslose mit Familienangehörigen 57 Prozent.92 Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme wurden mit der materiellen Unterstützung der Arbeitslosen aber nicht aufgefangen. Die sozialdemokratische Regierung versprach nach dem Regierungswechsel von 1998 eine deutliche Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Sie vertraute aber zunächst auf eine konjunkturelle Erholung, die ohne staatliche Eingriffe zu einer Wende auf dem Arbeitsmarkt führen sollte. Seit 1998 ging die Arbeitslosigkeit langsam zurück. In der Krise von 2001 – 2003 stieg die Arbeitslosigkeit jedoch wieder an. 2002 gab es im Jahresdurchschnitt 4,1 Millionen Arbeitslose, die Arbeitslosenquote betrug elf Prozent.93 Zu den registrierten Arbeitslosen kam eine erhebliche verdeckte Arbeitslosigkeit von Männern und Frauen im Erwerbsalter, die einen Arbeitsplatz suchten, den Kontakt zur Arbeitsvermittlung aber aufgegenomische Theorien zur Erklärung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung beitragen? In: Karin Donhauser / Wera Hemmerich / Bernhard Irrgang / Jörg Klawitter, Hg., Frauen-fragen, Frauen-perspektiven, Dettelbach 1994. 90 Vera Dahms / Jürgen Wahse, Zur Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland im Transformationsprozeß, in: Hildegard Maria Nickel / Jürgen Kühl / Sabine Schenk, Hg., Erwerbsarbeit und Beschäftigung im Umbruch, Berlin 1994; Rudolf Hickel, Sozial-ökonomische Strategien zur Transformation Ostdeutschlands. Anforderungen an die Wirtschafts-, Finanz- und Umverteilungspolitik, in: Rudolf Hickel / Ernst-Ulrich Huster / Heribert Kohl, Hg., Umverteilen. Schritte zur sozialen und wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, Köln 1993, S. 73. 91 Georg Vobruba, Ende der Vollbeschäftigungsgesellschaft, in: Kai Eicker-Wolf / Ralf Käpernick / Torsten Niechoj / Sabine Reiner, Jens Weiß, Hg., Die arbeitslose Gesellschaft und ihr Sozialstaat, Marburg 1998. 92 Gisela Plassmann, Der Einfluss der Arbeitslosenversicherung auf die Arbeitslosigkeit in Deutschland, Nürnberg 2002, S. 32 – 35. 93 Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 95.

III. Beruf

415

ben hatten und deshalb nicht in der Arbeitslosenstatistik erschienen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung schätzte die verdeckte Arbeitslosigkeit für das Jahr 2000 auf 1,8 Millionen Personen.94 Tabelle 23 Arbeitslosigkeit in Deutschland 1991 – 2003 Millionen

Prozent

1991

2,6

7,3

1992

3,0

8,5

1993

3,4

9,8

1994

3,7

10,6

1995

3,6

10,4

1996

4,0

11,5

1997

4,4

12,7

1998

4,3

12,3

1999

4,1

11,7

2000

3,9

10,7

2001

3,9

10,4

2002

4,1

10,8

2003

4,4

11,6

Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2001, S. 124 – 125. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2004, S. 95. – Die Arbeitslosenquote ist in Relation zu den abhängigen Erwerbspersonen definiert.

Der richtige Weg aus der Arbeitsmarktkrise war umstritten. Die Mehrheit der Wirtschaftsexperten vertrat die neoliberale Interpretation, nach der die Arbeitsmarktregulierung, die Sozialleistungsquote und die Steuerquote für die Arbeitsmarktkrise verantwortlich waren. So argumentierte der Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2001, dass die hohen Sozialleistungen die Arbeit verteuerten und das untere Segment des Arbeitsmarktes unattraktiv machten. Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe definierten einen Anspruchslohn, den viele Arbeitslose von einer neuen Beschäftigung erwarten. Schlecht bezahlte Arbeitsplätze, deren Marktlohn unter dem Anspruchslohn lag, fänden daher keine Interessenten.95 Ein Jahr später bekräftigte der Sach94 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum. Jahresgutachten 2002 / 03, Stuttgart 2002, S. 119. 95 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Für Stetigkeit – gegen Aktionismus. Jahresgutachten 2001 / 02, Stuttgart 2001, S. 237.

416

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

verständigenrat seine Position, dass die Arbeitsmarktrigiditäten, die Lohnentwicklung, die Lohnnebenkosten und die Steuerquote die wesentlichen Beschäftigungshemmnisse wären.96 Gegen die Forderung nach Lohnsenkungen zur Belebung der Konjunktur wurde aber eingewandt, dass die Löhne einen „Doppelcharakter“ haben und nicht nur Kosten, sondern auch Einkommen darstellen.97 Wenn Löhne und Transferleistungen gesenkt werden und die Bevölkerung gedrängt wird, mehr individuelle Vorsorge zu treffen, wird der Konsum und damit auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gedämpft. Nach Ansicht der keynesianischen Experten, die allerdings in der Minderheit waren, sollte die Arbeitsmarktkrise nicht durch soziale Einschnitte und zunehmenden Druck auf die Beschäftigten, sondern durch eine aktive Konjunkturpolitik bekämpft werden.98 Unter dem Druck der Krise leitete die sozialdemokratische Regierung 2002 eine Arbeitsmarktreform ein. Im März 2003 wurde die Arbeitsmarktreform als ein Teil des Programms „Agenda 2010“ deklariert, in dem die Bundesregierung verschiedene Reformvorhaben zusammenfasste. Die Arbeitsmarktreform war vom neoliberalen Zeitgeist beeinflusst, sollte aber den Sozialstaat reformieren, ohne ihn zu zerstören. Der Arbeitsmarkt wurde in einigen Randbereichen flexibilisiert. Der Kern der Arbeitsmarktregulierung, die kollektiven Tarifverträge und das Arbeitsrecht, blieben aber erhalten. Die wichtigsten Elemente der Reform wurden in der vierten Stufe Ende 2003 beschlossen. Die Arbeitslosenhilfe wurde auf das Sozialhilfeniveau gekürzt. Damit sollten die Lohnnebenkosten gesenkt werden, und die Arbeitslosen sollten motiviert werden, auch gering bezahlte Beschäftigungen anzunehmen. Die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerinnen sollten in die Arbeitsmarktpolitik einbezogen werden. Die Arbeitsverwaltung und die Sozialämter sollten künftig gemeinsam die alten und die neuen Arbeitslosen betreuen und vermitteln. Erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerinnen erhielten ebenso wie die bedürftigen Arbeitslosen das neue „Arbeitslosengeld II“, das die Arbeitslosenhilfe ablöste. Im Sommer 2004 wurde geschätzt, dass eine Million erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerinnen in den Arbeitsmarkt integriert werden sollten und so die Chance erhielten, ihre wirtschaftliche Situation durch Erwerbstätigkeit zu verbessern.99 Damit die Arbeitssuchenden auch Arbeit fanden, war vorgesehen, die Arbeitsvermittlung zu intensivieren.100 Auch an ein neues Image war gedacht; die Bundesanstalt für Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2002 / 03 (wie Anm. 94), S. 10, 213 – 215. Jürgen Kromphardt, in: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2002 / 03 (wie Anm. 94), S. 215. 98 Gustav Horn, Die deutsche Krankheit. Sparwut und Sozialabbau, München 2005; HorstHenning Jank / Christian Molitor, Gibt es tragfähige Alternativen zur Angebotsorientierung? In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 83 (2003). 99 Wolfgang Clement, Hartz IV. Einigung im Vermittlungsausschuss, in: Bundesarbeitsblatt 7 / 8 2004, S. 13. 100 Erstes Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 (wie Anm. 39), S. 4607 – 4620; Zweites Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 (wie Anm. 38), S. 4621 – 4636; Drittes Gesetz für Moderne 96 97

III. Beruf

417

Arbeit wurde in eine Bundesagentur für Arbeit umbenannt, um die neue Dynamik in der Arbeitsmarktpolitik nach außen sichtbar zu machen. Die mit großen Erwartungen in Gang gesetzte Arbeitsmarktreform galt schon bald als gescheitert. Das wirtschaftliche Wachstum blieb schwach, und die Beschäftigung stagnierte. Alle Versuche, auf die Motivation der Arbeitslosen einzuwirken oder die Arbeitsvermittlung zu verbessern, konnten angesichts des stagnierenden Arbeitsmarktes wenig ausrichten. Auch das finanzpolitische Ziel der Reform wurde verfehlt. Statt der erwarteten Einsparungen erforderte die Unterstützung der Arbeitslosen erhebliche Mehrausgaben, und zwar nicht nur, weil in vielen Fällen das neue Arbeitslosengeld II die Sozialhilfe ersetzte, sondern auch, weil der Zugang zur Arbeitslosenunterstützung erleichtert wurde. Die Zusammenfassung von alten und neuen Arbeitslosen hatte zur Folge, dass die Arbeitslosenzahlen stiegen und ein realistischeres Bild der Arbeitslosigkeit zeigten. Im Februar 2005 gab es in Deutschland 5,2 Millionen Arbeitslose. Seitdem ging die Arbeitslosigkeit langsam zurück, aber das bedeutete noch nicht die erhoffte Wende auf dem Arbeitsmarkt.101 2005 versuchte die Regierung, mit vorzeitigen Neuwahlen zum Bundestag politische Unterstützung für ihre Reformpolitik zu gewinnen. Sie fand jedoch keine Mehrheit und musste einer neuen Regierung Platz machen. Die individuellen Reaktionen auf eine längere Arbeitslosigkeit konnten unterschiedlich ausfallen. Die meisten Arbeitslosen strebten danach, die berufliche Normalität wieder herzustellen und suchten intensiv einen Arbeitsplatz, möglichst in dem bisherigen Beruf. Einige Arbeitslose versuchten, das Beste aus der unfreiwilligen Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit zu machen, und strebten nach einer Weiterqualifikation und beruflichen Neuorientierung. Frauen nutzten die Zeit der Arbeitslosigkeit auch für eine Familienphase. Es kam aber auch vor, dass arbeitslose Frauen oder Männer sich nach längerer vergeblicher Stellensuche mit einem Lebensstandard auf dem bescheidenen Niveau öffentlicher Transferleistungen abfanden.102 3. Die neue Arbeitslandschaft Die Differenzierung der Erwerbsbiographien, die in Westdeutschland seit den achtziger Jahren als „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ diskutiert wurde, setzte sich nach der Wiedervereinigung auch in Ostdeutschland durch, schockartig verstärkt durch die Transformationskrise der ostdeutschen Wirtschaft. Auf der einen Seite gab es die Mehrzahl der Erwerbstätigen, die nach wie vor eine kontiDienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 (wie Anm. 42), S. 2848 – 2918; Viertes Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (wie Anm. 42), S. 2954 – 2999. 101 Wirtschaft und Statistik, 4 / 2005, S. 12*. 102 Martin Kronauer / Berthold Vogel / Frank Gerlach, Im Schatten der Arbeitsgesellschaft. Arbeitslose und die Dynamik sozialer Ausgrenzung, Frankfurt am Main 1993; Gerd Vonderach / Ruth Siebers / Ulrich Barr, Arbeitslosigkeit und Lebensgeschichte, Opladen 1992. 27 Hardach

418

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

nuierliche Erwerbsbiographie in einem Vollzeitarbeitsverhältnis anstrebte. Auch aus der Sicht der Unternehmen war die uneingeschränkte Erwerbstätigkeit das dominierende Arbeitsverhältnis, besonders für anspruchsvolle Tätigkeiten. Auf der anderen Seite nahmen aber die unvollständigen Erwerbsbiographien zu, die durch Unterbrechungen oder eingeschränkte Arbeitszeit von dem Modell der vollständigen Erwerbsbiographie abwichen.103 Den Kern des „Normalarbeitsverhältnisses“ stellte die qualifizierte Arbeit dar, die weiter an Bedeutung gewann. Nicht nur in der Industrie, sondern auch im tertiären Sektor waren Qualifikationen gefragt. Hilfstätigkeiten waren am stärksten von der Rationalisierung bedroht.104 Die Industrie hielt an der dreistufigen Qualifikationsstruktur von Ungelernten, Angelernten und Facharbeitern oder Facharbeiterinnen fest. Die oberste Stufe dieser Qualifikationsstruktur stellten die gründlich ausgebildeten Facharbeiter oder Facharbeiterinnen dar, die ihre Kenntnisse entweder in einer formalen Lehre von zwei bis drei Jahren oder in einer mehrjährigen Berufstätigkeit erworben hatten. Qualifizierte Arbeit setzte aber nicht unbedingt die konventionelle duale Berufsausbildung mit Lehre und Berufsschule voraus. In vielen neuen Berufen im tertiären Sektor wurden die erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse durch flexible Qualifikationswege vermittelt. Insgesamt wurde die Qualifikationsstruktur auf dem Arbeitsmarkt in fünf Kategorien eingeteilt. Die unterste Stufe stellten Hilfstätigkeiten ohne qualifizierte Berufsausbildung dar. Zur zweiten Stufe, der einfachen Fachtätigkeit, gehörte das angelernte Personal in der Industrie, aber auch im Dienstleistungssektor. Die dritte Stufe war die qualifizierte Fachtätigkeit, die in der Regel eine längere Berufsausbildung voraussetzte, zum Beispiel eine Lehre. Zu dieser Stufe gehörten Facharbeiter oder Facharbeiterinnen, Fachverkäufer oder Fachverkäuferinnen und Sachbearbeiter oder Sachbearbeiterinnen. Über dieser Fachebene gab es noch zwei Leitungsebenen. Als Fachtätigkeit mit Führungsaufgaben wurden einfache Führungsfunktionen bezeichnet, zum Beispiel Meister. Hochqualifizierte Tätigkeiten als Spitze der Qualifikationspyramide setzten im allgemeinen eine Fachhochschulausbildung oder Universitätsausbildung voraus.105 103 Wolfgang Bonß, Vergesellschaftung durch Arbeit. Oder: Gegenwart und Zukunft der Arbeitsgesellschaft, in: Peter A. Berger / Dirk Konietzka, Hg., Die Erwerbsgesellschaft. Neue Ungleichheiten und Unsicherheiten, Opladen 2001; Jürgen Faik / Michael Roth / Franz Ruland, Nichtnormalarbeitsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt und in Biographien Rentenversicherter, in: Irene Becker / Notburga Ott / Gabriele Rolf, Hg., Soziale Sicherung in einer dynamischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 2001; Wolfgang Lauterbach / Matthias Sacher, Erwerbseinstieg und erste Erwerbsjahre, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 53 (2001); Volker Volkholz, Was bestimmt die Bildungslandschaft der Zukunft: die Normal-Biographie oder die Patchwork-Biographie? in: Christoph von Rothkirch, Hg., Altern und Arbeit. Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin 2000. 104 Hansjörg Siegenthaler, Arbeitsmarkt zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht im Zeitalter modernen Wirtschaftswachstums, in: Jürgen Kocka / Claus Offe, Hg., Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt am Main 2000, S. 106 – 109. 105 Inge Weidig / Peter Hofer / Helmfried Wolf, Arbeitslandschaft 2010 nach Tätigkeiten und Tätigkeitsniveau, Nürnberg 1999, S. 34 – 35.

III. Beruf

419

Die Arbeitsmarktkrise schwächte die Position der Gewerkschaften und erschwerte die Regulierung des Arbeitsmarktes, mit der die Stabilität der Erwerbsbiographien verbessert werden sollte. Der Flächentarifvertrag, der ein wichtiges Instrument der Arbeitsmarktregulierung war, galt 2001 in Westdeutschland nur noch für 63 Prozent der Beschäftigten und in Ostdeutschland für 44 Prozent der Beschäftigten.106 Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Erwerbstätigen betrug 1991 noch 37 Stunden und ging bis 2003 auf 35 Stunden zurück.107 Eine kontinuierliche Erwerbsbiographie konnte aus wechselnden Arbeitsverhältnissen zusammengesetzt sein. Die Mobilität der Erwerbstätigen nahm in den neunziger Jahren wieder zu. Nach einer Untersuchung aus den späten neunziger Jahren waren im Alter ab 45 Jahren nur noch zwanzig Prozent der Erwerbstätigen bei ihrem ersten Arbeitgeber geblieben. Die meisten hatten auf eigenen Wunsch den Betrieb gewechselt. Besonders häufig war der Wechsel des Arbeitsplatzes bei ungelernten Arbeitern oder Arbeiterinnen. Facharbeiter oder Facharbeiterinnen wechselten seltener. Mit zunehmender Betriebsgröße ging die Fluktuation der Beschäftigten zurück, denn die Großbetriebe boten mehr Möglichkeiten eines innerbetrieblichen Arbeitsplatzwechsels. Die Angestellten der neuen Mittelklasse waren weniger mobil als die Arbeiter oder Arbeiterinnen, und besonders gering war die Mobilität der Beamten oder Beamtinnen.108 Durch die Modernisierung der industriellen Produktionsverfahren und den Strukturwandel von der Industriearbeit zur Dienstleistungsarbeit wurde der Altersabstieg ab dem vierzigsten Lebensjahr, der die Erwerbsbiographien der Arbeiter und Arbeiterinnen in der Industriegesellschaft prägte, allmählich überwunden. Zwar konnten eine abnehmende Umstellungsfähigkeit und eine langsamere Informationsverarbeitung die Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen beeinträchtigen, aber diese Defizite ließen sich durch kontinuierliches Training und Kompensationsstrategien reduzieren. Die berufliche Leitungsfähigkeit blieb daher im allgemeinen auch in den späten Jahren der Erwerbstätigkeit erhalten. Nach Untersuchungen, die in den neunziger Jahren zur Berufstätigkeit von Industriearbeitern oder Industriearbeiterinnen und Angestellten durchgeführt wurden, ging die individuelle Leistungsfähigkeit nach dem 55. Lebensjahr nur wenig zurück. Dennoch wollte die Mehrzahl der Beschäftigten ihre Tätigkeit vor dem Rentenalter aufgeben. Das Veralten der Qualifikation, aber auch Reputationsverlust und Entmutigung wurden als Belastung empfunden.109 Die individuellen 106 Lothar Clasen, Tarifverträge 2002: Neue Öffnungsklauseln, in: Bundesarbeitsblatt 3 / 2003, S. 20. 107 Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 72 – 73. 108 Ursula Hecker, Berufliche Mobilität und Wechselprozesse, in: Werner Dostal / Rolf Jansen / Klaus Parmentier, Hg., Wandel der Erwerbsarbeit. Arbeitssituation, Informatisierung, berufliche Mobilität und Weiterbildung, Nürnberg 2000. 109 Andreas Kruse / Gabriele Maier, Psychologische Beiträge zur Leistungsfähigkeit im mittleren und höheren Erwachsenenalter – eine ressourcenorientierte Perspektive, in: Chris-

27*

420

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

Wünsche der Erwerbstätigen, die Personalpolitik der Unternehmen und die staatliche Arbeitsmarktpolitik wirkten insgesamt auf einen frühen Ruhestand hin. Der allgemeine Gesundheitszustand wurde besser, die Berufskrankheiten gingen zurück und die Lebenserwartung stieg an, aber dennoch sank im Durchschnitt das Alter, in dem die Erwerbstätigen ihre Berufstätigkeit aufgaben oder aus dem Beruf gedrängt wurden; diese Entwicklung war nicht auf Deutschland beschränkt.110 Die Wirtschafts- und Sozialpolitik förderte mit günstigen Übergangsregelungen die vorzeitige Aufgabe der Erwerbstätigkeit, um den Arbeitsmarkt zu entlasten. Die Tendenz ging dahin, den Ruhestand auf das Alter von 55 Jahren vorzuverlegen. An die Stelle der industriellen Risikobiographie mit einer ersten Hochleistungsphase und einer zweiten Phase des Altersabstiegs trat in der postindustriellen Gesellschaft tendenziell eine kompakte, relativ kurze Erwerbsbiographie mit einem frühen Ruhestand, der schon mit 55 Jahren beginnen konnte.111 Der wichtigste Grund für die Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsbiographien war die Arbeitsmarktkrise. Eine zunehmende Zahl von Erwerbsbiographien wurde gegen alle Wünsche und Interessen der Beschäftigten unterbrochen.112 Die Arbeitsmarktkrise war auch der Anlass für die Einrichtung neuer prekärer Arbeitsverhältnisse. Um den Einstieg von Jugendlichen in das Berufsleben und die Reintegration von Arbeitslosen zu erleichtern, wurden befristete staatlich geförderte Arbeitsplätze geschaffen. Der „zweite Arbeitsmarkt“, der auf der staatlichen Arbeitsförderung beruhte, hatte zeitweilig erheblichen Umfang. Ein weiterer Grund für die Abweichungen vom Normalarbeitsverhältnis war die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit, da viele Frauen zwischen Erwerbsphasen und Familienphasen wechselten oder sich für eine Teilzeitarbeit entschieden, um Beruf und Familie besser vereinbaren zu können. Als neues Beschäftigungsverhältnis jenseits der „Normalarbeit“ galt auch die Zeitarbeit, die in den neunziger Jahren zunahm. In dem Modell der Zeitarbeit oder Leiharbeit waren Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen bei einem Verleihunternehmen angestellt, in der Regel mit unbefristeten Arbeitsverträgen. Die Arbeit bestand aus kurzfristigen Tätigkeiten in verschiedenen Betrieben, die von den Verleihfirmen Arbeitskräfte anforderten. Die Unternehmen konnten mit der Beschäftoph von Rothkirch, Hg., Altern und Arbeit. Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin 2000. 110 Anne-Marie Guillemard, Emploi, protection sociale et cycle de vie: Résultats d’une comparaison internationale des dispositifs de sortie anticipée d’activité, in: Sociologie de Travail, 3 / 1993. 111 Johann Behrens, Was Demographie mit Kinder kriegen zu tun hat und was uns vorzeitig alt aussehen lässt – Illusionen im Trendmodell der Erwerbstätigkeit, in: Christoph von Rothkirch, Hg., Altern und Arbeit. Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin 2000, S. 229. 112 Gerd Mutz / Wolfgang Ludwig-Mayerhofer / Elmar J. Koenen / Klaus Eder / Wolfgang Bonß, Diskontinuierliche Erwerbsverläufe. Analysen zur postindustriellen Arbeitslosigkeit, Opladen 1995.

III. Beruf

421

tigung von Zeitarbeitnehmern oder Zeitarbeitnehmerinnen einen kurzfristigen Arbeitskräftebedarf decken, ohne die Verpflichtungen einzugehen, die mit einem regulären Arbeitsverhältnis verbunden waren. Im günstigsten Fall stellte die Zeitarbeit einen Kompromiss dar zwischen dem Interesse der Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen an einer stetigen Beschäftigung und den Fluktuationen von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt dar. Zeitarbeit war im allgemeinen keine langfristige Perspektive, sondern wurde von jungen Arbeitnehmern oder Arbeitnehmerinnen in der Hoffnung aufgenommen, den Übergang in eine stetige Beschäftigung zu finden. Sie wurde ganz überwiegend von Männern ausgeübt. Berufliche Schwerpunkte der Zeitarbeit waren einfache Fertigungsberufe und Bürotätigkeiten.113 Als neues Berufsfeld wurde in den neunziger Jahren die Erwerbstätigkeit in Familien vorgeschlagen. Dabei war nicht an die Rückkehr der kaum ausgebildeten und schlecht bezahlten Hausangestellten gedacht, die in der Zeit des Kaiserreichs in vielen Familien beschäftigt wurden, sondern an qualifizierte Tätigkeiten in der Kinderpflege und in der Altenpflege. Neben der Entlastung der Familien sollte die Aufwertung der Familie als Arbeitgeberin auch neue Arbeitsplätze schaffen.114 Da der Arbeitskräftebedarf im Familienzyklus eine vorübergehende Phase ist, würde die Erwerbstätigkeit in Familien den Trend zu unvollständigen Erwerbsbiographien verstärken. Jenseits der Arbeitsmarktkrise und der schwierigen Vereinbarkeit von Familie und Beruf hatte die Differenzierung der Arbeitslandschaft auch strukturelle Gründe. Das institutionell gesicherte Normalarbeitsverhältnis ist historisch durch die entwickelte Industriegesellschaft kapitalistischer oder staatssozialistischer Prägung geprägt. In der postindustriellen Gesellschaft führen die größere Flexibilität der Arbeit, die Beschleunigung des technischen Fortschritts und die häufige Veränderung der Arbeitsbedingungen zu einer Zunahme unvollständiger Erwerbsbiographien.115 Die Pluralisierung der Lebenswege erreicht auch den Produktionsbereich.116 113 Hanns-Georg Brose / Matthias Schulze-Böing / Werner Meyer, Arbeit auf Zeit. Zur Karriere eines „neuen“ Beschäftigungsverhältnisses, Opladen 1990; Hanns-Georg Brose / Monika Wohlrab-Sahr / Michael Corsten, Soziale Zeit und Biographie. Über die Gestaltung von Arbeitszeit und Lebenszeit, Opladen 1993; Monika Wohlrab-Sahr, Biographische Unsicherheit, Opladen 1993. 114 Claudia Born, Familie als Arbeitgeberin. Ist die erwerbsförmig organisierte Dienstleistung in der Familie eine zukunftsweisende Antwort auf den familialen Strukturwandel? In: Lutz Leisering / Birgit Geissler / Ulrich Meyer / Ursula Rabe-Kleberg, Hg., Moderne Lebensläufe im Wandel, Weinheim 1993. 115 Peter Hofer, Szenarien der wirtschaftlichen Entwicklung. Basisüberlegungen zur Studie „Arbeitslandschaft bis 2010 nach Umfang und Tätigkeitsprofilen“, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 23 (1990); Weidig / Hofer / Wolf, Arbeitslandschaft 2010 nach Tätigkeiten und Tätigkeitsniveau (wie Anm. 105). 116 Günther Schmid, Arbeitsplätze der Zukunft: Von standardisierten zu variablen Arbeitsverhältnissen, in: Jürgen Kocka / Claus Offe, Hg., Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt am Main 2000.

422

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

IV. Familie 1. Die Krise der Familie Die Differenzierung der Lebensverhältnisse, die in Westdeutschland in den siebziger Jahren begonnen hatte, setzte sich in den neunziger Jahren im vereinten Deutschland fort. Zwar war die Ehe immer noch die verbreitetste Lebensform, aber die Ledigenquote nahm zu, in Ostdeutschland noch mehr als in Westdeutschland.117 Wenn der bisherige Trend sich fortsetzt, wird wahrscheinlich ein Viertel der um 1960 geborenen Frauen und Männer nicht heiraten. Die Ledigenquote wäre damit weit höher als in der alten Zeit der Eherestriktionen.118 Als Alternative zur Ehe stieg die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften weiter an. Die neue Lebensform verlor allmählich ihre Exklusivität. Im Jahr 2000 gab es in Deutschland 2,1 Millionen nichteheliche Partnerschaften. Unter den jungen Erwachsenen zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren lebten 2000 bereits 17 Prozent in nichtehelichen Partnerschaften.119 Längere Ausbildungswege, die Unsicherheit, die durch die Arbeitsmarktkrise verbreitet wurde, und die Leistungsanforderungen in den frühen Berufsjahren hatten zur Folge, dass das Heiratsalter in den neunziger Jahren anstieg. Im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert kehrten die postindustriellen jungen Paare zum „europäischen Heiratsmodell“ ihrer bäuerlichen Ahnen zurück. Männer heirateten 2002 im Durchschnitt mit 32 Jahren, Frauen mit 29 Jahren.120 Die Ehescheidungen nahmen in den neunziger Jahren in Westdeutschland weiter zu, während sie in Ostdeutschland von dem früher sehr hohen Niveau zurückgingen. Im gesamtdeutschen Trend schätzt man aufgrund der bisherigen Entwicklung, dass 37 Prozent der im Jahr 2000 geschlossenen Ehen geschieden werden.121 Mit der Ehe ging auch die Bedeutung der Familie als Lebensform seit den neunziger Jahren zurück.122 Besonders stark war der Rückgang der Geburten in Ost117 Fobe / Hartung / Henning / Irmert / Schmidt / Siegel, Der Wandel der Lebensentwürfe ostdeutscher Jugendlicher (wie Anm. 71), S. 20 – 21. 118 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik (wie Anm. 53), S. 67. 119 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik (wie Anm. 53), S. 44 – 45. 120 Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 52. 121 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik (wie Anm. 53), S. 81; Carmen Krolczyk, Die Scheidung. Der Zerfall der Familie oder ein neuer Anfang, Frankfurt am Main 2001. 122 Elisabeth Beck-Gernsheim, Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen, München 1998; Hans Bertram, Familien leben. Neue Wege zur flexiblen Gestaltung von Lebenszeit, Arbeitszeit und Familienzeit, Gütersloh 1997; Walter Bien, Hg., Familien an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Wandel und Entwicklung familialer Lebensformen, Opladen 1996; Bundesministerium für Familie und Senioren, Leitsätze und Empfehlungen zur Familienpolitik im vereinigten Deutschland. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Stuttgart 1991; Norbert E. Schneider, Familie und private Lebensführung

IV. Familie

423

deutschland, und er fiel um so mehr auf, weil die Familie in der Spätphase der Deutschen Demokratischen Republik noch stabil gewesen war.123 Die Zahl der alternativen Familienformen nahm zwar zu; es gab mehr Familien mit nichtehelichen Lebensgemeinschaften oder mit Alleinerziehenden. Die Zunahme der neuen Familienformen glich die geringere Zahl der Standardfamilien aber nicht aus. Von den Angehörigen der 1960 geborenen Generation wird wahrscheinlich ein Viertel kinderlos bleiben, von der 1965 geborenen Generation bereits bis zu einem Drittel.124 Der Verzicht auf eine Familie war nicht unbedingt von Anfang an eine klare Lebensentscheidung. In den Lebensentwürfen der Jugendlichen war die Familie meist ebenso wichtig wie der Beruf.125 Im Erwachsenenalter traten aber die Berufsentscheidungen und die Sicherung des Lebensstandards in Vordergrund. Da trotz der Differenzierung der Lebensformen die meisten Eltern verheiratet waren, stieg mit dem höheren Heiratsalter auch das Alter, in dem Eltern ihre Kinder bekamen. 1991 waren die Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes im Durchschnitt 27 Jahre alt, 2000 war das Durchschnittsalter auf 29 Jahre gestiegen. Die Väter waren dann schon über dreißig Jahre alt.126 Als Ursachen für die sinkende Akzeptanz der Familie galten, wie vorher in der alten Bundesrepublik Deutschland, die materielle Belastung der Familien und die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Familien waren durch den Aufwand für die Kinder und durch niedrigere Einkommen benachteiligt. Die Bildungsexpansion führte zu einer erheblichen Mehrbelastung der Familien. Die längeren Bildungswege bedeuteten, dass sich die finanzielle Verantwortung der Eltern für ihre Kinder um Jahre verlängerte. Da das öffentliche Schulwesen in Deutschland immer noch als eine Halbtagsveranstaltung betrachtet wurde, kam zu dem monetären Aufwand ein erheblicher Zeitaufwand der Familien für die Betreuung der Jugend.127 Schließlich blieb der gesellschaftliche Widerspruch bestehen, dass die Entscheidung für eine Familie im Alter zum Nachteil geriet. Frauen oder Männer, die ihre Erwerbstätigkeit einschränkten, um sich der Familientätigkeit zu widmen, konnten nur eine geringe Rente erwarten, sie hatten schlechtere Aussichten auf eine zusätzliche betriebliche Altersversorgung und sie hatten auch weniger Mittel in West- und Ostdeutschland. Eine vergleichende Analyse des Familienlebens 1970 – 1992, Stuttgart 1994, S. 20 – 23. 123 Sibylle Meyer / Eva Schulze, Die Auswirkungen der Wende auf Frauen und Familien in den neuen Bundesländern, in: Sabine Gensior, Hg., Vergesellschaftung und Frauenerwerbsarbeit. Ost-West-Vergleiche, Berlin 1995. 124 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik (wie Anm. 53), S. 73 – 74; Karl Schwarz, Bericht 2000 über die demographische Lage in Deutschland, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 26 (2001), S. 7, 19. 125 Fischer / Fritzsche / Fuchs-Heinrich / Münchmeyer, Hauptergebnisse (wie Anm. 74), S. 14. 126 Engstler / Menning, Familie im Spiegel der amtlichen Statistik (wie Anm. 53), S. 77. 127 Heinz Peter Galler, Opportunitätskosten der Entscheidung für Familie und Haushalt, in: Sylvia Gräbe, Hg., Der private Haushalt als Wirtschaftsfaktor, Frankfurt am Main 1991; Günther Oppitz, Kind oder Konsum? Eine ökonomisch-psychologische Studie zur Verhaltensrelevanz von Werthaltungen junger Ehepaare, Boppard 1984.

424

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

zur individuellen Altersvorsorge durch Vermögensbildung. Die wirtschaftliche Förderung der Familien hatte zu geringen Umfang und glich die materiellen Nachteile nicht aus.128 Familie und Beruf waren immer schwer zu vereinbaren gewesen, aber die Probleme nahmen in den neunziger Jahren zu. In einer Welt, in der lange Ausbildungswege, steigende Mobilitätsanforderungen und eine hohe Arbeitslosigkeit die Lebensplanung nicht leicht machten, erschien die Familie oft als eine zusätzliche Bürde. Die langfristige, über die einzelne Generation hinausreichende Stabilität der familialen Beziehungen, die seit jeher die Besonderheit der Familie gegenüber anderen Institutionen ausmachte, passte schlecht in eine Zeit, die durch Umbrüche, raschen Wandel und Mobilitätsanforderungen gekennzeichnet war. Eine befriedigende Zeitallokation zwischen Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit war schwer zu realisieren. Die individuellen Lebensmodelle von jungen Eltern bewegten sich häufig zwischen der Einschränkung in der Familie oder im Beruf, oder der Überforderung durch eine doppelte Belastung.129 Die materielle Belastung der Familien und das Vereinbarkeitsproblem wurden insgesamt als „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ der Gesellschaft gegenüber der Familie charakterisiert.130 Insgesamt gab es im Übergang vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Jahrhundert verschiedene familiale und nichtfamiliale Lebensweisen nebeneinander, ohne dass sich ein neues gesellschaftliches Leitbild etabliert hätte. Im Trend nahmen die nichtfamilialen Lebensweisen von Alleinstehenden oder kinderlosen Paaren gegenüber den Familien zu, und unter den familialen Lebensweisen gewannen die alternativen Familienformen, seien es Alleinerziehende oder Familien mit unverheirateten Eltern, gegenüber der Standardfamilie von verheirateten Eltern mit Kindern an Bedeutung. Das bürgerliche Familienmodell mit seiner strikten Polarisierung der Geschlechterrollen ging zwar zurück, war aber immer noch verbreitet. Das entgegengesetzte Modell des Rollentauschs, nach dem die Ehefrau erwerbstätig war und der Ehemann die Familienarbeit erledigte, kam selten vor. Zwischen diesen Polen versuchten viele Familien, Erwerbsarbeit und Familienarbeit auf die eine oder andere Weise zu vereinbaren.131

128 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Optionen der Lebensgestaltung junger Eltern und Kinderwunsch. Verbundstudie – Endbericht, Stuttgart 1998. 129 Irene Hardach-Pinke, Über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Wien 1995; Franz-Xaver Kaufmann, Zukunft der Familie im vereinten Deutschland. Gesellschaftliche und politische Bedingungen, München 1995, S. 34 – 81. 130 Bundesministerium für Familie und Senioren, Fünfter Familienbericht (wie Anm. 5), S. 21 – 23; Kaufmann, Zukunft der Familie (wie Anm. 129), S. 169 – 188. 131 Claudia Born, Beruf und weiblicher Lebenslauf. Plädoyer für einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Frauenerwerbstätigkeit, in: Petra Beckmann / Gerhard Engelbrech, Hg., Arbeitsmarkt für Frauen 2000 – Ein Schritt vor oder ein Schritt zurück? Nürnberg. 1994; Brigitte Geissler, Arbeitswelt, Familie und Lebenslauf. Das Vereinbarungsdilemma und der Wandel im Geschlechterverhältnis, in: Laszlo A. Vaskovics / Heike Lipinski, Hg., Familiale Lebenswelten und Bildungsarbeit. Interdisziplinäre Bestandsaufnahme 1, Opladen 1996.

IV. Familie

425

2. Die Reform der Familienförderung Die Familienförderung war im vereinten Deutschland im wesentlichen durch die westdeutsche Tradition geprägt. Das westdeutsche System der Familienförderung wurde auf die neuen Bundesländer ausgedehnt. Im Laufe der neunziger Jahre wurden in der gesamtdeutschen Familienförderung die Leistungen der Familien für den Generationenvertrag stärker betont. Diese Entwicklung wurde auch durch das Bundesverfassungsgericht gefördert, das in zwei viel beachteten Entscheidungen 1992 und 1996 mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Familien für die Stabilität des Generationenvertrages eine angemessene Berücksichtigung der Familientätigkeit in der öffentlichen Rentenversicherung forderte.132 Besorgt wurde konstatiert, dass die individuelle Entscheidung für oder gegen Kinder „massive Konsequenzen für die institutionelle Struktur der Gesellschaft und die kollektiven Sicherungssysteme hat“.133 Der Ausbau der Familienförderung wurde auch mit der Theorie des Humankapitals begründet. Die Familien tragen durch die Pflege und die Erziehung der Kinder zum Aufbau des Humankapitals der Gesellschaft bei. Die Investitionen in das Humankapital nützen auch jenen Gesellschaftsmitgliedern, die keine Kinder aufziehen. Damit kann begründet werden, dass kinderlose Paare oder Alleinstehende durch einen Ausbau der staatlichen Familienförderung stärker als bisher an der Finanzierung des Humankapitals beteiligt werden.134 Die Leistungen der Familienförderung im Rahmen des dualen Modells wurden verbessert. Das Kindergeld für das erste Kind, das unabhängig vom Familieneinkommen war, wurde 1991 auf siebzig DM im Monat erhöht. Alle anderen Kindergeldsätze blieben unverändert. Im gleichen Jahr wurde der Steuerfreibetrag für jedes Kind auf 342 DM heraufgesetzt.135 Trotzdem dominierten bei den Einkommen der Jugendgeneration immer noch die familialen Transferleistungen. Der private Konsum der heranwachsenden Generation wurde 1992 in einem durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalt mit zwei Kindern in Westdeutschland zu 62 Prozent durch familiale Transferleistungen finanziert. In Ostdeutschland betrug aufgrund der niedrigen Einkommen und der relativ hohen öffentlichen Transferleistungen der Beitrag der Familien 48 Prozent.136 Wenn man den Zeitaufwand für die Betreuung 132 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1992. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 87, S. 1 – 48; Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1996. BVerfGE 94, S. 241 – 267. 133 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Zehnter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfe in Deutschland, Bonn 1998, S. 17. 134 Michael Auge, Humanvermögen, Sozialisation und Familienlastenausgleich. Zur vermögenstheoretischen Perspektive in der Familienpolitik, Spardorf 1984; Bundesministerium für Familie und Senioren, Fünfter Familienbericht (wie Anm. 2), S. 26 – 28. 135 Bernd Schäfer, Familienlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland. Darstellung und empirische Analyse des bestehenden Systems und ausgewählte Reformvorschläge, Frankfurt am Main 1996, S. 84 – 89.

426

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

der Kinder berücksichtigt, wurde der Gesamtaufwand für die heranwachsende Generation im gesamtdeutschen Durchschnitt sogar zu ungefähr 75 Prozent von den Familien getragen.137 Familien mit heranwachsenden Kindern hatten im Vergleich zu kinderlosen Haushalten im Durchschnitt pro Person eine Wohlstandseinbuße von ungefähr fünfzig Prozent.138 Mit der Reform von 1996 wurden die direkte und die indirekte Familienförderung getrennt. Die Familien hatten seitdem die Wahl zwischen dem Kindergeld oder dem Steuerfreibetrag. Das Kindergeld wurde heraufgesetzt, und die Einkommensbegrenzung wurde aufgehoben, da es nunmehr keine Kumulation der beiden Förderungsinstrumente mehr gab. Das Kindergeld betrug für das erste und zweite Kind 200 DM, für das dritte Kind 300 DM und für das vierte Kind und alle weiteren Kinder 350 DM. Das Kindergeld für das erste und zweite Kind wurde in mehreren Stufen angehoben, 1997 auf 220 DM, 1999 auf 250 DM und 2000 auf 270 DM. Die höheren Sätze für das dritte und vierte Kind und alle weiteren Kinder blieben unverändert. Auch die indirekte Familienförderung wurde verbessert. Der Steuerfreibetrag wurde 1996 auf 576 DM im Monat für jedes Kind heraufgesetzt. Für die meisten Familien war die direkte Familienförderung durch das Kindergeld die günstigere Option. Die indirekte Familienförderung wurde erst bei einer relativ hohen Progressionsstufe der Einkommensteuer attraktiv.139 Die neuen Instrumente der Familienförderung, der Erziehungsurlaub und das Erziehungsgeld, wurden im vereinten Deutschland ausgebaut. Der Erziehungsurlaub wurde 1992 auf drei Jahre ausgedehnt; er wurde seitdem als „Elternzeit“ bezeichnet. Die Elternzeit konnte von Müttern oder Vätern in Anspruch genommen werden, allerdings nutzten Väter diese Möglichkeit nur selten. In Westdeutschland war die Elternzeit für die Mütter oft der Beginn einer längeren Erwerbsunterbrechung. Viele Frauen hatten von Anfang an den Wunsch, nach dem Ende der Elternzeit nicht sofort in den Beruf zurückzukehren. Manche Frauen planten zunächst die Rückkehr in den Beruf, nahmen dann aber nach der Elternzeit ihre Erwerbstätigkeit nicht wieder auf, weil sie keine geeignete Stelle fanden oder weil sich die Lebensumstände änderten. In Ostdeutschland kehrten die Mütter dagegen im allgemeinen nach der Elternzeit in den Beruf zurück.140 Das Erziehungsgeld für Mütter oder Väter, die ihre Erwerbstätigkeit aufgaben oder einschränkten, um sich der Kindererziehung zu widmen, wurde 1993 auf zwei Jahre verlängert. Zunächst 136 Juliane Roloff, Familieneinkommen, Kinderkosten und deren Einfluß auf generative Lebensentscheidungen. Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Heft 82 d, Wiesbaden 1996, S. 69 – 72. 137 Max Wingen, Familienpolitik. Grundlagen und aktuelle Probleme, Bonn 1997, S. 186. 138 Kaufmann, Zukunft der Familie (wie Anm. 129), S. 115. 139 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbericht 2001 (wie Anm. 40), S. 466; Mechtild Veil, Frauenarbeit, Steuern und Familie: Familienbesteuerung aus der Sicht von Frauen, in: Zeitschrift für Frauenforschung, 3 (1995). 140 Barbara Bertram / Gisela Erler / Monika Jaeckel / Jürgen Sass, Europa im Umbruch – Wo steht die Familie? Einstellungen von Eltern im Ost-West-Vergleich, München 1995.

V. Alter

427

galt für die ersten sechs Monate weiterhin der einheitliche Betrag von 600 DM, der vom siebten Monat an in Abhängigkeit vom Einkommen reduziert wurde. 1994 wurde grundsätzlich eine Einkommensgrenze von 75.000 DM Jahreseinkommen für Ledige und 100.000 DM für Verheiratete eingeführt. Die Anerkennung von Erziehungszeiten als Beitragsjahre in der Rentenversicherung wurde 1991 auf drei Jahre für jedes Kind ausgedehnt. Im internationalen Vergleich nahm Deutschland unter den postindustriellen Gesellschaften in der Familienförderung einen mittleren Rang ein.141 Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern investierte der Staat aber mehr in die Vergangenheit als in die Zukunft des Generationenvertrages. Die Familienförderung blieb hinter dem öffentlichen Aufwand für die Alterssicherung weit zurück.142

V. Alter 1. Drittes und viertes Alter Die Lebenserwartung älterer Menschen stieg im vereinten Deutschland weiter an. In den Jahren 2000 – 2002 hatten im Alter von 65 Jahren die Männer noch eine Lebenszeit von 16 Jahren und die Frauen eine Lebenszeit von zwanzig Jahren zu erwarten.143 Rentner und Rentnerinnen erlebten einen längeren Ruhestand. Damit nahmen auch die Ansprüche der älteren Generation an die intergenerative Einkommensverteilung zu. Die steigende Lebenserwartung im Alter brachte es mit sich, dass die Zahl pflegebedürftiger älterer Menschen stark anstieg. Immer häufiger teilte sich der Ruhestand in eine aktive Phase, in der eine selbständige Lebensführung möglich war, und eine Spätphase der Pflegebedürftigkeit, die auch als „viertes Alter“ bezeichnet wurde. 1991 galten 3,2 Millionen Menschen in privaten Haushalten als hilfsbedürftig oder pflegebedürftig, überwiegend im hohen Alter.144 Die Bedeutung einer festen Alterszäsur für den Übergang von der Erwerbstätigkeit in den Ruhestand ging in den neunziger Jahren weiter zurück. Zur Entlastung 141 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gerechtigkeit für Familien (wie Anm. 70), S. 31 – 33; Jochen Clasen, Leistungen an Familien mit Kindern im internationalen Vergleich, in: Zeitschrift für Familienforschung, 6 (1994). 142 Anne-Marie Guillemard, Equity between generations in aging societies: The problem of assessing public policies, in: Tamara Hareven, Hg., Aging and generational relations over the life course, Berlin 1996. 143 Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 54. 144 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger – unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen, Bonn 2002, S. 53 – 54; Margret Dieck / Gerhard Naegele, „Neue Alte“ und alte soziale Ungleichheiten – vernachlässigte Dimensionen in der Diskussion des Altersstrukturwandels, in: Gerhard Naegele / Hans-Peter Tews, Hg., Lebenslagen im Strukturwandel des Alters. Alternde Gesellschaft – Folgen für die Politik, Opladen 1993.

428

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

des Arbeitsmarktes wurden neue Wege in einen vorzeitigen Ruhestand eröffnet. Ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen entschieden sich für einen frühen Übergang in ein arbeitsfreies Alter, oder wurden auch aus personalpolitischen Gründen aus den Betrieben gedrängt.145 Die Erwerbstätigkeit im Rentenalter nahm weiter ab.146 2003 waren von den älteren Menschen ab 65 Jahren nur noch ein Prozent erwerbstätig. Die Motive für die Fortsetzung der Erwerbstätigkeit im Rentenalter hatten sich gegenüber früheren Zeiten verändert. Ausschlaggebend war nicht mehr die Altersnot, sondern die Sinnstiftung durch die Arbeit. Das wird durch das Berliner Alters-Survey bestätigt, eine in den späten neunziger Jahren durchgeführte repräsentative Untersuchung der älteren deutschen Bevölkerung. Unter den Motiven, im Rentenalter weiterhin erwerbstätig zu sein, wurde am häufigsten die Möglichkeit genannt, noch etwas Sinnvolles tun zu können. An zweiter Stelle stand der Kontakt zu anderen Menschen, an dritter Stelle der Wunsch, Kenntnisse und Fähigkeiten einzusetzen. Das Interesse an einem Zusatzeinkommen zur Rente folgte erst an vierter Stelle. Und selbst wenn ältere Menschen an einem Zusatzverdienst interessiert waren, ließ sich schwer ein Arbeitsplatz finden.147 Neben das traditionelle Ziel, die Kontinuität des Lebenseinkommens im Alter zu sichern, trat zunehmend die gesellschaftliche Aufgabe, die erwerbsfreie Altersphase sinnvoll zu gestalten.148

145 Gerhard Bäcker / Gerhard Nägele, Alternde Gesellschaft und Erwerbstätigkeit. Modelle zum Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand, Köln 1993; K. Jacobs / W. Schmähl, Der Übergang in den Ruhestand. Entwicklungen, öffentliche Diskussion und Möglichkeiten seiner Umgestaltung, in: Mitteilungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 21 (1988); Holger Viebrok, Die Bedeutung institutioneller Arrangements für den Übergang in den Ruhestand, in: Lutz Leisering / Rainer Müller / Karl F. Schumann, Hg., Institutionen und Lebensläufe im Wandel. Institutionelle Regulierung von Lebensläufen, Weinheim 2001. 146 Christoph Behrend, Erwerbsarbeit im Wandel, Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer und Übergänge in den Ruhestand, in: Deutsches Zentrum für Altersfragen, Hg., Erwerbsbiographien und materielle Lebenssituation im Alter. Expertisen zum Dritten Altenbericht der Bundesregierung 2, Opladen 2001; Martin Kohli, Arbeitsmarktperspektiven und Tätigkeitsformen der Älteren in einer alternden Gesellschaft, in: Johann Behrens / Wolfgang Voges, Hg., Kritische Übergänge. Statuspassagen und sozialpolitische Institutionalisierung, Frankfurt am Main 1996; Martin Kohli, Arbeit im Lebenslauf: Alte und neue Paradoxien, in: Jürgen Kocka / Claus Offe, Hg., Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt am Main 2000. 147 Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 4), S. 74; Harald Künemund, „Produktive“ Tätigkeiten, in: Martin Kohli / Harald Künemund, Hg., Die zweite Lebenshälfte. Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey, Opladen 2000. 148 Claudia Gather, Konstruktionen von Geschlechterverhältnissen. Machtstrukturen und Arbeitsteilung bei Paaren im Übergang in den Ruhestand, Berlin 1996; Annette Niederfranke, Ältere Frauen in der Auseinandersetzung mit Berufsaufgabe und Partnerverlust, Stuttgart 1992; Annette Niederfranke, Geschlechtszugehörigkeit, Alter und Armut. Biographische und sozial-psychologische Aspekte, in: Annette Niederfranke, Ursula M. Lehr / Frank Oswald / Gabriele Maier, Hg., Altern in unserer Zeit, Heidelberg 1992.

V. Alter

429

2. Zukunftsängste in der Rentenversicherung Die Rentenreform, die 1989 verabschiedet worden war, wurde in den neuen Bundesländern bereits zum 1. Januar 1991 mit der Übernahme des westdeutschen Rentensystems eingeführt. Als Träger der Arbeiter-Rentenversicherung wurden fünf neue Landesversicherungsanstalten für Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen eingerichtet. Leistungen und Beiträge wurden auf das westdeutsche Rentenmodell umgestellt, und dabei wurden von Anfang an die 1989 beschlossenen Änderungen angewandt. Die ostdeutschen Renten wurden in den folgenden Jahren an die westdeutschen Renten angeglichen. Bei der Rentenberechnung wurden nicht die zu Zeiten der staatssozialistischen Planwirtschaft gezahlten niedrigen Löhne angewandt, sondern Äquivalenzeinkommen, die den westdeutschen Löhnen entsprachen.149 In den alten Bundesländern trat die Rentenreform wie vorgesehen ein Jahr später, zum 1. Januar 1992, in Kraft. Die wichtigste Neuerung war der Übergang von der Bruttoanpassung zur Nettoanpassung der Renten an die Löhne und Gehälter. Die Nettostandardrente, die ein Erwerbstätiger nach 45 Beitragsjahren erreichen konnte, sollte siebzig Prozent des aktuellen Nettolohns entsprechen.150 Die Kindererziehung wurde bei der Rentenreform stärker als bisher berücksichtigt. Mütter oder Väter, deren Kinder nach 1991 geboren waren und die sich ausschließlich der Kindererziehung widmeten, konnten drei Erziehungsjahre ohne eigene Zahlung als Beitragsjahre anrechnen lassen. Grundlage für die Beitragsberechnung war ein Einkommen in Höhe von 75 Prozent des Durchschnittslohns. Diese Regelung war allerdings immer noch unzulänglich, da die Einkommensunterbrechung durch die Kindererziehung oft wesentlich länger als drei Jahre dauerte. Das Bundesverfassungsgericht mahnte im Juli 1992 eine angemessene Berücksichtigung der Familientätigkeit in der Rentenversicherung an. Trotz einiger staatlicher Bemühungen um einen Familienlastenausgleich sei es dabei geblieben, „daß die Kindererziehung als Privatsache, die Alterssicherung dagegen als gesellschaftliche Aufgabe gilt“. Der Gesetzgeber sei zwar nicht verpflichtet, die generativen Leistungen der Familien in vollem Umfang den monetären Leistungen der Beitragszahler gleichzusetzen. Er müsse jedoch den Mangel des Rentensystems, der in der Benachteiligung der Familien liege, „in weiterem Umfang als bisher“ ausgleichen.151 Im März 1996 betonte das Bundesverfassungsgericht erneut, dass die Familientätigkeit in der öffentlichen Rentenversicherung stärker berücksichtigt werden müsse. „Die Erziehung von Kindern dient der Sicherung des Renten149 Detlev Merten, Rentenversicherung und deutsche Wiedervereinigung, in: Stefan Fisch / Ulrike Haerendel, Hg., Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland. Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherung im Sozialstaat, Berlin 2000. 150 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 18. Dezember 1989. BGBl. 1989 I, S. 2261 – 2395. 151 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1992. BVerfGE 87, S. 1 – 48.

430

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

systems und hat unter der Geltung eines vom sogenannten Generationenvertrag getragenen Umlageverfahrens für die Rentenversicherung Garantiefunktion“.152 Nach der Intervention des Bundesverfassungsgericht wurden die Erziehungszeiten seit 2000 mit dem vollen durchschnittlichen Erwerbseinkommen angerechnet. Ein Problem bleib, dass die Anerkennung einer dreijährigen Erziehungszeit nicht der tatsächlichen Dauer der Familientätigkeit und ihren Konsequenzen für die Rente entsprach.153 Ein wichtiger Aspekt in der Reformdebatte war die Finanzierung der sozialpolitischen Leistungen, die nicht dem Äquivalenzprinzip von Beiträgen und Leistungen entsprachen. Als sozialpolitische Leistungen galten nach dem Äquivalenzprinzip die Renten, die ohne äquivalente Beitragsleistung gewährt wurden. Das galt für die Anerkennung von Kriegsdienstzeiten, für die Anerkennung von Erwerbsphasen im Ausland, besonders bei Einwanderern deutscher Abstammung aus Russland und anderen osteuropäischen Staaten, und auch für die Renten in den neuen Bundesländern. Zu diesen Leistungen, mit denen Defizite in den Erwerbsbiographien ausgeglichen wurden, kamen als systematische Leistung die Renten, die aufgrund von Erziehungszeiten gewährt wurden. Seit der Rentenreform von 1989 sollte der Bundeszuschuss, der zur Finanzierung der sozialpolitischen Aufgaben vorgesehen war, mit der Erhöhung des Beitragssatzes steigen. Nach Berechnungen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger reichte der Bundeszuschuss jedoch zur Finanzierung der sozialpolitischen Leistungen nicht aus. 1995 beliefen sich die sozialpolitischen Leistungen auf 34 Prozent aller Ausgaben der Rentenversicherung, der Bundeszuschuss betrug dagegen nur zwanzig Prozent der gesamten Einnahmen. Wenn der Staat die finanzielle Verantwortung für die sozialpolitischen Leistungen übernähme und seinen Zuschuss entsprechend erhöhte, konnte nach dieser Schätzung der Beitragssatz zur öffentlichen Rentenversicherung um zwei Prozentpunkte verringert werden.154 Die finanzielle Konsolidierung der öffentlichen Rentenversicherung, die das Ziel der Rentenreform von 1989 war, wurde nicht erreicht. Die Reform war kaum in Kraft getreten, als die Erwartungen schon durch neue Kostensteigerungen enttäuscht wurden. Der demographische Wandel, die Arbeitsmarktkrise und auch die erweiterten sozialpolitischen Aufgaben der öffentlichen Rentenversicherung machten neue Beitragserhöhungen notwendig. Als politisch sensibel galt die Schwelle von zwanzig Prozent der Löhne und Gehälter für den von Arbeitgebern und Ar152

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1996. BVerfGE 94, S. 241 –

267. 153 Amend-Wegmann, Vereinbarkeitspolitik in Deutschland (wie Anm. 83), S. 295 – 297; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gerechtigkeit für Familien (wie Anm. 70), S. 33. 154 Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Versicherungsfremde Leistungen – sachgerecht finanzieren! Fakten und Argumente, Heft 5, Frankfurt am Main 1997; Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Rentenversicherung in Zeitreihen 2004 (wie Anm. 33), S. 222.

V. Alter

431

beitnehmern gemeinsam aufzubringenden Beitrag. Die Grenze war willkürlich festgelegt, gewann aber in der Rentendebatte sehr bald eine erhebliche Autorität. 1997 stieg der Beitragssatz über diese Grenze hinaus und erreichte 20,3 Prozent.155 Weitere Beitragserhöhungen waren abzusehen. 1998 wurde geschätzt, dass der Beitragssatz zur Rentenversicherung bei einer Fortschreibung der aktuellen institutionellen Bedingungen bis 2030, wenn die letzten geburtenstarken Jahrgänge das Rentenalter erreichen, auf 26 bis 27 Prozent erhöht werden müsste.156 Die steigenden Kosten hatten zur Folge, dass die Kritik an der öffentlichen Rentenversicherung zunahm. Die Verknüpfung der Renten mit der Lohnentwicklung und die Umlagefinanzierung, die den Kern des Rentenversicherungsmodells von 1957 ausmachten, galten unter den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vielfach als problematisch.157 Als Alternativen wurden die Modelle vorgeschlagen, die aus den achtziger Jahren bekannt waren. Das Kapitaldeckungsmodell kam dem neoliberalen Zeitgeist in der Wirtschaftswissenschaft entgegen und wurde daher ausführlich diskutiert.158 Allerdings boten auch die neueren Beiträge keine Lösung zu den bekannten Problemen eines Kapitaldeckungsmodells an. Wesentliche Aspekte des Zukunftsszenarios blieben umstritten. Die größere Rentabilität des Kapitaldeckungsverfahrens wurde mit den Renditen begründet, die in den letzten Jahren am Kapitalmarkt erzielt wurden. Es wurde aber nicht berücksichtigt, dass die Renditen sinken konnten, wenn das für die Rentenfinanzierung notwendige riesige Versicherungskapital auf den Kapitalmarkt drängte. Es gab auch kein Konzept, wie die Risiken einer Kapitalmarktanlage aufgefangen werden sollten, obwohl gerade für die Alterssicherung die Verlässlichkeit ein wesentliches Kriterium war.159 Das entscheidende Problem war aber nach wie vor die Übergangsphase, in der die aktuelle erwerbstätige Generation eine doppelte Belastung zu tragen hätte, um die bestehenden Rentenansprüche zu erfüllen und Rentenversicherung in Zeitreihen 2004 (wie Anm. 33), S. 243. Konrad Eckerle / Thomas Oczipka, Auswirkungen veränderter ökonomischer und rechtlicher Rahmenbedingungen auf die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland. Prognos Gutachten 1998. Hg. vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger. Frankfurt am Main 1998, S. 117. 157 Martin Werding, Zur Rekonstruktion des Generationenvertrages, Tübingen 1998. 158 Axel Börsch-Supan, Übergangsmodelle vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren in der deutschen Rentenversicherung, in: Barbara Seel, Hg., Sicherungssysteme in einer alternden Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998; Hans H. Glismann / Ernst-Jürgen Horn, Die Krise des deutschen Systems der staatlichen Alterssicherung, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, 46 (1995); Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Reformen voranbringen. Jahresgutachten 1996 / 97, Stuttgart 1996; Anke Steenbock, Private Alterssicherung über den Kapitalmarkt, Wiesbaden 1999. 159 Irene Rößler, Modelle überlappender Generationen. Zur Begründung der Eingriffsnotwendigkeit des Staates bei der Alterssicherung, Frankfurt am Main 1997; Winfried Schmähl, Alterssicherung in Deutschland. Weichenstellungen für die Zukunft – Konzeptionen, Maßnahmen und Wirkungen, in: Stephan Leibfried / Uwe Wagschal, Hg., Der deutsche Sozialstaat. Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt am Main 2000, S. 405 – 413. 155 156

432

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

gleichzeitig eine eigene kapitalgedeckte Altersvorsorge aufzubauen. Bei einer optimistischen Modellrechnung wurde in Aussicht gestellt, dass die Kapitaldeckung nach einer Übergangsfrist von ungefähr zwanzig Jahren zu einer Entlastung führen könnte.160 Andere Befürworter einer kapitalgedeckten Rentenversicherung erwarteten, dass der Übergang zur Kapitaldeckung erst nach vierzig bis fünfzig Jahren zu einer Senkung der laufenden Beitragsbelastung führen werde.161 Ein Systemwandel der Rentenversicherung von der Umlagefinanzierung zur Kapitaldeckung fand daher in der Politik keine Resonanz. Eine kapitalgedeckte Altersvorsorge wurde jedoch als Ergänzung der Rentenversicherung empfohlen.162 Das Grundsicherungsmodell, das eine allgemeine Grundrente für alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vorsah, fand im Übergang vom zwanzigsten Jahrhundert zum einundzwanzigsten Jahrhundert nur noch wenige Befürworter. Der sozialpolitische Trend ging von der öffentlichen Versorgung zur individuellen Vorsorge. Ein Systemwechsel von der beitragsfinanzierten Rentenversicherung zu einer steuerfinanzierten Grundsicherung passte nicht in dieses Bild und wurde auch nicht ernsthaft erwogen. Die Grundsicherung ging jedoch, ähnlich wie das Kapitaldeckungsprinzip, in die Überlegungen zur Differenzierung der Alterssicherung ein.163 Nur acht Jahre nach dem Übergang zur Nettoanpassung folgte mit der Rentenreform von 1997 ein neuer Versuch, die öffentliche Rentenversicherung langfristig zu konsolidieren. Um den Beitragssatz zu stabilisieren, sollte die Dynamisierung der Renten durch die Einführung eines „demographischen Faktors“ in die Rentenberechnung gebremst werden. Wenn der Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung zu einer Verlängerung der Ruhestandsphase führte und sich dadurch die Relation zwischen den beitragspflichtigen Erwerbstätigen und den Rentnern oder Rentnerinnen veränderte, sollten die Renten nicht mehr zu hundert Prozent an den Anstieg der Löhne und Gehälter angepasst werden. Der neue, etwas geringere Anpassungsfaktor sollte aus der Zunahme der Lebenserwartung errechnet werden. 160 Börsch-Supan, Übergangsmodelle vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren (wie Anm. 158), S. 211. 161 Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1996 / 97 (wie Anm. 158), S. 235 – 242; Horst Siebert, Umlagesystem versus Kapitaldeckung in der Alterssicherung. Kieler Arbeitspapiere 817, Kiel 1997, S. 26. 162 Hermann Remsberger, Perspektiven der Alterssicherung in Deutschland, in: Stephan Leibfried / Uwe Wagschal, Hg., Der deutsche Sozialstaat. Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt am Main 2000. 163 Gerhard Bäcker, Zum Verhältnis von Sozialversicherung und Grundsicherung: Bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter, in: Irene Becker / Notburga Ott / Gabriele Rolf, Hg., Soziale Sicherung in einer dynamischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 2001; Karl Hinrichs, Auf dem Weg zur Alterssicherungspolitik – Reformperspektiven in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Stephan Leibfried / Uwe Wagschal, Hg., Der deutsche Sozialstaat. Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt am Main 2000, S. 288; Winfried Schmähl, Mindestsicherung im Alter. Erfahrungen, Herausforderungen, Strategien, Frankfurt am Main 1993; Winfried Schmähl, Alterssicherungssysteme aus gesamtwirtschaftlicher und ordnungspolitischer Sicht, in: Wirtschaftsdienst, 76 (1996), S. 411 – 412.

V. Alter

433

Das Niveau der Standardrente sollte dadurch bis 2030 von siebzig auf 64 Prozent der Nettolöhne gesenkt werden. Die Rentenreform war politisch umstritten. Die SPD widersprach vehement dem Plan, das Rentenniveau abzusenken.164 Der Bundestag beschloss schließlich die Reform im Oktober 1997 mit einer knappen Mehrheit.165 Um die Rentenversicherung weiter zu entlasten, wurde der staatliche Zuschuss erhöht. Zur Finanzierung der höheren Subventionen wurde die Mehrwertsteuer von 15 auf 16 Prozent heraufgesetzt.166 Der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung stieg daraufhin bis 2003 auf 26 Prozent der Einnahmen an.167 Nach dem Regierungswechsel vom September 1998 wurde die Anwendung des demographischen Faktors im Dezember 1998 suspendiert.168 Um die Einnahmen der Rentenversicherung zu erhöhen, wurden im März 1999 Erwerbstätige in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen in die Sozialversicherung einbezogen.169 Diese Finanzierungsquelle war sozialpolitisch umstritten, weil sie dem Äquivalenzprinzip der Sozialversicherung widersprach. Die geringfügig Beschäftigten leisteten zwar Beiträge zur Rentenversicherung, konnten aber aufgrund der niedrigen Löhne und der kurzen Dauer ihrer Erwerbstätigkeit im allgemeinen keine Alterversorgung erwarten. Durch die Rentenreformen der späten neunziger Jahre konnte der Rentenbeitrag 1999 auf 19,5 Prozent und 2000 auf 19,3 Prozent gesenkt werden.170 Die Verbesserung war jedoch nur kurzfristig. Als neue Beitragserhöhungen drohten, erhielt die Stabilisierung des Beitragssatzes wieder Priorität gegenüber der Niveausicherung. In der Rentenreform von 2001 wurde als Ziel definiert, dass der Beitrag zur öffentlichen Rentenversicherung bis 2020 nicht über zwanzig Prozent und bis 2030 nicht über 22 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme steigen soll. Um das Beitragsziel zu erreichen, wurde das Rentenniveau deutlich abgesenkt. Die 1989 eingeführte Nettoanpassung wurde durch eine modifizierte Bruttoanpassung abgelöst. Die Nettoanpassung war inzwischen teuer geworden, weil nach den Steuersenkungen, die aus konjunkturpolitischen Gründen durchgeführt wurden, die Nettolöhne und damit auch die Renten stärker stiegen als die Bruttolöhne. Bei der Berechnung der Löhne, an denen sich die Rente orientiert, sollten deshalb künftig vom Bruttoeinkommen nur noch die Rentenbeiträge und andere Vorsorgeleistun164 Bundestagssitzung vom 10. Oktober 1997. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, 13. Wahlperiode, Bd. 189, S. 17847 – 17893. 165 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 16. Dezember 1997 (wie Anm. 36), S. 2998 – 3038. 166 Gesetz zur Finanzierung eines zusätzlichen Bundeszuschusses vom 19. Dezember 1997 (wie Anm. 36), S. 3121 – 3126. 167 Rentenversicherung in Zeitreihen 2004 (wie Anm. 33), S. 222. 168 Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung vom 19. Dezember 1998 (wie Anm. 37), S. 3843 – 3852. 169 Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse vom 24. März 1999 (wie Anm. 38), S. 388 – 395. 170 Rentenversicherung in Zeitreihen 2004 (wie Anm. 33), S. 243.

28 Hardach

434

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

gen, aber nicht mehr die Steuern abgezogen werden. Außerdem sollte die Anpassung der Renten an die Löhne und Gehälter bis 2009 schrittweise auf neunzig Prozent herabgesetzt werden. Die Reduzierung war nicht von der demographischen Entwicklung abhängig, wirkte aber ähnlich wie die Reform von 1997. Die Nettostandardrente sollte durch die Sparmaßnahmen bis 2030 auf 64 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns zurückgehen.171 Die durchschnittliche Rente wird damit deutlich unter fünfzig Prozent des Nettolohns sinken. Bei steigenden Reallöhnen können die Renten weiterhin absolut steigen, aber der Abstand zu den Löhnen und Gehältern wird größer werden.172 Die Bedeutung der öffentlichen Rentenversicherung für die Alterssicherung würde dadurch erheblich zurückgehen. Die Rentenreform wurde daher auch als „Einstieg in den allmählichen Ausstieg aus einer einkommensbezogenen gesetzlichen Rente“ kritisiert.173 Da durch die geplante Absenkung des Rentenniveaus viele Renten auf das Sozialhilfeniveau sinken werden, wurde eine „Grundsicherung“ im Alter oder bei Invalidität eingeführt. Die Grundsicherung ist eine staatlich finanzierte Unterstützung für Rentner oder Rentnerinnen. Die Leistungen sollen um 15 Prozent über der Sozialhilfe liegen. Die Kinder sind nicht zur Unterstützung der Eltern verpflichtet, sofern ihr Jahreseinkommen nicht 100.000 Euro übersteigt. Die Träger der Grundsicherung sind wie bei der Sozialhilfe die Gemeinden.174 Die von der Regierung vorschnell als „Jahrhundertreform“ gepriesene Rentenreform von 2001 wurde schon nach wenigen Jahren nachgebessert, da nach neueren Prognosen die Absenkung des Rentenniveaus nicht ausreichte, um den Beitragssatz zu stabilisieren. Mit der Rentenreform von 2004 wurde ein neuer „Nachhaltigkeitsfaktor“ beschlossen, um das Rentenniveau stärker zu reduzieren. Der Nachhaltigkeitsfaktor sieht vor, dass das Rentenniveau gesenkt wird, wenn sich durch den Anstieg der Lebenserwartung oder durch eine Abnahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung die Relation zwischen beitragszahlenden Beschäftigten und Rentnern oder Rentnerinnen verschlechtert. Wenn sich die Relation von Beitragszahlern und Beitragszahlerinnen zu Leistungsempfängern und Leistungsempfängerinnen verbessert, könnte der Anpassungsfaktor auch steigen; aber das gilt als unwahrscheinlich. Außerdem sollen die Renten sich nach der Reform von 2004 künftig nicht mehr an der Lohnsumme, sondern an der Summe aus beitragspflichtigen Arbeitseinkommen und Arbeitslosengeld orientieren. Ausgenommen sind da171 Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 21. März 2001 (wie Anm. 37), S. 403 – 418. 172 Hinrichs, Auf dem Weg zur Alterssicherungspolitik (wie Anm. 163); Wolfgang Rombach, Anpassung mit Transparenz, in: Bundesarbeitsblatt, 6 – 7 / 2001, S. 37; Holger Viebrok / Ralf K. Himmelreicher / Winfried Schmähl, Private Vorsorge statt gesetzlicher Rente: Wer gewinnt, wer verliert? Münster 2004, S. 43 – 50. 173 Winfried Schmähl, Wem nutzt die Rentenreform? Offene und versteckte Verteilungseffekte des Umstiegs zu mehr privater Altersvorsorge, in: Die Angestelltenversicherung. Zeitschrift der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, 50 (2003), S. 354. 174 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 26. Juni 2001 (wie Anm. 37), S. 1310 – 1343.

V. Alter

435

mit die geringfügigen Einkommen, die Beamtenbezüge und alle Einkommensbestandteile, die oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegen. Auch das soll zur Senkung des Rentenniveaus beitragen.175 Die Bruttostandardrente, die seit der Rentenreform von 2001 als Basis für die Berechnung des Rentenniveaus gilt, soll nach den aktuellen Prognosen über den demographischen Wandel und die wirtschaftliche Entwicklung bis 2020 auf 46 Prozent und bis 2030 auf 43 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Bruttolöhne gesenkt werden. Da die Renten auch künftig durch Steuern und Beiträge weniger belastet werden als die Erwerbseinkommen, wird die Nettostandardrente bis 2030 auf ungefähr 52 Prozent der Nettolöhne zurückgehen. Die Durchschnittsrente wird wesentlich niedriger sein. Mit der Reform von 2004 soll es gelingen, die 2001 definierten Beitragsziele einzuhalten und den Beitragssatz bis 2020 auf zwanzig Prozent, bis 2030 auf 22 Prozent der Löhne und Gehälter zu begrenzen.176 Im Zuge der Reformen wurde auch die institutionelle Struktur der Rentenversicherung modernisiert. Die verschiedenen Träger der Rentenversicherung werden seit Oktober 2005 in der „Deutschen Rentenversicherung“ zusammengefasst. Trotz der anhaltenden Diskussionen über die steigenden Kosten behauptete die öffentliche Rentenversicherung sich zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhundert als die wichtigste Grundlage der Alterseinkommen. Anfang 2004 gab es in Deutschland 18 Millionen Rentner und Rentnerinnen mit einer Alters- oder Invalinenrente; außerdem erhielten sechs Millionen Witwen oder Witwer und Waisen eine Hinterbliebenenrente. Durch die steigende Erwerbstätigkeit der Frauen und die Gleichstellung von Witwen und Witwern in der Hinterbliebenenversorgung waren die Hinterbliebenenrenten häufiger als früher mit eigenen Renten verbunden, die Beträge wurden aber teilweise verrechnet. Im Durchschnitt traten die Erwerbstätigen, ohne die Knappschaftsversicherung mit ihren besonderen Bedingungen, mit sechzig Jahren in die Rente ein. Die durchschnittliche Lebenszeit nach dem Eintritt in die Rente betrug 2003 für Männer 15 Jahre und für Frauen 19 Jahre.177 Die Nettostandardrente stieg bis Anfang 2004 auf 1077 Euro und entsprach damit siebzig Prozent des durchschnittlichen Nettoerwerbseinkommens. Viele Rentner und Rentnerinnen erfüllten jedoch nicht die Voraussetzungen der Standardrente. Die Durchschnittsrente war wesentlich niedriger; sie betrug 733 Euro und erreichte damit nur 47 Prozent des durchschnittlichen Nettoerwerbseinkommens.178 In dem statistischen Wert der Durchschnittsrente verbargen sich unterschiedliche individuelle Renten. Die anfangs noch niedrigen Renten in Ostdeutschland wurden durch das neue Berechnungsverfahren an die westdeutschen Renten angeglichen. 175 Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen vom 21. Juli 2004 (wie Anm. 44), S. 1791 – 1805. 176 Winfried Hain / Albert Lohmann, Eckhard Lübke, Veränderungen bei der Rentenanpassung durch das „RV-Nachhaltigkeitsgesetz“, in: Deutsche Rentenversicherung, 6 – 7 / 2004. 177 Rentenversicherung in Zeitreihen 2004 (wie Anm. 33), S. 111, 133, 146 – 149, 245. 178 Rentenversicherung in Zeitreihen 2004 (wie Anm. 33), S. 147 – 148, 160 – 161, 238.

28*

436

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

Seit den späten neunziger Jahren waren die ostdeutschen Renten höher als die westdeutschen Renten, weil die Rentner und vor allem die Rentnerinnen im allgemeinen eine längere Erwerbsbiographie hinter sich hatten. Da das Rentensystems aus der Erwerbsbiographie abgeleitet war, gab es große Unterschiede in den Renten von Männern und Frauen. Die meisten Rentner konnten mit ihrer Alters- oder Invalidenrente am allgemeinen Lebensstandard teilhaben. Viele Rentnerinnen hatten dagegen sehr niedrige Renten, die nicht weit vom Niveau der Sozialhilfe entfernt waren. Tabelle 24 Durchschnittliche Renten 2004 (Euro) West

Ost

Rentner

982

1037

Rentnerinnen

483

665

Quelle: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Rentenversicherung in Zeitreihen, Frankfurt am Main 2004, S. 160 – 161. – Zahlen zum 1. Januar 2004.

3. Die Bremer Stadtmusikanten a) Die Differenzierung der Alterssicherung als sozialpolitisches Leitbild Der Esel, der Hund, die Katze und der Hahn verbündeten sich, um gemeinsam die Altersarmut zu überwinden. Eigentlich wollten sie nach Bremen wandern, um dort als Stadtmusikanten ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber dann gelangten sie unterwegs an ein Räuberhaus, vertrieben die Bewohner und richteten sich dort behaglich ein; „den vier Bremer Musikanten gefiel’s aber so wohl darin, dass sie nicht wieder heraus wollten“.179 In der postindustriellen Gesellschaft des späten zwanzigsten Jahrhundert wurde vielfach nach dem Modell der Bremer Stadtmusikanten eine Differenzierung der Alterseinkommen empfohlen, um damit die Probleme aufzufangen, die durch den demographischen Wandel, die Abschwächung des Wirtschaftswachstum und die Grenzen des Sozialstaats hervorgerufen wurden.180 In der Bundesrepublik Deutschland wurde schon seit Anfang der siebziger Jahre eine Differenzierung der Alterssicherung gefordert. Obligatorische Elemente sollten nach dem deutschen Modell die öffentliche Rentenversicherung und die staatlichen Pensionssysteme sein. Die betriebliche Altersversorgung und die indivi179 Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen (1812), 3 Bde., Frankfurt am Main 1974, Bd. 1, S. 184. 180 Gerd Hardach, Optionen der Altersvorsorge im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 48 (2003), S. 26 – 28.

V. Alter

437

duelle Vermögensbildung sollten freiwillige Optionen der Haushalte und Unternehmen sein. Die Weltbank warnte in den frühen neunziger Jahren dramatisch vor einer „old age crisis“. Ein Team aus zahlreichen Experten und Expertinnen empfahl den postindustriellen Gesellschaften, von der dominanten öffentlichen Alterssicherung, sei es durch eine öffentliche Rentenversicherung oder ein anderes öffentliches Rentensystem, zu einem „multipillar system“ der Altersicherung zu wechseln. Die erste Säule des „Mehrsäulensystems“ sollte ein öffentliches, durch Steuern oder Pflichtbeiträge finanziertes Rentensystem als Grundsicherung sein. Als zweite Säule wurde eine obligatorische kapitalgedeckte Altersvorsorge in der Form eines individuellen Sparprogramms oder einer betrieblichen Altersversorgung empfohlen. Als dritte Säule sollte es eine freie individuelle Vermögensbildung geben für Personen, die eine bessere Alterssicherung wünschten und finanzieren konnten.181 Seit der Rentenreform von 2001 gelten in Deutschland die Betriebsrenten und die Vermögenseinkommen nicht mehr als Ergänzungen der Sozialversicherungsrente, mit denen ein gehobenes Alterseinkommen erreicht wird, sondern als notwendiger Ersatz für die Rentenkürzungen. Die betriebliche Versorgung und die Vermögensbildung sollen aber freiwillig bleiben, auch wenn gelegentlich eine zusätzliche Pflichtversorgung angedroht wird. b) Die Pflegeversicherung Neben der Rentenversicherung trugen auch andere Zweige der Sozialversicherung wie die Unfallversicherung, die Krankenversicherung, die Arbeitslosenversicherung und vor allem die neue Pflegeversicherung zu den Alterseinkommen bei. Die wachsenden Kosten einer intensiven Pflege waren auch mit relativ soliden Alterseinkommen kaum noch zu finanzieren. Sie konnten ältere Menschen in Not stürzen, die nie daran gedacht hätten, die Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Deshalb wurde die Sozialversicherung 1994 um die Pflegeversicherung erweitert. Die neue Versicherung sollte die Lücke zwischen der Krankenversicherung und der Alterssicherung decken. Die Pflegeleistungen wurden sehr bescheiden bemessen, um die Beiträge in Grenzen zu halten. Der Beitragssatz betrug 1,7 Prozent.182 Die Pflegeversicherung geriet rasch in ein Dilemma zwischen den notwendigen Leistungen und den ebenso notwendigen, politisch aber schwer durchsetzbaren Beitragserhöhungen. Trotz des niedrigen Leistungsniveaus hatte das Altern der Gesellschaft zur Folge, dass die Kosten der Pflegeversicherung stark zunahmen und weiter zunehmen werden.183 Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts 181 World Bank, Averting the old age crisis. Policies to protect the old and promote growth, New York 1994. 182 Jörg Alexander Meyer, Der Weg zur Pflegeversicherung. Positionen – Akteure – Politikprozesse, Frankfurt am Main 1996; Ulrich Schneekloth / Udo Müller, Wirkungen der Pflegeversicherung, Baden-Baden 2000. 183 Heinz Rothgang / Anke Vogler, Die zukünftige Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahre 2040 und ihre Einflußgrößen, Bremen 1997.

438

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

wurde geschätzt, dass der Beitragssatz im Jahr 2030 auf 2,7 bis 3,1 Prozent der Löhne und Gehälter steigen könnte.184 Es gibt aber kaum Einsparungsmöglichkeiten, die Leistungen müssten im Gegenteil erheblich erhöht werden, wenn sie den Pflegebedarf finanzieren sollen. Wer in einem Altersheim lebte, hatte 2000 in der Pflegestufe drei nach Abzug der Leistungen der Pflegeversicherung in Westdeutschland im Durchschnitt 2717 DM und in Ostdeutschland 1570 DM monatlich zu zahlen. Da die Pflegebedürftigkeit zunimmt, werden unter diesen Bedingungen ältere Menschen trotz der Pflegeversicherung wieder stärker als bisher nach einem langen Arbeitsleben auf die Sozialhilfe angewiesen sein.185 Da die Pflegeversicherung ein wesentliches Element des Generationenvertrages geworden ist, wird verlangt, dass neben der Erwerbstätigkeit auch die Familientätigkeit als Grundlage für einen Leistungsanspruch anerkannt werden soll. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom April 2001 ist es nicht verfassungsgemäß, dass Mitglieder der Pflegeversicherung, die Kinder erziehen, gleiche Beiträge zahlen wie Mitglieder ohne Kinder. Weil die Betreuung und Erziehung von Kindern bei der Beitragsbemessung nicht berücksichtigt wird, „wird die Gruppe Versicherter mit Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern, die aus dieser Betreuungs- und Erziehungsleistung Nutzen ziehen, in verfassungswidriger Weise benachteiligt.“ Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen, durch die Mitglieder der Pflegeversicherung mit einem oder mehreren Kindern entlastet werden.186 c) Berufliche Alterssicherung Die berufliche Altersversorgung, zu der die öffentlichen Pensionssysteme, die betriebliche Altersversorgung und die besonderen Alterssicherungssysteme der Selbständigen gehörten, wurde nach der Wiedervereinigung auf die neuen Bundesländer übertragen.187 Die öffentlichen Empfehlungen zu einem Ausbau der betrieblichen Altersversorgung stießen in den neunziger Jahren bei den Unternehmen auf Zurückhaltung. Die Wirtschaftskrise war keine günstige Situation, um die Un184 Hof, Auswirkungen und Konsequenzen der demographischen Entwicklung (wie Anm. 34), S. 210 – 212. 185 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation (wie Anm. 144), S. 87 – 88. 186 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. April 2001. BVerfGE 103, S. 263, 270. 187 Harald Deisler, Die Alterssicherung der Landwirte, in: Jörg E. Cramer / Wolfgang Förster / Franz Ruland, Hg., Handbuch zur Altersversorgung. Gesetzliche, betriebliche und private Vorsorge in Deutschland, Frankfurt am Main 1998; Uwe Fachinger / Angelika Oelschläger / Winfried Schmähl, Alterssicherung von Selbständigen. Bestandsaufnahme und Reformoptionen, Münster 2004; Michael Jung, Berufsständische Versorgung, in: Jörg E. Cramer / Wolfgang Förster / Franz Ruland, Hg., Handbuch zur Altersversorgung. Gesetzliche, betriebliche und private Vorsorge in Deutschland, Frankfurt am Main 1998.

V. Alter

439

ternehmen zu einer Ausweitung der betrieblichen Sozialleistungen zu bewegen. Außerdem herrschte in vielen Unternehmen die Auffassung, dass die betriebliche Altersversorgung nur geringe personalpolitische Bedeutung hatte.188 So wurde die betriebliche Altersversorgung eher eingeschränkt als ausgeweitet. In Westdeutschland nahmen 1990 in der Industrie siebzig Prozent der Beschäftigten und im Handel 29 Prozent der Beschäftigten an der betrieblichen Altersversorgung teil. 1999 war die Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung in der Industrie auf 64 Prozent und im Handel auf 28 Prozent der Beschäftigten zurückgegangen. In Ostdeutschland wurde die betriebliche Altersversorgung, die es zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik nicht gegeben hatte, nach der Wiedervereinigung eingeführt. Der Verbreitungsgrad war in den neunziger Jahren aber noch gering. 1999 waren in Ostdeutschland in der Industrie 16 Prozent und im Handel zwanzig Prozent der Beschäftigten in die betriebliche Altersversorgung integriert.189 Obwohl die Sozialpolitik sich darum bemühte, die Verlässlichkeit der betrieblichen Altersversorgung zu verbessern, gab es auch in den neunziger Jahren eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Mitgliedschaft in betrieblichen Alterssicherungssystemen und der Verbreitung der Betriebrenten als Alterseinkommen. 1995 erhielten in Westdeutschland nur 48 Prozent der Männer und 13 Prozent der Frauen im Ruhestand zusätzlich zu ihrer Rente aus der öffentlichen Rentenversicherung eine Betriebsrente. In Ostdeutschland wurden noch keine Betriebsrenten geleistet, weil die betriebliche Altersversorgung neu aufgebaut wurde. Ein besonderes Problem waren die langen Mitgliedschaftszeiten, die in der betrieblichen Altersversorgung verlangt wurden. Oft hatten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen beim Eintritt in das Rentenalter noch nicht die Voraussetzungen erfüllt, um einen Anspruch auf eine Betriebsrente zu begründen.190 Mit der Rentenreform von 2001 wurde eine neue Art der Betriebsrente eingeführt, die nicht von den Betrieben, sondern von den Beschäftigten selbst finanziert wird. Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen können den Betrieb beauftragen, einen Teil ihres Lohnes in einer betrieblichen Altersversorgung anzulegen. Die Vorsorgeleistungen werden durch staatliche Zuschüsse oder Steuerbegünstigungen gefördert. Vorgesehen sind betriebliche oder tarifliche Vereinbarungen über eine institutionell selbständige betriebliche Altersversorgung durch Pensionskassen, Lebensversicherungen oder rechtlich selbständige Pensionsfonds. Um die staatliche Förderung zu erhalten, müssen die Beschäftigten einen festen Beitrag von zunächst einem Prozent und ansteigend bis zu vier Prozent ihres Einkommens für die Altersversorgung sparen. Das Versicherungskapital muss bis zum Renten188 Wolfgang Ruppert, Betriebliche Altersversorgung. IFO Institut für Wirtschaftsforschung. Achtes Forschungsvorhaben zur Situation und Entwicklung der betrieblichen Altersversorgung, München 2000, S. 14 – 15, 18 – 19. 189 Ruppert, Betriebliche Altersversorgung (wie Anm. 188), S. 24 – 35, 46 – 52. 190 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation, Berlin 2001, S. 198.

440

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

beginn festgelegt werden und darf nach der Fälligkeit nur in Form einer lebenslangen Rente, nicht aber als einmalige Ausschüttung ausgezahlt werden. Die Unternehmen werden aufgefordert, die Sparleistungen der Beschäftigten durch betriebliche Zuschüsse zu ergänzen, aber diese Empfehlung ist unverbindlich.191 Die öffentliche Förderung trug dazu bei, das sich der rückläufige Trend der neunziger Jahre umkehrte und die Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung wieder zunahm. Es kam zu einer „Renaissance der betrieblichen Altersversorgung“. Im Dezember 2001 nahmen 38 Prozent aller Beschäftigten an einem System der betrieblichen Altersversorgung teil; bis März 2003 stieg der Anteil auf 43 Prozent. Die verbreitetste Form der betrieblichen Altersversorgung blieb die Direktzusage. Es folgten Pensionskassen, Direktversicherungen, Unterstützungskassen und als neue Form der betrieblichen Altersversorgung die Pensionsfonds.192 Da die berufliche Alterssicherung mit ihrem verschiedenen Systemen sich auf einen Teil der Erwerbstätigen beschränkte, war ihre Bedeutung für die Einkommen der älteren Generation insgesamt gering. 1999 erhielten 27 Prozent aller Personen ab 65 Jahren eine eigene Rente und neun Prozent eine Hinterbliebenenrente aus einem System der beruflichen Alterssicherung, seien es die staatlichen Pensionssysteme, die betriebliche Altersversorgung, die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes, die berufsständische Versorgung oder die Landwirtschaftliche Altershilfe.193 d) Individuelle Vermögensbildung Das Potential der Vermögensbildung als Altersvorsorge nahm in den neunziger Jahren zu, da die Vermögen der privaten Haushalte trotz der Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft und der Arbeitsmarktkrise weiter anstiegen. Die Verteilung der Vermögen nach Altersgruppen zeigte 1998, dass die Vermögensbildung dem Lebenszyklus folgte. Junge Haushalte hatten im Durchschnitt nur ein geringes Vermögen. Mit steigendem Alter nahmen die durchschnittlichen Vermögen bis zum Ende der Erwerbsphase zu. Im Alter von sechzig Jahren wurden die höchsten Durchschnittsvermögen erreicht. Im Ruhestandalter wurden die Vermögen wieder etwas niedriger.194 So betrug 1998 in Zwei-Personen-Haushalten, gruppiert nach dem Alter des „Haushaltsvorstandes“ oder der „Bezugsperson“, das Vermögen im 191 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 26. Juni 2001 (wie Anm. 37), S. 1310 – 1343. 192 Joachim Schwind, Die Deckungsmittel der betrieblichen Altersversorgung in 2002, in: Betriebliche Altersversorgung, 5 / 2004. 193 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Alterssicherung in Deutschland 1999. Tabellenband, Bonn 2001, Tabellen 1015 – 1053, 2015 – 2053. 194 Heinrich Schlomann / Holger Stein, Die Vermögensbildung in West- und Ostdeutschland unter Berücksichtigung von Alters-, Kohorten- und Bildungseinflüssen, in: Irene Becker / Notburga Ott / Gabriele Rolf, Hg., Soziale Sicherung in einer dynamischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 2001, S. 570 – 571.

V. Alter

441

Alter von 55 bis 59 Jahren im Durchschnitt 442.000 DM, im Alter von 60 bis 64 Jahren im Durchschnitt 421.000 DM, im Alter von 65 bis 69 Jahren 379.000 DM und im Alter von 70 bis 74 Jahren im Durchschnitt 357.000 DM.195 Allerdings waren die Vermögen sehr ungleich verteilt, und die Differenzierung nahm in den neunziger Jahren noch zu.196 Wie groß ein Vermögen sein muss, um einen wirksamen Beitrag zu einer Differenzierung der Alterseinkommen zu leisten, hängt von der erwarteten Rendite und der Dauer des Ruhestandes ab. Weitere Gesichtspunkte sind aber auch, ob die Senioren oder Seniorinnen sich auf eine feste Rentenzahlung festlegen oder über ihr Vermögen frei verfügen wollen, und ob sie ihr Vermögen restlos aufzehren möchten oder ein Erbe an die Nachkommen weitergeben wollen.197 Die Vermögenseinkommen, die 1998 bei einer repräsentativen Befragung der älteren Generation festgestellt wurden, waren bescheiden. Im Durchschnitt aller Haushalte betrugen danach die Vermögenseinkommen, einschließlich des Geldwertes der selbst genutzten Wohnungen, nur 65 DM im Monat.198 Das waren wesentlich niedrigere Einkommen, als man nach den Vermögensbeständen der älteren Generation erwarten sollte. Wenn die Senioren und Seniorinnen nicht ungewöhnlich schlechte Renditen erzielten, muss man annehmen, dass die Vermögenseinkommen nicht vollständig erfasst wurden. Den größten Anteil am Vermögen der älteren Generation hatten, wie insgesamt in der Bevölkerung, Immobilien. Der Immobilienbesitz war allerdings nicht allgemein verbreitet. Ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung besaßen 1998 in Westdeutschland 51 Prozent der Rentnerpaare und nur 26 Prozent der alleinstehenden Rentnerinnen oder Rentner; in Ostdeutschland waren es 23 Prozent der Rentnerpaare und lediglich sechs Prozent der alleinstehenden Rentnerinnen oder Rentner. Geldvermögen waren unter der älteren Generation wesentlich weiter verbreitet als Immobilienbesitz. 1998 besaßen im gesamtdeutschen Durchschnitt 91 Prozent aller Rentnerhaushalte Geldvermögen. Allerdings waren die Geldvermögen im Durchschnitt geringer als die Immobilienvermögen und hatten daher auch einen geringeren Anteil am Gesamtvermögen. Als Altersvorsorge wurden vor allem Lebensversicherungen empfohlen. Ende 2000 gab es in Deutschland einen Bestand von 89 Millionen Lebensversicherungen. Die durchschnittliche Versicherungssumme betrug 42.000 DM. Der größte Anteil entfiel auf Kapitalversicherungen. Die Rentenversicherungen, die am deutlichsten dem Ziel der Altersvorsorge entsprachen, nahmen zwar zu, machten aber dennoch Ende 2001 nur elf Prozent der gesamten Versicherungssumme aus. Die Sparer oder Sparerinnen zogen Anlage195 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Erster Armuts- und Reichtumsbericht (wie Anm. 22), Bd. 1, S. 54 – 59. 196 Deutsche Bundesbank, Entwicklung der privaten Vermögenssituation (wie Anm. 21), S. 35 – 37. 197 Anja C. Theis, Die deutsche Lebensversicherung als Alterssicherungsinstitution. Eine ökonomische Analyse, Baden-Baden 2000, S. 355 – 378. 198 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation (wie Anm. 144), S. 83.

442

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

formen vor, bei denen sie ihr Vermögen individuell nutzen oder auch vererben konnten; fixierte Rentenansprüche waren als Sparziel weniger beliebt.199 Die individuelle Altersvorsorge wurde nach der Rentenreform von 2001 unter bestimmten Voraussetzungen durch staatliche Zuschüsse oder durch Steuerermäßigungen gefördert. Eine Bedingung für die Subventionierung war, dass die Ersparnisse bis zum Beginn des Rentenalters festgelegt und anschließend in eine lebenslange Rente umgewandelt wurden. Diese Voraussetzungen wurden vor allem durch eine Rentenversicherung erfüllt; es kamen aber auch andere Formen der Vermögensbildung in Frage, soweit sie ebenfalls in eine feste Rente münden.200 Die politisch gewünschte Vermögensbildung in Form von individuellen Rentenansprüchen stand damit im Widerspruch zu den bisherigen Präferenzen der Sparer oder Sparerinnen, denn im allgemeinen wurden Immobilienvermögen oder Geldvermögen bevorzugt, über die frei verfügt werden kann. Das Modell der subventionierten individuellen Altersvorsorge wurde daher vom Publikum nur zögernd akzeptiert. Wesentlich wichtiger als die subventionierte und damit auch streng reglementierte Vermögensbildung ist für die Altersvorsorge derzeit noch die Bildung von Immobilienvermögen oder Geldvermögen, über die frei verfügt werden kann.201 e) Die Struktur der Alterseinkommen Unmittelbar nach der Wiedervereinigung bezogen die Angehörigen der älteren Generation ab 65 Jahren 1992 ein Pro-Kopf-Einkommen von 1876 DM netto im Monat. Bis 1999 stieg das durchschnittliche Nettoeinkommen auf 2200 DM.202 Kurz nach der Wiedervereinigung hatten die Alterseinkommen das allgemeine Einkommensniveau nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen; 1992 lagen die Einkommen der älteren Generation um neun Prozent über dem durchschnittlichen Nettoeinkommen der Gesamtbevölkerung, das 1723 DM monatlich betrug. In den neunziger Jahren blieben die Alterseinkommen hinter den anderen Haushaltseinkommen zurück. Die Einkommen der älteren Generation erreichten 1999 im Durchschnitt 82 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens der gesamten 199 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation (wie Anm. 190), S. 201; Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft, Geschäftsentwicklung 2001. Die deutsche Lebensversicherung in Zahlen, Berlin 2002, S. 7, 17; Margot Münnich, Zur wirtschaftlichen Lage von Rentner- und Pensionärshaushalten, in: Wirtschaft und Statistik, 7 / 2001, S. 550 – 552. 200 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom 26. Juni 2001 (wie Anm. 37), S. 1310 – 1343. 201 Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, Geschäftsentwicklung 2003. Die deutsche Lebensversicherung in Zahlen, Berlin 2004, S. 13, 27. 202 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Alterssicherung in Deutschland 1992, 2 Bde., München 1994, Bd. 1, Tabellen B-67 und B-178; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Alterssicherung in Deutschland 1999 (wie Anm. 193), Tabellen 1122, 1126, 2122, 2126; Statistisches Jahrbuch 2001 (wie Anm. 25), S. 636.

V. Alter

443

Bevölkerung von 2506 DM im Monat.203 Aufgrund der unterschiedlichen historischen Traditionen gab es zunächst eine große Diskrepanz zwischen den Alterseinkommen in Westdeutschland und in Ostdeutschland. Dieses Gefälle wurde jedoch in den neunziger Jahren stark verringert. Durch die Aufwertung der Renten in den neuen Bundesländern stiegen die Alterseinkommen in Ostdeutschland schneller als in Westdeutschland und näherten sich Ende der neunziger Jahre dem westdeutschen Niveau an. Tabelle 25 Nettoeinkommen von Personen ab 65 Jahren 1992 – 1999 (DM / Monat) 1992

1999

Männer (Westdeutschland)

2908

2914

Männer (Ostdeutschland)

1439

2269

Frauen (Westdeutschland)

1551

1782

Frauen (Ostdeutschland)

1130

1714

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Alterssicherung in Deutschland 1992, 2 Bde., München 1994, Bd. 1, S. 8; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Alterssicherung in Deutschland 1999. Tabellenband, Bonn 2001, Tabellen 1123, 2123.

Frauen bezogen im Durchschnitt ein wesentlich niedrigeres Alterseinkommen als Männer. Die Altersdiskriminierung war eine Konsequenz der geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Erwerbsbiographien; die kürzeren Erwerbzeiten und niedrigere Löhne oder Gehälter der Frauen führten zu geringeren Alterseinkommen. In Westdeutschland war der Abstand besonders groß, in Ostdeutschland war er aufgrund der stärkeren Erwerbsorientierung der Frauen geringer. 1992 erreichten die Frauen in Westdeutschland 47 Prozent des Alterseinkommens der Männer, in Ostdeutschland 79 Prozent.204 In den neunziger Jahren nahm in Westdeutschland die Differenz zwischen den Alterseinkommen von Frauen und Männern ab, weil sich die zunehmende Erwerbsbeteiligung und die Anerkennung von Erziehungszeiten auswirkten. In Ostdeutschland wurde der Abstand jedoch etwas größer. Der Grund war vor allem, dass Frauen stärker als Männer von der hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern betroffen waren. 1999 bezogen die Frauen in Westdeutschland 61 Prozent des Alterseinkommens der Männer, in Ostdeutschland 76 Prozent. Die Diskriminierung der Frauen in der Altersversorgung bedeutete, dass viele Frauen im Alter ein sehr niedriges Einkommen hatten, das nur knapp über dem Sozialhilfeniveau lag. 1999 erhielten in Deutschland 23 Pro203 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1994, S. 50, 701; Statistisches Jahrbuch 2001 (wie Anm. 25), S. 44, 671. 204 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Alterssicherung in Deutschland 1992 (wie Anm. 202), Bd. 1, S. 8.

444

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

zent der Frauen, die 65 Jahre alt oder älter waren, ein monatliches Nettoeinkommen von weniger als eintausend DM. Dagegen waren nur zwei Prozent der Männern des gleichen Alters in dieser Einkommensgruppe.205 Die Bedeutung der verschiedenen Alterssicherungssysteme für das Einkommen der älteren Generation ergibt sich aus der Verbreitung der Systeme und aus der Höhe der durchschnittlichen Leistungen.206 Eine Untersuchung aus dem Jahr 1993 über das Einkommen von Rentnerhaushalten bestätigt die überragende Bedeutung der öffentlichen Rentenversicherung. Befragt wurden Rentnerhaushalte mit zwei Personen. In Ostdeutschland machten die Sozialversicherungsrenten 81 Prozent der gesamten Alterseinkommen aus, in Westdeutschland 65 Prozent. Das restliche Alterseinkommen verteilte sich auf die Renten der beruflichen Altersvorsorge, die Vermögenseinkommen und die Erwerbseinkommen. Da nur monetäre Einkommen erfasst wurden, fanden die Aufwendungen der Familien für die ältere Generation bei diesem Vergleich keine Berücksichtigung.207 Tabelle 26 Struktur des Gesamteinkommens der Rentnerhaushalte mit zwei Personen 1993 (Prozent) West

Ost

Öffentliche Rentenversicherung

65

81

Sonstige Transferleistungen

13

9

Vermögenseinkommen

12

5

Erwerbseinkommen

10

5

Quelle: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation, Berlin 2001, S. 194.

Ein Problem der Altersicherung lag darin, dass die verschiedenen Einkommensquellen der älteren Generation im allgemeinen nicht ausgleichend wirkten, sondern sich eher konzentrierten. Wer durch einen niedrigen Lohn und eine kurze Erwerbs205 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Alterssicherung in Deutschland 1999 (wie Anm. 193), Tabellen 1123, 2123. 206 Uwe Fachinger, Materielle Ressourcen älterer Menschen – Struktur, Entwicklung und Perspektiven, in: Deutsches Zentrum für Altersfragen, Hg., Erwerbsbiographien und materielle Lebenssituation im Alter. Expertisen zum Dritten Altenbericht der Bundesregierung 2, Opladen 2001; Petri Hirvonen, Alterssicherung und Alterseinkommensverteilung. Eine empirische Analyse der Einkommenslage der älteren Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1993; Winfried Schmähl, Das Gesamtsystem der Alterssicherung, in: Jörg-E. Cramer / Wolfgang Förster / Franz Ruland, Hg., Handbuch zur Altersversorgung. Gesetzliche, betriebliche und private Vorsorge in Deutschland, Frankfurt am Main 1998. 207 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation (wie Anm. 190), S. 194.

VI. Die intergenerative Einkommensverteilung

445

tätigkeit nur geringe Rentenansprüche erwerben konnte, hatte meistens auch von der betrieblichen Alterssicherung nicht viel zu erwarten und hatte auch wenig Gelegenheit zur privaten Vermögensbildung. Dennoch blieben die Alterseinkommen im allgemeinen über dem Sozialhilfeniveau. In Deutschland waren 2003 nur 0,7 Prozent der Bevölkerung in der Altersgruppe ab 65 Jahren auf die Sozialhilfe angewiesen.208 Unter den Hochaltrigen ab achtzig Jahren nahm die Beanspruchung von Sozialhilfe zu. Der Grund war der große Aufwand für Betreuung und Pflege, der durch die Pflegeversicherung nur teilweise gedeckt wurde.209 Durch den Anstieg der Lebenserwartung nahm neben der Sozialversicherung, der beruflichen Altersvorsorge und der individuellen Vermögensbildung die Bedeutung der Familie für die Alterssicherung zu. Daher hat das Alterssicherungsmodell der Bremer Stadtmusikanten vier Komponenten, im Unterschied zu dem Modell der drei Musketiere aus den siebziger und achtziger Jahren, in dem die Familie zwar implizit eine wichtige Rolle spielte, aber nicht genannt wurde. Dass ältere Menschen auf Geldleitungen ihrer erwachsenen Kindern angewiesen waren, blieb die Ausnahme. Die Familie wurde jedoch durch den Zeitaufwand für die Betreuung und Pflege älterer Angehöriger immer wichtiger. Die Pflegeversicherung deckte diesen Aufwand nur zum Teil ab.210 Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts galt die Familie als die „zentrale Institution für die soziale Integration sowie die emotionale und instrumentelle Unterstützung älterer Menschen“.211

VI. Die intergenerative Einkommensverteilung Die Einkommensverteilung zwischen den Generationen entwickelte sich nach der Wiedervereinigung in Westdeutschland und in Ostdeutschland sehr unterschiedlich. In Ostdeutschland wurde die intergenerative Einkommensverteilung 208 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Lebenslagen in Deutschland. Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht, 3. März 2005. Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Drucksache 15 / 5015, S. 69. 209 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation (wie Anm. 144), S. 86 – 87. 210 Donald Bender, Betreuung von hilfs- und pflegbedürftigen Angehörigen in Mehrgenerationenfamilien, in: Walter Bien, Hg., Eigeninteresse oder Solidarität. Beziehungen in modernen Mehrgenerationenfamilien, Opladen 1994; Birgit Jansen, Informelle Pflege durch Angehörige, in: Birgit Jansen / Fred Karl / Hartmut Radebold / Reinhard Schmitz-Scherzer, Hg., Soziale Gerontologie, Weinheim 1999; Ulrich Schneekloth / Peter Potthoff / Regine Piekara, Bernhardt von Rosenbladt, Hilfe- und Pflegebedürftige in privaten Haushalten. Endbericht, Stuttgart 1996; Yvonne Schütze / Michael Wagner, Familiale Solidarität in den späten Phasen des Familienverlaufs, in: B. Nauck / C. Onnen-Isemann, Hg., Familie im Brennpunkt von Wissenschaft und Forschung, Neuwied 1995. 211 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation (wie Anm. 144), S. 193.

446

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

gleichmäßiger. Die Alterseinkommen, die zu Zeiten der staatssozialistischen Planwirtschaft hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurückgeblieben waren, wurden durch die Einbeziehung der neuen Bundesländer in das westdeutsche Alterssicherungssystem und durch die großzügige Aufwertung der ostdeutschen Rentenansprüche wesentlich verbessert. In Westdeutschland traten dagegen im Vergleich zu den siebziger und achtziger Jahren, als sich die Generationeneinkommen angenähert hatten, die Disparitäten wieder stärker hervor. Das lag an der Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums, an dem Konsolidierungskurs in der Sozialpolitik, aber auch an der Pluralisierung der Lebensformen, da die unterschiedlichen Lebenslagen in Haushalten mit einem oder mit zwei Erwerbstätigen, mit Kindern oder ohne Kinder, die Einkommensverteilung beeinflussten.212 Da immer mehr Frauen in einer Ehe oder nichtehelichen Lebensgemeinschaft erwerbstätig blieben, nahm die Zahl der Haushalte zu, die zwei Erwerbseinkommen bezogen. 1995 hatten unter den Haushalten, in denen es überhaupt Erwerbstätige gab, die Haushalte der „Doppelverdiener“ mit zwei Erwerbstätigen einen Anteil von 44 Prozent, die Haushalte des bürgerlichen Familienmodells mit zwei Erwachsenen, von denen einer erwerbstätig war, einen Anteil von 41 Prozent und die Haushalte der Singles oder der Alleinerziehenden mit einem erwerbstätigen Erwachsenen einen Anteil von 14 Prozent.213 In der Öffentlichkeit wurden vor allem die Armutsrisiken, die zwar nur den Rand der Gesellschaft betrafen, aber doch zunahmen, als Symptom der wachsenden Differenzierung der Lebenslagen diskutiert. Die Kinderarmut, die man für überwunden hielt, kehrte auf einem hohen allgemeinen Einkommensniveau zurück. Der Hauptgrund für die Zunahme der Kinderarmut war die Differenzierung der Lebensformen. Auf der einen Seite gab es eine wachsende Zahl von Haushalten mit zwei Erwerbstätigen ohne Kinder, die den allgemeinen Konsumstandard definierten, und auf der anderen Seite gab es die Familien der Alleinerziehenden, die von einem eingeschränkten Erwerbseinkommen, einem Sozialeinkommen oder privaten Unterhaltszahlungen lebten. Es ging nicht um absolute Armut, da die Realeinkommen erheblich gestiegen waren und trotz nachlassender Wachstumsraten weiter stiegen, wohl aber um eine Verschlechterung der Verteilungsposition, da nicht alle Generationen gleichmäßig am wirtschaftlichen Wachstum partizipierten. Kinder galten 212 Gerd Hardach, Der Generationenvertrag im 20. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke / Elisabeth Müller-Luckner, Hg., Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; Franz-Xaver Kaufmann, Generationenbeziehungen und Generationenverhältnisse im Wohlfahrtsstaat, in: Kurt Lüscher / Franz Schultheis, Hg., Generationenbeziehungen in „postmodernen“ Gesellschaften, Konstanz 1993; Kurt Lüscher, Solidarische Beziehungen: Das „neue“ Problem der Generationen, in: Karl Gabriel / Alois Herlth / Klaus Peter Strohmann, Hg., Modernität und Solidarität. Konsequenzen gesellschaftlicher Modernisierung, Freiburg 1999. 213 Gerhard Bäcker / Walter Hanesch / Peter Krause, Niedrige Erwerbseinkommen und Armut bei Erwerbstätigkeit in Deutschland, in: Sozialer Fortschritt, 47 (1998), S. 166. 214 Wolfgang Thierse, Vorwort, in: Deutsches Kinderhilfswerk, Hg., Kinderreport Deutschland 2004, München 2004, S. 10.

VI. Die intergenerative Einkommensverteilung

447

als arm, „wenn sie mit ihren Familien über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben weitgehend ausgeschlossen sind“.214 Dagegen war die Ruhestandgeneration kaum von Armut betroffen. Die Furcht vor der Rückkehr der Altersarmut bezog sich nicht auf Gegenwartsprobleme, sondern auf Zukunftsängste, nachdem in der Sozialpolitik eine Absenkung des Rentenniveaus beschlossen wurde. Nach einer Verteilungsrechnung für das Jahr 2003 betrug im Durchschnitt aller Haushalte das arithmetische Mittel der Pro-Kopf-Einkommen 1740 Euro, der Median 1564 Euro. Die Haushaltseinkommen wurden nach der aktuellen OECDSkala auf die Haushaltsmitglieder verteilt. Die erste Person in einem Haushalt wurde mit 100 Prozent gewichtet, jeder weitere Jugendliche oder Erwachsene ab 15 Jahren mit fünfzig Prozent und Kinder unter 15 Jahren mit dreißig Prozent.215 Als „arm“ galten alle Personen, deren individuelles Einkommen weniger als sechzig Prozent des Medianeinkommens betrug. Einkommensarmut bedeutet in dieser Definition nicht Armut im üblichen Sinne von Entbehrung und Not, zeigt aber eine Ungleichheit in der Einkommensverteilung an. Insgesamt waren nach dieser Definition 14 Prozent der Bevölkerung von Einkommensarmut betroffen. Unter den Kindern bis zu 15 Jahren lag die Armutsquote mit 15 Prozent etwas über dem Durchschnitt, unter den älteren Menschen ab 65 Jahren betrug die Armutsquote dagegen nur elf Prozent.216 Die Zunahme der Kinderarmut zeigte sich auch daran, dass Kinder und Jugendliche relativ häufig auf die Sozialhilfe angewiesen waren. 2003 erhielten insgesamt 3,4 Prozent der Bevölkerung Sozialhilfe. In der Jugendgeneration bis zu 18 Jahren war die Sozialhilfequote mit 7,2 Prozent relativ hoch, in der Generation ab 65 Jahren war sie dagegen mit 0,7 Prozent sehr niedrig.217 Vor allem die Kinder in unvollständigen Familien waren von Armut bedroht. Die Zunahme der Kinderarmut, die sich sowohl an der Einkommensarmut, als auch an der Sozialhilfequote zeigt, bestätigt die schon seit langem geäußerte Kritik, dass die Familien mit niedrigem Einkommen zu wenig Unterstützung durch die Familienförderung erfahren.218 215 Zur Methode der Verteilungsrechnung: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Erster Armuts- und Reichtumsbericht (wie Anm. 22), Bd. 1, S. 20; Jürgen Faik, Institutionelle Äquivalenzskalen als Basis von Verteilungsanalysen. Eine Modifizierung der Sozialhilfe-Skala, in: Irene Becker / Richard Hauser, Hg., Einkommensverteilung und Armut. Deutschland auf dem Weg zur Vierfünftel-Gesellschaft? Frankfurt am Main 1997; Kölling, Armutsmaße für die Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 48), S. 485. – Der Median ist der Wert in der Mitte einer Einkommensskala; es gibt ebenso viele höhere wie niedrigere Einkommen. In Verteilungsrechnungen wird der Median häufig dem arithmetischen Mittel vorgezogen, weil er als typische Einkommenslage gelten kann. 216 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht (wie Anm. 208), S. 44 – 46. 217 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht (wie Anm. 208), S. 69. 218 Irene Becker / Richard Hauser, Zur Entwicklung von Armut und Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland – eine Bestandsaufnahme, in: C. Butterwegge / M. Klundt, Hg.,

448

8. Kap.: Der Generationenvertrag im vereinten Deutschland

„Familien mit Kindern tragen heute das größte Armutsrisiko“, erklärte die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen in ihrem Familienpolitischen Programm vom September 2001.219 Die subjektiven Beziehungen zwischen den Generationen wurden durch die Asymmetrie der intergenerativen Einkommensverteilung nicht beeinträchtigt. 220 Die meisten alten Eltern hatten ein enges Verhältnis zu ihren erwachsenen Kindern, und umgekehrt hatten die meisten erwachsen gewordenen Kinder ein enges Verhältnis zu ihren Eltern. Obwohl die Individualisierung zunahm, junge Frauen und Männer sich in wachsender Zahl für ein Leben ohne Kinder entschieden und der Verteilungsdiskurs zwischen den Generationen an Schärfe gewann, blieben die Mehrgenerationenfamilien Inseln der Stabilität in einer unsicheren Welt.221

Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, Opladen 2002; Christoph Butterwegge, Wie die wachsende Armut von Kindern bekämpft werden kann, in: Gesundheits- und Sozialpolitik, 57 (2003); Thomas Olk, Kinder in der Armut, in: Deutsches Kinderhilfswerk, Hg., Kinderreport Deutschland 2004. Daten, Fakten, Hintergründe, München 2004. 219 Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, Familienpolitisches Programm 2001, Berlin 2001, S. 43. 220 Andreas Motel / Marc Szydlik, Private Transfers zwischen den Generationen. Ergebnisse des Alters-Survey. Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf, Forschungsbericht 63, Berlin 1998. 221 Hans Bertram, Die verborgenen familiären Beziehungen in Deutschland: Die multilokale Mehrgenerationenfamilie, in: Martin Kohli / Marc Szydlik, Hg., Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000; Mark Szydlik, Die Enge der Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern – und umgekehrt, in: Zeitschrift für Soziologie, 24 (1995).

Epilog: Erfahrungen und Perspektiven I. Verteilungsgerechtigkeit Die Diskussion über die intergenerative Einkommensverteilung hat in den letzten Jahren die älteren Verteilungsdiskurse von Klasse und Geschlecht zurückgedrängt. Die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen zwischen den sozialen Klassen und zwischen den Geschlechtern ist damit aber keineswegs verschwunden; sie ist ein Strukturmerkmal der Gesellschaft geblieben. Die individuellen und kollektiven Verteilungspositionen resultieren aus dem Zusammenwirken von Generation, Klasse und Geschlecht. Ungleichheit zwischen den Generationen, den Klassen und den Geschlechtern führt zu sozialen Konflikten, wenn sie als ungerecht wahrgenommen wird. Eine sozial verträgliche Gestaltung des Generationenvertrages setzt daher eine Verständigung über die Ziele voraus, die angestrebt werden sollen. „Wer den Hafen nicht kennt, dem weht kein günstiger Wind“.1 Intergenerative Verteilungsgerechtigkeit wird im allgemeinen als Annäherung des durchschnittlichen Einkommens zwischen den einzelnen Generationengruppen definiert. Diese Definition bedeutet nicht unbedingt, dass die Pro-Kopf-Einkommen in der Jugendgeneration, in der mittleren Generation und in der Ruhestandgeneration gleich sein müssen; altersspezifische Unterschiede im Bedarf können Einkommensdifferenzen begründen. Aber die Unterschiede sollten nicht zu groß sein. Die Annäherung zwischen den Generationeneinkommen sorgt für die Stabilisierung der individuellen Lebenseinkommen. Wenn die Einkommen zwischen den Generationen gleichmäßig verteilt sind, partizipieren die Menschen in allen Lebensphasen an der wirtschaftlichen Entwicklung. Das Ziel der Generationengerechtigkeit ist in der Gesellschaft fest verwurzelt. Johann Peter Hebel empfahl zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in seiner moralischen Geschichte vom fröhlichen Landmann eine faire Einkommensverteilung zwischen der Jugend, der Erwerbsgeneration und dem Alter.2 Als im späten neunzehnten Jahrhundert die Invaliditäts- und Altersversicherung eingeführt wurde, war das Ziel, die Altersarmut zu überwinden. Es sollte nicht mehr so sein, dass alte Menschen nach einem langen Arbeitsleben in Not gerieten und auf die Armenpflege oder auf das Betteln an1 „Ignoranti, quem portum petat, nullus suus ventus est“. L. Annaeus Seneca, Ad Lucilium. Epistulae morales (62 – 65). Philosophische Schriften 4, Darmstadt 1984, S. 21. 2 Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des Rheinländischen Hausfreundes (1811), in: Johann Peter Hebel, Werke, München 1960.

29 Hardach

450

Epilog: Erfahrungen und Perspektiven

gewiesen waren.3 Im Übergang vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Jahrhundert wird die Kinderarmut als Verstoß gegen die Generationengerechtigkeit kritisiert.4 Die ständige Beschwörung der Verteilungsgerechtigkeit zeigt allerdings auch, dass das Ziel schwer zu realisieren ist. Historisch war die Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Generationen die Ausnahme und nicht die Regel. In der Agrargesellschaft waren Kinder und alte Menschen von der allgemeinen Not besonders betroffen. Seitdem drängten das wirtschaftliche Wachstum und die Sozialpolitik die Kinderarmut und die Altersarmut allmählich zurück. In der Bundesrepublik Deutschland wurde in den siebziger Jahren ein Gleichgewicht in der intergenerativen Einkommensverteilung erreicht. Nach der Wiedervereinigung wurden auch in der ostdeutschen Gesellschaft durch die Übernahme der westdeutschen Rentenversicherung und die großzügige Aufwertung der ostdeutschen Rentenansprüche die Alterseinkommen an das allgemeine Einkommensniveau angepasst. Im Übergang vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Jahrhundert treten aber neue Disparitäten auf. Kinderarmut und Altersarmut werden wieder zu einem sozialpolitischen Thema. Langfristig haben im Wandel vom traditionellen Generationenvertrag über den bürgerlichen Generationenvertrag zum modernen Generationenvertrag im wesentlichen drei Determinanten die Struktur der intergenerativen Einkommensverteilung geprägt, der demographische Wandel, die Entwicklung von Beschäftigung und Produktion, und das institutionelle Arrangement von Markt, Solidarität und Staat.

II. Demographischer Wandel Die Kontinuität der Gesellschaft beruhte in der Zeit des traditionellen Generationenvertrages auf der hohen Wertschätzung der Familie. Die Sorge für Kinder war in der Rangordnung der Werte wichtiger als die Maximierung des individuellen Einkommens. Diese Einstellung sorgte für die hohen Geburtenzahlen, die angesichts der unsicheren Lebensumstände und der hohen Sterberate notwendig waren, um die Kontinuität der Gesellschaft zu gewährleisten. Seit dem Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise veränderten die Stabilisierung der Lebenszeit und der Rückgang der Geburtenrate die demographischen Grundlagen des Generationenvertrages. Nach der Lebenserwartung, die zu Beginn des Kaiserreichs 1871 – 1880 galt, würden 23 Prozent der neugeborenen Kinder im ersten Lebens3 Ulrike Haerendel, Die Anfänge der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland. Die Invaliditäts- und Altersversicherung von 1889 im Spannungsfeld von Reichsverwaltung, Bundesrat und Parlament, Speyer 2001; Sandra Hartig, Alterssicherung in der Industrialisierung. Eine positive Analyse institutionellen Wandels, Marburg 2002. 4 Christoph Butterwegge / Michael Klundt, Hg., Kinderarmut und Generationengerechtigkeit, Opladen 2002; Deutsches Kinderhilfswerk, Hg., Kinderreport Deutschland 2004, München 2004; Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, Familienpolitisches Programm 2001, Berlin 2001.

II. Demographischer Wandel

451

jahr sterben, nur 62 Prozent würden das 15. Lebensjahr erreichen, und 27 Prozent würden ihren 65. Geburtstag erleben. In der Bundesrepublik Deutschland schätzte man 2000 – 2002, dass fast alle neugeborenen Kinder erwachsen werden. 85 Prozent werden nach der damaligen Lebenserwartung ein Alter von 65 Jahren erreichen.5 In der Zeit des traditionellen Generationenvertrages starben viele Kinder, bevor sie das Berufsalter erreichten oder eine Familie gründen konnten. Im bürgerlichen Generationenvertrag wurde es die Regel, dass Lebenslauf und Lebenseinkommen den vollständigen Lebenszyklus von der Jugend über die mittleren Jahre bis zum Ruhestand umfassen. Im modernen Generationenvertrag können die Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit einen Lebensweg erwarten, der einen langen Ruhestand einschließt. Tabelle 27 Überlebenswahrscheinlichkeit 1871 – 2002 (in Prozent eines Geburtenjahrgangs) 1 Jahr

15 Jahre

65 Jahre

1871 – 1880

77

62

27

1932 – 1934

92

89

61

1967 – 1968 (BRD)

97,7

96,7

75

2000 – 2002

99,6

99,4

86

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 109; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2004, S. 54.

Seit dem späten neunzehnten Jahrhundert passten die Familien sich den Lebensbedingungen der Industriegesellschaft an. Die Attraktivität der Familie als Lebensform war ungebrochen, aber die Familien wurden kleiner. Der Wandel der Familie schlug sich in einem langfristigen Rückgang der Geburtenrate nieder. Der Geburtenrückgang setzte im späten neunzehnten Jahrhundert ein und dauerte bis in die Zeit der Weltwirtschaftskrise von 1929 – 1932. Seitdem blieb die Geburtenrate mit Fluktuationen auf einem stabilen Niveau. In den dreißiger Jahren nahm sie gegenüber dem Tiefpunkt der Krisenjahre etwas zu, im Zweiten Weltkrieg fiel sie stark ab, und nach dem Krieg stieg sie in beiden deutschen Gesellschaften wieder etwas an. Die Voraussetzung für die Stabilisierung der Geburtenrate war die allgemeine Akzeptanz des doppelten Standardlebenslaufs. Die Frauen, die imRahmen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung für die Kinderbetreuung und die Altenpflege sorgten, waren die „heimliche Ressource“ im Generationenverhältnis.6 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2004, S. 54. Elisabeth Beck-Gernsheim, Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen, München 1998, S. 86 – 91. 5 6

29*

452

Epilog: Erfahrungen und Perspektiven Tabelle 28 Geburtenrate und Sterberate in Deutschland 1875 – 2000 (Prozent) Geburtenrate

Sterberate

Saldo

1875

4,1

2,8

1,3

1928

1,9

1,2

0,7

1965 (BRD)

1,8

1,2

0,6

1965 (DDR)

1,7

1,4

0,3

2003

0,9

1,0

–0,1

Quellen: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 101 – 103; Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, S. 404 – 405; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2004, S. 50.

Im modernen Generationenvertrag ging die Attraktivität der Familie als Lebensform zurück. In der Mitte der sechziger Jahre setzte in beiden deutschen Gesellschaften ein neuer Geburtenrückgang ein. Immer mehr junge Menschen entschieden sich für ein Leben ohne Kinder. In der Deutschen Demokratischen Republik gelang es, die Familie durch den Ausbau der Familienförderung und durch bessere Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu stabilisieren. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die sinkende Attraktivität der Familie als Lebensform aber nicht aufgehalten. Die Geburtenrate fiel in der postindustriellen Gesellschaft unter die Sterberate. Dieser Abwärtstrend setzte sich nach der Wiedervereinigung in ganz Deutschland durch. Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hat es als ein „demographisch-ökonomisches Paradoxon“ bezeichnet, dass sich die Menschen „um so weniger Kinder leisten, je mehr sie sich auf Grund des seit Jahrzehnten steigenden Realeinkommens eigentlich leisten könnten“.7 Der Generationenvertrag kann unter Lebenden nicht gekündigt werden; weder Kinder, noch alte Leute werden ausgesetzt. Es ist aber möglich, den Generationenvertrag zu kündigen, indem man auf Kinder verzichtet, und von dieser Kündigungsmöglichkeit machen immer mehr Menschen Gebrauch. Die Stabilisierung der Lebenszeit und der Rückgang der Geburtenrate ließen die deutsche Gesellschaft altern. Der Anteil der Jugendgeneration an der Bevölkerung ging zurück, und der Anteil der älteren Generation nahm zu. Es wird im allgemeinen angenommen, dass sich die demographischen Trends einer sinkenden Geburtenrate und einer steigenden Lebenserwartung in Zukunft fortsetzen werden. Die Generation der jungen Erwachsenen und potenziellen Eltern wird schmaler. Innerhalb dieser abnehmenden Generation potenzieller Eltern wird eine wachsende Zahl von Frauen und Männern ein Leben ohne Kinder wählen. Gleichzeitig sind die Grenzen für einen Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung noch nicht er7 Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, München 2001, S. 42.

II. Demographischer Wandel

453

reicht.8 Wenn die gegenwärtigen demographischen Strukturen und Trends sich in der Zukunft fortsetzen, wird nach einer Schätzung, die das Prognos-Institut 1995 vorlegte, die Bevölkerung Deutschlands bis 2030 auf 72 Millionen Einwohner zurückgehen; bei einer höheren Einwanderung könnte es einen leichteren Rückgang auf achtzig Millionen Einwohner geben. Bei konstanten Rahmenbedingungen wird der Anteil der Jugendgeneration unter 15 Jahren auf 13 Prozent der Bevölkerung zurückgehen und der Anteil der älteren Generation ab 65 Jahren auf 26 Prozent steigen. Bei einer stärkeren Einwanderung würde der Anteil der Jugendgeneration mit 14 Prozent der Bevölkerung etwas höher sein und der Anteil der älteren Generation mit 25 Prozent etwas niedriger.9 Diese Prognose gibt zunächst keinen Anlass zu der Befürchtung, dass die mittlere Generation durch die intergenerative Umverteilung überfordert sein wird. Nach dem Modell der demographischen Belastungsquoten wird bis 2030 die Jugendquote auf 21 bis 23 Prozent zurückgehen, die Altersquote auf 41 bis 43 Prozent steigen und die Gesamtlastquote auf 62 bis 66 Prozent zunehmen. Die demographische Gesamtlastquote würde dem Jahr 1871 entsprechen; damals betrug sie 64 Prozent.10 Tabelle 29 Prognose der Altersstruktur der deutschen Gesellschaft 2030 (Prozent) bis 14 Jahre

15 – 64 Jahre

ab 65 Jahre

Kontinuitätsmodell

13

61

26

Immigrationsmodell

14

61

25

Quelle: Konrad Eckerle / Michael Schlesinger / Gudrun Blaha, Perspektiven der gesetzlichen Rentenversicherung für Gesamtdeutschland vor dem Hintergrund veränderter politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen. Prognos Gutachten 1995. Hg. vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger. 2 Bde., Frankfurt am Main 1995, Bd. 2, O-6, U-6.

Dass eine demographische Gesamtlastquote, die in der armen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts selbstverständlich getragen wurde, in der reichen Gesellschaft des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts zu heftigen Debatten führte, lag zum einen an der unterschiedlichen Akzeptanz von familialen und öffentlichen Transferleistungen. Da das Einkommen der Jugendgeneration überwiegend in familialen Transferleistungen bestand, das Einkommen der Ruhestandsgeneration dagegen hauptsächlich in öffentlichen Transferleistungen, verschob sich durch den demographischen Wandel der Schwerpunkt der interBirg, Die demographische Zeitenwende (wie Anm. 7), S. 103. Konrad Eckerle / Michael Schlesinger / Gudrun Blaha, Perspektiven der gesetzlichen Rentenversicherung für Gesamtdeutschland vor dem Hintergrund veränderter politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen. Prognos Gutachten 1995. Hg. vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger. 2 Bde., Frankfurt am Main 1995, Bd. 2, O-6, U-6. 10 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, Stuttgart 1972, S. 95. 8 9

454

Epilog: Erfahrungen und Perspektiven

generativen Umverteilung von der Familie zum Staat und zu der Sozialversicherung. Die Familien sorgen bereitwillig für ihre Kinder, aber die Verpflichtung, durch Sozialversicherungsbeiträge oder Steuern für den Lebensunterhalt familienfremder älterer Menschen zu sorgen, wird im allgemeinen als eine Belastung empfunden. In der Akzeptanz der intergenerativen Umverteilung wird die Zunahme der Altersquote daher nicht durch den Rückgang der Jugendquote kompensiert. Ein weiterer Grund für die Zukunftsängste, die der demographische Wandel auslöste, war der Strukturwandel des Lebenslaufs. Der Berufseintritt verschob sich durch längere Bildungswege vom fünfzehnten auf das zwanzigste Lebensjahr. Das Rentenalter von sechzig Jahren, das im neunzehnten Jahrhundert durch die hohe Invalidität erzwungen wurde, entwickelte sich auch für gesunde Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zur Norm. Am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts entsprechen die erwerbsfreien Lebensphasen der Jugend und des Alters in ihrer Gesamtdauer der Erwerbsphase. Die Jugendlichen beginnen ihre Erwerbsphase im Durchschnitt mit zwanzig Jahren, die Erwerbstätigen treten im Alter von sechzig Jahren in den Ruhestand und haben dann noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von zwanzig Jahren.11 Wenn bei den Prognosen der Altersstruktur nicht die konventionellen Zäsuren von 15 und 65 Jahren, sondern die realistischen Zäsuren von zwanzig und sechzig Jahren zugrunde gelegt werden, steigt die demographische Gesamtlastquote wesentlich stärker an.12 1998 betrug die Jugendquote bis zu zwanzig Jahren 39 Prozent, die Altersquote ab sechzig Jahren 37 Prozent und die Gesamtlastquote 76 Prozent. Bis 2030 wird wahrscheinlich die Jugendquote auf 33 Prozent zurückgehen, die Altersquote auf 81 Prozent steigen und die Gesamtlastquote auf 114 Prozent steigen.13 Langfristig wird es bei unveränderten institutionellen Rahmenbedingungen im Generationenvertrag mehr Leistungsempfänger als Leistungsträger geben. Tabelle 30 Revidierte Prognose der Altersstruktur 2030 (Prozent) bis 19 Jahre

20 – 59 Jahre

ab 60 Jahre

Situation 1998

22

57

21

Prognose 2030

16

47

38

Quelle: Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, München 2001, S. 108. 11 Alexander Reinberg / Markus Hummel, Bildung und Beschäftigung im vereinigten Deutschland. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 226, Nürnberg 1999, S. 25, 57; Statistisches Jahrbuch 2004 (wie Anm. 5), S. 54; Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Rentenversicherung in Zeitreihen, Frankfurt am Main 2004, S. 111. 12 Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, 28. März 2002. Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14 / 8800. 13 Birg, Die demographische Zeitenwende (wie Anm. 7), S. 108.

III. Wirtschaftliches Wachstum

455

Die Möglichkeiten, das Altern der Gesellschaft durch eine offenere Einwanderungspolitik aufzuhalten, sind begrenzt. Die Einwanderung hat, wie die Schätzung des Prognos-Instituts von 1995 zeigt, nur wenig Einfluss auf die Altersstruktur der Gesellschaft. Zuwanderer entscheiden sich zwar häufiger als deutsche junge Erwachsene für eine Familie, und die Familien sind im Durchschnitt etwas größer. Aber die Zuwanderer von heute werden in absehbarer Zeit selbst in das Rentenalter eintreten. Der demographische Entlastungseffekt ist daher geringer, als oft angenommen wird.14 In einem dicht besiedelten Land wie der Bundesrepublik Deutschland kann man der demographischen Stagnation auch positive Aspekte abgewinnen. Eine unbegrenzte Zunahme der Bevölkerung ist jedenfalls schwer vorstellbar; früher oder später wird die Gesellschaft sich auf eine stagnierende Bevölkerung einstellen müssen. Eben so schwer vorstellbar wie ein unbegrenztes Wachstum wäre aber auch eine ständige Abnahme der Bevölkerung. Die kinderlose Zukunftsgesellschaft, in der die Ruhestandsgeneration behaglich von ihren Kapitaleinkünften lebt, ist keine realistische Option. In verlassenen Fabriken würden keine Renditen erwirtschaftet, und für leer stehende Immobilien würden keine Mieten gezahlt werden. Es ist daher wichtig, dass der Übergang vom Bevölkerungswachstum zur demographischen Stagnation als sanfte Landung und nicht als Absturz erfolgt.

III. Wirtschaftliches Wachstum Im traditionellen Generationenvertrag setzte das geringe Niveau der Produktivkräfte der intergenerativen Umverteilung enge Grenzen. Nur mit großer Mühe konnte die mittlere Generation die Transferleistungen an die Jugendgeneration und an die ältere Generation aufbringen. Der Kapitalismus leitete einen langfristigen wirtschaftlichen Wachstumsprozess ein. Das Wirtschaftswachstum wurde von Krisen und Kriegen unterbrochen, führte im Trend aber zu einem deutlichen Anstieg der Realeinkommen. Mit dem Wachstum des Sozialprodukts nahm auch der Wert der Haushaltsproduktion zu, der in Marktäquivalenten ausgedrückt wird. Das wirtschaftliche Wachstum erleichterte die Einkommensverteilung zwischen den Generationen und entschärfte manche Verteilungskonflikte. Im modernen Generationenvertrag eröffnete die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit die Möglichkeit, das wirtschaftliche Wachstum zu beschleunigen. Dieses Potential wurde aber nicht genutzt. Die ostdeutsche Planwirtschaft wies trotz der hohen Erwerbsquote nur ein bescheidenes wirtschaftliches Wachstum auf. Auch in der westdeutschen Wirtschaft ließ das Wachstumstempo seit der Krise von 1974 – 1975 nach. Der Abschied von den ungewöhnlich hohen Wachstumsraten des „goldenen Zeitalters“ von 1950 bis 1973 galt zunächst als Normalisierung, entwickelte sich aber immer mehr zu einer Strukturkrise. Entgegen manchen optimistischen 14

Birg, Die demographische Zeitenwende (wie Anm. 7), S. 117.

456

Epilog: Erfahrungen und Perspektiven

Erwartungen brachte die Wiedervereinigung keinen wirtschaftlichen Wachstumsschub. Vielmehr wurde die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft durch die massive Transformationskrise der ostdeutschen Wirtschaft verschärft. Dennoch gab es weiterhin ein reales Wirtschaftswachstum. Die intergenerative Einkommensverteilung findet zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf einem hohen materiellen Niveau statt. Tabelle 31 Wirtschaftliches Wachstum in Deutschland 1800 – 2000 Wachstumsrate des realen Pro-Kopf-Einkommens (Prozent) 1800 – 1871

0,9

1871 – 1913

1,3

1913 – 1950

0,5

1950 – 1973

4,9

1973 – 1989

2,0

1991 – 2002

1,1

Quellen: Friedrich-Wilhelm Henning, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert. Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Bd. 2, Paderborn 1996, S. 683; Walther G. Hoffmann / Franz Grumbach / Helmuth Hesse, Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 172 – 174, 827 – 828; Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 2004, S. 26, 729. – Die Wachstumsrate bezieht sich von 1800 bis 1950 auf das Nettosozialprodukt zu konstanten Preisen je Einwohner und von 1950 bis 2000 auf das Bruttoinlandsprodukts zu konstanten Preisen je Einwohner. Das Gebiet ist von 1800 bis 1913 Deutschland in den Grenzen von 1871, von 1950 bis 1989 die alte Bundesrepublik Deutschland und von 1991 bis 2002 die neue Bundesrepublik Deutschland.

Mehr als der Mangel an Produkten belastet seit einiger Zeit der Mangel an Arbeitsplätzen den Generationenvertrag. Die Abschwächung des Wirtschaftswachstums, die in den letzten Jahren der alten Bundesrepublik Deutschland begann und sich im vereinten Deutschland fortsetzte, hatte eine steigende Arbeitslosigkeit zur Folge. Durch die Arbeitsmarktkrise wird es der mittleren Generation verwehrt, ihren potentiellen Beitrag zum Generationenvertrag zu leisten. Die steigende Erwerbsorientierung des modernen Generationenvertrages trifft auf einen stagnierenden Arbeitsmarkt und führt häufig nur in die Arbeitslosigkeit. Die Arbeitsmarktkrise hat auch zur Folge, dass die Verkürzung der Erwerbsphase unfreiwillig verstärkt wird, weil viele Jugendliche keinen Arbeitsplatz fanden und ältere Beschäftigte vorzeitig aus dem Beruf gedrängt wurden. Wenn die Arbeitsmarktkrise überwunden wird und die Nachfrage nach Arbeitskräften zunimmt, kann auch eine Verlängerung der Erwerbsphase die wirtschaftliche Basis des Generationenvertrages stärken.

IV. Markt, Solidarität und Staat

457

Die Europäische Union formulierte in Lissabon 2000 eine „Europäische Beschäftigungsstrategie“. Ziel ist es, den Anteil der Beschäftigten an der Bevölkerung langfristig zu erhöhen. Nach dem aktuellen Stand soll die Beschäftigungsquote in der Bevölkerung von 15 Jahren bis zu 64 Jahren, die 1997 im Durchschnitt der fünfzehn Staaten der Europäischen Union 61 Prozent betrug, bis 2005 auf 67 Prozent und bis 2010 auf siebzig Prozent zu steigern. Auch für die Bundesrepublik Deutschland, in der die Beschäftigungsquote 1997 mit 64 Prozent etwas über dem europäischen Durchschnitt lag, würde die Europäische Beschäftigungsstrategie die Basis der intergenerativen Einkommensverteilung wesentlich verbessern. Wenn die Frauenerwerbstätigkeit weiter ansteigt, könnte die Beschäftigungsquote noch stärker zunehmen.15

IV. Markt, Solidarität und Staat Die verschiedenen Institutionen, denen die Menschen ihr Lebenseinkommen anvertrauen, und die unterschiedlichen Einkommensarten sind bis zu einem gewissen Grad substituierbar. Im traditionellen Generationenvertrag wurden die Markteinkommen in erheblichem Umfang durch die Haushaltsproduktion der Familien ergänzt. Die Familien erbrachten nicht nur Dienstleistungen wie Betreuung und Pflege, sondern produzierten auch einen Teil der benötigten Konsumgüter selbst. Die intergenerative Umverteilung bestand im wesentlichen in familialen Transferleistungen. Die Solidarität zwischen den Generationen sollte durch die persönliche Nähe der Familienmitglieder, durch die lange Dauer der Familienbeziehungen und durch die Symmetrie von Kindererziehung und Altersversorgung gefördert werden. Der Aufwand für die Jugend galt, wie in Hebels Geschichte vom fröhlichen Landmann, als eine Investition in das soziale Kapital der Solidarität, mit der die mittlere Generation ihr Alterseinkommen sicherte. Im bürgerlichen Generationenvertrag wurde das institutionelle Arrangement der intergenerativen Einkommensverteilung grundlegend verändert. Die materielle Produktion ging auf die Betriebe über und wurde dort mit steigender Effizienz geleistet. In den Familien blieben als produktive Leistungen vor allem die Erziehung, Betreuung und Pflege. Die privaten Transferleistungen der Familien wurden in wachsendem Umfang durch die öffentlichen Transferleistungen des Staates und der Sozialversicherung ergänzt und ersetzt. Neben der Rationalität des Marktes und der Solidarität der Familien erhielt die sekundäre Einkommensverteilung erheblichen Einfluss auf die individuellen Lebenseinkommen. Die staatliche Intervention sollte die Stabilität der Lebenseinkommen verbessern, schuf aber ihrerseits auch neue Probleme. Die Entwicklung der Rente zum wichtigsten Alterseinkommen ermöglichte einen gesicherten Ruhestand, löste aber die Symmetrie von Kindererziehung und Alterssicherung auf, die den familialen Generationenvertrag 15 Petra Beckmann, Beschäftigungsziele für mehr Chancengleichheit am Arbeitsmarkt, in: Bundesarbeitsblatt, 9 / 2004.

458

Epilog: Erfahrungen und Perspektiven

charakterisiert hatte. Die Kindererziehung begründete zwar nach wie vor einen individuellen solidarischen Zusammenhalt zwischen den Generationen. In der materiellen Alterssicherung geriet sie aber zum Nachteil, weil die Rentenansprüche im wesentlichen aus der Erwerbstätigkeit abgeleitet wurden. Ein anderes Problem lag darin, dass die sekundäre Einkommensverteilung die ältere Generation gegenüber der Jugendgeneration bevorzugte. Wie die Rekonstruktion der Entscheidungsprozesse zur Rentenpolitik und zur Familienförderung in der vorliegenden Untersuchung zeigt, hat es zu keiner Zeit systematische Überlegungen zur Struktur der öffentlichen Umverteilung gegeben. Die Asymmetrie des öffentlichen Generationenvertrages ist vor allem durch die unterschiedliche Gewichtung der Alterssicherung und der Familienförderung in der öffentlichen Meinung zu erklären. Die Alterssicherung gilt traditionell als ein attraktives politisches Programm, mit dem sich Wählerstimmen gewinnen lassen. Dagegen findet die Familienförderung weniger öffentliches Interesse.16 Erst der Rückgang der Geburtenrate machte darauf aufmerksam, dass es problematisch war, wenn der Staat mehr in die Vergangenheit als in die Zukunft des Generationenvertrages investierte.17 In der staatssozialistischen Variante des modernen Generationenvertrages blieb die Differenzierung des Lebenseinkommens in Erwerbseinkommen, Vermögenseinkommen, Haushaltsproduktion, private Transferleistungen und öffentliche Transferleistungen grundsätzlich erhalten. Die Erwerbseinkommen und Vermögenseinkommen wurden aber nicht mehr durch den Markt, sondern durch die staatliche Planung festgelegt. Der Anteil der öffentlichen Transferleistungen am Gesamteinkommen ging zurück. Die staatliche Einkommenspolitik und die Subventionierung des Grundbedarfs sollten den Bedarf an öffentlichen Transferleistungen reduzieren. Aber auch durch die restriktive Rentenpolitik wurde der öffentliche Umverteilungsbedarf gesenkt. In der postindustriellen Variante des modernen Generationenvertrages nahm die Bedeutung der öffentlichen Umverteilung zu. Das lag vor allem an dem steigenden Aufwand für die Alterssicherung, an der Arbeitsmarktkrise und auch an der Familienförderung. Unter dem Einfluss des schwächeren Wirtschaftswachstums und der Arbeitsmarktkrise gab es einen Paradigmenwechsel von der Expansion zur Konsolidierung der sozialen Sicherung. Steuern und Sozialversicherungsbeiträge gelten aus neoliberaler Sicht als Hindernis für wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung. Seit einiger Zeit wird in der Finanzpolitik die Forderung nach „Generationengerechtigkeit“ diskutiert; gemeint ist damit, dass künftige Generationen keine höhere Staats- und Beitragsquote tragen sollen als die aktuelle erwerbstätige Generation.18 16 Peter Bernholz / Friedrich Breyer, Ökonomische Theorie der Politik. Grundlagen der Politischen Ökonomie, Bd. 2, Tübingen 1994, S. 211 – 215. 17 Anne-Marie Guillemard, Equity between generations in aging societies: The problem of assessing public policies, in: Tamara Hareven, Hg., Aging and generational relations over the life course, Berlin 1996. 18 Holger Fabig, Messbare Orientierungen für das sozial- und finanzpolitische Ziel der Generationengerechtigkeit, in: Irene Becker / Notburga Ott / Gabriele Rolf, Hg., Soziale Siche-

IV. Markt, Solidarität und Staat

459

Obwohl der Zeitgeist einer Erweiterung der öffentlichen Umverteilung nicht günstig gesonnen ist, müsste der staatliche Anteil an der Finanzierung der Jugendgeneration weiter erhöht werden, um die Familien zu entlasten. Eine aktive Familienpolitik, mit einem stärkeren Engagement des Staates, kann das Altern der Gesellschaft zwar nicht aufhalten, aber doch verlangsamen. Die Familienpolitik soll in einer demokratischen Gesellschaft nicht als Instrument einer Bevölkerungspolitik missbraucht werden. Sie kann aber die Lebensbedingungen der Familien verbessern und die strukturellen Nachteile der familialen Lebensform mehr als bisher ausgleichen. Das Ziel sollte, nach einer Formulierung aus dem Weltbevölkerungsbericht 1994, die „Erweiterung der Entscheidungsfreiheit“ sein.19 Zu einer zukunftsorientierten Familienpolitik gehören eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, mit flexibleren Arbeitsbedingungen und erweiterten Betreuungsmöglichkeiten, der Ausbau der wirtschaftlichen Familienförderung sowie eine adäquate Anerkennung der Familientätigkeit in der Rentenversicherung und in der Pflegeversicherung. Die Anerkennung der Familientätigkeit ist eine gesellschaftliche Aufgabe und sollte daher nicht durch Sozialversicherungsbeiträge, sondern durch Steuern finanziert werden.20 Die ältere Generation nimmt derzeit noch an der allgemeinen Einkommensentwicklung teil. Altersarmut ist selten geworden; alte Menschen kennen weniger relative Einkommensarmut, und sie sind in geringerem Maße auf die Sozialhilfe angewiesen als Kinder und Jugendliche oder die mittlere Generation.21 Dennoch ist die Lage der älteren Generation von Zukunftsängsten überschattet. Da die Gesellschaft altert, muss in Zukunft ein wachsender Teil des gesellschaftlichen Einkommens an die ältere Generation gelangen, wenn man nicht zur Altersarmut früherer Zeiten zurückkehren will. Weil die Alterseinkommen zum größten Teil in öffentlichen Transferleistungen der Sozialversicherung und des Staates beruhen, ist die Stabilisierung der Alterseinkommen aber in einen Zielkonflikt mit der Forderung nach einer Begrenzung der Staatstätigkeit geraten. In den Rentenreformen von 1997 bis 2004 hatte das Beitragsziel gegenüber dem Niveausicherungsziel Priorität. Um den Beitragssatz zu stabilisieren, wird eine größere Differenz zwischen Renten und Erwerbseinkommen angestrebt. Wenn die Alterseinkommen rung in einer dynamischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 2001; Bernhard Felderer, Soziale Lasten und Generationenfolge, in: Friedrich Buttler / Gerhard Kühlewind, Hg., Erwerbstätigkeit und Generationenvertrag – Perspektiven bis 2030. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 130, Nürnberg 1989; Norbert Reuter, Generationengerechtigkeit als Richtschnur der Wirtschaftspolitik? In: Christoph Butterwegge / Michael Klundt, Hg., Kinderarmut und Generationengerechtigkeit, Opladen 2002. 19 Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, Hg., Entscheidungsfreiheit und Verantwortung. Weltbevölkerungsbericht 1994, Bonn 1994, S. 1. 20 Holger Viebrok / Ralf K. Himmelreicher / Winfried Schmähl, Private Vorsorge statt gesetzlicher Rente: Wer gewinnt, wer verliert? Münster 2004, S. 167. 21 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Lebenslagen in Deutschland. Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht, 3. März 2005. Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Drucksache 15 / 5015, S. 45 – 47, 69.

460

Epilog: Erfahrungen und Perspektiven

mit der allgemeinen Einkommensentwicklung Schritt halten sollen, müsste die Senkung des Rentenniveaus durch einen raschen Ausbau der betrieblichen Altersversorgung und der individuellen Vermögensbildung kompensiert werden.22 Dramatischer als die Entwicklung der monetären Alterseinkommen sind die Konsequenzen, die sich aus dem Altern der Gesellschaft für die familialen Leistungen zur Betreuung und Pflege der älteren Generation ergeben. Wenn immer mehr Menschen den Generationenvertrag kündigen und sich für ein Leben ohne Kinder entscheiden, wird in einer nicht allzu fernen Zukunft vielen pflegebedürftigen Menschen im Alter die Unterstützung durch Familienangehörige fehlen.23 Die Folgen sind entweder ein geringerer Pflegestandard, oder, wenn der Zeitaufwand der Familienangehörigen durch professionelle Pflegekräfte ersetzt werden soll, eine zusätzliche Belastung der Pflegeversicherung oder anderer monetärer Alterssicherungssysteme. Für dieses Problem zeichnet sich derzeit keine Lösung ab.

22 Viebrok / Himmelreicher / Schmähl, Private Vorsorge statt gesetzlicher Rente (wie Anm. 20), S. 164 – 166. 23 Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“ (wie Anm. 12), S. 237 – 239.

Quellen und Literatur I. Archive Bundesarchiv Berlin Bundesarchiv Koblenz Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin

II. Gedruckte Quellen Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, Hg., Entscheidungsfreiheit und Verantwortung. Weltbevölkerungsbericht 1994, Bonn 1994. Borscheid, Peter / Drews, Anette, Versicherungsstatistik Deutschlands 1750 – 1985, St. Katharinen 1988. Bundesanstalt für Arbeit, Überlegungen zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik, Nürnberg 1974. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Alterssicherung in Deutschland, 1986 bis 1999. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Lebenslagen in Deutschland. Armuts- und Reichtumsbericht, 2001 und 2005. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialbericht, ab 1968. Bundesministerium für Familie und Jugend, Familienbericht, ab 1968. Bundesministerium für Familie und Jugend, Kinder- und Jugendbericht, ab 1965. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Altenbericht, ab 1993. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gerechtigkeit für Familien. Zur Begründung und Weiterentwicklung des Familienlasten- und Familienleistungsausgleichs. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Stuttgart 2002. Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub, und Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Stuttgart 1989. Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Familien mit Kleinkindern. Spezifische Belastungssituationen in der frühkindlichen Entwicklung. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Stuttgart 1980.

462

Quellen und Literatur

Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Leistungen für die nachwachsende Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Stuttgart 1979. Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Optionen der Lebensgestaltung junger Eltern und Kinderwunsch, Stuttgart 1998. Das Transfersystem in der Bundesrepublik Deutschland. Bericht der Sachverständigenkommission zur Ermittlung des Einflusses staatlicher Transfereinkommen auf das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte, Bonn 1981. Eckerle, Konrad / Barth, H. J. / Hofer, P. / Schilling, K., Gesamtwirtschaftliche Entwicklungen und gesetzliche Rentenversicherung vor dem Hintergrund einer schrumpfenden Bevölkerung. Prognos Gutachten, Basel 1987. Eckerle, Konrad / Oczipka, Thomas, Auswirkungen veränderter ökonomischer und rechtlicher Rahmenbedingungen auf die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland. Prognos Gutachten 1998. Hg. vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger. Frankfurt am Main 1998. Eckerle, Konrad / Schlesinger, Michael / Blaha, Gudrun, Perspektiven der gesetzlichen Rentenversicherung für Gesamtdeutschland vor dem Hintergrund veränderter politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen. Prognos Gutachten 1995. Hg. vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger. 2 Bde., Frankfurt am Main am Main 1995. Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, Familienpolitisches Programm 2001, Berlin 2001. Fischer, Wolfram / Krengel, Jochen / Wietog, Jutta, Materialien zur Geschichte des Deutschen Bundes 1815 – 1870. Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch 1, München 1982. Gutachten des Sozialbeirats über eine Strukturreform zur längerfristigen finanziellen Konsolidierung und systematischen Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung im Rahmen der gesamten Alterssicherung, 16. April 1986. Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, Bd. 334, Drucksache 10 / 5332. Gutachten des Sozialbeirats über langfristige Probleme der Alterssicherung in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Juli 1981. Deutscher Bundestag, 9. Wahlperiode, Bd. 274, Drucksache 9 / 632. Hoffmann, Walther G. / Grumbach, Franz / Hesse, Helmuth, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965. Hohorst, Gerd / Kocka, Jürgen / Ritter, Gerhard A., Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870 – 1914. Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch 2, München 1975. Kaiserliches Statistisches Amt, Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907. Die berufliche und soziale Gliederung des deutschen Volkes. Statistik des Deutschen Reichs, Neue Folge 211, Berlin 1913. Kaiserliches Statistisches Amt, Die berufliche und soziale Gliederung des Deutschen Volkes nach der Volkszählung vom 14. Juni 1895. Statistik des Deutschen Reichs, Neue Folge 111, Berlin 1899. Kaiserliches Statistisches Amt, Erhebung von Wirtschaftsrechnungen minderbemittelter Familien im Deutschen Reiche. 2. Sonderheft zum Reichs-Arbeitsblatte, Berlin 1909. Kaiserliches Statistisches Amt, Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1889 bis 1915.

II. Gedruckte Quellen

463

Länderrat des Amerikanischen Besatzungsgebietes, Hg., Statistisches Handbuch von Deutschland 1928 – 1944, München 1949, Petzina, Dietmar / Abelshauser, Werner / Faust, Anselm, Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914 – 1945. Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch 3, München 1978. Reichs-Versicherungsamt, Amtliche Nachrichten des Reichs-Versicherungsamtes, 1893 bis 1932. Reichsversicherungsamt, Statistik der Invalidenversicherung für die Jahre 1891 bis 1899. Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes, 1. Beiheft, Berlin 1901. Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme, Vergleich der Alterssicherungssysteme und Empfehlungen der Kommission. Gutachten der Sachverständigenkommission vom 19. November 1983. Berichtsband 1, Stuttgart 1983. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten, ab 1975. Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, 28. März 2002. Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14 / 8800. Sozialenquête-Kommission, Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1966. Statistisches Amt der DDR, Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik, 1958 bis 1990. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft 1972 – 1972, Stuttgart 1972. Statistisches Bundesamt, Die sozialen Verhältnisse der Renten- und Unterstützungsempfänger. Heft 1: Die Sozialleistungen nach Leistungsfällen und Empfängern im September 1953. Statistik der Bundesrepublik Deutschland 137 / 1, Stuttgart 1955; Heft 2: Die sozialen Verhältnisse der Haushalte mit Sozialleistungsempfängern im Frühjahr 1955. Statistik der Bundesrepublik Deutschland 137 / 2, Stuttgart 1957. Statistisches Bundesamt, Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern und ihre berufliche Ausbildung, Stuttgart 1967. Statistisches Bundesamt, Familien heute. Strukturen, Verläufe und Einstellungen, Stuttgart 1990. Statistisches Bundesamt, Im Blickpunkt: Ältere Menschen, Stuttgart 1992. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, ab 1952. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für das vereinte Deutschland, 1991. Statistisches Reichsamt, Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1929 bis 1939 / 40. Tennstedt, Florian / Winter, Heidi / Ayass, Wolfgan / Nickel, Karl-Heinz, Hg., Grundfragen staatlicher Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite vom preußischen Verfassungskonflikt bis zur Reichstagswahl von 1881. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, Abteilung 1, Bd. 1, Stuttgart 1994. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Rentenversicherung in Zeitreihen, ab 1997.

464

Quellen und Literatur

Wengst, Udo, Hg., Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente. Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2 / 2, Baden-Baden 2001. Zur Einkommenslage der Rentner. Zwischenbericht der Sachverständigenkommission zur Ermittlung des Einflusses staatlicher Transfereinkommen auf das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte, Stuttgart 1979. Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft an den einzelnen und die Politik“, 1998. Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13 / 11460.

III. Darstellungen Aaron, Henry, The social insurance paradox, in: Canadian Journal of Economics, 32 (1966). Abel, Wilhelm, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, Hamburg 1974. Achinger, Hans / Höffner, Josep / Muthesius Hans / Neundörfer, Ludwig, Neuordnung der sozialen Leistungen. Denkschrift auf Anregung des Herrn Bundeskanzlers erstattet, Köln 1955. Alber, Jens, Der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland 1950 – 1983, Frankfurt am Main 1989. Allmendinger, Jutta, Lebenslauf und Sozialpolitik. Die Ungleichheit von Mann und Frau und ihre öffentlicher Ertrag, Frankfurt am Main 1994. Alt, Christian, Kindheit in Ost und West. Wandel der familialen Lebensformen aus Kindersicht, Opladen 2001. Altendorf, Kerstin, Hindernisse für Teilzeitarbeit und flexible Arbeitsorganisation in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Mainz 1998. Amend-Wegmann, Christine, Vereinbarkeitspolitik in Deutschland, Hamburg 2003. Anhagen, Otto, Die ländlichen Arbeitsverhältnisse in der Rheinprovinz und im oldenburgischen Fürstentum Birkenfeld, in: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, Bd. 2. Schriften des Vereins für Socialpolitik 54, Leipzig 1892. Auge, Michael, Humanvermögen, Sozialisation und Familienlastenausgleich. Zur vermögenstheoretischen Perspektive in der Familienpolitik, Spardorf 1984. Bade, Klaus, Hg., Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter, Ostfildern 1984. Bade, Klaus, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2002. Bäcker, Gerhard / Hanesch, Walter / Krause, Peter, Niedrige Erwerbseinkommen und Armut bei Erwerbstätigkeit in Deutschland, in: Sozialer Fortschritt, 47 (1998). Bäcker, Gerhard / Nägele, Gerhard, Alternde Gesellschaft und Erwerbstätigkeit. Modelle zum Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand, Köln 1993. Bajohr, Stefan, Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit 1914 bis 1945, Marburg 1979.

III. Darstellungen

465

Baltes, P. B. / Baltes, M. M., Erfolgreiches Altern: Mehr Jahre und mehr Leben, in: Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie, 2 (1989). Bartholomäi, Reinhart, Wolfgang Bodenbender, Hardo Henkel, Renate Hüttel, Hg., Sozialpolitik nach 1945. Geschichte und Analysen, Bonn 1977. von Baumbach, Die bäuerlichen Verhältnisse im Regierungsbezirk Kassel, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883. De Beauvoir, Simone, Das Alter (1970), Reinbek 1972. Beck, Brigitte / Naegele, Gerhar / Reichert, Monika / Dallinger, Ursula, Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege, Stuttgart 1997. Beck-Gernsheim, Elisabeth, Der geschlechtsspezifische Arbeitsmarkt. Zur Ideologie und Realität von Frauenberufen, Frankfurt am Main 1976. Beck-Gernsheim, Elisabeth, Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen, München 1998. Becker, Irene / Ott, Notburga / Rolf, Gabriele, Hg., Soziale Sicherung in einer dynamischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 2001. Beckmann, Petra / Engelbrech, Gerhard, Hg., Arbeitsmarkt für Frauen 2000 – Ein Schritt vor oder ein Schritt zurück? Nürnberg. 1994. Behrens, Johann / Voges, Wolfgang, Hg., Kritische Übergänge. Statuspassagen und sozialpolitische Institutionalisierung, Frankfurt am Main 1996. Beier, Rosemarie, Frauenarbeit und Frauenalltag im Deutschen Kaiserreich. Heimarbeiterinnen in der Berliner Bekleidungsindustrie 1880 – 1914, Frankfurt am Main 1983. Bell, Daniel, Die nachindustrielle Gesellschaft (1973), Frankfurt am Main 1975. Bengtson, Vern L. / Achenbaum, W. A., Hg., The changing contract across generations, New York 1993. Benninghaus, Christina, Die anderen Jugendlichen. Arbeitermädchen in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1999. Berger, Peter A. / Hradil, Stefan, Hg., Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990. Berger, Peter A. / Konietzka, Dirk, Hg., Die Erwerbsgesellschaft. Neue Ungleichheiten und Unsicherheiten, Opladen 2001. Bernays, Marie, Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der geschlossenen Großindustrie. Dargestellt an den Verhältnissen der „Gladbacher Spinnerei und Weberei“ AG zu München-Gladbach im Rheinland. Schriften des Vereins für Sozialpolitik 133, Leipzig 1910. Bernays, Marie, Untersuchungen über die Schwankungen der Arbeitsintensität während der Arbeitswoche und während des Arbeitstages, in: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der Lederwaren-, Steinzeug- und Textilindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik 135 / 3, Leipzig 1912. Bernays, Marie, Berufswahl und Berufsschicksal des modernen Industriearbeiters, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 35 (1912) und 36 (1913). 30 Hardach

466

Quellen und Literatur

Bertram, Hans, Familien leben. Neue Wege zur flexiblen Gestaltung von Lebenszeit, Arbeitszeit und Familienzeit, Gütersloh 1997. Bethlehem, Siegfried, Heimatvertreibung, DDR-Flucht, Gastarbeiter-Zuwanderung. Wanderungsströme und Wanderungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1982. von Bethusy-Huc, Viola, Familienpolitik, Tübingen 1987. Bichler, Barbara, Die Formierung der Angestelltenbewegung im Kaiserreich und die Entstehung des Angestelltenversicherungsgesetzes von 1911, Frankfurt am Main 1997. Bien, Walter, Hg., Eigeninteresse oder Solidarität. Beziehungen in modernen Mehrgenerationenfamilien, Opladen 1994. Bien, Walter, Familien an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Wandel und Entwicklung familialer Lebensformen, Opladen 1996. Bien, Walter, Hg., Kind ja, Ehe nein? Status und Wandel der Lebensverhältnisse von nichtehelichen Kindern und Kindern in nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Opladen 1998. Bien, Walter / Hartl, Angela / Teubner, Magnus, Hg., Stieffamilien in Deutschland. Eltern und Kinder zwischen Normalität und Konflikt, Opladen 2002. Birg, Herwig, Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, München 2001. Blanke, Karen / Ehling, Manfre /Schwarz, Norbert, Hg., Zeit im Blickfeld. Ergebnisse einer repräsentativen Zeitbudgeterhebung, Stuttgart 1996. Blasius, Dirk, Ehescheidung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1992. Blossfeld, Hans-Peter, Kohortendifferenzierung und Karriereprozeß – eine Längsschnittstudie über die Veränderung der Bildungs- und Erwerbschancen im Lebenslauf, Frankfurt am Main 1989. von Blücher, V., Die Generation der Unbefangenen, Düsseldorf 1966. Bolte, Karl Martin, Sozialer Aufstieg und Abstieg. Eine Untersuchung über Berufsprestige und Berufsmobilität, Stuttgart 1959. Bolte, Karl Martin / Tartler, Rudolf, Die Altersfrage – soziale Aufgabe der Gegenwart, Bad Homburg 1958. Born, Claudia / Krüger, Helga, Hg., Erwerbsverläufe von Ehepartnern und die Modernisierung weiblicher Lebensläufe, Weinheim 1993. Borscheid, Peter, Geschichte des Alters. 16. – 18. Jahrhundert, Münster 1987. Borscheid, Peter / Teuteberg, Hans J., Hg., Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationenbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983. Bromme, Moritz William Theodor, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters (1905), Frankfurt am Main 1971. Brose, Hanns-Georg / Wohlrab-Sahr, Monika / Corsten, Michael, Soziale Zeit und Biographie. Über die Gestaltung von Arbeitszeit und Lebenszeit, Opladen 1993. Brüggemann, Beate / Riehle, Rainer, Das Dorf. Über die Modernisierung einer Idylle, Frankfurt am Main 1986.

III. Darstellungen

467

Brüggemeier, Franz-Josef, Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889 – 1919, München 1983. Brunner, Otto, Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956. Bry, Gerhard, Wages in Germany 1871 – 1945, Princeton 1960. Budde, Gunilla-Friederike, Auf dem Weg ins Bürgerleben, Göttingen 1994. Bücher, Karl, Einkommensverhältnisse der Leipziger Handwerker, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland, Bd. 6. Schriften des Vereins für Socialpolitik 67, Leipzig 1897. Bungeroth, Die bäuerlichen Verhältnisse in der Bürgermeisterei Altenkirchen, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883. Butterwegge, Christoph / Klundt, Michael, Hg., Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, Opladen 2002. Buttler, Friedrich, Hg., Europa und Deutschland: Zusammenwachsende Arbeitsmärkte und Sozialräume, Stuttgart 1993. Buttler, Friedrich / Kühlewind, Gerhard, Hg., Erwerbstätigkeit und Generationenvertrag – Perspektiven bis 2030. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 130, Nürnberg 1989. Canning, Kathleen, Languages of Labor and Gender. Female factory work in Germany, 1850 – 1914, Ithaca und London 1996. Clausen, John A., The life course of individuals, in: Aging and society, Bd. 3, New York 1972. Conrad, Christoph, Die Entstehung des modernen Ruhestandes. Deutschland im internationalen Vergleich 1850 – 1960, in: Geschichte und Gesellschaft, 14 (1988). Conrad, Christoph, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1994, Göttingen 1994. Conrad, Christoph / Kondratowitz, Hans-Joachim von, Hg., Gerontologie und Sozialgeschichte, Berlin 1983. Conze, Werner, Hg., Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976. Cramer, Jörg E. / Förster, Wolfgang / Ruland, Franz, Hg., Handbuch zur Altersversorgung. Gesetzliche, betriebliche und private Vorsorge in Deutschland, Frankfurt am Main 1998. Daniel, Ute, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989. Davidson, Donald, Actions and events, Oxford 1980. Desai, Ashok V., Real wages in Germany, Oxford 1968. Deutsches Zentrum für Altersfragen, Hg., Die ergraute Gesellschaft, Berlin 1987. Deutsches Zentrum für Altersfragen, Hg., Erwerbsbiographien und materielle Lebenssituation im Alter. Expertisen zum Dritten Altenbericht der Bundesregierung 2, Opladen 2001. Dienel, Christiane, Kinderzahl und Staatsräson. Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, Münster 1995. 30*

468

Quellen und Literatur

Dittenberger, Die bäuerlichen Verhältnisse des Eisenacher Unterlandes, in: Erwin Nasse, Hg., Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883. Dobbernack, W., Die Einwirkungen der Strukturwandlungen des deutschen Volkes und der sozialversicherten Bevölkerung auf Krankenstand, Invaliditätsziffer und Sterblichkeit, in: Die Reichsversicherung, 3 (1929). Döring, Diether, Die Zukunft der Alterssicherung. Europäische Strategien und der deutsche Weg, Frankfurt am Main 2002. Dohle, Anne, Die Sozialpolitiklehre Wilfrid Schreibers zur Gesetzlichen Krankenversicherung und zum Familienlastenausgleich. Analyse, Rezeption und Würdigung seiner Konzeption, Köln 1990. Dohse, Knuth / Jürgens, Ulrich / Russig, Harald, Hg., Ältere Arbeitnehmer zwischen Unternehmensinteresse und Sozialpolitik, Frankfurt am Main 1982. Dreher, Wolfgang, Die Entstehung der Arbeiterwitwenversicherung in Deutschland, Berlin 1976. Eheberg, K. T., Bäuerliche Verhältnisse in Niederbayern, Oberpfalz und dem bayerischen Franken, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 3. Schriften des Vereins für Socialpolitik 24, Leipzig 1883. Ehmer, Josef, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1991. Ehmer, Josef, Sozialgeschichte des Alters, Frankfurt am Main 1990. Ehrenberg, Paul, Die Spielwarenindustrie des Kreises Sonneberg, in: Hausindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Österreich, Bd. 3. Schriften des Vereins für Socialpolitik 86, Leipzig 1899. Eicker-Wolf, Kai / Käpenick, Ral / Niechoj, Torsten / Reiner, Sabine / Weiß, Jens, Hg., Die arbeitslose Gesellschaft und ihr Sozialstaat, Marburg 1998. Eisenstadt, S. N., From generation to generation. Age groups and social structure, Glencoe 1956. Engelhard, Ulrich, Hg., Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensgestaltung und Lebensstandard deutscher Arbeiter und Handwerker, Stuttgart 1981. Engels, Friedrich, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (1884), in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke 21, Berlin 1975. Engstler, Heribert / Menning, Sonja, Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Lebensformen, Familienstrukturen, wirtschaftliche Situation der Familien und familiendemographische Entwicklung in Deutschland, Berlin 2003. Erikson, Erik, Life cycle, in: International Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 9, New York 1968. Ewerhart, Georg, Humankapital in Deutschland. Bildungsinvestitionen, Bildungsvermögen und Abschreibungen auf Bildung, Nürnberg 2001.

III. Darstellungen

469

Fachinger, Uwe, Materielle Ressourcen älterer Menschen – Struktur, Entwicklung und Perspektiven, in: Deutsches Zentrum für Altersfragen, Hg., Erwerbsbiographien und materielle Lebenssituation im Alter. Expertisen zum Dritten Altenbericht der Bundesregierung 2, Opladen 2001. Fachinger, Uwe / Oelschläger, Angelik / Schmähl, Winfried Alterssicherung von Selbständigen. Bestandsaufnahme und Reformoptionen, Münster 2004. Fasshauer, Stephan, Das Alterssicherungssystem in Deutschland im Rahmen der Neuen Institutionenökonomie, Hamburg 2003. Felderer, Bernhard, Hg., Bevölkerung und Wirtschaft, Berlin 1990. Felderer, Bernhard, Hg., Familienlastenausgleich und demographische Entwicklung, Berlin 1988. Felderer, Bernhard. Hg., Kapitaldeckungsverfahren versus Umlageverfahren. Demographische Entwicklung und Finanzierung von Alterssicherung und Familienlastenausgleich, Berlin 1987. von Ferber, Christian, Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Hamburg 1967. Ferchhoff, Wilfried, Jugend an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile, Opladen 1999. Fisch, Stefan / Haerendel, Ulrike, Hg., Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland. Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherung im Sozialstaat, Berlin 2000. Fischer, Arthur / Fritzsche, Yvonne / Fuchs-Heinrich, Werner / Münchmeyer, Richard, Hg., Jugend 2000. Dreizehnte Shell Jugendstudie, 2 Bde., Opladen 2000. Fischer, Karl, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Paul Göhre, Leipzig 1903. Fischer, Wolfram, Armut in der Geschichte, Göttingen 1982. Fischer, Wolfram, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972. Fliege, Thomas, Bauernfamilien zwischen Tradition und Moderne. Eine Ethnographie bäuerlicher Lebensstile, Frankfurt am Main 1998. Foerster, Roland G., Hg., Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politischinstitutionelle Wirkung, München 1994. Frankenstein, Kuno, Die ländlichen Arbeitsverhältnisse in Hohenzollern, Provinz HessenNassau, Thüringen, Bayern, Großherzogtum Hessen, Königreich Sachsen, in: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, Bd. 2. Schriften des Vereins für Socialpolitik 54, Leipzig 1892. Franz, H., Die landwirthschaftlich-bäuerlichen Verhältnisse des Weimarischen Kreises. Eine Schilderung thüringischer Landwirtschaft, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpoltik 22, Leipzig 1883. Freitag, Winfried, Haushalt und Familie in traditionalen Gesellschaften. Konzepte, Probleme und Perspektiven, in: Geschichte und Gesellschaft, 14 (1988). Frerich, Johannes / Frey, Martin, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, 3 Bde., München 1996.

470

Quellen und Literatur

Freudenthal, Margarete, Gestaltwandel der städtischen, bürgerlichen und proletarischen Hauswirtschaft, Frankfurt am Main 1986. Frevert, Ute, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1986. Friedrich, Walter / Griese, Hartmut, Hg., Jugend und Jugendforschung in der DDR. Gesellschaftliche Situationen, Sozialisation und Mentalitätsentwicklung in den achtziger Jahren, Opladen 1991. Fritz, Wolfgang, Historie der amtlichen Statistiken der Erwerbstätigkeit in Deutschland, Köln 2001. Fröhlich, Sigrid, Die soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden. Darstellung, Analyse, Vergleich, Berlin 1976. Fürth, Henriette, Die Fabrikarbeit verheirateter Frauen, Frankfurt am Main 1902. Fuhrmann, Martin, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 2002. Gabriel, Karl / Herlth, Aloi / Strohmeier, Klaus Peter, Hg., Modernität und Solidarität. Konsequenzen gesellschaftlicher Modernisierung, Freiburg 1999. Gahlen, B. / Hesse, H. / Ramser, H. J. / Bombach, G., Hg., Theorie und Politik der Sozialversicherung, Tübingen 1990. Gather, Claudia, Konstruktionen von Geschlechterverhältnissen. Machtstrukturen und Arbeitsteilung bei Paaren im Übergang in den Ruhestand, Berlin 1996. Gau, Die bäuerlichen Verhältnisse im Eisenacher Oberlande des Großherzogthums Sachsen, speciell in den Amtsgerichtsbezirken Lengsfeld und Kaltennordheim, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpoltik 22, Leipzig 1883. Geiger, Theodor, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln 1949. Geiger, Theodor, Die soziale Schichtung des Deutschen Volkes (1932), Darmstadt 1967. Geissler, Brigitte / Maier, Friederike / Pfau-Effinger, Birgit, Hg., FrauenArbeitsMarkt. Der Beitrag der Frauenforschung zur sozioökonomischen Theorieentwicklung, Berlin 1997. Geißler, Gert, Geschichte des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 bis 1962, Frankfurt am Main 2000. Gensior, Sabine, Hg., Vergesellschaftung und Frauenerwerbsarbeit. Ost-West-Vergleiche, Berlin 1995. Gerhard, Ute / Knijn, Trudie / Weckwert, Anja, Hg., Erwerbstätige Mütter. Ein europäischer Vergleich, München 2003. Gerlach, Irene, Familie und staatliches Handeln. Ideologie und politische Praxis in Deutschland, Opladen 1996. Gestrich, Andreas, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999. Gestrich, Andreas / Krause, Jens-Uwe / Mitterauer, Michael, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003. Geyer, Martin H., Die Reichsknappschaft. Versicherungsformen und Sozialpolitik im Bergbau 1900 – 1945, München 1987.

III. Darstellungen

471

Glatzer, Wolfgang / Noll, Heinz-Herbert, Hg., Getrennt vereint. Lebensverhältnisse in Deutschland seit der Wiedervereinigung, Frankfurt am Main 1995. Göbel, Dieter, Lebenseinkommen und Erwerbsbiographie, Frankfurt am Main 1983. Göckenjan, Gerd, Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutung des Alters, Frankfurt am Main 2000. Göckenjan, Gerd, Hg., Recht auf ein gesichertes Alter? Studien zur Geschichte der Alterssicherung in der Frühzeit der Sozialpolitik, Augsburg 1990. Gräbe, Sylvia, Hg., Der private Haushalt als Wirtschaftsfaktor, Frankfurt am Main 1991. Grandke, Hans, Berliner Kleiderkonfektion, in: Hausindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Österreich, Bd. 2. Schriften des Vereins für Socialpolitik 85, Leipzig 1899. Grözinger, Gerd / Schubert, Renate / Backhaus, Jürgen, Hg., Jenseits von Diskriminierung. Zu den institutionellen Bedingungen weiblicher Arbeit in Beruf und Familie, Marburg 1993. Großmann, Friedrich, Die ländlichen Arbeitsverhältnisse in der Provinz Schleswig-Holstein, den Provinzen Sachsen und Hannover (südlicher Teil), sowie den Herzogtümern Braunschweig und Anhalt, in: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, Bd. 2. Schriften des Vereins für Socialpolitik 54, Leipzig 1892. Günther, Adolf, Die Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber in Deutschland. Schriften des Vereins für Socialpolitik 114, Leipzig 1905. Günther, Adolf, Werkspensionskassen, Knappschaftskassen und ähnliche Einrichtungen in ihrer Bedeutung für das Geld- und Kreditwesen, in: Untersuchungen über das Volkssparwesen, Bd. 3. Schriften des Vereins für Socialpolitik 137 / 3, München 1913. Günther, Ernst, Die Anpassung der Sozialversicherung an die Geldentwertung und Lohnsteigerung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 121 (1923). Günther, Ernst, Die Tarife in der Invaliden- und Angestelltenversicherung, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungs-Wissenschaft, 23 (1923). Guillemard, Anne-Marie, Emploi, protection sociale et cycle de vie: Résultats d’une comparaison internationale des dispositifs de sortie anticipée d’activité, in: Sociologie de Travail, 3 / 1993. Habermas, Rebekka, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte 1750 – 1850, Göttingen 2000.. Hachtmann, Rüdiger, Industriearbeit im „Dritten Reich“. Untersuchungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933 – 1945, Göttingen 1989. Haerendel, Ulrike, Die Anfänge der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland. Die Invaliditäts- und Altersversicherung von 1889 im Spannungsfeld von Reichsverwaltung, Bundesrat und Parlament, Speyer 2001. Hagemann, Karen, Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990. Hajnal, John, European marriage patterns in perspective, in: D. V. Glass / D. E. C. Eversley, Hg., Population in history. Essays in historical demography, London 1965. Hajnal, John, Two kinds of pre-industrial household formation systems, in: Richard Wall / Jean Robin / Peter Laslett, Hg., Family forms in historic Europe, Cambridge 1983.

472

Quellen und Literatur

Handl, Johann, Berufschancen und Heiratsmuster von Frauen. Empirische Untersuchungen zu Prozessen sozialer Mobilität, Frankfurt am Main 1988. Hansen-Blancke, Dora, Die hauswirtschaftliche und Mutterschaftsleistung der Fabrikarbeiterin, Eberswalde o. J. (1932). Hardach, Gerd, Optionen der Altersvorsorge im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 48 (2003). Hardach-Pinke, Irene, Kinderalltag. Aspekte von Kontinuität und Wandel der Kindheit in autobiographischen Zeugnissen 1700 – 1900, Frankfurt am Main 1980. Hardach-Pinke, Irene, Über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Wien 1995. Hardach-Pinke, Irene / Hardach, Gerd, Hg., Deutsche Kindheiten. Autobiographische Zeugnisse 1700 – 1900, Kronberg 1978. Hareven, Tamara K., Hg., Aging and generational relations over the life course, Berlin 1996. Hareven, Tamara K. / Adams, Kathleen, Hg., Aging and life course transitions. An interdisciplinary perspective, New York 1982. Hartig, Sandra, Alterssicherung in der Industrialisierung. Eine positive Analyse sozialen Wandels, Marburg 2002. Hasenclever, Christa, Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900, Göttingen 1978. Hausen, Karin, Hg., Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993. Hauser, Richard / Semrau, Hans, Zur Entwicklung der Einkommensarmut von 1963 bis 1086, in: Sozialer Fortschritt, 39 (1990). Hebel, Johann Peter, Schatzkästlein des Rheinländischen Hausfreundes (1811), in: Johann Peter Hebel, Werke, München 1960. Heim, Die bäuerlichen Verhältnisse im Herzogthum Sachsen-Meiningen, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpoltik 22, Leipzig 1883. Heinz, Walter R., Arbeit, Beruf und Lebenslauf. Eine Einführung in die berufliche Sozialisation, Weinheim 1995. Heinz, Walter R. / Dressel, Werner / Blaschke, Dieter / Engelbrech, Gerhard, Hg., Was prägt Berufsbiographien? Lebenslaufdynamik und Institutionenpolitik, Nürnberg 1998. Heinzel, Petra / Schuck, Gundi, Mindestsicherung. Wege zur Verminderung von Armut und zur Aufhebung der Spaltung von Armen- und Arbeiterpolitik, Köln 1989. Heiß, Cl., Auslese und Anpassung in der Berliner Feinmechanik, in: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der Elektroindustrie, Buchdruckerei, Feinmechanik und Maschinenindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik 134, Leipzig 1910. Helwig, Gisela, Jugend und Familie in der DDR. Leitbild und Alltag im Widerspruch, Köln 1984. Helwig, Gisela / Nickel, Hildegard Maria, Hg., Frauen in Deutschland 1945 – 1992, Berlin 1993. Herrlitz, Hans-Georg / Hopf, Wulf / Titze, Hartmut, Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart, Weinheim 1993. Hildebrand, Bruno, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft (1848), Jena 1922.

III. Darstellungen

473

Hille, Barbara, Familie und Sozialstruktur in der DDR, Opladen 1985. Hinke, Hans, Auslese und Anpassung der Arbeiter im Buchdruckereigewerbe mit besonderer Rücksichtnahme auf die Setzmaschine, in: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der Elektroindustrie, Buchdruckerei, Feinmechanik und Maschinenindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik 134, Leipzig 1910. Hirvonen, Petri, Alterssicherung und Alterseinkommensverteilung. Eine empirische Analyse der Einkommenslage der älteren Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1993. Hockerts, Hans Günter, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik, Stuttgart 1980. Hockerts, Hans Günter, Hg., Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998. Hof, Bernd, Auswirkungen und Konsequenzen der demographischen Entwicklung auf die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, Köln 2001. Hoff, Andreas, Hg., Vereinbarkeit von Familie und Beruf – Neue Forschungsergebnisse im Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis, Stuttgart 1987. Hoffmann, Dierk, Sozialpolitische Neuordnung in der SBZ / DDR. Der Umbau der Sozialversicherung 1945 – 1956, München 1994. Hoffmann, Elke, Das Alterssicherungssystem in der DDR: Zur Geschichte der Rentengesetzgebung 1946 – 1990, Berlin 1995. Hoffmeister, Dieter, Arbeiterfamilienschicksale im 19. Jahrhundert. Qualitative Untersuchungen zum Zusammenhang von familiärer Unvollständigkeit, Notbehelfsökonomie und Arbeiterbewegung, Marburg 1984. Hohls, Rüdiger, Arbeit und Verdienst. Entwicklung und Struktur der Arbeitseinkommen im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik 1885 – 1985, Diss. Freie Universität Berlin 1991. Hoppe, Ruth, Dokumente zur Geschichte der Lage des arbeitenden Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart. Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus 20, Berlin 1969. Horkheimer, Max, Hg., Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris 1936. Hubbard, William H., Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, München 1983. Hümmerich, Die bäuerlichen Verhältnisse im Unterwesterwaldkreis, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpoltik 22, Leipzig 1883. Huinink, Johannes, Warum noch Familie? Zur Attraktivität von Partnerschaft und Elternschaft in unserer Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995. Huinink, Johannes / Mayer, Karl Ulrich, Hg., Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, Berlin 1995. Humm, Antonia Maria, Auf dem Weg zum sozialistischen Dorf? Zum Wandel der dörflichen Lebenswelt in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland 1952 – 1969, Göttingen 1999.

474

Quellen und Literatur

Imbusch, Heinrich, Arbeitsverhältnis und Arbeitsorganisation im deutschen Bergbau, Essen 1908. Imhof, Arthur E., Die gewonnenen Jahre, München 1981. Imhof, Arthur E., Die verlorenen Welten, München 1984. Imhof, Arthur E., Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit, Darmstadt 1988. Imhof, Arthur E., Die Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren und ihre Folgen. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren und Jugend 110, Stuttgart 1996. Institut für marxistische Studien und Forschungen, Hg., Klassen- und Sozialstruktur der BRD 1950 – 1970, 3 Bde., Frankfurt am Main 1973 – 1975. Jaffé, E., Hausindustrie und Fabrikbetrieb in der deutschen Cigarrenfabrikation, in: Hausindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Österreich, Bd. 3. Schriften des Vereins für Socialpolitik 86, Leipzig 1899. Jantke, Carl / Hilger, Dietrich, Hg., Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, Freiburg 1965 Jeidels, Otto, Die Methoden der Arbeiterentlöhnung in der rheinisch-westfälischen Eisenindustrie, Berlin 1907. Jordan, Erwin / Sengling, Dieter, Kinder- und Jugendhilfe, Weinheim 2000. Jurczyk, Karin, Frauenarbeit und Frauenrolle. Zum Zusammenhang von Familienpolitik und Frauenerwerbstätigkeit in Deutschland von 1918 – 1975, Frankfurt am Main 1977. Kaelble, Hartmut, Historische Mobilitätsforschung, Darmstadt 1978. Kaerger, Karl, Die ländlichen Arbeitsverhältnisse in Nordwestdeutschland, in: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 53 / 1, Leipzig 1892. Kalbaum, Günter, Erfolgsbeteiligung und Vermögensbildung der Arbeitnehmer in der privaten Versicherungswirtschaft 1820 – 1948, Stuttgart 1993. Kalle, Fritz, Eine deutsche Arbeiter-Invaliden-, Wittwen- und Waisen-Casse, in: Über Altersund Invalidenkassen für Arbeiter. Schriften des Vereins für Socialpolitik 5, Leipzig 1874. Kapphan, Andreas, Frauen am Arbeitsmarkt, Frankfurt am Main 1994. Kartels, I. I., Die wirthschaftliche Lage des Bauernstandes in den Gebirgdistricten des Kreises Merzig, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883. Kassel, Brigitte, Frauen in einer Männerwelt. Frauenerwerbsarbeit in der Metallindustrie und ihre Interessenvertretung durch den Deutschen Metallarbeiter-Verband 1891 – 1933, Köln 1997. Kaufmann, Franz-Xaver, Zukunft der Familie im vereinten Deutschland. Gesellschaftliche und politische Bedingungen, München 1995. Keil, Annelie, Jugendpolitik und Bundesjugendplan. Analyse und Kritik der staatlichen Jugendförderung, München 1969. Keiner, Oswald, Die Entwicklung der deutschen Invalidenversicherung, München 1904.

III. Darstellungen

475

Kempf, Rosa, Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München. Schriften des Vereins für Socialpolitik 135 / 2, Leipzig 1911. Kiesau, Gisela, Die Lebenslage älterer Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Analyse der Mängel und Vorschläge zur Verbesserung, Köln 1976. Knodel, John, The decline of fertility in Germany, 1871 – 1993, Princeton 1979. Kocka, Jürgen, Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800 – 1875, Bonn 1983. Kocka, Jürgen, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1990. Kocka, Jürgen / Offe, Claus Hg., Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt am Main 2000. Kohli, Martin, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37 (1985). Kohli, Martin / Künemund, Harald, Hg., Die zweite Lebenshälfte. Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey, Opladen 2000. Kohli, Martin / Szydlik, Marc, Hg., Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000. Kossmann, Marianne, Wie Frauen erben. Geschlechterverhältnis und Erbprozeß, Opladen 1998 Kraul, Margret, Das deutsche Gymnasium 1780 – 1980, Frankfurt am Main 1984. Kraus, Otto, Hg., Die Scheidungswaisen, Göttingen 1993. Krelle, W. / Schunck, J. / Siebke, J., Überbetriebliche Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer. Mit einer Untersuchung über die Vermögensstruktur der Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde., Tübingen 1968. Krolczyk, Carmen, Die Scheidung. Der Zerfall der Familie oder ein neuer Anfang, Frankfurt am Main 2001. Kuczynski, Jürgen, Studien zur Geschichte des arbeitenden Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart. Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus 19, Berlin 1968. Kühlewind, Gerhard, Generationenvertrag oder Generationenkonflikt? In: Materialien aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 1992 / 1. Külp, Bernhard / Schreiber, Wilfrid, Hg., Soziale Sicherheit, Köln 1971. Künzler, Jan, Familiale Arbeitsteilung. Die Beteiligung von Männern an der Hausarbeit, Bielefeld 1994. Kuhn, Bärbel, Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum 1850 – 1914, Köln 2002. Kuller, Christiane, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949 – 1975, München 2004. Kundrus, Birthe, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995. Landau, Karl-Heinz, Bürgerlicher und proletarischer Konsum im 19. und 20. Jahrhundert. Ein kultursoziologischer Beitrag zur Sozialgeschichte schichtspezifischen Verbraucherverhaltens, Köln 1990.

476

Quellen und Literatur

Landé, Dora, Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Berliner Maschinenindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der Elektroindustrie, Buchdruckerei, Feinmechanik und Maschinenindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik 134, Leipzig 1910. Lauterbach, Wolfgang, Berufsverläufe von Frauen. Erwerbstätigkeit, Unterbrechung und Wiedereintritt, Frankfurt am Main 1994. Lauterbach, Wolfgang / Lüscher, Kurt, Erben und die Verbundenheit der Lebensverläufe von Familienmitgliedern, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48 (1996). Leibfried, Stephan / Leisering, Lutz / Buhr, Petra / Ludwig, Monika / Mädje, Eva / Olk, Thomas / Voges, Wolfgang / Zwick, Michael, Zeit der Armut. Lebensläufe im Sozialstaat, Frankfurt am Main 1995. Leibfried, Stephan / Wagschal, Uwe, Hg., Der deutsche Sozialstaat. Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt am Main 2000. Leisering, Lutz, Sozialstaat und demographischer Wandel. Wechselwirkungen, Generationenverhältnisse, politisch-institutionelle Steuerung, Frankfurt am Main 1992. Leisering, Lutz / Geissler, Birgit / Mergner, Ulrich / Rabe-Kleberg, Ursula, Hg. Moderne Lebensläufe im Wandel, Weinheim 1993. Leisering, Lutz / Müller, Rainer / Schumann, Karl F., Hg., Institutionen und Lebensläufe im Wandel. Institutionelle Regulierung von Lebensläufen, Weinheim 2001. Lewek, Peter, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung 1918 – 1927, Stuttgart 1992. Linder, Peter, Aufwendungen für die nachwachsende und ältere Generation und Auswirkungen der demographischen Entwicklung, in: Baden-Württemberg in Wort und Zahl, 30 (1982). Losch, H., Die ländlichen Arbeitsverhältnisse in Württemberg, Baden und in den Reichslanden, in: Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 53, Leipzig 1892. Lüscher, Kurt, Hg., Sozialpolitik für das Kind, Stuttgart 1979. Lüscher, Kurt / Schultheis, Franz, Hg., Generationenbeziehungen in „postmodernen“ Gesellschaften, Konstanz 1993. Mackenroth, Gerhard, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, in: Verhandlungen auf der Sondertagung des Vereins für Sozialpolitik – Gesellschaftswissenschaften in Berlin 1952, Berlin 1952. Malthus, Thomas Robert, An essay on the principle of population (1798), Harmondsworth 1970. Mannheim, Karl, Das Problem der Generationen (1928), in: Martin Kohli, Hg., Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt 1978. Manz, Günther / Sachse, Ekkehard / Winkler, Gunnar, Hg., Sozialpolitik in der DDR – Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001. Marschalck, Peter, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1984. Marx, Karl, Das Kapital (1867). Karl Marx / Friedrich Engels, Werke 23, Berlin 1962.

III. Darstellungen

477

Matz, Klaus-Jürgen, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980. Mayer, Karl Ulrich, Hg., Lebensverläufe und sozialer Wandel, Opladen 1991. Mayer, Karl Ulrich / Allmendinger, Jutta / Huinink, Johannes, Hg., Vom Regen in die Traufe: Frauen in Beruf und Familie, Frankfurt am Main 1991. Meyer, Jörg Alexander, Der Weg zur Pflegeversicherung. Positionen – Akteure – Politikprozesse, Frankfurt am Main 1996. Meyer, Sibylle / Schulze, Eva, Familie im Umbruch. Zur Lage der Familien in der ehemaligen DDR, Stuttgart 1992. von Miaskowski, August, Grundeigentumsverteilung und Erbrechtsreform in Deutschland, in: Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik 1882. Schriften des Vereins für Socialpolitik 21, Leipzig 1882. von Miaskowski, August, Das Erbrecht und die Grundeigenthumsvertheilung im Deutschen Reich, 2 Bde. Schriften des Vereins für Socialpolitik 20 und 25, Leipzig 1882 – 1884. Mitterauer, Michael, Familie und Arbeitsteilung. Historisch-vergleichende Studien, Wien 1992. Mitterauer, Michael, Ledige Mütter. Zur Geschichte unehelicher Geburten in Europa, München 1983. Mitterauer, Michael / Sieder, Reinhard, Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie, München 1977. Motel, Andreas, Alter und Generationenvertrag im Wandel des Sozialstaats. Alterssicherung und private Generationenbeziehungen in der zweiten Lebenshälfte, Diss. Berlin 2000. Motel, Andreas / Szydlik, Marc, Private Transfers zwischen den Generationen. Ergebnisse des Alters-Survey. Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf, Forschungsbericht 63, Berlin 1998. Mückenberger, U., Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses, in: Zeitschrift für Sozialreform, 31 (1985). Mühlfeld, Claus / Schönweiss, Friedrich, Nationalsozialistische Familienpolitik. Familiensoziologische Analyse der nationalsozialistischen Familienpolitik, Stuttgart 1989. Müller, Burkhardt, Die Bedeutung der Lebensversicherung im System der Alterssicherung unter besonderer Berücksichtigung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten bei wachsender Alterslast, München 1988. Münke, Stephanie, Die Armut in der heutigen Gesellschaft. Ergebnisse einer Untersuchung in Westberlin, Berlin 1956. Münke, Stephanie, Vorzeitige Invalidität. Untersuchungen ihrer Gründe und ihrer Folgen für die Lebenslage der Rentner, Stuttgart 1964. Münz, Rainer / Seifert, Wolfgang / Ulrich, Ralf, Zuwanderung nach Deutschland. Strukturen, Wirkungen, Perspektiven, Frankfurt am Main 1999. Mutz, Gerd / Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang / Koenen, Elmar J. / Eder, Klaus / Bonß, Wolfgang, Diskontinuierliche Erwerbsverläufe. Analysen zur postindustriellen Arbeitslosigkeit, Opladen 1995.

478

Quellen und Literatur

Myrdal, A. / Klein, A., Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf, Köln 1956. Naegele, Gerhard / Tews, Hans-Peter, Hg., Lebenslagen im Strukturwandel des Alters. Alternde Gesellschaft – Folgen für die Politik, Opladen 1993. Nauck, Bernhard / Omen-Isemann, Corinna, Hg., Familie im Brennpunkt von Wissenschaft und Forschung, Neuwied 1995. Nave-Herz, Rosemarie, Kinderlose Ehen. Eine empirische Studie über die Lebenssituation kinderloser Ehepaare und die Gründe für ihre Kinderlosigkeit, Weinheim 1988. Nave-Herz, Rosemarie, Hg., Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988. Nelleßen-Strauch, Dagmar, Der Kampf ums Kindergeld. Grundanschauungen, Konzeptionen und Gesetzgebung 1949 – 1964, Düsseldorf 2003. Nickel, Hildegard Maria / Kühl, Jürgen / Schenk, Sabine, Hg., Erwerbsarbeit und Beschäftigung im Umbruch, Berlin 1994. Niederfranke, Annette, Ältere Frauen in der Auseinandersetzung mit Berufsaufgabe und Partnerverlust, Stuttgart 1992. Niederfranke, Annette, Vor-Ruhestand: Erleben und Formen der Auseinandersetzung bei Männern aus psychologischer Sicht, Diss. Bonn 1987. Niederfranke, Annette / Lehr, Ursula M. / Oswald, Frank / Maier, Gabriele, Hg., Altern in unserer Zeit, Heidelberg 1992. Niehuss, Merith, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945 – 1960, Göttingen 2001. Nutzinger, Hans G. / Held, Martin, Hg., Geteilte Arbeit und ganzer Mensch. Perspektiven der Arbeitsgesellschaft, Frankfurt am Main 2000. Oechsle, Mechtild / Geissler, Birgit, Hg., Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis, Opladen 1998. von Oertzen, Christine, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948 – 1969, Göttingen 1999. Omnès, Catherine / Bruno, Anne-Sophie. Hg., Les mains inutiles. Inaptitude au travail et emploi en Europe, Paris 2004. Osterland, Martin / Deppe, Wilfried / Gerlach, Frank / Mergner, Ulrich / Pelte, Klaus / Schlösser, Manfred, Materialien zur Arbeitssituation der Industriearbeiter in der BRD, Frankfurt am Main 1973. Ostner, Ilona, Beruf und Hausarbeit. Die Arbeit der Frau in unserer Gesellschaft, Frankfurt am Main 1979. Ott, Notburga / Wagner, Gerhard, Hg., Familie und Erwerbstätigkeit im Umbruch, Berlin 1992. Paasche, H. Die rechtliche und wirthschaftliche Lage des Bauernstandes in MecklenburgSchwerin, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 3. Schriften des Vereins für Socialpolitik 24, Leipzig 1883.

III. Darstellungen

479

Papastefanou, Georgis, Familiengründung im Lebenslauf. Eine empirische Analyse sozialstruktureller Bedingungen der Familiengründung bei den Kohorten 1929 – 31, 1939 – 41 und 1949 – 51, Stuttgart 1990. Penkert, Annette, Arbeit oder Rente? Die alternde Bevölkerung als sozialpolitische Herausforderung für die Weimarer Republik, Göttingen 1998. Peuckert, Rüdiger, Familienformen im sozialen Wandel, Opladen 1991. Peukert, Detlev J. K., Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürdorge von 1878 – 1932, Köln 1986. Pfaff, Anita, Typische Lebensverläufe von Frauen der Geburtsjahrgänge 1910 – 1975, in: Sachverständigenkommission für die soziale Stellung der Frau und der Hinterbliebenen, Anlageband 2, Bonn 1979. Pfau-Effinger, Brigitte, Erwerbsverlauf und Risiko, Weinheim 1990. Pfeil, Elisabeth, Die Berufstätigkeit von Müttern, Tübingen 1961, Pfeil, Elisabeth, Hg., Die 23Jährigen. Eine Untersuchung zum Geburtenjahrgang 1941, Tübingen 1968. Pierenkemper, Toni / Tilly, Richard, Hg., Historische Arbeitsmarktforschung, Göttingen 1982. Pine, Lisa, Nazi Family Policy, 1933 – 1945, Oxford 1997. Plassmann, Gisela, Der Einfluss der Arbeitslosenversicherung auf die Arbeitslosigkeit in Deutschland, Nürnberg 2002. Pohl, Hans, Hg., Berufliche Aus- und Weiterbildung in der deutschen Wirtschaft seit dem neunzehnten Jahrhundert, Wiesbaden 1979. Pohl, Hans, Hg., Die Frau in der deutschen Wirtschaft, Stuttgart 1985. Pohl, Hans, Hg., Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1991. Pohl, Hans-Joachim, Ältere Arbeitnehmer. Ursachen und Folgen ihrer beruflichen Abwertung, Frankfurt am Main 1976. Polligkeit, Wilhelm, Forderungen für einen systematischen Ausbau der Altersfürsorge, Frankfurt am Main 1928. Popp, Adelheid, Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin von ihr selbst erzählt. Mit einführenden Worten von August Bebel (1909), Berlin 1977. Potthoff, Heinz, Hg., Untersuchungen über das Versicherungswesen in Deutschland. Schriften des Vereins für Socialpolitik 137 / 4, München und Leipzig 1913. Ranke, Heinrich, Die Verhältnisse von drei Bauerngemeinden in der Umgebung Münchens, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpolitik 22, Leipzig 1883. Rauert, Hanns Thomas, Entlohnung und Produktionsentwicklung in der Stahlindustrie im Kaiserreich. Untersuchungen an ausgewählten rheinisch-westfälischen Unternehmen, Diss. Siegen 1990. Rehbein, Franz, Das Leben eines Landarbeiters (1911), Darmstadt 1973.

480

Quellen und Literatur

Reif, Heinz, Soziale Lage und Erfahrungen des alternden Fabrikarbeiters in der Schwerindustrie des westlichen Ruhrgebietes während der Hochindustrialisierung, in: Archiv für Sozialgeschichte, 22 (1982). Reif, Heinz, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999. Reinberg, Alexander / Hummel, Markus, Bildung und Beschäftigung im vereinigten Deutschland. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 226, Nürnberg 1999. Reulecke, Jürgen / Müller-Luckner, Elisabeth, Hg., Generationen und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003. Richter, Rudolf / Furubotn, Eirik G., Neue Institutionenökonomik, Tübingen 1999. Riehl, Wilhelm Heinrich, Die bürgerliche Gesellschaft (1851), Frankfurt am Main 1976. Rische, Herbert / Schmähl, Winfried, Hg., Gesundheits- und Alterssicherung – gleiche Herausforderung, gleiche Lösung? Münster 2004. Ritter, Gerhard A. / Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992. Rosenbaum, Heidi, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1982. Roth, Richard, Rentenpolitik in der Bundesrepublik. Zum Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und der Gestaltung eines sozialstaatlichen Teilbereichs 1957 – 1986, Marburg 1989. von Rothkirch, Christoph, Hg., Altern und Arbeit. Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin 2000. Ruhl, Klaus-Jörg, Verordnete Unterordnung. Berufstätige Frauen zwischen Wirtschaftswachstum und konservativer Ideologie in der Nachkriegszeit 1945 – 1963, München 1994. Rupp, Sabine / Schwarz, Karl, Hg., Beiträge aus der bevölkerungswissenschaftlichen Forschung, Boppard 1983. Ruppert, Wolfgang, Betriebliche Altersversorgung. IFO Institut für Wirtschaftsforschung. Achtes Forschungsvorhaben zur Situation und Entwicklung der betrieblichen Altersversorgung, München 2000. Sabean, David, Property, production, and family in Neckarshausen, 1700 – 1870, Cambridge 1990. Sachße, Christoph / Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, 3 Bde., Stuttgart 1988 – 1998. Salomon, Alice / Baum, Marie, Das Familienleben in der Gegenwart, Berlin 1930. Schäfer, Bernd, Familienlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland. Darstellung und empirische Analyse des bestehenden Systems und ausgewählte Reformvorschläge, Frankfurt am Main 1996. Schäfer, Hermann, Arbeitsverdienst im Lebenszyklus. Zur Einkommensmobilität von Arbeitern, in: Archiv für Sozialgeschichte, 21 (1981). Schelsky, Helmut, Die skeptische Generation (1957), Düsseldorf 1963.

III. Darstellungen

481

Schelsky, Helmut, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart (1953), Stuttgart 1960. Schildt, Gerhard, Die Arbeiterschaft im 19. und 20. Jahrhundert, München 1996. Schimany, Peter, Die Alterung der Gesellschaft. Ursachen und Folgen des demographischen Umbruchs, Frankfurt am Main 2003. Schindling, Anton, Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650 – 1800, München 1999. Schlegel-Voß, Lil-Christine, Alter in der „Volksgemeinschaft“. Zur Lebenslage der älteren Generation im Nationalsozialismus, Berlin 2005. Schlegel-Voß, Lil-Christine / Hardach, Gerd, Die dynamische Rente. Ein Modell der Alterssicherung im historischen Wandel, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 90 (2003). Schlumbohm, Jürgen, Hg., Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern und Aristokraten wurden, München 1983. Schlumbohm, Jürgen, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, Göttingen 1994. Schmähl, Winfried, Alterssicherung und Einkommensverteilung. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Finanzierung, Leistungsgewährung und zur Verteilung zwischen Generationen, Tübingen 1977. Schmähl, Winfried, Mindestsicherung im Alter. Erfahrungen, Herausforderungen, Strategien, Frankfurt am Main 1993. Schmähl, Winfried, Versicherungsprinzip und soziale Sicherung, Tübingen 1985. Schmoller, Gustav, Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart, Leipzig 1890. Schmucker, Helga, Zur sozialpolitischen Bedeutung des Familieneinkommens, in: Zeitschrift für Sozialen Fortschritt, (1955), Heft 3. Schmucker, Helga / Schubnell, Herman / Nell-Breuning, Oswald von / Albers, Willi / Wurzbacher, Gerhard, Die ökonomische Lage der Familie in der Bundesrepublik Deutschland. Tatbestände und Zusammenhänge, Stuttgart 1961. Schmuhl, Hans-Walter, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871 – 2002, Nürnberg 2003. Schnapper-Arndt, Gottlieb, Fünf Dorfgemeinden auf dem hohen Taunus, in: Bäuerliche Zustände in Deutschland, Bd. 1. Schriften des Vereins für Socialpoltik 22, Leipzig 1883. Schnapper-Arndt, Gottlieb, Hoher Taunus. Eine sozialstatistische Untersuchung in fünf Dorfgemeinden (1883), Allensbach 1975. Schneekloth, Ulrich / Müller, Udo, Wirkungen der Pflegeversicherung, Baden-Baden 2000. Schneider, Norbert E., Familie und private Lebensführung in West- und Ostdeutschland. Eine vergleichende Analyse des Familienlebens 1970 – 1992, Stuttgart 1994. Schomerus, Heilwig, Die Arbeiter der Maschinenfabrik Esslingen. Forschungen zur Lage der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1977. Schreiber, Wilfrid, Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft, Köln o. J. (1955). Schreiber, Wilfrid, Sozialpolitische Perspektiven, Köln 1972. 31 Hardach

482

Quellen und Literatur

Schüssler, Reinhard / Lang, Oliver / Buslei, Hermann, Wohlstandsverteilung in Deutschland 1978 – 1993, Düsseldorf 2000. Schumann, Fritz, Die Arbeiter der Daimler-Motoren-Gesellschaft Stuttgart-Untertürkheim, in: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der Automobilindustrie und einer Wiener Maschinenfabrik. Schriften des Vereins für Socialpolitik 135 / 1, Leipzig 1911. Schumpeter, Joseph A., Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942), München 1975. von Schweitzer, Rosemarie, Hg., Zeitbudgeterhebungen: Ziele, Methoden und neue Konzepte, Stuttgart 1990. von Schweitzer, Rosemarie / Pross, Helge, Die Familienhaushalte im wirtschaftlichen und sozialen Wandel, Göttingen 1976. Seehausen, Harald, Familie, Arbeit, Kinderbetreuung. Berufstätige Eltern und ihre Kinder im Konfliktdreieck, Opladen 1995. Sengenberger, Werner, Hg., Der gespaltene Arbeitsmarkt. Probleme der Arbeitsmarktsegmentation, Frankfurt am Main 1978. Sieder, Reinhard, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt am Main 1987. Skyba, Peter, Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDR und Jugendpolitik der SED 1949 – 1961, Köln 2000. Smith, Adam, An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations (1776), 2 Bde., Oxford 1976. Smith, Adam, The theory of moral sentiments (1759), Oxford 1976. Soerensen, Aage / Weinert, Franz E. / Sherrod, Lonnie, Hg., Human development and the life course: Multidisciplinary perspectives, Hillsdale NJ 1986. Solga, Heike, Auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR , Berlin 1995. Sonnenberger, Barbara, Nationale Migrationspolitik und regionale Erfahrung. Die Anfänge der Arbeitsmigration in Südhessen 1955 – 1967, Darmstadt 2003. Speitkamp, Winfried, Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Göttingen 1998. Spree, Reinhard, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod, Göttingen 1981. Steenbock, Anke, Private Alterssicherung über den Kapitalmarkt, Wiesbaden 1999. Stercken, Vera / Lahr, Reinhard, Erfolgsbeteiligung und Vermögensbildung der Arbeitnehmer bei Krupp von 1811 bis 1945, Stuttgart 1992. Stockmann, Reinhard / Willms-Herget, Angelika, Erwerbsstatistik in Deutschland. Die Berufsund Arbeitsstättenzählungen seit 1875 als Datenbasis für die Sozialstrukturanalyse, Frankfurt am Main 1985. Stolz, Brigitte, Vereinbarkeit von Beruf und Familie als Herausforderung für Gewerkschaften und Sozialstaat, Diss. Freie Universität Berlin 1994. Strümpel, Burkhard, Teilzeitarbeitende Männer und Hausmänner. Motive und Konsequenzen einer eingeschränkten Erwerbstätigkeit von Männern, Berlin 1989. Sydow, Hubert / Schlegel, Uta / Helmke, Andreas, Hg., Chancen und Risiken im Lebenslauf: Beiträge zum gesellschaftlichen Wandel in Ostdeutschland, Berlin 1995.

III. Darstellungen

483

Szydlik, Mark, Die Enge der Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern – und umgekehrt, in: Zeitschrift für Soziologie, 24 (1995). Szydlik, Mark, Erben in der Bundesrepublik Deutschland. Zum Verhältnis von familialer Solidarität und sozialer Ungleichheit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 51 (1999). Tartler, Rudolf, Das Alter in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 1961. Tenfelde, Klaus, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn 1981. Tenfelde, Klaus, Hg., Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991. Tenfelde, Klaus, Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen im Deutschen Kaiserreich, in: Geschichte und Gesellschaft, 18 (1992). Tennstedt, Florian, Vom Proleten zum Industriearbeiter. Arbeiterbewegung und Sozialpolitik in Deutschland 1800 bis 1914, Köln 1983. Tews, Hans-Peter, Soziologie des Alterns, Heidelberg 1979. Theis, Anja C., Die deutsche Lebensversicherung als Alterssicherungsinstitution. Eine ökonomische Analyse, Baden-Baden 2000., Thun, Alphons, Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter, 2 Bde., Leipzig 1879. Thurnwald, Hilde, Gegenwartsprobleme Berliner Familien. Eine soziologische Untersuchung an 498 Familien, Berlin 1948. Tölke, Angelika, Lebensverläufe von Frauen. Familiäre Ereignisse, Ausbildungs- und Erwerbsverhalten, München 1989. Tölle, Domenica, Altern in Deutschland 1815 – 1933. Eine Kulturgeschichte, Grafschaft 1996. Trappe, Heike, Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995. Triebel, Armin, Zwei Klassen und die Vielfalt des Konsums. Haushaltsbudgetierung bei abhängig Erwerbstätigen in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, 2 Bde., Berlin 1991. Turek, Ludwig, Ein Prolet erzählt. Lebensschilderung eines deutschen Arbeiters (1930), Frankfurt am Main 1975. Ulbricht, Helga / Nötzold, Annelies / Simon, Ott / Thiemann, Helmut, Probleme der Frauenarbeit, Berlin 1963. Usborne, Cornelie, Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1994. Vaskovics, Laszlo / Buba, Hans-Peter, Soziale Lage von Verwitweten. Vergleichende Datenanalyse zur demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Lage von Verwitweten in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988. Vaskovics, Laszlo / Lipinski, Heike, Hg., Familiale Lebenswelten und Bildungsarbeit. Interdisziplinäre Bestandsaufnahme 1, Opladen 1996. Viebrok, Holger / Himmelreicher, Ralf K. / Schmähl, Winfried, Private Vorsorge statt gesetzlicher Rente: Wer gewinnt, wer verliert? Münster 2004. 31*

484

Quellen und Literatur

Vollmer, Christine, Konflikt Beruf und Familie. Eine gesellschaftliche Schlüsselfrage, Hamburg 1989. Vonderach, Gerd / Siebers, Ruth / Barr, Ulrich, Arbeitslosigkeit und Lebensgeschichte, Opladen 1992. Wanger, Susanne, Arbeitszeit und Arbeitsvolumen in der Bundesrepublik Deutschland 1970 – 1990, Nürnberg 2003. Wannagat, G., Zur Ausgestaltung der Alterssicherung der Selbständigen und freien Berufe, in: Soziale Sicherheit, 17 (1968). Weber, Max, Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. Schriften des Vereins für Socialpolitik 55, Leipzig 1892. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922. Weidig, Inge / Hofer, Pete / Wolf, Helmfried, Arbeitslandschaft 2010 nach Tätigkeiten und Tätigkeitsniveau, Nürnberg 1999. Weiß, Albrecht, Hg., Handbuch der betrieblichen Altersfürsorge, 2. Aufl., München 1952. Weltz, Friedrich / Diezinger, Angelika / Lullies, Veronika / Marquardt, Regine, Junge Frauen zwischen Beruf und Familie, Frankfurt am Main 1979. Weltz, Friedrich / Schmidt, G. / Sass, J., Facharbeiter im Industriebetrieb. Eine Untersuchung in metallverarbeitenden Betrieben, Frankfurt am Main 1974. Wendt, Hartmut, Familienbildung und Familienpolitik in der ehemaligen DDR, Wiesbaden 1993. Wengst, Udo, Hg., Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier Deutscher Staaten. Geschichte der deutschen Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2 / 1, BadenBaden 2001. Werding, Martin, Zur Rekonstruktion des Generationenvertrages, Tübingen 1998. Wettstein-Adelt, Minna, 3 Monate Fabrikarbeiterin, Berlin 1893. Weymann, Ansgar, Hg., Handlungsspielräume. Untersuchungen zur Individualisierung und Institutionalisierung von Lebensläufen in der Moderne, Stuttgart 1989. Wierling, Dorothee, Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin 1987. Willeke, F. U. / Oncken, R., Allgemeiner Familienlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland. Eine empirische Analyse zu drei Jahrzehnten monetärer Familienpolitik, Frankfurt am Main 1990. Willms-Herget, Angelika, Frauenarbeit. Zur Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, Frankfurt am Main 1985. Wingen, Max, Familienpolitik. Grundlagen und aktuelle Probleme, Bonn 1997. Wohlrab-Sahr, Monika, Biographische Unsicherheit, Opladen 1993. World Bank, Averting the old age crisis. Policies to protect the old and promote growth, New York 1994. Wrobel, Ignaz (Kurt Tuchoksky), Die fehlende Generation, in: Die Weltbühne, 15. Juni 1926.

III. Darstellungen

485

Wunder, Heide, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992. Zimmermann, K. F., Familienökonomie. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Frauenerwerbstätigkeit und Geburtenentwicklung, Berlin 1985. Zwick, Michael M., Hg., Einmal arm, immer arm? Neue Befunde zur Armut in Deutschland, Frankfurt am Main 1994.

Sachwortverzeichnis Altenteil 94 – 95, 148, 180 – 183, 298 – 299 Alter 23 – 27, 31, 34 – 35, 93 – 100, 161 – 185, 224 – 242, 291 – 302, 336 – 345, 375 – 388, 427 – 445 Altersarmut 93 – 94, 184 – 185, 239 – 242, 301 – 302, 345 Alterseinkommen 39, 96 – 100, 173 – 185, 234 – 242, 297 – 302, 345, 383 – 388, 436 – 445 Altersquote siehe Demographische Strukturquote Altersstruktur 44, 103 – 104, 189 – 190, 246 – 247, 306 – 307, 347 – 348, 393 – 394, 452 – 455 Altersversicherung siehe Rentenversicherung Angestelltenversicherung siehe Rentenversicherung Arbeiterklasse 46 – 47, 106 – 107 Arbeitslosigkeit 51, 79, 82 – 83, 128, 209 – 211, 270, 362 – 364, 401 – 403, 414 – 417, 456 Armenfürsorge 54 – 58, 116 – 117 Armut 43, 50, 113, 446 – 448 Asymmetrischer Standardlebenslauf 36, 303 – 305 Beruf 29 – 32, 36, 73 – 86, 127 – 155, 209 – 216, 270 – 275, 326 – 329, 359 – 365, 410 – 427 Berufliche Altersversorgung 96 – 97, 173 – 177, 234 – 236, 297 – 300, 384 – 385, 438 – 440, 444 – 445 Berufsständische Altersversorgung 298, 384, 387, 440 Betriebliche Altersversorgung 97, 174 – 177, 234 – 236, 297 – 298, 384 – 385, 387, 438 – 440, 460 Betriebliche Sozialpolitik 58 – 59

Bevölkerung 42 – 44, 103 – 104, 188 – 189, 245 – 246, 306, 347, 393 Bildung 31, 63 – 68, 119 – 121, 201 – 202, 265 – 266, 320 – 322, 356 – 357, 406 – 407 Bremer Stadtmusikanten 436 Bürgerlicher Generationenvertrag 6, 28, 35 – 36, 101 – 302, 457 – 458 Demographische Belastungsquote siehe Demographische Strukturquote Demographische Strukturquote 44 – 45, 189 – 190, 247 – 248, 307 – 308, 348, 394, 453 – 454 Demographischer Wandel 7, 42 – 45, 102 – 104, 187 – 190, 245 – 248, 450 – 455 Doppelter Standardlebenslauf 35, 101 – 118 Drei Musketiere 383, 387 Ehe 88 – 89, 156 – 157, 230, 276 – 277, 332, 367 – 368, 422 Ehegattensplitting 287 – 288 Einkommensverteilung 5, 23, 27 – 28, 37, 388 – 390, 445 – 448, 449 – 450 Erwerbsbiographie 32, 40, 127 – 129, 274 – 275, 328 – 329, 364 – 365, 417 – 421 Erwerbsquote 104 – 106, 190 – 191, 258, 308, 349, 395, 410 Erwerbstätigkeit 29, 33, 48 – 49, 101, 104 – 108, 410 Familiale Altersversorgung 180 – 184, 238 – 239, 383 – 384, 445, 460 Familiale Transferleistungen siehe Familie Familie 23, 28 – 32, 36, 49, 54, 60 – 62, 86 – 93, 118 – 119, 155 – 161, 216 – 224, 275 – 291, 330 – 336, 366 – 374, 391 – 392, 421 – 427 Familienbetrieb 28 – 29, 45 – 46, 95, 148 – 153

Sachwortverzeichnis Familienerwerbstätigkeit 73 – 78, 148 – 155, 215 – 216 Familienförderung 6, 31 – 32, 199, 221 – 233, 277 – 288, 333 – 336, 370 – 374, 425 – 427, 459 Familienlastenausgleich siehe Familienförderung Familienleistungsausgleich siehe Familienförderung Familienökonomie 45 – 46, 91 – 93, 160 – 161, 223 – 224, 288 – 291, 336 Familienpolitik 86 – 87, 155 – 156, 216 – 220, 275 – 276, 330 – 331 Familientätigkeit 33, 36, 101 Familienzyklus 77, 332 – 333 Frauenerwerbstätigkeit 32, 85 – 86, 139 – 148, 212 – 215, 271 – 273, 359 – 362, 410 – 413 Fürsorge 117 – 118, 196 – 201, 255, 259 – 260, 317 Geburtenrate 42 – 43, 90, 102 – 103, 187 – 188, 245, 305, 347, 392, 450 – 452 Gehalt siehe Lohn Generation 5 – 6, 27, 36, 186, 241, 303 – 305, 448, 449 – 450 Generationengerechtigkeit 449 – 450, 458 Gesamtlastquote siehe Demographische Belastungsquote Geschlecht 5, 101, 244 – 245, 449 Geschlechterbeziehungen 32, 244 – 245 Handwerkerversicherung 171 – 172, 199, 230 – 231 Haushaltsproduktion 262 – 263, 354 – 355, 403 – 404, 457 Humankapital 125 – 126, 268, 358, 408 – 409 Invalidenversicherung, Invaliditätsversicherung siehe Rentenversicherung Jugend 60 – 72, 118 – 126, 201 – 209, 263 – 270, 319 – 325, 355 – 359, 404 – 410 Jugenderfahrungen 126, 207 – 209, 268 – 270, 324 – 325, 358 – 359, 409 – 410 Jugendquote siehe Demographische Strukturquote

487

Kinder 28, 30 – 31, 60 – 72, 319 – 320, 368 – 369, 404 – 406, 452 Kinderarbeit 68 – 71, 121 – 124 Kinderarmut 42, 56 – 58, 389, 446 – 448 Klasse 5, 31, 45 – 48, 106 – 107, 186, 191 – 192, 308 – 309, 350 Kleinkindererziehung 62 – 63, 119, 201, 264 – 265, 319 – 320, 355 – 356 Knappschaftsversicherung 58 – 59, 96 – 97, 171, 228, 295 Komplementäre Lebenswege 34 – 35, 41 – 59 Krankenversicherung 31, 115 Landwirtschaftliche Altershilfe 299 – 300, 384, 387, 440 Laufbahn 83, 127 Lebenseinkommen 6, 33, 37 – 40, 449, 451 Lebenserwartung 43 – 44, 102 – 103, 162 – 163, 245, 291, 305, 347, 392, 427, 450 – 452 Lebenslauf 6 – 7, 23 – 27, 33 – 37, 451 Lebensversicherung 38 – 39, 98 – 99, 177 – 180, 236 – 238, 300 – 301, 385 – 386, 441 – 442 Lohn 39 – 40, 51 – 53, 109, 193 – 194, 251, 313 – 314, 351, 397 Moderner Generationenvertrag 6 – 7, 28, 31 – 33, 36, 303 – 448, 458 Normalarbeitsverhältnis 365, 417 – 418 Öffentliche Transferleistungen siehe Sozialpolitik Parallelerziehung 124 – 125, 203 – 206, 266 – 267, 323 – 324, 407 – 408 Pension 31, 96, 173 – 174, 234, 297, 384 – 385, 387 – 388 Periodeneinkommen 37 – 40 Pflegeversicherung 437 – 438 Rentenversicherung 6, 31, 39 – 40, 115 – 116, 163 – 173, 225 – 233, 291 – 297, 337 – 345, 375 – 383, 387, 429 – 436, 444 – 445

488

Sachwortverzeichnis

Risikobiographie 127, 131 – 135 Ruhestand 161 – 163, 224 – 225, 291, 336 – 337 Schicht siehe Klasse Schule siehe Bildungswesen Solidarität 30 – 31, 38, 41, 457 Solidar-Vertrag 6, 257, 293 Sozialfürsorge 317 – 318 Sozialhilfe 31, 259, 301 – 302, 354, 389 – 390, 402 – 403, 447 Sozialpolitik 31 – 32, 54 – 58, 113 – 118, 196 – 201, 253 – 262, 315 – 319, 352 – 354, 399 – 403 Sozialstaat 196, 243, 354, 403 Sozialversicherung 32, 113 – 116, 400 – 403, 437, 445, 457 – 458 Sterberate 43, 102, 187, 245, 305, 347, 392, 450 – 452 Steuern 31, 56, 116, 233, 352 – 353, 400 – 401, 458

Strukturwandel 45 – 48, 106 – 108, 190 – 192, 248 – 249, 308 – 310, 349 – 350, 394 – 396 Traditioneller Generationenvertrag 6, 28 – 29, 41 – 100, 457 Unfallversicherung 31, 115 Universität 64 – 65, 121, 140, 265, 321 – 322, 357 Vereinbarkeitspolitik 326 – 327, 334 – 335, 411 – 413 Vermögen 5, 53 – 54, 97 – 99, 109 – 112, 177 – 180, 194 – 196, 236, 251 – 253, 300 – 301, 314 – 315, 351 – 352, 385 – 386, 398 – 399, 440 – 442, 445, 460 Wehrpflicht 71 – 72, 125, 206 – 207, 267, 322, 358, 408 Wirtschaftswachstum 49 – 54, 108 – 109, 192 – 196, 250 – 253, 310 – 315, 351 – 352, 396 – 399, 455 – 457