Sachsen, Deutschland und Europa im Zeitalter der Weltkriege [1 ed.] 9783428554935, 9783428154937

Der Sammelband vereint Beiträge aus zwei an der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der TU

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German Pages 381 [382] Year 2019

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Sachsen, Deutschland und Europa im Zeitalter der Weltkriege [1 ed.]
 9783428554935, 9783428154937

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CHEMNITZER EUROPASTUDIEN

Band 22

Sachsen, Deutschland und Europa im Zeitalter der Weltkriege Herausgegeben von

Dirk Reitz Hendrik Thoß

Duncker & Humblot · Berlin

Sachsen, Deutschland und Europa im Zeitalter der Weltkriege

Chemnitzer Europastudien Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll und Matthias Niedobitek

Band 22

Sachsen, Deutschland und Europa im Zeitalter der Weltkriege

Herausgegeben von Dirk Reitz Hendrik Thoß

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 1860-9813 ISBN 978-3-428-15493-7 (Print) ISBN 978-3-428-55493-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-85493-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort der Herausgeber Im August 2014 jährte sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal. Dieser Jahrestag, der sich schon 2013 in einer erheblichen Zahl veröffentlichter Studien niederschlug, die bis heute beständig um weitere Unter­ suchungen ergänzt werden, bildete zugleich den Auftakt zu einem „Jahrfünft der Erinnerung“, in dem im Zeitraum von 2014 bis 2019 deutschland-, europa- und weltweit des Zeitalters der Weltkriege, d. h. des Beginns und des Endes des Ersten sowie des Zweiten Weltkrieges gedacht wird. Beiden Kriegen wohnte jedoch nicht allein eine globale, europäische oder nationale ­Dimension inne. Vielmehr zogen beide totalen Kriege des 20. Jahrhunderts vielfältige Entwicklungen auch auf regionaler und lokaler Ebene nach sich, die die Zwischenkriegszeit ebenso wie die Zeit nach 1945 entscheidend prägen sollten. Auch diese regionale, sächsische Dimension der Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts stand im Mittelpunkt der beiden Vortragsreihen, die im Sommersemester 2014 sowie im Wintersemester 2014 / 15 an der Technischen Universität Chemnitz durchgeführt wurden. Sie waren ­eingebettet in das Projekt „Erinnerndes Gedenken“, das von der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gemeinsam mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.  − Landesverband Sachsen durchgeführt und vom Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz gefördert wurde. Einen weiteren Baustein dieses Projekts stellte die von Kristin Gläser (geb. Lesch), M. A. verfasste und 2016 veröffentlichte Studie „Sachsen im Ersten Weltkrieg“ dar, in der erstmalig zahlreiche Aspekte der Geschichte Sachsens in der Zeit zwischen 1914 und 1918 einer detaillierten Betrachtung unterzogen werden. Die in dem vorliegenden Band veröffentlichten Beiträge vereinen die überarbeiteten Vorträge der Referenten beider Vorlesungsreihen und bilden damit zugleich auch aktuelle Facetten der Forschungen zum „Zeitalter der Weltkriege“ ab. Leider konnten nicht alle Referenten als Beiträger für den Band gewonnen werden. Justus H. Ulbricht stellt am Beispiel der preußischen Provinz Sachsen und an dem des Königreichs Sachsen selbst die vielfältigen Entwicklungen und Veränderungen dar, denen das öffentliche wie das private Leben jedes Einzelnen mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges unterzogen wurde, und die sich mit der „Totalisierung“ des Krieges ab 1916 scheinbar nochmals beschleunigten. Reiner Pommerin setzt sich mit der Kriegsziel­politik des Königreichs Sachsen auseinander und weist nach, dass das Bemühen der Dresdner Politik vorrangig von dem Bestreben gekenn-

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Vorwort der Herausgeber

zeichnet war, in vergleichbarer Form wie etwa die Königreiche Bayern oder Württemberg von der dem angenommenen Sieg der deutschen Waffen folgenden Verteilung territorialer Zugewinne profitieren zu können. Manfred Nebelin beschreibt die Ostpolitik Erich Ludendorffs zwischen 1916 und 1918, die − wenigstens konzeptionell − bereits in weiten Teilen jene Planungen vorweg nahm, die dann von den Nationalsozialisten im Rahmen des weltanschau­lichen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion ab 1941 in die Tat umgesetzt werden sollten. Hans Fenske weist darauf hin, dass die Entente-Mächte in der Krisensituation des Jahres 1914 nichts zur Befriedung der angespannten Lage im Südosten Europas beitrugen und während des gesamten Kriegsverlaufs kein Interesse an einem diplomatischen Ausgleich zwischen den Kriegsparteien hatten, der zu einem Ende des Blutvergießens hätte führen können. Peter Hoeres setzt sich vergleichend mit der deutschen wie der alliierten Propaganda im Ersten Weltkrieg sowie mit den Diskursen deutscher und englischer Intellektueller auseinander, die vornehmlich um die Frage nach der Schuld am Ausbruch des Krieges und um angebliche deutsche Kriegsverbrechen bei der Besetzung Belgiens kreisten. Erik Lommatzsch stellt in seinem Beitrag am Beispiel des sächsischen Königs Friedrich August III. das Ende der Monarchien in Deutschland 1918 dar. Dem folgt Dirk Reitz mit einer Analyse der Entwicklung des Völkerrechts im Zusammenhang mit der Gestaltung der Pariser Vorortverträge und jener vielfältigen innenwie außenpolitischen Folgen, die der verlorene Krieg für die junge Weimarer Republik, die erste deutsche Demokratie, nach sich zog. Hendrik Thoß diskutiert im letzten Beitrag des vorliegenden Bandes, der Aspekte der Geschichte des Ersten Weltkrieges thematisiert, verschiedene Felder der Rezeption dieses Krieges im Europa der 1920er und 1930er Jahre. Rainer F. Schmidt greift im zweiten Teil des Bandes, in dessen Mittelpunkt der Zweite Weltkrieg steht, die Debatte um die „Präventivkriegsthese“ auf und verweist dabei die Behauptung, Stalin selbst habe im Jahr 1941 einen Angriff auf Deutschland und das besetzte Europa führen wollen, ins Reich der Legenden. Rudolf Boch skizziert am Beispiel des in Chemnitz ansässigen Fahrzeugbauunternehmens Auto Union unternehmerisches Handeln und die Position von Unternehmensführern im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg, etwa im Hinblick auf Expansionsmöglichkeiten, die damit verbundenen Chancen zur Steigerung des Profits oder hinsichtlich des Einsatzes von Fremd- und Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen. Gleichfalls aus Chemnitzer Perspektive betrachten Jürgen Nitsche und Uwe Fiedler in ihren Beiträgen Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg. Jürgen Nitsche zeichnet anhand zahlreicher Einzelschicksale die Etappen der Judenverfolgung während des Nationalsozialismus nach, die auch für die Mehrheit der Chemnitzer Juden in Tod und Vernichtung endete. Uwe Fiedler stellt die gegen Chemnitz gerichteten Luftangriffe der Alliierten, die in dem verheerenden Angriff am



Vorwort der Herausgeber

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5. März 1945 kulminieren sollten, in den Kontext der in der Zwischenkriegszeit entwickelten Militärdoktrinen europäischer wie amerikanischer Luftkriegstheoretiker. Dem folgend beschreibt Manfred Nebelin in seinem zweiten Beitrag in diesem Band die verhängnisvollen Konsequenzen, die das Agieren der politischen Entscheidungsträger und NSDAP-Funktionäre im Osten Deutschlands zur Folge hatte, die in der Jahreswende 1944 / 45, beim unmittelbar bevorstehenden Eindringen der Roten Armee auf das Reichsgebiet, nichts zur Evakuierung der Zivilbevölkerung unternommen hatten. Ein in diesem Zusammenhang stehender, größerer Kontext liegt der Untersuchung von Matthias Stickler zugrunde. Der Verfasser zeichnet dabei die Folgen der von den alliierten Siegern entwickelten ethnischen wie territorialen Umgestaltung Nachkriegseuropas nach, die vor allem in Mittel- und Osteuropa auch eine Bevölkerungsverschiebung in bis dahin unvorstellbarem Ausmaß implizierte. Jens Boysen und Elke Mehnert wenden sich wiederum erneut Fragestellungen mit genuin sächsischer Perspektive zu. Jens Boysen analysiert das Kriegsende in Sachsen, das sich etwa aufgrund des unmittelbaren Zusammentreffens bewaffneter Einheiten der Roten und der US-Armee durch einige Besonderheiten auszeichnete. Auf eine direkt in diesem Zusammenhang stehende Episode der Nicht-Besetzung sächsischen Territoriums durch die alliierten Sieger einschließlich der literarischen Rezeption dieses Ereignisses nimmt Elke Mehnert Bezug, indem sie die Genese des „Schwarzenberg-Mythos“ nachzeichnet, den Stefan Heym mit seinem 1984 zuerst in der Bundesrepublik veröffentlichen Roman „Schwarzenberg“ zweifelsohne nicht beabsichtigt hatte. Herausgeber und Beiträger danken dem Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz, namentlich Herrn Ministerialrat Karl Bey, für die Förderung des Projekts, sowie dem Verlag Duncker & Humblot (Berlin), insbesondere Herrn Dr. Florian Simon und Frau Heike Frank, für alle mit der Drucklegung verbundenen Arbeiten. Dank gilt zudem Uwe Fiedler vom Schlossbergmuseum Chemnitz für die freundliche und unkomplizierte Hilfe bei der Bereitstellung von Fotos aus dem Bestand des Museums, die in dem vorliegenden Band zum Abdruck gelangen. Chemnitz, im August 2018

Hendrik Thoß, Dirk Reitz

Inhalt An der Heimatfront. Das Königreich Sachsen und die preußische Provinz Sachsen im Ersten Weltkrieg Von Justus H. Ulbricht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ein Wettiner in Wilna? Sachsens Kriegsziele im Ersten Weltkrieg Von Reiner Pommerin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Ludendorffs Ostpolitik im Ersten Weltkrieg Von Manfred Nebelin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Krieg und Frieden. Friedensinitiativen im Ersten Weltkrieg Von Hans Fenske  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Der Krieg der Ideen und Bilder Von Peter Hoeres  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Friedrich August III., der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchie in Sachsen Von Erik Lommatzsch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Versailles und die Folgen Von Dirk Reitz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Gesichter des modernen Krieges. Aspekte der Rezeption des Ersten Weltkrieges in Europa nach 1918 Von Hendrik Thoß  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 „Die am vollständigsten überlisteten Trottel des Zweiten Weltkriegs“. Stalin und die Rote Armee im Vorfeld des Unternehmens „Barbarossa“ im Frühjahr 1941 Von Rainer F. Schmidt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit. Die Auto Union AG Chemnitz im Zweiten Weltkrieg Von Rudolf Boch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Judenverfolgung im Nationalsozialismus. Das Beispiel Chemnitz oder „wie aus einer Großstadt plötzlich ein großes Raubtier wurde“ Von Jürgen Nitsche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

X Inhalt „Codename Blackfin“. Die Stadt Chemnitz und ihr Umland als „strategical target“ der Westalliierten des Zweiten Weltkrieges – eine Untersuchung unter besonderer Beachtung britischer und amerikanischer Quellen Von Uwe Fiedler  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Das Ende der Illusionen. Die Situation der Zivilbevölkerung im Osten Deutschlands 1944 / 45 Von Manfred Nebelin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Flucht und Vertreibung in Mitteleuropa als Folge des Zweiten Weltkriegs Von Matthias Stickler  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Das Kriegsende in Sachsen 1945 Von Jens Boysen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 „Vor allem müssen die Helden tot sein …“ Von Elke Mehnert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Die Autoren des Bandes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Personen- und Ortsregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

An der Heimatfront Das Königreich Sachsen und die preußische Provinz Sachsen im Ersten Weltkrieg Von Justus H. Ulbricht, Dresden I. Wollte man die Titel von vier in den letzten Jahren erschienenen Büchern zur Geschichte des Ersten Weltkriegs collagierend zusammenfassen, müsste man wohl folgendes formulieren: Im Jahre 1914 haben auf einem ohnehin schon „taumelnden Kontinent“ (Philipp Bloom) einige „Schlafwandler“ (Christopher Clark) beschlossen, die „Büchse der Pandora“ (Jörn Leonhard) zu öffnen und es begann sodann die „Nacht über Europa“ (Ernst Piper). Wohlbekannt und viel zitiert ist auch die Rede von der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, wobei diese Formulierung von George F. Kennan eine westeuropäische Sicht der Dinge repräsentiert. In der Ukraine oder in Polen, in Tschechien und auf dem Balkan klingt das erinnerungskulturell recht anders. Neuere Forschungen erweitern die Perspektive und schildern die Zeit zwischen dem Ende des langen 19. Jahrhunderts und dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, also die Jahre von 1914 bis 1945, im Zusammenhang einer europäischen Gewaltgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts1 oder gar in globaler Perspektive2, in der die kolonialpolitischen und weltwirtschaftlichen Verflechtungen und Konkurrenzen der europäischen Großmächte Berücksichtigung finden. Von einem „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ ab 1914 hatten schon so bekannte Staatsmänner wie Charles de Gaulle (1890–1970) oder Winston Churchill (1874–1965) gesprochen. Auch diese Einschätzung und Kennzeichnung ging in den wissenschaftlichen Diskurs unserer Tage ein3. 1  Vgl. Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914– 1945, Berlin 2008. 2  Vgl. Daniel Marc Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive. Wiesbaden 2010. 3  Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutschland am Ende des langen 19. Jahrhunderts. Das Janusgesicht von Moderne und Tradition vor dem Beginn des neuen „Dreißigjährigen Krieges“, in: Ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 3. Bd., München 1995, 1250–1295.

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Auf den ersten Blick ist deutlich, dass die bisherige Forschung zum Ersten Weltkrieg in zweierlei Hinsicht sozusagen „westlastig“ ist4. Zum einen dominieren zahlenmäßig Studien, die sich mit den Ereignissen auf den westlichen Kriegsschauplätzen befassen. Allein für die österreichische Forschung – die hier jedoch nicht berücksichtigt werden kann – liegt es nahe, nach Mittelund Osteuropa (und nach Italien) und die dortigen Kriegsereignisse zu blicken5. Zwar ist es ein Topos der aktuellen Geschichtskultur, im Ersten Weltkrieg ein europäisches Ereignis zu sehen, doch die meisten Arbeiten zum Epochenumbruch 1914 / 18 bleiben in einer nationalgeschichtlichen Perspektive befangen. Transnationale und vergleichende Studien zur politischen und kulturellen Geschichte des Weltkriegs sind nach wie vor in der Minderzahl – eine europäische Perspektive wird öfter beschworen als empirisch beschritten. Die so genannte „Ostfront“ geriet erst spät in den Blick der Forschung; ebenso die ungeheuren Massen an Kriegsgefangenen aus Mittel- und Osteuropa, die als Gefangene und Zwangsarbeiter dafür sorgen mussten, dass die deutsche Kriegsmaschinerie weiterlaufen konnte. Und dass auf den Kriegsschauplätzen im Osten und im Südosten große Mengen an Zivilisten zu Tode kamen, umfangreiche Umsiedlungen stattfanden und es zu ersten Ansätzen von organisiertem Völkermord kam wurde lange Zeit – außer in den betroffenen Nationen selbst – kaum wahrgenommen und thematisiert. Der sogenannte erste „totale Krieg“ der Menschheitsgeschichte zeigte sein brutalstes Gesicht in dem Teil Europas, den viele von uns nach wie vor zu wenig wahrnehmen. Das aber hat sich spätestens im Jahr 2014 etwas verändert, zumal in den Debatten um eine europäische Erinnerungskultur der Erste Weltkrieg eine der wichtigsten Wegmarken ist. Die Alltagsgeschichte des Krieges setzte sich perspektivisch erst in den 1980er Jahren durch und konzentrierte sich zumeist wiederum auf den Front­ alltag. Studien zum Alltag an der Heimatfront blieben lange Zeit Einzelfälle. Die soziale Bewegung der sogenannten Laienforschung, der außeruniversitären Lokal- und Regionalforschung, blieb oftmals auf die Heimatfront des Zweiten Weltkriegs und auf die Geschichte des „Dritten Reiches“ fixiert. Nimmt man einzelne – für unseren Zusammenhang anregende – deutsche Lokal- oder Regionalstudien in den Blick, so fällt auf, dass diese fast ausschließlich in Städten und Regionen Westdeutschlands, also in der „alten Bundesrepublik“ spielen. Mitteldeutschland kommt so gut wie nicht vor. In einer voluminösen Stadtgeschichte Magdeburgs fehlt ein eigenes Kapitel zum Ersten Weltkrieg, in der großen Stadtgeschichte Dresdens räumt der 4  Susanne Brandt, Vom Kriegsschauplatz zum Gedächtnisraum: Die Westfront 1914–1940. Baden-Baden 2000. 5  Vgl. Gerhard P. Groß (Hrsg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914 / 15, Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn u. a. 2006.



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II. Band von 974 Seiten ganze 8,5 dem Weltkrieg ein. Die knappe Geschichte Sachsens von Reiner Gross hat 2 Seiten Zeit für die lokalen Aspekte der Urkatastrophe. Und so könnte man fortfahren. Ein Grund für diese erstaunliche Unterschätzung des „großen Krieges“ in der mitteldeutschen Lokal- und Regionalgeschichte könnte sein, dass in der DDR zwar eine engagierte Lokal- und Regionalgeschichtsschreibung durchaus vorhanden war, doch aus geschichtspolitischen Gründen eher außerhalb des komplizierten 20. Jahrhunderts agierte. Zudem blendete eine ideologisch hoch befrachtete Form der Arbeiterbewegungsgeschichte manches aus und eine breitere Bürgertums- und Adelsforschung für die Zeiten der „klassischen Moderne“ existierte nicht oder allenfalls in Ansätzen. Eine Arbeit wie die von Peter Mertens über die „Nebenregierungen“ der Militär­ oberbefehlshaber im Königreich Sachsen ist eine Ausnahmeerscheinung, deren Titel allerdings nicht vermuten lässt, wie viel interessante Fakten und Einblicke zur Alltagsgeschichte an der sächsischen „Heimatfront“ sich darin verbergen. Apropos verbergen: ohne Zweifel würde man Hunderte wichtige Informationen zur Geschichte des Krieges in Sachsen und der Provinz Sachsen in einzelnen Spezialstudien verstreut finden, die in der Regel aber nur Spezialisten kennen oder gar überschauen. Auf das hier nur grob skizzierte Manko reagiert das Ausstellungsprojekt „Heimat im Krieg“, das die regionalen Aspekte dieses Weltereignisses im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt, der damaligen preußischen Provinz Sachsen und des Herzogtums Anhalt, in den Blick nimmt. Die Mitarbeit an diesem Projekt, das über zwei Jahre von meiner Kollegin Monika Gibas und mir betreut wurde und in dem Studentinnen und Studenten lernten, sich in einzelne Themen einzuarbeiten und dann dazu Ausstellungstafel-Texte zu erstellen, bildet einen Hintergrund der hier vorgestellten Überlegungen. Der andere sind meine Forschungen zur deutschen Jugendbewegung und zur „jungen Generation“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie einzelne Bemühungen um die Literatur der Befreiungskriege und des Ersten Weltkrieges. II. Im Folgenden soll es darum gehen, an einigen Beispielen und Originalquellen zu skizzieren, mit welchen gesellschaftlichen Phänomenen und Themenfeldern man sich befassen muss, wenn man dem Themenfeld „Heimatfront“ näher kommen möchte. Es beginnt bei der vielleicht trivialen Einsicht, dass das Wort „Heimatfront“ so richtig gebräuchlich erst seit dem Zweiten Weltkrieg ist und zudem voraussetzt, dass es eine fixierbare Frontlinie gibt. Eben dies aber ist ein Kennzeichen des Ersten Weltkrieges gewesen. Im 19. Jahrhundert und vor allem während der Einigungskriege gegen Dänemark

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(1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870 / 71) schlug man Schlachten auf begrenztem Raum, zog durch einige Regionen der jeweiligen Länder und – dies vor allem – schloss möglichst schnell Frieden. Erst im Ersten Weltkrieg traten ganze Nationen und Volkswirtschaften gegeneinander an und unterwarfen ihre Gesellschaften dem alleinigen Zweck, den industria­ lisierten Massenkrieg zu gewinnen. Die „Heimatfront“ in Deutschland gewann – jenseits ihrer tatsächlichen Struktur, auf die ich zurückkommen werde – Gestalt zuerst im Mythos des „August 1914“, in der Idee des „Burgfriedens“ und zu Kriegende in der Legende vom „Dolchstoß“. Doch der August 1914 ist nicht nur ein Mythos! Berichtet wird z. B. auch über nächtliche Aufzüge junger Kriegsbegeisterter in Magdeburg: „Ein Zug von 50 bis 80 jungen Leuten, zum guten Teil  wohl noch ‚höhere Schüler‘, zog über den Breiten Weg, die ‚Wacht am Rhein‘ und ‚Heil dir im Siegerkranz‘ grölend. Dann postierten sie sich vor das Kaiser-Wilhelm-Denkmal, um dort ihren Kunstgesang zu wiederholen. Und schließlich ging’s wieder die Hauptstraße entlang unter fortwährendem Singen und Lärmen. Die Polizei, die auf so­ zialdemokratische Kundgebungen so prompt zu reagieren weiß, hielt sich sorgsam zurück.“6

Man merkt am Ton, dass hier die SPD-Zeitung „Volksstimme“ eben diese erhoben hat. Die Quelle enthält den richtigen Hinweis, dass das August-Fieber zumeist im Bürgertum der großen Städte grassierte. In Klein- und Mittelstädten akklamierten die dortigen Bürger (Handwerker- und Gewerbetreibende, Lehrer, Ärzte und Pastoren) wohl auch öfter dem patriotischen Jubel – doch bei Vielen überwogen Skepsis, Schock und Trauer über den Ausbruch des „Weltenbrandes“. Vom Land wird dies allenthalben berichtet, fiel doch der Kriegsbeginn und die Mobilmachung in die Erntezeit – und plötzlich wurden die Knechte einberufen, die vielen Pferde und die wenigen Traktoren requiriert. Und auch so mancher Bauer eilte zu den Fahnen. In der Region des heutigen Sachsen-Anhalt und im Königreich Sachsen existierte Ende Juli / Anfang August 1914 vielerorts eine verbreitete Antikriegsstimmung, die auch öffentlich bekundet wurde. In Magdeburg fand schon am Abend des 30. Juli nach einem Aufruf der regionalen sozialdemokratischen Parteileitung eine Protestversammlung gegen den Krieg statt. An ihr nahmen neben vielen Arbeitern „vereinzelt auch Bürgerliche“ teil. Auch in Aschersleben, Barleben, Burg, Oschersleben, Osterwieck, Stendal, Tangermünde sowie in Thale und Wernigerode gab es Antikriegsversammlungen7. Leipzig, Chemnitz und Dresden standen hier nicht zurück, zumal sich in allen drei sächsischen Städten eine gut organisierte Arbeiterschaft befand. 6  Ebd.

7  Friedenskundgebungen. Magdeburg: In: Volksstimme. Sozialdemokratisches Organ für den Regierungsbezirk Magdeburg, Nr. 176, Magdeburg, Freitag, 31.7.1914, 1.



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Doch am 2. August 1914 meldete die Magdeburger „Volksstimme“, dass der Kriegszustand eingetreten sei und veröffentlichte einen Aufruf des SPDParteivorstandes an die Mitglieder, der nun plötzlich eine Absage an das Aufbegehren gegen eine kriegerische Auseinandersetzung der europäischen Mächte beinhaltete. In diesem neuen Aufruf hieß es, bis zur letzten Minute habe das internationale Proletariat mit aller Kraft versucht, den Krieg unmöglich zu machen. Die Verhältnisse aber seien stärker gewesen. Man müsse dem, was komme, „mit Festigkeit ins Auge sehen“. Und es gelte, der Sache treu zu bleiben, fest zusammenzuhalten, „durchdrungen von der erhabenen Größe unserer Kulturmission.“8 Ein besonderer Appell ging an die sozialdemokratischen Frauen. Sie hätten die Aufgabe, „im Geiste des Sozialismus für die hohen Ideale der Menschlichkeit“ zu wirken, damit dieser Krieg der letzte bleibe9. Die „Volksstimme“ rief unter dem Titel „Sein oder Nichtsein!“ zur patriotischen Pflichterfüllung auf und erklärte, im „Augenblick des weltgeschichtlichen Ringens“ ändere sich die Aufgabenstellung des klassenbewussten Proletariats: „Die Sozialdemokraten werden ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen. […] Wir fordern aber auch von unseren innenpolitischen Gegnern, daß sie den tiefen sittlichen Ernst achten, mit dem unsere Partei und Fraktion an ihre schwere Aufgabe herangeht. […] Es besteht kein Zweifel, daß die Sozialdemokraten diese Pflicht anerkennen und sie gewissenhaft erfüllen werden.“10

Aber weder die sozialdemokratischen Arbeiter standen geschlossen hinter dieser Entscheidung, noch war sich die Führung der Sozialdemokratie einig. Vergeblich versuchten die Befürworter des „Burgfriedens“ in den folgenden Monaten und Jahren ihre Position der gesamten Mitgliedschaft plausibel zu vermitteln. Das gelang jedoch nicht und die SPD zerbrach schließlich an der Frage der Haltung zum Krieg. Diese internen Positionskämpfe innerhalb der Arbeiterpartei und den Gewerkschaften sorgten nun nicht zuletzt in den Industriezentren und -orten Sachsens und der Provinz Sachsen für dauernde Konflikte, die nach 1918 zur Erblast der Arbeiterbewegung werden sollten und in denen sich nicht nur einzelne Arbeiterfunktionäre und ihre Klientel, sondern auch die adlig-bürgerlichen Gegner der Arbeiterbewegung radikalisierten. Für die militärischen Befehlshaber an der Heimatfront war daher die Sicherung der öffentlichen Ruhe und Ordnung vom ersten Kriegstag an eine der Hauptsorgen. Sie setzten dabei durchaus auch auf eine flexible Taktik im Umgang mit der organisierten Arbeiterschaft – die man dringend benötigte 8  Parteigenossen!. 9  Ebd.

10  Ebd.

In: Ebd., Nr. 178 vom 2.8.1914, 3.

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und im Burgfrieden-Konsens halten wollte. Ordnungspolizeiliche Maßnahmen kamen selbstverständlich dazu, neben Pressezensur und Propaganda. Eher auf die Loyalitätssicherung im Bürgertum zielte die staatliche Indienstnahme von bzw. die Kooperation mit Schule und Kirche als den wichtigsten öffentlichen Institutionen von Erziehung und nationaler Konsensbildung. III. Die Nähe von Kirche und Macht, „Thron und Altar“ existierte in Deutschland allerdings schon seit der Reformation11. In den protestantischen Ländern und Regionen bildeten landeskirchliche Oberhoheit und staatliche Macht eine Einheit. In Preußen und in dessen nach dem Wiener Kongress 1815 etablierter Provinz Sachsen war der König „summus episcopus“ (oberster Bischof) der Landeskirche. Sachsen besaß zwar ein katholisches Herrscherhaus, war mehrheitlich jedoch protestantisch. Seit den Befreiungskriegen entwickelten sich in zunehmendem Maße Formen eines Nationalprotestantismus bzw. Vorstellungen vom sakralen Charakter der deutschen Nation. Solche Ideen wurden unmittelbar vor Kriegsbeginn im Jahre 1913 revitalisiert im kollektiven Gedenken an das 100‑jährige Jubiläum der Völkerschlacht und an die Befreiungskriege12. Zudem fiel diese Erinnerung mit dem fünfundzwanzigsten Thronjubiläum Wilhelms II. zusammen. Der deutsche Protestantismus hielt diese Tonlage nationaler Emphase, gewissenhafter Pflichterfüllung, Opferbereitschaft und Loyalität zu den herrschenden Eliten die entsprechenden ideologischen und religionspolitischen Positionen bis zum bitteren Kriegsende 1918 nahezu bruchlos durch. Und die katholische Minderheit im Reich – ursprünglich ein stigmatisierter „Reichsfeind“ – versuchte ihre gesellschaftliche Außenseiterposition durch einen umso nationaleren Zungenschlag und eine hohe Kriegsfreiwilligkeit zu kompensieren. In noch höherem Maße galt das für die deutschen Juden, die – noch im Väterglauben verhaftet oder nicht – ebenfalls zu den angeblichen „Reichsfeinden“ zählten und die dieses Stigma folglich durch ihr Engagement an Front und Heimat zu überwinden versuchten. Kirchliche und geistliche Würdenträger waren aber nicht allein als Propagandisten und Ideologen für die „deutsche Sache“ aktiv – bedeutsamer war ihr seelsorgerischer und caritativer Einsatz an Front und „Heimatfront“ sowie zahlreiche weitere Aktivitäten, mit denen das Funktionieren der Kriegsgesellschaft aufrecht erhalten werden sollte und oftmals tatsächlich auch wurde. 11  Heinz-Gerhard Haupt / Dieter Langewiesche (Hrsg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Frankfurt a. M. / New York 2001. 12  Kristin Anne Schäfer, Die Völkerschlacht. In: Deutsche Erinnerungsorte. Hrsg. v. Etienne François und Hagen Schulze. München 2001, 2. Bd., 187–201.



An der Heimatfront

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Auch die Schulen sahen sich in den Dienst der nationalen Sache gestellt. Die Schulbehörden versuchten zum einen, die unterrichtliche Versorgung aufrechtzuerhalten, obwohl zahlreiche Lehrer und ältere Schüler zum Kriegsdienst eingezogen wurden oder sich freiwillig meldeten. Auch die zu Hause gebliebenen Pädagogen und Schüler an der „Heimatfront“ wurden aktiv. Sie sammelten kriegswichtige Materialien, leisteten vielfältige Hilfsdienste in den Gemeinden, Kommunalverwaltungen und im Bereich von Industrie und Landwirtschaft. Krieg wurde Thema im Unterricht, und die schulische Festund Feierkultur leistete ihren Beitrag zur „vaterländischen Ertüchtigung“ sowie zur gesellschaftlich notwendigen Trauerarbeit angesichts der unerwarteten und stetig steigenden Zahl an Gefallenen und Kriegsversehrten. Allein am Gymnasium Dresden-Neustadt etwa fielen während des Ersten Weltkriegs 389 Schüler und Lehrer. Das eigentlich tragende Glied im Rückgrat der „Heimatfront“ allerdings war – neben der staatlichen Verwaltung, den Militärbehörden, Kirchen und Schulen – die Familie. Die Struktur der familiären Kleingruppe geriet durch den Weltkrieg vollkommen durcheinander. Plötzlich fehlten vielfach die Väter, älteren Söhne und Brüder. Die Jüngeren mussten nun Aufgaben bei der Organisation und Versorgung der Familien übernehmen. Zahlreiche Frauen, vor allem in den nichtbürgerlichen Schichten ohne Hausangestellte, schulterten die Doppel- und Mehrfachbelastung als Familienoberhaupt, Familienversorger und Mutter. Sie mussten physisch wie emotional mit der Abwesenheit (oder gar dem Tod) des Ehemannes, der zunehmend miserablen Versorgung der Familie mit Lebensmitteln, erschwerten Wohnverhältnissen und den Problemen der Kinder fertig werden. Frauen rückten an die erste Stelle in den Familien und ersetzten außerdem in zunehmender Zahl auch männliche Arbeitskräfte in den Betrieben. Weiterhin wurden sie in steigendem Maße zu Hilfsund Sanitätsdiensten herangezogen oder meldeten sich dazu freiwillig, denn der nationale Konsens in der deutschen Gesellschaft sowie die damit verbundene Pflichtethik hatte auch eine weibliche Seite. Aus heutiger Perspektive ist es erstaunlich, wie lange Frauen (und Jugendliche) bereit waren, ihre neuen „kriegswichtigen“ Aufgaben widerspruchslos zu erfüllen. Was „die Lieben daheim“ an täglichen Belastungen zu ertragen hatten, kam den Soldaten vielfach nicht zu Ohren. Viele Frauen wollten ihre Männer und Söhne nicht noch mit ihren Sorgen belasten. Zudem versuchte die s­pätestens ab 1916 von den Militärbehörden veranlasste und kontrollierte Presse- und Postzensur, solche Informationen zu unterdrücken, wenn das auch nicht annähernd vollständig gelang. Frauen zu Hause wurden angehalten, keine „Jammerbriefe“ zu schreiben. Die Soldaten sollten allzu drastische Schilderungen ihres Alltags an den Fronten unterlassen. Viele Frauen versuchten tatsächlich, ihren kämpfenden Angehörigen nicht die ganze Wahrheit über die Situation an der „Heimatfront“, über ihr und ihrer Angehörigen

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Leben im „Ausnahmezustand“13 zu berichten. Aber nicht alle hielten sich an die Aufforderung, die Schwierigkeiten und Entbehrungen zu verschweigen, die dieser Krieg auch den Menschen in der Heimat bescherte. So schrieb die Bäuerin Minna Falkenhain aus Naundorf im heutigen Landkreis Wittenberg am 20. Juli 1916 an ihren Ehemann an der Front: „Wie die Zeiten aussehen, kann man wirklich den Mut verlieren. Die Leute reden, es kommt noch schlimmer. Die Armut und Teuerung, die hier herrschen, sind groß, es ist kaum noch zu ertragen. Für Geld und gute Ware gibt es nichts mehr, alles wird beschlagnahmt. Auch die Räder nehmen sie uns weg. Nun muss man überall laufen, es ist zum Davonrennen.“14

Solch offene Worte aber waren nicht erwünscht. An die unbedingte Bereitschaft der Frauen zur Pflichterfüllung gegenüber dem Vaterland, die in Kriegszeiten, aber auch nach Ende des Krieges noch gefordert sei, gemahnte im Mai 1917 die Pfarrfrau Maria Blech aus Nordhausen in ihrer Rede auf der Jahresversammlung des „Sächsischen Provinzialvereins der Freundinnen junger Mädchen“: „Hinter der auflodernden Begeisterung der Augusttage 1914 stand das große, pflichtbereite Einstehen, Mann für Mann, für die Sache des Vaterlandes. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der die Männer in den Krieg zogen und dort ausharren bis zum heutigen Tag, fühlten auch die Frauen ihre Pflicht gegen das Vaterland, die Pflicht zu pflegen und zu helfen, zu arbeiten und sich einzuschränken und die größte – die Herzensopfer darzubringen. Solch Pflichtgefühl ist stark und gibt Kraft wie Stahl und Eisen. In solcher geschlossenen Kraft stahlharten Pflichtbewußtseins steht heute unser Volk, sterben unsere Helden mit dem Lächeln des Sieges auf den Lippen. In solche starken Hände wollen wir Frauen auch ferner unsere Pflichten nehmen, die Aufgaben des Augenblicks und die Aufgaben der Zukunft.“15

Ziel solcher und zahlreicher anderer Versuche zur ideologischen Einflussnahme war es, möglichst viele unverheiratete Frauen zur Berufsarbeit heranzuziehen, die verheirateten aber neben ihrer Pflichterfüllung in der Familie zu Heimarbeiten oder zur Halbtagsarbeit zu ermuntern. Aber nicht nur weibliche Mehrarbeit war gefragt. Im Krieg wurden auch Jugendliche, die noch nicht fronttauglich waren, in die Organisation der Kriegswirtschaft integriert. 13  Vgl. Jens Flemming / Klaus Saul / Peter-Christian Witt (Hrsg.), Lebenswelten im Ausnahmezustand. Die Deutschen, der Alltag und der Krieg 1914–1918, Frankfurt a. M. 2011. 14  Zit. nach. „Was tun wir hier? Soldatenpost und Heimatbriefe aus zwei Weltkriegen, hrsg. v. Frank Schumacher. Berlin 2013, 78. 15  Von der inneren Zurüstung auf unsere Frauenaufgaben nach dem Kriege. Vortrag von Frau Pfarrer Maria Blech, geb. Jacobi zu Nordhausen am Harz. Gehalten bei der Jahresversammlung des Sächsischen Provinzialvereins der Freundinnen junger Mädchen im Oberpräsidium zu Magdeburg am 22.5.1917. Evangelische Buchhandlung Ernst Holtermann, Magdeburg 1917, 3 f.



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Paramilitärische Ertüchtigungsmaßnahmen für Jugendliche gehörten außerdem zum Kriegsalltag an der „Heimatfront“16. Staatlicherseits versuchte man also, ältere Kinder und Jugendliche (Volljährigkeit trat mit 21 Jahren ein) in die „vaterländische Pflicht“ zu nehmen. Kleine Kinder hingegen wurden nun gezwungen, ihr Leben in steigendem Maße autonom zu organisieren, da die Väter abwesend waren und die Mütter oft außerhalb der Familie arbeiten mussten. Das bedeutete: der Erste Weltkrieg bescherte vielen Kindern und Jugendlichen ein höheres Maß an Autonomie, die ihre Grenze allerdings an den bedrückenden Lebens- und Versorgungsverhältnissen fand. Jugendpflege und staatliche Kinderfürsorgen versuchten, diese Autonomiebestrebungen einzudämmen und eine offensichtliche Verwahrlosung der nachwachsenden Generation zu verhindern. Dabei überschnitten sich staatliche Verwaltungs­ interessen, ordnungspolitische Direktiven, pädagogische Kontrollabsichten und echte Sorgen um den Nachwuchs auf besondere Weise. Das Wissen um diesen Teil der heimatfrontlichen Kriegsrealität schlummert nach wie vor in den Stadt-, Kreis- und Landesarchiven Mitteldeutschlands. Diese private bzw. halböffentliche Seite des Krieges ist – gemessen an der Fülle von Arbeiten zur Wirtschafts-, Politik-, Kultur- und Geistesgeschichte des Weltkriegs – bisher vergleichsweise wenig erforscht17. IV. Neben dem Blick auf Schule, Kirche und Familie als den sozialen Institutionen, die im Krieg tiefgreifende Veränderungen erlebten, gilt es, das seinerzeit sprichwörtliche „Eiserne Herz“ Deutschlands, die kriegswirtschaftlichen Strukturen in der Region des heutigen Sachsen-Anhalt sowie die sächsischen Industriereviere zum Thema zu machen. Denn mit dem „Gesetz über die Ermächtigung des Bundesrates zu wirtschaftlichen Maßnahmen“ vom 4. August 1914 begann die Phase der Umstellung von der Friedens- auf die Kriegswirtschaft. Es ging um die Erfassung und Verteilung von wichtigen Rohstoffen, um Preisregulierungen, um staatliche Aufträge und staatliche Subventionen und um Garantien für die Rüstungs- und Nahrungsgüterwirtschaft. Das Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt gewann wirtschaftlich im Ersten Weltkrieg durch den Ausbau vorhandener und den Aufbau neuer industrieller Strukturen im Zuge der Einstellung der deutschen Wirtschaft auf die Produktion von Waffen und anderen kriegswichtigen Gütern. Ein paar Beispiele: Die „Polte Armaturen- und Maschinenfabrik“ in Magdeburg stellt 16  Klaus Saul, Jugend im Schatten des Krieges. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 34 (1983), H. 2, 91–184. 17  Vgl. Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht. 1871–1918, Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt / M. 1997, 407–573.

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schon seit 1889 im Auftrag des preußischen Kriegsministeriums Patronenhülsen her; das Unternehmen wurde ab 1914 zu einem der größten Munitionsproduzenten Europas18. Das Magdeburger „Krupp-Gruson“-Werk fertigte Munition für Gewehre und Artillerie; die „Maschinenfabrik und Eisengießerei Schulz“ stellte nun Stahlgranaten her19. Die britische Seeblockade hatte seit Kriegsbeginn die Einfuhr von dringend benötigten Rohstoffen, vor allem Kupfer, Blei und Salpeter für die Granaten- und Sprengstoffherstellung, verhindert20. Kupfer ist jedoch insbesondere für die Waffenproduktion ein wichtiger Rohstoff. Die „Hettstedter Kupfer- und Messingwerke“ produzierten Messingrundstücke für Granathülsen, Kupfer- und Messingbänder für Zündhütchen, Messingbänder für Autound Flugzeugkühler, Granatenführungsringe aus Kupfer, Zink und Zinklegierungen, Zünderschrauben für Kartuschen, Warmpressteile für Zünderteile, Kupferdrähte für Fernsprechapparate und Fernsprechleitungen und Kupferrohre für Kriegsschiffe. Auch die Eisenhüttenindustrie im Harz stellte auf Kriegsproduktion um. Aus dem Eisenhüttenwerk in Thale stammt der legendäre Stahlhelm M 1916, von dem die ersten 30.000 Stück im Januar 1916, rechtzeitig für die Schlacht von Verdun, an die Truppe ausgeliefert wurden. Der M 1916 gehört bis heute zum kollektiven Bildgedächtnis des Ersten Weltkrieges, zumal sein markant-kriegerischer Zuschnitt auf Plakaten und Propagandapostkarten zahlreich abgebildet wurde. Für den in den Frontromanen der späten 1920er Jahre mythisch überhöhten Kriegertypus des „Verdun-Kämpfers“ ist dieser Stahlhelm ikonographisch unverzichtbar. Auch zahlreiche feinmechanische Betriebe in Sachsen, die bisher als Zulieferer anderer Industrien, vor allem aber als Konsumgüterproduzenten reüssiert hatten, stellten auf Kriegs- und Rüstungsproduktion um. Der massive Einbruch der zivilen Güterproduktion war die Folge. Für die Produktion von Sprengstoffen und Giftgaswaffen war vor allem der Ausbau der chemischen Industrie notwendig. Die Elektrochemischen Werke AG Bitterfeld bauten zu Kriegsbeginn eine Salpetersäurefabrik, ein Aluminiumwerk und das Elektron-Metallwerk auf, in denen kriegswichtige Produkte 18  Zur Geschichte der Munitionsentwicklung und -produktion bei Polte siehe Manfred Stegmüller, Von Flaschengeschossen und Wolframkernen. Leinburg 2000. 19  LHASA, MD, C 34, Nr. 300, Bl. 109. Zit. nach Helmut Assmus / Dieter Steinmetz / Mathias Tullner, Quellensammlung zu Geschichte der Arbeiterbewegung im Bezirk Magdeburg. Teil 1: Anfänge bis 1917. Magdeburg 1969, 79. 20  Vgl. W. Franke, Die Mansfelder Kupferschiefer bauende Gewerkschaft im Kriege. In: Mansfeld Archiv, Verzettelungsakte 33. Zit. in: Gerlinde Voigt, Die Kriegsziele im 1. Weltkrieg – ausgehend von der Mansfelder Kupferschiefer bauenden Gewerkschaft, Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Diplom-Lehrers für Geschichte / Sport der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle 1970, 23.



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hergestellt wurden. Das Industrierevier Bitterfeld entwickelte sich bis 1915 zu einem Zentrum der Sprengstoffherstellung. Auch die Filmfabrik Agfa Wolfen stellte auf Kriegsproduktion um. Hier wurden Fliegerfilme und Klarscheiben für Gasmasken hergestellt. Das Reichsstickstoffwerk Piesteritz, ebenfalls eine Neugründung, belieferte die Rüstungsindustrie mit chemischen Erzeugnissen. Aber auch die Landwirtschaft profitierte vom Aufbau der Chemieindustrie in Mitteldeutschland. Sie wurde mit Düngemitteln versorgt. Allerdings konnte der landwirtschaftliche Produktionsrückgang und der Wegfall der Agrar­ importe – das Deutsche Reich war vor 1914 weltweit der größte Importeur von Agrarprodukten – damit nur unzureichend kompensiert werden. Eine regelrechte Kriegsgründung ist die heute als „Chemiedreieck“ bekannte Industrieregion Leuna-Merseburg. Sie hatte ihre Geburtsstunde mit dem Baubeginn eines Ammoniakwerkes Anfang Mai 1916. Es ging um die Erweiterung der Produktionskapazitäten von Ausgangsstoffen für die Sprengstoff- und Düngemittelherstellung. Der Braunkohleabbau im nahen Geiseltal garantierte die Energieversorgung, die Saale diente als Wasserreservoir und auch verkehrstechnisch war die Lage an zentralen deutschen Bahnstrecken günstig. Durch den Aus- und Aufbau eines leistungsstarken Kraftwerk- und Stromnetzverbundes wurde Mitteldeutschland zu einem der wichtigsten Energiezentren Deutschlands, das im Krieg, aber auch später, über große Fernleitungen nicht nur die heimischen Industriebetriebe und Städte, sondern auch Berlin und einzelne norddeutsche Regionen mit Strom versorgte. Der Auftragsboom, den die Kriegsproduktion der Region brachte, bewahrte die Provinz Sachsen, das Herzogtum Anhalt und das Königreich Sachsen jedoch nicht davor, langfristig den Preis für eine rüstungswirtschaftlich angeheizte Konjunktur, die Vernachlässigung der Konsumgüterindustrie sowie den allgemeinen Währungsverfall zu zahlen. Im Bereich der Konsumgüterindustrie und der Lebensmittelwirtschaft waren die Auswirkungen des Krieges sofort zu spüren. Auf diesen Feldern hieß Kriegswirtschaft Mangelwirtschaft, da alle Ressourcen in den Krieg bzw. an die Front flossen. Im Regierungsbezirk Magdeburg kam es schon unmittelbar nach Kriegsbeginn zu Preissteigerungen bei Lebensmitteln. Je länger der Krieg dauerte, umso prekärer wurde die Versorgungslage. Proteste dagegen mehrten sich in vielen Orten ab Frühjahr 1915 als klar wurde, dass der Krieg länger dauern würde als gedacht. Die Existenz eines blühenden Schwarzmarktes für Lebensmittel, den die staatlichen Lenkungsorgane nicht in den Griff bekamen, kompensierte zwar einige Mängel der staatlich regulierten Lebensmittelversorgung – setzte aber eine ökonomische Potenz der einzelnen Haushalte voraus, die gerade im Kleinbürgertum und den Arbeiterfamilien schlicht nicht vorhanden war. Die Kommunen mussten sich behelfen und entwickelten – ebenso wie die Industrie – eine Fülle improvisierter Strukturen sowie neue Waren und Güter,

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um die Versorgung ihrer Bürger unter zunehmend erschwerten Bedingungen aufrechtzuerhalten. Im August 1916 beispielsweise richtete die Stadt Magdeburg auf Veranlassung und mit Unterstützung der „Reichsstelle für Gemüse und Obst“ auf dem Güterbahnhof Neue-Neustadt einen Großmarkt für Gemüse und Obst ein. Auch der Magistrat der Stadt Halle an der Saale war um eine geregeltere Versorgung der Einwohner angesichts der immer knapper werdenden Lebensmittel bemüht. So wurden die Bewohner durch Plakate vom Eintreffen neuer Waren informiert. In Kochbüchern, auf Lebensmittelverpackungen und mit Handzetteln wurden „Kriegsrezepte“ verbreitet. Denn – wie es in einem Kriegskochbuch heißt – „Auch die Vaterlandsliebe geht durch den Magen.“ Das sächsische Kriegskochbuch für ländliche Verhältnisse verkündete: „So [also durch eine sparsame Haushaltführung] kann jede einzelne Hausfrau auf dem Lande durch treue Erfüllung der ihr anvertrauten, vielseitigen Pflichten in ganz besonderer Weise dazu helfen, daß Deutschland auch im wirtschaftlichen Kampfe siegreich hervorgehen möge und daß der Plan unsrer Feinde zunichte wird!“

Auch Ratschläge für die Ernährung von Säuglingen in Vorträgen auf Veranstaltungen und in Broschüren erachteten die Behörden als wichtig, da die Kindersterblichkeit bedrohliche Ausmaße annahm. Um Ansammlungen vor Lebensmittelgeschäften und damit verbundene Unruhen künftig zu vermeiden, wurden im Mai 1916 in Halle Regelungen für den Fleischverkauf getroffen. Die Fleischer mussten nun Kundenverzeichnisse führen, in denen die an einzelne Haushalte verkauften Mengen genau auszuweisen waren. Auf diese Weise sollten „Hamsterkäufe“ unterbunden und eine gerechtere Versorgung sichergestellt werden. Vor allem sollte aber das Schlangestehen vor den Läden vermieden werden. Denn die Frauen reden hier miteinander über ihre Sorgen und Nöte und angesichts der schlechten Versorgungslage kam es immer öfter zu spontanen Protesten bis hin zu offenen Krawallen. V. Eigentlich also hatte die Bevölkerung Alltagsprobleme genug, doch die staatlich-administrativen Eliten ließen nichts unversucht, die „Heimatfront“ ideologisch aufzurüsten. Der Krieg wurde als Propagandaschlacht geführt¸ und das auch in der Heimat21. Schon der europaweit sich gegenseitig aufheizende Nationalismus der Vorkriegszeit hatte von dichotomischen Feind- und Freundbildern gelebt. Dies nahm unter Kriegsbedingungen sprunghaft zu. Die kriegsführenden Mächte überschütteten die eigene Bevölkerung mit einer Flut fremdenfeindlicher und kriegsbezogener Propaganda, in der der je21  Rainer Rother (Hrsg.), Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkriegs, Berlin 1994, 109–300, (Themenschwerpunkt „Populäre Medien“).



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weilige Gegner als Feind, Raubtier, Monster, Barbar oder gar Tier daherkam. Diese aggressiven Stereotype vergifteten die Atmosphäre zwischen den Na­ tionen, schürten Ängste in der Bevölkerung – und wurden zur mentalen und politischen Hypothek in der Nachkriegszeit. Nationalismus, „antiwestliche“ Haltungen, Antisemitismus und Antibolschewismus verschwisterten sich zu einem ideologischen Gebräu von großer Akzeptanz in weiten Kreisen der deutschen und europäischen Bevölkerung. Dies war auch in der hiesigen Region spürbar und erklärt so manche politischen Differenzen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Weder der Kapp-Putsch im Frühjahr 1920 noch der „Mitteldeutsche Aufstand“ im März 1921, das Eingreifen und die Exzesse der Freikorps, lokal begrenzte bürgerkriegsähn­ liche Zustände – oder die Gründung des „Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten“ bereits im Dezember 1918 durch Franz Seldte (1882–1947) in Magdeburg – fielen vom Himmel. Auch das legendäre „rote Sachsen“ der Weimarer Zeit hatte eine Vorgeschichte in den Politisierungs- und Radikalisierungsschüben der Kriegszeit, wobei die Radikalisierung nicht nur einzelne Fraktionen der Arbeiterbewegung, sondern auch das deutschnationale Bürgertum und die Radikalvölkischen erfasste.

Abb. 1: Menschenmenge vor dem Chemnitzer Rathaus, Anfang August 1914. Quelle: Schlossbergmuseum Chemnitz

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Ob und wieweit Ideologien und Propaganda in Herz und Hirn der einzelnen Menschen eindringen konnten und wie diese den „großen Krieg“22 individuell wahrnahmen, ließe sich wohl allein anhand autobiographischer Zeugnisse genauer verdeutlichen. Diese Perspektive einer Kriegsgeschichte „von unten“ ist seit etwa 15 Jahren ein ausgeprägter Forschungsstrang bei der historiographischen Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges. Allerdings dominiert hierbei weiterhin die Frontperspektive, weniger die der „Heimatfront“. Das hat auch damit zu tun, dass private Zeugnisse – ausgenommen Feldpostbriefe, die seit Kriegsende 1918 bereits systematisch gesammelt wurden23 – selten sind. Auch in den Stadtarchiven finden sich vor allem Feldpostkarten. Die Ausnahme bilden größere, zusammenhängende Überlieferungen familiärer Korrespondenzen und Tagebücher aus dieser Zeit. Wenn aber Briefe, Tagebücher oder andere persönliche Notizen in Familien nicht weitergegeben werden, sinken sie ins Vergessen der nachwachsenden Generationen oder landen – prosaisch formuliert – im Müll. VI. Am Ende des Beitrages steht ein Blick auf die literarische und publizistische Begleitmusik zum Krieg in der Heimat. Anfangs – so schätzt man – wurden pro Tag 50.000 Gedichte an deutsche Zeitungsredaktionen gesandt. Diese patriotische Flut ebbte zwar ab, versiegte jedoch nie. Wichtiger noch waren die Reden und Veröffentlichungen deutscher Professoren, Schriftsteller und Künstler, die dem Krieg einen tieferen Sinn zu verleihen versuchten; getreu dem Diktum des österreichischen Schriftstellers Hugo von Hofmannsthal (1874–1929): „Wäre die Gegenwart nicht noch viel entsetzlicher, wenn sie keinen Sinn hätte!“ Im Jahre 1914 dichtete ein Hans Koch aus LeipzigGautzsch: Daheim Sie sangen die Lieder vom heiligen Krieg Ein Jubeln war es ohn‘ Ende Und sahn in die glänzenden Augen sich Und preßten sich freudig die Hände.

22  „The Great War heißt der Erste Weltkrieg in Großbritannien bis heute; in Frankreich spricht man von „La Grande Guerre“; vgl. Jean-Jacques Becker / Gerd Krumeich, Der Grosse Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914–1918. Essen 2010. 23  Vgl. Aribert Reimann, Die heile Welt im Stahlgewitter. Deutsche und englische Feldpost aus dem Ersten Weltkrieg, in: Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Dieter Langewiesche / Hans-Peter Ullmann (Hrsg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozialund Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Essen 1997, 129–145.



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Nun sind wir allein und sie so weit Und leerer alle Gassen, Wir tragen doppelt ihr Glück und Leid, Wir, die sie daheim gelassen. Oft kommt ’s wie ein Tönen weither übers Land, Als schlügen viel Schwerter zusammen, dann stehen wir lauschend Hand und Hand, Und unsere Herzen flammen.“

Vier Jahre später war dies alles in jeder Hinsicht vorbei. Denn im Jahr 1918 endete „das große Morden“ auf eine für die meisten Deutschen überraschende Weise, nämlich mit einer katastrophalen Niederlage. Die militärische Führung aber überließ deren Abwicklung zivilen Kräften, die dadurch mit einer politischen Hypothek belastet wurden, die das innenpolitische Klima der gesamten Weimarer Republik bestimmen sollte. Schnell machte die Legende vom „Dolchstoß“ die Runde; ein weiteres Trauma wird der so genannte „Schmachfrieden“ von Versailles, der dem Deutschen Reich nicht nur große Reparationslasten aufbürdete, sondern ihm auch die alleinige Schuld am Krieg zuwies. Die Novemberrevolution 1918 hatte zwar neue, im demokratischen Sinn chancenreiche politische Verhältnisse etabliert, doch zugleich die deutsche Gesellschaft weiter tief gespalten. Dass man nicht im Frieden lebe, sondern in der Zeit nach dem Krieg, ist ein sprechendes Diktum jener unmittelbaren Nachkriegsjahre. Das galt auch für die Familien, deren Väter entweder fehlten oder als schwer traumatisierte Persönlichkeiten wieder gekommen waren – mit der Erwartung, nun möge alles möglichst schnell so werden „wie früher“. Dabei jedoch verkannten viele Frontkämpfer, dass sich nicht allein die politischen, sondern auch die privaten Verhältnisse der Geschlechter und Generationen – neben aller sozialen Not – grundlegend verändert hatten. Die deutsche Gesellschaft musste nach 1918 den Tod von Millionen nachträglich neu rechtfertigen, denn die ursprünglich angebotene Sinnstiftung, man sei für Kaiser, Reich und die deutsche Kultur in den Krieg gezogen, hatte sich verbraucht. Über die Deutung des Kriegserlebnisses zerstritt sich die Nachkriegsgesellschaft massiv. Die „Heimatfront“ musste sich allmählich in eine Zivilgesellschaft zurückverwandeln – und dies in vollkommen neuen politischen Verhältnissen, die den meisten Deutschen fremd waren und lange blieben. Doch das sind deutsche wie sächsische Nachkriegsgeschichten.

Ein Wettiner in Wilna? Sachsens Kriegsziele im Ersten Weltkrieg Von Reiner Pommerin, Dresden I. 1914: Im Angebot – Eine Großherzogin Nach1 der Kriegserklärung gegen Russland betonte Kaiser Wilhelm II. in der Rede vor dem Reichstag am 4. August 1914, das Deutsche Reich treibe nicht etwa Eroberungslust in den Krieg, sondern lediglich der Wille, den Platz zu bewahren, auf den Gott es gestellt habe2. Ähnlich defensiv argumentierte König Ludwig III. am gleichen Tag in seinem Aufruf „An meine Bayern“ in der Bayerischen Staatszeitung, als er ausführte, es gelte das Deutsche Reich zu schützen, welches Bayern in blutigen Kämpfen mit erstritten habe3. Doch bei dieser defensiven Grundeinstellung sollte es nicht lange bleiben. Bereits am 15. August erklärte Ludwig III. dem neuen preußischen Gesandten in München, Freiherrn Wilhelm von Schoen, Bayern dürfe es nach diesem Krieg nicht wieder so ergehen, wie nach dem Krieg gegen Frankreich 1870 / 71. Damals habe Bayern nichts gewonnen und nicht einmal die Rückgabe der 1866 an Preußen abgetretenen Gebiete  – gemeint waren die unterfränkischen Bezirksämter Gersfeld und Orb – erreicht. „Er habe nichts dagegen“, so konzedierte der König, „dass Preußen sich vergrößere, aber Bayern müsse auch etwas bekommen“. Als von Schoen den König fragte, wem das dazu erforderliche Gebiet denn abgenommen werden solle, schlug Ludwig III. eine Aufteilung des Reichslands Elsass-Lothringen, das „Verschwinden“

1  Vgl. Reiner Pommerin, „Polen gegen uns eingenommen und stark jüdisch durchsetzt“. König Friedrich August III. und die Kriegsziele Sachsens im Ersten Weltkrieg, Potsdam 2009. 2  Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte. Hrsg. und bearbeitet von Herbert Michaelis, Ernst Schraepler unter Mitwirkung von Günter Scheel. Bd. 1: Die Wende des Ersten Weltkrieges und der Beginn der innerpolitischen Wandlung 1916 / 1917. Berlin 1958, 180. 3  Vgl. Stefan März, Das Haus Wittelsbach im Ersten Weltkrieg. Chance und Zusammenbruch monarchischer Herrschaft, Regensburg 2013, 165.

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des Königreichs Belgien sowie eine „Deutschwerdung“ der Rheinmündungen vor4. Bayerns Ministerpräsident Georg Graf von Hertling (1843–1919) bemühte sich anschließend, die „unvorsichtigen Äußerungen“ seines Monarchen abzuschwächen. Aber gleichzeitig wies er den preußischen Gesandten darauf hin, dass eine einseitige Vergrößerung Preußens durch im Krieg erfolgenden Gebietszuwachs zu einer Verschiebung im Verhältnis der Bundesstaaten untereinander führe, „die das bundesstaatliche Gefüge des Deutschen Reichs beeinträchtigen müsste, wenn nicht auch andere Staaten, darunter wir [Bayern], gleichfalls etwas zugeteilt bekämen5. Es fällt schwer, diesem Hinweis Hertlings lediglich das uneigennützige Motiv des Erhalts der föderalistischen Reichsverfassung zu unterstellen6. Am 25. August besuchte der württembergische König Wilhelm II. das Große Hauptquartier in Koblenz. Die euphorische Stimmung nach den militärischen Anfangserfolgen im Westen riss ihn dazu hin, beim Kaiser als Kriegsziel ebenfalls das Verschwinden des Königreichs Belgien von der Landkarte einzubringen7. Am folgenden Tag statteten König Ludwig III. und Ministerpräsident Hertling dem Großen Hauptquartier einen Besuch ab. Der bayerische König wollte die Gelegenheit nutzen, nicht mehr lediglich eine Aufteilung des Reichslands vorzuschlagen, sondern es jetzt gleich gänzlich als Kriegsbeute für Bayern zu fordern. Es gelang Hertling, König Ludwig III. von dieser Absicht abzuhalten, denn er sah die Befindlichkeiten anderer Bundesstaaten im Fall eines Zuschlags des ganzen Reichslands an Bayern voraus. Deshalb beschränkte er sich gegenüber dem Reichskanzler darauf, eine Aufteilung des Reichslands vorzuschlagen: Preußen könne Lothringen, Bayern das Unter-Elsass und Baden das Ober-Elsass erhalten. Bethmann Hollweg schien das Argument Hertlings einsichtig, dass es dem föderativen Charakter des Reichs sowie den Machtverhältnissen im Reich abträglich sei, wenn sich lediglich der Bundesstaat Preußen nach einem Friedensschluss vergrößere. Da der Reichskanzler den Aufteilungsplan nicht direkt ablehnte, ihm allerdings auch nicht explizit zustimmte, verließen der bayerische König und sein 4  Karl-Heinz Janßen, Macht und Verblendung. Kriegszielpolitik der deutschen Bundesstaaten 1914–1918, Göttingen 1963, 21. 5  Briefwechsel Hertling-Lerchenfeld 1912–1917. Dienstliche Privatkorrespondenz zwischen dem bayerischen Ministerpräsidenten Georg Graf von Hertling und dem bayerischen Gesandten in Berlin Hugo Graf von und zu Lerchenfeld. Hrsg. und eingeleitet von Ernst Deuerlein. 2 Bde., Boppard am Rhein 1973, Bd. 1, Nr. 121, 334. 6  Dieter J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869–1955). Eine politische Biographie, Regensburg 2007, 127. 7  Janßen, Macht und Verblendung (Anm. 4), 30.



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Ministerpräsident Koblenz mit dem Eindruck, der Reichskanzler sei der Aufteilung Elsass-Lothringens nicht abgeneigt8. Damit hatten die beiden Bundesstaaten Bayern und Württemberg bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn ihre Kriegsziele bei der Reichsleitung eingebracht. Im Grunde waren es bereits drei Bundesstaaten, denn wenn sich der Kaiser zu Kriegszielen äußerte, so etwa am 25. August mit der Überlegung, die belgischen Städte Lüttich und Namur zu deutschen Festungen zu machen9, wussten die Zuhörer nicht, ob mit „Deutsch“ nicht eigentlich „Preußisch“ gemeint war. Der württembergische Ministerpräsident Carl Freiherr von Weizsäcker (1853–1926) kommentierte die ihm berichteten Vorstöße der Bundesfürsten am 31. August mit dem Satz: „Die Geister, die bei dem künftigen Friedensschluss einzelstaatliche Gewinne einheimsen wollen, regen sich bereits“10. Nach den militärischen Anfangserfolgen schien Bethmann Hollweg ein Friedensschluss mit Frankreich möglich. Für diesen bedurfte er gemäß der Verfassung der Zustimmung der Bundesstaaten. Deshalb sah er sich, nicht zuletzt auf der Basis der ihm bisher vorwiegend von Bundesfürsten vorgetragenen Kriegsziele, dazu veranlasst, erste Richtlinien für einen solchen Friedensschluss aus der Sicht der Reichsleitung zusammenstellen zu lassen. Dies geschah noch bevor ab Mitte September 1914 eine wahre Flut von Kriegszieldenkschriften aus Parteien, Verbänden und der Industrie über die Reichsleitung hereinbrach. Auf dem Höhepunkt der Marneschlacht wurde dem Reichskanzler am 9. September im Großen Hauptquartier in Koblenz die „Vorläufige Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluss“ vorgelegt11. In diesem Dokument fanden sich, neben Überlegungen zu einem von Deutschland wirtschaftlich dominierten Mitteleuropa, auch die bereits vorgebrachten Kriegszielvorstellungen der Bundesstaaten Bayern und Württemberg wieder. Tatsächlich wurde von nun an „bis zum Ende des Reiches und dem Ende der Monarchie überhaupt ernsthaft über die Ausweitung einzelner deutscher Dynastien durch Landgewinn in Osten und Westen debattiert. Das Reich war in Gefahr – und ein großer Teil der Bundesfürsten trieb Hausmachtpolitik wie in den Tagen der Kabinettskriege“12. In München unterrichtete Hertling die Gesandten der von einer eventuellen Aufteilung des Reichs8  Briefwechsel

Hertling-Lerchenfeld (Anm. 5), Bd. 1, Nr. 123, 338. Macht und Verblendung (Anm. 4), 30. 10  Ebd., 31. 11  BArchiv Berlin, R43 / 2476, folio 48. 12  Ingeborg Koch, Die Bundesfürsten und die Reichspolitik in der Zeit Wilhelms II. Diss. München 1961, 29. 9  Janßen,

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lands profitierenden Bundesstaaten Baden und Württemberg über den von Bayern dem Reichskanzler unterbreiteten Vorschlag13. Erneut unterstrich der bayerische Ministerpräsident seinen Rechtsstandpunkt, „bei einer größeren oder kleineren Umgestaltung der europäischen Karte“ müssten zumindest die größeren Bundesstaaten mitwirken. „Änderungen des Bundesgebiets unterliegen bekanntlich der Gesetzgebung des Reiches; mir scheint aber, dass die Bundesregierungen doch nicht erst damit befasst werden sollten, wenn sie vor vollendeten Tatsachen stehen, sondern bevor seitens der Reichsleitung den fremden Staaten gegenüber das letzte Wort gesprochen ist“14. Mitte November wartete ein weiterer Bundesfürst mit Kriegszielen auf. Dabei war zu diesem Zeitpunkt angesichts des Ausgangs der Marneschlacht, der Ypernschlacht, der österreichischen Niederlage in Galizien und der schweren Winterkämpfe in Polen an einen Sonderfrieden mit Frankreich nicht mehr zu denken. Dies hinderte Großherzog Friedrich August II. von Oldenburg freilich nicht daran, beim bayerischen König um Unterstützung seiner Kriegszielvorstellungen zu werben. Der Großherzog beschränkte sich allerdings nicht wie die Monarchen von Bayern und Württemberg auf eine Annexion Belgiens. Vielmehr gedachte er außerdem, Frankreich vom Rang einer europäischen Großmacht zu einem deutschen Vasallenstaat herabzustufen. Dazu sollte im Norden Frankreichs eine Republik und im Süden Königreich Bourbon errichtet werden. Als der Reichskanzler von den oldenburgischen Kriegszielen Wind bekam, versuchte er sogleich, den bayerischen König von einer Unterstützung solcher Utopien abzuhalten. Eine Annexion Belgiens, so schrieb Bethmann Hollweg an Ludwig III., lehne er ab. Allenfalls sei er zu einer Festsetzung des Deutschen Reichs an der belgischen Nordseeküste, zur Übernahme einer militärischen Vormundschaft und zur Anbahnung enger wirtschaftlicher Beziehungen zu diesem Land bereit15. Das Königreich Sachsen war über die bayerischen Wünsche nach territorialer Erweiterung im Reichsland durch den sächsischen Gesandten in München, Robert von Stieglitz, der außerdem sowohl bei der württembergischen Regierung in Stuttgart als auch bei der badischen Regierung in Karlsruhe akkreditiert war, bestens unterrichtet. Der sächsische Staatsminister des Innern und des Auswärtigen, Christoph Graf Vitzthum von Eckstädt, nutzte Anfang Dezember einen Aufenthalt in Berlin zu Gesprächen sowohl mit Hertling als auch mit seinem Vetter Bethmann Hollweg, um sich persönlich einen Eindruck von den bayerischen Kriegszielen zu verschaffen. 13  Janßen,

Macht und Verblendung (Anm. 4), 31. 16. 15  Ebd., 35. 14  Ebd.,



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In einem Brief an von Stieglitz berichtete Vitzthum über diese Gespräche16. Hertling, so schrieb Vitzthum, habe sich über eine Aufteilung von Elsass-Lothringen zwischen Preußen und Bayern lediglich in Andeutungen ergangen und betont, über dieses Thema mit dem Reichskanzler persönlich noch gar nicht gesprochen zu haben. Dass dies keineswegs der Wahrheit entsprach, konnte Vitzthum natürlich nicht ahnen. Doch entstand für ihn der Eindruck, dass Sachsen beim „föderalistischen Geschäft“ nur abgespeist werden sollte, denn Hertling hatte als Ausgleich für Sachsen lediglich die mögliche Heirat eines sächsischen Prinzen mit der regierenden Großherzogin Marie Adelheid von Luxemburg vorgeschlagen. Der Reichskanzler, so berichtete Vitzthum, habe ihn gefragt, ob Sachsen ebenso weitreichende Zukunftsgedanken hege wie Bayern. Er habe Bethmann Hollweg geantwortet, dass es doch der bayerische Ministerpräsident sei, der die Ansicht vertrete, in einem künftigen Frieden dürfe nicht allein Preußen einen Gebietszuwachs erhalten, dass vielmehr „anderen Bundesstaaten auch ein Anteil an der Beute zustehe“17. Die Auffassung Bayerns sei angesichts der föderalistischen Struktur des Reichs durchaus anzuerkennen. Er, Vitzthum, sei sich allerdings durchaus der Schwierigkeit bewusst, für Sachsen eine entsprechende Kompensation zu finden. Der Reichskanzler habe sodann die Meinung vertreten, dass in diesem Krieg nicht die Bundesstaaten Länder für sich eroberten, sondern das Deutsche Reich. Daher müsse schließlich auch die Reichsgesetzgebung bestimmen, was mit eroberten Ländern geschehen solle. Eine Einverleibung Belgiens ins Reich komme seines Erachtens jedoch keinesfalls in Frage. Hingegen habe sich mittlerweile gezeigt, dass es wohl besser gewesen wäre, Elsass-Lothringen bereits 1870 auf die angrenzenden Bundesstaaten zu verteilen. Der Reichskanzler frage sich deshalb, ob nicht die Gelegenheit genutzt werden könne, diesen Fehler wieder gut zu machen. Baden habe schon damals den Erwerb des Elsass ausgeschlagen und würde es jetzt wohl erneut tun. Württemberg und Sachsen lägen geographisch zu weit entfernt, deshalb komme nur eine Aufteilung des Reichslands zwischen Preußen und Bayern in Frage. Vitzthum entgegnete Bethmann Hollweg, die sächsische Regierung – damit meinte er König Friedrich August III.18 – habe zu diesem Thema noch nicht Stellung bezogen. Er persönlich halte eine Vergrößerung Bayerns, wenn Sachsen dabei leer ausgehe, allerdings für unerwünscht. 16  Vitzthum an Stieglitz, Abschrift, 4.12.1914, SHStA Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 285, Bl. 1–3. 17  Ebd., Bl. 1. 18  Zur Person des Königs vgl. Reiner Pommerin, Friedrich August III., in: Sächsische Biographie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V., wiss. Leitung. Martina Schattkowsky, Online Ausgabe: http: /  / www.isgv.de / saebi (24.05.2014).

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Seinen Brief an von Stieglitz beschloss Vitzthum mit den Sätzen: „Ich halte es für erwünscht, Dich über diese Gespräche zu informieren schon um Dir anzudeuten, dass ich mich nicht vor den bayerischen Wagen spannen lassen will. Ich glaube ja, dass es Hertling durchaus ehrlich meint, wenn er an den Vorteilen des Friedens auch Sachsen teilnehmen lassen will. Aber weder Preußen noch Bayern werden geneigt sein, uns eine Quadratrute ihres Landes als Kompensation abzutreten. Liegt die Sache aber so, so würde eine bedeutende Vergrößerung Bayerns seine Stellung im Reiche wesentlich stärken und nur dazu führen, dass Preußen noch mehr als bisher schon sich in allen wichtigen Fragen zunächst mit Bayern verständigt und die sächsischen Interessen den vereinigten preußisch-bayerischen Interessen gegenüber ins Hintertreffen geraten. Dann wäre mir schon lieber, ganz Elsass-Lothringen würde eine preußische Provinz“19. II. 1915: Vertagung des Aufteilungsthemas Im Februar 1915 nutzte Vitzthum einen Familienbesuch bei seinem Vetter in Berlin, um mit diesem verschiedene politische Fragen zu erörtern. Erst jetzt gestand ihm Bethmann Hollweg, dass Bayern entschieden Aufteilungswünsche für Elsass-Lothringen hege. Dies bewog Vitzthum, den Reichskanzler vor der Gefahr eines neuen nord- und süddeutschen Dualismus zu warnen. Dieser entgegnete, die Vertreter Württembergs und Badens hätten nichts gegen eine Vergrößerung Preußens, hingegen sei ihnen eine Vergrößerung Bayerns unerwünscht. Vitzthum antwortete, dies sei auch der sächsische Standpunkt, und er fügte noch hinzu, eine Aufteilung des Reichslands zwischen Preußen und Bayern bedeute eine schwere Schädigung des sächsischen Ansehens. Ohne Kompensationen für Sachsen könne einer solchen Lösung daher nicht zugestimmt werden. Auf den Hinweis seines Vetters, eine territoriale Entschädigung Sachsens im Reichsland sei doch geographisch unmöglich, antwortete Vitzthum, für Sachsen kämen durchaus auch wirtschaftliche Kompensationen in Frage, wie etwa Eisenbahnen20. Diese Äußerungen hatte Vitzthum allerdings gemacht, ohne die Meinung seines Königs zu kennen. Zur Vorbereitung einer Entscheidung Friedrich Augusts III. für den Fall eines offiziellen Vorstoßes Bayerns zwecks einer Aufteilung des Reichlands tagte im Februar das sächsische Gesamtministerium21. Finanzminister Ernst 19  Vitzthum an Stieglitz, Abschrift, 4.12.1914, SHStA Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 285, Bl. 3. 20  Aufzeichnung Vitzthum, Abschrift, 15.2.1915, SHStA Dresden, Min. der Ausw. Angelegenheiten, Nr. 1309, p. 13–14. 21  Schreiben Seydewitz an Vitzthum, Streng Vertraulich, 23.2.1915, SHStA Dresden, Min. der Ausw. Angelegenheiten, Nr. 1309, p. 25v–r.



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von Seydewitz sprach sich für den Fall, dass nicht nur Preußen, sondern auch Bayern Teile des Reichslands erhielten, entschieden für eine territoriale Entschädigung Sachsens aus. Dazu schien ihm entweder das Gebiet des preußischen Kreises Zeitz oder das Gebiet um Eilenburg geeignet, da beide Territorien bis 1815 zu Sachsen gehört hatten. Vom Erwerb eines Teils der Lausitz um Görlitz riet von Seydewitz hingegen ab, weil sich die Einwohner dieser Stadt wohl nur höchst widerwillig in das Königreich Sachsen eingliedern lassen würden. Bei einem bayerischen Gebietzuwachs im Reichslands komme für Sachsen eventuell noch die Angliederung der Stadt Hof mit Umgebung in Frage. Dieses Gebiet sei erst 1810 von Preußen an Bayern gefallen, und die dortige Bevölkerung sei zudem überwiegend protestantisch. Gegen sächsische Gebietserweiterungen auf Kosten Preußens oder Bayerns äußerte der Finanzminister jedoch erhebliche Bedenken, weil dies zu Verstimmungen zwischen den beteiligten Fürstenhäusern, Regierungen und Landesnationen führen könne. Da ein Stück von Elsass-Lothringen oder von Belgien für Sachsen wegen der großen Entfernung nicht in Frage komme, schlug er stattdessen vor, das Gebiet von Russisch-Polen ins Auge zu fassen. Zwar verknüpften sich dort mit der früheren Herrschaft der sächsischen Kurfürsten manch unerfreuliche Erinnerungen, aber die Zeiten hätten sich geändert. Zudem sei eine katholische Bevölkerung für ein katholisches Fürstenhaus gewiss leichter zu gewinnen22. Anfang März tagte das sächsische Gesamtministerium erneut. Zur Vorbereitung dieser Sitzung waren detaillierte Übersichten über die für Preußen und Bayern zu erwartenden territorialen und personellen Gewinne in ElsassLothringen erstellt worden. Einigkeit herrschte bei den sächsischen Staatsministern dahingehend, dass eine Aufteilung des Reichslands sowie eine Zuteilung im Krieg eroberter Gebiete an Preußen und Bayern eine bedenkliche Verschiebung der Machtverhältnisse im Deutschen Reich nach sich ziehen würde. Für diesen Fall müsse Sachsen einen entsprechenden Ausgleich beanspruchen. Allerdings dürfe ein solcher Anspruch im Hinblick auf die ernste Kriegslage sowie die bisher bei diesem Thema vom Reichskanzler geübte Zurückhaltung nur mit aller gebotenen Vorsicht geltend gemacht werden. Die Staatsminister beschlossen, nunmehr die Entscheidung des Königs in der Angelegenheit einzuholen23. Die Sitzung des Gesamtministeriums mit Friedrich August III. fand am 8. März 1915 statt. Dieser entschied, dass angesichts der schwierigen militärischen und politischen Situation die Pläne zur Aufteilung des Reichslands 22  Ebd., Anlage, Bemerkungen zur Angliederung von Elsass-Lothringen, Streng Vertraulich, p. 26–39. 23  Aufzeichnung Vitzthums, Abschrift, 8.3.1915, SHStA Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 285, Bl. 5v–r.

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bis nach einem Friedensschluss vertagt werden müssten. Falls jedoch bereits zuvor von anderen Bundesstaaten Vereinbarungen angestrebt würden, so solle der Gesandte Stieglitz der bayerischen Regierung, allerdings nur mündlich, erklären, dass Sachsen einer Aufteilung des Reichslands ohne einen entsprechenden Ausgleich nicht zustimmen könne. Eine solche Frage dürfe im Bundesrat nur in voller Einmütigkeit aller Bundesstaaten geklärt werden. Sachsen bestehe deshalb darauf, dass alle eventuellen Vorverhandlungen zwischen Preußen und Bayern oder mit der Reichsleitung nur im Einverständnis mit der sächsischen Regierung zu führen seien24. Anfang April 1915 tagte erstmals seit Kriegsbeginn der Bundesratsausschuss für Auswärtige Angelegenheiten in Berlin. Der Reichskanzler erwähnte in ganz allgemeiner Form als mögliche Kriegsziele einen besseren strategischen Schutz der Ost- und Nordwestgrenze, eine Kriegsentschädigung sowie ein Kolonialreich in Afrika. Die Vertreter der Bundesstaaten äußerten sich in ähnlicher Weise. Sachsen regte in diesem Kontext militärische Stützpunkte für das Reich an der Maas an. Württemberg und Baden forderten zum Schutz Süddeutschlands die Festung Belfort, und Mecklenburg wünschte ganz allgemein eine bessere Absicherung des Reiches gegen Überfälle. Das Thema „Aufteilung des Reichslands“ kam nicht zur Sprache25. Bethmann Hollweg nutzte die Anwesenheit der leitenden Minister der Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg und holte am folgenden Tag deren Meinung zu einer Aufteilung von Elsass-Lothringen zwischen Preußen, Bayern und Baden nach Kriegsende ein. Er vertrat dabei die Ansicht, eine solche Aufteilung bedeute keinerlei Machtzuwachs für die Beteiligten, sondern beseitige lediglich bestehende Gefahren und bezwecke einen engeren Anschluss des Reichslands an das Deutsche Reich. Insoweit handle es sich bei der Mitwirkung der an einer Aufteilung des Reichslands beteiligten Bundesstaaten praktisch um die Erfüllung einer nationalen Pflicht. Hertling betonte, er wolle der Gefahr einer Verstimmung der Bundesstaaten vorbeugen und deshalb dem Verdacht eigennütziger Interessen Bayerns entgegentreten. Sodann aber sprach er sich – ganz im Sinn seines Königs – für die Angliederung des gesamten Elsass an Bayern aus. Eine völlige Angliederung des gesamten Reichslands an Preußen, so warnte Hertling, treffe in Bayern auf Widerstand, weil dies gegen das „föderative Prinzip“ verstoße. Vitzthum durchschaute natürlich, dass die an einer Aufteilung des Reichslands interessierten Bundesstaaten keineswegs völlig uneigennützig an der Lösung eines nationalen Integrationsproblems mitzuwirken gedachten. In Wirklichkeit ging es ihnen um die Vergrößerung der eigenen Machtstellung im föderalen Reichsverband so24  Vitzthum an Stieglitz, Nr. 40, 10.3.1915, SHStA Dresden, Min. der Ausw. Angelegenheiten, Nr. 1309, p. 92–96. 25  Janßen, Macht und Verblendung (Anm. 4), 46 f.



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wie nicht zuletzt um eine Stärkung ihrer wirtschaftlichen Potenz. Der sächsische Staatsminister konterte daher die Aussage seines bayerischen Kollegen, indem er darauf hinwies, dass, selbst wenn der Machtzuwachs eines Bundeslands gar nicht beabsichtigt sei, ein solcher dennoch faktisch eintrete, falls Bayern das ganze Elsass erhalte26. Damit war die Besprechung beim Reichskanzler schon beendet, doch gab sie einen Vorgeschmack auf das, was bei einem Friedensschluss in dieser Frage von den Bundesstaaten zu erwarten war. Die Anfang Juli einsetzende deutsche Ostoffensive nötigte Russland zum Rückzug. Polen, Litauen sowie fast ganz Kurland wurden von deutschen Truppen besetzt. In Polen entstanden ein österreichisches Gouvernement mit Sitz in Lublin sowie ein deutsches Gouvernement mit Sitz in Warschau. Litauen und Kurland gehörten ebenso wie die Verwaltungsbezirke Suwałki, Wilna, Białystok und Grodno zur „Deutschen Militärverwaltung Ober-Ost“, die dem Oberbefehlshaber Ost, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, und seinem Generalstabschef, General Erich Ludendorff unterstand27. „OberOst“ entwickelte sich schnell „zu einem beeindruckenden, unabhängigen Militärstaat […], einem militärischen Utopia“28. Ludendorff dachte zunächst nur daran, hier „etwas Ackerland“ zur Befriedigung des Ostheeres, also Siedlungsland für „seine“ Soldaten und Offiziere, zu gewinnen29. Am 28. September 1915 sprach Bethmann Hollweg anlässlich eines Besuches in Dresden mit Vitzthum. Er betonte, eine Kompensation Sachsens im Fall einer notwenigen Aufteilung des Reichslands erscheine ihm schon im Hinblick auf andere Bundesstaaten nicht möglich. Als Vitzthum ihm eine Entschädigung Sachsens in Polen vorschlug, machte er deutlich, dass Polen wohl an Österreich-Ungarn und ein „Grenzstreifen“ an Preußen fallen werde30. Als der Reichskanzler gegenüber dem König ausführte, sich über eine Aufteilung des Reichslands mit der bayerischen Regierung in München noch nicht geeinigt zu haben, schlug Friedrich August III. eine – allerdings wohl kaum ernst zu nehmende – Beteiligung Sachsens an der Aufteilung Elsass-Lothringens vor, eine Idee, auf die der Reichskanzler gar nicht weiter einging31. 26  Aufzeichnung des großherzoglichen badischen Staatsministers Alexander Freiherr von Dusch, 8.4.1915, abgedruckt bei Janßen, Macht und Verblendung (Anm. 4), 297–300. 27  Abba Strazhas, Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg. Wiesbaden 1993, 276. 28  Vejas Gabriel Lilevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002, 34. 29  Egmont Zechlin, Ludendorff im Jahr 1915. Unveröffentlichte Briefe, in: ders., Krieg und Kriegsrisiko. Zur deutschen Politik im Ersten Weltkrieg. Aufsätze. Düsseldorf 1979, 215. 30  Aufzeichnung Vitzthum, Abschrift, 28.9.1915, SHStA Dresden, Min. der Ausw. Angelegenheiten, Nr. 1310, p. 9–10. 31  Vgl. Janßen, Macht und Verblendung (Anm. 4), 79 f.

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König Friedrich August III. machte im November 1915 einen Besuch im bayerischen Hauptquartier. Dabei ließ er Kronprinz Rupprecht wissen, dass für ihn weder das bereits 1914 von Hertling vorgeschlagene Heiratsprojekt für einen sächsischen Prinzen in Luxemburg noch eine sächsische Sekundogenitur in Flandern oder gar in Polen zur Debatte stehe. Diese Projekte stellten aus seiner Sicht keinen wirklichen Ausgleich für eine territoriale Erweiterung anderer Bundesstaaten dar32. III. 1916: Kurland soll sächsisch werden Angesichts der für das Deutsche Reich negativen Entwicklung des Krieges im Westen herrschte im Frühjahr 1916 gedämpfte Stimmung. Als der Bundesratsausschuss für Auswärtige Angelegenheiten Mitte März zusammentrat, sah der Reichskanzler daher keinen Grund, sich zur Kriegszielfrage zu äußern33. Trotz der negativen Entwicklung des Krieges im Westen fand in Dresden am 29. Mai in Anwesenheit des Königs und des Kronprinzen Georg eine Besprechung des Gesamtministeriums „in Sachen der Aufteilung ElsassLothringens und der deshalb von Sachsen zu erhebenden Ansprüche“ statt34. Dazu waren diesmal umfangreiche Studien über Kongresspolen, Grodno, Litauen, Kurland sowie zur bisherigen Polenpolitik Preußens erstellt worden35. Vitzthum rief in seiner Eröffnungsrede zunächst die föderalistische Verfassung des Deutschen Reichs in Erinnerung, nach der Größen- und Machtverhältnisse nicht beliebig verändert werden dürften. Mit Hinweis auf die Verfassung könnten praktisch alle 25 deutschen Bundesstaaten Gebiets­ erweiterungen beanspruchen, die zu erfüllen allerdings unmöglich sei. Deshalb schlug Vitzthum vor, dass lediglich die Bundesstaaten mit eigenen Militärkontingenten eine territoriale Entschädigung erhalten sollten. Die kleineren Bundesstaaten könnten finanziell abgefunden werden. Als Grund für eine Entschädigung Sachsens durch Gebietsgewinne führte Vitzthum die Übervölkerung des Staates ins Feld. Das Land nehme mehr und mehr städtischen Charakter an, und in kritischen Zeiten hänge die Ernährung der Bevölkerung von den Nachbarländern ab. Zudem ziehe der einseitig industriell-städtische Charakter des Landes eine gewisse Einseitigkeit der Le32  Vgl.

ebd. Ernst Deuerlein, Der Bundesratsausschuss für Auswärtige Angelegenheiten 1870–1918. Regensburg 1955, 284–286. 34  Vgl. Niederschrift der Besprechung des Gesamtministeriums, Abschrift nebst Anlagen, 29.5.1916, SHStA Dresden, Sächs. Militärbevollm. Berlin, Nr. 73, Bl. 98– 149. 35  Die Studien befinden sich in einem Umschlag im SHStA Dresden, Sächs. Militärbevollm. Berlin, Nr. 74. 33  Vgl.



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bensauffassung sowie der politischen Anschauung in der Bevölkerung nach sich – hier nahm er offensichtlich die in Sachsen starke Sozialdemokratie ins Visier – eine Anschauung, die auch dem Deutschen Reich nicht willkommen sein könne. Für die ökonomische und politische Ergänzung und Sicherung einer gesunden Entwicklung benötige Sachsen Agrarland. Wo aber sei dieses Agrarland zu suchen? Eine Abtretung von preußischen oder bayerischen an Sachsen angrenzenden Landesteilen hätten sowohl der Reichskanzler als auch der König von Bayern entschieden abgelehnt. Ein sächsischer Erwerb des Ober-Elsass bleibe schon wegen der sich auf dieses Gebiet richtenden Reichsinteressen unerreichbar. Wolle man das Elsass germanisieren, so müsse es mit benachbarten Landesteilen verschmolzen werden, damit die Bevölkerung durch den „nachbarlichen Verkehr“ enge Lebensgemeinschaften bilde. Dies könne das weit entfernt liegende Sachsen nicht leisten. Einem Erwerb von Teilen des benachbarten Böhmens stehe der Bündnispartner Österreich-Ungarn entgegen. Unter Beachtung der Interessen des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns könne also nicht einfach das wertvollste Stück Land genommen werden. Daher komme lediglich ein den Verhältnissen der großen Politik ebenso wie der sächsischen Leistungsfähigkeit entsprechendes Gebiet in Frage. Eine bloße Provinzialverwaltung mit Ausübung der Herrschaft und Ausbeutung eines Territoriums sei nach modernen Begriffen nicht mehr möglich und führe zudem zu Revolutionen. Denkbar sei hingegen eine Kolonialverwaltung nach englischem Vorbild. Der Schwerpunkt aller sächsischen Anstrengungen müsse auf dem Gesichtspunkt einer Ansiedlung sowie einer späteren Eingliederung des zu erwerbenden Gebietes liegen. Deshalb schlug Vitzthum als sächsisches Kriegsziel eine Angliederung Litauens vor. Das Land werde von einer ruhigen, den Polen feindlich gesinnten Bevölkerung bewohnt, die bei Schonung ihrer kulturellen Eigenarten leicht regiert werden könne. Von einem Erwerb polnischer Gebietsteile riet Vitzthum schon deshalb ab, weil dies zu heiklen und schwierigen Fragen im politischen Verhältnis Sachsens zu Österreich-Ungarn führen könne. Zudem werde Preußen – wie schon bisher – die Leitung der Polenpolitik wohl nicht aus der Hand geben. Es sei besser auf den Hinweis auf alte historische Verbindungen zu verzichten, denn ein Wettiner werde auf dem polnischen Königsthron von der polnischen Bevölkerung nur dann mit offenen Armen aufgenommen, wenn er für die polnischen Ideale einträte. Ein Germanisator hingegen habe bald ausgespielt. Finanzminister v. Seydewitz schätzte eine Beteiligung Sachsens an der Kriegsbeute im Osten als wichtig ein. Allerdings hielt er Litauen für die teuerste Erwerbung, weil es durch die Kriegsereignisse stark mitgenommen und zerstört sei. Allenfalls komme noch eine Realunion mit Kongresspolen in Frage. Doch solle sich seiner Meinung nach ein sächsischer Anspruch auf Gebietserwerb zunächst auf Kurland richten. Erst wenn Kurland als altes

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preußisches Kron- und Ordensland nicht zu bekommen sei, erscheine ihm die Angliederung von Südpolen als sächsische Provinz willkommen. Der Staatsminister für Justiz, Paul Artur Nagel, hielt einen sächsischen Gebietsausgleich ebenfalls nur im Osten für realisierbar. Doch sei ein Erwerb Litauens am wenigsten empfehlenswert, weil das Land zu weit entfernt liege und zu 29 Prozent von Angehörigen des orthodoxen Glaubens bewohnt werde. Ein Landerwerb im Osten müsse sich nach historischen Beziehungen und nach den wirtschaftlichen Bedürfnissen Sachsens richten. Diese Voraussetzungen träfen für den Süden Polens am besten zu. König Friedrich August III. erklärte zunächst, dass er die Stellungnahme Sachsens zu einer Aufteilung Elsass-Lothringens für die bedeutungsvollste Frage halte, die sich während seiner bisherigen Regierungszeit gestellt habe. Auch er könne der Aussage, Preußen und Bayern übernähmen bei einer Zuteilung elsass-lothringischen Landes lediglich Lasten, nicht folgen. Das sei eine bloße Redewendung, denn jeder Landerwerb schließe einen Machtzuwachs ein und verstärke den politischen Einfluss und die Machtfaktoren eines Staates. Es könne sich also für den notwendigen Ausgleich zu Gunsten Sachsens nur um das „Wie und Wo“ handeln. Er stimme dem Erwerb von Agrarland im Osten zu, und da ihm der Erwerb von Kurland besonders erwünscht sei, müsse Sachsen dieses Gebiet fordern. Bedenken äußerte der König gegen eine territoriale Vergrößerung in Polen, weil dessen Bevölkerung gegen Sachsen eingenommen und zudem „stark jüdisch durchsetzt sei“. Da eigne sich schon eher Litauen für eine sächsische Erweiterung. Der König entschied, Sachsen müsse zunächst Kurland fordern. Wenn Kurland für Sachsen jedoch nicht zu erhalten sei, solle man sich auf einen Erwerb der Verwaltungsbezirke Wilna und Kowno konzentrieren. Erst wenn auch dieser Versuch scheitere, könne man sich auf die Forderung nach einem Anteil an Polen zurückziehen36. Vitzthum erklärte, dass er sogleich bei der Reichsleitung sächsische Ansprüche auf Kurland geltend machen werde. Als er dies am 14. Juli bei einem Gespräch mit dem Reichskanzler unternahm, antwortete Bethmann Hollweg ausweichend, denn er halte die Verwirklichung des sächsischen Wunsches für äußerst schwierig37. Die Proklamation eines polnischen Staates am 5.  November 1916 durch Kaiser Wilhelm II. und Kaiser Franz Joseph I.38 kam für Sachsen nicht überraschend. Gegen eine Kandidatur des sächsischen Kronprinzen auf einen 36  Ebd.,

Bl. 135–136. Vitzthum, Abschrift, 15.7.1916, SHStA, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 296, Bl. 70–72. 38  Vgl. Reiner Pommerin / Manuela Uhlmann (Hrsg.), Quellen zu den deutschpolnischen Beziehungen 1815–1991 (=Quellen zu den Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert Bd. 10). Darmstadt 2001, 79. 37  Aufzeichnung



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polnischen Thron hatte sich König Friedrich August III., abgesehen von seiner generellen Distanz gegenüber einem Erwerb polnischen Territoriums, bereits ausgesprochen. Ein polnischer Monarch, so meinte der König, stünde in Abhängigkeit von Preußen, müsse jedoch polnische Interessen vertreten. Ein junger polnischer König aus dem Haus Wettin sei zwangsläufig gezwungen, bei Streitigkeiten mit Preußen die Vermittlung seines Vaters in Anspruch zu nehmen. Zudem mangle es einem wettinischen Prinzen an den für eine repräsentative Hofhaltung als polnischer König notwenigen Finanzmitteln39. IV. 1917: Litauen soll sächsisch werden Im Frühjahr 1917 ließen die revolutionären Ereignisse in St. Petersburg, die Zar Nikolaus II. zur Abdankung gezwungen hatten, die Mittelmächte auf einen Separatfrieden mit Russland sowie eine dann möglich werdende Kräftekonzentration im Westen und somit auf eine Wende des Krieges zu ihren Gunsten hoffen. Die OHL drängte Bethmann Hollweg, die bisher noch offen gehaltenen deutschen Kriegsziele jetzt endlich festzulegen. Ludendorff äußerte Anfang April in Bingen gegenüber Vertretern der Reichskanzlei, dass er aus dem unter der Verwaltung des Oberbefehlshabers Ost stehenden Territorium die Bildung eines Herzogtums Kurland sowie eines Großfürstentums Litauen erwarte. Beide Gebiete sollten durch Personalunion mit Wilhelm II. als König von Preußen und als deutscher Kaiser eng an das Deutsche Reich angeschlossen werden40. Dass diese Absichten keineswegs den Überlegungen Bethmann Hollwegs entsprachen, zeigte sich, als er am 8. Mai dem Bundesratsausschuss für Auswärtige Angelegenheiten seine Überlegungen zu einem Frieden mit einem liberaleren Russland ohne jeglichen Gebietserwerb vortrug. Dies führte indes nicht dazu, dass Sachsen seine Hoffnungen auf Gebietserweiterungen bereits aufgab. Vielmehr wies König Friedrich August III. Mitte Juni Vitzthum explizit an, sich nicht mit wirtschaftlichen Kompensa­ tionen abfinden zu lassen, sondern weiterhin auf territorialen Erwerbungen zu bestehen. „Für uns“, so der König, „wird die Frage nun auch brennend. Da wir auf keinen Fall wieder leer ausgehen dürfen, müssen wir uns unbedingt noch vorsichtiger als andere Regierungen ausdrücken […] Keine Regierung ist in einer so schwierigen Lage wie wir.“41 Hindenburg und Ludendorff befürchteten unter anderem, Bethmann Hollweg werde keinen harten Frieden mit Russland in ihrem Sinn schließen und 39  Vitzthum an Nostiz, Nr. 1233, 11.11.1916, SHStA Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 297, Bl. 38v–r. 40  Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914–1918. Berlin 1919, 374. 41  Schreiben König Friedrich August an Vitzthum, 14.6.1916, SHStA Dresden, Min. der Ausw. Angelegenheiten, Nr. 2173, Bl. 138v–140r, hier Bl. 139v–r.

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drohten mit Rücktritt42. Kaiser Wilhelm II. sah sich daher veranlasst, den Reichskanzler am 13. Juli zu entlassen. Neuer preußischer Ministerpräsident und Reichskanzler wurde der politisch weitgehend unbekannte Reichskommissar für Volksernährung Georg Michaelis43, der sich mit der OHL schnell über die Kriegsziele verständigte. So bestand Einigkeit darüber, das Herzogtum Kurland sowie ein Großfürstentum Litauen in enger Form an Deutschland anzuschließen. Die am 19. Juli vom Reichstag verabschiedete „Friedensresolution“ unterstrich allerdings erneut, Deutschland leite keine Eroberungsabsichten, sondern es kämpfe lediglich um die Unversehrtheit seines Territoriums. Der Reichstag wünsche einen Frieden der Verständigung ohne erzwungene Gebietsabtretungen und ohne politische, wirtschaftliche oder ­finanzielle Ansprüche44. Nicht nur für die Absichten Sachsens, sondern auch für die Pläne der OHL musste es daher höchst kontraproduktiv wirken, dass der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger (1875–1921) für die völlige Unabhängigkeit eines monarchisch verfassten Litauens eintrat. Nicht zuletzt um dezidiert katholische Interessen zu schützen, wandte er sich gegen die dynastischen Wünsche Sachsens. Als litauischen Thronkandidaten brachte Erzberger einen Landsmann, den General der Kavallerie Herzog Wilhelm von Urach, Graf von Württemberg, aus einer von der Thronfolge ausgeschlossenen württembergischen Nebenlinie ins Spiel45. Ende September 1917 in Berlin erneut aufkommende Überlegungen, aus dem Reichsland einen deutschen Bundesstaat zu machen, veranlassten den Kaiser, die Meinung der Königreiche Sachsen und Bayern sowie des Großherzogtums Baden einzuholen46. Als sächsische Antwort erstellte Vitzthum mit Genehmigung König Friedrich Augusts III. fünf Leitsätze, die der Reichsleitung als Promemoria übersandt wurden. Sie lauteten: „1. Die Königlich Sächsische Regierung steht auf dem Standpunkt, dass die elsass-lothringische Frage als deutsche zu behandeln und zu entscheiden ist. 2.  Gerade von diesem Standpunkt aus hat sie schwere Bedenken gegen die Schaffung eines selbständigen Bundesstaates, der mit Rücksicht auf die bisherige Hal42  Vgl. dazu Manfred Nebelin, Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2010, 302–337. 43  Vgl. Christoph Regulski, Die Reichskanzlerschaft von Georg Michaelis 1917. Deutschlands Entwicklung zur parlamentarisch-demokratischen Monarchie im Ersten Weltkrieg, Marburg 2003. 44  Vgl. Wilhelm Ribhegge, Frieden für Europa. Die Politik der deutschen Reichstagsmehrheit 1917–18, Essen 1988, 182 ff. 45  Gerd Linde, Die deutsche Politik in Litauen im Ersten Weltkrieg. Wiesbaden 1965, 171–183. 46  Nostiz an Vitzthum, Abschrift, 29.09.1917, SHStA Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 285, Bl. 124–128.



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tung seiner Bevölkerung den fremdländischen Einflüssen nach wie vor ausgesetzt sein wird. 3. Die Königlich Sächsische Regierung kann daher einer solchen Maßregel undsätzlich nur unter der Voraussetzung zustimmen, dass wirkliche Garantien gen jede Gefährdung der deutschen Interessen durch den neuen Bundesstaat schaffen werden, und behält sich insoweit endgültige Entschließung bis Kenntnisnahme der gemachten Vorschläge vor.

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4. Da für den neugeschaffenen Bundesstaat eine monarchische Verfassung unter einem deutschen Prinzen in Aussicht zu nehmen sein wird, muss die sächsische Zustimmung zu der gesamten Neuordnung davon abhängig gemacht werden, dass für ein im Nordosten neuzubildendes Staatswesen vom Reich die Kandidatur eines Mitgliedes des sächsischen Königshauses unterstützt wird. 5.  Mit diesem Vorbehalt wird für den Fall von territorialen Angliederungen an das Reich ein Verzicht auf einen unmittelbaren Landerwerb nicht zum Ausdruck gebracht.“47

Am 1. November 1917 übernahm Bayerns Ministerpräsident Hertling vom glücklosen Michaelis das Amt des preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers. Vitzthum suchte Hertling sogleich in Berlin auf, um mit ihm über den sächsischen Anspruch auf Litauen zu sprechen48. Diesen wies der neue Reichskanzler diplomatisch zurück. Wenige Tage später richtete am 8. November der von den Bolschewisten dominierte Allrussische Sowjetkongress in St. Petersburg einen Aufruf an alle kriegführenden Mächte, sofort Verhandlungen zu einem „gerechten und demokratischen Frieden aufzunehmen“. Dieser Friede sollte ohne Annexionen, ohne Angliederung fremder Territorien, ohne gewaltsame Angliederung fremder Völkerschaften und ohne Kontributionen abgeschlossen werden49. Am 28. November bot Russland Verhandlungen über einen Waffenstillstand an, die am 3. Dezember aufgenommen wurden. Vitzthum nutzte den Antrittsbesuch des neuen Staatsekretärs des Äußeren Richard von Kühlmann in Dresden, um diesem das sächsische Interesse an Litauen persönlich vorzutragen. Sachsen, so Vitzthum, drohe die Übervölkerung. Es hege daher den berechtigten Wunsch, seinen Einwohnern ein Kolonisations- und Betätigungsfeld zuzuweisen. Deshalb habe Sachsen sein Augenmerk auf Litauen gerichtet. Kühlmann ließ durchblicken, dass ihm die sächsischen Wünsche auf die Besetzung des Thrones in Litauen mit einem sächsischen Prinzen bereits bekannt seien, das Deutsche Reich in der litauischen Frage jedoch durch die vom Reichstag vereinbarte 47  Promemoria, Anlage zu Schreiben Vitzthum an Nostiz, 30.9.1917, ebd., Bl. 134. (Unterstreichungen im Original). 48  Notiz Vitzthum, Abschrift, 26.11.1917, SHStA Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 289, Bl. 93v-95v. 49  Horst Günther Linke (Hrsg.), Quellen zu den Deutsch-Sowjetischen Beziehungen 1917–1945 (= Quellen zu den Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn im 19.und 20. Jahrhundert Bd. 8). Darmstadt 1998, 27 ff.

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Formel „des Selbstbestimmungsrechts der Nationen“ gebunden sei. Kühlmann lehnte die sächsischen Ambitionen auf Litauen aber nicht rundweg ab, sondern vertröstete Vitzthum auf eine Besprechung, die der Reichskanzler angeblich demnächst mit Vertretern der größeren Bundesstaten über die litauische Frage zu führen beabsichtige50. Die in Litauen im September von der deutschen Militärverwaltung konstituierte Volksvertretung (Taryba) erklärte am 12.  Dezember die Unabhängigkeit Litauens unter gleichzeitiger Anlehnung an das Deutsche Reich. Am Tag des Abschlusses des Waffenstillstandsvertrages mit Russland, am 15. Dezember 1917, erhielt Vitzthum eine umfangreiche Denkschrift des Staatsministers für Finanzen zu Litauen. Seydewitz hielt einen sächsischen Gebietszuwachs in Polen nach Proklamierung des selbständigen Königreichs für ausgeschlossen und sah Kurland mit Sicherheit an Preußen fallen. Deshalb riet er, jetzt alle Anstrengungen auf Litauen zu konzentrieren, um dort die „Lebensfrage Sachsens“, den „Gewinn von Acker-, Viehwirtschafts- und Siedlungsland“ zu lösen51. Um angesichts der Friedensverhandlungen mit Russland den Kriegszielkurs Sachsens neu festzulegen, trat unter Vorsitz des Königs am 24. Dezember das Gesamtministerium zusammen. Zunächst betonte Friedrich August III. erneut, dass die zur Beratung stehende Frage die wichtigste sei, die es für die Zukunft Sachsens zu lösen gelte. Er ermächtigte Vitzthum wegen einer staatsrechtlichen Union zwischen Sachsen und Litauen mit der Reichsleitung amtlich zu verhandeln. Falls ein königlicher Prinz für den Thron ­Litauens in Frage komme, sei er bereit, diesen aus dem Bereich der König­ lichen Hausgesetzgebung zu entlassen, lege aber Wert darauf, dass dieser albertinischer Prinz bleibe und die Fähigkeit zur Thronfolge im Königreich Sachsen behalte52. Offensichtlich verfügte die sächsische Regierung über keinerlei Kenntnis vom Inhalt der Besprechungen der Reichsleitung mit der OHL vom 7. und 18.  Dezember in Bad Kreuznach, in denen Ludendorff eine Personalunion sowohl Kurlands als auch Litauens mit dem Haus Hohenzollern gefordert hatte. Dagegen hatte Reichskanzler Hertling keine Bedenken erhoben, sofern die Bundesfürsten zustimmen würden53. In Unkenntnis dieser Besprechung führte Vitzthum den ihm von seinem König erteilten Auftrag aus. In einem 50  Aufzeichnung Vitzthum, Abschrift, 12.12.1917, SHStA Dresden, Sächs. Militärbevollm. Berlin, Nr. 73, Bl. 173–175. 51  Denkschrift Sachsen und Litauen, Abschrift, 15.12.1917, SHStA Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 291, Bl. 24–45. 52  Niederschrift Besprechung Gesamtministerium, Abschrift, Nr. 698 I, 24.12.1917, SHStA Dresden, Sächs. Militärbevollm. Berlin, Nr. 73, Bl. 199–220. 53  Ergebnis der Besprechung zwischen dem Reichskanzler Hertling und der Obersten Heeresleitung im Großen Hauptquartier am 18.12.1917, betreffend die Kriegsziele, in: Ursachen und Folgen (Anm. 2), 419.



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Brief vom 28. Dezember wandte er sich an den Reichskanzler, um diesen davon zu überzeugen, dass eine Verbindung Sachsens mit Litauen allein schon aus geographischen Gründen politisch klüger sei als eine preußischlitauische Verbindung. Eine Verbindung Litauens mit dem unmittelbar angrenzenden Preußen ziehe leichter den Vorwurf einer bloßen Annexionsabsicht auf sich als eine Verbindung mit dem weit entfernt liegenden Sachsen. Die im November ihm gegenüber von Hertling gemachte Äußerung, Litauen wünsche sich einen katholischen Prinzen, nutzte Vitzthum jetzt zu dem Hinweis, dass die katholischen Wettiner auch aus diesem Grund den protestantischen Hohenzollern vorzuziehen seien54. V. 1918: rien ne va plus – nichts geht mehr Als Vitzthum am 1. Januar 1918 vom Reichskanzler in Berlin empfangen wurde, informierte Hertling ihn nicht über die für die sächsischen Ambitionen negativen Absprachen mit der OHL. Da er sein Einverständnis mit Vitz­ thums Auffassung signalisierte, eine lediglich Preußen zukommende Gebiets­ erweiterung sei für den Erhalt des föderativen Charakters des Deutschen Reichs nicht ratsam, hegte der sächsische Staatsminister auch weiterhin Hoffnungen auf eine Unterstützung der sächsischen Absichten durch die Reichsleitung55. In der Sitzung des Bundesratsausschusses für Auswärtige Angelegenheiten am folgenden Tag stellte Ludendorff die militärische Lage optimistisch dar und nannte als Kriegsziele Deutschlands die feste Angliederung von Kurland und Litauen. Dies nahm Vitzthum in der – allerdings in Abwesenheit Ludendorffs stattfindenden – anschließenden Diskussion zum Anlass, Sachsen als für eine Personalunion mit Litauen weitaus geeigneter zu bezeichnen als Preußen. Erneut betonte er den föderativen Charakter des Deutschen Reichs, der einseitige Gewinne Preußens in diesem Krieg nicht erlaube. Doch die süddeutschen Staaten wollten das Thema von Gebietsgewinnen im Osten nur im Kontext mit der Zukunft Elsass-Lothringens behandelt sehen. Der Reichskanzler hatte daher keine Mühe, seinen Vorschlag durchzusetzen, die Angelegenheit zunächst ruhen zu lassen und erst zu „geeigneter Stunde“ erneut zu behandeln56. Im März kam Franz Joseph Fürst Isenburg-Birstein, der in Litauen wenig beliebte frühere Chef der dortigen Wehrverwaltung und Vetter König Friedrich Augusts III., zu Besuch nach Dresden. Dort machte er deut54  Vitzthum an Hertling, Abschrift, 28.12.1917, SHStA Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 289, Bl. 126v-130v. 55  Aufzeichnung Gespräch Vitzthum mit Hertling, 1.1.1918, in: SHStA Dresden, Sächs. Gesandt Berlin, Nr. 289, Bl. 137 f. 56  Ebd. Bl. 139–140.

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lich, dass er eine Angliederung Litauens an Sachsen für schwer durchsetzbar hielt und empfahl, Sachsen solle im Fall einer preußisch-litauischen Lösung Anspruch auf einen Thron für Prinz Friedrich Christian, den zweitältesten Sohn Friedrich Augusts III., in Livland und Estland erheben57. Diese Überlegung fand die Billigung des sächsischen Königs und Vitzthum musste bereits am folgenden Tag dem gewiss überraschten Reichskanzler die Angliederung Livlands und Estlands an Sachsen vorschlagen58. Inzwischen war Reichskanzler Hertling während einer Besprechung mit den Führern der Mehrheitsparteien im Reichstag die Auffassung Erzbergers zur Litauenfrage vorgetragen worden. Wenn die litauische Taryba, so Erzberger, „sich für eine Personalunion mit dem deutschen Kaiser erklären würde, dann allerdings würde die Unabhängigkeit raschestens anerkannt werden. Aber dafür sei Litauen nicht zu gewinnen und mit Recht. Litauen verlange einen katholischen Herrscher und habe auch das Recht darauf. Aus staatsrechtlichen und geschichtlichen Erfahrungen heraus, lehne er jede Personalunion ab.“59 Diese Äußerung Erzbergers und die Zustimmung der anwesenden Politiker erwähnte der Reichskanzler in seiner Antwort auf das Schreiben Vitzthums freilich nicht. Im Hinblick auf eine Verbindung Sachsens mit Livland und Kurland zeigte er sich skeptisch. In Litauen müsse zunächst unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechts ein Staat gebildete werden. Ob dann die sächsischen Wünsche im Interesse des Reichs noch Erfüllung finden könnten, stellte Hertling in Frage60. Am 17. März 1918 stimmte Sachsen mit allen anderen deutschen Bundesstaaten dem am 3.  März mit Russland in Brest-Litowsk geschlossenen Friedensvertrag zu. Am 23. März erklärte Hertling gegenüber einer Abordnung des litauischen Landesrats die Anerkennung Litauens als freier und unabhängiger Staat61 angesichts der wahren deutschen Intentionen – allerdings eine eher propagandistische Äußerung. Der sächsische Gesandte teilte Anfang April 1918 aus München mit, Kaiser Wilhelm II. beabsichtige offensichtlich, neben Kurland  – der kurländische Landesrat hatte Wilhelm II. am 8.  März die Krone des Herzogtums Kurland angetragen, die dieser akzeptiert hatte – auch noch Estland und Livland durch Personalunion mit Preußen zu vereini57  Vitzthum an Nostiz, Nr. 509, 12.3.1918, SHStA Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 289, Bl. 167–185. 58  Vitzthum an Hertling, Abschrift, 14.3.1918, ebd., Bl. 170v-172v. 59  Der Interfraktionelle Ausschuss 1917 / 18 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik), Düsseldorf 1959, Nr. 189a.b., Bd. 2, 300–305. 60  Hertling an Vitzthum, Abschrift 23.3.1918, in: SHStA Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 289, Bl. 19v–r. 61  Ursachen und Folgen, Bd. 2 (Anm. 2), 182.



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gen62. Die Regierung in Dresden schöpfte neue Hoffnung, schien doch eine Erfüllung der Ambitionen Preußens auf das ganze Baltikum den von Sachsen gewünschten Gebietsgewinn in Litauen wieder möglich werden zu lassen. Deshalb wurde Vitzthum nach München entsandt, fand bei der bayerischen Regierung allerdings keine Unterstützung. Am 16. April 1918 legten Reichskanzler Hertling und Kaiser Wilhelm II., beflügelt durch die Anfangserfolge der deutschen Frühjahrsoffensive in Frankreich, im Großen Hauptquartier in Spa die künftigen Gebietsgewinne für die Bundesstaaten fest. Diese entsprachen den am 7. April bereits von Ludendorff gemachten Vorschlägen. Für Kurland, Livland und Estland war die vom Kaiser gewünschte Personalunion mit Preußen, für Litauen kein Königtum, sondern ein Herzogtum unter einem sächsischen Prinzen vorgesehen. Bei der geplanten Aufteilung des Reichslands könne Lothringen an Preußen, das Unter-Elsass an Bayern und das Ober-Elsass an Baden fallen. In Polen sollte zunächst Herzog Albrecht von Württemberg die Regentschaft übernehmen und dann sein zweiter Sohn, Herzog Albrecht Eugen, König werden63. Am 29. April überraschte der Reichskanzler Vitzthum bei einem Gespräch in Berlin mit der Nachricht, der Kaiser habe nunmehr seine Zustimmung gegeben, dass Litauen mit Sachsen verbunden werde. Voraussetzung sei allerdings, dass Sachsen einer Aufteilung des Reichslands zustimme, was Vitzthum sogleich zusicherte64. Am folgenden Tag nutzte der sächsische Kronprinz Georg seinen Besuch im Hauptquartier in Spa, um Hindenburg und Ludendorff den sächsischen Wunsch auf Litauen persönlich vorzutragen. Der Generalfeldmarschall gab eine eher unverbindliche Antwort, während Ludendorff eine Personalunion Sachsens mit Litauen als eine von ihm bereits seit langem verfolgte Absicht darstellte65, was freilich nicht den Tatsachen entsprach. Zur Freude der sächsischen Regierung setzte der preußische Gesandte in Dresden, Ulrich Karl Wilhelm von Schwerin, Vitzthum am 7. Mai offiziell vom Einverständnis Kaiser Wilhelms II. zur sächsisch-litauischen Personalunion in Kenntnis. Dies nahm König Friedrich August III. zum Anlass, seine Forderungen für eine sächsische Personalunion mit Litauen schriftlich zu fixieren: „Ich bin mit Gottes Hilfe sehr bereit, die ungemein schwierige Aufgabe zu übernehmen. Sie ist eine Pflicht, die ich gegenüber dem Reich auf mich nehme, und wird auch für mein Land im Laufe der Jahre von Vorteil sein. Ich verlange aber folgendes: 62  Stieglitz an Vitzthum, Abschrift, 5.4.1918, SHStA Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 289, Bl. 258v-259v. 63  Janßen, Macht und Verblendung (Anm. 4), 204. 64  Vgl. Aufzeichnung Vitzthum, Abschrift, 29.4.1918, SHStA Dresden, Sächs. Militärbevollmächtigter, Nr. 73, Bl. 258. 65  Vgl. Aufzeichnung Kronprinz Georg, 30.4.1918, ebd., Bl. 264–268.

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1.  Ich muss die vollständige Regierung des Landes haben. Es darf nicht daneben eine Nebenregierung der Militärgewalt bestehen. Innere Verwaltung, Polizei, Finanzen, Kultus und öffentlicher Unterricht müssen ganz selbständig sein. 2.  Ein Zusatz zur Militärkonvention muss genau die militärischen Verhältnisse regeln: In Wilna eine sächsische Garnison mit einem Sachsen als kommandierenden General an der Spitze, ein Sachse als Armeeinspekteur an der Spitze der gesamten Armee im Lande, sächsische Einsatzbehörden, genaue Regelung des Verhältnisses der preußischen Militärbehörden zu mir. 3.  Eisenbahn, Wasserstraßen und alle Verkehrsanstalten müssen bei der Landesverwaltung bleiben. Die Memel als Hauptschiffader eines großen Teils des Landes muss mit Preußen zusammen reguliert werden. Preußen darf keine Beschränkung auferlegen, namentlich ohne Zustimmung Litauens keine Schifffahrtsabgaben erheben und muss in Königsberg oder Pillau eine litauische Handelsniederlage zulassen. 4.  Die von anderen Ländern uns zu überlassenden Beamten müssen ganz aus ihrem Heimatstaat entlassen werden. Bloße Beurlaubung genügt mir nicht. 5.  Die Amtssprache bei allen Behörden ist deutsch. Bei jeder muss aber ein vereidigter Dolmetscher für litauisch und polnisch bestehen. 6.  Für die erste Zeit muss ein General Statthalter sein. Später denke ich mir einen Prinzen als solchen. 7.  Durch Vertrag mit der Kurie muss Litauen ganz und gar selbständig vom Erzbistum Warschau gemacht werden. Das ist eines der wichtigsten Mittel, um das Polentum zurückzudrängen. Auch muss bald eine theologische Fakultät ins Leben gerufen werden. Mindestens aber muss den jungen Theologen der Besuch einer polnischen Universität verboten werden. 8.  Auch die orthodoxe Kirche muss gänzlich von Russland angetrennt werden. 9.  In der Verfassung muss gleich ein richtiges Sprachengesetz aufgenommen werden, um den Eintritt österreichischer Verhältnisse unmöglich zu machen. 10.  In geeigneter Form möchte bald mit dem Landtag Fühlung aufgenommen werden. 11.  Die Errichtung eines litauischen Amtes in Dresden ist eine unbedingte Notwendigkeit. 12.  Ich muss für Litauen ein Residenzschloss und eine Kronrente haben. 13.  Eine Belastung des Landes über seine Kräfte möchte vermieden werden. 14.  Die Verfassung darf keine bürgerlich-demokratische sein“66.

Am 13. Juli 1918 teilte Kaiser Wilhelm II. König Friedrich August III. seine Zustimmung zu einer sächsisch-litauischen Personalunion mit. Allerdings ließ er nicht erkennen, ob sich diese auf ein Königtum oder ein Herzogtum bezog. Diese Mitteilung erfolgte zufälligerweise genau an dem Tag, an dem die litauische Taryba, ohne Abstimmung mit der Reichsleitung, der 66  Aufzeichnung Friedrich August III, Abschrift, ohne Datum, SHStA Dresden, Sächs. Militärbevollm., Nr. 73, Bl. 274–275.



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OHL oder Ober-Ost, den württembergischen Herzog v. Urach zum litauischen König gewählt hatte67. Davon gänzlich unberührt unterstrich Vitzthum in einem Schreiben an den Reichskanzler erneut den sächsischen Anspruch auf Litauen. Er beklagte, dass er – nach der Entscheidung des Kaisers, Sachsen unter gewissen Umständen mit Litauen durch Personalunion zu verbinden  – erwartet habe, dass Sachsen bei für Litauen wichtigen Personalentscheidungen zumindest vorher gehört werde. Der sächsische König könne nicht der Gefahr ausgesetzt werden, sich für die Annahme der litauischen Krone auszusprechen, bevor nicht die Stellung des künftigen Staates Litauen zum Deutschen Reich geklärt sei68. Hertling antwortete beruhigend, alle leitenden Stellen seien davon unterrichtet, dass die Reichsleitung der Personalunion zwischen Sachsen und Litauen „freundlich gegenüberstehe“. Eine förmliche Anhörung der sächsischen Regierung vor Entscheidungen in litauischen Verwaltungsangelegenheiten, entspreche jedoch nicht der von Sachsen selbst postulierten zurzeit notwendigen politischen Zurückhaltung69. Welche generelle Gefahr bundesstaatliche Kriegszielwünsche für die Chance eines Friedensschlusses darstellten, erkannte der zu diesem Zeitpunkt in Kiew stationierte General Wilhelm Groener und schrieb seiner Frau Ende August: „In der Zeitung liest man, dass der Herzog v. Urach nun doch König von Litauen werden soll. Dann wird ja endlich sein Ehrgeiz befriedigt – aber ein sonderbarer Geschmack ist’s doch, ‚Ferscht‘ von so was zu werden. Aber so sind die Menschen […] wer Finnland glücklich machen soll, scheint noch nicht fest, anscheinend der Mecklenburger Adolf Friedrich – abgesehen ganz von der rein militärischen Lage wird die Liquidation des Krieges durch diese Art Politik meines Erachtens nicht erleichtert, sondern erschwert. So fürchte ich, der Krieg nimmt so bald kein Ende.“70 Doch nur vier Wochen später setzte Ludendorff am 30. September Sachsen offiziell davon in Kenntnis, dass er angesichts der militärischen Lage einen sofortigen Waffenstillstand für notwendig halte71. Der Waffenstillstand und Janßen, Macht und Verblendung (Anm. 4), 215. Vitzhum an Hertling, Abschrift, 26.7.1918, SHStA Dresden, Sächs. Militärbevollm. Nr. 74, Bl. 160–161. 69  Hertling an Vitzthum, Abschrift, 3.8.1918, ebd., Bl. 162–163. 70  Groener an seine Frau, 21.8.1918, in: Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 47: Von Brest-Litovsk zur Deutschen Novemberrevolution. Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen von Alfons Paquet, Wilhelm Groener und Albert Hopman März bis November 1918. Hrsg. von Winfried Baumgart mit einem Vorwort von Hans Herzfeld. Göttingen 1974, 422 f. 71  Vgl. Militär und Innenpolitik im Ersten Weltkrieg (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Zweite Reihe: Militär und Politik 67  Vgl. 68  Vgl.

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das Ende des Krieges machte die Vergrößerungsambitionen aller Bundesstaaten hinfällig. Am 13. November 1918 verzichtete König Friedrich August III. dann auch auf die angestammte sächsische Krone72.

Bd. I / 1). Zweiter Teil bearbeitet von Wilhelm Deist, Düsseldorf 1970, Nr. 477, 1290– 1293. 72  Vgl. Helmut Neuhaus, Das Ende der Monarchien in Deutschland 1918. In: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 111 (1991), 102–136, hier 112.

Ludendorffs Ostpolitik im Ersten Weltkrieg1 Von Manfred Nebelin, Dresden I. Schon bald nachdem Erich Ludendorff (1865–1937) gemeinsam mit Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg (1847–1934) zur Dritten Obersten Heeresleitung berufen worden war, galt der seit der Schlacht bei Tannenberg vom Nimbus der Unbesiegbarkeit umgebene Feldherr ob seiner Machtfülle der Mehrheit seiner Zeitgenossen als „Deutschlands Nummer eins“ (Max Weber). Schließlich bestimmte der General seit der Ernennung zum Ersten Generalquartiermeister (wie seine offizielle Dienstbezeichnung lautete) im August 1916 nicht nur die Kriegführung der Mittelmächte, sondern zunehmend die deutsche Politik. Vollends seit dem Sturz von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921) und der damit einhergehenden Entmachtung von Kaiser Wilhelm II. im Juli 1917 glich seine Stellung der eines Diktators. Um nachzuvollziehen, welche Haltung Ludendorff im Zenit des Weltkrieges in der Kriegszielfrage einnahm, sei vorab folgendes betont: Entgegen einer in der historischen Literatur weit verbreiteten Stereotype, besaß der General vor 1914 kein festgefügtes außenpolitisches Konzept oder gar Programm, an dem er konsequent festgehalten hätte. Vielmehr lassen die verfügbaren Quellen aus der Vorkriegszeit – in erster Linie seine umfangreiche Korrespondenz mit den Eltern – den Schluss zu, dass der ebenso begabte wie ehrgeizige Offizier sich vor dem Krieg nicht näher mit der Problematik auseinandergesetzt hat. Man wird mithin davon ausgehen können, dass sich seine außenpolitischen Vorstellungen kaum von den Gemeinplätzen wilhelminischer Groß- und Weltmachtpolitik unterschieden, deren Ziel es war, dem Deutschen Reich den ersehnten „Platz an der Sonne“ zu sichern. Seine überlieferten Reaktionen auf den Boxer-Aufstand in China im Jahr 1900 und die Zabern-Affäre von 1913 bestätigen dies. In zwei Punkten allerdings unterschied sich seine Sichtweise von der gängigen Auffassung: Zum einen trat er seit seinen „Lehrjahren“ bei General Jakob Meckel auf der Kriegsakademie 1  Der Vortragscharakter wurde beibehalten. Inhaltlich folgt der Beitrag dem Kapitel „Sieger im Osten“ aus der vom Verfasser stammenden Darstellung „Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg“ (München 2011). Dort finden sich im Anhang auch die Quellennachweise der angeführten Zitate.

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(1890–1893) mit Blick auf den Fernen Osten für ein Zusammengehen Deutschlands mit Japan (statt mit China) gegen Russland und Großbritannien ein; zum anderen wusste er auf Grund seiner langjährigen Tätigkeit als Chef der Aufmarschabteilung des Großen Generalstabes (1908–1913) um das fragile Kräftegleichgewicht auf dem Kontinent, welches außenpolitische Abenteuer leicht zum Hasardspiel werden ließ. Angesichts dessen erstaunt es nicht, dass Ludendorffs Reaktion auf den Ausbruch des „Kriegszielvirus“, das bald nach Kriegsbeginn nahezu alle gesellschaftlichen Gruppierungen im Reich ansteckte, verhalten ausgefiel. Hierauf lässt die Zurückhaltung schließen, mit welcher der Eroberer von Lüttich sich dem brisanten Thema vergleichsweise spät näherte. Die früheste zusammenhängende Äußerung stammt aus seiner Zeit als Chef des Generalstabes der von Hindenburg befehligten 8. Armee. Trotz der militärischen Erfolge auf dem östlichen Kriegsschauplatz schrieb der zum Kriegshelden avancierte General Ende April 1915 an seinen Mentor Helmuth von Moltke den Jüngeren (1848–1916): „An den Friedenspreis zu denken ist wohl noch zu früh“. Allerdings ließ er gegenüber dem langjährigen Chef des Großen Generalstabes durchblicken, dass auch er territoriale „Träume“ hege. In Richtung Westen lagen diese fest: „Lüttich, franz[ösisches] Kohlebecken, Belfort und polit[ische] Abhängigkeit Belgiens.“ Hinzu kam, wie aus einem weiteren, gleichfalls im April 1915 verfassten Brief an Moltke hervorgeht, ein kolonialer Zugewinn in „Mittelafrika“ auf Kosten Belgiens: der zwischen Kamerun und Deutsch-Ostafrika gelegene Kongo-Staat, dessen Besitz dem Deutschen Reich ein zusammenhängendes Kolonialreich in Äquatorialafrika vom Atlantischen bis zum Indischen Ozean verschafft hätte und der daher seit längerem Objekt alldeutscher Begierde war. Völlig vage dagegen waren im Frühjahr 1915 Ludendorffs Kriegsziele im Osten. War in dem ersten April-Brief an Moltke von der Notwendigkeit „geringer Grenzberichtigungen“ zugunsten Deutschlands die Rede, hieß es am 27. April 1915: „Im Osten müssen wir etwas Ackerland erwerben, nicht viel“. Die mitgelieferte Begründung überrascht sowohl wegen der erstmals aufscheinenden völkischen Motive als auch wegen seiner augenscheinlich übernommenen Patronatspflichten: „Das Ostheer muß befriedigt werden.“ Zwei Monate später, nach den militärischen Erfolgen vom Frühjahr 1915, insbesondere der Winterschlacht in Masuren und der Schlacht bei GorliceTarnow, hatte sich der Ton dann gewandelt. Statt von Grenzkorrekturen war von der Notwendigkeit einer empfindlichen territorialen Schwächung des Zarenreiches die Rede. „Unsere Lage ist jedenfalls so“, schrieb Ludendorff am 7. Juni 1915 an Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann vom Auswärtigen Amt, „daß wir hoffen können, Rußland in einem Frieden empfindlich zu schwächen. […] Ich persönlich lege großen Wert auf ein großes Stück nördlich des Njemen, da liegt der Weg nach Petersburg, und das brauchen wir für



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einen nächsten Krieg.“ Der vorläufige Höhepunkt seiner Forderungen gegenüber dem Zarenreich war schließlich im Spätsommer 1915 erreicht, als der amtierende Stabschef des Oberbefehlshabers Ost nach der Eroberung von Nowogeorgiewsk und den Schlachterfolgen im Baltikum sich im Unterschied zum Chef der Zweiten Obersten Heeresleitung, Erich von Falkenhayn (1861–1922), in der Lage wähnte, die russische Armee zur Kapitulation zu zwingen. Gegenüber dem Industriellen Walther Rathenau (1867–1922) forderte Ludendorff am 6. September 1915 denn auch die rücksichtslose Schwächung des in der Vorkriegszeit allgemein als unüberwindlicher „Koloß“ betrachteten Riesenreiches, welches er seit einem dreimonatigen Rußlandaufenthalt im Jahr 1894 aus eigener Anschauung kannte. Handelte es sich bei den wiedergegebenen Äußerungen gleichsam um Ludendorffs Kommentar zur frühen Kriegszieldiskussion, findet sich die erste zusammenhängende Ausarbeitung des Generals über die gegenwärtige wie die zukünftige Stellung Deutschlands im internationalen Mächtesystem 1916 in einem Brief an den in Berlin lehrenden Historiker Hans Delbrück (1848– 1929). In einem Neujahrsbrief erläuterte er dem Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher“ zunächst das Grundprinzip, auf welchem seine außenpolitischen Überlegungen fußten: einem im 19. Jahrhundert entstandenen und im Kaiserreich weitverbreiteten Sozialdarwinismus, welcher sich vornehmlich aus den „Lehren“ vom Recht des Stärkeren und vom permanenten Kriegszustand speiste. Dieser Sicht zufolge war das Ziel von Politik generell die Erweiterung des „Lebensraumes“ und die Vermehrung des verfügbaren „Menschenmaterials“. Während der General in seiner Analyse Frankreich vernachlässigen zu können glaubte („Von Frankreich spreche ich nicht, es wird sterben wie Spanien“), erschien ihm der Interessengegensatz Deutschlands zu England und Russland als entscheidend für die künftige Machtverteilung in Europa. Über die Ursachen der vermeintlich ewig währenden Rivalität Deutschlands zu den beiden Flügelmächten, welche neue Kriege zwangsläufig erscheinen ließ, heißt es in dem Brief an Delbrück: „Die Feindschaft beider Staaten behält die gleichen Gründe wie vor dem Kriege, nichts wird sich darin verschieben. Der Drang der Russen nach dem Westen wird ebenso bleiben, wie sein nicht unberechtigter Haß gegen das Deutschtum. Englands Furcht vor unserer Rivalität wird noch steigen, es ist noch nicht überwunden und wird gegen uns stehen, als die stärkste Macht des Festlandes. Das ist seine alte Tradition.“ Infolge der unterstellten englisch-russischen Bedrohung hielt Ludendorff für die Zukunft die Stärkung der eigenen Macht für vorrangig. Als Ziel seiner militärischen wie politischen Anstrengungen gab er ein vom Deutschen Reich geführtes „starkes Mittel-Europa“ an; als Mittel zur Erreichung dieses Zieles betrachtete er neben kriegerischen Eroberungen die Intensivierung des Verhältnisses zu den Bundesgenossen. Hierbei hegte er die Hoffnung, zu den traditionellen Verbündeten Österreich-Ungarn, Bulga-

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rien, Griechenland und dem Osmanischen Reich weitere hinzugewinnen zu können: in erster Linie die Niederlande, die nach dem Anschluss Belgiens automatisch Anlehnung an Deutschland suchen würden und dessen Häfen Ludendorff zur „Basis des Seekrieges gegen England“ zu machen gedachte; ferner aus wehrwirtschaftlichen Gründen Schweden und Rumänien. Bei allem an den Tag gelegten Optimismus war Ludendorff sich über die Probleme eines von Deutschland geführten Bündnissystems im Klaren. Kopfzerbrechen bereitete ihm vor allem der Zweibund-Partner ÖsterreichUngarn, der sich gegen eine kontinentale Hegemonie Deutschlands sträubte. Angesichts dessen hatte er schon früh gegenüber Moltke bemerkt: „Das muß unser Ziel sein […], daß wir ein sicheres Übergewicht in Österr[eich] bekommen. Aus eigener Kraft kommt dieser Staat nicht hoch.“ So sollte Deutschland etwa gegenüber Italien als „Erbe“ Österreichs auftreten. Gleichwohl lag ihm daran, nach außen eine Dekuvrierung des Habsburgerreiches zu vermeiden. Insbesondere als „Bollwerk gegen das Slawentum“ maß er der k.u.k. Monarchie weiterhin Bedeutung zu. So sollte der aus dem einstigen russischen Generalgouvernement zu schaffende polnische Staat keinesfalls zu einer Schwächung der Doppelmonarchie führen. Um die Jahreswende 1915 / 16 schwebte ihm daher die Bildung eines „Zarentums Polen“ vor, welches in großem Umfang Grenzgebiete an Preußen abtreten sollte. Auf diesen Territorien gedachte der Feldherr verdiente Kämpfer des deutschen Ostheeres anzusiedeln. Dass ihn dabei weniger die Fürsorge für die Soldaten als ein unverhohlener völkischer Biologismus leitete, verrät folgende Formulierung: „Hier gewinnen wir Zuchtstätten für Menschen, die für weitere Kämpfe nach Osten nötig sind. Diese werden kommen, unausweichlich.“ Wie mit der ansässigen polnischen Bevölkerung zu verfahren sei, erläuterte er einem österreichischen Diplomaten: „Der Pole muß beherrscht werden, Tag und Nacht; sonst fällt er über uns her.“ Ein Mitteleuropa beherrschendes Deutschland aber, so hieß es in dem Brief an Delbrück, müsse schließlich zu einem attraktiven Partner sowohl für Russland als auch für England werden: „So an Kraft vermehrt und auf die stark gemachten Verbündeten gestützt, können wir zusehen, ob nicht England oder Rußland uns sucht.“ Dabei hat er anscheinend einem deutsch-russischen Interessenausgleich den Vorzug vor einem Bündnis mit dem bürgerlich-parlamentarischen England gegeben. An Rathenau hatte er diesbezüglich schon acht Monate zuvor geschrieben: „Sie fragen, sollen wir mit England oder mit Rußland gehen. Ich sage, wir werden zunächst mit keinem von beiden gehen, wir müssen beide rücksichtslos schwächen, erst dann wird uns vielleicht der Weg zu Rußland führen.“ Auf die Überwindung der zunächst auf Europa und Afrika beschränkten Großmachtstellung Deutschlands wies schließlich das für die Zukunft angestrebte Bündnis mit dem im Weltkrieg noch auf Seiten der Entente stehende, angeblich weit nach Sibirien hinein zu expandieren suchende Japan hin: „Gelingt es uns noch,



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Japan zu gewinnen, dann haben wir die Stellung, die wir bedürfen.“ Dass damit nur der Aufstieg zur Weltmacht gemeint sein konnte, liegt auf der Hand. II. Da mit der Berufung in die Dritte Oberste Heeresleitung am 29. August 1916 für Ludendorff ein neuer Abschnitt seines Wirkens begann, liegt die Vermutung nahe, der frisch ernannte Erste Generalquartiermeister habe sich sogleich intensiv mit der Kriegszielproblematik befasst. Doch weit gefehlt: Entsprechend seiner Gewohnheit, seine Konzentration und Arbeitskraft den jeweils anstehenden Problemen zu widmen, stand in der zweiten Hälfte des Jahres 1916 die Bewältigung der schwierigen militärischen Aufgaben in Rumänien und an der Somme im Vordergrund seines Interesses. Selbst im Vorfeld des von Reichskanzler Bethmann Hollweg initiierten Friedensangebotes der Mittelmächte vom 12.  Dezember 1916 lässt sich eine besondere politische Aktivität Ludendorffs nicht nachweisen. Dies mag damit zusammenhängen, dass er die Erfolgsaussichten der Friedensinitiative ohnehin skeptisch beurteilte und seine Siegeshoffnungen zu dieser Zeit auf dem geplanten ­U-Boot-Krieg ruhten. Wäre bei einer Annahme des Friedensangebots durch die Entente die 1815 auf dem Wiener Kongress grundgelegte europäische Pentarchie im Kern erhalten geblieben, trifft diese Feststellung selbst noch bei einer Realisierung der sogenannten Kreuznacher Abmachungen vom 23. April 1917 zu, wenngleich diese – unter dem Eindruck der Februarrevolution in Russland – die bisherigen Kriegsziele in quantitativer Hinsicht in den Schatten stellten. In der Sache traten zu den bekannten territorialen Forderungen folgende hinzu: Neben Kurland und Litauen wurde nun von Russland auch „der Erwerb von Teilen der übrigen Ostseeprovinzen einschl[ießlich] der Inseln vor dem Rigaer Meerbusen“ angestrebt. Weiter südlich sollte die östliche Grenze von Ostpreußen bis an den Njemen vorgeschoben werden. Schließlich sollte der von Generalfeldmarschall Hindenburg als Jagdrevier besonders geschätzte Urwald von Bjelowjesch als „Staatsdomäne“ hinzugewonnen werden. Hinsichtlich der künftigen Abgrenzung Preußens gegen Polen hieß es: „Die Gestaltung der deutschen Grenze gegen Polen ist abhängig von dem zukünftigen Verhältnis Polens zum Deutschen Reich, über das mit Österreich-Ungarn nunmehr Verständigung gefunden werden muß. Gelingt es, unsere Vorherrschaft in Polen militärisch, politisch und wirtschaftlich zu sichern, so kann die O. H. L. teilweise von der bisher geforderten Grenzlinie ablassen. Notwendig bleibt jedenfalls die Narew-Linie und weiter die Linie OstrolenkaMlawa, Vorgelände für Thorn, der Zipfel nördlich Kalisch und Sicherungsgelände für das oberschlesische Industriegebiet. Auf Verdeutschung des Grenz-

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streifens ist auch bei den Friedensverhandlungen hinzustreben.“ Generell galt bei der Festlegung der polnischen Ostgrenze der Grundgedanke, „dem polnischen Staat eine Ausdehnungsmöglichkeit nach Osten zu geben“. Wenngleich damit nach der Februarrevolution die Chance genutzt und das revolutionsgeschwächte Land aus Ostmitteleuropa hinausgedrängt werden sollte, stand dessen Großmachtstatus im Frühjahr 1917 nicht zur Diskussion. Dafür spricht nicht zuletzt, dass Russland für seine territorialen Verluste nach altbewährtem Muster Kompensation in Südosteuropa erhalten sollte: „Für Kurland und Litauen kann Rußland in Ostgalizien […] und der Moldau entschädigt werden. Österreich-Ungarn kann […] in der Westwalachei und in Serbien Gebiet erhalten. Rumänien soll so groß wie möglich bleiben. Serbien könnte, soweit es nicht Bulgarien zugestanden ist, mit Montenegro und Albanien als südslawischer Staat an Österreich-Ungarn angegliedert werden.“ Noch drastischer kam der deutsche Vormachtanspruch in Hinblick auf Ostmitteleuropa während der einen Monat später stattfindenden Besprechung mit dem österreichisch-ungarischen Außenminister zum Ausdruck, in deren Verlauf Ottokar Graf Czernin (1872–1932) über die Kreuznacher Abmachungen informiert wurde: „Deutscherseits wird Wert darauf gelegt, daß auf dem Balkan ein Zustand geschaffen wird, der Dauer verspricht, daß deshalb die kleinen Staaten verschwinden und daß Österreich-Ungarn und Bulgarien zufriedengestellt werden.“ Wie materiell eigennützig die deutschen „Friedensstifter“ im Übrigen speziell mit Blick auf den Balkan waren, zeigt folgende Forderung: „Die Sicherung der deutschen Ölinteressen in Rumänien muß erreicht werden.“ Was darunter konkret zu verstehen war, lässt die Bemerkung Czernins ahnen, Rumänien werde wohl schon bald einer „ausgepreßten Zitrone“ gleichen. Neben dem direkten Gebietserwerb forderten die Oberste Heeresleitung und die Reichsleitung zudem unisono, die Stellung des Reiches in Europa durch eine Peripheriestrategie weiter zu stärken. Gedacht war dabei in Europa an den wirtschaftlichen „Anschluss“ Belgiens, der Niederlande, Dänemarks und Russlands. Nimmt man die bereits im Rahmen der Kreuznacher Abmachungen von Ludendorff angemeldeten Ansprüche auf die Rohstoffvorkommen Schwedens und Rumäniens hinzu und bezieht schließlich noch das Potential der Verbündeten Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei mit ein, erhält man eine Vorstellung von Ludendorffs Kriegszielen im Spätsommer 1917. Der General hat zur Umschreibung dieses deutsch beherrschten Staatengefüges die Bezeichnung „Mitteleuropa“ verwendet. Will man der Dimension der Ludendorffschen Großraumpolitik Rechnung tragen, empfiehlt es sich, sich eines von Fritz Fischer geprägten Begriffes zu bedienen: „Imperium Germaniae“. Dies erscheint nicht zuletzt deshalb sinnvoll, weil Ludendorffs außenpolitische Vorstellungen keineswegs auf Europa beschränkt waren. Vielmehr wiederholte er im September 1917 seine Auffassung, dass



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Deutschland für seine Rohstoffversorgung Kolonien bedürfe. Außer dem „Mittelafrika“-Projekt schwebten ihm Gebiete in Südamerika und in Asien vor, wo die Deutschen das „Erbe“ der Belgier und Holländer antreten sollten. Im Einzelnen dachte er hierbei neben Niederländisch-Guayana an das rohstoffreiche Niederländisch-Indien, also die Inseln Sumatra, Borneo, Java und Neu-Guinea – eine Region, in welcher sein älterer Bruder seit den 1890er Jahren als Unteroffizier in niederländischen Diensten lebte und die ihm aus dessen Briefen und Erzählungen vertraut war. Für die Zukunft jedenfalls glaubte er dadurch eine Wiederholung des Albtraums der britischen Blockade ausgeschlossen. Neue außenpolitische Möglichkeiten eröffnete der deutschen Politik die Große Sozialistische Oktoberrevolution. Schließlich ermöglichte die „Machtergreifung“ der Bolschewiki es Lenin (1870–1924), sein in den „April-Thesen“ formuliertes Vorhaben in die Tat umzusetzen und Russland durch Abschluss eines Separatfriedens aus dem Weltkrieg herauszuführen. Die Oberste Heeresleitung hatte von den Vorgängen in Petrograd durch das Abhören des russischen Funkverkehrs Kenntnis erhalten. Nachdem sich im Frühjahr die an den Sturz des Zaren geknüpften Hoffnungen auf einen baldigen Zusammenbruch des Gegners nicht erfüllt hatten, reagierte die deutsche Führung diesmal ungleich zurückhaltender. Stattdessen plädierte nunmehr der von großen inneren Problemen geplagte österreichische Verbündete dafür, die Gelegenheit beim Schopf zu fassen. In diesem Sinn wandte sich Czernin am 10. November 1917 an Reichskanzler Georg von Hertling (1843–1919): „Der Umschwung in Petersburg, welcher wenigstens vorläufig die Macht in die Hände Lenins und seiner Anhänger gespielt hat, ist schneller gekommen, als wir glauben konnten. […] Ob Lenin und seine Leute die Kraft besitzen werden, sich durch längere Zeit an der Macht zu erhalten, ist eine Frage, die wohl niemand beantworten kann. Eben deshalb scheint es aber notwendig, den Moment auszunützen.“ Auf einer Friedenskonferenz solle versucht werden, so Czernin weiter, die nach Selbstbestimmung strebenden Teile des Russischen Reiches an die Mittelmächte zu binden. Während sich der Kanzler noch reserviert gab, waren die Militärs davon überzeugt, dass im Osten ein Waffenstillstand in greifbare Nähe gerückt sei. Bereits am folgenden Tag ließ Ludendorff dem Auswärtigen Amt einen eigenhändig angefertigten „Entwurf eines Waffenstillstands-Vertrages mit Rußland und Rumänien“ zukommen. Und ebenfalls am 11. November 1917 zeigte er sich während einer am Abend an der Westfront in Mons stattfindenden Lagebesprechung mit den Generalstabschefs der Heeresgruppen Deutscher Kronprinz und Kronprinz Rupprecht vom bevorstehenden Ende des Zweifrontenkrieges überzeugt: „Die Lage in Rußland […] wird es voraussichtlich ermöglichen, im neuen Jahr einen Schlag auf dem Westkriegsschauplatz zu führen. […] Unsere Gesamtlage fordert, möglichst früh zu schlagen,

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möglichst Ende Februar oder Anfang März, ehe die Amerikaner starke Kräfte in die Waagschale werfen können. Wir müssen die Engländer schlagen.“ In der Tat kam es bereits am 5. Dezember zur Vereinbarung einer zehntägigen Waffenruhe an der vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee reichenden Front, und am 15. Dezember 1917 folgte die Unterzeichnung eines Waffenstillstandsvertrages. Voller Euphorie schrieb Ludendorff daraufhin einen Tag später an den Herausgeber der „Königsberger Allgemeinen Zeitung“: „Der Waffenstillstand mit Rußland ist geschlossen. […] Ich glaube, wir haben Deutschland den Sieg erkämpft.“ III. Eine Woche später begannen im Offizierskasino der Brester Garnison die Verhandlungen über den Frieden. Die sich bis zum 3. März 1918 erstreckenden, in drei Phasen untergliederten Verhandlungen (22. bis 28. Dezember 1917; 8. Januar bis 10. Februar 1918; 1. bis 3. März 1918) sind von Winfried Baumgart treffend mit einem „zwischen Ludendorff und Lenin geführten Duell“ verglichen worden. Da aber weder der russische noch der deutsche Diktator in Brest-Litowsk am Konferenztisch saß, soll im Folgenden nicht der Verlauf der rund siebzig Voll- beziehungsweise Kommissionssitzungen skizziert werden. Stattdessen wird das Verhandlungs­ergebnis den Zielvorstellungen der Kontrahenten gegenübergestellt. Eine solche Vorgehensweise scheint umso sinnvoller, als auf Seiten der Mittelmächte eben nicht der offizielle deutsche Delegationsleiter Staatssekretär Richard von Kühlmann (1873–1948) den Kurs bestimmte. Vielmehr nahm Ludendorff durch seinen Vertrauten Generalmajor Max Hoffmann (1869–1927), den Chef des Stabes von Ober-Ost, unmittelbaren Einfluss. Schließlich hatte der Erste Generalquartiermeister dem Staatssekretär bei dessen Abreise nach Brest nicht nur ein die Verhandlungsziele enthaltendes Memorandum mit auf den Weg gegeben, sondern auch durchgesetzt, dass Hoffmann als „Sondervertreter der Obersten Heeresleitung“ an den Friedensgesprächen teilnahm, und zwar mit der ausdrücklichen Befugnis, „im Bedarfsfall gegen die Maßnahmen des Staatssekretärs zu protestieren“. Bevor auf die unterschiedlichen Zielvorstellungen Ludendorffs und Kühlmanns eingegangen wird, seien zunächst noch einige Bemerkungen zum Kalkül Lenins angeführt: Für den Revolutionsführer stellte der Frieden kein Ziel an sich dar, sondern war im Zusammenhang mit der Vision von der revolutionären Erhebung der Proletarier in Deutschland und Österreich-Ungarn zu sehen. Schließlich hoffte Lenin, „den Krieg in Bürgerkrieg zu verwandeln und die Niederlage zum Instrument der Revolutionierung zu machen“. Angesichts der Fixierung auf die Weltrevolution musste der in Brest-Litowsk verhandelnden russischen Delegation die Aufgabe zufallen, den Friedens-



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schluss möglichst bis zu dem erwarteten politischen Umsturz in Berlin und Wien hinauszuzögern. Während Lenin und seine Anhänger die Revolutionierung des europäischen Staatensystems somit gleichsam in der Theorie erfolgreich vollzogen, war es in der Praxis sein deutscher Widersacher, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Landkarte Europas als erster grundlegend veränderte. Dabei setzte Ludendorff sich gegen abweichende Auffassungen durch, wie sie – gleichsam in der Nachfolge Bethmann Hollwegs – insbesondere von Kühlmann verfochten wurden. Welche Ziele Ludendorff verfolgte, geht aus einer Denkschrift hervor, die er folgendermaßen überschrieben hatte: „Grundlagen über die wesentlichsten Friedensbedingungen, die bei den Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit Rußland als Richtlinien dienen sollen“. Substantiell beinhaltete das Memorandum ein Elf-Punkte-Programm: „1. Nichteinmischung in russische Verhältnisse. 2. Anschluß Litauens und Kurlands an Deutschland, da wir zur Volksernährung mehr Land gebrauchen. […] 3. Austausch der Kriegsgefangenen unter Berücksichtigung ihrer Notwendigkeit für die deutsche Arbeit bis zum allgemeinen Frieden. 4. Selbständigkeit Polens unter Anlehnung an die Mittelmächte. 5. Räumung Finnlands, Estlands, Livlands, der Moldau, Ostgaliziens und Armeniens durch Rußland. 6. Anbietung unserer guten Dienste bei Regelung der Dardanellenfrage und anderen außereuropäischen Fragen, falls Rußland auf die Eroberung Konstantinopels verzichtet. 7. Ordnung des Verkehrswesens Rußlands durch deutsche Hilfe, finanzielle Unterstützung des Aufbaues Rußlands und enge wirtschaftliche Beziehung; Regelung der Handelsbeziehungen; Lieferung von Brotgetreide und Petroleum an Deutschland für günstigen Preis. […] 10. Falls die russischen Vertreter Besorgnis vor dem Eingreifen Japans gegen Rußland äußern sollten: Zusicherung, daß Deutschland bei Abwehr der Japaner Rußland nicht in den Rücken fallen wird. 11. Falls die russischen Vertreter fragen, ob wir bereit wären, in Zukunft mit Rußland ein Bündnis einzugehen, so ist ihnen zu sagen, daß wir diesem Gedanken sympathisch gegenüberstünden und bereit wären, hierüber in Verhandlungen einzutreten.“ Im Ergebnis bedeutete die Durchsetzung dieses Forderungskatalogs die Errichtung der dauerhaften deutschen Herrschaft über Osteuropa. Während das verbündete Habsburgerreich in Ludendorffs Zukunftsplanung konsequenterweise keine Rolle mehr spielte, änderte sich unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des Russischen Reiches auch seine Einschätzung von dessen künftiger Rolle in Europa. Schwebte ihm 1915 / 16 noch ein Bündnis Deutschlands mit der Großmacht Russland vor, sah er in dem durch die revolutionären Wirren schwer erschütterten Riesenreich nun lediglich eine Art kolonialen Ergänzungsraum. Gestützt auf ein solches Ost-Imperium glaubte er, mit der für das Frühjahr 1918 geplanten Operation „Michael“ dem Deutschen Reich die politische und wirtschaftliche Weltmachtstellung erkämpfen zu können.

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Erwartungsgemäß löste das Bekanntwerden der deutschen Forderungen in Petrograd heftige Diskussionen aus. Bis dahin hatte innerhalb der bolschewistischen Führung Einigkeit geherrscht, dass im Falle unannehmbarer Friedensbedingungen ein revolutionärer Krieg gegen Deutschland begonnen werden sollte. Man ging davon aus, dass sich bei einer Wiederaufnahme der Kämpfe die deutschen Truppen mit den revolutionären russischen Soldaten verbünden würden. Hauptverfechter dieser These war Nikolai Bucharin (1888–1938). Lenin dagegen war unter dem Eindruck der Streiks in Wien und Berlin im „Steckrübenwinter“ 1917 / 18 zu der Überzeugung gelangt, dass ein Krieg gegen Deutschland ohne eine intakte, gut ausgerüstete Armee „Abenteuerpolitik“ sei und in einem Desaster enden müsse. Durch einen Friedensschluss hingegen, so seine Schlussfolgerung in den „Thesen über den sofortigen Abschluß eines annexionistischen Separatfriedens“, „befreien wir uns im höchsten für den gegenwärtigen Augenblick möglichen Grade von beiden einander bekämpfenden imperialistischen Gruppen, nutzen ihre Feindschaft und ihren Krieg – der es ihnen erschwert, ein Abkommen gegen uns zu treffen –, bekommen für eine gewisse Periode die Hände frei“. Während eine solche „Atempause“ Gelegenheit böte, „die sozialistische Revolution fortzusetzen und zu festigen“, drohe ein revolutionärer Krieg, den Bestand der eigenen Herrschaft zu gefährden. In dieser angespannten Situation schien den meisten Revolutionären ein von dem Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Leo Trotzki (1879–1940), vorgeschlagener Ausweg verlockend: „Wir erklären den Krieg für beendet, aber wir weigern uns, einen uns von Deutschland aufgezwungenen annexionistischen Frieden zu unterschreiben.“ Mit einem entsprechenden Votum des Zentralkomitees versehen, trat Trotzki kurz darauf die Rückreise nach Brest-Litowsk an. Als sich nach der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Brest-Litowsk zeigte, dass Trotzki eine Verschleppungstaktik verfolgte, entschied Ludendorff, die „ukrainische Karte“ zu spielen. Hiermit befand er sich in seltener Einmütigkeit mit Kühlmann; vor allem wurde er von Kaiser Wilhelm II. unterstützt, der entrüstet war über die Finten des russischen Delegationsleiters und daher auf eine schnelle Einigung mit den Bevollmächtigten der Kiewer Rada drängte. Während einer am 5. Februar 1918 in der Reichskanzlei stattfindenden Besprechung Hertlings und Kühlmanns mit dem k.u.k. Außenminister in Anwesenheit Ludendorffs und Hindenburgs zog der General nach der offenkundigen Weigerung der russischen Führung, die deutschen Vorstellungen zur künftigen Westgrenze Rußlands zu akzeptieren, folgende Schlußfolgerung: „Militärische Lage fordert im Westen Handeln, im Osten Klarheit, also Frieden mit der Ukraine.“ Die Grundzüge des zu schließenden Abkommens mit Kiew, welches das Gros der landwirtschaftlichen Erzeugung des Landes den Mittelmächten überließ, waren zu diesem Zeitpunkt von Kühlmann und Czernin bereits vereinbart worden. Die Unterzeichnung des „Brot-



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friedens“, den die Präambel als „ersten Schritt zu einem dauerhaften und für alle Teile ehrenvollen Weltfrieden“ pries, konnte daher am 9. Februar 1918 erfolgen. Faktisch wurde die von General Pavlo Skoropadskyj (1873–1945) geführte Ukrainische Volksrepublik durch den ersten von den Mittelmächten diktierten Friedensschluss zu einem deutschen Satellitenstaat, in dem die Macht bei der von Generalfeldmarschall Hermann von Eichhorn (1848–1918) und – nach dessen Ermordung – von General Wilhelm Groener (1867–1939) befehligten Heeresgruppe Kiew lag. Im Unterschied zu Kühlmann hegte Ludendorff seit der Wiederaufnahme der Brester Friedensgespräche kaum noch Hoffnung, am Konferenztisch zu einer Einigung mit den Bolschewisten zu gelangen. Nach seiner Ansicht sollten im Anschluss an einen Sonderfrieden mit der Ukraine schleunigst die Verhandlungen mit Trotzki „mit positivem oder negativem Erfolg zum Abschluß gebracht werden“. Den Vorwand für die von dem deutschen Diktator angeordnete Verschärfung der Gangart bei den Verhandlungen lieferte ein russischer Armeebefehl vom 9. Februar 1918, in welchem die russischen Soldaten angeblich aufgefordert wurden, „deutsche Truppen anzuleiten zum Vorgehen gegen ihre Peiniger, Generale, Offiziere“. Schnell wurde daraus der Vorwurf, die Regierung in Petrograd hetze die deutschen Soldaten auf, „den Kaiser und die Generale zu ermorden und sich mit den Sowjets zu verbrüdern“. Es überrascht daher nicht, dass es diesmal ausgerechnet der de facto entmachtete Wilhelm II. war, welcher aufgrund seiner formal unangetastet gebliebenen Funktion als Oberster Kriegsherr Kühlmann aufforderte, der „Komödie“ von Brest-Litowsk endlich ein Ende zu bereiten. Ultimativ müsse den Revolutionären die Pistole auf die Brust gesetzt werden: „Heute hat die Bolschewiki-Regierung im Klartext-Funkspruch sich direkt an Mein Heer gewandt und es zum Aufstand und Ungehorsam gegen seinen Obersten Kriegsherrn direkt aufgefordert. Einen solchen Zustand der Dinge können weder Ich noch Seine Exzellenz der Feldmarschall v. Hindenburg länger mit ansehen oder dulden. Es muß schleunigst ein Ende gemacht werden!“ Kühlmann, der beim Kaiser gerade noch durchsetzen konnte, „daß zunächst nichts geschieht, bis neue Vorschläge des Herrn Reichskanzlers […] vorliegen“, konfrontierte Trotzki mit der Angelegenheit und kündigte massive Reaktionen an. Wohl in der Illusion, dass sich die Mittelmächte im Osten letztlich doch mit dem Status quo begnügen würden, provozierte dieser daraufhin den Abbruch der Verhandlungen: „Wir gehen aus dem Kriege he­ raus, sehen uns aber genötigt, auf die Unterzeichnung eines Friedens-Vertrages zu verzichten“, erklärte er. Der durch die russische Haltung eingetretene „Schwebezustand“, den Czernin mit den Worten: „Der Krieg ist aus, aber Friede ist keiner“, treffend charakterisiert hat und der in der Abreise Trotzkis nach Petrograd zum Ausdruck kam, machte auf der deutschen Seite eine Abstimmung der weiteren Vorgehensweise erforderlich. Hierzu lud der Kai-

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ser die militärischen und die zivilen Spitzen des Reiches für den 13. Februar 1918 nach Schloss Homburg bei Frankfurt ein. Angesichts der zugespitzten Lage („Wollen wir neuen Krieg beginnen?“) kommt der Kronratssitzung in der kaiserlichen Sommerresidenz eine vergleichbare Bedeutung zu wie dem sogenannten Kriegsrat vom 9. Januar 1917, auf dem die Eröffnung des unbeschränkten U-Boot-Krieges beschlossen wurde. Entsprechend dem in Bad Homburg festgelegten Zeitplan trat die Reichsleitung am 16.  Februar 1918 mit folgender Erklärung an die Öffentlichkeit: „Die Kaiserliche Regierung stellt […] fest, daß die Petersburger Regierung durch ihr Verhalten den Waffenstillstand tatsächlich gekündigt hat. Diese Kündigung ist als am 10. Februar erfolgt anzusehen. Die deutsche Regierung muß sich demgemäß nach Ablauf der vertraglich vorgesehenen 7tägigen Kündigungsfrist freie Hand nach jeder Richtung vorbehalten.“ Was darunter zu verstehen war, zeigte sich, als der seit Anfang Januar von Ludendorff ins Kalkül einbezogene deutsche Vormarsch am 18. Februar 1918 begann. Ziel der Operation „Faustschlag“ war das Erreichen der Linie Pernau  – Dünaburg – Minsk. Besonderes Gewicht maßen die Militärs der Eroberung der weißrussischen Metropole bei. Offenbar spielten dabei schon Überlegungen für jenen „Schlag“ gegen Moskau eine Rolle, welchen Ludendorff wenige Wochen später vorübergehend in Erwägung zog. Wollte man bis zur Moskwa vorstoßen, war die Kontrolle über den wichtigsten Eisenbahnknotenpunkt des Landes zwingend erforderlich. Dass sich mit der Eisenbahn derart große Entfernungen am besten überwinden ließen, bestätigte der in der zweiten Februarhälfte des Jahres 1918 im Nordosten Rußlands geführte „komische Krieg“: „Er wird beinahe nur auf der Eisenbahn und mit Kraftwagen geführt. Man setzt eine Handvoll Infanteristen mit Maschinengewehren und einer Kanone auf die Bahn und fährt los bis zur nächsten Station, nimmt die, verhaftet die Bolschewiki, zieht mit der Bahn weitere Truppen nach und fährt weiter.“ Der russischen Führung blieb angesichts dieser Situation keine Wahl, als die noch einmal verschärften Friedensbedingungen anzunehmen. Zwar wurde der zeitliche Rahmen für die Vertragsunterzeichnung bereits am folgenden Tag variiert, in den Sachfragen blieb es jedoch bei den bekannten Forderungen der Mittelmächte. Dem russischen Oberkommandierenden Nikolai Krylenko (1885–1938), der die Oberste Heeresleitung nach dem entsprechenden Votum des Zentralkomitees um die Einstellung der Kampfhandlungen ersucht hatte, wurde daher am 25. Februar 1918 folgendes mitgeteilt: „Die Deutsche Oberste Heeresleitung erwidert auf den Funkspruch von Zarskoe Selo an Warschau vom 24.2.18, daß der alte Waffenstillstand erloschen ist und nicht mehr ins Leben treten kann. Nach Ziffer 10 der deutschen Friedensbedingungen vom 21.1. muß der Friede binnen drei Tagen nach Ankunft der russischen Bevollmächtigten in Brest-Litowsk unterzeichnet sein. Die bis zu die-



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sem Zeitpunkt laufenden Heeresbewegungen werden durchaus im Rahmen der deutschen, dem Schutz Finnlands, Estlands, Livlands und der Ukraine dienenden Friedensbedingungen durchgeführt werden.“ Welche Haltung hinter dieser Vorgehensweise stand, spiegelt eine Notiz von Wilhelm II. wider: „Der Sieger mit blankem Schwert diktiert nach altbewährter Methode, der Besiegte unterschreibt.“ Die Bestimmungen des Vertrages lassen es gerechtfertigt erscheinen, diesen als „Ludendorff-Frieden“ zu bezeichnen. Schließlich stimmte die nach dreitägigen Verhandlungen am 3. März 1918 von Kühlmann und dem neuen russischen Delegationsleiter Grigori Sokolnikow (1888–1938) unterzeichnete Fassung im Wesentlichen mit dem Entwurf des „Generalissimus“ (Golo Mann) vom 20.  Februar 1918 überein. Da die deutsche Delegation damit drohte, „die durch die kriegerischen Operationen entstandene Grenze einfach als künftige Reichsgrenze fordern [zu] können“, wurden in Artikel III des Vertrages noch folgende Gebietsveränderungen festgeschrieben: Polen, Litauen und Kurland wurden aus dem russischen Staatsverband herausgelöst, und die russische Regierung musste dem Verzicht auf jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten der genannten Gebiete zustimmen. Deutschland und Österreich-Ungarn dagegen bekundeten ihre Absicht, „das künftige Schicksal dieser Gebiete im Benehmen mit deren Bevölkerung zu bestimmen“. Analog dazu erfolgte auf Wunsch des Osmanischen Reiches in Artikel IV eine Neufestlegung der russisch-türkischen Grenze im Kaukasus: „Die Bezirke Erdehan, Kars und Batum werden gleichfalls ohne Verzug von den russischen Truppen geräumt. Rußland wird sich in die Neuordnung der staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Verhältnisse dieser Bezirke nicht einmischen.“ Artikel VI sah den Abzug der russischen Truppen aus Estland und Livland vor. Beide Territorien sollten fortan „von einer deutschen Polizeimacht besetzt (werden), bis dort die Sicherheit durch eigene Landeseinrichtungen gewährleistet und die staatliche Ordnung hergestellt ist“. Als Ostgrenze Estlands wurde die Narwa, als Ostgrenze Livlands die Linie PeipusSee – Düna festgelegt. Gleichfalls in Artikel VI verpflichtete sich Rußland zum Truppenabzug aus der Ukraine und zum Friedensschluss mit der Kiewer Führung sowie zur Räumung Finnlands und der Åland-Inseln. In Artikel VII schließlich erkannte die russische Führung die „politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und die territoriale Unversehrtheit von Persien und Afghanistan“ an. Die übrigen Artikel bezogen sich auf die Regelung wirtschaft­ licher und militärischer Fragen. So sollte gemäß Artikel V das russische Heer vollständig demobilisiert und die Flotte desarmiert werden. Artikel VIII legte fest, dass die Kriegsgefangenen in ihre Heimat entlassen werden sollten. Über die Details wollten sich beide Mächte allerdings erst später verständigen. Dieser Zeitgewinn schien den deutschen Militärs angesichts der eigenen knappen personellen Ressourcen notwendig. Immerhin hatte Ludendorff ge-

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genüber dem Kanzler die Befürchtung geäußert, dass ein Ausfall der 1,2 Millionen russischen Kriegsgefangenen in Deutschland zum Zusammenbruch großer Teile der deutschen Kriegswirtschaft führen würde. Konzessionsbereit dagegen zeigten sich die Mittelmächte in der Frage der Kriegsentschädigung: In Artikel IX verzichteten beide Seiten auf den Ersatz ihrer jeweiligen Ansprüche, eine Regelung, welche freilich Ende August 1918 nach dem Scheitern der Operation „Michael“ in Anbetracht einer vollständig gewandelten internationalen Konstellation in dem Deutsch-Russischen Finanzabkommen revidiert wurde. Artikel X schließlich kündigte die Wiederaufnahme diplomatischer und konsularischer Beziehungen zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern an. Der Austausch von Botschaftern sollte dazu beitragen, das in Artikel I proklamierte Ziel des Vertrages zu erreichen, dass nämlich Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei einerseits sowie Rußland andererseits „fortan in Frieden und Freundschaft miteinander […] leben“. IV. Die Reaktion in Russland ließ indes erwarten, dass an eine Aussöhnung nicht zu denken war. Die bolschewistische Führung erfasste den Vertrag vielmehr genau als das, was er war: ein Diktatfriede, der karthagische Züge aufwies. Russland verlor eine Million Quadratkilometer Boden mit einer Bevölkerung von rund fünfzig Millionen Menschen. In den abgetrennten Gebieten befanden sich neunzig Prozent aller russischen Kohlegruben, die Hälfte sämtlicher Eisen- und Stahlwerke sowie ein Drittel des Eisenbahnnetzes. Faktisch wurde das Russische Reich durch die Abtrennung von Finnland, des Baltikums, Polens und der Ukraine in Europa auf die Grenzen vor Peter dem Großen zurückgeworfen. Aus der Anfang des 18. Jahrhunderts entstandenen europäischen Großmacht war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein deutscher Vasallenstaat geworden. Allerdings ließ die Debatte um die Ratifizierung ahnen, dass Lenin und seine Anhänger von Beginn an auf Revision setzten. „Ich werde ihn weder lesen noch seine Klauseln erfüllen“, hatte der Weltrevolutionär seine engste Umgebung anlässlich der Bekanntgabe des Vertragstextes wissen lassen. Gleichwohl trat er gemäß seiner „Theorie der Atempause“ für die Ratifizierung ein. Und dank seiner Überzeugungskraft gelang es ihm, sich auf dem Parteitag mit seinen Vorstellungen durchzusetzen. Es war daher keine Überraschung, dass der eine Woche später zusammentretende IV. Gesamtrussische Sowjetkongreß dem Votum des Parteitages folgte und den Brester Vertrag am 15. März 1918 mit großer Mehrheit ratifizierte. In Deutschland wurde der Friedensvertrag eine Woche später, am 22. März 1918, vom Reichstag ebenfalls mit deutlicher Mehrheit angenommen. Einen Tag nach Beginn der großen Westoffensive, die von der Propaganda zur



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„Schlacht um Frankreich“ stilisiert wurde, gingen nur die SPD und die USPD zu dem Gewaltfrieden auf Distanz. Während die Sozialdemokraten sich enthielten, stimmten die Abgeordneten der USPD gegen den Vertrag. Ihre Warnungen vor den langfristigen Folgen des Diktats verhallten angesichts der allgemeinen Euphorie ungehört, und Ludendorff konnte wenig später sogar einen weiteren diplomatischen Erfolg verbuchen. Am 7. Mai 1918 unterzeichneten die Mittelmächte auf Schloss Cotroceni bei Bukarest den Friedensvertrag mit Rumänien und besiegelten damit das Ende des Zweifrontenkrieges. Fielen die territorialen Verluste Rumäniens mit der Abtretung der Dobrudscha an Bulgarien verhältnismäßig gering aus, hatte das gleichzeitig in Kraft tretende Deutsch-Rumänische Wirtschaftsabkommen größte Bedeutung. Nach dem Urteil Kühlmanns machte es das Land zu einer „Kolonie der Mittelmächte“. Immerhin sicherten diese sich bis zum Jahr 1925 sämtliche Agrarüberschüsse. Zudem erzwang Deutschland für dreißig Jahre, das heißt bis 1948, das Rohölmonopol. Gemäß dem auch als „Petroleumabkommen“ bekanntgewordenen Vertrag wurde das alleinige Recht „zur Aufsuchung, Gewinnung und Verarbeitung von Erdölen, Erdgas, Erdwachs, Asphalt und allen anderen Litummina“ einer in Berlin gegründeten Ölländereien Pachtgesellschaft m.b.H. übertragen, hinter der sich ein Konsortium von Deutscher Bank, Disconto-Gesellschaft, Darmstädter und Dresdner Bank verbarg. Um den reibungslosen Abtransport dieser Güter sowie des Getreides aus der ­Ukraine nach Deutschland und Österreich sicherzustellen, wurde die Eisenbahnstrecke vom Schwarzmeerhafen Konstanza zum Donauhafen Cernavodă für 99 Jahre an eine deutsche Gesellschaft verpachtet. Die damit verbundene Beeinträchtigung der bulgarischen Souveränitätsrechte in der neuerworbenen Dobrudscha glaubte Ludendorff – anders als Kühlmann – in Kauf nehmen zu können und behielt mit seiner Ansicht Recht. Zudem setzte er trotz der Warnung des Auswärtigen Amts vor einem „zweiten Kiautschou“ durch, dass Konstanza den Status eines Freihafens erhielt und faktisch zu einem deutschen Schwarzmeerhafen wurde. Fasst man das Ergebnis der Friedensverträge von Brest-Litowsk und Bukarest zusammen, hatte der Erste Generalquartiermeister im Hinblick auf Osteuropa seine seit 1915 verfolgten außenpolitischen Ziele im Wesentlichen erreicht. Allerdings blieb die Dauer dieses Erfolges vom „Endsieg“ (Gustav Stresemann) über die Westmächte abhängig. Paradoxerweise veranlasste das Ausbleiben des Erfolges im Westen den General, sich seit Mitte April 1918 wieder intensiver mit dem Osten zu befassen. Unter dem Einfluss von Vertretern der Schwarzmeerdeutschen und alldeutschen Siedlungspolitikern, insbesondere von Friedrich von Lindquist (1862–1945), dem früheren Staatssekretär des Reichskolonialamtes und Mitbegründer der Deutschen Vaterlandspartei, griff er begeistert die Idee der Schaffung einer deutschen Kolonie im Süden Russlands auf. Umsiedlungswillige Deutschstämmige aus Bessara-

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bien, Wolhynien, dem Wolgagebiet und dem Kaukasus sollten auf der von Ludendorff wegen ihrer landschaftlichen Schönheit und ihres angenehmen Klimas besonders geschätzten Halbinsel Krim eine neue Heimat finden. Um die Krim gegenüber dem Ausland nicht als Kolonie erscheinen zu lassen, sollte diese offiziell den Status eines unabhängigen Staates erhalten – mit einem autonomen Sewastopol, das neben Konstanza zum zweiten deutschen Schwarzmeerhafen werden sollte. Die 1918 seitens der Dritten Obersten Heeresleitung entwickelten Ideen zur Zukunft der Krim blieben jedoch ebenso Makulatur wie im Zweiten Weltkrieg die diesbezüglichen Pläne der Nationalsozialisten zur massentouristischen Erschließung des „deutschen Südens“ oder zur Zwangsumsiedlung der Südtiroler in den geplanten Gau „Gotenland“. Dagegen fiel Ludendorffs weitere Ukraine-Politik ungleich konkreter aus. Aufschlussreich ist hier sein Briefwechsel mit Groener, der zu jener Zeit Chef des Stabes beim Militärbefehlshaber in Kiew war. Den Anstoß für die Korrespondenz gab die schlechte Versorgungslage der Mittelmächte: „Kritisch ist die Verpflegung. Mit besonderer Spannung sehen wir daher nach Kiew“, hieß es in einem Brief vom 23. April 1918. Was dem Ersten Generalquartiermeister vorschwebte, geht aus einem Schreiben vom 19. Mai hervor: „Ich brauche Menschen für Heer und Heimat und Entlastung unserer Kriegswirtschaft. Deutschland hat bisher für andere gearbeitet, jetzt müssen die anderen für Deutschland arbeiten. Ich denke dabei auch an die besetzten Gebiete, vornehmlich an die Ukraine. […] Die Ukraine (muß uns) Arbeitskräfte geben. […] Ein weiteres Ziel muß sein, aus der Ukraine soviel Getreide herauszubekommen, daß wir die Verpflegung neutraler Staaten übernehmen können, um ihnen dann die Auslieferung ihrer Tonnage an die Entente untersagen zu können.“ Allerdings mache die militärische Lage im Westen eine Verringerung der Besatzungstruppen im Osten erforderlich. Dadurch ergäbe sich die Notwendigkeit, „daß wir die Ukraine, soweit möglich, durch die Ukrainer regieren“. Faktisch hätte dies eine Aufwertung der Stellung des sogenannten Hetmans und seiner Marionettenregierung bedeutet, zu der es – nicht zuletzt infolge der Ermordung von Generalfeldmarschall Eichhorn in Kiew am 30. Juli 1918 – jedoch nicht mehr kam. Gleichwohl erfüllten sich in materieller Hinsicht die von Ludendorff gehegten Erwartungen. Eichhorns Nachfolger Groener gelang es nach anfänglichen Schwierigkeiten nämlich, Deutschland die agrarischen und industriellen Erzeugnisse des Landes zu sichern und dies im September 1918 in einem Wirtschaftsabkommen festzuschreiben. Angesichts der nur schwer überschaubaren politischen Verhältnisse in Sow­jet-Russland im Sommer 1918 erstaunt es nicht, dass Ludendorff auch die Frage erörterte, welche Nachfolgestaaten des Zarenreiches gegebenenfalls als potentielle Verbündete in Frage kämen: „Wir müssen uns für alle Fälle bei der unklaren Haltung der schwachen Sowjet-Regierung nach weite-



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ren Bundesgenossen im Osten umsehen“. Neben Finnland und der Ukraine fiel sein Augenmerk dabei erstmals auf den Kaukasus. Wie bei der Ukraine hing sein Interesse an dieser Region mit deren Rohstoffreichtum zusammen. Durch die Ausbeutung der dortigen Ölvorkommen sollte die Position Deutschlands im Wirtschaftskrieg mit Großbritannien verbessert werden. Als Hebel für die angestrebte Einflussnahme bot sich aus Sicht des Generals Georgien an, welches am 26.  Mai 1918 seine Unabhängigkeit erklärt hatte: „In Georgien bietet sich Gelegenheit, ähnlich wie in Finnland, mit schwachen Streitkräften unsere Macht zu vervielfältigen; wir müssen dort die georgische Armee organisieren. Dazu ist die Anerkennung des georgischen Staates und seine Inschutznahme unumgänglich nötig. […] Haben wir in Georgien einen Stützpunkt, so ist zu hoffen, daß sich der Kaukasus nach und nach beruhigt und wir von dort die uns so dringend notwendigen Rohstoffe beziehen können.“ In der diplomatischen Anerkennung sah er zugleich das „einzige Mittel“, die „begehrliche Türkei von Georgien fernzuhalten“. Bei allem Verständnis für die Interessen des Verbündeten müsse der „Leitsatz“ gelten, „daß die Türkei uns in der Entfaltung der Wehrmacht Georgiens und in der Rohstoffversorgung aus dem Kaukasus nicht beengen darf“. Damit aber wird klar, dass Ludendorffs Ambitionen im südlichen Russland über Georgien hinaus bis an das Kaspische Meer reichten. Den Anspruch auf die Ausbeutung der Erdölfelder der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, dem einstigen Zentrum der russischen Petroleumindustrie, hat der General dabei offen angemeldet. Um den Transfer des Naphtas vom Kaspischen zum Schwarzen Meer zu gewährleisten und damit den Weitertransport über die Donau sicherzustellen, wollte er die Eisenbahnverbindung Batum–Tiflis– Baku unter deutsche Verwaltung gestellt wissen. Da er aufgrund der im Westen vermeintlich herrschenden Pattsituation in absehbarer Zeit auf einen Status-quo-Frieden hoffte, schien es ihm geboten, die angemeldeten Ansprüche eiligst vertraglich festzuschreiben: „Auf wirtschaftlichem Gebiet müssen wir noch vor dem allgemeinen Frieden mit den russischen Völkerschaften zu klaren Abmachungen kommen, sonst laufen wir, jedenfalls bei der SowjetRegierung, Gefahr, daß sie alles versuchen werden, um den Brester Vertrag für sich zu verbessern. Auch würden schon wirtschaftliche Abmachungen im Osten Drohungen der Entente bezüglich der wirtschaftlichen Boykottierung Deutschlands zunichte machen und damit unsere Stellung bei den Friedensverhandlungen und in der Welt ganz ungemein stärken.“ Damit aber war der Startschuss zu einer neuen deutsch-russischen Verhandlungsrunde erfolgt, die schließlich am 27. August 1918 zum Abschluss der sogenannten Ergänzungsverträge zum Brester Vertrag führte. Ein nüchterner Beobachter der deutschen Außenpolitik, der sächsische Gesandte in Berlin, Hans Graf von Holtzendorff, hat den Inhalt dieser auch als „Super-Brest“ bezeichneten Abkommen in einem Bericht an das Staatsministerium in Dresden auf einen einfa-

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chen Nenner gebracht: „Soweit ich verstanden habe, ist geplant, […] das russische Wirtschaftsleben in Abhängigkeit von Deutschland zu setzen.“ Damit hatte Ludendorff im Sommer 1918 ein neues Kapitel in den deutschrussischen Beziehungen aufgeschlagen. Während im Sommer 1918 im Westen der militärische Erfolg ausblieb, hatte Deutschland zur selben Zeit im Osten seinen von Narwa bis Baku reichenden Herrschaftsbereich weiträumig gesichert und sich Zugriff auf dringend benötigte Rohstoffe wie Erz und Erdöl verschafft. Trotz der gewaltigen räumlichen Dimension des Ludendorffschen Ost-Imperiums trifft die von Diplomaten der Wilhelmstraße vertretene Ansicht nicht zu, der von „Raumgier und Machtrausch befallene Feldherr“ habe durch „Alexanderzüge“ in der Manier des Hellenenkönigs neue Reiche gründen wollen. Ebenso wenig kann bei Ludendorff von einem „Cäsarenwahn“ die Rede sein. Und auch seine später beiläufig geäußerte Absicht, durch das Schüren von Aufständen in den britischen Kolonien, insbesondere in Indien, England sozusagen an der Peripherie schlagen zu wollen, gelangte über den Vorsatz nicht hinaus, geschweige denn, dass ein vergleichbares Stadium wie die „Weltblitzkriegs“Planungen Hitlers vom Herbst 1940 erreicht wurde. Indem Ludendorff als Exponent der alldeutschen Kriegszielpolitik das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg auf die Stufe einer den angelsächsischen Mächten gleichberechtigten Weltmacht heben wollte, steht sein Denken und Handeln einerseits in der Kontinuität deutscher Groß- und Weltmachtpolitik, wie sie schon von den Nachfolgern Bismarcks betrieben und im Zeitalter Wilhelms II. insbesondere von den Alldeutschen lautstark propagiert wurde. Andererseits stellten das 1917 / 18 bestehende Ost-Imperium und Ludendorffs weiterreichende Vision vom „Imperium Germaniae“ einen Bruch mit der Tradition deutscher Außenpolitik dar, welcher in quantitativer Hinsicht nur von Hitlers Ziel der Schaffung eines „Großgermanischen Weltreiches“ vom Atlantik bis zum Ural übertroffen werden sollte. Entgegen aller Siegeszuversicht war dem General allerdings schon vor dem Friedensschluss von Brest-Litowsk klar, dass der Bestand des Ost-Imperiums von der Anerkennung durch die Westmächte abhing. Insofern fühlte sich Ludendorff – um das verwandte Bild aufzugreifen – im Sommer 1918 nur als „Etappensieger“ über Lenin. Wie schon die Reaktion des britischen Premierministers David Lloyd George (1863–1945) auf das russische Waffenstillstandsangebot vom 9. November 1917 gezeigt hatte, waren Großbritannien und seine Verbündeten fest entschlossen, einer Politik entgegenzutreten, die mit der Ausschaltung Russlands als Großmacht für jedermann erkennbar das Ende des Gleichgewichtsprinzips als Regulativ des europäischen Staatensystems bedeutet hätte. Insofern war schon für Ludendorff  – wie im Zweiten Weltkrieg für Hitler  – England der Schlüssel im Schloss zur deutschen Weltmachtpolitik. Im Unterschied zu Hitler, der von seinem Eintritt in die Politik bis zu seinem Selbst-



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mord an der Wunschvorstellung eines Bündnisses mit dem Inselreich festhielt, setzte der Erste Generalquartiermeister von vorneherein alles auf die militärische Karte und den Versuch, Großbritannien mit der am 21. März 1918 beginnenden Operation „Michael“ vom europäischen Festland auf die Britischen Inseln zurückzuwerfen. Bekanntlich scheiterte dieser Versuch bereits nach wenigen Wochen. Mit der deutschen Niederlage im November 1918 und den Pariser Vorortverträgen, die den Großen Krieg beendeten, wurde der Brester Vertrag hinfällig. Somit blieb das Ludendorffsche OstImperium eine historische Episode – allerdings mit verhängnisvollen Folgen für das deutsche Russland-Bild im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts.

Krieg und Frieden Friedensinitiativen im Ersten Weltkrieg Von Hans Fenske, Speyer Am 16. Juni 1914 bat Reichskanzler Bethmann Hollweg (1856–1921) den deutschen Botschafter in London, mit dem britischen Außenminister Grey (1862–1933) über die Sicherung des europäischen Friedens zu sprechen. Bei einem erneuten Ausbruch der Krise auf dem Balkan könne Russland infolge seiner umfangreichen Rüstungen kräftiger als bisher auftreten. Ob es dann zu einem europäischen Zusammenstoß komme, hänge ausschließlich von Deutschland und Großbritannien ab. Träten die beiden Staaten als Garanten des europäischen Friedens auf, werde sich der Krieg vermeiden lassen. Andernfalls könne ein beliebiger und vielleicht nebensächlicher Interessengegensatz die Kriegsfackel zwischen Russland und Österreich-Ungarn entzünden. Grey antwortete dem Botschafter beschwichtigend und versicherte dabei, es bestünden keinerlei unveröffentlichte Abmachungen zwischen Großbritannien, Russland und Frankreich über eine Hilfe für die beiden anderen Staaten für den Fall eines Krieges. Das entsprach nicht der Wahrheit. Die britisch-französische Entente cordiale, die 1904 erzielte Verständigung über Ägypten und Marokko, war seit der ersten Marokko-Krise 1905 / 06 durch feste militärische Absprachen zwischen den Generalstäben der beiden Staaten ergänzt worden, in die auch belgische Militärs einbezogen waren. Es bestand ein gemeinsamer Operationsplan. Ein britisches Expeditionskorps in Stärke von 150.000 Mann sollte im Falle eines deutsch-französischen Krieges spätestens drei Wochen nach dem ersten Mobilmachungstag in Belgien einsatzbereit sein. Dann wollten die Verbündeten von dort aus Nordwestdeutschland angreifen. Als der russische Außen­ minister Sasonow (1860–1927) im September 1912 sechs Tage bei König Georg  V. (1865–1936) und Grey im schottischen Balmoral weilte, wurde selbstverständlich über die Eventualität eines großen Krieges gesprochen. Grey versicherte Sasonow dabei, Großbritannien werde bei einem deutschfranzösischen Krieg Frankreich zu Wasser und zu Lande unterstützen und Deutschland dabei einen so vernichtenden Schlag wie möglich versetzen. Der französische Ministerpräsident Poincaré (1860–1934)  – ab 1913 war er Staatspräsident – sagte dem russischen Botschafter Iswolski (1856–1919) im

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Laufe des Jahres 1912 wiederholt, Frankreich werde im Kriegsfall keinen Augenblick zögern, seine Verpflichtungen gegenüber Russland zu erfüllen. Bei einem Besuch in St. Petersburg im August warb er bei Sasonow um eine russische Intervention auf dem Balkan, und im November schlug er in einem Brief an Sasonow sogar einen Präventivkrieg Russlands, Frankreichs und Englands vor, um ein Eingreifen der Donaumonarchie in den inzwischen ausgebrochenen Balkankrieg zu verhindern. Russland sah sich damals noch nicht kriegsfähig. Als der serbische König Peter I. den russischen Gesandten Hartwig (1857–1914) fragte, ob man den Zusammenbruch der Donaumonarchie jetzt bewirken oder damit noch einige Jahre warten sollte, gab Hartwig diese Frage nach St. Petersburg weiter. Sasonow ließ im Februar 1913 antworten, Serbien möge sich einstweilen zufrieden geben, da Russland derzeit nicht zu einem Krieg bereit sei. Es möge das neue Serbien – die großen Eroberungen im Balkankrieg – organisieren, „um dann später, wenn die Zeit gekommen sein wird, das österreich-ungarische Geschwür aufzubrechen“.1 Ein Jahr später schien der russischen Führung der Zeitpunkt dafür gekommen. Am 6.  Januar 1914 schlug Sasonow dem Zaren vor, mittels der Meerengenfrage einen europäischen Krieg auszulösen und so zu einer Aufteilung des Osmanischen Reiches zu gelangen, wobei Bosporus und Dardanellen unter russische Kontrolle gebracht werden sollten. In einem Kriegsrat fiel Ende Februar der entsprechende Beschluss. Ende März erklärte der Leiter der Kriegsakademie vor Offizieren, der Krieg mit dem Dreibund sei unvermeidlich und werde wohl im Sommer ausbrechen. Der belgische Gesandte in St. Petersburg meldete Anfang Juni nach Brüssel, Russland werde wohl bald von seinem Kriegswerkzeug Gebrauch machen. Diesen Eindruck hatten auch andere neutrale Beobachter. Dass Wien die Ermordung des österreich-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch bosnische Serben nicht einfach hinnehmen werde, war selbstverständlich. Generalstabschef Conrad von Hötzendorf (1852–1925) und Außenminister Berchtold (1863–1942) waren für einen sofortigen Schlag gegen den südlichen Nachbarstaat, der ungarische Ministerpräsident verhinderte dies jedoch. In Berlin hielt man ein schnelles und energisches Vorgehen für eine angemessene Lösung und meinte, dass der daraus sich ergebende Konflikt lokalisiert werden könne. Am 6.  Juli bekam Wien zugesichert, es könne mit der deutschen Bundestreue rechnen. Das war der sogenannte Blankoscheck. Einen Blankoscheck stellten auch Poincaré und sein Ministerpräsident und Außenminister Viviani (1862–1925) bei ihrem Staatsbesuch in St. Petersburg vom 20. bis 24. Juli aus, als sie das Zarenreich der unbeding1  Zit. bei Alfred von Wegerer, Der Ausbruch des Weltkriegs 1914. Hamburg 1939, Bd. 1, 65.



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ten französischen Bundestreue versicherten. Sasonow und Viviani waren sich am 23. Juli einig, dass alles getan werden müsse, um dem österreichischen Verlangen an Serbien nach Aufklärung des Mordes und irgendeiner dringenden Aufforderung zuvorzukommen, die Serbien als Eingriff in seine Souveränität betrachten könne. Statt Serbien an seine seit 1909 bestehende vertragliche Verpflichtung zu erinnern, gutnachbarliche Beziehungen zur Donaumonarchie zu pflegen, mahnte Russland in Belgrad, auf jeden Fall fest zu bleiben, und verhinderte so eine Annahme des österreichischen Ultimatums. Unmittelbar nach der Abreise der französischen Staatsgäste begann informell die russische Mobilmachung, am 26. Juli wurden auch in Paris und London erste Maßnahmen für den Krieg ins Werk gesetzt. Am 28. Juli erklärte die Donaumonarchie Serbien den Krieg. Die Berliner Bemühungen um eine Lokalisierung des Konflikts dauerten an. Als Zar Nikolaus II. (1868–1918) am 30. Juli die russische Gesamtmobilmachung verkündete, wurde das in Berlin und Wien zu Recht als faktische Kriegserklärung bewertet. Weil der Zar seine Ordre trotz dringender deutscher Vorstellungen nicht aufhob, teilte das Deutsche Reich Russland am späten Abend des 1. August mit, dass es den Kriegszustand als eingetreten betrachte. Da die Bemühungen, Frankreich zur Neutralität zu bewegen, nichts bewirkten, erklärte das Reich Frankreich am 3. August den Krieg. Es handelte sich um einen Präventivkrieg, um Frankreich nicht den Zeitpunkt für die Aufnahme der Kampfhandlungen zu überlassen, womit Russland sehr begünstigt worden wäre. Die deutsche Planung für einen Zweifrontenkrieg, der Schlieffenplan, sah bekanntlich zunächst die Wendung gegen Frankreich vor. Die Verletzung der tatsächlich nur noch nominell bestehenden belgischen Neutralität durch Deutschland gab Grey die willkommene Gelegenheit, England am 4. August in den Krieg zu führen – die britische öffentliche Meinung war bis dahin mehrheitlich für ein Beiseitestehen. Christopher Clark sagt in seinem vielgelesenen Buch „Die Schlafwandler“, nichts deute darauf hin, dass die deutsche Führung „die Krise als willkommene Gelegenheit betrachtete, einen seit langem ausgearbeiteten Plan für die Auslösung eines Präventivkriegs gegen die deutschen Nachbarstaaten in Gang zu setzen“.2 In seinen „Betrachtungen zum Weltkriege“ hatte Bethmann Hollweg schon 1919 gesagt, die Annahme, „daß wir uns eine möglichst ungünstige Konstellation ausgesucht haben sollten“, um in krassem Widerspruch zu unseren durch das bestehende Koalitionssystem eingezwängten Möglichkeiten „deutsche Weltherrschaft aufzurichten, setzt eine Vernunftwidrigkeit voraus, […] deren Annahme vor historischem Urteil vergeht“.3 2  Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, 664. 3  Theobald von Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege. Erster Teil. Vor dem Kriege, Berlin 1919, 188.

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Es kann kein Zweifel bestehen: Das Zarenreich wollte im Sommer 1914 den Krieg und Frankreich und England wollten ihn ebenfalls. Sie taten nicht nur nichts, um St. Petersburg zu mäßigen, sondern durch die Bekundung ihrer unbedingten Loyalität das genaue Gegenteil. Das Deutsche Reich nahm bei seiner Unterstützung Österreich-Ungarns das Risiko des großen Krieges in Kauf, hoffte aber lange, ihn vermeiden zu können. Der Krieg wurde von den Alliierten sogleich ideologisch aufgeladen. Bei seiner Rundreise durch das Vereinigte Königreich sagte Premierminister Asquith (1852–1928) im September in Edinburgh, der Krieg sei der „Kreuzzug gegen die Anmaßung einer einzelnen Macht, die Entwicklung Europas zu beherrschen“.4 In Dublin erklärte er wenig später, es müsse verhindert werden, dass kleine Nationen von einer sich überhebenden Macht vernichtet würden, und es gehe um „die endgültige Abschaffung des Militarismus als des regierenden Faktors in den Beziehungen der Staaten“.5 In einer Rede in London sprach er am 9. November von der notwendigen Niederwerfung des preußischen Militarismus. Von seinem Parteifreund Lloyd George (1863– 1945) hörte man am 19. September, das deutsche Volk müsse von der Hölle der Militärdiktatur befreit werden. „Nicht eher soll der Krieg enden, als bis der Friede Europas gesichert ist durch völlige und endgültige Garantie gegen die Möglichkeit, daß der Friede je wieder durch den Militarismus Preußens gestört werden kann.“6 In der Thronrede hieß es am 11. November, England werde so lange weiterkämpfen, bis es den Frieden bestimmen könne. Von dieser Haltung ging die britische Regierung während des ganzen Krieges nicht ab. Entsprechende Aussagen kamen auch aus Paris und St. Petersburg. Der französische Außenminister Delcassé (1852–1923) nannte dem russischen Botschafter im Oktober als sein Hauptziel „die Vernichtung des Deutschen Reiches und die möglichste Schwächung der militärischen und politischen Macht Preußens“.7 Ähnlich sprach Sasonow in einem Memorandum für die französische Regierung Mitte September von der Zerstörung der deutschen Macht und der deutschen Anmaßung militärischer und politischer Vorherrschaft in Europa. Die drei Entente-Staaten wollten einen kompromisslosen Siegfrieden. Am 5. September 1914 verpflichteten sie sich in einem in London unterzeichneten Abkommen vertraglich, während des Krieges keinen Separatfrieden zu schließen und keine Erklärungen über die Friedensbedingungen abzugeben, ohne sich vorher darüber mit den Verbündeten ver4  Zit. nach Friederike Recktenwald, Kriegsziele und öffentliche Meinung Englands 1914 / 16. Stuttgart 1929, 9. 5  Ebd. 6  Ebd.,19. 7  Friedrich Stieve, Iswolski im Weltkriege. Der diplomatische Schriftwechsel Iswolskis aus den Jahren 1914–1917, Neue Dokumente aus den Geheimakten des russischen Staatsarchivs, Berlin 1925, Bd. 1, 118 f.



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ständigt zu haben. Jede dieser Mächte stellte Kataloge über die Wünsche beim Friedensschluss auf und machte den anderen darüber Mitteilung. Manches wurde auch vertraglich geregelt, zumal mit Staaten, die, wie Italien, erst im Laufe des Krieges an die Seite der Entente traten. Die Pläne liefen auf die territoriale Verkleinerung Deutschlands, eine empfindliche Schwächung seiner wirtschaftlichen Kraft, die Wegnahme seiner Kolonien und die Zerschlagung der Donaumonarchie sowie des Osmanischen Reiches hinaus, das im Herbst 1914 den Mittelmächten beigetreten war. Den Wirtschaftsfragen wurde im Juni 1916 eine Konferenz in Paris gewidmet. Nach den großen Anfangserfolgen des deutschen Heeres im Westen war nicht auszuschließen, dass bald Verhandlungen über einen Vorfrieden geführt werden konnten. Bethmann Hollweg, der sich im Großen Hauptquartier in Koblenz aufhielt, übersandte den Staatssekretären für Auswärtiges und für Inneres deshalb am 9. September eine vorläufige Aufzeichnung über etwaige Friedensbedingungen mit der Bitte um Prüfung. In dem Text waren Vorschläge verschiedener Persönlichkeiten im Hauptquartier zusammengestellt, die kein geschlossenes Programm ausmachten und sich zum Teil widersprachen. Es ging um die Schwächung Frankreichs vornehmlich durch eine für etwa 20 Jahre in Raten zahlbare hohe Kriegsentschädigung, um es so an großen Rüstungsausgaben zu hindern, um die Bildung von Pufferstaaten zwischen Deutschland und Russland und um die Schaffung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes, dem auf jeden Fall Deutschland, ÖsterreichUngarn, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Dänemark und Polen angehören sollten. Belgien sollte überdies in ein besonderes Verhältnis zu Deutschland gesetzt werden. Dass es sich bei diesem Papier nicht um ein festes Programm handelte, erhellt auch daraus, dass der Kanzler im Oktober neuerlich die Weisung nach Berlin gab, sich mit Kriegszielen zu befassen. Inzwischen war der deutsche Vormarsch durch die Schlacht an der Marne zwischen dem 3. und dem 10. September zum Stehen gekommen. Der Kanzler gab die Hoffnung auf einen baldigen Frieden infolge Ermüdung Frankreichs aber noch nicht auf und meinte weiter, Belgien fest an Deutschland binden zu können. Mitte November distanzierte er sich deutlich von dieser Haltung. In einem Brief an den Pressechef der Reichsleitung sagte er, anfangs habe er die Phrase vom „halbsouveränen Tributärstaat“ Belgien nachgeschwätzt, aber das sei eine Utopie8. Frankreich dürfe kein unehrenhafter Frieden zugemutet werden. Die Operationen im Westen führte jetzt General v. Falkenhayn (1861– 1922), zugleich preußischer Kriegsminister. Er war wegen der schweren 8  Bethmann Hollweg an Otto Hammann, 14.11.1914, in: Wolfdieter Bihl (Hrsg.), Deutsche Quellen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs. Darmstadt 1991, 89.

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Verluste und des Mangels an Munition sehr pessimistisch. Am 18. November hatte er ein ausführliches Gespräch mit Bethmann Hollweg. Dabei erklärte er, solange Russland, Frankreich und England zusammenhielten, sei es unmöglich, die Gegner so zu besiegen, dass ein anständiger Frieden erreicht werden könne. Entweder Russland oder Frankreich müsse von der gegnerischen Koalition abgesprengt werden. Dabei sei in erster Linie an Russland zu denken. Werde das Zarenreich zum Frieden gebracht, könnten Frankreich und England wohl niedergerungen werden. „Es sei aber mit Sicherheit zu erwarten, daß, wenn Rußland Frieden machte, auch Frankreich klein beigäbe.“ Russland sollte nur eine angemessene Kriegsentschädigung zahlen, aber abgesehen von kleinen Grenzkorrekturen im Verteidigungsinteresse kein Land abtreten. Frankreich wollte er „einen ehrenvollen Frieden […] bewilligen“, da es eine Notwendigkeit sei, dass Deutschland sich nach dem Kriege mit Frankreich ins Einvernehmen setze. Land wollte er auch von Frankreich nicht, nur eine ausreichende Kriegsentschädigung9. Bethmann Hollweg war von der Berechtigung dieser Sicht völlig überzeugt. Er glaubte nicht mehr an einen entscheidenden Sieg. Könne man die im Osten engagierten Truppen nach dem Westen werfen, sei Frankreich vielleicht in die Knie zu zwingen und müsse dann den von Deutschland gewünschten Frieden annehmen. Gelinge es aber nicht, Russland abzusprengen, so könne es dahin kommen, dass der Krieg eine für Deutschland ungünstige Wendung nehme. Aber selbst wenn dieses Extrem nicht eintrete, bleibe Deutschland nur die Chance, „daß der Krieg wegen allgemeiner gegenseitiger Erschöpfung ohne ausgesprochene militärische Niederlage der einen oder anderen Partei“ aufhöre10. Von dieser Haltung ging Bethmann Hollweg in der Folge nicht mehr ab. Fortan war sein Kriegsziel die Selbstbehauptung Deutschlands. Mit Äußerungen zu Kriegszielen hielt er sich sehr zurück und sprach nur allgemein davon, dass Garantien für die deutsche Sicherheit erlangt werden müssten. Wenige Tage nach dem Gespräch Falkenhayns mit Bethmann Hollweg wandte sich der dänische Reeder und Staatsrat Hans Niels Andersen (1852– 1937) im Auftrag des dänischen Königs Christian X. (1870–1947) an den Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie und Freund des Kaisers, Albert Ballin (1857–1918), mit der Frage, ob Wilhelm II. (1859–1941) damit einverstanden sei, dass König Christian beim Zaren und Georg V. um die Zustimmung dafür nachsuche, dem Kaiser die Friedensvermittlung anzubieten. 9  Bethmann Hollweg an Arthur Zimmermann, 19.11.1914, in: Egmont Zechlin, Friedensbemühungen und Revolutionierungsversuche. Deutsche Bemühungen zur Ausschaltung Rußlands im Ersten Weltkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2o 1961, 269–288, hier 285. 10  Ebd.



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Bethmann Hollweg wollte die Antwort bis zu einer weiteren Verbesserung der Lage im Osten hinausschieben und dann antworten lassen, das Reich sei stets bereit, „solche ihm zugehenden Friedensvorschläge zu prüfen, die ihm volle Entschädigung und Sicherung gegen erneuten Überfall durch drei Gegner gewährleisten“.11 Falkenhayn und der Kaiser waren dringend für eine Verständigung mit Russland. So ging eine positive Antwort nach Kopenhagen. In Petrograd, wie die russische Hauptstadt nun hieß, hörte Andersen bei seinem ersten Besuch dort im März 1915 von Nikolaus II., er werde seine Verbündeten niemals im Stich lassen und sei entschieden gegen einen Sonderfrieden. Andersen sprach auch mit dem britischen Botschafter, der versucht hatte, die Audienz beim Zaren zu verhindern, und wurde von ihm wegen seiner Bemühungen scharf abgefertigt. Sowohl der britische wie der französische Botschafter wurden Andersens wegen bei Sasonow beschwerdeführend vorstellig. Keinen anderen Bescheid als im März erhielt Andersen auch bei seinen auf Wunsch Bethmann Hollwegs im Juni und August wiederholten Reisen nach Petrograd. Japan erklärte dem Deutschen Reich am 24. August 1914 den Krieg und nahm kurz darauf das deutsche Pachtgebiet Kiautschou in der chinesischen Provinz Shantung in Besitz. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Jagow (1863–1935), meinte dazu, damit habe Japan seine Bündnispflicht gegenüber England erfüllt, eine Hilfeleistung in Europa sei nicht vereinbart. England könne kein Interesse an einer weiteren Stärkung Japans haben. Das biete dem Deutschen Reich, wenn es sich mit dem Verlust Kiautschous abfinde, die Möglichkeit, mit Japan anzuknüpfen. So wurde der deutsche Gesandte in Peking im November 1914 angewiesen, seinem japanischen Kollegen die Möglichkeit einer Verständigung anzudeuten. Entsprechend wurde der Generalkonsul in Batavia instruiert. Von einer Einigung mit Japan erhoffte Jagow sich dann die Vermittlung nach Russland des Friedens wegen. Von schwedischer Seite erfuhr der deutsche Gesandte in Stockholm im Dezember 1914, Japan sei an einer Verständigung mit Deutschland interessiert. Das war freilich, was nicht bekannt wurde, die persönliche Ansicht des japanischen Gesandten Uchida (1865–1936), keine amtliche Position. Das ganze Jahr 1915 über gab es lockere Kontakte über Mittelsmänner mit Uchida über die Neugestaltung der deutsch-japanischen Beziehungen und eine Vermittlung nach Russland. Erst im Frühjahr 1916 trafen der deutsche und der japanische Gesandte persönlich zusammen. Dabei erklärte Uchida, dass es einen Sonderfrieden nicht geben werde. Grey erfuhr von diesen Kontakten, er sagte dem japanischen Gesandten Anfang Mai unmissverständlich, dass es gemäß dem Londoner Vertrag keinen Sonderfrieden geben dürfe. Unter den augenblicklichen Bedingungen sei es nicht denkbar, dass Deutschland sich mit den 11  Ebd.,

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Friedensbedingungen der Entente einverstanden erkläre. Wenig später trug der deutsche Gesandte im Auftrag des Auswärtigen Amtes Uchida nochmals den dringenden Wunsch vor, „daß Japan […] uns unverweilt Frieden mit Rußland verschafft“.12 Informationen darüber gelangten in die Presse der Alliierten. Das führte in den Hauptstädten der Entente zu großer Erregung. So erhielt Uchida aus Tokio die Weisung, einen deutsch-japanischen Sonderfrieden für absolut unmöglich zu erklären. Nach der Märzrevolution in Russland 1917 versuchte das Auswärtige Amt neuerlich, auf dem Wege über Stockholm und Tokio zu einer deutsch-russischen Verständigung zu kommen. Dieser Ansatz blieb aber in Tokio ohne Resonanz. Im Ringen um die Haltung Italiens, das mit den Mittelmächten durch eine Defensivallianz verbunden war, wurde der frühere Reichskanzler Bülow (1849–1929) als Sonderbotschafter nach Rom entsandt. Ihm gegenüber erwog Bethmann Hollweg Anfang 1915, ob nicht die italienische Drohung mit einem Eingreifen Frankreich friedensgeneigt machen könne. Durch einen solchen Schritt werde Italien den Frieden herstellen helfen und so eine weltpolitische Rolle spielen. Auch in diesem Zusammenhang sprach er von einem ehrenvollen Frieden für Frankreich. Nach dem Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Entente am 23. Mai erklärte er im Reichstag, Deutschland müsse ausharren, bis es sich alle möglichen Garantien dafür geschaffen habe, dass keiner seiner Feinde je wieder einen Waffengang wagen werde. Wie die Garantien aussehen sollten, ließ er offen. In der Debatte über seine Durchhalterede wurde er danach auch nicht gefragt. Im Dezember interpellierte ihn die SPD, unter welchen Bedingungen er in Friedensverhandlungen eintreten wolle. In seiner Antwort am 9. Dezember kennzeichnete er die Geisteshaltung der feindlichen Völker als hasserfüllt und zog daraus den Schluss, dass jedes Friedensangebot von deutscher Seite eine Torheit wäre, die den Krieg verlängere, eine richtige Beobachtung, denn Grey wertete die deutschen Sondierungen als Zeichen der Schwäche. Sodann erklärte der Kanzler, das Deutsche Reich sei jederzeit diskussionsbereit, wenn ihm Friedensangebote gemacht würden, die seiner Würde und Sicherheit entsprächen. Polen und Belgien dürften nie wieder Aufmarschgebiete gegen Deutschland werden, und die Möglichkeiten für die politische, militärische und wirtschaftliche Entfaltung des Reiches müssten gesichert werden. Im April 1916 gab er vor dem Parlament eine neuerliche Erklärung zu den Kriegszielen ab, erstmals konkreter als bei früheren Äußerungen. Er kündigte für die Völker zwischen Deutschland und Russland die Selbständigkeit an, also die Loslösung vom Zarenreich, und sagte, dass Belgien, Luxemburg und Nordostfrankreich nur 12  Weisung Jagows an den Gesandten in Stockholm, 7.5.1915, in: Akira Hayashima, Die Illusion des Sonderfriedens. Deutsche Verständigungspolitik mit Japan im Ersten Weltkrieg, München 1982, 107.



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mit Garantien für die deutsche Sicherheit freigegeben würden. Er schloss mit der Feststellung, das Reich wünsche sich Nachbarn, „die mit uns und mit denen wir zusammenarbeiten können zu unserem gegenseitigen Nutzen“.13 Die Auffassung, dass von Deutschland ausgehende Friedensangebote von der Gegenseite als Zeichen von Schwäche gewertet würden, schloss die Annahme von Vermittlungsangeboten Neutraler nicht aus, wie die Zustimmung zu den Bemühungen Andersens zeigt. Im Januar 1916 sprach Bethmann Hollweg dem engen Mitarbeiter des amerikanischen Präsidenten Wilson (1856–1924), Edward House (1858–1938), bei dessen Besuch in Berlin seine Sympathie für einen von den Vereinigten Staaten ausgehenden Friedensschritt aus und hielt während des weiteren Jahres unbeirrt an dieser Idee fest. Im Mai trug er dem amerikanischen Botschafter in Berlin den Wunsch nach einer Initiative der USA nochmals vor, und am 18. Oktober übergab der deutsche Botschafter in Washington, Bernstorff (1862–1939), ein entsprechendes Memorandum an House. Gleichzeitig verhandelten im Großen Hauptquartier in Pleß Bethmann Hollweg und der österreich-ungarische Außenminister Burian (1852–1922) über die geplante Ausrufung des Königreichs Polen  – seit der großen Ostoffensive des Jahres 1915 befand sich Russisch-Polen in der Hand der Mittelmächte. Im Anschluss an diese Besprechung trug Burian dem Kanzler unter vier Augen die Idee eines Friedensschrittes der Mittelmächte vor. Darüber wurde in der Folge eingehend verhandelt. Bethmann Hollweg ging auf den Gedanken ein, weil seine Anregungen in Washington immer noch keine Frucht getragen hatten. Erfolgen sollte die Aktion zu einem Zeitpunkt, an dem sie nicht als Ausdruck von Schwäche ausgelegt werden konnte. Das war nach dem erfolgreichen Abschluss des Feldzugs gegen Rumänien mit der Besetzung Bukarests am 6. Dezember der Fall. Sechs Tage später, am 12.  Dezember, ließen das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und das Osmanische Reich den Kriegsgegnern durch Vermittlung neutraler Staaten gleichlautende Noten überreichen, in denen sie vorschlugen, „alsbald in Friedensverhandlungen einzutreten und dem Kampf ein Ende zu machen“. Über den Inhalt des angestrebten Friedensvertrags sagten sie nur, die „Vorschläge, die sie zu diesen Verhandlungen mitbringen und die darauf gerichtet sind, Dasein, Ehre und Entwicklungsfreiheit ihrer Völker zu fördern, bilden nach ihrer Überzeugung eine geeignete Grundlage für die Herstellung eines dauerhaften Friedens“.14 Am gleichen Tag machte Bethmann Hollweg das Friedensangebot der Mittelmächte im Reichstag der Öffentlichkeit bekannt. 13  Bethmann Hollweg im Reichstag, 5.4.1916, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, Bd. 3o7, 850 ff. 14  Bethmann Hollweg im Reichstag, 12.12.1916, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, Bd. 3o8, 2331 f., siehe dazu auch: Hans Fenske (Hrsg.), Unter Wilhelm II. 1890–1918. Darmstadt 1982, 451–454.

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Wenige Tage danach, am 16.  Dezember, bot Präsident Wilson den Kriegführenden seine guten Dienste für die Anbahnung des Friedens an. In den aufeinander abgestimmten Antwortnoten der Mittelmächte Ende Dezember hieß es, ein unmittelbarer Gedankenaustausch der Kriegsgegner sei wünschenswert, er komme hoffentlich bald zustande. Diese ausweichende Antwort ist damit zu erklären, dass die Alliierten bis dahin nicht auf das ihnen am 12. Dezember gemachte Angebot reagiert hatten. Die Regierungen Bel­ giens, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Japans, Montenegros, Portugals, Rumäniens, Russlands und Serbiens antworteten den Mittelmächten in einer mit dem 30. Dezember datierten und am 5. Januar 1917 übergebenen Note. Sie wiesen die in deren Friedensangebot enthaltene Feststellung, nur zur Verteidigung ihres Daseins zu den Waffen gegriffen zu haben, zurück und erklärten, eine derart unrichtige Behauptung genüge, „jeden Verhandlungsversuch zur Unfruchtbarkeit zu verurteilen“. Tatsächlich hätten das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn den Frieden gebrochen. Des Weiteren sagten sie, eine Anregung zur Eröffnung von Verhandlungen ohne Bedingungen sei kein Friedensangebot, sondern ein Kriegsmanöver, beruhend auf einer Verkennung der Verhältnisse in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Für die Vergangenheit übersehe die Note vom 12. Dezember die Schuld der Mittelmächte am Krieg, für die Gegenwart schätze sie die Stärke der Gegner falsch ein, und für die Zukunft weiche sie der Einsicht aus, dass sie Sühne, Wiedergutmachung und Bürgschaften geben müssten. Ziel der Note sei es, die öffentliche Meinung in den alliierten Staaten zu verwirren und der Entente schließlich einen deutschen Frieden aufzunötigen. Zum Schluss erklärten die Alliierten, sie lehnten es ab, sich mit einem unaufrichtigen Vorschlag zu befassen. Ein Frieden sei ohne eine Regelung über die Beseitigung der Ursachen unmöglich, „die so lange die Völker bedroht haben“. Damit war das Deutschland unterstellte Streben nach der Hegemonie über Europa gemeint. Nur eine Regelung komme in Frage, die wirksame Bürgschaften für die Sicherheit der Welt gebe15. Mit ihrer Antwort auf das Vermittlungsangebot Wilsons ließen sich die Alliierten ebenfalls Zeit, weil sie sich zunächst untereinander abstimmen mussten. Am 10. Januar 1917 teilten sie in ihrer gemeinsamen Note nach Washington mit, es sei derzeit unmöglich, einen Frieden zu erreichen, der ihnen die nötigen Wiedergutmachungen, Rückerstattungen und Bürgschaften sichere, und lehnten damit das amerikanische Vermittlungsangebot glatt ab. Sie zählten sodann ihre territorialen Forderungen auf: Wiederherstellung 15  Johannes Hohlfeld (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Ein Quellenwerk für die politische Bildung und staatsbürgerliche Erziehung, II. Band. Das Zeitalter Wilhelms II. 1890–1918, Berlin o. J. (1951), 338–340.



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Belgiens, Serbiens und Montenegros, Rückgabe der Gebiete, die früher den Alliierten gewaltsam entrissen wurden  – damit war Elsass-Lothringen gemeint – und „Befreiung der Italiener, Slawen, Rumänen, Tschechen und Slowaken von der Fremdherrschaft“ und „Befreiung der Bevölkerungen, welche den blutigen Tyranneien der Türken unterworfen sind, und die Entfernung des Osmanischen Reiches aus Europa“. Unumwunden wurde damit die Zerschlagung dieser beiden multiethnischen Staaten als Kriegsziel angegeben. Aufgenommen in den Forderungskatalog wurde auch das russische Verlangen, die zum Deutschen Reich und zur Donaumonarchie gehörenden Teile Polens der russischen Herrschaft zu unterstellen. Feierlich legten die Alliierten sodann Verwahrung dagegen ein, dass die Mittelmächte als die allein am Kriege Schuldigen gleichberechtigt an den kommenden Friedensverhandlungen teilnehmen durften16. Wilson ließ sich nicht entmutigen. In einer Rede vor dem Senat rief er am 22. Januar 1917 neuerlich zu einem Frieden ohne Sieg auf und legte die Ziele dar, die beim Friedensschluss erreicht werden müssten. Er verlangte einen Völkerbund zur Sicherung des Friedens, die Freiheit der Meere, die weltweite Demokratisierung und die Schaffung eines selbständigen Polen. Im Gespräch mit dem deutschen Botschafter bot er nochmals seine Vermittlung. an und meinte, er könne Verhandlungen schnell zustande bringen. Er bat um die Mitteilung der deutschen Vorstellungen vom Frieden und sagte dabei, er halte die Bedingungen der Alliierten für unmöglich, sie seien indessen nur Bluff. Die deutsche Stellungnahme wurde am 31. Januar übergeben. Das Reich schlug die Gewinnung einer Deutschland und Polen gegen Russland sichernden Grenze, koloniale Restitutionen auf dem Wege der Verständigung, das Festhalten an der deutsch-französischen Grenze unter Vorbehalt gewisser Korrekturen, finanzielle Kompensationen, die Wiederherstellung Belgiens unter bestimmten Garantien für die Sicherheit Deutschlands und einen wirtschaftlichen und finanziellen Ausgleich zwischen den Kriegführenden „auf der Grundlage des Austausches der beiderseits eroberten und im Friedensschluss zu restituierenden Gebiete“ vor. Des Weiteren verlangte es die Schadloshaltung der durch den Krieg geschädigten deutschen Unternehmungen und Privatpersonen sowie den Verzicht auf alle wirtschaftlichen Abmachungen, die ein Hindernis für die Wiederherstellung des normalen Handelsverkehrs nach dem Kriege sein konnten, weiterhin die Sicherstellung der Freiheit der Meere. Zudem wurde darauf verwiesen, dass die Friedensbedingungen der Verbündeten sich in ähnlichen Grenzen bewegten17. Das war eine 16  Schulthess’

Europäischer Geschichtskalender, 1917, Teil II, 377–379. Steglich, Bündnissicherung oder Verständigungsfrieden. Untersuchungen zu dem Friedensangebot der Mittelmächte am 12.  Dezember 1916, Göttingen 1958, 175 f. 17  Wolfgang

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maßvolle Position. Zudem war sie Verhandlungssache. Bethmann Hollweg konnte sich indessen keinem Zweifel darüber hingeben, dass die Entente sich auf einen derartigen Frieden niemals einlassen würde. Konkrete Bedeutung gewann das deutsche Programm nicht. Bernstorff musste gleichzeitig darauf hinweisen, dass das Reich im Februar wieder zum unbeschränkten U-BootKrieg übergehen werde, eine Entscheidung des Kronrates, die dem Reichskanzler gar nicht gefiel, der er sich aber beugte. Auf Drängen des Außenstaatssekretärs Lansing (1864–1928), der den Kriegseintritt der USA auf der Seite der Alliierten befürwortete, ließ Wilson nun die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich abbrechen. Als er den Kongress darüber am 3. Februar informierte, sagte er, dass er um die Ermächtigung zum Einsatz der Mittel bitten werde, die für den Schutz amerikanischer Seeleute und Bürger bei der Verfolgung ihrer friedlichen Unternehmungen zur See nötig seien, falls amerikanische Schiffe oder Menschenleben dem U-Boot-Krieg zum Opfer fielen. Einige Zeit später ließ er sich diese Ermächtigung erteilen. Am 3. Februar hatte er noch betont, dass er keinen Krieg mit Deutschland wolle, am 2. April aber empfahl er dem Kongress die Feststellung, dass das deutsche Vorgehen zur See tatsächlich Krieg sei, und erbat die Zustimmung des Kongresses dazu. Er erhielt sie mit großer Mehrheit. Am 6. April wurde die Kriegserklärung an Deutschland übermittelt. Nach dem Tode des Kaisers Franz Joseph (1830–1916) im November 1916 trat sein Großneffe Karl (1887–1922) die Herrschaft über das Habsburgerreich an. Anfang 1917 kam die österreichische Führung zu der Überzeugung, die Donaumonarchie werde den Krieg nicht über den Herbst des Jahres hinaus fortsetzen können. So suchte Kaiser Karl I. auf privaten Wegen nach Friedensmöglichkeiten. Durch Vermittlung seiner Schwiegermutter, der Herzogin von Bourbon-Parma, kam deren Sohn Prinz Sixtus (1886–1934), ein belgischer Offizier, nach Wien. Er nannte als Friedensbedingungen die Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich, die Wiederherstellung Belgiens, das Desinteresse der Donaumonarchie an den Meerengen und die Wiederherstellung Serbiens mit Zugang zum Meer. Die drei ersten Punkte nahm Karl I. an, den vierten nicht. Ihm schwebte ein großes Serbien unter einem österreichischen Erzherzog vor, das Bosnien, Herzegowina, Montenegro und Albanien einschließen sollte. Das war für die Alliierten unannehmbar. So musste Prinz Sixtus nach Gesprächen in Paris Ende März in Wien mitteilen, Frankreich beharre auf den von ihm formulierten vier Punkten und lehne Verhandlungen mit Deutschland ab, solange es nicht geschlagen sei. Auch andere Kontakte Karls auf der Suche nach Friedensmöglichkeiten – über die Schweiz – hatten keinen Erfolg. Das Bekanntwerden von Äußerungen des Kaisers gegenüber Prinz Sixtus im April 1918 machte die Sondierungen des Frühjahrs 1917 zu einer Affäre, in deren Verlauf der österreichische Außenminister Czernin (1872–1932) zurücktrat.



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In Berlin drangen Kaiser Karl und der von ihm berufene Außenminister Czernin auf neue Friedensvorschläge. Bethmann Hollweg bekräftigte seine Gesprächsbereitschaft, sagte aber, dass gegenwärtig der Krieg nur durch die Unterwerfung der Mittelmächte unter den Willen der Alliierten beendet werden könne. Man müsse die Entwicklung in Russland abwarten. Dort hatte es im März Arbeiterunruhen gegeben, die den Zaren zur Abdankung und dessen Bruder zum Verzicht auf die Nachfolge gebracht hatten. Die neue Regierung setzte den Krieg fort. Mitte April stellte der russische Rätekongress die Forderung nach einem allgemeinen Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen auf. In Deutschland nahm die Sozialdemokratie dies Verlangen sogleich auf. Die Spitzengremien der SPD verabschiedeten am 19. April eine Resolution. Darin sprachen sie die Entschlossenheit der Arbeiterklasse aus, das Reich als freies Staatswesen aus dem Krieg hervorgehen zu sehen, und bekannten sich vorbehaltlos zu einem Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen und zu dem Verzicht auf jede Eroberungspolitik. Der Weltfrieden müsse durch einen Völkerbund und durch eine obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit gesichert werden. Auch der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger (1875–1921), der für die Reichsleitung wiederholt in diskreter Mission im Ausland war, machte sich die Formel zu eigen. Vor allem auf sein Betreiben ging die Friedensresolution zurück, die der Reichstag am 19. Juli verabschiedete. Mit deutlicher Mehrheit sprach er sich für einen Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker aus. Damit seien erzwungene Gebietsabtretungen und finanzielle Vergewaltigungen unvereinbar. Nur ein Wirtschaftsfrieden mache ein freundliches Zusammenleben der Völker möglich. Die Schaffung internationaler Rechtsordnungen werde der Reichstag tatkräftig fördern. Kein anderes Parlament legte während des Krieges ein solches Bekenntnis zum Frieden ab. Die Oberste Heeresleitung war gegen die Resolution. Bethmann Hollweg hielt sie zu diesem Zeitpunkt für unpassend und verlor deshalb das Vertrauen der für die Resolution eintretenden Parteien. Am 13. Juli trat er zurück. Der neue Reichskanzler Georg Michaelis (1857–1936) sagte in der Debatte über die Resolution Deutschland wolle einen ehrenvollen Frieden. Auf dem Wege der Verständigung wolle es eine Garantie seiner Lebensbedingungen in Europa und Übersee erreichen. Er wandte sich gegen jede wirtschaftliche Absperrung und sprach sich für die dauernde Versöhnung der Völker aus. Mit dieser Erklärung blieb er ganz auf der Linie Bethmann Hollwegs. Lloyd George, seit Mitte Dezember 1916 Premierminister, kommentierte das als Bekenntnis zum Kriege und zum Streben nach einem falschen Frieden. Verständigung war ihm ein Wort, mit dem er gar nichts anfangen konnte. Am 1. August forderte Papst Benedikt XV. (1854–1922) die Kriegführenden zu Friedensverhandlungen auf. Er trat für Abrüstung, eine obligatorische

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Schiedsgerichtsbarkeit für alle zwischenstaatlichen Streitfälle, die Freiheit der Meere, den wechselseitigen Verzicht auf Kriegsentschädigungen und die Regelung aller territorialen Fragen in versöhnlichem Geist ein. Die moralische Macht müsse Vorrang vor der Gewalt der Waffen haben. Nicht gesagt wurde dabei selbstverständlich, dass Benedikt XV. diesen Aufruf Ende Juni durch den Nuntius in München, Pacelli (1876–1958), mit der Reichsleitung abgestimmt hatte. Die Alliierten lehnten den Vorschlag des Papstes ab. Die amtliche deutsche Antwort am 13. September brachte den lebhaften Wunsch zum Ausdruck, dass der päpstlichen Initiative Erfolg beschieden sei. Diese Erklärung wurde sofort an die Presse gegeben. Damit war der künftige Kurs der Reichsregierung öffentlich festgelegt. Aus innenpolitischen Gründen schied Michaelis am 1. November aus dem Amt. An seine Stelle trat der bayerische Ministerpräsident Georg Graf von Hertling (1843–1919), der in der Friedensfrage nicht anders dachte als seine beiden Vorgänger. In Russland kamen die Bolschewisten am 7. November durch einen Aufstand an die Macht. Lenin (1870–1924), der Vorsitzende des nun herrschenden Rates der Volkskommissare, erklärte am 9. November vor dem Rätekongress, seine Regierung werde allen Völkern der kriegführenden Staaten den Frieden auf der Grundlage der Sowjetbedingungen – keine Annexionen, keine Kontributionen, Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker – anbieten. Nach kurzen Verhandlungen wurde am 4. Dezember zwischen den Mittelmächten und Russland ein Waffenstillstand zum Zwecke der „Herbeiführung eines dauerhaften und für alle Teile ehrenvollen Friedens“ vereinbart18. Seit dem 22. Dezember verhandelten die bisherigen Gegner in Brest-Litowsk über einen Präliminarfrieden. In der Sitzung am 25. Dezember nannte Czernin die russischen Vorschläge eine diskutable Grundlage und verlangte, dass sich alle Regierungen der kriegführenden Staaten auf die Beachtung derartiger alle Völker bindenden Bedingungen verpflichten müssten, sollten die russischen Prinzipien mit Leben erfüllt werden. Man beschloss, den Alliierten eine Frist von zehn Tagen für eine entsprechende Äußerung zu setzen. Eine Reaktion darauf erfolgte nicht. Ebenso ignorierten die Westmächte die Einladung des sowjetischen Außenkommissars, sich an den Friedensverhandlungen zu beteiligen. Ein auf Initiative Czernins zustande gekommenes Gespräch eines österreichischen Diplomaten mit dem südafrikanischen Politiker Smuts (1870– 1950), der dem britischen imperialen Kriegskabinett angehörte, in Bern Ende Dezember erbrachte nichts. Immerhin wurde in diesen Tagen in London darüber diskutiert, ob man Konzessionen machen sollte. Man beschloss, an der bisherigen harten Linie festzuhalten. 18  Von Brest-Litowsk bis Rapallo. Dokumentensammlung Bd.I, 1917–1918. Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des Rapallo-Vertrags, Berlin 1967, 112–117, Zitat 112.



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Die Bemühungen der Mittelmächte, auf diskreten Wegen Kontakte zum Westen zu knüpfen, dauerten an. Im Reichstag äußerte sich Hertling grundsätzlich positiv zu Wilsons Vierzehn Punkten. Über einen amerikanischen Unternehmer in Zürich wurde nach Washington mitgeteilt, die deutsche Führung stimme Wilsons Vorstellungen weitgehend zu, sie mache nur Vorbehalte hinsichtlich der territorialen Integrität Deutschlands. Auch wünsche sie den Verzicht auf jeden Wirtschaftsboykott. Wilson nahm das nicht zur Kenntnis. Am 3. März wurde der Friedensvertrag zwischen den Mittelmächten und Russland unterzeichnet. Die Beendigung des Krieges im Osten ermöglichte es der Obersten Heeresleitung, Truppen in den Westen zu verlegen und dort am 21. März eine Großoffensive zu beginnen, die insbesondere britische Einheiten treffen sollte, um London gesprächsbereit zu machen. Hertling und Außenstaatssekretär Kühlmann (1873–1948) waren damit einverstanden. Die Offensive verlief viele Wochen sehr erfolgreich, kam aber Anfang Juni zum Stehen. Als Kühlmann Ende dieses Monats im Reichstag die Kriegführenden zu einem vertrauensvollen Gedankenaustausch über die Friedensfrage aufrief und jedes deutsche Weltmachtstreben verneinte, führte das bei den Parteien der Rechten zu einer starken Verärgerung. So wurde Kühlmann Anfang Juli durch Paul von Hintze (1864–1941) ersetzt. Hertling betonte dabei, dass das keine Änderung des außenpolitischen Kurses bedeute. Seit Anfang Juli wurden die deutschen Truppen von der alliierten Streitmacht allmählich zurückgedrängt. Ein Kronrat gestand sich im August ein, dass nur noch eine strategische Defensive möglich sei, um den Kriegswillen der Gegner allmählich zu lähmen. Im geeigneten Moment sollte eine neutrale Friedensvermittlung gesucht werden. Als die Alliierten Ende September die Front in Bulgarien durchbrachen und dem Lande eine bedingungslose Kapitulation auferlegten, hielt die Oberste Heeresleitung es zwar für möglich, den Kampf noch einige Monate fortzusetzen, empfahl aber, den amerikanische Präsidenten um die Vermittlung eines Waffenstillstandes zu bitten. Auch hielt sie es für geboten, der Regierung eine breitere Grundlage zu geben, verwandte sich also für die Parlamentarisierung, wie die Parteien der Linken und der Mitte es wollten. Ein Kronrat beschloss am 28. September entsprechend. Hertling, der Parlamentarisierung abgeneigt, trat zurück. Neuer Reichskanzler wurde Prinz Max von Baden (1867–1929). Er besaß durch seine Tätigkeit in der Gefangenenfürsorge Ansehen auch im Ausland, hatte sich öffentlich für einen Völkerbund ausgesprochen und war innenpolitisch reformbereit. Noch am Tage seiner Ernennung, am späten Abend des 3. Oktober, bat er Wilson über die Schweiz um die Herstellung des Friedens auf der Grundlage der Vierzehn Punkte und zur Vermeidung weiteren Blutvergießens um die sofortige Herbeiführung eines Waffenstillstands. Die Donaumonarchie schloss sich dem Schritt am 4. Oktober an, das Osmanische Reich etwas später.

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Wilson verzögerte die Erfüllung der Bitte um den Waffenstillstand um mehr als fünf Wochen, weil die Alliierten zunächst noch ihre militärische Position verbessern wollten. Diese Verzögerung kostete noch etwa 100.000 Soldaten das Leben. In dieser Zeit zerfiel die Donaumonarchie und in Deutschland kam es zur Revolution. Erst am 5. November teilte Außenstaatssekretär Lansing mit, die Alliierten seien zu einem Waffenstillstand bereit, der ihnen „die unbedingte Macht sichert, die Einzelheiten des von der deutschen Regierung angenommenen Friedens zu erzwingen“.19 Waffenstillstandsverhandlungen gab es nicht. Die deutsche Delegation musste am frühen Morgen des 11. November eine faktisch bedingungslose Kapitulation unterzeichnen. Die Alliierten hielten an der Gesprächsverweigerung gegenüber den Gegnern fest, die sie den ganzen Krieg über gezeigt hatten. Das taten sie auch bei der am 18. Januar 1919 förmlich eröffneten Friedenskonferenz in Paris. Darüber ist an dieser Stelle aber nicht mehr zu reden.

19  Klaus Schwabe (Hrsg.), Quellen zum Friedensschluß von Versailles, Darmstadt 1997, 67 f.; Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Deutsche Verfassungsdokumente 1900–1918, 3. neubearb. Aufl, Stuttgart 1990, 289.

Der Krieg der Ideen und Bilder Von Peter Hoeres, Würzburg Gab es, wie Christopher Clark in seinem bahnbrechenden Werk über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gezeigt hat1, im Juli 1914 mit der serbischen Aggressionspolitik und der russisch-französischen Politik des offensiven Risikos tatsächlich durchaus sachliche Ursachen für das „Einkreisungssyndrom“ (Gerd Krumeich) in Deutschland, so trat mit Kriegsbeginn die Wahrnehmung einer intellektuellen Einkreisung der Deutschen hinzu. Auch diese hatte, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, durchaus sachliche Gründe. Hinsichtlich der intellektuellen Auseinandersetzung brachte das Zentenarium des Kriegsausbruches nur wenig neue Erkenntnisse. Einzig Jürgen und Wolfgang von Ungern-Sternbergs grundlegende Studie zum Aufruf „An die Kulturwelt!“ brachte mit der Neupublikation ihrer profunden Analyse durch den ergänzenden Beitrag von Trude Maurer zu den russischen Intellektuellen eine weitere Differenzierung2. Ansonsten wurde in den meisten Beiträgen nach wie vor nicht die Chronologie und der daraus resultierende defensive Charakter des deutschen Kulturkrieges erkannt, der vor allem auf die britischen und französischen, dann auch amerikanischen und russischen Anschuldigungen antwortete3. I. Tatsächlich hatte sich der heftige Kulturkrieg an den britischen und französischen intellektuellen Kriegserklärungen entzündet, die unmittelbar nach Kriegsbeginn, noch vor Bekanntwerden der angeblichen deutschen „Atrocities“ in Belgien bzw. tatsächlichen Kriegsverbrechen dort abgegeben wur1  Vgl. Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München 2013. 2  Vgl. Jürgen von Ungern-Sternberg / Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, 2., erweiterte Auflage mit einem Beitrag von Trude Maurer, Frankfurt / M. u. a. 2013. 3  Dieses Versäumnis ist besonders eklatant zu beobachten bei Ernst Piper, Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Berlin u. a. 2013.

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den4. So eröffnete am 8. August 1914 ausgerechnet der mit der deutschen Geisteswelt verbundene Henri Bergson (1859–1941) in seiner Eigenschaft als Präsident der Académie des Sciences Morales et Politiques gleichsam offiziell die geistige Kriegführung gegen Deutschland, indem er das alte Stereotyp der Barbaren hervorholte, gegen die nun die Zivilisation stünde. „La lutte engagée contre l’Allemagne est la lutte même de la civilisation contre la barbarie.“5 Ähnlich aggressive Töne in Frankreich und Großbritannien folgten zuhauf. Die deutschen Gelehrten, die sich bis dahin allgemeiner Wertschätzung erfreuten und sich mit einigem Recht an der Weltspitze sehen konnten, reagierten darauf bestürzt – und einigermaßen hilflos. So versuchte der zweite deutsche Literaturnobelpreisträger, der Philosoph Rudolf Eucken (1846–1926), den Barbarenvorwurf an die Adresse der Feinde zurückzugeben. Am 20. August stellte er in der Illustrirten Zeitung den deutschen Kampf gegen den „asiatischen Despotismus“ in die Kontinuität europäischer Freiheitskämpfe, wie sie die Griechen gegen die Perser und das europäische Mittelalter gegen die Hunnen und Mongolen ausgefochten hätten. So kämpften die Deutschen für Kultur und Recht gegen Barbarei und „wilde Eroberungsgier“6. Da Frankreich aus Revanchegedanken und England „mit der Unmoral eines Krämervolks“ mit kühler Berechnung an die Seite der Barbarei in den Krieg eingetreten seien, waren die Rollen für Eucken klar verteilt: Den Deutschen als Volk der Innerlichkeit und des Gemüts sind die kulturellen Güter anvertraut, daher „kämpfen wir nicht allein für uns selbst, wir kämpfen zugleich für die Zukunft des Menschengeschlechts“7. Ebenso entrüstet wies der Leipziger Völkerpsychologe Wilhelm Wundt (1832–1920), Eucken an Prominenz kaum nachstehend, Bergsons BarbarenVorwurf an die deutsche Adresse mit einem Ad-hominem-Argument zurück: „Was verschlägt es uns, wenn Herr Henri Bergson, den in Deutschland kein ernst zu nehmender Philosoph jemals ernst genommen hat, uns Barbaren schilt? Wissen wir doch, daß dieser Philosoph seine Gedanken, soweit sie überhaupt etwas taugen, uns Barbaren gestohlen hat, um sie dann nachträglich mit dem Flittergold seiner Phrasen aufgeputzt als eigene Erfindung in die Welt zu schicken.“8

4  Zur Kritik an der viel zitierten Studie von Horne / Kramer siehe Peter Hoeres, Rezension von: John Horne / Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Aus dem Englischen von Udo Rennert, Hamburg 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7 / 8 [15.07.2004], URL: http: /  / www.sehepunkte.de / 2004 / 07 / 6108.html (13.4.2018). 5  Zit. nach Ungern-Sternberg / Ungern-Sternberg, Aufruf (Anm. 2), 62. 6  Rudolf Eucken, Unsere gerechte Sache, in: Illustrirte Zeitung Nr. 3712, 20.8.1914, 314–316, hier 314. 7  Zitate ebd., 316.



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Wundt verglich die öffentlichen Reaktionen in den kriegführenden Staaten und machte eine ähnliche Haltung der Intellektuellen aus, wobei die deutschen Gelehrten sich nicht zu Beschimpfungen à la Bergson hätten hinreißen lassen. Und nur in Deutschland habe sich eine so starke Einigkeit gezeigt, wie sie am 4. August 1914 im Reichstag von ganz rechts bis ganz links zum Ausdruck gebracht worden sei. Emotional setzte sich auch der Soziologe Georg Simmel (1858–1918) mit Bergson und dessen Vorwurf eines „deutschen Zynismus“ auseinander9. Grund für Simmels Betroffenheit war seine Sympathie, die er für Bergsons Schaffen hegte. Bergson galt Simmel nicht nur als Schopenhauer-Adept, sondern auch als wichtiger französischer Rezipient der deutschen Philosophie. So hatte sich Bergson laut Georg Simmel nicht nur mit Kant, „wenngleich unter wunderlichen Mißverständnissen“, mit Wilhelm Dilthey und dem Neukantianer Herrmann Cohen beschäftigt, sondern sich auch für die Übersetzung der eigenen Arbeiten eingesetzt. Aus seiner Bewunderung machte Simmel auch in seiner Polemik gegen Bergson keinen Hehl und rief ihn zum „stärksten Intellekt der lebenden Philo­ sophengeneration“10 aus. Im ersten Kriegswinter lautete eine von Simmels Vorlesungen noch „Philosophie von Fichte bis Bergson“11. Umso größer die Verärgerung über Bergsons Vorwurf, der die „hoffnungslose Unfähigkeit des Franzosen, deutsches Wesen zu begreifen“12 zeige. Simmel meinte, dass gerade der Krieg jeden Zynismus in Deutschland habe verschwinden lassen. Ähnlich urteilte Simmel in einem Brief an Marianne Weber (1870–1954) aus dem August 1914 über den Militarismus, dessen Selbsttäuschungscharakter nun verschwunden sei13. Simmel wies Bergsons Vorwurf nicht rundherum zurück, er erkannte die Berechtigung für die Vorkriegszeit an. Nun sei Deutschland jedoch gewaltig erschüttert und die „Form der deutschen Existenz in den Schmelztiegel geworfen“ worden. Simmel skizziert eine Katharsis, die der Krieg für das deutsche Volk bedeute:

8  Wilhelm Wundt, England und der Krieg, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 9 (1914 / 15), 121–128, Zitat 125. 9  Georg Simmel, Bergson und der deutsche ‚Zynismus‘, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 9 (1914 / 15), 197–200. Zu Simmels Kriegsphilosophie vgl. Jean-Louis Vieillard-Baron, Simmel et la guerre de 1914– 1918. Théorie et analyse du conflit, in: Cahiers de Philosophie Politique et Juridique 10 (1986), 217–223; Patrick Watier, The War Writings of Georg Simmel, in: Theory, Culture & Society 8 (1991), 219–233. 10  Simmel, Bergson (Anm. 9), 197. 11  Vgl. Dt. Universitätskalender 1914 / 15, begründet von F. Ascherson, 86. Ausgabe, Leipzig 1914, 282. 12  Simmel, Bergson (Anm. 9), 198. 13  Zit. bei Watier, War Writings (Anm. 9), 231.

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„Verschwunden ist damit der Mammonismus, der uns so oft verzweifeln machte, jene Anbetung aller äußeren, in Geld ausdrückbaren Erfolge; verschwunden die Selbstsucht der einzelnen und der Klasse, für die der Gedanke des Ganzen zur Chimäre wurde; verschwunden das ästhetisierende Genießertum, das von den Furchtbarkeiten und Gefahren der Existenz einfach wegsah.“14 Für eine weitere Eskalation im Streit der Intellektuellen sorgte ein Manifest bedeutender Schriftsteller und Scholars aus Großbritannien. Am 18. September druckte die Times eine Erklärung von 53 britischen Schriftstellern, die vom Chef des britischen War Propaganda Bureau Charles Masterman initiiert worden war15. Das viel beachtete Manifest, das in den USA durch Nachdruck der New York Times verbreitet wurde, unterstützte die Entscheidung zum Kriegseintritt Großbritanniens mit Verweis auf den deutschen Einmarsch in Belgien und die Bedrohung Frankreichs. Ursächlich sei ein deutsches Überlegenheits- und Machtstreben, „inculcated upon the present generation of Germans by many celebrated historians and teachers“. Auch ein Verweis auf die „iron military bureaucracy of Prussia“ bei gleichzeitiger Ehrerbietung für die germanische Kultur fehlte nicht16. Hier schlug sich die Zwei-DeutschlandTheorie nieder, also die Trennung von Weimar und Potsdam, eines kulturellen von einem militaristischen Deutschland oder etwas simpler, zwischen der deutschen Herrscherklasse der Hohenzollern und Junker und dem deutschen Volk. Die Zwei-Deutschland-Theorie, ursprünglich in Frankreich beheimatet, wurde schon vor 1914 in Großbritannien und seit dem Krieg in verstärktem Maße populär, so wurde sie in der zweiten Variante schon zwei Tage nach der britischen Kriegserklärung von dem liberalen Abgeordneten Josiah Wedgwood (1872–1943) in einer Unterhausrede verwandt17. Die nun folgende, auf diese Vorwürfe und als spalterisch empfundenen Unterscheidungen reagierende, Solidarisierung der Spitzen der deutschen Gelehrten und Schriftsteller mit ihrem Staat und ihrem Heer speiste sich, was bis in die neuere Forschung hinein vielfach übersehen wurde, aus der Tradition des Kulturliberalismus18. Standen die liberalen Dichter und Professoren 14  Beide

Zitate bei Simmel, Bergson (Anm. 9), 199. Gary S. Messinger, British Propaganda and the State in the First World War, Manchester u. a. 1992, 36. 16  Britain’s Destiny and Duty. Declaration by Authors. A Righteous War (18. September 1914), in: Themenportal Europäische Geschichte (2008), URL: http: /  / www. europa.clio-online.de / 2008 / Article=316 (13.4.2018). 17  Vgl. Peter Pulzer, Der deutsche Michel in John Bulls Spiegel. Das britische Deutschlandbild im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs (1998), 3–19, hier 15 f. 18  Das haben überzeugend Ungern-Sterberg / Ungern-Sternberg, Aufruf (Anm. 2), herausgearbeitet, denen ich hier folge. 15  Vgl.



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in den Goethe-Bünden vor dem Krieg in Opposition zum offiziellen Kulturkonservativismus und traten für die freie Entfaltung etwa des Naturalismus im Inneren ein, so sahen diese Liberalen mit Kriegsbeginn die deutsche Kultur von außen bedroht. In der Tradition intellektueller Proteste gegen Kaiser und Reich arbeiteten nach den vorangegangenen Aufrufen die Schriftsteller Ludwig Fulda (1862–1939) und Hermann Sudermann (1857–1928) nun an einem besonders wirkmächtigen intellektuellen Protest gegen die ausländischen Anschuldigungen, einer beachtenswerten kollektiven Reaktion. Diese fiel in der Tat eindrucksvoll aus, und zwar bis weit in die Nachkriegszeit hinein, im kollektiven Gedächtnis entfaltet sie teilweise bis heute ihre Wirkung, allerdings ganz anders als beabsichtigt. Die eigentliche Initiative kam vom Chef des Nachrichtenbureaus des Reichsmarineamtes, Kapitän zur See Heinrich Löhlein (1871–1960). Beim Marineamt hatte man schon bei der Flottenrüstung die Bedeutung publizistischer Agitation erkannt und überaus erfolgreich genutzt und war in diesem Sinne weitaus moderner als Stellen des Heeres oder der Reichsleitung, welche die Organisation und Steuerung von Propaganda zunächst verschliefen. Löhlein sprach nun Fulda und den freisinnigen Berliner Bürgermeister Georg Reicke (1863–1923) mit dem Ziel einer Mobilisierung von Dichtern, Künstlern und Gelehrten an. Ein Entwurf Fuldas wurde ohne Löhlein, der das Vorhaben weiterhin organisatorisch und finanziell unterstützte, und unter Hinzuziehung des Berliner Philosophen Alois Riehl (1844–1924) redaktionell überarbeitet. Der daraus hervorgehende Aufruf „An die Kulturwelt!“ wurde in zehn Sprachen übersetzt an tausende Stellen im Ausland versandt und am 4. Oktober 1914 in deutschen Zeitungen veröffentlicht. 93 weltweit bekannte Altphilologen, Historiker, Maler, Nationalökonomen, Komponisten, Schriftsteller, Theologen und Philosophen, mehr als ursprünglich angestrebt, hatten unterzeichnet, darunter Lujo Brentano (1844–1931), Adolf von Harnack (1851–1930), Ernst Haeckel (1834–1919), Gerhart Hauptmann (1862– 1946), Engelbert Humperdinck (1854–1921), Karl Lamprecht (1856–1915), Max Liebermann (1847–1939), Friedrich Meinecke (1862–1954), Gustav Schmoller (1838–1917), Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931), Wilhelm Wundt und Wilhelm Windelband (1848–1915). Teilweise hatten die Unterzeichner keine Kenntnis des Wortlauts des Aufrufes besessen. Eine Gegenerklärung von Albert Einstein konnte lediglich sechs Unterschriften vorweise19. Mit einem sechsfachen, an Luther erinnernden „Es ist nicht wahr“, das angesichts der unklaren Beweislage als besonders empörend aufgenommen 19  Vgl. Bernhard vom Brocke, Wissenschaft versus Militarismus. Nicolai, Einstein und die „Biologie des Krieges“, in: Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient 10 (1984), 405–508.

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wurde, wies der Aufruf „An die Kulturwelt!“ alle ausländischen Anschuldigungen wie Verletzung des Völkerrechtes, brutales Vorgehen gegen die belgische Zivilbevölkerung und das Wüten in Löwen entschieden zurück und solidarisierte sich vorbehaltlos mit dem früher so oft kritisierten Kaiser („Schirmherr des Weltfriedens“), dem deutschen Militär und seiner Kriegführung. Der britischen Trennung von deutscher Kultur und deutschem Militarismus begegnete der Aufruf mit der Identifikation „Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins“, der Militarismusvorwurf wurde positiv gewendet übernommen: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt.“ Der Aufruf gipfelt in der beschwörenden Formel: „Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.“20 Die Reaktion auf den Aufruf war ein volles Fiasko. Entsetzen herrschte allerorten im Ausland, dass sich ausgerechnet die angesehensten deutschen Schriftsteller und Wissenschaftler ohne Prüfung zu ihrem apodiktischen „Es ist nicht wahr“ und zu einer Identifizierung mit dem Militarismus hatten hinreißen lassen. Kritik gab es auch in Deutschland an dem wieder einmal ungeschickten und gescheiterten Versuch, das Ausland für sich einzunehmen. Die Briten reagierten wiederum in einer von zahlreichen Hochschullehrern unterzeichneten Stellungnahme vom 21. Oktober, in welcher sie Deutschland zum Menschheitsfeind stilisierten: „Wir bedauern tief, daß unter dem verderblichen Einfluß eines Militärsystems und seiner gesetzwidrigen Eroberungsträume, die, welche wir einst verehrten, jetzt entlarvt dastehen als der gemeinsame Feind Europas und aller Völker, welche das internationale Recht achten.“21 In Russland war im Vergleich zum Westen eine verzögerte Reaktion zu beobachten und sie geschah offenbar auch auf Druck aus Frankreich22. Russische Gelehrte fühlten sich als Schüler der Deutschen, viele hatten in Deutschland, besonders in Göttingen, studiert. In der Revolution von 1905 wurde die deutsche Universität als Vorbild gesehen. Über den Aufruf „An die Kulturwelt!“ wurde zwar schon am 9. Oktober 1914 in der liberalen Zeitung Russkie Vedomosti berichtet. Erst im Januar 1915 erschien jedoch ein Gegenaufruf der Universität Petrograd, unterzeichnet von 350 russischen Vertretern 20  Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ (1914), in: Themenportal Europäische Geschichte (2006), URL: http: /  / www.europa.clio-online.de / 2006 / Article=63 (13.4. 2018). 21  Hermann Kellermann (Hrsg.), Der Krieg der Geister. Dresden 1915, 36–44, hier 40. 22  Vgl. für das Folgende den luziden Aufsatz von Trude Maurer, Der Krieg der Professoren. Russische Antworten auf den deutschen Aufruf An die Kulturwelt!, in: Ungern-Sternberg / Ungern-Sternberg, Aufruf (Anm. 2), 163–201.



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der Wissenschaft, dem ähnlich gelagerte Manifeste anderer Universitäten folgten. Die russischen Gelehrten debattierten zunächst, ob die deutschen Unterzeichner des Oktoberaufrufes nicht Zwang ausgesetzt waren. Es herrschte schieres Entsetzen über die deutsche Anklage der blutrünstigen „russischen Horden“. Die Deutschen galten nun nicht nur als staatsgläubig, sondern vielfach als „Barbaren des 20. Jahrhunderts“, wie der Einsatz von Giftgas und die Versenkung der „Lusitania“ gezeigt hätten. Selbst Pjotr Kropotkin (1842–1921) und Georgi Plechanov (1856–1918) stimmen dem gemeinsamen Ziel zu, den deutschen Militarismus zu zerschlagen. Die Deutschen wurden nun so wie die Russen in Deutschland zu Anfang des 19. Jahrhunderts gesehen: als stumpf, gehorsam, unterordnend. Gleichwohl versuchte man in Russland, die intellektuellen Bindungen zu den Deutschen nicht ganz zu kappen. Auch bei den Neutralen rief der Kulturwelt-Aufruf der 93 deutschen Intellektuellen mindestens Skepsis hervor. Selbst Deutschland wohlgesinnte Gelehrte, etwa in Holland, der Schweiz oder den USA, rügten die Apologetik, was wiederum in deutschen Zeitungen seinen Widerhall fand. So monierte Karl Barth, dass die Deutschen vor Publikation entsprechender ausländischer Aktenpublikationen ein endgültiges Urteil abgegeben hätten. Der Präsident des Carnegie Instituts in Pittsburgh, Samuel Harden Church, schrieb an einen der Unterzeichner, den Berliner Bildhauer Fritz Schaper (1841–1919), einen Brief, der dann von der Times als Broschüre verbreitet wurde. Wie viele Amerikaner äußerte er seine Ablehnung der Monarchien und machte Österreich und Deutschland zu den Alleinschuldigen des Krieges. Auch er bemühte die oft angeführte unheilige Trias (der so unterschiedlichen Autoren) Nietzsche, Treitschke und General von Bernhardi, die Kant verdrängt hätten. Absurderweise hielt er dem deutschen Vorgehen in Belgien das angeblich edlere Vorgehen der Amerikaner in Mexiko im April desselben Jahres entgegen, was der deutschen Härte in Belgien und Nordfrankreich mindestens glich. Hier wurde also einfach die deutsche Haltung gespiegelt23. Unglücklich wirkte sich in der englischsprachigen Welt aus, dass in der ersten englischen Fassung des deutschen Aufrufes unrichtigerweise schlicht die Verletzung der belgischen Neutralität anstatt wie im Original die „freventliche“ Verletzung durch Deutschland bestritten wurde. Das machte den Aufruf noch unglaubwürdiger. Der Aufruf ging auch nicht auf die möglichen, bedrohlich wirkenden Analogien zwischen Belgien und den neutralen Staaten ein, ebenso wenig auf britische Völkerrechtsverletzungen wie die Blockade, sondern war ausschließlich reaktiv, an den Vorwürfen aus dem Ausland orientiert24. Nur wenige Intellektuelle aus den neutralen Staaten wie Rudolf 23  Vgl. 24  Vgl.

Ungern-Sternberg / Ungern-Sternberg, Aufruf (Anm. 2), 105. ebd., 106 f.

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Kjellen (1864–1922) oder Sven Hedin (1865–1952) schlugen sich auf die deutsche Seite. Hedin verglich das deutsche Vorgehen in Belgien mit dem „Russeneinfall“ in Ostpreußen, wo die Verwüstungen „unvergleichlich schwerer sind als in Belgien. […] In Ostpreußen haben die Russen willkürlich alles niedergebrannt und verwüstet ohne Unterschied und ohne militärische Gründe, besonders während ihres Rückzuges aus dem Lande, aber auch vorher.“25 II. Eine elaboriertere, strukturell aber doch ähnliche – nicht auf die eigenen Bedingungen der Möglichkeit der (politischen) Erkenntnis reflektierende  – Diskussion, als sie der Kampf der Manifeste darstellte, führten, wie oben schon angedeutet, die Soziologen und Philosophen der Hauptkombattantenstaaten gegen- und miteinander. Eine transnationale Gemengelage ergab sich daraus, dass große Bereiche der angelsächsischen Philosophie stark unter dem Einfluss des Deutschen Idealismus standen, den man nicht nur in Oxford, sondern auch in anderen Teilen des Königreiches, in den Dominions und Nordamerika undogmatisch rezipiert und amalgamiert hatte26. Die Gegner des Idealismus politisierten nun die wissenschaftliche Auseinandersetzung und machten – analog zur öffentlichen Inkriminierung Nietzsches, Treitschkes und Bernhardis – einzelne Denker oder Denkströmungen der Vergangenheit für den gegenwärtigen Krieg und die entsprechende Kriegführung verantwortlich. So führte der Soziologe L. T. Hobhouse (1864–1929) gar die deutschen Luftangriffe auf Hegel zurück: „In the bombing of London I had just witnessed the visible and tangible outcome of a false and wicked doctrine, the foundations of which lay, as I believe, in the book before me.“27 Schon im Titel seiner Schrift The Metaphysical Theory of the State wird die Polemik gegen seinen Landsmann Bernard Bosanquet (1848–1923) und 25  Zit. nach Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013, 125. 26  Peter Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004, 64–80. Zum British Idealism in Australia, Neuseeland, Nordamerika, Südafrika, Indien und Ostasien siehe die Artikel von Mark Weblin, Leslie Armour und William Sweet, in: William Sweet (Hrsg.), Biographical Encyclopedia of British Idealism, London 2010, 8–42. 27  Gemeint ist Hegels Phänomenologie des Geistes. L. T. Hobhouse, The Metaphysical Theory of the State. A Criticism, London 1921 (Repr. von 1918), 6. Die Zitate im Folgenden stammen aus der deutschen Übersetzung: Die Metaphysische Staats­ theorie. Eine Kritik von L. T. Hobhouse, übersetzt von Grete Beutin-Dubislav, mit einem Vorwort von Fritz Stier-Somlo, Leipzig 1924 (englisch zuerst London 1918). Dort ist die hier zitierte Dedication mit der Polemik gegen Hegel durch ein Vorwort des Juristen und Politikwissenschaftler Fritz Stier-Somlo ersetzt worden.



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dessen Hauptwerk The philosophical Theory of the State (1899) deutlich. Die Kritik zielte also auch auf die britischen Adepten des deutschen Idealisten, welche zur Zeit des Ersten Weltkrieges so in die Defensive gerieten28. Bei seinen Ausführungen benutzt Hobhouse ein typisch aufklärerisches Vokabular. Dichotomien wie hell-dunkel und wissenschaftlich-metaphysisch bzw. humanitär-metaphysisch werden in einem beinahe manichäischen Deutungsmuster zur Kennzeichnung der eigenen und fremden Theorie verwandt. Der Grundirrtum des Idealismus bestand nach Hobhouse in einer unzulässigen Vermischung normativer und deskriptiver Elemente. Wirklichkeit und Ideal, Sein und Sollen würden identifiziert, der Idealismus verfalle einem naturalistischen Fehlschluss. Methodisch führe die Konzeption der Verwirklichung der Idee in der Welt in die Metaphysik. Politisch münde sie in einem Quietismus, der die Kämpfe, Widersprüche und Übel der Welt als notwendige Bestandteile seines dialektischen Systems eskamotiere, anstatt zu versuchen, sie wissenschaftlich zu erfassen und ethisch-politisch Abhilfe zu verschaffen. In seiner Staatsphilosophie gehe der Idealismus, so Hobhouse, von dem Grundsatz aus, dass das Ganze nicht nur mehr sei als die Summe der Teile, sondern auch etwas Höheres. Dagegen heißt es bei Hobhouse, „das Ganze ist nichts weiter als die gemeinschaftliche Tätigkeit der es ausmachenden Individuen“29. In der idealistischen Sozialphilosophie werde das Ganze mit dem Staat identifiziert. Der Staat werde damit an Stelle des Individuums zum Selbstzweck, das Individuum zu einem Mittel für die Vervollkommnung des Staates. Wenn Hobhouse nun in seiner kritischen Sicht des Staates davon ausgeht, dass der Staat wenig Gutes, aber viele Qualen herbeiführen kann, so erscheint die idealistische Staatsidee als eine Idee der politischen Reaktion; eine Reaktion, die seit Hegel gegen die „demokratischen und humanitären Strömungen Frankreichs im 18. Jahrhundert, Hollands im 16. Jahrhundert und Englands im 17. Jahrhundert“30 opponiert habe. Hegels Staatsphilosophie wird von Hobhouse als Ideologie der herrschenden Klasse gelesen, als Absicherung von nationalem Egoismus und Klassenherrschaft. Hegels Theorie besitze einen „idealistischen Anstrich“, doch „die Erhebung des Staates über die Menschen bedeutet im Grunde die Herrschaft der Gewalt“. Deutschland sei durch die „lange Trennung des Volkes, seine geographische Lage, [den] nationale[n] Widerstand gegen Napoleon, das Zustandekommen der Einheit durch militärische Gewalt, die Furcht vor Rußland“ militaristisch geworden, die Gelehrten durch den Idealismus mit dem Militarismus versöhnt worden. Später sei der idealistische Anstrich dann abdazu ausführlich Hoeres, Krieg (Anm. 26), 131–179. Metaphysische Staatstheorie (Anm. 27), 21. 30  Ebd., 15. 28  Vgl.

29  Hobhouse,

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gebröckelt und die „nackte Machtlehre Treitschkes“ enthüllt worden31. Deutschland sei durch historische Umstände besonders kontaminiert durch den Idealismus, doch dieser sei nicht auf Deutschland beschränkt, sondern setze seine Unheilsgeschichte auch in Großbritannien fort. Insofern ist das Feindbild von Hobhouse nicht national eingegrenzt. Allerdings ist der Hegelianismus in Deutschland entstanden und hat von dort aus seinen Siegeszug auch in Großbritannien angetreten. Die britischen Idealisten interpretierten die geistesgeschichtliche Entwicklung Deutschlands naturgemäß anders. Bernard Bosanquet machte 1915 nicht einen radikalen Abfall von Hegel für die Vergiftung Deutschlands verantwortlich, sondern die Tatsache, dass Hegels Philosophie in die falschen Hände und in ein falsches Klima gefallen sei32. Auch Bosanquets Ausführungen zeigen, dass sich die Idealisten nicht ausschließlich auf die eigenständige Wirkmacht von Ideen konzentrieren, denn er führt die ökonomische Prosperität, den spezialisierten Wissenschaftsbetrieb und ignorante Amateure, Soldaten, Historiker und Politiker an, welche die vielseitige Philosophie Hegels pervertiert hätten. Dagegen hätte im Zeitalter Goethes ein von Humanität und Selbsterziehung geprägtes Publikum existiert. Auch anderswo, gemeint ist wohl Großbritannien, habe der Deutsche Idealismus angesichts einer liberalen Tradition zu einer humanen und demokratischen Vervollkommnung geführt. Aus der Bestimmung des Staates durch sein eigenes Gut hätten die neuen Deutschen aber ein exklusives Selbstinteresse gemacht, aus der Notwendigkeit einer Verteidigungsfähigkeit zur Sicherung des eigenen Gutes die militaristische Verfügbarkeit über dieses Gut, dessen Werte zu bloßen Namen geworden seien. Das nationale Gewissen, das auch bei Hegel spürbar sei, wenn er von Europa als im humanen Verhalten geeinte Familie spreche, sei ausgetilgt worden. All das fiel bei Bosanquet aber nicht auf Hegel zurück, etwa auf seine antikantische Konzeption der internationalen Ordnung, da er hier nur eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes gegeben habe. Relevant für den deutschen Irrweg waren für Bosanquet also nur die fehlgeleiteten Rezipienten von Hegels Philosophie. Noch weiter ging der Idealist John Henry Muirhead (1855–1940), der die eigentlichen Grundlagen des preußischen Militarismus gerade in einer Revolte gegen den Idealismus erkannte, die in einem unglücklichen Zusammentreffen von Industrieller Revolution mit einer „Kraft und Stoff“-Philosophie (Ludwig Büchner) die alte Metaphysik ersetzt habe. Ein kommerzieller Geist habe sich eine materialistische Philosophie angeeignet, hinzu sei ein von 31  Ebd.,

150 f. Bernard Bosanquet, Patriotism in the Perfect State, in: The International Crisis in Its Ethical and Psychological Aspects. Lectures Delivered in February and March 1915, London 1915, 132–154. 32  Vgl.



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Ernst Haeckel fälschlicherweise in die soziale Dimension übersetzter Darwin gekommen. Während bei Büchner und auch bei Feuerbach der Naturalismus aber noch mit einer Art idealistischen Ethik einhergegangen sei, gebe es bei Haeckel schon eine monistische Ethik. Die Emanzipation von allen Werten und Ideen kulminierte in Max Stirners (1806–1856) Destruktion der gemeinwohlorientierten Ideenwelt und Nietzsches Umwertung der Werte, die für Muirhead Ausdruck einer allgemeinen Rebellion gegen den Idealismus ist. Die gemeinsame philosophische Feindbestimmung gelang über die formelhafte Beschwörung von Nietzsche, Treitschke und von Bernhardi also nicht hinaus, zumal sich auch die britischen Nietzscheaner heftig gegen die Inkriminierung ihres Ahnherren wehrten33. Die intellektuelle Szenerie war zu stark von transnationalen Transfers bestimmt, als dass klare nationale Zuschreibungen ohne weiteres möglich gewesen wären. Auch in anderen Ländern war dies wegen gegenseitiger Affinitäten und vielfachem intellektuellen und persönlichem Austausch kaum möglich34. III. So skurril die hier angedeuteten intellektuellen Gefechte auch heutzutage scheinen mögen, sie bestimmten durchaus die politische Kultur mit und erschwerten den Friedensschluss. Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau (1841–1929) erklärte im Oktober 1919 im französischen Senat mit Blick auf den deutschen Aufruf „An die Kulturwelt!“, das Manifest sei ein „schlimmeres Verbrechen, als alle anderen Taten, von denen wir wissen.“ Die Entrüstung über die deutschen Intellektuellen war nach wie vor hoch und Clemenceau äußerte Zweifel an einer deutschen „Rückkehr zur Vernunft“35. Der liberale Theologe Adolf von Harnack antwortete Clemenceau in einem offenen Brief am 6. November 1919. Dabei nahm er im Hinblick auf Belgien die Aussagen des Aufrufes zurück. Auch er hatte seinen Wortlaut erst nach der Unterzeichnung erfahren. Die entscheidende Frage blieb für Harnack aber die nach der Schuld am Krieg. Diese schrieb er tendenziell Russland zu. Er forderte eine Öffnung der französischen Archive und monierte die Fälschungen des russischen Orangebuches und des französischen Gelbbuches über die Reihenfolge der Generalmobilmachungen (womit er durchaus Recht hatte)36. Hoeres, Krieg (Anm. 26), 191–209. ebd.; Martha Hanna, The Mobilization of Intellect. French Scholars and Writers during the Great War, Cambridge / Mass. 1996. 35  Zit. nach Ungern-Sternberg / Ungern-Sternberg, Aufruf (Anm. 2), 312. 36  Vgl. ebd., 314 f. 33  Vgl. 34  Vgl.

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Einige deutsche Gelehrte distanzierten sich vom Aufruf und gaben an, ihn nicht gelesen zu haben. Andere räumten höchstens ein, dass der Aufruf ungeschickt formuliert gewesen sei. 1919 ergab eine Umfrage des Pazifisten Hans Wehberg (1885–1962) unter den Unterzeichnern des Aufrufes eine knappe Mehrheit derer, die nicht mehr voll hinter ihm standen; zehn zogen förmlich ihre Unterschriften zurück37. Die wissenschaftlichen und intellektuellen Beziehungen blieben schwer belastet, die Deutschen von internationalen Kongressen und Gesellschaften weitgehend ausgeschlossen. Eine Normalisierung gelang erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, in vielen Disziplinen blieb Deutsch als Wissenschaftssprache aber diskreditiert. IV. Die intellektuellen Deutungsmuster der Kriegszeit wurden nicht nur textuell, sondern auch visuell artikuliert, vor allem wurde dafür das etablierte Medium des Plakates genutzt. Im Ersten Weltkrieg wurden die Plakate natio­ nalisiert und politisiert38. Die Entente-Mächte gingen hier wesentlich offensiver und aggressiver vor als die Mittelmächte, welche die emotionalisierende Wirkung des Mediums fürchteten und nicht als Mittel der Kriegführung einsetzen wollten. Die schlichten amtlichen Bekanntmachungen im Deutschen Reich verdrängten zunächst die kommerzielle Werbung, die dann – ebenfalls zurückhaltend – die beworbenen Waren in Bezug zu „unseren Feldgrauen“ zu stellen versuchte. Während die Alliierten auf eine aggressive Feindbildpropaganda unter Einsatz moderner Gestaltungsprinzipien und die Direktansprache setzen, begann man im Deutschen Reich, obgleich dort ambitionierte Plakatkünstler beheimatet waren, überhaupt erst mit der fünften Kriegsanleihe im September 1916 mit der Hinzuziehung eines Werbefachmannes. Für die sechste Anleihe veranstaltete die Reichsbank einen Wettbewerb, entschied sich dann jedoch für den nicht teilnehmenden Kriegsmaler Fritz Erler (1868–1940), der einen typisierten Frontsoldaten mit den Symbolen des Stellungskrieges – Stacheldraht und Gasmaske – zeigte. Das Plakat war erfolgreich, die Anleihe wurde für 13 Milliarden Mark gezeichnet, das war ein erheblicher Zuwachs gegenüber den zuvor erzielten Erlösen. Man zeigte auch weiterhin vornehmlich stilisierte eigene Soldaten, von einer Feindbildpropaganda sah 37  Vgl.

ebd., 83–91. für das Folgende Christian Koch, Werbung für den Großen Krieg. Bildpropaganda für deutsche Kriegsanleihen im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2014; Dieter Vorsteher, Bilder für den Sieg. Das Plakat im Ersten Weltkrieg, in: Rainer Rother (Hrsg.), Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges, Berlin 1994, 149–162. 38  Vgl.



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Abb. 1: Deutsches Werbeplakat, 1917. Quelle: https: /  / upload.wikimedia.org / wikipedia / commons / 5 / 5c /  Helft_uns_siegen.jpg

man ab, da man diese nach einem im Auftrag der Obersten Heeresleitung (OHL) erstellten Rechtsgutachten für einen Verstoß gegen Artikel 22 der Haager Landkriegsordnung („Die Kriegsparteien haben kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes.“) hielt und Skepsis gegenüber einer Emotionalisierung der Massen an den Tag legte. OHLChef Erich von Falkenhayn (1861–1922) ließ Verunglimpfungen der Fran­ zosen Anfang Januar 1915 verbieten, der Abwurf einer Flugzeitung wurde gestoppt. Auf Kleinformaten wurden durchaus – im Vergleich zu alliierten Karikaturen eher harmlose – Feindbilder vermittelt, auf dem Großformat jedoch nicht. Auch die im Auftrag der Militärischen Abteilung beim Auswärtigen Amt erstellten Plakate des Gebrauchsgrafikers Louis Oppenheim (1879–1936) waren eher belehrend gehalten, weniger emotionalisierend. Oppenheim nutzte die aus der Industriewerbung bekannte Symbolisierung von Statistik

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Abb. 2: Deutsches Propagandaplakat mit der Darstellung deutscher Kulturüberlegenheit gegenüber England und Frankreich. Entwurf: Louis Oppenheim. Druck: Dr. Selle und Co. GmbH, Berlin, 1916. DHM, Berlin. P 57 / 297.1

zur Belehrung des Publikums. Die als Barbaren gescholtenen Deutschen seien, so die Plakataussage, in der Bildung und Sozialfürsorge die führende Nation, nicht Frankreich oder England. Verwunderlich ist, dass in der Forschungsliteratur die deutsche Zurückhaltung kritisiert wird39; wie würde das Urteil wohl aussehen, wenn die Deutschen die Feindbildpropaganda der Alliierten nachgeahmt hätten?

39  Vgl.

Vorsteher, Bilder (Anm. 38).



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Abb. 3: US-Propagandaplakat, 1917. Quelle: http: /  / upload.wikimedia.org / wikipedia / commons / thumb / 6 / 6e / Harry_R._ Hopps,_Destroy_this_mad_brute_Enlist_-_U.S._Army,_03216u_edit.jpg / 699px-Harry _R._Hopps,_Destroy_this_mad_brute_Enlist_-_U.S._Army,_03216u_edit.jpg

Diese war deutlich aggressiver und setzte darauf, die German Atrocities in Belgien zum Zwecke der Freiwilligenwerbung oder der Zeichnung von Kriegsanleihen zu funktionalisieren. Insbesondere die amerikanische Bildpropaganda setzte dabei auf die Bestialisierung des Feindes. Der verhasste Kaiser und der deutsche Soldat verschmolzen mit den Atrocities zu einem visuellen Erinnerungsort. Dabei wurde die deutsche Bestie mit Pickelhaube, die zu Kriegsbeginn vor Einführung des Stahlhelms tatsächlich noch im Felde getragen wurde, zu einer unmittelbaren Bedrohung stilisiert, wie hier im Plakat von Harry Ryle Hopps (1869–1937) von 1917. Die Bestie hat schon den amerikanischen Kontinent betreten, in der Pranke die Kulturkeule schwingend, im Arm die vergewaltigte Jungfrau, das Maul aufgerissen. Die „mad brute“, der entfesselte Gorilla, erinnert an den späteren King Kong und war als Schreckbild schon lexikalisch und als Bronzeskulpturen präsent40. 40  Vgl. Frank Kämpfer, „Destroy this mad brute“. Emotionale Mobilmachung in den USA 1917, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder 1900 bis 1949, Göttingen 2009, 212–219.

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Das Plakat zur Werbung von Kriegsanleihen von Frederick Strothmann (1872–1958) von 1918 zeigt ein soldatisches Monster. Bajonett und die Pranken blutverschmiert, mit finsteren Augen den Betrachter fixierend, vom Rauch des Brandschatzens und Trümmern umgeben, schaut die Bestie über den hier kaum noch als Schutz fungierenden Ozean hinweg. Der von Bergson aufgebrachte und vielfach aufgenommene Barbareivor­ wurf wurde also nach den Berichten aus Belgien drastisch visualisiert. Auch bei der ikonographischen Aufbereitung der Versenkung des britischen Passagierdampfers Lusitania befand sich das Deutsche Reich in der Defensive41.

Abb. 4: US-Propagandaplakat, 1918. Quelle: http: /  / www.ww1propaganda.com / ww1-poster / beat-back-hun-liberty-bonds

41  Vgl. zur Versenkung der Lusitania zuletzt: Willi Jasper, Kulturgeschichte einer Katastrophe. Berlin 2015; Erik Larson, Der Untergang der Lusitania. Die größte Schiffstragödie des Ersten Weltkrieges, aus dem amerikanischen Englisch von Regina Schneider und Katrin Harlaß, Hamburg 2015.



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Am 7. Mai 1915 wurde die Lusitania durch ein von einem deutschen U-Boot abgeschossenen Torpedo versenkt. Die Tötung von 1.200 Menschen, darunter 128 amerikanische Passagiere, führte in Großbritannien zu einer regelrechten Pogromstimmung gegen Deutschstämmige, die auch pazifistische Engländer traf. So sah sich der Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) für das Desaster mitverantwortlich gemacht42. Auch in den USA kam es zu einer regelrechten Hysterie: Deutsches Eigentum wurde konfisziert, an manchen Orten wurden deutsche Bücher aus Bibliotheken entfernt oder gar öffentlich verbrannt. Die deutsche Sprache wurde regelrecht geächtet43. Allerdings sprachen sich vorerst nur wenige Zeitungen für einen Kriegseintritt aus. Justus Doenecke hat in seinem Buch über den amerikanischen Kriegseintritt die Versenkung der Lusitania mit 9 / 11 verglichen44, ein Vergleich, der erheblich hinkt. Das Aufbringen und Durchsuchen eines mutmaßlich Konterbande führenden Schiffes war angesichts der britischen Seeblockade in vom Reich zum Kriegsgebiet erklärten Gewässern völkerrechtlich durchaus legitim. Wegen der vermuteten Bewaffnung war die in der Prisenordnung vorgesehene Durchsuchung und Evakuierung nach Ansicht der Reichsleitung nicht möglich gewesen. Die Reichsleitung hatte zudem zuvor in dutzenden Anzeigen in amerikanischen Zeitungen vor der Überfahrt auf einem mutmaßlich Kriegsgut führenden Schiff ausdrücklich gewarnt, was dazu führte, dass diese Überfahrt nicht ausgebucht war. Von der Royal Navy wurde die getarnte Lusitania darüber hinaus im Flottenhandbuch als Hilfskreuzer geführt, ihr Bau war von der britischen Regierung bezuschusst worden. Und tatsächlich war das Schiff mit erheblichen Mengen an Munition beladen, wie auch jüngst Untersuchungen durch Taucher zeigten, die 2008 noch einmal zu einer Schlagzeile in der Daily Mail führten45. Die ikonographische Deutung hob deutscherseits in einer Gedenkmünze von Karl Goetz (1875–1950) aus dem August 1915 auf das Kriegsgut und Munition führende Schiff und zur Rettung kommende Schiffe ab. Da in der Erstprägung die Versenkung irrtümlich zwei Tage vordatiert wurde, zeitigte auch diese Maßnahme kontra-intentionale Folgen. Der britische MarineNachrichtendienst stellte prompt 300.0000 Kopien der Münze her als Beleg eines angeblich geplanten Anschlages. Hoeres, Krieg (Anm. 26), 185. Ernst Fischer, Buchmarkt, in: European History Online (EGO), published by the Institute of European History (IEG), Mainz 2010-12-03. http: /  / www.ieg-ego. eu / fischere-2010-de (13.4.2018). 44  Vgl. Justus Doenecke, Nothing Less Than War. A New History of America’s Entry into World War, Lexington, Ky., 2011. 45  Vgl. Daily Mail online vom 20.  Dezember 2008, online unter der URL: http: /  / www.dailymail.co.uk / news / article-1098904 / Secret-Lusitania-Arms-challen ges-Allied-claims-solely-passenger-ship.html# (13.4.2018). 42  Vgl. 43  Vgl.

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Auf amerikanischer und britischer Seite wurde die große humanitäre Katastrophe in ikonographischer Tradition zur Darstellung des Untergangs der Titanic hervorgehoben46. Auch hier musste der Untergang des Schiffes mangels Fotografien oder erst später zur Verfügung stehender überlebender Augenzeugen imaginiert werden. So wurde die ikonografische Tradition der Zeichnungen des Titanic-Untergangs aufgenommen und für die Propaganda funktionalisiert. Dabei wurde ein angeblicher zweiter Torpedobeschuss als besonders verwerflich dargestellt. Die Reichsleitung führte die zweite Explosion auf die tatsächlich transportierte Munition zurück. Es handelte sich aber wohl um einen explodierten Dampfkessel, jedenfalls wurde nur ein Torpedo abgefeuert. Bis heute wird die Diskussion geführt um eine absichtliche Gefährdung des Schiffes durch Churchill zur Provokation eines amerikanischen Kriegseintrittes. Jedenfalls erhielt die Lusitania trotz der deutschen Warnung keinen Geleitschutz und Churchill drückte kurz vor dem Zwischenfall in einem vertraulichen Brief die Hoffnung auf einen ebensolchen aus.

Abb. 5: Versenkung des Passagierdampfers „RMS Lusitania“ am 7. Mai 1915 durch das deutsche U-Boot U 20. Gemälde. Quelle: Bundesarchiv, DVM 10 Bild-23-61-17.

46  Vgl. Frank Bösch, Transnationale Trauer und Technikkritik? Der Untergang der Titanic, in: Friedrich Lenger / Ansgar Nünning (Hrsg.), Medienereignisse in der Moderne. Darmstadt 2008, 79–94.



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Die „Versenkung der Lusitania“ war der Anlass für das erste amerikanische Kriegsplakat von Fred Spear aus dem Juni 1915 mit dem imperativen Titel „Enlist“. Der Auftrag dafür kam vom „Boston Committee of Public Safety“. Die Grundlage dieses der symbolistischen Tradition verpflichteten Bildes war ein Gerücht aus dem irischen Cork: Eine junge Mutter sei in der dargestellten Schutzhaltung mit ihrem Kind an der Küste geborgen worden. Das einfache starke Bildmotiv wirkt wiederum, freilich im Vergleich zu den obigen Beispielen in ruhigerer, weniger aggressiven, gleichwohl aufwühlenden Weise emotionalisierend.

Abb. 6: Fred Spear: Enlist (1915). Quelle: http: /  / www.loc.gov / pictures / resource / cph.3b52635 / 

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Dieser spezielle Medienkrieg um die Lusitania brachte das Deutsche Reich erheblich in Bedrängnis, indem er die alliierte, neutrale und insbesondere amerikanische Öffentlichkeit mobilisierte. Ungeachtet der komplexen völkerrechtlichen Lage bildete die Tötung von Zivilisten aus einem neutralen Land fortan den Referenzrahmen für die amerikanische Haltung zum Krieg. Die Versenkung der Lusitania bot eine öffentliche Legitimationsressource für den späteren Eintritt in den Krieg, ähnlich wie der Bruch der belgischen Neutralität für Großbritannien. Die Versenkung war letztendlich nicht der alleinige Grund, aber doch eine wichtige Voraussetzung für den amerikanischen Kriegseintritt und damit auch für den Ausgang des Ressourcenkrieges insgesamt. V. Der Krieg der Ideen wurde in den alten wie neuen Medien, Schrift wie Bild, Zeitung und Buch wie Plakat und Film geführt. Die Simulation triumphierte dabei über das Original, die „rohe“ Wirklichkeit, die niemand mehr auch nur ansatzweise überblicken konnte. Angesichts der Größe und Komplexität des Kriegsgeschehens half auch der „Augenzeuge“ nicht weiter. Umso mehr bedurfte man der ideellen und visuellen Deutung des Geschehens. Zweifelsohne verloren die Deutschen den Propagandakrieg47. Die Gründe lagen zum einen in der schieren Übermacht der Alliierten und ihrer Möglichkeiten. Zudem setzte man in Frankreich, Großbritannien und vor allem in den USA auf die emotionale Visualisierung deutscher „Gräueltaten“ und die Bestialisierung des Feindes48. Die deutsche Seite war dagegen viel zurückhaltender. Die Gründe lagen in einer Skepsis gegen die unkontrollierbare Aufpeitschung der Massen, einer ritterlichen Ehrbegriffen entstammenden Feindbestimmung und der Beachtung der Haager Landkriegsordnung. Zudem waren die alliierten Ideen anschlussfähiger, da sie universalisierbar waren. Den Deutschen ermangelte es dagegen an einer „Weltidee“49. Versuche etwa von Ernst Troeltsch (1865–1923), im System der Völkerindividualitäten eine

47  Anderer Meinung, aber ohne eine stichhaltige Argumentation ist: Klaus-Jürgen Bremm, Propaganda im Ersten Weltkrieg. Stuttgart 2013. 48  Zahlreiche weitere Bild-Beispiele für die alliierte Propaganda bei Karlheinz Weißmann, 1914. Die Erfindung des hässlichen Deutschen, Berlin 2014. 49  Vgl. dazu Heinz Gollwitzer, „Für welchen Weltgedanken kämpfen wir?“ Bemerkungen zur Dialektik zwischen Identitäts- und Expansionsideologien in der deutschen Geschichte, in: Klaus Hildebrand / Reiner Pommerin (Hrsg.), Deutsche Frage und europäisches Gleichgewicht. FS f. Andreas Hillgruber zum 60.  Geburtstag, Köln u. a. 1985, 83–109.



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solche auszumachen50, blieben zu abstrakt und damit erfolglos. Für Freiheit und die Zivilisation, vor allem aber gegen Barbarei, Preußentum und Militarismus konnte man dagegen leichter mobilisieren. Der entgrenzte Krieg der Ideen und Bilder zeitigte allerdings dann kontra-intentionale Folgen: Die mentale Demobilisierung gelang nur schwer, gerade Frankreich sah sich um den Sieg betrogen, ein pragmatischer Friedensschluss, der in europäischer Tradition auf dem Vergessen, der Amnestie hätte basieren müssen, gelang nach dem Ersten Weltkrieg nicht51, vielmehr wies die ideologische ikonographische Aufladung des Krieges auf das totalitäre Zeitalter voraus. Erklärbar ist der zumeist ja durchaus freiwillige Beitrag zu dieser vehementen Form der geistigen Kriegführung als Akt der Kompensation für das Abseitsstehen der vielfach nicht eingezogenen kränklichen oder alten Gelehrten. Dieser psychologische Komplex wird überdeutlich, wenn man die Schilderung eines Intellektuellen liest, der das „Glück“ hatte, dabei zu sein: „Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zusammengeschmolzen zu einem großen, begeisterten Körper, Träger des deutschen Idealismus der nachsiebziger Jahre. Aufgewachsen im Geiste einer materialistischen Zeit, wob in uns allen die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach dem großen Erleben. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen in trunkener Morituri-Stimmung. Der Krieg mußte es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen. Kein schönrer Tod ist auf der Welt … Ach, nur nicht zu Haus bleiben, nur mitmachen dürfen!“52

50  Vgl. Ernst Troeltsch, Der Geist der deutschen Kultur, in: Otto Hintze / Friedrich Meinecke / Hermann Oncken / Hermann Schumacher, Deutschland und der Weltkrieg, Leipzig u. a. 1915, 53–90. 51  Christian Meier, Das Gebot zu Vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010; Helmut Quaritsch, Über Bürgerkriegs- und Feindamnestien, in: Der Staat 31 (1992), 389–418; Hans-Christof Kraus, Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919–1933, Berlin 2013. 52  Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2013, 26. Zitiert wird die Erstausgabe von 1920. Die einzige Veränderung erlebte dieser zweite Absatz des Werkes im Laufe der von Kiesel so famos dokumentierten Editionsgeschichte durch die Kenntlichmachung des Beginns von Friedrich Silchers Lied „Kein schönrer Tod ist in [nicht: auf] der Welt, als wer vorm Feind erschlagen“ als Zitat. Das Lied stammt ursprünglich aus dem 16. Jahrhundert.

Friedrich August III., der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchie in Sachsen Von Erik Lommatzsch, Leipzig I. Über Friedrich August III., den bislang letzten König von Sachsen, kann man kaum schreiben, erst recht nicht, wenn dessen Abdankung im Fokus steht, ohne seinen wohl bekanntesten Ausspruch zu zitieren: „Machd doch eiern Drägg alleene!“1, soll er im November 1918 im Zuge seines nicht freiwilligen, aber willig in Kauf genommenen Thronverzichts geäußert haben. Untypisch wäre eine solche Äußerung, gerade in dieser Situation, für den anekdotenträchtigen2, selbstbewusst das sächsische Idiom pflegenden3 Friedrich August III. nicht gewesen. Nach dem überlieferten Bild des Herrschers, welches er selbst stark mitformte, dürfte dieser einerseits resignative, andererseits auf eine gewisse gelassene Distanz gegenüber dem Geschehen deutende Satz den Monarchen hervorragend charakterisieren. Das wohl wahre Zustandekommen des Zitats stellte ein Sohn des Königs, Prinz Ernst Heinrich von Sachsen, in seinen Memoiren dar. Wie stets in solchen Fällen sind derartige Erklärungen resp. Richtigstellungen im Gegensatz zur ursprüng­ lichen Anekdote langweilig und verschieben historische Fakten, wenn überhaupt, so lediglich marginal. Danach habe der König nur indirekt mit der Äußerung zu tun. Der Sozialdemokrat Karl Sindermann habe gesagt, als er von der Abdankung erfuhr: „Nun wird er [der König] wohl sagen ‚macht euren Dreck allene‘.“ Auf Friedrich August III. sei der Ausspruch dann erst im Zuge des Weitererzählens der Worte Sindermanns über1  In dieser Form zit. nach Walter Fellmann, Sachsens letzter König Friedrich August III. Leipzig 1992, 182. Da dem Sächsischen noch keine Vereinheitlichung in der schriftlichen Umsetzung zuteil geworden ist, existieren sehr verschiedene Schreibweisen des oft und gern wiedergegebenen Zitats. 2  Siehe etwa: Hans Reimann, Macht euern Dreck alleene! Anekdoten von Sachsens letztem König, Berlin 2002. Auch die Biographie von Fellmann, Sachsens letzter König, ist mit zahlreichen Anekdoten durchsetzt. 3  U. a. Frank-Lothar Kroll, Friedrich August III. (1904–1918), in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918, München 2004, 306−318, hier 310.

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tragen worden4. Das Zitat an sich ist für die historischen Vorgänge völlig unbedeutend, zumal zumeist Einigkeit herrscht, dass es dem König, sollte er es nicht tatsächlich geäußert haben, gut auf den Leib geschrieben ist. Umso mehr erstaunt die Tatsache, dass sich Historiker immer wieder veranlasst sehen, die Geschichte der Worte umfangreich darzulegen5. Auch Versuche der „Ehrenrettung“ wurden unternommen. Es existiert eine – weniger Anklang findende  – Variante, dass eine derartige Äußerung dem „ganzen Wesen“ des Königs widersprochen habe. Zitiert wird als Beleg ein Nachruf von 1932, der König habe statt der bekannten Version bereits einige Tage vor der Abdankung geäußert: „Wenn meine Sachsen glauben[,] ohne mich glücklicher zu sein, so will ich ihnen nicht im Wege stehen.“6 Ob nun in dieser oder der direkteren Form – den „Dreck“ machte die Republik alleine schlecht und recht. Den überaus beliebten und volkstümlichen Monarchen vermissten die Sachsen dennoch. Hoch- und Willkommensrufe habe es gegeben, als der Zug, in welchem sich der nun nicht mehr amtierende Monarch befand, 1919 auf der Durchreise einen Halt in Leipzig einlegen musste. Eine Menschenmenge, „Angehörige des sogenannten werktätigen Volkes und wohl in der großen Mehrzahl Sozialdemokraten“, sei spontan zusammengekommen. Überliefert ist auch hier eine Äußerung Friedrich Augusts III., der mit den Worten „Ihr seid mir aber schöne Republikaner“ reagiert haben soll7. Als der im Februar 1932 verstorbene Herrscher in Dresden aufgebahrt wurde, nahmen Hunderttausende Abschied, der Andrang war so groß, dass es neben Verletzten sogar zwei Tote gab. Gab es auch im Dresdner Parlament Auseinandersetzungen, da die Sozialdemokraten nicht akzeptieren wollten, dass dem Haus Wettin die Anteilnahme des Landtags ausgesprochen worden war, ohne dies zuvor abzustimmen – die überaus große, von Sympathie getragene Anteilnahme der Bevölkerung war mehr als deutlich8. Die Beisetzung hatte sich zum „postumen Triumphzug“9 gestaltet. 4  Prinz Ernst Heinrich von Sachsen, Mein Lebensweg vom Königsschloß zum Bauernhof, Dresden u. a. 1995 (EA 1968), 19. 5  Vgl. Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 182 f. widmet der Geschichte des Zitats, unter Einschluss der Darstellung Ernst Heinrichs, eine ausführ­liche Betrachtung. Auch Lothar Machtan, Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, München 2016 (EA 2008), geht auf Seite 311 darauf ein. 6  Friedrich Kracke, Friedrich August III. Sachsens volkstümlichster König. Ein Bild seines Lebens und seiner Zeit, München [1964], 151 f. 7  Prinz Ernst Heinrich, Mein Lebensweg (Anm. 4), 19. Ernst Heinrich korrigiert auch hier leicht, ihm gegenüber habe der Vater ausgeführt, dass er dies „natürlich nicht [direkt] zu den Leuten“ gesagt habe, zudem habe er die Wendung „eigenartige Republikaner“ gebraucht. 8  Vgl. Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 232 f. 9  Kroll, Friedrich August III. (Anm. 3), 318.



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22 bzw. 19 regierende Herrscherhäuser gab es bis Herbst 1918 im Deutschen Reich10 – alle wurden innerhalb weniger Wochen, eher Tage, entthront bzw. dankten ab. Nennenswert gewaltsam hatte sich keiner seiner Entmachtung entgegengestellt bzw. um seine Herrschaftsrechte gekämpft11. Die ihnen später gewährten materiellen Abfindungen waren großzügig, vom gewohnten Lebensstandard mussten die Abgesetzten kaum Abstriche machen. Auf der einen Seite steht also der „erstaunlich lautlose Untergang von Monarchie und Bundesfürstentümern“12 des Jahres 1918. Auf der anderen Seite sind, wie im Fall des sächsischen Königs, die Berichte Legion, die nahelegen, dass man den Fürsten oftmals mehr als nur eine Träne nachweinte. Selbst dem politischen „Gegner“ fiel es mitunter schwer, rationale Argumente für die Forderung nach der Abdankung zu finden. Der oft anekdotisch-unterhaltsame, vielleicht auch nicht in jedem Fall hundertprozentig quellenfeste Charakter eines Großteils des Überlieferten sollte dabei nicht über die – wenn auch sicher teilweise irrational begründete – Ernsthaftigkeit der „Sehnsüchte“ hinwegtäuschen. Eher trug und trägt der Unterhaltungswert zur Verbreitung derartiger Rückbesinnungsgedanken bei. Nachvollziehbar wären solche Bestrebungen beim Adel, der an Privilegien und Prestige eingebüßt hatte. Österreich hatte es, aus dieser Perspektive, noch wesentlich gravierender getroffen: Auch hier war die Monarchie, der junge Habsburgerkaiser Karl I., gestürzt. Die Titel und Prädikate des Adels wurden abgeschafft, an der Spitze des Staates stand der sozialdemokratische Kanzler Renner. Der Wiener Graf Adalbert Sternberg vermerkte auf seiner Visitenkarte: „Geadelt von Karl dem Großen, entadelt von Karl Renner“13. Aber eben nicht nur der Adel zeigte sich fürstenloyal. Dem Bayernkönig Ludwig III., der am 7.  November 1918 im Englischen Garten in München seinen täglichen Spaziergang unternahm, während die revolutionären Vorgänge auf der Theresienwiese Fahrt aufzunehmen begannen, sollen einige Arbeiter begegnet sein. Besorgt und ganz und gar nicht umstürzlerisch drängten sie den greisen Monarchen, er möge nach Hause gehen und dort 10  Vgl. Machtan, Die Abdankung (wie Anm. 5), 17 bzw. 357, Anm. 3, bemerkt zurecht, dass es zwar 22 Herrscherhäuser, aber korrekterweise nur 19 abgesetzte Herrscher waren, da Mecklenburg-Strelitz, Reuß ältere Linie sowie SchwarzburgSondershausen am Ende des Ersten Weltkrieges als Dynastie mangels Erben nicht mehr existent waren. 11  So etwa Helmut Neuhaus, Das Ende der Monarchien in Deutschland 1918, in: Historisches Jahrbuch 111 (1991), 102−136, hier 135. 12  Vgl. Lothar Machtan, Der erstaunlich lautlose Untergang von Monarchie und Bundesfürstentümern – ein Erklärungsangebot, in: Alexander Gallus (Hrsg.), Die vergessene Revolution von 1918 / 19. Göttingen 2010, 39−56. 13  Milan Dubrovic, Veruntreute Geschichte. Die Wiener Salons und Literatencafés, Berlin 2001, 19.

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bleiben – damit ihm nichts passiere14. Beisetzungen waren des Öfteren Ausdruck der Verbundenheit der – nunmehr ehemaligen – Untertanen mit ihrem Herrscherhaus. Die republikanische Reichsregierung hatte, nach längerem hin und her, ängstlich darauf bedacht, den Monarchiegedanken nicht wieder zu fördern, zugestimmt, die im April 1921 im niederländischen Exil verstorbene Kaiserin Auguste Victoria ihrem Wunsch gemäß im Antikentempel im Park von Sanssouci beisetzen zu lassen. 200.000 Menschen säumten den Trauerzug. Fast 2000 Blumengebinde wurden gezählt, ein Kranz der Potsdamer SPD-Ortsgruppe war dabei15. Bloße Neugier reicht wohl nicht dazu aus, einen derartigen Massenauflauf, zumal bei einem von der Regierung ungern gesehen Ereignis, zu erklären. In Stuttgart hatte der Sozialdemokrat Wilhelm Keil noch vor Herbst 1918 geäußert, falls das „Ländle“ einmal Republik werden sollte, dann käme König Wilhelm II. von Württemberg als Präsident in Frage16. Keil hätte Württemberg ohnehin gern die Monarchie erhalten und ließ von dieser Position nur ab, um ein Abgleiten der Revolution zum Linksextremismus zu verhindern17. Ebenfalls in Stuttgart war ein wortführender Spartakist am 4. November 1918 in Erklärungsnot: Der Innenminister legte diesem und anderen Demonstranten dar, der König habe „stets vorbildlich konstitutionell regiert“, für die geforderte Veränderung der Staatsform bestehe daher kein Anlass. Dem Spartakisten war es nicht möglich, in der Sache zu widersprechen, er kam auf das Prinzipielle: Die Aussage über den König stimme, dennoch müsse die Monarchie fallen. Die frappierend logische Begründung: „’s ischt aber wegen dem Sischtem.“18 Und selbst noch in der ersten Hälfte der 1970er Jahre ergab eine Umfrage der „Bild-Zeitung“, wen die Deutschen in der Bundesrepublik „am liebsten als Bundespräsidenten sehen würden“, dass man keineswegs den Amtsinhaber, den „Bürgerpräsidenten“ Gustav Heinemann favorisierte, sondern Prinz Louis Ferdinand von Preußen, Enkel Kaiser Wilhelms II. und zu dieser Zeit selbst Kaiser, wären das Deutsche Reich und Monarchie erhalten geblieben19. Diese schlaglichtartigen Illustrationen, deren Ursachen natürlich in den jeweiligen Kontext einzuordnen wären, könnten unschwer durch eine Viel14  Vgl. Kurt Schöning, Kleine bayerische Geschichte. Vom Leben eines freien Volkes, München 1977, 307. 15  Vgl. Angelika Obert, Auguste Victoria. Wie die Provinzprinzessin zur Kaiserin der Herzen wurde, Berlin 2011, 7 f. 16  Vgl. Erhard Eppler, Linkes Leben. Erinnerungen eines Wertkonservativen, Berlin 2015, 7. 17  Vgl. Paul Sauer, Württembergs letzter König. Das Leben Wilhelms II. Stuttgart 2 1994, 290 f. 18  Ebd., 290. 19  Vgl. Mainhardt Graf von Nayhauß, Chronist der Macht. Autobiographie, München 2014, 290.



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zahl weiterer Äußerungen fortgesetzt werden. Sie zeigen, dass das Ende der deutschen Monarchien und Fürstenherrschaften 1918 und darüber hinaus möglicherweise nicht der Wunsch der gesamten Bevölkerung war oder dass man den Herrscher so hoch schätzte, dass man ihn gern weiter an der Spitze des Staates gesehen hätte – und sei es als Präsident. Dem gegenüber steht das Phänomen des lautlosen Abgangs. Aus beidem, dem möglicherweise vorhandenen Rückhalt in der Bevölkerung und der ungenutzten Möglichkeit, Beharrungsvermögen zu zeigen, ergibt sich die Frage, ob das Ende dieser Herrschaften mit dem Ende des Ersten Weltkrieges zwangsläufig war. Vor dem Hintergrund dieser Frage erfolgt die Betrachtung des bislang letzten sächsischen Monarchen, seiner Rolle während des Ersten Weltkrieges sowie des Endes seiner Herrschaft. II. Schon zu Lebezeiten wurde dem sächsischen Monarchen bescheinigt, zumindest etwas Besonders zu sein. „Traurig stach von der hübschen Frau [Kronprinzessin Luise von Sachsen] ihr Gemahl ab, der damalige Kronprinz Friedrich August [von Sachsen], dem nicht nur seine gar zu ausgesprochen sächsische Mundart, sondern auch die Unbeholfenheit seines Wesens und die läppische Art seiner Fragen und Bemerkungen einen so komischen Anstrich gaben, daß es schwer war, ihm gegenüber den Ernst zu bewahren, der sich für den Reichskanzler im Verkehr mit Bundesfürsten ziemt.“20 Das Verdikt, welches der damalige Reichskanzler Bernhard von Bülow in seinen Memoiren über Friedrich August fällte, wird auch in der neueren Geschichtsschreibung gern zitiert und aufgegriffen. Zustimmend und verstärkend, etwa durch das folgende Urteil: „Dieser Mann war seine Königskrone nicht wert. So wenig Taktgefühl, politischer Ernst, Stil. Für den industriell wie kulturell hoch entwickelten Flächenstaat [Sachsen] mit fast fünf Millionen Einwohnern, den er als regierendes Staatsoberhaupt ‚ideal‘ zu repräsentieren beanspruchte, darf man seine Niveaulosigkeit mit Fug und Recht eine Zumutung nennen.“21 Eine Zumutung für wen? Für kaiserliche Reichskanzler und nachlebende, um den Beweis der Überlebtheit von Monarchien bemühte Histo­ riker? Nicht jeder schließt sich Bülow an, dessen „Berliner Perspektive“ keinesfalls mit der innersächsischen Sicht harmoniert haben dürfte22. Zu­ dem war besagte zeitgenössische „Berliner Perspektive“ dem Wettiner nicht durchweg abgeneigt. Mathilde Gräfin von Keller, Hofdame Kaiserin Auguste 20  Bernhard Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 1: Vom Staatssekretariat bis zur Marokkokrise, Berlin 1930, 589 f. 21  Machtan, Die Abdankung (Anm. 5), 312, Bülow-Zitat 306. 22  Vgl. Kroll, Friedrich August III. (Anm. 3), 310.

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Victorias, hebt in ihren Memoiren Friedrich August III. ausdrücklich hervor. Anlässlich des 60. Thronjubiläums des Habsburgerkaisers Franz Joseph I. im Jahre 1908 sei er unter den Kaiser Wilhelm II. begleitenden deutschen Fürsten, welche sich durch „große Freundlichkeit“ auszeichneten, „besonders“ positiv in Erinnerung23. Anlässlich des Thronjubiläums Wilhelms II. 1913 beeindruckten sie „die großartigen Reden des Prinzen Ludwig von Bayern und des Königs von Sachsen“24. Ungeachtet der Redeinhalte, die Jubiläen wären ohnehin nicht der Anlass für eigene Akzente gewesen, und dem Urteilshorizont einer Hofdame – in der Umgebung des Deutschen Kaisers, mit dem Friedrich August III. harmonierte25, hinterließ er offenbar nicht nur negative Eindrücke, auch die von Bülow monierte „ausgesprochen sächsische Mundart“ scheint dem nicht im Wege gestanden zu haben. Die Popularität des sächsischen Königs im eigenen Land ist, auch wenn er – vielleicht etwas pauschal – als „unbedeutend“ apostrophiert wird, in der Historiographie unbestritten26. Der Begriff „Landesvater“ sei in diesem Fall „keine leere Propagandaformel“ gewesen, „echte Volkstümlichkeit“ habe ihn umgeben27. Zugute kam ihm wohl bereits mit seiner Thronbesteigung im Jahre 1904 der deutliche Unterschied zwischen seiner Persönlichkeit und derjenigen seines nur reichlich zwei Jahre regierenden Vaters Georg28. „Georg dem Grämlichen“29 war in der Bevölkerung wenig Beliebtheit vergönnt, er selbst hatte seinem Sohn im Übrigen bescheinigt, dass er nicht zum Regieren geeignet sei30. Das Soldatische und Militärische schätzte der 1865 in Dresden geborene Friedrich August von Jugend an31. Entsprechend seiner Stellung durchlief er eine Offizierskarriere, beginnend mit der Ernennung zum Sekondeleutnant 23  Mathilde Gräfin von Keller, Vierzig Jahre im Dienst der Kaiserin. Ein Kulturbild aus den Jahren 1881–1921, Leipzig 1935, 262. 24  Ebd., 296. 25  Vgl. Prinz Ernst Heinrich, Mein Lebensweg (wie Anm. 4), 65 f. Ernst Heinrich merkt allerdings an, dass Wilhelm II. die anderen Fürsten über seine Vorrangstellung nicht im Zweifel ließ. 26  Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 10. 27  Kroll, Friedrich August III. (Anm. 3), 318. 28  Zu Georg siehe u. a.: Hendrik Thoß, Georg (1902−1904), in: Frank-Lothar Kroll, Die Herrscher Sachsens (Anm. 3), 290−305. 29  Vgl. Fellmann, Sachsens letzter König (wie Anm. 1), 10. 30  Der 70jährige Georg, der seinem kinderlosen Bruder nachfolgte und von dem allgemein ein Thronverzicht zugunsten seines Sohnes erwartet wurde, führte aus: „Ich hätte dich, Friedrich August, statt meiner regieren lassen, aber du scheinst mir dafür nicht geeignet …“. Nach Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 56. 31  Kroll, Friedrich August III. (Anm. 3), 314; Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 39.



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mit zwölf Jahren. Nach weiteren Beförderungen übernahm er 1902 den Befehl über das XII. Armeekorps, Kaiser Wilhelm II. beförderte ihn zum Kommandierenden General, 1912 erreichte er mit der Ernennung zum Generalfeldmarschall den höchstmöglichen Rang im Deutschen Reich32. Eine zumindest formelle militärische Laufbahn mit rasch hintereinander erfolgenden Beförderungen auch ohne wirkliche Leistungen war keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal unter den damaligen Monarchien resp. regierenden Häusern. Dies trifft schon eher auf die Tatsache zu, dass Friedrich August III. als einer der „bestausgebildetsten Thronfolger der europäischen Fürstenhäuser seiner Zeit“33 bezeichnet werden kann. Dies steht auch in deutlichem Kontrast zu dem von ihm überlieferten Bild, welches oft stillschweigend den eben nicht immer gegebenen Konnex zwischen Leutseligkeit und Einfalt herstellt. Rechtswissenschaften studierte er, ab 1884 zunächst in Straßburg, dann bis 1886 an der sächsischen Landesuniversität Leipzig34. Geschichte und Sprachen hätte er wohl größeres Interesse entgegengebracht, das Französische beherrschte er „perfekt“, Griechisch und Lateinisch konnte er „ohne Schwierigkeiten“ übertragen35. Eine „sogenannte Cavalierstour“36, welche zwar im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mehr unter dieser Bezeichnung firmierte, diente sowohl der Ausbildung und Horizonterweiterung als auch der Herstellung persönlicher Verbindungen zu anderen Höfen. Im Falle Friedrich Augusts handelte es sich auch nicht um eine „Tour“, sondern eine Anzahl von Reisen. Ziel waren verschiedene Länder innerhalb Europas, daneben ist wohl vor allem die mehrmonatige Reise von 1889 / 90 zu nennen, welche ihn unter anderem in den Mittelmeerraum bis nach Ägypten und in das Osmanische Reich führte37. Neben dem dann im November 1918 erfolgenden Thronverzicht gab es im Leben Friedrich Augusts eine zweite schwere Hypothek: Kurz vor Jahresende 1902 verließ ihn seine Frau. Mit Luise von Toskana war er seit 1891 verheiratet gewesen. Luise hatte sich, nicht zuletzt durch eifrige Agitation ihres Schwiegervaters Georg, am Dresdner Hof zunehmend unwohl gefühlt: Gerüchte resp. Berichte über eine anderweitige Beziehung der Kronprinzessin bleiben nicht aus. Die Ehe wurde geschieden, die sechs Kinder wuchsen Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 39 f. Friedrich August III. (Anm. 3), 308. 34  Zu Ausbildung und Studium vgl. Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 33−37. 35  Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 33 f. 36  Vgl. Kracke, Friedrich August III. (Anm. 6), 46. 37  Zu den Reisen vgl. detailliert Kracke, Friedrich August III. (Anm. 6), 46−58. 32  Vgl.

33  Kroll,

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beim Vater auf. Zu einer neuen Verbindung konnte sich Friedrich August nicht entschließen, auch abseits des (äußerlichen) Skandals belastete ihn das Ganze schwer38. Als König von Sachsen war Friedrich August III. Herrscher eines wirtschaftlich prosperierenden, hochindustrialisierten Landes. Geherrscht im ­eigentlichen Sinne hat er nicht, die Verfassung von 1831 setzte seinem Wirken enge Grenzen – an die er sich hielt. „Pseudo-absolutistische Ansprüche eines ‚persönlichen Regiments‘ hat er niemals geltend gemacht.“ Ausgleichend und parteiübergreifend vermittelte er, stets um die Sachkenntnis bemüht, auf der Grundlage von Akten oder eigener Anschauung mittels Landesreisen39. Neben einer – letztlich nicht realisierten – Schulreform und „einer massiven staatlichen Finanzkrise“, welche in den ersten Jahren Friedrich Augusts III. erfolgreich gemeistert wurde40, stand innenpolitisch im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vor allem das sächsische Wahlrecht im Fokus41. Zur „bedeutendsten Leistung als Staatsmann“ wurde die Änderung des Wahlrechts im Jahre 1909 durch den König seitens vieler sächsischer Zeitgenossen bezeichnet42. In der Praxis handelte es sich eher um das Ermöglichen einer solchen Änderung, welche der seit 1906 amtierende Innenminister Wilhelm Graf von Hohenthal vorantrieb. Bei dem 1896 eingeführten Wahlrecht, „im wesentlichen ein Werk“ des Vaters43 Friedrich Augusts, des nachmaligen sächsischen Königs Georg, handelte es sich um das preußische Dreiklassenwahlrecht. Sachsen galt damit innerhalb des Deutschen Reiches als „‚Musterland der Reaktion‘“44. Die Regelungen von 1896 spiegelten in keiner Weise die Stimmmehrheiten wider, die nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht erreicht wurden. So gewann die sächsische SPD bei den Reichstagswahlen von 1903 beispielsweise 22 der 23 sächsischen Wahlkreise. Nach den Wahlen von 1907 war sie im sächsischen Landtag hingegen mit nur einem Abgeordneten vertreten, nach der Reform 1909 dann jedoch mit 2545. Die Änderungen wurden begleitet bzw. forciert von erheblichen Protesten der Bevölkerung. Auch das Wahlrecht von 1909 wies noch erhebliche Einschränkungen auf – es wurde dem König aber mitunter nicht nur damals dazu Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 41−72. Kroll, Friedrich August III. (Anm. 3), 312 f., Zit. 312. 40  Vgl. ebd., 313. 41  Vgl. ausführlich dazu Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 127−137, danach auch das Folgende. 42  Vgl. Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 136. 43  Ebd., 128. 44  Ebd., 130. 45  Zahlen nach Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 128 und 136. 38  Ausführlich 39  Vgl.



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hoch angerechnet. Denkwürdig, vielzitiert aber auch bezweifelt46 wurde die These Hellmut Kretzschmars, der in seinem Artikel über Friedrich August III. für die „Neue Deutsche Biographie“ von 1961 die Meinung vertrat, dieser „wäre berufen gewesen, den Übergang zu einer modernen verbürgerlichten Form der Monarchie vorzubereiten. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen haben diese Möglichkeit abgeschnitten.“47 Feststehen dürfte, dass der ohnehin populäre Monarch mittels der Reform, welche den Wünschen großer Bevölkerungsteile entsprach, nicht an Ansehen eingebüßt hatte. Der Kunstund Kulturförderung kam besonderes Augenmerk des Königs zu, der selbst als wenig musisch galt48. III. Die letzte Amtshandlung, welche der König vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges49 vornahm, war die Eröffnung einer Spielzeugausstellung in Seiffen im Juli 1914. Wenig später trat er seinen Urlaub in Tirol an, welchen er nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien abbrach50. Am 2. August 1914 erfolgte sein „Aufruf an das Volk“, unter anderem führte er aus: „Unser deutsches Volk ist vor weltgeschichtliche Kämpfe gestellt. Ich erwarte von meiner Armee, deren Geschicke meine Söhne teilen werden, daß sie auf dem Schlachtfelde den alten Waffenruhm der Väter bewähren und erneuern wird.“51

46  So war der sächsische Sozialdemokrat Alfred Fellisch, der zeitweilig als Ministerpräsident amtierte, der Meinung, Friedrich August III. sei als König „völlig überfordert gewesen, hätte aber einen ‚guten Bürgermeister von Zittau oder Löbau‘ abgegeben“. Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 11. Im Übrigen entwickelte sich zwischen Fellisch und Prinz Ernst Heinrich von Sachsen in der Zeit der Weimarer Republik eine Freundschaft, wobei Fellisch die Einladungen zur Moritzburger Jagd nicht wahrzunehmen vermochte, „mit Rücksicht auf seine politischen Bindungen“. Mike Schmeitzner, Alfred Fellisch 1884–1973. Eine politische Biographie, Köln u. a. 2000, 408. Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 137, ist ebenfalls äußerst skeptisch gegenüber Kretzschmar: Die Wahlrechtsreform sei schon vor dem Amtsantritt Friedrich Augusts III. im Gange gewesen, zudem habe er keine besondere Eile gehabt; vor dem Ersten Weltkrieg hätte der König, entsprechenden Willen vorausgesetzt, wesentlich mehr erreichen können. 47  Hellmut Kretzschmar, Friedrich August III., König von Sachsen, in: Neue Deutsche Biografie, Bd. 5, Berlin 1961, 577. 48  Vgl. Kroll, Friedrich August III. (Anm. 3), 314. Vgl. auch Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 100−102. 49  Vgl. insgesamt Kristin Lesch, Sachsen im Ersten Weltkrieg, Dresden 2016. 50  Vgl. Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 155. 51  Der Aufruf ist abgedruckt bei Lesch, Sachsen im Ersten Weltkrieg (Anm. 49), 42.

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Ob man es wirklich hoch bewerten muss, dass das am selben Tag abgesandte Huldigungstelegramm des sächsischen Königs an den Deutschen Kaiser („Es drängt mich, Dir zu sagen, daß meine Sachsen Dir kriegsbereit zujubeln“) das erste derartige Schreiben eines deutschen Bundesfürsten war, sei dahingestellt52. Am 7. August wurden Stab und Befehlshaber der 3. Armee, welche zum großen Teil aus Sachsen bestand, verabschiedet; im Gegensatz zu den anderen deutschen Königen hatte Friedrich August III. den Oberbefehl über die eigene Armee nicht selbst übernommen53. Das „Für und Wider“ habe er abgewogen, die dem König geneigte Geschichtsschreibung kommt zu folgendem Schluss: „In erster Linie fiel schwer ins Gewicht, daß er neben dem Soldaten auch noch Bundesfürst war und daß sein Land auf ihn in dieser Eigenschaft einen größeren Anspruch erheben konnte als seine Armee. Beide Ämter zur gleichen Zeit in der Hand zu behalten, erschien hinsichtlich der durch die wirtschaftlichen und sonstigen Schwierigkeiten in der Heimat zu erwartende Lage und im Hinblick auf die gewaltigen Anforderungen einer Frontstellung unmöglich.“54 Die Verantwortung als Landesherr mag in den Überlegungen des Königs eine Rolle gespielt haben, aber die Wahrscheinlichkeit, dass der König im Vorfeld der Auseinandersetzungen die später tatsächlich eintretenden Kriegsfolgen im Blick hatte, ist nicht sehr hoch, wurde doch allgemein von einer kurzen Kriegsdauer und einem erfolgreichen Verlauf ausgegangen. Den Befehl über die 3. Armee übernahm der fast siebzigjährige, ehemalige sächsische Kriegsminister Max von Hausen. Bereits im September 1914 enthob ihn der Kaiser seiner Stellung „zur Schonung Ihrer Kräfte und im Inte­ resse Ihrer völligen Wiederherstellung“55. Hintergrund des Ganzen war, dass Hausen die Verantwortung für hohe Verluste während der Marneschlacht trug resp. ihm diese Verantwortung aufgebürdet wurde56. Er selbst bemühte sich – erfolglos – um Wiederverwendung und auch Friedrich August III. teilte die Sicht des Oberkommandos bezüglich der Verantwortlichkeiten nicht. Ersetzt wurde Hausen durch den Preußen Karl von Einem. Das damit besiegelte Ende der militärischen Selbständigkeit Sachsens wurde durch den König hingenommen57. Friedrich August III. sorgte materiell für Lazaretteinrichtungen, an das Rote Kreuz wurden „namhafte Summen“ überwiesen58. Seine Truppen be52  Fellmann,

Sachsens letzter König (Anm. 1), 160. ebd., 162. 54  Kracke, Friedrich Augst III. (Anm. 6), 141. 55  Zit. bei Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 165. 56  Zu den Vorgängen vgl. Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 163−167. 57  Vgl. ebd., 166 f. 58  Kracke, Friedrich August III. (Anm. 6), 146. 53  Vgl.



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suchte er insgesamt 16 Mal59. Soweit unterschied er sich wenig von anderen Fürsten. Ein kurioses Alleinstellungsmerkmal des Wettiners ist hingegen, dass er als einziger deutscher König persönlich Kriegsgefangene machte: Im Oktober 1915 wurden bei einem Jagdausflug im Osterzgebirge zwei entkommene russische Gefangene aufgegriffen60. Mit dem weiteren Kriegsverlauf verschlechterte sich zunächst die wirtschaftliche, wenig später auch die allgemeine Versorgungslage der Bevölkerung. Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Sieges rückte immer weiter in den Hintergrund. Von zwei Friedensinitiativen, in welchen der sächsische König eine Rolle spielte, berichtete Prinz Ernst Heinrich in seinen Erinnerungen. So habe Friedrich August Kronprinz Georg 1918 ins Große Hauptquartier nach Spa zu Erich Ludendorff geschickt. „Dort sollte er den sächsischen Standpunkt darlegen, daß ein alsbaldiger Verständigungsfrieden unbedingt erforderlich sei, um eine totale Niederlage und die Revolution zu vermeiden.“ Ludendorff habe es bedauert, „daß der sächsische Kronprinz unter die Defaitisten gegangen ist“. Grußlos sei er nach den Worten „Ich habe jetzt zu tun“ aus dem Raum gegangen61. Eine weitere Begebenheit habe sich bereits im März 1918 abgespielt: Der Vorsitzende des Gesamtministeriums, Christoph Graf Vitzthum von Eckstädt habe den König über einen Vorschlag der Stadt Hamburg informiert. Angesichts der Kriegslage sei es für das Deutsche Reich notwendig, „einen ehrenvollen Frieden zu erlangen“. Im Einzelnen sollte angeboten werden, das besetzte französische und belgische Gebiet zu räumen, Elsass-Lothringen ebenfalls deutscherseits zu räumen und durch schweizerische Truppen besetzen sowie anschließend in Elsass-Lothringen abstimmen zu lassen, ob man den Anschluss an Deutschland oder Frankreich oder gar einen eigenen Staat wolle. Aufgrund von Ludendorffs Einfluss sei ein solcher Vorschlag beim Kaiser wohl nur schwer durchzusetzen. Der sächsische König sollte entsprechend im Bundesrat vertraulich sondieren. Intensiv habe Friedrich August III. diese Überlegungen erwogen, die Räumung Frankreichs und Belgiens habe er ebenfalls für notwendig erachtet, mit der Idee einer Abstimmung über „das rein deutsche Elsaß“ habe er sich als „deutscher König“ schwergetan. Zudem habe die Oberste Heeresleitung große Hoffnungen in die Frühjahrsoffensive gesetzt. Schließlich sei der König aber bereit gewesen, den Vorschlag zu unterstützen. „Sachsen, Hamburg und die beiden Fürstentümer Reuß brachten den Vorschlag vor. Er wurde von allen anderen Bundesstaaten verworfen mit der Begründung, der Sieg im Westen stünde unmittelbar bevor … Eine Infragestellung von Elsaß-Lothringen sei untragbar.“ Immerhin: Kaiser Wilhelm II. habe Friedrich August III. Kracke, Friedrich August III. (Anm. 6), 143. Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 173. 61  Prinz Ernst Heinrich, Mein Lebensweg (Anm. 4), 51 f. 59  Vgl. 60  Vgl.

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keine Vorwürfe gemacht, „weil er vielleicht … im Innersten dem König zustimmte“. Veröffentlicht worden sei das Ganze nie, man habe strikte Geheimhaltung gewahrt. Ernst Heinrich habe davon erst durch seinen Vater nach dessen Abdankung erfahren62. Der Historiker Walter Fellmann merkt in seiner Biographie Friedrich Augusts III. an, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, in Hamburg archivalische Belege für die Initiative der Hansestadt zu finden63. Um eine freie Erfindung des Ganzen durch Friedrich August III. oder seinen Sohn dürfte es sich jedoch kaum handeln. Einen gewissen Gegensatz zu den Friedensschritten bilden die in den Herbst 1917 zu datierenden Überlegungen Friedrich Augusts III., man könne im Osten aus dem Krieg Gewinn ziehen. Nach dem Sturz des Zaren hatte er sein Augenmerk auf Litauen gerichtet. Minister Graf Vitzthum wurde beauftragt, die sächsischen Ansprüche „dokumentarisch überzeugend zu begrün­ den“64. Sowohl bezüglich der Kriegslage als auch bezüglich der – theo­ retischen  – Praktikabilität einer Verbindung von Sachsen und Litauen, kann man die Planungen, gerade in dieser Zeit, durchaus als „etwas bizarren Versuch“ bezeichnen, eine eigene „Kriegszielpolitik“ zu betreiben65. IV. Im Sommer 191866 befand sich der König auf Reisen. Zwei Wochen Urlaub in der zweiten Augusthälfte im Allgäu, ab 13. September 1918 war er für eine Woche in Bulgarien, als letzter offizieller Gast des Zaren. In diese Zeit fielen Hungerkrawalle in Dresden, bei denen 20.000 Menschen in der sächsischen Hauptstadt zusammenkamen67. Der SPD-Abgeordnete Alfred Fellisch stellte bereits die Frage, ob eine anstehende Neuordnung „mit der Krone zu machen“ sei. Von seinem bislang letzten Biographen werden dem König die Hoffnung, eine „kosmetische Behandlung“ könne die „alte Ordnung“ retten, sowie Halbherzigkeit unterstellt68. Vielleicht ist es eine Frage des ex-post-Urteils, vor allem der Erwartungen bezüglich der zeitlichen Umsetzung der Reformen sowie der Relationen. Mit dem Ende der Monarchie rechnete bis Anfang November 1918 niemand 62  So die Darstellung bei Prinz Ernst Heinrich, Mein Lebensweg (Anm. 4), 102−106, Zit. 102 und 104 f. 63  Vgl. Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 178. 64  Dazu ausführlicher Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 179 f. 65  Kroll, Friedrich August III. (Anm. 3), 315. 66  Zum Kriegsende in Sachsen siehe Lesch, Sachsen im Ersten Weltkrieg (Anm. 49), 135−142. 67  Nach Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 184. 68  Ebd., 185.



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ernsthaft, aus der Perspektive des Königs resp. der sächsischen Regierung sind Neuordnungsbestrebungen durchaus erkennbar. Das Gesamtministerium war unter Vorsitz des Königs bezüglich dieser Frage am 2. Oktober 1918 zusammengetreten. Eine abermalige Wahlrechtsreform – nach Wahlrecht von 1909 war übrigens lediglich einmal gewählt worden, die Wahlen, welche für 1915 angestanden hätten, waren auf die Zeit nach dem Ende des Krieges verschoben worden – war durch die Zweite Kammer bereits im Mai 1918 verlangt worden, allerdings seitdem unbearbeitet geblieben. Ziel war ein allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht. Friedrich August III. leitete in der Folge die Neuordnung ein, der zur Verfassungsänderung nötige Staatsrat wurde einberufen. Die Regierung wurde neu gebildet, den Vorsitz des Gesamtministeriums führte, nach der Verabschiedung Vitzthums, nun der Natio­nalliberale Rudolf Heinze, der seit Juni 1918 als Justizminister amtierte. In dem um vier Staatsminister erweiterten Kabinett befanden sich mit Max Heldt und Julius Fräßdorf auch zwei Sozialdemokraten, der Landtag erhielt Mitspracherecht in Personalfragen. Der Beginn der Auflösung des Heeres in Sachsen wird auf den 6. November 1918 datiert, ein erster Soldatenrat wurde gebildet. Eine Dresdner Massendemonstration am 8. November sorgte dafür, dass der König, der am Tage noch Auszeichnungen verliehen sowie eine Ausfahrt mit seiner Schwester unternommen hatte, am Abend zum Verlassen der Hauptstadt bewegt wurde. Die revolutionären Vorgänge verliefen ohne Blutvergießen, „da S. Majestät der König Waffenanwendung untersagt“, wie es in einem Bericht des Innenministeriums nach Berlin vom Folgetag hieß69. Zuverlässige Truppen hätten ohnehin nicht zur Verfügung gestanden. In einer Lagebesprechung vor seinem Aufbruch war davon die Rede, dass die Entwicklungen höchsten aufzuschieben, nicht jedoch aufzuhalten seien70. Gesträubt hatte sich der König zunächst noch gegen seinen Weggang – von Flucht kann man hier eigentlich nicht sprechen – mit den Worten: „Ich genne doch meine Dräsdner, die duhn mir nischt“71. Unrecht gehabt hat er damit wohl nicht, selbst der erst seit wenigen Tagen amtierende sozialdemokratische Minister Fräßdorf wunderte sich: „Warum geht denn der König fort? Hier hätte ihm niemand etwas getan.“72 Am 10. November 1918 wurde die Abschaffung der Monarchie, der Ersten Kammer sowie die Auflösung der Zweiten Kammer verkündet. Friedrich August III. verzichtete drei Tage später auf den Thron – auf preußischem 69  Die beiden vorstehenden Absätze nach Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 185−193, Zit. 193. 70  Vgl. Kracke, Friedrich August III. (Anm. 6), 148. 71  Zit. bei Fellmann, Sachsens letzter König (Anm. 1), 193. 72  Zit. bei Kracke, Friedrich August III. (Anm. 6), 149.

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Territorium, er befand sich zu dieser Zeit auf Schloss Gutenborn bei Ruhland. Über 829 Jahre hatten die Wettiner in Sachsen regiert – und konnten damit eine längere Geschichte der Herrschaft aufweisen als jedes andere deutsche Fürstenhaus73. Die letzten 14 Jahre seines Lebens – es handelte sich um dieselbe Zeitspanne, in welcher er als König regiert hatte – verbrachte er, fernab der Politik, auf seinem Schloss Sibyllenort bei Breslau. Materiell war er wie die meisten der entthronten deutschen Fürsten zufriedenstellend abgefunden worden, womit der ohnehin vergleichsweise anspruchslose Friedrich August III. zumindest im Alltagsleben kaum Veränderungen in Kauf nehmen musste74. V. Die Frage, warum die deutschen Fürstenhäuser so abrupt „aus der Geschichte fielen“75 stellt sich nicht nur im Falle Sachsens. Hier wird sie jedoch durch die sprichwörtliche Volkstümlichkeit und -verbundenheit bzw. Beliebtheit – dieser Ausdruck ist in diesem Falle wahrscheinlich treffender als Wertschätzung – des Monarchen besonders deutlich. Insgesamt bietet die Regierungszeit Friedrich Augusts III. „ein gutes Beispiel für das bemerkenswert hohe Maß an Integrationskraft, das der monarchischen Staatsform in den Einzelstaaten des Deutschen Reiches bis 1918 unzweifelhaft zugekommen ist“76. Die Diskussion um die persönliche Rolle des deutschen Kaisers und preußischen Königs Wilhelm II., vor allem im Zusammenhang mit dem für das Deutsche Reich verlorenen Krieg, außen vorgelassen – eine naturgesetzmäßige Zwangsläufigkeit, nach der das Geschehen nahezu ausnahmslos und offenbar irreversibel ablief, will nicht einleuchten. In eklatantem Widerspruch dazu steht die zumeist positiv wahrgenommene Rolle der überwiegenden Zahl der Fürsten im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert77. Ebenso wenig will die Rationalität des Argumentes eines „Zu spät“ bezüglich geforderter und – wie in Sachsen geschehen – schließlich eingeleiteter Verfassungs- resp. Wahlrechtsreformen erscheinen.

Fellmann (Anm. 1), 194 f. Kroll, Friedrich August III. (Anm. 3), 317. 75  Machtan, Die Abdankung (Anm. 5), wählte den Untertitel: Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen. 76  Kroll, Friedrich August III. (Anm. 3), 306. 77  Vgl. hierzu u. a. Frank-Lothar Kroll, Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2013, 119−128. 73  Vgl. 74  Vgl.



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Dennoch sieht man sich mit ebendieser Tatsache konfrontiert: Jahrhundertealte Fürstenherrschaften wurden ohne Gegenwehr und ohne den nennenswert deutlich geäußerten Wunsch nach ihrem Weiterbestehen – in Kontrast zu den späteren Sympathie- und Verbundenheitsbekundungen durch nicht geringe Teile der Bevölkerung – 1918 innerhalb kürzester Zeit aufgegeben. Umstritten und nicht befriedigend zu beantworten bleibt die Frage nach dem Warum. Gingen die Fürstenherrschaften unter, weil deren Repräsentanten schlicht ihren Aufgaben nicht (mehr) gewachsen gewesen waren78? War der „Zerfall der Monarchie in Deutschland … zu einem Gutteil Resultat der aktiven und passiven Ruinierung dieser Institution durch ihre vornehmsten Protagonisten“79? Allerdings wird auch in der gegenwärtigen Forschung der Überlegung Raum gegeben, dass „eine parlamentarische Monarchie im Reich wie in den Einzelstaaten die ihr von ihren Befürwortern attestierte integrative Funktion hätte erfüllen können, das parlamentarische System mit monarchischen Traditionen fruchtbar zu verschmelzen …, wie ein Blick auf die Fülle von europäischen Staaten verrät, denen diese Synthese im Laufe eines lange andauernden Prozesses gelang.“80 Da der Bereich der Spekulation bereits betreten wurde, sei der Schlusspunkt mit einem psychologisierend-transzendenten Gedanken gesetzt: In dem literarisch gestalteten Sachbuch „Magisches Bayreuth“ des Schriftstellers Erich Ebermayer äußert Richard Wagner gegenüber dem sich mit Abdankungsplänen tragenden bayerischen König Ludwig II. im Jahr 1866: „Königtum – glauben Sie! – ist eine Religion! Ein König glaubt an sich, oder er ist es nicht.“ Ebermayer kommentierte die Szene: „50 Jahre später, im November 1918 ist es dann so weit, daß die Könige in Deutschland nicht mehr an sich glauben – und sie sind es nicht mehr …“81.

78  Die These vertritt, mit deutlichen Worten, dem Verdacht einer etwaigen Monarchiefreundlichkeit nicht den Hauch einer Chance einräumend, Lothar Machtan, in: Machtan, Die Abdankung (Anm. 5); Machtan, Der erstaunlich lautlose Untergang (Anm. 12); Lothar Machtan, Deutschland gekrönter Herrscherstand am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Ein Inspektionsbericht zur Funktionstüchtigkeit des deutschen Mo­narchie-Modells, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010), 222−242. 79  Machtan, Der erstaunlich lautlose Untergang (Anm. 12), 42 f. 80  Wolfram Pyta, Die Kunst des rechtzeitigen Thronverzichts. Neue Einsichten zur Überlebenschance der parlamentarischen Monarchie in Deutschland im Herbst 1918, in: Patrick Merzinger / Rudolf Stöber / Esther-Beate Körber / Jürgen Michael Schulz (Hrsg.), Geschichte, Öffentlichkeit, Kommunikation. Festschrift für Bernd Sösemann zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2010, 363−381, Zit. 377. 81  Erich Ebermayer, Magisches Bayreuth. Legende und Wirklichkeit, Stuttgart 1961, 29 f.

Versailles und die Folgen1 Von Dirk Reitz, Darmstadt Der Friede von Versailles, und mit ihm die anderen „Pariser Vorortverträge“, bilden – selbst nach bald 100 Jahren – höchst wirkungsmächtige Ereignisse der europäischen Geschichte des 20. und 21. Jahrhundert, deren langer Schatten noch heute auf die Landkarte Europas und Vorderasiens fällt, denn es sind die unbereinigten Konfliktlinien des Ersten Weltkriegs, die spätestens seit dem Ende des „Kalten Krieges“, der europäischen Nachkriegs­ periode des Zweiten Weltkriegs, wieder die Schlagzeilen prägen: Balkan, Palästina, Mesopotamien, Kaukasus, Baltikum etc. … Und weiterhin markiert Versailles eine Zäsur im Verkehr der europäischen Mächte untereinander, die seitdem nicht mehr in der seit 1648 bewährten Manier miteinander umgingen. Drittens schließlich die Wahrnehmung des Phänomens „Krieg“ selbst, der nicht mehr als legitimer Akt zwischen Herrschaftsträgern, sondern nunmehr als sträflich, gar als „Verbrechen“ galt. Damit ging die Moralisierung der Politik in einer bis heute zu beobachtenden Weise einher, die pragmatische Lösungen von Konflikten zunehmend erschwert  – diese markiert die Wiederkehr des Begriffs der „Schuld“ und der Pönalisierung bisher dem ius gentium gemäßer Kriegshandlungen. Erschwerend kommt hinzu, dass dort, wo bereits „Schuld“ festgestellt und ein Schuldiger benannt ist, die Suche nach den eigentlichen Anlässen, Ursachen und Gründen für das Geschehene meist auf der Stecke bleibt. Der Name „Versailles“ verselbständigte sich fast unmittelbar und machte Karriere als Mythos und Kampfbegriff, der bis weit in die Dreißiger Jahre hinein polarisierend, wenn nicht toxisch wirkte. Bereits terminologisch fordert der Gegenstand dieses „Friedensschlusses“ den Historiker im Spannungsfeld zwischen „Vertrag“ und „Diktat“ heraus. Indes erscheint die neutralere Bezeichnung „Frieden von Versailles“ angemessen, wie es u. a. für den Frieden von Paris (1814) oder jenen von Schönbrunn (1809) oder überhaupt für Friedensschlüsse in Europa nicht ungebräuchlich ist. Der Begriff des Friedensschlusses ist insbesondere deshalb 1  Abgedruckt ist hier die verschriftlichte Version des Bandmitschnitts eines in freier Rede im SS 2014 an der TU Chemnitz gehaltenen Vortrags. Der Duktus der Mündlichkeit ist geglättet, so weit es das Leseverständnis erfordert.

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angebracht, da er einerseits den objektiven Sachverhalt abbildet, andererseits die kontaminierte Frage, „Vertrag“ oder „Diktat“ umgeht. Dass „Versailles“ allerdings nicht im Sinne der traditionellen europäischen Konferenzdiplomatie ausgehandelt wurde, liegt offen zutage.2 Vorbemerkung Versailles ist ein zentraler Topos in der deutschen Geschichtslandschaft und ein „lieu de mémoire“ im Sinne der Theorie Pierre Noras.3 Vor allem ist Versailles für das deutsch-französische Verhältnis ein zentraler Kulminationspunkt. Versailles ist Synonym für Vorbild und Feindbild zugleich. Der französische Absolutismus war im 18. Jahrhundert Vorbild für die Deutschen Duodez-Fürsten in ihrer Hofhaltung und Selbstdarstellung. In der kritischen Literatur, insbesondere zum Anfang des 19. Jahrhunderts steht Versailles hingegen für französische Dekadenz. Ein lieu de mémoire, ein Erinnerungsort in diesem Sinne ist „Versailles“ gewiss. Zum weitläufigen Schlosskomplex gehören das Petit bzw. das Grand Trianon, jene Nebenanlagen des Versailler Königsschlosses, wo einer der weiteren Friedensschlüsse erfolgte, der mit Ungarn am 4. Juni 1920.4 2  Der Aufsatz fusst u. a. auf folgender Literatur: Hafner, Sebastian / Bateson, Gregory et al.: Der Vertrag von Versailles München 1988. Kraus, Hans-Christof: Versailles und die Folgen – Die Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung. Berlin 2013. März, Peter: Nach der Urkatastrophe – Deutschland, Europa und der Erste Weltkrieg. Wien 2014. Macmillan, Margaret: Peacemakers. Six Month that changed the World. London 2001. Schwabe, Klaus (Hg.): Quellen zum Friedensschluß von Versailles. Darmstadt 1997. Keynes, John Meynard: Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles. (Dt.) Berlin 2014. [Orig. The Eco­nomic Consequences of the Peace. London 1919]. Bemerkungen zur Literatur: Keynes, dessen Schrift „Krieg und Frieden“, die er als zeitgenössischer Beobachter des Geschehens in Versailles zu Papier brachte, ist gleichermassen bemerkenswert, wie realtiv unbekannt. Darin erweist er sich nicht nur als glänzender Stilist und Psychologe, sondern zudem als Prophet der widrigen ökonomischen Folgen politischen Handelns. Keynes Charakterisierungen der Hauptakteure sind nicht nur unerlässlich für das Verständnis von Beginn, Verlauf und Resultat der Friedenskonferenz, sondern sie brillieren zudem durch luzide und tiefe Einsichten in die Beschaffenheit der Materie. 3  Nora, Pierre (*1931): „un lieu de mémoire dans tous les sens du mot va de l’objet le plus matériel et concret, éventuellement géographiquement situé, à l’objet le plus abstrait et intellectuellement construit“ zit. n. Schultze, Hagen / François, Étienne (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2009. 4  Dass Ungarn, was die territorialen und Bevölkerungsverluste betrifft, der grösste Verlierer des Krieges war, sei hier ausdrücklich erwähnt. Nicht zu vergessen die ­ungarischen Minderheiten, die sich noch heute – 2017 – in allen ungarischen Nachbarländern  – insbesondere in Rumänien (Transsylvanien) finden und die EU-Europa ignoriert.



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Doch ist Versailles bereits durch die Ereignisse des Jahres 1871 zu einem besonderen Topos auf der historischen Landkarte der Deutschen und Franzosen geworden. Die Kaiserproklamation in Versailles vom 18. Januar 1871 steht hierfür. Insbesondere dieser Ort – der Spiegelsaal – in jenem Schlosse, in dem die Verherrlichung der Siege Ludwigs XIV. das Programm der Supra­ porten und der Deckengemälde bildet, musste Frankreich empören. Ob der Akt als Provokation intendiert war, sei bezweifelt. Es lag nun einmal das preußische Hauptquartier im Schlosse von Versailles und die Kaiserproklamation fand an einem praktischen Ort, quasi in einer Gefechtspause, statt. Was die französische Nation an diesem Vorgang späterhin reizte, möglicherweise gar demütigte, mag von der Historiographie der Dritten Republik in dieses Ereignis hineingelegt worden sein. 1919 jedenfalls vollzog sich hier erneut ein historischer Akt: die Friedenskonferenz zu Versailles. Anfang und Ende des Zweiten Deutschen Kaiserreichs kulminierten im Spiegelsaal von Versailles. I. Krieg und Recht in der Neuzeit Krieg ist eine anthropologische Konstante. Mag diese Erkenntnis auch Unbehagen erzeugen, so ist die Geschichte der Menschheit primär eine Geschichte militärischer Auseinandersetzungen, eines modus decertandi per vim, wie es bei Cicero heißt.5 Dies gebietet einen kurzen Blick auf die Vorbedingungen von militärischer Gewaltanwendung und mithin von Friedensschlüssen in der Zeit von 1648 bis zur Gegenwart. Die Neuzeit ist jene Periode, in der die Kriegführung unter den Begriff der ‚gezähmten Bellona‘ fällt. Private Gewaltakteure waren ausgeschaltet, der Staat galt als unangefochtener Gewaltmonopolist, „Kabinettskriege“ herrschten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vor. Das staatliche Recht zur Kriegführung bestand unbestritten, daher beschäftigten sich Militärtheoretiker und Staatsrechtler vorwiegend mit dem ius in bello, mit der Frage der operativen Ausgestaltung der Kriegsführung. Die Haager Landkriegsordnung von 1907 ist ein Beispiel dafür; es ging darum, die Kriegführung sachgerecht einzuhegen. Hugo Grotius (1583–1645), der wegweisende Staatsrechtler des 17. Jahrhunderts, schuf mit dem Begriff des iustis hostis, des gerechtfertigten Feindes, eine Figur, die in der europäischen Rechtsgeschichte bis 1919 einen wesentlichen Stellenwert einnahm: Kriegführung ist legitim, der Widersacher ist nicht in i­rgendeiner Weise „schuldig“ oder „böse“, sondern er ist nur hostis – Feind. Aus der militärischen Terminologie heraus ist er der Gegner, ein „Feindbild“ zu pflegen, gar zum Hass auf den „Klassenfeind“ o. ä. zu erziehen, gehörte bis 1914 nicht zum militärischen Kanon, es wäre den Vertretern der militärischen Eliten gar als 5  Cicero,

M. T., De Officiis, 1, 34–36.

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incommentmäßig erschienen. Und die seit 1919 eingeführte Kategorie der ‚Schuld‘ spielte bis 1914 keine Rolle, sie ist ein Kind ihrer Zeit und wuchs seitdem – neben dem rezent gepflegten Opfer-Täter-Paradigma – zu einer monströsen Größe in der Bewertung des historischen Geschehens bis in die Gegenwart und verstellte, zuzüglich der sie flankierenden Moralisierung von Interessen, seit 1919 vielmals den Weg zu tragfähigen Friedenslösungen. Es lohnt daher ein Exkurs zum europäischen ius gentium und zur Entwicklung der Theorien über Krieg und Frieden seit 1648 (vgl. Graphik). Die Trennung zwischen Kombattant und Nichtkombattant, zwischen Krieg und Frieden, ist in dieser Periode eindeutig, anders als in der Vormoderne übrigens. Krieg wird erklärt, Frieden geschlossen die Tradition der europäischen Friedensschlüsse der Neuzeit beginnt mit dem Frieden von Münster und Osnabrück, der nicht nur den Dreißigjährigen Krieg beendete, sondern fortdauernde Maßstäbe für den diplomatischen Verkehr der Staaten untereinander setzte. Dem folgen weitere Friedensschlüsse, wie 1714 der Friede von Utrecht am Ende des Spanischen Erbfolgekrieges, 1797 zu Basel am Ende des Zweiten Koalitionskrieges oder 1871 in Frankfurt. Es kamen Friedensschlüsse zu Stande, die dem Prinzip des Interessenausgleichs unter den beteiligten Akteuren verpflichtet blieben, die – oft im Konferenzrahmen – ausgehandelt wurden. Als Ideal gilt der Friedenskongress von Wien 1814 / 15, der einen



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Strich unter Revolutionszeit und die napoleonische Expansion mit ihren enormen Verwerfungen im Macht- und Territorialgefüge Europas zog.6 Das Prinzip der Legitimität, das als vermeintliches Leitmotiv des Wiener-Kongresses gilt, ist bei genauerer Betrachtung wenig konsequent durchgehalten, denn die seit 1792 mediatisierten, liquidierten, inkorporierten Gebiete, Gebilde und Institutionen erstanden nicht wieder.7 Den meisten dieser Friedensschlüsse ist eigen, dass die Akteure Gleichrangigkeit beanspruchten und einander gewährten, und das europäische Kräftegleichgewicht immer neu, und ohne Hegemonien zuzulassen, austariert wurde. Dies mündet in die idealisierte Vorstellung eines „europäischen Konzerts“ der Großmächte, welches das 19. Jahrhundert geprägt habe. Nicht zu vergessen ist hierbei die Bedeutung der dynastischen Verbundenheiten und des monarchischen Prinzips, das die Kontrahenten und ihre Interessengegensätze überwölbend moderierte. 6  Hier taucht erstmals eine moralische Wertung auf, die aber nicht Frankreich als Ganzes betrifft, sondern personalisiert dem Usurpator Napoleon gilt. 7  Zum Wiener Kongress, vgl.: Szamoysky, Adam: 1815. München 2014. Genua, Venedig, die geistlichen Herrschaften im Reich und viele Reichsstädte wären hier zu nennen. So wie in der Nachschau die Wiener Friedensordnung vermeintlich unter dem Stern der Legitimität stand, so stand – ebenfalls nur vermeintlich – die Versailler Friedensordnung im Zeichen des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“.

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Das ius ad bellum, das staatliche Recht zum Kriege als legitimierten Mittels der Interessenwahrung, galt uneingeschränkt. ‚Schuld‘ war weder Kriterium noch Kategorie des Verkehrs der europäischen Staaten miteinander oder im Diskurs der Friedenskongresse. Strafbestimmungen sahen diese Friedensschlüsse in der Mehrzahl der Fälle nicht vor und sie schlossen stets mit Oblivionsklauseln. Das heißt, man versprach wechselseitig oblivio – Vergessen. Vergeben und Vergessen, man wollte fürderhin Frieden miteinander halten und keine Aufrechnung des Gewesenen betreiben. Soweit also die Theorie bzw. die weitgehend geübte Praxis der europäischen Friedensschlüsse und der europäischen Friedensordnung von 1648 bis weit ins 19. und noch ins 20. Jahrhundert hinein, wofür der Frieden von Portsmouth (VA) 1905 zwischen dem Russischen Reich und Japan stehen mag. Aber es gibt Ausnahmen: der Friede von Tilsit 1807 – wie auch der Friedensschlüsse von Pressburg (1805) und Schönbrunn (1809) mit Österreich – steht ausserhalb der beschriebenen Kontinuität, wie überhaupt die Rechtsakte der napoleonischen Periode, die durch Willkür und die Dominanz des militärischen Siegers hervorstechen. Bekannt ist die kalamitäre Lage, in der sich der König von Preußen befand. Im äußersten Zipfel seines Reiches, in Tilsit, mit dem Rücken zur Wand, d. h. zur Memel, konzedierte Friedrich Wilhelm III. schließlich die Aufgabe von fast zwei Dritteln seines Königsreiches und viele andere peinigende Bestimmungen mehr. Betrachtet man die drei Friedensschlüsse von Frankfurt, Brest-Litowsk und Versailles, so verhandelte in Frankfurt 1871 das neu gegründete Deutsche Reich mit Frankreich mehr oder minder inter pares. Mit der nicht un­ erheblichen „Zahlung“ – vulgo: Reparation – von immerhin fünf Milliarden Goldfrancs lag hier bereits ein Präjudiz für zukünftige Friedensschlüsse vor, was die monetäre Abgeltung von Kriegsschäden oder Aufwendungen betrifft.8 Wobei Kontributionen und Reparationen in der europäischen Kriegsgeschichte keineswegs unüblich waren, so z. B. die 700 Mio. Goldfrancs, die Frankreich nach dem zweiten Pariser Frieden von 1815 entrichten musste.9 8  RGBl Bd. 1871, Nr. 26, Seite 223–244. Artikel 7 regelt die „Zahlungen“, der Begriff „Reparation“ oder „Entschädigung“ taucht im Vertragstext nicht auf. Die Höhe der Zahlung bestimmte bereits der Präliminarfrieden von Versailles, vom 2. März 1871 Art. II, RGBl Bd. 1871, Nr. 26, Seite 215 ff. 9  Politische Gesetzsammlung des Kaisertums Österreich, Jahrgang 1816, 29: Frieden von Paris Artikel IV: „Der in Geld zu entrichtende Theil der den verbündeten Mächten von Seite Frankreichs verheißenen Entschädigung wird auf die Summe von Siebenhundert Millionen Franken festgesetzt.“. Wie bei allen historischen Angaben von Zahlungen und Kosten ist der Nominalwert für sich genommen relativ aussagearm und muss immer in Relation zur Leistungsfähigkeit des belasteten Staates gesehen werden, wobei die durchschnittliche Höhe eines (Friedens)-Jahresbudgets als Richtgrösse gelten kann.



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Hinzu kam 1871 die Besetzung französischen Gebiets: obgleich eine längere Okkupation unterblieb, die letzten preußisch-deutschen Truppen räumten 1873 französisches Terrain, blieb eine derartige Maßnahme eher ungewöhnlich – trotz des Vorbilds von 1815.10 Ob die Friedensbedingungen wirklich im Interesse des jungen Deutschen Reiches lagen, darf bezweifelt werden, denn vor allem die Annexion Lothringens mit der Festung Metz war weder militärisch geboten, noch politisch klug. Churchills Anspruch: „Im Sieg: Großmut“, entsprach das Vorgehen nicht.11 Die beiden Friedensschlüsse von Brest-Litowsk 1918 und Versailles 1919 bieten sich für Parallelbetrachtungen an. Es kann festgehalten werden, dass in Brest tatsächliche Verhandlungen stattfanden. Dass die Parteien sich nicht auf den – ultimativen – Notenaustausch beschränkten, sondern dass die Delegationen an einem Verhandlungstisch gegenübersaßen. Und man vergegenwärtige sich die Situation, nicht frei von Ironie: auf der einen Seite könig­ liche Prinzen und kaiserliche Feldmarschalle im Schmuck ihrer Uniformen und Orden und gegenüber bolschewistische Berufsrevolutionäre in abgerissenen Röcken und Lederjoppen. Hier überhaupt miteinander ins Gespräch zu kommen, sich trotz allein habitueller Verschiedenheit auf einer Ebene begegnen zu können, war delikat.12 In Versailles allerdings, neun Monate später, unterblieb selbst der Versuch, an die europäische Kontinuität des Verhandelns unter Gleichen anzuknüpfen – hier agierte ein Tribunal. Eines übrigens, das – ein weiteres Novum in der Geschichte europäischer Friedensschlüsse – moralische Überlegenheit gegenüber den Unterlegenen beanspruchte. Der zweite Weltkrieg endete 1945 mit dem Erlöschen der deutschen Staatlichkeit, so dass es nach der Kapitulation der Wehrmacht und der Inhaftierung der Reichsregierung an einem vertretungsberechtigten Akteur ermangelte, alleine von daher unterblieb ein Friedensschluss. Den Endpunkt dieser 10  Ebd.: Art. 5 bestimmte die Besetzung zahlreicher frz. Festungen für 5 Jahre und bürdete Frankreich die Stationierungskosten auf. 11  Churchill, Winston: Der Zweite Weltkrieg: Memoiren, 1. Band – Der Sturm zieht auf. Franfurt 1985, Vorwort, ohne Seitenzahl. 12  Es kann nicht übersehen werden, dass die Mittelmächte aus einer Position der Stärke heraus mit dem jungen Sowjetrussland einen Vertrag schlossen, der Russland auf die Grenzen vom Beginn des 18. Jahrhunderts reduzierte, so nennt ihn Werner Hahlweg ebenfalls einen Diktatfrieden (s. u.). Immerhin findet sich in Artikel I. der Satz: „… Sie sind entschlossen, fortan in Frieden und Freundschaft miteinander zu leben.“, siehe: Hahlweg, Werner (Bearb.): Der Friede von Brest-Litowsk [Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Erste Reihe Von der konst. Monarchie zur parlam. Republik, hg. v. Werner Conze und Erich Matthias, Bd. 8]. Düsseldorf 1971, 390. Dazu ebenfalls: Hahlweg, Werner: Der Diktatfrieden von Brest-Litowsk 1918 und die bolschewistische Weltrevolution [= Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelmsuniversität zu Münster Heft 44]. Münster 1960.

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Entwicklung bildet einstweilen der Zwei-plus-vier-Vertrag, also der „Vertrag über die abschließende Regelung der Deutschland betreffenden Fragen“ – von Friedensvertrag ist, nota bene, keine Rede –, der allerdings keinen Kriegszustand aufhob, sondern wie viele der Verträge der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur einen eingetretenen Zustand mit großem zeitlichen Abstand sanktionierte und notifizierte.13 II. Kriegsende und Friedensschluss als Prozess Bevor der Blick auf das Kriegsende fällt, soll kurz der Zivilisationsbruch skizziert sein, der die europäischen Gesellschaften derart tief erschütterte, dass dem nur das Bild der ‚Urkatastrophe‘ des 20. Jahrhunderts gerecht wird. Das Kriegsbild des Ersten Weltkrieges oder überhaupt das Bild eines Krieges, die Vorstellung von der Art und Weise, wie sich militärisches Geschehen abspielen wird, ist zumeist vom vorangegangenen Krieg geprägt. Das Kriegsbild von 1914 blieb in der Öffentlichkeit dem 19. Jahrhundert verhaftet, und selbst in Militärkreisen wagten nur wenige, die Totalität des industrialisierten Massenkrieges, der Materialschlacht, in letzter Konsequenz vorauszudenken. In der heutigen Zwischenkriegszeit – 2017 – kann das Kriegsbild des nächsten großen Waffengangs nur erahnt werden.14 Die Zeitgenossen hätten 1914 jedoch, als man sich noch immer an den pittoresken Manöver-Attacken ­farbenfroher Reitergeschwader berauschte, nur den Blick auf die Belagerung Port-Arturs im russisch-japanischen Krieg 1904 / 5 richten müssen, um statt dessen auf Maschinengewehre, Drahtverhaue und Leichenberge zu blicken. Die ‚Blutpumpe‘ saugte nicht erst am Douaumont hektoliterweise Blut, sondern zehn Jahre zuvor am Großen Wolfsberg nördlich der russischen Seefestung am Gelben Meer, als General Nogis Truppen ins mörderische Abwehrfeuer der russischen Maschinengewehre stürmten – Schützengraben und Gasschwaden statt Lanzenflaggen und schimmernder Wehr.15

13  Mit den ehemaligen Verbündeten des Deutschen Reiches verhandelten die Sieger in der Pariser Friedenskonferenz 1946 einen Frieden traditionellen Zuschnitts. Zum 2+4 Vertrag: BGBl II 1990 v. 13.10.1990 Nr. 38, 1317. 14  Immerhin blieb der große Krieg in den vergangenen Jahrzehnten aus – zumindest in Europa. Die Vorstellungen dieses nächsten Kriegs weichen jedenfalls bereits heute vom Gefecht der Verbundenen Waffen ab, wie es die europäischen Armeen bis 1989 übten und perfektionierten. „Cyberwar“, Akteure, die nicht mehr als Kombattanten im klassischen Sinne gefasst werden können, das Fehlen einer Front, asymmetrische Szenarien, die Rückkehr privater Akteure – Söldner – in From der private military companies; vieles davon scheint in den Kriegen der Gegenwart (2018), in der Ostukraine oder im Orient bereits auf. 15  Reitz, Dirk: Die Lanze  – Wiederkehr eines Fossils im Zeitalter der Millionenheere. In: Newsletter des Arbeitskreises für Militärgeschichte 31 (2008), 3–5.



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Die eigentümliche Dichotomie von Kriegsvorstellung und Kriegsrealität erstaunt: rote Pluderhosen der französischen Infanterie, bunte Uniformen der k.u.k. Armeen, aber auf der anderen Seite erstickende Gase und das vernichtende mechanisierte Abwehrfeuer der Maschinenwaffen und die zermalmende Gewalt der modernen Artillerie. Hier passte manches nicht zusammen und insofern führte dieser „Große Krieg“ zu zahlreichen Umwertungen, zu Zivilisationsbrüchen, vor allem aber zu einer vorher nicht gekannten Emotionalisierung und Radikalisierung der Gesellschaften. Das alte Europa von 1914 oder 1913, wie es beispielsweise Stefan Zweig darstellt, existierte 1919 nicht mehr. Die Dimension des Bruchs, der traumatische Einbruch, die Entzauberung der Moderne, kann nicht groß genug gedacht werden.16 1. 1918 – Schritte zum Kriegsende Vor diesem Hintergrund und nach vier Jahren des Ringens begann Anfang 1918 jener Prozess, an dessen Ende nicht nur die Waffen schwiegen, sondern zudem die völkerrechtliche Beendigung des Krieges zu leisten war. Datum

Ereignis

Datum

Ereignis

08.01.1918

14 Punkte Präsident Wilsons

11.11.1918

Waffenstillstand v. Compiègne / Rhétondes

03.03.1918

Friede von Brest-Litowsk mit Sowjet-Russland

18.01.1919

Beginn der Friedenskonferenz

März 1918

Michael-Offensiv(en)

07.05.1919

Überreichung der Bedingungen („Karthago-Friede“)

Sommer 1918

„Militärstreik“

20.06.1919

Rücktritt Scheidemann

08.08.1918

„Schwarzer Tag des Deutschen Heeres“

23.06.1919

Annahme durch Nationalversammlung

Herbst 1918

Zusammenbruch der verbündeten Mittelmächte

28.06.1919

Unterzeichnung

29.09.1918

„OHL-Ultimatum“ an die Reichsleitung

12.07.1919

Aufhebung der Blockade

03.10.1918

Prinz-Max-Note („Wilson- 10.01.1920 friede“)

Inkrafttreten des Friedens v. Versailles

09.11.1918

Abdikation Wilhlems II. /  Ausrufung der Republik

Friedensschluss mit den USA

25.08.1921

16  Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Stockholm 1942.

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Die „Vierzehn Punkte“ Präsident Wilsons vom 8. Januar 1918 waren von amerikanischer Seite ein erstes Friedensargument, eine Gesprächsgrund­ lage.17 Sie bildeten den Ausgangspunkt dessen, was hier als Prozess dar­ zustellen ist. Der Friede von Brest-Litowsk fiel dazwischen, und sah die Mittelmächte nach der russischen Februar-Revolution als Sieger über das Zarenreich. Allerdings nutzten die Vertreter des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns nicht die Gelegenheit, hier eine vollkommene militärische Berei­nigung der Lage zu bewirken, sondern banden starke Kräfte im russischen Raum.18 Zudem verschoss in diesem Frühjahr und Sommer 1918 mit der Michael-Offensive (März 1918), und den anderen Offensiven im Westen das Deutsche Reich sein Pulver, und gab damit das letzte Pfund aus der Hand, mit dem bei Friedensverhandlungen im Hinblick auf einen RemisFrieden hätte gewuchert werden können. Denn nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika (1917) entwickelte sich die militärische Lage rasch, absehbar und nachhaltig zu Ungunsten der Mittelmächte. Im Sommer 1918 sank die Moral der Truppe messbar. Mit dem 8. August 1918, dem „schwarzen Tag des Deutschen Heeres“ und dem Durchbruch starker alliierter Kräfte bei Cambrai ist der Tiefpunkt des Jahres 1918 erreicht: jedenfalls erkannte die OHL, dass Deutschland nicht mehr siegen könne. Im Herbst 1918 brachen sukzessive die Verbündeten des Reiches Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Bulgarien zusammen, bzw. erloschen als Staatsgebilde, wie die Donaumonarchie. Und am 29. September forderten die Feldherrn Hindenburg und Ludendorff von der politischen Reichsleitung ultimativ Friedenssondierungen. Bis eben auf Sieg gestimmt, war Niederlage nun die Parole und der neu berufene Reichskanzler, Prinz Max von Baden (1867–1929), war aufgefordert, rasch und möglichst glimpflich Frieden zu schließen. Auf der Grundlage der Vierzehn Punkte Wilsons entspann sich ein Notenwechsel zwischen den Deutschen und ihren Gegnern. Von alliierter Seite bis zu einem gewissen Grad dilatorisch betrieben, kamen die Kontakte über den Oktober zu keinem Resultat, zumal eine klare Verhandlungsführung bei den Westmächten nicht erkennbar war, dennoch mündeten diese schließlich in den Waffenstillstand von Compiègne (11. November 1918). Der Vorgang vollzog sich für die deutsche Delegation unter demütigenden Bedingungen im Salonwaggon des Marschalls Foch. Zwar bestimmt der Waffenstillstand, die Einstellung aller Kampfhandlungen, nicht jedoch die Aufhebung der Blockade und das Ende des Kriegszustands. Ferner gingen die Bestimmungen so weit, dass von einem klassischen Waffenstillstand, der 17  Über die Frage der Friedensangebote und deren Ernsthaftigkeit vgl. den Beitrag von Hans Fenske in diesem Band. 18  Watson, Alexander: The Ring of Steel: Germany and Austria-Hungaria at War, 1914–1918. London (Penguin) 2014, 492 ff.



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unter Gleichrangigen geschlossen wird, und die Möglichkeit der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen wahrt, nicht gesprochen werden kann. Deutschland war, sofern es den Bedingungen von Compiègne folgte, wehrlos.19 Die Mittelmächte fochten im Jahre 1918 noch weitgehend außerhalb der eigenen Grenzen, abgesehen vom Osmanischen Reich, auf dessen Territorium bereits in Palästina, Syrien und in Mesopotamien fremde Truppen standen. Im Zuge des Friedens von Brest-Litowsk rückten deutsche Verbände im Frühjahr 1918 auf eine Linie Riga, Schwarzes Meer, Rostow am Don vor. Deutsche Kräfte besetzten die Krim und die OHL errichtete einen ukrainischen Schattenstaat. Sogar in den Kaukasus, ins georgische Tiflis, entsandte die OHL eine deutsche Militärmission unter dem Generalmajor Kress von Kressenstein, deren Aufgabe es primär war, sowjetische Ölliferungen aus Baku sicherzustellen. Man stand also tief im Feindesland. Die Rückführung dieser Truppen, die zum Teil im Baltikum noch gegen rote Revolutionäre fochten und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhielten, erwies sich als eine weitere, schwierige Aufgabe der neuen Übergangsregierung. Das Bündnis Ebert-Groener,20 d. h. zwischen den traditionellen militärischen Eliten und den republikanischen Kräften, hielt und gewährleistete die Aufrechterhaltung von Recht und Gesetz. Und dies im Angesicht der fortdauernden britischen Seeblockade, der Abschnürung Mitteleuropas von außereuropäischen Waren- und vor allem Lebensmittellieferungen, die alleine im letzten Kriegswinter wenigstens 250.000–300.000 Personen den Tod brachte. Angesichts dieser Frontverläufe, jeweils außerhalb der Reichsgrenzen, wird der Terminus vom „im Felde unbesiegt[en]“ Heer verständlich, auf dem die „Dolchstoß-Legende“ basiert.21 19  Ähnlich vollzog sich der Waffenstillstand von Villa Giusti wenige Tage zuvor am 3. Nov. 1918, in dem das Habsburgerreich gegenüber Italien die Flagge strich. Hierzu u. a.: Rauchensteiner, Manfred: Der Erste Weltkrieg und das Ende Habsburger-Monarchie. Wien 2013, 1034–1046. Bevor im Januar 1919 die Friedenskonferenz zu Versailles begann, war es die Aufgabe des deutschen Generalstabs, das im Westen, noch immer jenseits der Reichsgrenzen in Frankreich und Belgien, stehende Heer geordnet heimzuführen. Dass dies gelang, ohne dass es zu Meutereien wie in Sowjetrussland, oder zur schlichten Auflösung der Truppen wie in Österreich-Ungarn gekommen wäre, ist eine enorme Leistung, die auch Rückschlüsse auf den noch immer vorhandenen Geist des Heeres ­erlaubt. An den Heimatstandorten angekommen, zerfielen die Truppenkörper meist vollkommen, so dass die neue Staatsgewalt kaum auf ein zuverlässiges Machtinstrument zugreifen konnte, um der revolutionären Wirren Herr zu werden. 20  Der sozialdemokratische Reichskanzler Ebert und der Nachfolger General Ludendorffs in der OHL, General Wilhelm Groener (1867–1939). 21  Jedoch ist zu berücksichtigen, dass nicht nur Vertreter des Militärs und der alten Eliten den „Im-Felde-unbesiegt-Mythos“ nährten, sondern gar ein Mann wie Friedrich Ebert, der die im November 1918 heimkehrenden Truppen mit den Worten „kein

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III. Friedenskonferenz zu Versailles Am 18. Januar 1919 begann die Friedenskonferenz zu Versailles, eben jenem symbolträchtigen Datum der Erhebung Preußens zum Königreich 1701 und der Kaiserproklamation von 1871. Acht Tage zuvor wandte sich der ­alliierte Oberbefehlshaber, Marschall Ferdinand Foch, mit einem Gutachten in einer Mantelnote an die alliierten Staatschefs, in dem er wie folgt in hoher Tonlage argumentierte: „Deutschland bleibt noch für lange Zeit, bis zu einer vollständigen Wandlung seiner Politik und seiner Weltanschauung, eine furchtbare Drohung für die Zivilisation.“ Dies bereits ein Vorwand, Deutschland aus dem alsbald zu gründenden Völkerbund herauszuhalten. Und in diesem Sinne und in diesem Geiste hob nun die Friedenskonferenz von Versailles an. Die deutsche Delegation, die erst im Mai 1919 hinzugezogen wurde, wies mit dem Grafen Brockdorff-Rantzau nur einem Berufsdiplomaten auf. Alle anderen Mitglieder waren Vertreter der neuen republikanischen Ordnung – zumeist Sozialdemokraten – und auf dem diplomatischen Parkett unerfahren. Jedoch bedurfte es großer diplomatischer Beschlagenheit nicht, denn es wurde nicht verhandelt, weder mündlich, noch schriftlich erhielt das Reich Gelegenheit, Stellung zu nehmen, seine Rechte und Interessen zu wahren. An jenem 7. Mai 1919, als die deutsche Delegation die Friedensbedingungen erhielt, vernahm man Clemenceau in folgender Weise: „Es ist hier weder der Ort noch die Stunde für überflüssige Worte. Die Stunde der Abrechnung ist da. Sie haben uns um Frieden gebeten, wir sind geneigt, ihn Ihnen zu gewähren.“22

Das ist der Duktus der französischen Seite. Indes sind Differenzen unter den Siegermächten bereits wahrnehmbar.23 Auf diese Vorbringungen Clemenceaus repliziert der Deutsche Vertreter Graf Brockdorff-Rantzau:

Feind hat Euch besiegt“ empfing. Grund genug zu der Annahme, dass die Vorstellung des unbesiegten Heeres Gemeingut war. 22  Zit. n. Schwabe, Klaus: Quellen zum Friedensschluß von Versailles. Darmstadt 1997, 242 f. Originaltext: Materialien des Auswärtigen Amtes, hrsg. v. AA, Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen, Berlin o. J. 23  So vor allem auf Seiten der britischen Delegation, die nicht vom französischen Revanchegedanken durchdrungen war, jedenfalls soweit es die Berufsdiplomaten und Fachleute betraf. Hier ist der Ökonom John Meynard Keynes zu nennen, dessen Bewertung noch heute bestehen kann. Er zog die Konsequenzen aus dem Verlauf der Verhandlungen und verließ die britische Delegation unter Protest. Keynes, John Meynard: Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrags. München 1920. In Frankreich blieben kritische Stimmen zu „Versailles“ eher rar, zu nennen ist indes: Simmonot, Philippe: „Non, L’Allemagne n’était pas coupable“. Notes sur la



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„Wir täuschen uns nicht über den Umfang unserer Niederlage, den Grad unserer Ohnmacht. Wir wissen, dass die Gewalt der deutschen Waffen gebrochen ist. Wir kennen die Wucht des Hasses, der uns hier entgegentritt. Es wird von uns verlangt, daß wir uns als die allein Schuldigen am Krieg bekennen. Ein solches Bekenntnis wäre in meinem Munde eine Lüge.“

Und weiter: „Das deutsche Volk ist innerlich bereit, sich mit dem schweren Los abzufinden, wenn an den vereinbarten Grundlagen des Friedens nicht gerüttelt wird.“

Gemeint sind hiermit die Waffenstillstandsbedingungen von Compiègne in der Vorstellung der deutschen Seite letzten Endes auf der Grundlage der Wilsonschen „Vierzehn Punkte“. „Ein Friede, ich fahre fort, ein Friede der nicht im Namen des Rechts vor der Welt verteidigt werden kann, würde immer wieder neue Widerstände gegen sich entfesseln.“24

Schon damals war evident, dass die Friedensbedingungen für die deutsche Republik eine schwere Hypothek darstellten und die Diskussion um die Annahme der Friedensbedingungen lebhaft-kontrovers verlaufen musste. Das Dictum Scheidemanns, dass die Hand verdorren möge, die diesen Vertrag unterschreibe, steht hierfür.25 Und selbst der sozialdemokratische Reichsministerpräsident Scheidemann brachte es nicht über sich, den Frieden mit seinem Namen zu verbinden. Er und sein Kabinett traten zurück, bevor am 28. Juni 1919, auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Mord von Sarajevo, der Frieden von Versailles unterzeichnet werden musste. An demütigenden Umständen mangelte es bei dieser Zeremonie nicht. Datum und Ort sind bewusst gewählt und dass auf dem Weg der deutschen Delegation noch besonders grässlich kriegsverstümmelte französische Soldaten Spalier standen, ist in der Neuzeit ohne Parallele. responsabilité de la Première guerre Mondiale“. Berlin (dt. / frz.) 2014. Er rekurriert insb. auf Alfred Fabre-Luce und dessen Schrift La Victoire von 1924. 24  Der deutsche Außenminister, Graf Brockdorff-Rantzau, zit. n. Schwabe, Klaus: Schwabe, Klaus: Quellen zum Friedensschluß von Versailles. Darmstadt 1997, 243– 248. 25  Gustav Bauer (SPD, 1870–1944) „Meine Damen und Herren! Keinen Protest heute mehr, keinen Sturm der Empörung. Unterschreiben wir, das ist der Vorschlag, den ich ihnen im Namen des gesamten Kabinetts machen muß. Die Gründe die uns zu diesem Vorschlag zwingen, sind dieselben wie gestern, nur trennen uns jetzt eine Frist von knappen vier Stunden vor der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten. Einen neuen Krieg können wir nicht verantworten, selbst wenn wir Waffen hätten. Wir sind wehrlos, wehrlos ist aber nicht ehrlos. Gewiß, die Gegner wollen uns an die Ehre, daran ist kein Zweifel, aber dass dieser Versuch der Ehrabschneidung einmal auf die Urheber selbst zurückfallen wird, dass es nicht unsere Ehre ist, die bei dieser Welttragödie zugrunde geht, das ist mein Glaube, bis zum letzten Atemzug.“, vgl. Protokoll der 41. Sitzung der Weimarer Nationalversammlung vom 23. Juni 1919.

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Neben der deutschen Delegation lohnt ein Blick auf die „allierten“ und „assozierten“ Hauptakteure: die drei entscheidenden Protagonisten und deren italienischer Sekundanten, Grafen Orlando, Lloyd George, ein englischer Liberaler und britischer Premierminister und Georges Clemenceau, der französische Ministerpräsident und Spiritus Rector, der Regisseur der Konferenz. Er ist es, der mit unerbittlicher Härte nicht auf einen „Wilson-Frieden“, sondern auf einen „Karthago-Frieden“ zusteuerte, der den unterlegenen Deutschen – und den anderen Mittelmächten – aufzuerlegen sei. Als vierter im Bunde erscheint der amerikanische Präsident Wilson. Jener Mann, der es in der Hand gehabt hätte, dem Friedenskongress eine andere Richtung zu geben. Denn sowohl die britische als auch die französische Armee waren in diesem Sommer 1918 am Ende ihrer Leistungsfähigkeit angekommen, und mit 1,2 Millionen Mann frischer amerikanischer Truppen auf europäischem Boden hätte Wilson quasi jede Friedensbedingung gegenüber Gegnern und Verbündeten durchsetzen können – von den finanziellen Daumenschrauben für die britischen und französischen Schuldner ganz zu schweigen. Doch dafür hätte es eines europäischen Diplomaten „alter Schule“ mit profunden Sach- und Verfahrenskenntnissen bedurft – Wilson war der Mann hierfür nicht. So ist zu beobachten, dass nicht der eigentliche Sieger, die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern jene Macht, die vier Jahre lang mit dem Rücken zur Wand stehend focht – Frankreich – den Friedenskongress dominierte, und die Leitlinien der Konferenz vorgab, die eingangs nicht von allen Mächten als Tribunal intendiert war, sich aber rasch zu einem solchen entwickelte. So sehr die französische Position nachvollziehbar ist, so wenig führte sie zu einer tragfähigen Nachkriegsordnung. Noch mehr Kritik aber verdienen Briten und Amerikaner, die es gegenüber ihrem Verbündeten versäumten, einen konsensualen Frieden zu fordern und durchzusetzen.26 Frieden schließen ist die hohe Kunst des Interessensausgleichs. Welche Interessen brachten nun die europäischen Mächte mit? Frankreich ging es um militärische Sicherheit, ferner um „Revanche“, d. h. die Tilgung der Schmach 26  Dass nicht nur strukturell-machtpolitische Konstellation das Geschehen in Versailles beeinflussten, sondern vor allem die Charaktere und Persönlichkeiten der Akteure skizziert Keynes in Krieg und Frieden mehr als deutlich, in dem er insbesondere den rasanten Einflussverlust Wilsons vom Moment seines Eintreffens in Europa an beschreibt. Ein Titan schrumpfte binnen kurzem zu einer kläglichen, schwerfälligen, unbeholfenen Gestalt, Zitat: „… daß der arme Präsident in dieser Versammlung bloß Blindekuh spielen konnte. Ein vollkommeneres, ein stärker prädestiniertes Opfer für die erlesenen Künste des britischen Premiers war gar nicht denkbar.“ Keynes, J. M.: Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles. (Dt.) Berlin 2014. [Orig. The Economic Consequences of the Peace. London 1919]. s. insb. 64 ff., hier: 67.



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von 1870 / 71 und damit die Rückgliederung der Provinzen Elsass und Lothringen. Nicht zuletzt begehrte Frankreich Entschädigung für die exorbitanten Kriegsschäden auf französischen Staatsgebiet.27 Großbritannien zielte darauf, Deutschland als lästigen wirtschaftlichen Konkurrenten im globalen Maßstab und maritimen Herausforderer auszuschalten. Eine Fehlleitung, wie man zu spät erkannte, denn mit dem vermeintlichen Rivalen liquidierte Großbritannien zugleich den wichtigsten Handelspartner. Immerhin setzten in Grossbritannien sehr bald kritische Reflexionen zum Friedensschluss ein.28 Über die Gründe des Kriegseintritts der USA bedürfte es ausführlicherer Erörterungen: vordergründig zählte der uneingeschränkte U-Boot-Krieg mit vielen toten amerikanischen Staatsbürgern dazu  – Stichwort: Lusitania-Versenkung 1915. Aber es fiel Wilson schwer, Kongress und Bevölkerung von der Notwendigkeit des Kriegseintritts zu überzeugen. Schließlich sind es die enormen Verbindlichkeiten der Westalliierten gegenüber amerikanischen Banken, den Werften und der Rüstungsindustrie, die den Ausschlag gaben. Es gab keine Alternative, Frankreich und Großbritannien den Krieg bis zum Sieg zu finanzieren, denn eine Niederlage der beiden Alliierten konnte man sich amerikanischerseits nicht mehr leisten, ohne schwerwiegenden Verwerfungen des Finanzsektors und der Wirtschaft zu riskieren.29 Italien darf unter den Vieren eher als eine Art ‚Trittbrettfahrer‘ gelten, der erstrebte, die ihm 1915 gemachten Zusagen auf Beute aus der Konkursmasse des Habsburgerreiches einzustreichen. Das Königreich hatte 1914 / 15 zäh verhandelt, bevor es auf alliierter Seite in den Krieg eintrat. Die hochgespannten Erwartungen Italiens blieben unerfüllt, zumindest ging Italien unbefriedigt aus den Verhandlungen hervor. 27  In der deutschen zeitgenössischen Historiographie werden diese nicht angemessen gewürdigt. Es ist zu bedenken, dass der Krieg fast ausschließlich außerhalb der deutschen Grenzen stattfand. Belgien und Frankreich als Kriegsschauplatz waren durch die Gefechtshandlungen und die sie begleitenden Folgen der militärischen Besetzung „verheert“ worden, wobei nicht nur auf die unmittelbaren Kriegszerstörungen abzustellen ist, sondern zudem auf den Niedergang von Industrie und Landwirtschaft. Die Nachkriegsentwicklung zeigt, dass es mehr als 20 Jahre dauerte, um hier zum Vorkriegsstand zurückzukehren. Auf deutschem Gebiet kann hier auf die Verwüstungen in Ostpreußen nach nur knapp sechsmonatiger russ. Besetzung in den Jahren 1914 / 15 verwiesen werden, oder auf die Verheerungen im vormals österreichischen Galizien, wo die hin- und herwogenenden Gefechtshandungen der Jahre 1914–16 ebenfalls desaströse Schäden hinterließen, deren Beseitigung bis weit in die 30-er Jahre hinein andauerte. Beispiele hierzu liefert u. a. Kershaw, Ian: To Hell and back – Europe 1914–1949. London (Penguin) 2015, insb. Kap. 2 „The great disaster“, 44–92. 28  Zur britischen Position: Siehe Anhang, 140. 29  Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass den Amerikanern quasi keine Wahl blieb, denn aufgrund der Seeblockade war eine Unterstützung der Mittelmächte rein technisch bereits ausgeschlossen.

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IV. Die Folgen Der Erste Weltkrieg war ein Massenkrieg, Millionen-Heere von bisher nicht gekannter Truppenstärke zogen ins Feld, und die „Heimat“, d. h. in erster Linie die Frauen, rückten an Stelle ihrer Männer in Fabriken und Verwaltungen ein. Auf Seiten des Deutschen Reiches, Bevölkerung ca. 70 Mil­ lionen, waren es 13,2 Mio Mann, die den grauen Rock trugen. Davon fielen als blutige Verluste 2 Millionen. In Russland ist das Verhältnis 15,8 zu 1,8. In Österreich / Ungarn 9 zu 1,7. In Frankreich 8,1 zu 1,3. In Großbritannien 6,1 zu 0,7 und in den USA 2,1 Millionen Mobilisierte zu 100.000 Mann Verlusten – auf ein Jahr effektive Kriegsteilnahme gerechnet – nota bene. Der amerikanische Bürgerkrieg (1861–65) forderte ungefähr 700.000 Mann Verluste und nimmt daher in der amerikanischen Memoria noch heute einen prominenteren Platz ein, als der Erste Weltkrieg. Die absoluten Zahlen sagen letzten Endes nicht viel, denn sie müssen auf die demographischen Gegebenheiten der Staaten heruntergebrochen, in Prozentzahlen umgesetzt werden. Und so wird deutlich, dass die französischen Verluste – gemessen an der Bevölkerung (47 Mio.) per saldo die größten waren. Frankreich litt seit mehr als 100 Jahren an demographischem Schwund, denn schon die napoleonischen Kriege hatten Frankreich einen hohen Blutzoll abgefordert. Zwar erschrecken die astronomischen Verlustzahlen dieses ersten großen Völkermordens des 20. Jahrhunderts den rezenten Betrachter. Blickt man aber auf die Revolutions- oder die Napoleonischen Kriege mit ihren etwa vier Millionen Toten, die Europa damals mit einer weitaus geringeren Bevölkerung verkraften musste, so ist schon dieser Aderlass enorm. Was die demographischen Auswirkungen betrifft, so darf die Aufmerksamket nicht nur den physisch Toten gelten, sondern muss den Blick auf die Fertilität, auf die „Volkskraft“ richten. Die folglich Nichtgeborenen übersehen wir zumeist, und Frankreich gelang es bis zum nächsten Waffengang im Jahre 1940 nicht mehr, diese Verluste nur ansatzweise auszugleichen. Samuel Huntingtons Buch vom „Clash of Civilisations“ widmet einige prominente Kapitel dem sogenannten „Youth-Bulge“, also jener Ausbuchtung des männlichen Segments der imaginierten Bevölkerungspyramide in der ­Altersklasse der fünfzehn- bis dreißig-jährigen Männer, jener „Testosteronbeule“ einer Population, die eine Gesellschaft einerseits aggressiv macht, ihr aber andererseits das bietet, was man bis 1914 noch „Kanonenfutter“ nannte; junge Männer en masse, bereit und verfügbar, um sich auf dem Altar des Vaterlands zu opfern. Dieses Reservoir erschöpfte der Erste Weltkrieg in allen kriegführenden Staaten gründlich. Hinzu kam ein enormer Elitenverlust, denn die Verluste unter Offizieren und Reserveoffizieren lagen im Schnitt deutlich über den Mannschaftsverlusten  – Leutnant sein, heißt „vorsterben



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können“, wie es bei Walther Flex zu lesen ist.30 Es ist rein spekulativ und unergründbar, wie viele Talente, potentielle Nobelpreisträger gar, an der Somme, in Flandern, vor Gallipoli oder Verdun den Tod fanden. Bekannt aber ist, dass beispielsweise an der Somme am 1. Juli 1916 mit 30.000 Mann blutigen Verlusten auf britischer Seite innerhalb weniger Stunden, zahlreiche Absolventenjahrgänge der Universitäten von Cambridge und Oxford im Feuer der deutschen Maschinengewehre fielen. Daraus resultiert eine insgesamt im frühen 21. Jahrhundert unvorstellbare oder nur schwer nachvollziehbare Traumatisierung der europäischen Gesellschaften in toto, die zumindest auf der Seite der westeuropäischen Sieger den Nährboden für den Pazifismus der Zwischenkriegszeit schuf. 1. Sachsen, Europa und der 1. Weltkrieg Von den rund fünf Millionen Untertanen des Königs von Sachsen des Jahres 1914 zogen immerhin 750.000 Männer ins Feld, von diesen fielen 213.000 Mann, d. h. zehn Prozent der gefallenen Deutschen entfielen auf das Königreich Sachsen.

30  Flex, Walter: Der Wanderer zwischen beiden Welten. München o.  J. [Aufl. 611–639 Tsd.] 9. Im Orig.: „Leutnantsdienst tun heißt: seinen Leuten vorsterben. …“.

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Das Andenken an die Gefallenen aber, das Erinnern an die kollektive Leistung spielte von da an eine bedeutsame Rolle im gesellschaftlichen Diskurs und in der Öffentlichkeit der Weimarer Republik und mithin Sachsens. Und dieser Krieg erzeugte Ungeheuerlichkeiten, die bis dahin als unvorstellbar galten: Verstümmelte und Invalide in grosser Zahl.31 Derart entstellte Soldaten, gueilles cassés,32 erlagen dank des medizinischen Fortschritts nun nicht mehr ihren Wunden, sondern sie trugen das Menetekel des Krieges sichtbar in die Gesellschaften. Zwar war das Entsetzen angesichts des menschlichen Leides groß, doch bleibt es im Kriege unerheblich, ob man von einem römischen Kurzschwert, einem englischen Langbogen-Pfeil oder von einem Dumdum-Geschoss zerfetzt, getötet oder entstellt wird. Hier neigt der Betrachter dazu, die Schrecken der Gegenwart zu überhöhen.33 Aber im Ersten Weltkrieg vollzog sich nach 1914 eine Parallelentwicklung einerseits des Sanitätsdienstes, der Medizin und der Waffenwirkung, die solch bemit­ 31  Deren Zahl stieg proportional den Möglichkeiten der medizinischen Versorgung, die möglicherweise hinsichtlich der Wundversorgung in keiner Epoche eine so rasante Entwicklung nahm wie während jener vier Jahre zwischen 1914 und 1918. Alleine der Wundbrand, der für die Masse der Verwundeten früherer Zeit den Tod brachte, verlor seinen Schrecken. 32  „Zerschmetterte Antlitze“ mag eine adäquate Übersetzung sein. 33  Im Ersten Weltkrieg fielen: ca. 70 Prozent durch Artillerie-Wirkung / ca. 30 Prozent durch Infanterie-Geschosse (meist MG-Feuer) / 3 Prozent durch blanke Waffen / 1 Prozent durch Gas. vgl. Wehner, Jens: Militärische Verluste von 1914 und ihre Bedeutung, in: Katalog 14-Menschen-Krieg, Dresden 2014, 141–153. Angesichts dieser Zahlen ist es durchaus interessant, dass Tod und Verwundung durch Gas als so besonders grausam erscheinen, während das massenhafte Niedermähen von Soldaten durch Artillerie und Maschinengewehrfeuer als „normal“ hingenommen wird.



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leidenswerten Geschöpfen überhaupt fortzuexistieren erlaubte. In früheren Kriegen starben sie im zeitlichen und räumlichen Umgriff des Schlachtfelds, und der „Heimat“ blieb ihr Anblick erspart.34 Der Schrecken des Krieges manifestiert sich in vielleicht kaum einer anderen Darstellung deutlicher als eben in diesen Abbildungen geschundener Soldatenkörper. Gemeint ist hier nicht der „Heimatschuss“, der Oberschenkeldurchschuss oder der Lungendurchschuss, von dem z. B. Ernst Jünger erst nach drei Jahren wieder genas, hier geht es um die Verstümmelten und mit Prothesen versehenen Soldaten, die danach in den Wirtschaftskreislauf, in den Arbeitsmarkt wieder in irgendeiner Weise eingegliedert werden mussten, und damit weitere Kriegsfolgekosten verursachten, die ihre Familien und Angehörigen aber zudem moralisch ungeheuer belasteten. Insofern liegt also in den Verlusten eine Wurzel des europäischen Sozialstaats. Jene Kriegsversehrten, jene Invaliden bildeten damit zukünftig eine soziale Gruppe der Unzufriedenen.35 Die Bürgerschaften kultivierten das Totengedenken, d. h. die Pflege der Memoria der Gefallenen in bisher ungekanntem Maße. Und mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge entstand 1919 eine halbstaatliche Organisation, die sich um Pflege und Erhalt der Gräber der deutschen Gefallenen sorgte. Die Frage, wie mit Kriegsgräbern in Millionenzahl umzugehen sei, bewegte nicht nur Fachkreise, sondern sie berührte große Teile der Gesellschaft, da nahezu jede Familie einen gefallenen Vater, Bruder oder Sohn zu beklagen hatte.36 Das ewige Ruherecht der Gefallenen, wie es die Genfer 34  Man mag hier absehen von den Bildern eines Albrecht Adam, der die Schrecken von Napoleons Russland-Feldzug dokumentierte, den Bildern Goyas, oder den Skizzen des Dreißigjährigen Krieges aus der Feder eines Caillot. Immerhin: mit der Erfindung von Lithographie und Daguerrotypie / Photographie verbreiteten sich realistischbildliche Darstellungen des Kriegsgeschehens abseits der Schlachtfelder, bis hin in die Bürgerstuben, die von der Schlachten- und Heldengemälden abwichen, die seit Alters die europäischen Museen füllten. Von „dulce et decorum“ blieb hier wenig. 35  Dies illustriert eine sächsische Episode: eine Demonstration sächsischer Invalider endete im April 1919 vor dem Kriegsministerium. Dies ist das heute als „Blockhaus“ bekannte Gebäude an der Augustusbrücke in Dresden. Sie stürmten das Kriegsministerium, zerrten den sozialdemokratischen Kriegsminister, Gustav Neuring (1879–1919), aus seinen Amtsräumen, warfen ihn in die Elbe und als er sich als schwimmfähig erwies, „versenkten“ sie ihn mittels Maschinengewehrfeuers. Soviel zur inneren Situation, zu den Spannungen innerhalb der Gesellschaft kurz nach dem Friedensschluss. 36  Während des Krieges ventilierte man unterschiedliche Konzepte zum Umgang mit den sterblichen Überresten der Gefallenen, für die es bis dahin kein Vorbild gab, u. a. dachte man an den Betrieb von Feldkrematorien, um vor allem die hygienische Dimension des Anfalls von Leichen zu bewältigen. Noch im 1870er Krieg blieb die Zahl der Gefallenen örtlich und zeitlich beschränkt, d. h. sie waren nach einer Schlacht zu bestatten. Doch ab August 1914 galt es im Durchschnitt 6.000 Tote täglich zu be­erdigen. Die bis dahin übliche Praxis der Anlage von Sammel- oder Massengräbern, wie nach den Schlachten von Leipzig (1813) oder Belle-Alliance / Waterloo

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Konvention dann 1928 kodifizierte, ist eines der Ergebnisse des Erschreckens und der Erschütterung der europäischen Gesellschaften. In Frankreich trägt dem der Kult des „unbekannten Soldaten“ Rechnung. Jener Soldat, der heute unter dem Arc de Triomphe in Paris ruht, wurde nicht von ungefähr unter den Gefallenen von Verdun auserwählt. Im unbekannten Soldaten erhält der anonymisierte Massenkrieg, die Materialschlacht, ihr Symbol. 2. Territoriale Verluste, militärische Beschränkungen und Bedrohungen der staatlichen Ordnung Der Verlust Elsass-Lothringens, incl. der lothringischen Erzminen, galt als unvermeidlich. Die Wiedererrichtung eines polnischen Staates, bereits von den Mittelmächten 1916 eingeleitet, führte zum Verlust der Provinzen Posen und Westpreußen, sowie der Stadt Danzig, die als „Freie Stadt“ späterhin unter Völkerbundsaufsicht stand. Getreu den Bestimmungen des VersaillerFriedens fanden Volksabstimmungen im südlichen Ostpreußen, in Ostoberschlesien, in Eupen und Malmédy und in Nordschleswig statt. Spätestens hier desavouierte sich „Versailles“ erstmalig durch die Mißachtung des postulierten Selbstbestimmungsrechts. Jenes Selbstbestimmungsrecht der Völker galt eben im vorliegenden Falle nicht für die deutsche Bevölkerung in Ostoberschlesien, wo das Ergebnis der Volksabstimmung solange manipuliert wurde, bis ein wesentlicher Teil des ostoberschlesischen Industriereviers schließlich an Polen fiel. Den DeutschÖsterreichern blieb der Anschluss an das Reich verwehrt. Die Entmilitarisierung des Rheinlandes, das Verbot, Befestigungen im Zuge der Grenzen anzulegen, das Verbot von Küstenbefestigungen usw. gehören hier genannt. Dies alles sind Bestimmungen, die Deutschland ins Mark trafen. Einbußen Deutschlands Verluste

Bevölkerung

Fläche

Landwirtschaft

 %

10

20

25

Eisenerz 80

Flotte 90

Luftwaffe 100

Kolonien 100

(1815) kam nicht mehr in Betracht, da es es sich bei den Gefallenen nicht mehr um den „scum of earth“ (Wellington über seine Soldaten, 1815), sondern um die Vertreter aller Stände und Klassen handelte. Statistische Erhebungen und weiterführende Literatur zu den Verlusten im Ersten Weltkrieg u. a. bei Wehner, Jens: Militärische Verluste von 1914 und ihre Bedeutung, in: Katalog 14-Menschen-Krieg, Dresden 2014, 141–153.



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Das ist zwar noch nicht jener „Karthagische Friede“, von dem in der deutschen Publizistik jener Zeit die Rede war, aber es ist jedenfalls ein Friede von unerwarteter Härte, mit dem sich in Deutschland quer durch alle Parteien niemand versöhnte. Und in Deutschland fehlte es zu dieser Zeit nicht an Bedrohungen der inneren Ordnung. Über all dem schwebte als besonderes Schreck­gespenst, die reale Bedrohung der Bolschewisierung Deutschlands, d. h. des Übergreifens des russischen Bürgerkrieges bzw. der Herrschaft der Bolschewiki in Form der Räteherrschaft nach Deutschland. In Versailles registrierte man dies ebenfalls mit Besorgnis, was u. a. zum einstweiligen Verbleib deutscher Truppen, später Freikorps, im Baltikum führte. Man betrachte den Kapp-Lüttwitz-Putsch des Jahres 1920 in Preußen, oder die Zustände in Bayern, die zur Errichtung der Münchner Räterepublik führten. Dort war der bayerische Ministerpräsident und Anarchist, Kurt Eisner (1867–1919), vom jugendlichen Grafen Arco auf Valley auf offener Straße niedergestreckt worden.37 Der politische Mord grassierte zu dieser Zeit in Deutschland. Die Kommunisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind hier als weitere Beispiele zu nennen, die Soldaten der Garde-KavallerieSchützendivision in Berlin ermordeten. Walter Rathenau oder schließlich Matthias Erzberger, sogenannte „Erfüllungspolitiker“ oder „Novemberverbrecher“, also Personen, die im Zuge der allgemeinen Radikalisierung der politischen Verhältnisse in der Republik auf der Rechten als Staatsfeinde galten, fanden den Feme-Tod. Daneben erblühte, von Frankreich unterstützt, der rheinischen Separatismus und schließlich kam es zum „Ruhrkampf“ des Jahres 1923, der Deutschland eine französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets brachte und das Reich an den Rand von Ruin und Bürgerkrieg führte. Allesamt Ereignisse von einer Dramatik, die selbst gefestigtere Staaten hätten zum Wanken bringen können – indes, die Republik wankte, aber sie stürzte nicht. Dies ist das Verdienst der Vernunftrepublikaner vom Schlage des Generalobersten Hans v. Seeckt, denen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mehr galt, als ihre eigene monarchische Gesinnung und die gelinde Verachtung der Republik und ihrer Repräsentanten. Von friedlichen Verhältnissen kann nach dem In-Kraft-Treten des Friedens von Versailles in Deutschland keine Rede sein. Man stelle sich vor, die Westdeutsche Bundesrepublik wäre nach 1949 ähnlichen Belastungen ausgesetzt gewesen, hätte sie diesen zu trotzten vermocht? Insofern ist es geradezu verwunderlich, dass die junge deutsche Republik – nicht zuletzt Dank ihrer wohldurchdachten Verfassung – nicht in einem Strudel revolutionärer Wirren 37  Anton Gf. v. Arco auf Valley (1897–1945). Eisners Parteigänger richteten Arco übel zu und hätten ihn fast gelyncht, doch gelang es ihn schwerverletzt in eine Klinik zu bringen, wo er die revolutionären Wirren und den roten Terror überlebte.

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versank, sondern überdauerte. Denn diese Verfassung ermöglichte es mit ihrem – zu Unrecht vielgeschmähten – Art. 4838 der Republik überhaupt, die Krisen der ersten Jahre ihres Bestehens zu überwinden. V. Das „System“ der Pariser Vorortverträge Von einem intendiert-konsistenten System kann man nicht sprechen, denn ein solches impliziert einen wirklichen Leitgedanken, der all jenen Verträgen zugrunde gelegen haben sollte. Außer dem Bedürfnis Frankreichs nach „Sicherheit“, ist wenig zu erkennen, was insbesondere auf die Absicht, eine wirklich dauerhafte Friedensordnung zu begründen, schließen ließe. Anders, als dies nach den bisher genannten großen europäischen Friedensschlüssen der Fall war, die entweder auf dem Prinzip der „Balance of powers“, oder der Wiederherstellung von „legitimer Herrschaft“ fußten. Im Ergebnis lag das europäische Mächtekonzert in Trümmern. Folgende Übereinkommen sind zu nennen: es ist der Friedensschluss von Versailles mit Deutschland, von St. Germain mit Rest-Österreich, von Neuilly mit Bulgarien, Trianon mit Ungarn und schließlich der Friedensvertrag von Sèvres mit dem Osmanischen Reich bzw. der Türkei von 1920, der mit dem Vertrag von Lausanne (1923) seine endgültige Gestalt fand.39 Die Friedensschlüsse in Europa schufen neue und verlängerten alte Konfliktlinien, und zwar zum Teil bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts.40 Sie durchzogen insbesondere Zwischen-Europa, jenen Staatengürtel aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, und der Tschechoslowakei, die sich dort ausbreiteten, wo vor 1914 die drei mitteleuropäischen Kaiserreiche aneinandergrenzten. Diese sind zum Teil bis heute – Stichwort: Ukraine – Zankapfel zwischen den Imperien, das Zurückdrängen Sowjet-Russlands bis auf eine Linie, die übrigens fast der heutigen Grenzziehung entspricht, sorgte in 38  Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten und das Recht, die vollziehende Gewalt zu übernehmen. 39  Die ursprünglich außerordentlich harten Bedingungen die eine weitgehende Zerschlagung selbst der anatolischen Kern-Türkei vorsahen, überholte der Gang der Dinge, u. a. der griechisch-türkische Krieg, bis zur fast vollständigen Hinfälligkeit. Der Friede von Lausanne 1923, den die kemalistische Türkei abschloss, darf dagegen als moderat gelten. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Türkei Gebiete verlor, die vom Euphrat bis zum Mittelmeer und vom Orontes bis zum Indischen Ozean reichten, sie umfassen die heutigen „Staaten“ (inzwischen zumeist: failed states) Irak, Syrien, Libanon, Palästina / Israel, Jordanien und die gesamte arabische Halbinsel. 40  Gerade die „Orientalische Frage“, die seit spätestens der Mitte des 19. Jahrhunderts die europäische Diplomatie umtreibt, ist heute, angesichts der weiterer Auflösung anheimfallenden Konkursmasse des Osmanischen Reiches brennender denn je seit 1920 ff.



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der Sowjetunion für stetigen Groll. Und so keimte ein sowjetischer Revisionismus, der die Wiedergewinnung der alten Grenzen Russlands verfolgte. Frieden also herrschte in Europa keineswegs, vielmehr wurde die Nationalitätenproblematik durch die Auflösung der supranationalen Großreiche nicht gemindert, sondern letzten Endes en miniature potenziert. So mangelte es in Zwischenkriegs-Europa an Verwerfungen nicht, beispielhaft können genannt werden: die Revolutionierung Russlands und die stetige Furcht vor der Bolschewisierung der sowjetischen Randstaaten oder der russisch-polnische Krieg bis 1920. In jenem Jahr, 1920, standen – man nannte es das Wunder an der Weichsel – russische Truppen unter Marschall Budjonny vor Warschau und nur französische Hilfe erlaubte es Polen, diese zurückzuschlagen. Der polnisch-litauische Konflikt – u. a. reklamierte Polen die litauische Hauptstadt Wilna für sich und besetzte sie. Es sind die monarchischen Restaura­ tionsversuche des unglücklichen Königs Karls IV.41 in Ungarn und viele andere Zerwürfnisse mehr, die diese Zeit des Zwischenkriegs kennzeichnen. Die Verhältnisse im Osmanischen Reich und den gewaltsamen Bevölkerungsaustausch der griechischen Bevölkerung, auch die Versuche Griechenlands, sich im Dodekanes und an der Gegenküste ein neues hellenisches Imperium zu schaffen, bleiben hier unbehandelt. Doch ist es jene Maßnahme zur Schaffung ethnisch geschlossener Siedlungsräume, euphemistisch als „Entmischung“ bezeichnet, die in eine massive, Millionen Menschen betreffende Bevölkerungsverschiebung mündete. Nach 1945 war diese das Vorbild für ähnlicher Maßnahmen in Mitteleuropa. „Schuld“ war in den europäischen Friedensschlüssen bis Dato nie ein ­ riterium. Insofern ist es der Artikel 231, der Kriegsschuldartikel, der in K Deutschland einen besonderen Ingrimm erregte und die Nichtakzeptanz des Friedens von Versailles potenzierte: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen ihrer Angehörigen in Folge des Ihnen und ihren Angehörigen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“42

Derartige Formulierungen erzeugten zwangsläufig Widerwillen und der juristische Grundsatz des nullum crimen sine lege trat hier außer Kraft. Auch das allierte Auslieferungsersuchen der ‚Kriegsverbrecher‘: des Kaisers, der Obersten Heeresleitung(en) und prominenter deutscher Offiziere sorgte für großes Unbehagen und stärkte den Zusammenhalt im deutschen Volk gegen 41  Karl IV. von Habsburg, König von Ungarn 1916–1918 und als Kaiser von Österreich Karl I., der 1920 versuchte, den ungarischen Thron wieder für sein Haus zu gewinnen. 42  Zit. n. Hafner, Seb. (Hg.): Der Vertrag von Versailles, 238.

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Versailles. Man kann füglich behaupten: das gesamte politische Spektrum – von der KPD bis zur äussersten Rechten lehnte diesen Frieden grosso modo als unannehmbar ab. Entsprechend die Wahrnehmung: „Die Einzelheiten, gerade die ins Detail gehenden, sind von einer sadistischen Infamie beseelt, Deutschland auf immer zu entehren, es selbst jeder Ruhmeserinnerung zu berauben.“43 So Thomas Mann, der zumindest in den späteren Jahren einer allzu nationalen Gesinnung unverdächtig ist. In der deutschen Historiographie kennzeichnen Brüche die Einordnung von Versailles. Bis Anfang der 60er Jahre herrschte die Ablehnung des Systems der Pariser Vorortverträge vor.44 Mit der Fischer-Kontroverse und der aufkommenden Sonderwegstheorie rückte Versailles in ein deutlich anderes Licht. Die aktuellsten Veröffentlichungen zum Thema – wie der Post-ClarkDiskurs zeigt – tarieren die Gewichte neuerdings anders aus; die Diskurs­ hoheit Wehlers (2014 †) und seiner Adepten zerrinnt.45 Dies offenbart, dass bestandssichere Meistererzählungen nicht existieren, und dass die Betrachtung des Geschehenen oftmals weniger über die Ereignisse selbst aussagt, als über die mentale und zeitgeistdeterminierte Disposition derer, die es interpretieren. Es soll dies ein deutlicher Appell für das revidere sein, die stetige Wiederbetrachtung und Neubewertung historischer Ereignisse im fachwissenschaftlichen und öffentlichen Diksurs – die in Deutschland viel zu rasch als „Revisionismus“ geschmäht wird.46 Ökonomisch waren der I. Weltkrieg und die folgenden Friedensschlüsse für Mittelmächte und Entente eine Katastrophe, und dies vom ersten Tage an, denn kein Ökonom hatte die verheerenden Auswirkungen eines großen Krieges auf die Volkswirtschaften der beteiligten Mächte nur annähernd vorhergesehen, ganz zu schweigen von den politisch Verantwortlichen, die daraus ihre Schlüsse gezogen hätten.47 Allenthalben hinterließ der Krieg zerrüttete 43  Mann,

Thomas: Tagebücher 1918–1921, FFM 1979, 233. Ritter ist der wesentliche Exponent dieser Schule. 45  Clark, Christopher: Schlafwandler, (Dt.) München 112013, oder Mc Meekin, Sean: Russlands Weg in den Krieg, (Dt.) Berlin 2014. 46  Besondere Aufmerksamkeit verdient: Schmidt, Reiner: Revanche pour Sédan – Frankreich und der Schliefenplan, HZ 3-2016, S. 393–425. Schmidt belegt hier, noch deutlicher als Clark, die kriegerischen Absichten Frankreichs „Poincaré c’est la guerre“. 47  Stone, Norman: A short WW I History. London 2007, 29: „No war has ever begun with such a misunderstanding of its nature.“ Und dies galt nicht nur für das Kriegsbild, sondern nicht minder für die Vulnerabilität der beteiligten Gesellschaften und Ökonomien. Bezeichnend hierfür die Aussage des ungarischen Ministers der Finanzen, Baron Telszky, der im August 1914 äußerte, man habe Geld, um etwa drei Wochen Krieg zu führen, vgl. ebd. 30. 44  Gerhard



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Staatsfinanzen – national und international; nicht zuletzt durch die Repara­ tionsforderungen, die übrigens nie abschließend festgesetzt wurden. Man findet im Versailler Vertragstext häufiger die Formulierung: „Einer späteren Festsetzung unterworfen“ oder „wird noch geregelt“ und dergleichen. Sodass die ganz grundsätzliche Frage aufscheint, ob hier ein Präliminar-Frieden oder tatsächlich ein abschließendes Friedensdokument vorliegt. Selbst die privaten Ökonomien hienterließ der Krieg zerrüttet. Die Weltwirtschaft verfiel einer enormen Krisis und es kam – Stichwort: Mittelstand / Beamtentum – zu einer beachtlichen Radikalisierung großer Teile der Bevölkerung. Überhaupt läutete Versailles das Ende des bürgerlichen Zeitalters ein. Die Entbürgerlichung der Gesellschaften schritt voran, verstärkt noch durch die Katastrophe des II. Weltkriegs und die Sowjet-Herrschaft über halb Europa in dessen Gefolge. Der heutige Befund postdemokratisch-nachbürgerlicher Gesellschaften, findet in diesem Sinne bereits hier seinen Anfang. Die Mittelmächte finanzierten den Krieg durch die Betätigung der Notenpresse und die Aufforderung an ihre Bürger zur Zeichnung von Kriegsanleihen. Das heißt, die Mittelmächte bestritten ihre Kriegskosten aus dem Vermögen ihrer Bürger, das nach dem Waffengang schlichtweg aufgezehrt war. Die Entente-Mächte wiederum wurden von den Vereinigten Staaten weitestgehend finanziert. Und ein unverdächtiger Beobachter wie Wladimir Iljitsch Lenin interpretiert den Frieden von Versailles wie folgt. „In den Siegerländern, in England und Frankreich betragen die Schulden über 50 Prozent des gesamten Nationalvermögens, in Italien 60–70 Prozent und in Russland 90 Prozent. Aber uns machen diese Schulden keine Sorgen, denn wir haben alle Schulden annulliert.“48

Diese Annullierung der Schulden spielt im Konferenzgeschehen noch eine Rolle. Denn die Weigerung Sowjet-Russlands, die Verbindlichkeiten des ­Zarenreichs zu bedienen, unterbrach den Kapitalkreislauf. Die USA gaben Kredite an Frankreich, Frankreich reichte diese an das zaristische Russland weiter. Und nun blieb Frankreich unbefriedigt und in Folge dessen auch die Vereinigten Staaten von Amerika, so dass die Konferenz tatsächlich die 48  „Der Krieg hat ihnen [den Deutschen] durch den Versailler Vertrag Bedingungen auferlegt, die diesen fortschrittlichen Völkern koloniale Abhängigkeit, Elend, Hunger, Ruin und Rechtlosigkeit brachten … unter denen noch kein zivilisiertes Volk gelebt hat.“ Nachfolgend: zur Verschuldung der Großmächte gegenüber den USA … die vor dem Krieg die Schuldner Englands waren, und nun zu einem guten Teil dessen, vor allem aber Frankreichs Gläubiger sind. „… in den Siegerländern, in England und Frankreich, betragen die Schulden über 50 Prozent des gesamten Nationalvermögens, in Italien 60–70 Prozent und, in Russland 90 Prozent. Aber uns machen diese Schulden keine Sorgen … denn … wir haben alle Schulden annulliert“. zit n. Hafner, 378 ff.

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Möglichkeit erwog, die russischen Schulden auf das Deutsche Reich als Kriegsverlierer abzuwälzen. Damit belasteten die Bestimmungen der Artikel 116 ff. einstweilen die sowjetisch-deutschen Beziehungen, bis diese mit dem Vertrag von Rapallo 1922 ausgräumt wurden. Der deutsche Außenminister Stresemann und der sow. Außenkommissar Tschitschernin schlossen hierbei zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion quasi einen Frieden und erklärten alle wechselseitigen Ansprüche für erledigt. VI. Ein Fazit Mit dem Frieden von Versailles liegt ein Friedensschluss vor, der keinen dauernden Frieden stiftete, und daher nicht zu den erfolgreichen, großen europäischen Friedensschlüssen seit 1648 zählt. Ob Versailles aber in direkter Linie zum zweiten Waffenstillstand von Compiègne führte, den Frankreich unter umgekehrten Vorzeichen im Juni 1940 unterzeichnen musste, bleibt offen. Der Friedensschluss steht am Ende eines Geschehens, in dem unbändige nationale Leidenschaften entfesselt, die Büchse der Pandora geöffnet worden war, und diese leichthin nicht mehr zu schließen war. Franz Grillparzer formulierte im 19. Jahrhundert: „Von der Humanität, über die Nationalität da sind wir dann schon zur Bestialität.“49 Jener antizipierte Schritt zur Bes­ tialität blieb dem Zweiten Weltkrieg vorbehalten, in dessen Windschatten kriminelle Untaten bisher ungeahnter Dimension begangen wurden. Die Fähigkeit der Akteure zum Frieden-Schließen, Kriterien wie Demut oder Einsicht in die Begrenztheit des menschlichen Handelns, blieben in Versailles ein Desiderat. Vielmehr kommen agonale Gesichtspunkte zum Tragen. Gemeinsame, verbindliche europäische Vorstellungen, wie sie die Friedensordnungen von 1648 bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägten, blieben außer Wert gesetzt. Die Revisionismen: Es ist nicht nur der deutsche Revisionismus, der in den 1920er Jahren keimte, denn vom Friedenssystem profitierten nur wenige. Und so sind es u. a. die drei Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs Italien, Japan und Deutschland, die sich als Zu-Kurz-Gekommene späterhin zu befriedigen suchten – cum grano salis. Es ist ferner Ungarn, und es ist nicht zuletzt die junge Sowjetunion. Das heißt, das Friedensgefüge von Paris lag von verschiedenen Seiten mit wechselnder Intensität und zu unterschiedlichen Zeitpunkten unter Feuer und wurde unterminiert. 49  Grillparzer, Franz: Gedichte, 3. Abteilung, III. „Einfälle und Inschriften“, o. O. 1849. „Der Weg der neueren Bildung geht Von der Humanität / Durch Nationalität / Zur Bestialität“.



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Die Weimarer Republik indes war bei der Revision von Versailles keineswegs erfolglos. Zu nennen sind: Young-Plan, Dawes-Plan, Aufnahme in den Völkerbund, Wegfall der Rüstungsbeschränkung im Rahmen einer allgemeinen Abrüstungskonferenz zu Beginn der Dreißiger Jahre. Die Revision war erstaunlich weit gediehen und die Bereitschaft, insbesondere in Großbritannien, für die Durchsetzung der Versailler Bestimmungen erneut die Klingen zu kreuzen, blieb gering. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass dieser Weg direkt und zwangsläufig zu Adolf Hitler und den Nationalsozialisten hätte führen müssen. Obgleich diese die schärfsten Agitatoren gegen Versailles waren und der Revisor „… war der Held der Stunde!“ wie Sebastian Haffner als unverdächtiger Zeitgenosse, in seinen Anmerkungen zu Hitler konstatiert. Der Friedensschluss beinhaltete Demütigungen, Strafbestimmungen, Besetzungen und Souveränitätsbeschränkungen über einen sehr langen Zeitraum und als ein Novum zudem Eingriffe in das Privatvermögen der Bürger des Besiegten, vgl. Artikel 297 des Versailler-Friedens: Das gesamte deutsche Auslandskapital Patente, Firmen, Werksanlagen in großer Zahl und von bedeutendem Wert fielen in die Hände der Sieger und wirtschaftlichen Konkurrenten. Was dies heißt wird deutlich, wenn man das Deutsche Reich von 1913 als den wesentlichen „Global Player“ der Weltwirtschaft erinnert.50 Die modernen Industrien Optik, Elektroindustrie, Chemie – Deutschland war auf diesen Gebieten führend und deutsche Firmen mit Niederlassungen im Ausland vertreten, all dies ging verloren. Versailles wirft einen langen Schatten, Krieg und Friedensschluss offenbaren signifikante Entgrenzungen bisheriger kultureller Standards. Der Mord an der Zarenfamilie zum Beispiel im Juli 1918 auf Befehl Lenins, der Einsatz von Giftgas, der unbeschränkte ­U-Boot-Krieg. Hier ist bewusst nicht von Kriegsverbrechen die Rede, aber es liegen Brüche bewährter Konventionen, des bisherigen europäischen Comments im Umgang miteinander vor, der die Kriege im Zeitalter der „gezähmten Bellona“, also des 19. Jahrhunderts, noch eingehegt hatte. Und es ist paradigmatisch auf den Punkt zu bringen, indem man die Vorstellungen Clausewitz’ und Ludendorffs vergleicht. Clausewitz entwickelt den Absoluten Krieg als Denkfigur. Den Krieg als ein durchaus agonales Geschehen, geführt, um dem Gegner unseren eigenen Willen aufzuzwingen. Aber immer unter dem Vorbehalt des politischen Zieles. Die Relation von Mittel, Ziel und Zweck blieben in der clausewitzschen Denkfigur des absoluten Krieges gewahrt. Der Krieg gleitet nicht ins Uferlose: er bleibt ein Akt, der weiterhin politischen Regeln gehorcht ohne sich militärisch zu verselbständigen. In Ludendorffs Erwägungen zum Totalen Krieg jedoch emanzi50  Wofür alleine die beachtliche Zahl der Nobelpreise – statistisch etwa ein Drittel – bürgt, die bis 1914 an deutsche Forscher und Wissenschaftler – vielfach Juden – gingen.

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piert sich militärisches Denken, werden Gesellschaft und Staat zu Hilfstruppen, zu Auxiliarinstitutionen des Militärs reduziert. Das letzte Wort hat Georges Clemenceau, der vor französischen Offiziersanwärtern im Jahre 1919 sagte: „Nun müssen Sie sich über Ihre Zukunft keine Sorgen mehr machen, denn der soeben geschlossene Friede sichert Ihnen 10 Jahre voller Konflikte in Europa.“51 Anhang Ich danke meiner langjährigen akademischen Lehrerin an der TU Darmstadt, Frau Prof. Dr. Natalie Fryde von Stromer, für die folgenden Ausführungen zur britischen Sicht der Dinge, die ich mit ihrer freundlichen Erlaubnis hier vollständig wiedergebe: British Reactions to the Treaty of Versailles „Punishment and Prevention“ Margaret Macmillan, great-granddaughter of David Lloyd George, the British Prime Minister at the time of Versailles, summed up the aims of the victors in her authoritative book, The Peacemakers in these words. Different groups placed varying levels of emphasis on the two concepts. The only interests which were not represented at Versailles at all were those of the defeated Germans. This was because the various agreements summarized in the name the „Treaty of Versailles“ did not make up a treaty in the strict sense of the word between victor and defeated but an agreement amongst the victors as to the best way of dealing with the defeated. In all, so many interests were represented at Versailles that it is a wonder that the Peacemakers came to a treaty at all. As it was it finally contained 440 clauses. One of the major protagonists, the USA, indeed refused to sign the treaty. As Norman Davies remarked (p. 922): „The western Powers showed little sense of solidarity amongst themselves. The Americans suspected the British and French of Imperialist designs. The British suspected the French of Napoleonic tendencies. Both the British and the French suspected the strength of America’s commitment. “

As far as the British reaction was concerned, if we start with the theme „punishment “, there was widespread desire in England that Germany should be punished. The Kaiser was held almost solely responsible for the disaster and the war was frequently referred to as „the Kaiser’s War“ and the German forces as „the Kaiser’s army.“ This was a feeling shared by the Prime Minister Lloyd George who abhorred Wilhelm II. It reached its apogée in King George V, who harboured deep resentment and dislike of his cousin Kaiser Wilhelm: 51  Zit.

n. Schwilk, Heimo: Ernst Jünger – ein Jahrhundertleben, 233.



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„He has utterly ruined his country and himself. I look upon him as the greatest criminal known for having plunged the world into this ghastly war which has lasted over 4 years and three months with all its misery.

There was wide popular support for hanging the Kaiser. Indeed, Lloyd George had made this one of the features of his popularity-seeking election campaign in December 1918. Gradually, as the seriously complicated issues after the war were faced, interest in punishing Wilhelm II waned. And when Holland, where he lived in exile, refused to hand him over, the tortured discussions about his ultimate fate died down. But this was only the simplest, most personalized method of expressing fury with Germany. Perhaps because of the intensity of hatred for the Kaiser, the desire for punishment of the remaining political and military élite was not great. Ultimately only 12 officers were prosecuted and nothing really happened to them. The interest of the British public was pretty much restricted to this question of punishing and, especially disarming Germany. All the other issues over borders in Eastern Europe or the Middle East were really not of any interest at all to those outside the cultivated circle of the readers of the Times – although we are still living with the consequences of the redrawing of borders today. The British population sucked up the government’s propaganda. It is fascinating to see what a high level of development propaganda had already reached. Leading literary figures were involved, the newspapers subservient. Espionage also played a role. It has been shown that Lloyd George was informed of all conversations and telegraphs which passed between the allies at the table and behind the scenes in Versailles! In this respect too, Versailles was enormously influential for the future. Unfortunately, in its content, it was preoccupied only with dealing with the past and in many respects, especially for France, restoring a status quo from before 1870 which was as impossible to restore as it was to raise those at the time from the dead. Even amongst the most hot-headed propagators of anti-German resentiment, the question of prevention was bound up with the initial desire for punishment. There were two ways in which it was thought that Germany could be punished and a repetition of 1914 prevented. The first was the military destruction of Germany and the second was its economic exploitation which was intended to pay back the enormous costs of the war. Let us deal with one after the other: There was a general agreement in England that Germany should be disarmed. The question was how far? France, with her enormous losses, needed to be calmed but on the other one hand, the post war German government had to be able to resist revolution and control discontent, both of which were rife in Germany. They also had to fulfil the function of resisting Bolshevism and the unruly nations on their eastern borders. Many in Britain were not happy with Marshal Foch’s desire to destroy German fortifications, limit the German army to 100,000 men and

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occupy the Rhine and its bridgeheads together with the wholesale confiscation of German military equipment. The British were far less alarmed by Germany’s land forces and the tradition of France as the ancient arch-enemy lurked at the back of many British minds. British priorities were ruled by quite different national interests and concentrated on the destruction of Germanys coastal fortifications and those of Heligoland and the entire dismantling of the German navy. Great Britain must indisputably rule the waves. The allies were in agreement with Britain’s demand for the total destruction of Germany’s submarine force. There was less agreement as to what should be the fate of other vessels. Roughly speaking the alternatives were to destroy the ships or to share them out. The discussion was coloured by American fear that the British navy would become to strong. An ugly stalemate remained with many of the boats shelved in Scapa Flow and Britain and America were both left with a nasty taste in their mouths and doubts about their special relationship. The last government manifesto before the election of December 1918 included the clauses 1. Punish the Kaiser 2. Make Germany pay. The latter wish was the cause of more trouble at Versailles than any other subject. Even before it was complicated by the varying interests of the parties, it was complicated by the fact that nobody could correctly assess what the reparations should be let alone to whom they should be paid. In addition, in the course of the protracted discussion, people vacillated. Lloyd George was torn between his desire to make the Germans repay for causing a war – and he abhorred war – and the desire not to see the Germans starving on the streets. His advisers were also divided; the conservative treasury officials were for a hard line whereas John Maynard Keynes inclined to favour a solution which allowed economic growth in Germany and in Europe as well. The French remained hard, the Americans were partially indifferent and the arguments went on and on. The bitterness which these demands caused in Germany did not go unnoticed in England where gradually mildness and mercy came to rule the day – though this was probably this more a pragmatic British reaction to the evident truth that Germany could not pay anyway. The Conservative British opposition under the likes of Churchill had very little to say after Lloyd George’s landslide election victory. The fact that he had won by adopting their hard-line policies will have particularly irritated them. Churchill himself was as vacillatory about the treaty as Lloyd-George, at one time grumbling that it was the best that could be obtained and, at ­another, describing it as ‚complicated idiocy.‘ Given the general British displeasure with the completed document, one may well ask the question why it was ever signed at all? Probably the answer is sheer exhaustion after a year’s consultation coupled with a desire to get on with life. Resignation in the face



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of Clemenceau’s stubbornness mixed with France’s moral advantage of enormous numbers of war dead. Also played their part. Apparently French back stage diplomacy was extremely skilled too. This subject would be excellent for a doctorate. Suggestions for approach include analysis of the factors within Germany which changed minds in Britain on a chronological basis and examination of the factors which allowed the discussion about reparations to gradually fade away. The resulting work would be a very interesting study in the development of political decisionmaking. I conclude with a sentence by Professor Gwyn Jones (who I knew personally!) in the Welsh History Review in 1939: „I do not think we need blame ourselves unduly for the Treaty of Versailles. It was not a very good treaty, but it was certainly not a very bad one, and many of its socalled mistakes have become apparent only since 1931, and then only by the manufacture of grievances. It is due to later blunders that it has served the Nazis so well that they might well circulate copies inscribed in gold among the public libraries in Germany. It was after Versailles that Great Britain, France and America acted with such incredible shortsightedness. America refused to be a good citizen of the world and for domestic reasons withdrew from the League of Nations; Great Britain had not the strength of purposes enough to deflect France from her bitterly anti-Germany policy nor ‚realism‘ enough to go wholeheartedly along with her. The result was that period of internal strain and disorder in Germany which ensured the emergence of an iron dictatorship.“

Gesichter des modernen Krieges Aspekte der Rezeption des Ersten Weltkrieges in Europa nach 1918 Von Hendrik Thoß, Chemnitz I. Einführende Bemerkungen Nach wie vor wird der Erste Weltkrieg in der historischen Forschung wie in der öffentlichen Wahrnehmung als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“1 angesehen. Diese Wertung nimmt jedoch neben dem eigentlichen Kriegsverlauf zwischen 1914 und 1918 zugleich auch Bezug auf die folgenden Jahre und Jahrzehnte, die nicht allein die Geschichte des europäischen Kontinents, sondern vielmehr die weiter Teile der Welt mehr oder minder stark prägen sollten. Dies wird etwa mit Blick auf Form und Intensität der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der Bundesrepublik deutlich, die nahezu vollständig von der an den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust sowie an die deutsche 1  Dieser heute geläufig verwendete Begriff geht zurück auf George F. Kennan, The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875–1890, Princeton 1979, 3. An aktuellen Überblicksdarstellung zum Ersten Weltkrieg wird hier exemplarisch verwiesen auf Herfried Münkler, Der grosse Krieg. Die Welt 1914–1918, Reinbek b. Hamburg 2015; Jörg Friedrich, 14 / 18. Berlin 2014, Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt / M. 2013, Adam Hochschild, Der grosse Krieg. Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2013; Ernst Piper, Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Berlin 2013; Manfred Rauchensteiner / Josef Broukal, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918. In aller Kürze, Wien u. a. 2015. Aus der Vielzahl brit. Literatur exemplarisch: Michael J. K. Walsh / Andrekos Varnava, The Great War and the British Empire. Culture and society, London 2016; George Robb, British culture & the First World War, London 2015; Jack S. Levy / John A. Vasquez, The outbreak of the First World War. structure, politics, and decision-making, Cambridge 2014. In frz. Sprache wird exemplarisch verwiesen auf Daniel Cos­ telle / Isabelle Clarke, Apocalypse. La 1ère guerre mondiale, Paris 2014; Max Gallo, 1914. Le destin du monde, Paris 2013; Pierre Vallaud, 14–18. La Première guerre mondiale, Paris 2011. Akt. russische Literatur: Vjačeslav Michajlovič Meškov, Rokovaja vojna Rossii. 2 Bde., Moskau 2014; A. A. Svečin (Hrsg.), Rosija v Pervoj Mirovoj. Velikaja zabytaja vojna, Moskau 2014; A. B. Astašov, Russkij front v 1914–načale 1917 goda. Voennyj opyt i sovremennost, Moskau 2014. Akt. italienische Literatur exemplarisch: Nicola Labanca (Hrsg.), Dizionario storico della prima guerra mon­ diale, Bari u. a. 2016; Gaetano Rasi, Tutto è cambiato con la prima guerra mondiale. Società ed economia dal 1915 al 1922, Chieti 2015.

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Teilung überlagert ist. Demgegenüber stellt der Erste Weltkrieg für Briten, Franzosen und Belgier einen, vielleicht den zentralen Bezugspunkt bei der Konstruktion ihrer nationalen Identität dar, in der sich das Jahr 1914 gewissermaßen auch als Scheidelinie zwischen zwei Epochen interpretieren lässt. Im Mittelpunkt des sich anschließenden Beitrages stehen Fragen, die sich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit und deren Bezüge auf die Jahre des Krieges auseinandersetzen. Hatte sich doch dieser Weltkrieg tief in die Physis wie in die Psyche jener Nationen eingeprägt, die ihn bestritten haben. Überdies stellte der Krieg nicht zuletzt auch aus demographischer Perspektive einen tiefen Einschnitt dar, der aus der Auslöschung bedeutender Teile einer Reihe männlicher Geburtsjahrgänge resultierte. Diese Quantität führte, aus nationaler wie aus globaler Perspektive betrachtet, zugleich zu einer neuen Qualität in der kollektiven Erfahrung organisierter militärischer Gewalt. Die Präsenz der Opfer des Krieges − also der mehr oder minder gut in die Zivilgesellschaft integrierten Kriegsversehrten wie der Toten − prägte die Nachkriegsgesellschaften, wenigstens bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, in zuvor unbekannter Weise. Der Erste Weltkrieg gilt auch als der erste große militärische Konflikt, des Filmzeitalters. Alfred Machins (1877–1929) 1914, nur wenige Wochen vor Kriegsausbruch uraufgeführtes Werk „Maudit soit la Guerre“ gilt als der erste Antikriegsfilm der Filmgeschichte, der 1916 entstandene britische Dokumentarfilm „The battle of the Somme“ hatte allein in Großbritannien binnen weniger Wochen etwa 20 Millionen Zuschauer. Während beide Filme als Stummfilme dem Zuschauer allein die visuelle Wahrnehmung des Krieges ermöglichten, boten sich den Zuschauern der 1930 gedrehten Romanverfilmung von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, der sowohl als Stummfilm als auch als synchronisierter Tonfilm erschien, durch die Kombination von visueller und akustischer Wahrnehmung völlig neue Perspektiven2. Zweifellos können diese wie auch andere Filme heute als Bausteine einer kollektiven Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gelten, zu Strukturelementen einer kollektiven Identität, im Sinne Pierre Noras zu „Erinnerungsorten“ werden3. Hinsichtlich der Entwicklung „deutscher Erinnerungsorte“ hat sich auch der Erste Weltkrieg als prägend erwiesen, so etwa im Falle des Stahlhelms M 1916, dessen Formgebung das Design beispielsweise USamerikanischer Fabrikate bis heute prägt. 2  Vgl. Matthias Rogg, „Im Westen nichts neues“. Ein Film macht Geschichte. In: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung, 2008, Nr. 4, 4–9. 3  Vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt / M. 1985; Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005; Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002; Pierre Nora, Les Lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984–1992.



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Wenngleich unter den Siegermächten zunächst Freude, im mindesten jedoch Erleichterung über das Ende des Krieges und den errungenen Sieg herrschte, machte sich angesichts der vielfältigen menschlichen wie materiellen Verheerungen auch hier nur zu rasch Ernüchterung breit. Diese Ernüchterung wich insbesondere in Frankreich in weiten Teilen der Bevölkerung einer pazifistischen Grundhaltung, die sich nicht zuletzt in der Gründung und im Wirken zahlreicher pazifistischer Organisationen, Vereine und Verbände niederschlug4. Gleichwohl begann sich auch die französische Armee mit vielfältigen Planungen für den nächsten Waffengang auseinanderzusetzen, der − nicht allein in den Augen Ferdinand Foches (1851–1929) − erneut gegen Deutschland würde ausgefochten werden müssen. Jedoch unterschieden sich die Schlüsse, die die französischen Sieger und die deutschen Verlierer aus diesem Ersten Weltkrieg zogen, teils diametral. II. … eigentlich waren sie alle Verlierer Waren die bedeutenden kriegführenden Nationen im Jahr des Ausbruchs des Weltkrieges 1914 ökonomisch und kulturell prosperierende Staaten, die zwei Drittel der industriellen Produktion der gesamten Welt erzeugten und drei Viertel des Welthandels abwickelten, so endete diese Dominanz spätestens 1918. Mit den USA betrat ein Akteur die Weltbühne, von dessen Handeln nicht allein das Wohl und Wehe Deutschlands, sondern vielmehr das aller vor 1914 dominierenden europäischen Nationen, so auch Großbritanniens und weit mehr noch Frankreichs, abhingen5. Von den 6,1 Millionen im Krieg eingesetzten Briten und Iren starben etwa 750.000, 1.6 Millionen wurden verwundet oder erkrankten. Nicht mit eingerechnet sind hier die Opfer aus den britischen Dominions und Kolonien. So schickte Australien die Hälfte (!) aller wehrfähigen Männer nach Europa, 331.000. Von diesen fielen 60.000, 166.811 wurden verwundet. Hieraus ergibt sich eine Verlustquote von 65 Prozent, die höchste unter den Armeen des Empires, 145 von 1.000 mobil gemachten Australiern starben6. Die Berechnung von Verlusten an Menschen weist aus britischer Perspektive betrachtet einige Besonderheiten auf. Da Freiwilligmeldungen zum Mi4  Vgl. Norman Ingram, The politics of dissent. Pacifism in France 1919–1939. Oxford, 1991. 5  Vgl. David Michael Kennedy, Over Here. The First World War and American Society, New York 1980, 337 f. 6  Vgl. Jeffrey Grey, Australien. In: Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn u. a. 2003, 360–364, hier 364; allgem. Daniel Marc Segesser, Empire und totaler Krieg. Australien 1905–1918, Paderborn u. a. 2002.

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litär in Großbritannien bevorzugt aus den Reihen des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums, aus den städtischen und ländlichen Eliten erfolgten und diese wiederum überproportional häufig zu Fronteinheiten versetzt wurden, waren diese Milieus auch in besonderem Maße von den Verlusten betroffen. So gelangten nahezu alle Kriegsteilnehmer der Universitäten Oxford und Cambridge mindestens in die unteren Offiziersränge, das heißt in die Gruppe, die an der Front dem höchsten Gefährdungsgrad unterlag. Etwa jeder fünfte fiel. Diese schichtenbezogene Asymmetrie resultierte unter anderem auch aus dem Umstand, dass überproportional viele Rekruten aus der Arbeiterschaft aufgrund ihrer schlechten gesundheitlichen beziehungsweise Ernährungssituation als untauglich oder wenigstens nicht fronttauglich eingestuft worden waren. So paradox es scheinen mag, für diese letztgenannte Gruppe, die im rückwärtigen Dienst tätig war, erwiesen sich die Lebensumstände, vor allem die Ernährungssituation als weitaus besser als daheim, sodass sie von diesem an Gefahren eher armen Militärdienst sogar individuell profitierte. Diese Situation fügt sich ein in den von der britischen Forschung herausgearbeiteten Gesamtzusammenhang, dass durch den Krieg soziale Ungleichheiten ein Stück weit nivelliert wurden, da die britische Ober- beziehungsweise Mittelschicht mehr Opfer zu beklagen hatte und zudem ihre Einkünfte beträchtlich sanken. Zugleich besserten sich für die Arbeiterschaft die sozialen und gesundheitlichen Standards ganz erheblich und diese wurden auch während der Krisenzeit der frühen 1930er Jahre nicht wieder zurückgenommen7. Der spätere Premierminister David Lloyd George (1863–1945) hatte während der Krieges eine wirtschaftspolitisch dominierende Position als Chef des Ministry of Munitions inne und führte damit die britische Wirtschaft in quasi diktatorischer Manier und richtete diese bedingungslos auf die Kriegführung aus8. Die nach dem Friedensschluss notwendige Umstellung auf eine Zivilproduktion produzierte rasch ein Heer von Arbeitslosen, 1920 immerhin mit einer Quote von 18 Prozent, zu dem sich obendrein ein Teil der demobilisierten Soldaten gesellte. Immerhin hatte die Zeit des Burgfriedens während des Krieges die Bedeutung der Gewerkschaften erheblich gestärkt und 1920 wurde eine obligatorische Arbeitslosenversicherung eingeführt. Darüber hinaus wurde während der folgenden Jahre, die man ähnlich wie in der Weimarer Republik als die goldenen 20er bezeichnete, das Gesundheits- sowie das Jay Winter, Großbritannien. In: Ebd., 50–63, hier 51 ff. Harold I. Nelson, Land and Power. British and Allied Policy on Germany’s Frontiers 1916–19, London 1963; S. J. Hurwitz, State Intervention in Great Britain. A Study of Economic Control and Social Response, 1914–1918, New York 1949; Stephen Broadberry / Mark Harrison (Hrsg.), The Economics of World War I, Cambridge 2005. 7  Vgl. 8  Vgl.



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Rentensystem ausgebaut9. Natürlich traf die Weltwirtschaftskrise 1929 auch Großbritannien in besonderem Maße und auch hier zogen die von der Regierung Ramsay MacDonalds (1866–1937), einem Labourpolitiker, durchgesetzten Sparmaßnahmen die Entstehung beziehungsweise Vergrößerung von politisch extremen Protestbewegungen nach sich. Gleichwohl gelang es weder den Kommunisten, der Communist Party of Britain, noch den Faschisten der British Union of Fascists unter Oswald Mosley (1896–1980), ein Parlamentsmandat beziehungsweise in anderer Form größere Aufmerksamkeit und Einfluss zu erringen. Für die innenpolitische Stabilität Großbritanniens waren, trotz aller Gefährdungen, mehrere Gründe ausschlaggebend: Eine flexible und auf Konsens ausgerichtete politische Kultur, die von den politischen Akteuren beherrschbare ökonomische Krisenlage der frühen 1930er Jahre sowie die parteiübergreifend unstrittige integrative Funktion der Krone, des Königs als Staatsoberhaupt Englands und des gesamten Empires10. Durchaus anders gestaltete sich demgegenüber die Lage in Frankreich. Hier hatte man, prozentual gesehen, weitaus höhere Opfer für den Sieg gebracht. Von 8,1 Millionen eingesetzten französischen Soldaten (wiederum ohne Kolonialtruppen), fielen 1,327 Millionen, das heißt 16 Prozent. Darüber hinaus waren durch die Kriegshandlungen weite Teile des stark industrialisierten Nordostens des Landes verwüstet, Frankreich, vor 1914 einer der größten Kapitalexporteure der Welt, war 1918 praktisch bankrott und von finanziellen Zuwendungen der USA abhängig. Daher war die umgehende Wiedereinverleibung des Reichslandes Elsaß-Lothringen, übrigens ohne die dort unter Bezug auf Wilson vehement geforderte Volksabstimmung11, nur der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein und eine dauerhafte Eliminierung des deutschen Drohpotentials durch möglichst harte Friedensvertragsklauseln wurde mehr denn je zum Evangelium der französischen Außenpolitik. Die Erkenntnis, dass eine derartige Knebelung Deutschlands von den Verbündeten nicht mitgetragen wurde, führte in weiten Teilen der französischen Gesellschaft zu Resignation beziehungsweise dem Ausweichen in politisch radikale Milieus, etwa zur Kommunistischen Partei oder zu anarchosyndikalistischen Gewerkschaften wie der CGT. Erst die formale Regelung der Reparationsfrage und die Ruhrbesetzung ab Januar 1923 stärkten das re9  Vgl. Sidney Pollard, The development of the British economy, 1914–1967. Cambridge 21969, 42–91. 10  Vgl. Andrew Thorpe, Britain in the 1930s. The Deceptive Decade, Oxford 1992; Philip Williamson, National Crisis and National Government. British Politics, the Economy and the Empire, 1926–1932, Cambridge 1992. 11  Vgl. Hendrik Thoß, „Purifier – centraliser – assimiler“ – Reannexion und Vertreibung im Elsaß und in Lothringen nach 1918. In: Frank-Lothar Kroll / Matthias Niedobitek (Hrsg.), Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa (= Chemnitzer Europastudien Bd. 1), Berlin 2005, 281–296.

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gierende bürgerlich-konservative Lager. Wie in Großbritannien auch erlebte Frankreich Mitte der 1920er Jahre eine Phase politischer wie wirtschaftlicher Stabilität, die vor allem in der Industrie einen beachtlichen Modernisierungsund Rationalisierungsschub mit sich brachte. Gleichwohl blieb Frankreich hinsichtlich seines Grades der Industrialisierung weit hinter Deutschland und Großbritannien zurück. Auch aus diesem Grund war Frankreich 1929 und noch 1930 aufgrund seiner geringeren Verflechtung mit dem Weltmarkt sowie der höheren Selbstfinanzierungsrate der Wirtschaft von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise kaum betroffen. Es ist bemerkenswert, dass die ab 1931 einsetzende, wenngleich im Verhältnis zu Deutschland letztlich doch überschaubare Verschlechterung der ökonomischen Situation mit einer erneuten Radikalisierung des politischen Milieus einher ging, die unter anderem auch den Aufstieg der faschistischen Feuerkreuzler-Bewegung (Croix de Feu), ab 1936 der Parti Social Français, des Obristen François de la Rocque (1885–1946) nach sich zog12. Die gleichfalls erstarkte politische Linke, Kommunisten und Sozialisten, schlossen sich im Juli 1934 zu einem Volksfront-Bündnis zusammen, das 1936 für zwei Jahre an die Regierung gelangte, bevor 1938, im Jahr des Anschlusses Österreichs an Deutschland, erneut der linksliberale Politiker Edouard Daladier (1884–1970) zum Ministerpräsidenten berufen wurde13. Die auch aus der komplexen ökonomischen Lage sowie aus der gleichermaßen schwierigen demographischen Situation beider Nationen resultierende Appeasement-Politik Daladiers und seines britischen Kollegen Chamberlain bildet wohl die letztlich wirkungsmächtigste Reaktion auf den Ersten Weltkrieg, die begründete Furcht vor dem, was wohl aus einem erneuten Waffengang mit Deutschland resultieren mochte. Derartige Bedenken und Skrupel hatten die Nationalsozialisten bekanntlich nicht. Die Geschichte der Weimarer Republik, der ersten gescheiterten deutschen Demokratie, bildet bereits seit langem einen zentralen Untersuchungsgegenstand der Geschichtswissenschaft, eingeschlossen Aspekte der Außen- wie der Militärpolitik14. Mochten sich die Politiker in den Parlamenten der Länder und im Reichstag an dem Versuch abarbeiten, unter den Bedingungen 12  Vgl. Michel Winock, Retour sur le fascisme français. La Rocque et les Croix-deFeu, In: Vingtième Siècle. Revue d’histoire, Presses de Sciences Po (PFNSP) 90, April–Juni 2006, 3–27. 13  Vgl. Michel Margairaz / Danielle / Tartakowsky / Daniel Lefeuvre, L’avenir nous appartient! Une histoire du Front populaire, Paris, 2006; Frédéric Monier, Le Front populaire, Paris, 2002. 14  Vgl. Hans-Christof Kraus, Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919–1933, Berlin 2013. (= Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert Bd. 4); Francis L. Carsten, Reichswehr und Politik 1918–1933. Köln u. a. 1964.



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einer Niederlage einen neuen, modernen Staat aufzubauen, das Unbehagen an und mit der westlichen Demokratie blieb und es blieb allendhalben spürbar. Der Müdigkeit und Furcht der Briten und Franzosen stand in der Weimarer Republik eine sich immer weiter steigernde Gewaltbereitschaft der politischen Lager gegenüber15. Darüber hinaus hatte sich Deutschland trotz des blutigen Einschnittes des Weltkrieges mit zwei Millionen Toten demographisch ganz anders entwickelt als Frankreich und Großbritannien. Hier war und blieb die Geburtenrate hoch, die während beziehungsweise unmittelbar nach dem Weltkrieg Geborenen waren die Jahrgänge, die die Armeen Hitlers füllten. Bekanntlich wird in der historischen Forschung der Zeitraum zwischen Ende 1918 und Januar 1933 in drei Phasen eingeteilt, ein erster, von Chaos und zahlreichen Gewaltausbrüchen gekennzeichneter Abschnitt von der Novemberrevolution bis zum Ende des Krisenjahres 1923, dem sich die bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 gehende „stabile Phase“ anschloss und die gemeinhin mit dem Schlagwort der „goldenen Zwanziger“ versehen wird. Das Ende war wiederum von Gewalt, Massenelend und zunehmender politischer Polarisierung gekennzeichnet und Hitlers NSDAP stieß als junge, dynamische und aggressiv-provozierend auftretende Kampforganisation angesichts des offenkundigen Versagens der bürgerlichen Demokratie in Deutschland bei einer immer größeren Zahl von Wählern auf Zustimmung. Dass diese erste deutsche Demokratie nicht überleben konnte, hatte eben auch, neben anderen Gründen, etwas mit der schweren Hypothek des verlorenen Krieges und den Lasten des Versailler Vertrages zu tun. Und dieser Krieg war auch in Deutschland stets präsent: Durch die der britischen Seeblockade geschuldeten Hungertoten etwa, die man noch 1919 beerdigte16, durch die Unter- beziehungsweise Mangelernährten, insbesondere Kleinkinder und Heranwachsende, durch die Kriegsheimkehrer mit und ohne körperlichen oder seelischen Schädigungen, die entwurzelt waren und blieben oder die zu ihren ihnen fremd gewordenen Familien zurückkehren konnten, aber auch durch die Spekulanten und Kriegsgewinnler, die parallel dazu ein recht angenehmes Leben führten. Der Krieg war und blieb auch präsent durch die Gebietsverluste, die Flüchtlinge und Vertriebene in die Republik spülten und, ab 1923, durch die alliierte Besetzung des Ruhrgebietes als produktives Pfand, mit der den meisten Deutschen ungewohnten, ja für unvorstellbar gehaltenen 15  Vgl. dazu exemplarisch Riccardo Bavaj, Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte Bd. 67), Bonn 2005. 16  Vgl. N. P. Howard, The Social and Political Consequences of the Allied Food Blockade of Germany, 1918–19. In: German History. 11, Nr. 2, June 1993, 161–188; Eric W. Osborne, Britain’s Economic Blockade of Germany. 1914–1919 London, New York, 2004.

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Präsenz farbiger französischer Kolonialtruppen, um die sich wahre Horrorgeschichten rankten. Stoff genug also, sich auf künstlerischer, intellektueller Ebene mit dem auseinanderzusetzen, was da gerade abgelaufen war. III. Die Rezeption des Krieges in der Literatur und im Film der Zwischenkriegszeit Weltkrieg und Kriegserfahrung bildeten nach 1918 naturgemäß einen zentralen Topos im Kanon der europäischen Literatur. Dabei ist nun einerseits in verschiedene literarische Gattungen zu unterscheiden und andererseits in die Aussage bzw. Position des Werkes, des Autoren zum Sujet Krieg17. Memoria­ literatur und autobiographische Selbstzeugnisse vor allem aus der Feder von führenden militärischen Akteuren wie etwa Alfred von Tirpitz18 (1849–1930) Erich Ludendorff19 (1865–1937) und Paul von Hindenburg20 (1847–1934), abenteuerliche Berichte deutscher „Kriegshelden“ wie die des „Seeteufels“ Felix Graf Luckner21 (1881–1966) oder, bereits 1917 und post mortem dann als erweiterter Nachdruck und unter dem Titel „Ein Heldenleben“ in der Weimarer Republik, Manfred von Richthofens22 (1882–1918) „Roter Kampfflieger“, vermittelten allenfalls einen gefilterten und auf das Handeln der eigenen Person bezogenen, rechtfertigenden Blick auf den Krieg. Aus regionalbzw. lokalhistorischer Perspektive nicht zu unterschätzen sind heute nach wie vor die Regimentsgeschichten, die, großteils mehrbändig, alsbald nach Kriegsende von den kommandieren Offizieren nahezu aller Regimenter verfasst wurden und die vor allem die Erinnerung an die eigenen Kämpfe, die gefallenen Kameraden und den Korpsgeist der eigenen Truppe, auch im Zivilleben, aufrechterhalten wollten. So erschien die mehrbändige Regimentsgeschichte des in Chemnitz stationierten Infanterieregiments 104 „Kronprinz“ (Königl. Sächs. Nr. 5) ab 1925, die der gleichfalls in Chemnitz und Umgebung rekrutierten 181er (Königl. Sächs. Nr. 15) bereits 192323. 17  Vgl. Alexander Honold, Der Einbruch des Krieges in die künstlerische Form. In: Niels Werber / Stefan Kaufmann / Lars Koch (Hrsg.), Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2014, 448–494. 18  Alfred von Tirpitz, Erinnerungen. Leipzig 1919. Eine englischsprachige Ausgabe erschien noch im selben Jahr in London. 19  Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, Berlin 1919. 20  Paul von Hindenburg, Aus meinem Leben. Leipzig 1920. 21  Felix Graf Luckner, Seeteufel. Leipzig 1921. 22  Manfred Freiherr von Richthofen, Der rote Kampfflieger. Berlin 11917. 23  Die Schriften erschienen in der Reihe „Erinnerungsblätter deutscher Regimenter“ des Reichsarchivs. Vgl. dazu auch: Markus Pöhlmann, Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik. Der Erste Weltkrieg, die amtliche deutsche Militärgeschichtsschreibung 1914–1956, Paderborn u. a. 2002.



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Literatur in Romanform, ebenfalls häufig basierend auf den Erinnerungen der Autoren, fand, nicht allein in Deutschland, ein großes, interessiertes Publikum. Hier ist auffällig, wie breit gefächert die in den Texten enthaltene politische Aussage, die Haltung zum Krieg, zu seinem Sinn bzw. zu seiner Sinnlosigkeit, zu den aus ihm zu ziehenden Lehren und Aufgaben für die nachfolgenden Generation sein konnte24. So spannte sich ein Bogen vom politischen linken bis zum rechten Lager der Weimarer Republik. Zum linken Milieu rechnete dabei etwa der 1926 erstmalig erschienene Roman „Levisite oder Der einzig gerechte Krieg“ des kommunistischen Schriftstellers und nachmaligen DDR-Kulturministers Johannes R. Becher25 (1891–1958) oder Ludwig Renns26 (1889–1979) „Krieg“ aus dem Jahr 1928. Renns Roman war mit 155.000 verkauften Exemplaren eines der auflagenstärksten Bücher zu diesem Themenfeld in der Weimarer Republik, das im Übrigen auch während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland nicht verboten war. Arnold Zweig (1887–1968) setzte sich in mehreren Romanen mit dem Ersten Weltkrieg auseinander, von denen drei auch verfilmt wurden, „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, „Junge Frau von 1914“ sowie „Erziehung vor Verdun“27. Ihn verbanden mit dem Schriftstellerkollegen Martin Beradt (1881–1949) nicht allein seine jüdischen Wurzeln, die ihm keine Möglichkeit ließen, während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland zu bleiben. Zweig und Beradt waren beide Armierungssoldaten gewesen und Martin Berats 1919 erschienener Roman „Erdarbeiter“28 implizierte eine ebenso pazifistische Grundaussage wie Zweigs Werke. Dies gilt wohl in ganz besonderem Maße für Erich Maria Remarques (1898–1970) 1929 erschienenes Buch „Im Westen nichts Neues“, der wie kaum ein anderer unsere Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges geprägt hat und von dem bis heute weltweit mehr als 20 Millionen Exemplare verkauft worden sind. Allerdings war „Im Westen nichts Neues“ nicht der einzige Weltkriegsroman Remarques, seine beiden Folgeerzählungen „Der Weg zurück“ (1931) und 24  Vgl. Lars Koch, Der Erste Weltkrieg als kulturelle Katharsis und literarisches Ereignis. In: Ebd., 97–141, insbes. 119–134. 25  Johannes R. Becher, [CH Cl-CH]3 As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg. Wien 1926. Der spätere DDR-Kulturminister hatte am Ersten Weltkrieg selbst nicht teilgenommen, da er aufgrund seiner Drogenabhängigkeit nicht einberufen worden war. 26  Ludwig Renn, Krieg, Frankfurt / M. 1928. Renn, eigentl. Arnold Friedrich Vieth von Golßenau, stammte aus sächsischem Adel, hatte den Ersten Weltkrieg als Frontoffizier mitgemacht und war mit dem sächsischen Kronprinzen Georg befreundet. 27  Arnold Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa. Potsdam 1928; Ders., Junge Frau von 1914, Berlin 1931; Ders., Erziehung vor Verdun, Amsterdam 1935. 28  Martin Beradt, Erdarbeiter. Berlin 1919. Als Armierungssoldaten wurden Soldaten bezeichnet, die nicht feldverwendungsfähig (d. h. kampffähig) waren und für Bauaufgaben an wie hinter der Front eingesetzt wurden.

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„Drei Kameraden“29 (1937) knüpfen, wenigstens teilweise, an das Kriegs­ erlebnis des Autoren an. Eine ähnliche Aufmerksamkeit wie „Im Westen nichts Neues“ generierte Heinrich Wandts (1890–1965) 1921 erschienener Roman „Etappe Gent“, in dem der Autor, der nach schwerer Verwundung in die Etappen-Inspektion der 4. Armee ins belgische Gent kommandiert worden war, seine Erlebnisse und das Agieren der deutschen Besatzung in Belgien zu Papier brachte und die ihm in der Weimarer Republik einen Hochverratsprozess, diverse Morddrohungen aus Reichswehrkreisen und sechs Jahre Festungshaft eintrugen30. Vielbeachtete und kommerziell erfolgreiche Bücher über den Ersten Weltkrieg gelangen auch Autoren, die sich wie Ernst Jünger (1895–1998) politisch eher im Milieu der später sogenannten Konservativen Revolution oder im Umfeld der NSDAP verorteten. Ernst Jüngers überaus erfolgreiche Kriegs­ romane, wie etwa die 1920 erschienenen „Stahlgewitter“, die weitgehend auf seinen Tagebuchaufzeichnungen beruhen, gelten wohl weniger als literarische Meisterleistungen sondern vielmehr als kühl-rational-distanzierte Beschreibung des Phänomens Krieg aus der Perspektive des Frontkämpfers, für den Tod und Töten Elemente einer alltäglichen Normalität darstellen31. Ähnlich politisch positioniert wie Jünger war Franz Schauwecker (1890–1964), dessen 1919 bzw. 1929 erschienene Romane „Im Todesrachen“ bzw. „Aufbruch der Nation“ ein aus dem Vermächtnis des Frontkämpfers generiertes neues Menschenbild konstruierten32. Werner Beumelburg (1899–1963), Josef Magnus Wehner (1891–1973), Paul Coelestin Ettighoffer (1896–1975) und weit mehr noch Hans Zöberlein (1895–1964) stehen stellvertretend für jene Gruppe von Schriftstellern, die ihre Erfahrungen und Einsichten in das Umfeld bzw. in die NSDAP führten. Ihre gleichfalls äußerst erfolgreichen Werke, so „Douaumont“ (1923), „Sperrfeuer um Deutschland“ (1929) und „Die Gruppe Bosemüller“ (1930) von ­Beumelburg33, „Sieben vor Verdun“ (1930) von Wehner34, „Gespenster am 29  Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, Berlin 1929; Ders., Der Weg zurück. Berlin 1931; Ders., Drei Kameraden. Amsterdam 1937. 30  Heinrich Wandt, Etappe Gent. Streiflichter zum Zusammenbruch. Berlin 1921. 31  Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stosstruppführers, Leisnig 1920. Daneben vgl. Ders., Der Kampf als inneres Erlebnis. Berlin 1922; ders., Das Wäldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen, Berlin 1925; Ders. (Hrsg.), Krieg und Krieger, Berlin 1930. 32  Franz Schauwecker, Im Todesrachen. Die deutsche Seele im Weltkriege, Halle / S. 1919; Ders., Aufbruch der Nation. Berlin 1929. 33  Werner Beumelburg, Die Gruppe Bosemüller. Oldenburg 1930. 34  Josef Magnus Wehner, Sieben vor Verdun. Ein Kriegsroman, München 1930. Das Buch war von Wehner als direkte Antwort auf Remarques „Im Westen nichts Neues“ konzipiert.



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Toten Mann“ (1931) von Ettighoffer35 sowie Zöberleins „Der Glaube an Deutschland“36 (1931) prägten die deutsche Jugend und ihr Verständnis von Krieg bzw. vom Ersten Weltkrieg und vom Kampf ihrer Vätergeneration in der Zeit der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus entscheidend mit. Wie in Deutschland machte auch in Frankreich das Milieu der Kriegsteilnehmer gewesenen Schriftsteller, der „écrivains combattants“, nach 1918 im Hinblick auf eine „objektive Darstellung des Geschehenen eine Deutungshoheit geltend, die alle anderen literarischen Reflexionsversuche offensiv ausschloss37. Henri Barbusse38 (1873–1935) „Le Feu“ (1916), Roland Dorgeles39 (1885–1973) „Les croix de bois“ (1919), Maurice Genevoix40 (1890–1980) „Sous Verdun“ (1916), André Maurois41 (1885–1967) „Les Silences du colonel Bramble“ (1918) Leon Werth42 (1878–1955) „Clavel Soldat“ (1919), Gabriel Chevallier43 (1895–1969) „La Peur“ (1930) sowie Jean Giono44 (1895–1970) „Le Grand Troupeau“ (1931) schufen Werke, die eine in ver35  Paul Coelestin Ettighoffer, Gespenster am Toten Mann. Köln 1931. Ettighoffer bildet als gebürtiger Kolmarer den Ersten Weltkrieg aus Sicht der Elsässer ab, die während des Krieges pauschal und völlig zu Unrecht als „unsichere Kantonisten“ verunglimpft wurden. 36  Hans Zöberlein, Der Glaube an Deutschland. München 1931. 37  Die Darstellung beschränkt sich hier aus Platzgründen auf die Rezeption in Frankreich, die anderer auf alliierter Seite am Weltkrieg beteiligter Nationen, auch der Großbritanniens, unterbleibt. Parallel zu den Bemühungen der „écrivains combattants“ gelangte in Frankreich vor während und nach dem Ersten Weltkrieg das von germanophoben und absurd-egomanen Ergüssen geprägte Schaffen Maurice Barrès (1862–1923) zur vollen Entfaltung. Dieser hatte 1916, im Angesicht der Schlacht um Verdun und des Verlusts wichtiger, der Stadt vorgelagerter Festungsanlagen, im Zusammenhang mit dem Tod des mit ihm befreundeten Obersten Emile Driant einen „Driant-Mythos“ konstruiert, der rasch Eingang in das zeitgenössische kollektive Gedächtnis Frankreichs finden konnte. Zu den „écrivains combattants“ vgl. auch Almut Lindner-Wirsching, Französische Schriftsteller und ihre Nation im Ersten Weltkrieg, Tübingen 2004. 38  Henri Barbusse, Le Feu. Journal d‘une escouade, Paris 1916. Erstmalig in dt. Sprache, Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft, Zürich 1918. 39  Roland Dorgeles (d. i. Roland Lécavelé), Les croix de bois. Paris 1919. Erstmalig in dt. Sprache, Die hölzernen Kreuze, Luzern 1930; auszugsw. Veröffentl. u. d. Titel Der Kalvarienberg, Wolfenbüttel 1931. 40  Maurice Genevoix, Ceux de 14. Sous Verdun, Paris 1916. 41  André Maurois (d. i. Émile Salomon Wilhelm Herzog), Les Silences du colonel Bramble. Paris 1918. Erstmalig in dt. Sprache, Das Schweigen des Obersten Bramble. München 1929. 42  Leon Werth, Clavel Soldat, Paris 1919. 43  Gabriel Chevallier, La Peur, Paris 1931. Erstmalig in dt. Sprache, Die Heldenangst. Zürich 2010. 44  Jean Giono, Le Grand Troupeau. Paris 1931. Erstmalig in dt. Sprache, Die große Herde. Berlin 1932.

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schiedenen Abstufungen sichtbare antimilitaristisch-pazifistische Grundhaltung implizierten, und die den Krieg allenfalls als Verteidigungskrieg einer von außen bedrohten bürgerlichen, freien Gesellschaft akzeptieren wollten. Allen deutschen wie französischen Romanen gemein ist ihre Perspektive „von unten“, das heißt aus der Sicht des Einzelnen, des einfachen Soldaten, der sich in Jüngers Stahlgewitter hineingeworfen sieht und zu überleben versucht. Gemein ist ihnen der tief empfundene Gegensatz zwischen Front und Heimat, zwischen „Frontschweinen“ und „Drückebergern“ in der Etappe sowie ein ambivalentes Verhältnis zum Feind, das in ein und demselben Roman zwischen tief empfundener Feindschaft und mitleidender Sympathie oszillieren konnte. Eine Reihe der hier erwähnten Werke wurde bereits in der Zwischenkriegszeit verfilmt. Das Medium Film steckte in dieser Zeit noch in den Kinderschuhen und das Sujet des Kriegsfilms ist ein Kind des Ersten Weltkrieges. Der 1916 gedrehte englische Dokumentarfilm „The battle oft the Somme“ gilt als erster Kriegsfilm der Geschichte, der direkt während einer Schlacht gedreht wurde. Noch während des Krieges begann auch Hollywood sich dieses Themas anzunehmen. So entstanden zahlreiche aus heutiger Perspektive mehr oder minder rassistisch konnotierte antideutsche Propagandastreifen, so etwa Rupert Julians (1879–1943) 1918 fabrizierter Film „The Kaiser. The Beast of Berlin“45 oder Charlie Chaplins „Shoulder Arms“46 aus demselben Jahr. In ganz eigener Weise stilprägend waren zwei andere einschlägige USFilme der Zwischenkriegszeit: Zum einen William Wellmans (1896–1975) „Wings“ aus dem Jahr 1927 und zum anderen Lewis Milestones (1895–1980) drei Jahre später entstandener Streifen „All Quiet on the Western Front“47. Wellman, 1917 / 18 Pilot der amerikanischen Fliegerstaffel „Escadrille Lafayette“, zeichnete hier seine Kriegserlebnisse und Erfahrungen als Jagdflieger locker nach. Der mit dem für damalige Verhältnisse enormen Budget von zwei Millionen US-Dollar48 gedrehte Film brachte Wellman und seinem 45  Julian übernahm in dem kommerziell wohl überaus erfolgreichen, heute allerdings verschollenen Machwerk die Rolle „des Kaisers“, gemeint ist damit natürlich Wilhelm II., selbst. 46  Chaplin firmierte in dem Film nicht allein als Hauptdarsteller; er hatte darüber hinaus auch Drehbuch, Produktion, Musik und Schnitt übernommen. Vgl. dazu auch die Rezension von Peter Panter (d. i. Kurt Tucholsky), „Französischer Kriegsfilm“ in der Vossischen Zeitung vom 2. November 1927, Ausg. 1, Bl. 18. 47  Vgl. Rogg, „Im Westen nichts neues“ (Anm. 2); Modris Eksteins, War, Memory, and Politics. The Fate of the Film All Quiet at the Western Front, In: Central European History (CEH) 13 (1980), 60–82. 48  Es handelte sich bei dieser Summe immerhin um das achtfache Budget eines durchschnittlichen Hollywood-Films jener Tage.



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Techniker Roy Pommeroy jeweils einen Oscar ein, die Flug- und Luftkampfszenen setzten bis in die Zeit nach 1945 Maßstäbe. Bei den Dreharbeiten verunglückten und starben etliche Piloten, weil Wellman von ihnen am Set und in der Luft unbedingte Authentizität verlangte49. Lewis Milestones Verfilmung des gerade erst erschienen Remarque-Romans stellt in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit dar: Er war als Tonfilm einer der ersten in die deutsche Sprache synchronisierten Filme überhaupt, bei den Dreharbeiten waren, vom Ton abgesehen, mehrere innovative Techniken zum Einsatz gelangt, die insbesondere den Kampfszenen eine ganz eigene Dynamik verliehen. Der Streifen zeichnete jenseits aller US-Kriegspropaganda kein zur Karikatur verzerrtes Bild vom „Hunnen“, sondern deutsche Soldaten, die ebenso dachten, fühlten, sprachen und handelten wie ihre französischen oder britischen Gegner. Bekanntlich war der Film trotz zweier Oscars hoch umstritten, und dies nicht allein in der Weimarer Republik. Die wechselhafte Rezeptionsgeschichte dieses Werkes reichte letztlich bis in die 1980er Jahre50. Der Erste Weltkrieg war natürlich auch ein Gegenstand des französischen Films der Zwischenkriegszeit. Leon Poiriers (1884–1968) 1928 gedrehter Stummfilm „Verdun, visions d’histoire“51 thematisiert die Verdunschlacht von 1916 in Form einer epischen Chronik und ist dabei in höchstem Maße um eine authentische filmische Reproduktion des Geschehens bemüht, etwa durch den Einsatz von Schlachtteilnehmern als Darsteller. Wie in einer Reihe anderer zeitgleich entstandener Kriegsfilme auch, wird die Front zwischen den Kriegsgegnern durch symbolische Handlungen und Gesten überbrückt, etwa durch das Erscheinen zweier engelsgleicher Krankenschwestern, die sich synchron eines toten französischen und eines toten deutschen Soldaten annehmen und diese gemeinsam auf einer Bahre in den Himmel tragen52. Vier Jahre später entstand unter der Regie von Raymond Bernard (1891– 1977) eine Verfilmung von Roland Dorgeles53 (1885–1973) vielbeachtetem Roman „Les Croix de Bois“, der das Überleben und Sterben einer Gruppe französischer Soldaten thematisiert und dabei die verschiedenen Charaktere nachzeichnet, die sich in dieser extremen Situation zusammenfinden. Roman 49  Vgl. William Wellman Jr., The man and his wings. William A. Wellman and the Making of the First Best Picture, Westport 2006. 50  Zum Film vgl. Rogg, Im Westen (Anm. 2); Hans J. Wulff, Im Westen nichts Neues. In: Filmgenres. Kriegsfilm, hrsg. v. Thomas Klein / Marcus Stiglegger / Bodo Traber, Stuttgart 2006, 46–56. 51  Der Film gelangte 1928 in Paris in Anwesenheit des französischen Präsidenten Gaston Doumerge (186–1937) sowie des deutschen Botschafters Leopold von Hoesch (1881–1936) zur Uraufführung. 1931 ergänzte Poirier eine Tonspur. 52  Vgl. Filmsequenz 1:38 bis 1:40 h. 53  Vgl. Anm. 39.

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und Film sind in vielerlei Hinsicht mit „Im Westen nichts Neues“ vergleichbar, wenngleich ihnen der tiefe pazifistische Grundton Remarques und ­Milestones abgeht. Die modernste und radikalste filmische Darstellung des Kampfes an der Westfront des Ersten Weltkrieges in der Zwischenkriegszeit findet sich in dem 1930 uraufgeführten Film „Westfront 1918“ des deutschen Regisseurs Georg Wilhelm Pabst54 (1885–1967). Bleiben die politischen Hintergründe des Krieges hier weitgehend verdeckt, so werden der letztlich aussichtslose Überlebenskampf einer kleinen Gruppe deutscher Soldaten in den letzten Kriegsmonaten, die große materielle Not der Heimat, die bereits alle Beziehungen zu zerstören beginnt, und die generell katastrophale Lage umso deutlicher sichtbar. Der Film zeichnet den Weltkrieg nicht bloß als Schlachthof einer ganzen Generation, sondern interpretiert ihn vielmehr als Zeichen für den Untergang der menschlichen Zivilisation, wie etwa die apokalyptische Schlussszene des Films im Lazarett zeigt, in dem sich die Gruppe ein letztes Mal wiederfindet, um zu sterben bzw. dem Wahnsinn anheim zu fallen. Noch deutlicher als bei „Im Westen nichts Neues“ wirkt sich in diesem, ein halbes Jahr vor Milestones Film erschienenen Werk Pabsts der durch die Vertonung spürbare Authentizitätsgewinn aus. Der renommierte Filmkritiker und Journalist Siegfried Kracauer (1889–1966) bezeichnete ihn als den Film, in dem der Stellungskrieg so realistisch wie bisher noch nie dargestellt worden sei. Und direkt unter Bezug auf die Wirkung des Mediums Ton betonte er: „Wenn man einen Verwundeten, der nicht gerettet werden kann, stöhnen hört, ohne ihn je gesehen zu haben, so geht das unter die Haut, und der Betrachter bleibt nicht länger mehr Betrachter.“55 Auch deshalb kann man „Westfront 1918“, der auf dem 1929 erschienenen Roman „Vier von der Infanterie. Ihre letzten Tage an der Westfront 1918“ von Ernst Johannsen56 (1898–1977) basiert, als deutsche Antwort auf Milestones Remarque-Verfilmung sehen, die – wenngleich weniger bekannt – so doch ebenso beachtenswert ist wie das amerikanische Pendent. Bereits deutliche Zeichen des politischen Wandels in Deutschland 1933 zeigen zwei weitere populäre Filme, die Aspekte des Ersten Weltkrieges the54  Vgl. Andre Kagelmann / Reinhold Keiner, „Lässig beginnt der Tod, Mensch und Tier zu ernten.“ Überlegungen zu Ernst Johannsens Roman Vier von der Infanterie und G. W. Pabsts Film Westfront 1918. In: Ernst Johannsen, Vier von der Infanterie. Ihre letzten Tage an der Westfront 1918, hrsg. v. dens., Kassel 2014, 80–113; Christian Hißnauer, Westfront 1918 – Vier von der Infanterie. In: Filmgenres. Kriegsfilm (Anm. 50), 57–60. 55  Siegfried Kracauer, Westfront 1918. Ein Tonfilm vom Krieg, Frankfurter Zeitung, Nr. 389–391 vom 27.5.1930. 56  Johannsen war zugleich einer der bedeutendsten Hörspielautoren der Weimarer Republik.



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matisieren: Ludwig Schmid-Wildys (1896–1982) 1934 fertiggestellter Film „Stoßtrupp 1917“, der auf Hans Zöberleins (1895–1964) Roman „Der Glaube an Deutschland“57 basiert, sowie Gustav Ucickys (1899–1961) im Februar 1933 uraufgeführtes Werk „Morgenrot“. In dem Streifen wird eine fiktive Episode des Ersten Weltkrieges dargestellt, in der eine deutsche U-Boot-Besatzung nach erfolgreicher Feindfahrt mit ihrem Boot versenkt wird und sich – in dem auf Grund liegenden Boot eingeschlossen – mit der Frage konfrontiert sieht, wie 10 Mann sich 8 Tauchrettungsgeräte teilen sollten. In einem atmosphärisch dichten Kammerspiel entschließen sich 2 Mann ‒ der 1. Offizier und ein Matrose ‒ dazu, zu sterben, um ihren Kameraden das Überleben zu sichern. Diese tauchen tatsächlich auf und interpretieren den Freitod als stille Weisung weiterzukämpfen, da ihre Kameraden für das Überleben und den Aufstieg Deutschlands das eigene Leben geopfert hätten. Dieser Film ist nicht zuletzt auch deshalb von Bedeutung, weil er erstmals im Spielfilmformat das Thema U-Boot-Krieg thematisiert, ein Feld also, das den meisten Betrachtern aufgrund seiner Spezifik mindestens ebenso fremd gewesen sein dürfte wie der „normale“ Grabenkrieg der Infanterie58. Wenngleich das Genre Kriegsfilm, insbesondere im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg, nicht im Mittelpunkt des heutigen deutschen Filmschaffens steht, finden doch hin und wieder einschlägige Filme den Weg auf die Leinwand. In diesem Kontext sei auf den 2008 erschienenen Film „Der Rote Baron“ von Nikolai Müllerschön mit Matthias Schweighöfer in der Titelrolle verwiesen, bzw. auf den 2005 in einer europäischen Koproduktion entstandenen Film „Merry Christmas“, u. a. mit Daniel Brühl, der den Weihnachtsfrieden von 1914 nachzeichnet und der auf den Erlebnissen des aus dem sächsischen Vogtland stammenden Leutnants Kurt Zehmisch basiert, der in dem in Plauen garnisonierten IR 134 diente59. Der bewegende französische Film „Die Offizierskammer“ thematisiert das Schicksal eines schwerst gesichtsverletzten französischen Offiziers. Er entstand im Jahr 2000 unter der Regie von François Dupeyron und basiert auf dem 1998 erschienen Roman gleichen Namens von Marc Dugain.

57  Das Buch gilt mit mehr als 800.000 verkauften Exemplaren als einer der kommerziell erfolgreichsten deutschen Weltkriegsromane. 58  Ucicky, der nach 1933 zahlreiche weitere Filme drehte, war einer der führenden Regisseure der NS-Zeit. 59  Vgl. Malcolm Brown / Shirley Seaton, Christmas Truce. The Western Front December 1914, London 1999; Michael Jürgs, Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914, Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten, München 2005; Christian Bunnenberg, Christmas Truce. Die Amateurfotos vom Weihnachtsfrieden 1914 und ihre Karriere. In: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. Band I: 1900 und 1949, Göttingen 2009, 156–163.

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IV. Orte, Objekte, Personen Orte Wohl jede zwischen 1914 und 1918 kriegführende Nation verband und verbindet mit bestimmten Orten besondere Erinnerungen, die das kollektive Erinnern an den Ersten Weltkrieg bis heute nachhaltig prägen. Offensichtlich steht diese Konzeption den Deutschen in ihrer Bezogenheit auf den Ersten Weltkrieg heute etwas fern, da sie durch den Zweiten Weltkrieg überlagert wird. Dennoch gestaltet sich dies in vielen anderen Ländern durchaus differenzierter. Für die Erinnerungskultur der Australier und Neuseeländer ist der ANZAC-Day, der 25. April, von herausragender Bedeutung. An jenem Tag begann 1915 die alliierte Landung auf der türkischen Halbinsel Gallipoli, die für die Angreifer in einem Desaster endete, das den Ersten Lord der Admiralität, Winston Churchill, der den Landungsversuch trotz des Widerspruchs der britischen Militärs angeordnet hatte, seine Stellung kostete. Bis heute besuchen vor allem zu diesem Tag Angehörige der australischen und neuseeländischen Gefallenen die Gräber ihrer Angehörigen60. Im kollektiven Gedächtnis Frankreichs ist dieser Ort Verdun, der sich unauslöschlich mit der Schlacht des Jahres 1916 verbindet, in der die Franzosen allein (!) den deutschen Angriffen standhielten61. Im Zentrum der Erinnerung stehen dabei die monumentalen Bauten in der Nähe des Forts Douaumont, insbesondere das riesige, an eine Granate erinnernde Ossoire, das die sterblichen Überreste von etwa 130.000 nicht identifizierbaren Gefallenen enthält62. Auch für die Deutschen, und dabei nicht allein für die Verdunkämpfer, hatte dieser Ort insbesondere bis zum Zweiten Weltkrieg eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. 1936 war es dort bekanntlich zudem zu einer großen Friedensmanifestation der Überlebenden gekommen, an der auch zahlreiche Deutsche teilgenommen hatten63. Indes schwelte in der Weimarer Republik 60  Vgl. Remembering Gallipoli. Interviews with New Zealand Gallipoli veterans, hrsg. v. Christopher Pugsley / Charles Ferrall, Wellington / N.Z. 2015; Matthew Wright, Shattered glory. The New Zealand experience at Gallipoli and the Western Front, Auckland / N.Z. 2010; The Commonwealth and Ireland service to commemorate the centenary of the Gallipoli Campaign. 24 April 2015, The Helles Memorial, commemorative programme, London 2015. 61  Zur Schlacht vgl. exemplarisch: Friedrich, 14 / 18 (Anm. 1), 624–632, Münkler, Der grosse Krieg (Anm. 1), 413–426. 62  Vgl. Jean-Pascal Soudagne / Jean Pierre Verney, La bataille de Verdun. Rennes 2016; Gilles Vauclair, 1916. De la fournaise de Verdun à la boue de la Somme, Tours 2016; Antoine Prost, Verdun. In: Pierre Nora (Hrsg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, 253–278. 63  Vgl. Gerd Krumeich / Antoine Prost, Verdun 1916. Die Schlacht und ihr Mythos aus deutsch-französischer Sicht, Essen 2016, 197 f.; Horst Rohde / Robert Ostrovsky,



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ein von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommener Streit zwischen ehemaligen Verdunkämpfern, der über die gesamte Zeit der Weimarer Republik hinweg verlief und dabei nicht selten skurrile Blüten trieb. Im Zentrum der Debatte stand die Frage, wer das zum Festungsring um Verdun gehörige Fort Douaumont eingenommen bzw. als erster deutscher Soldat betreten habe64. Bekanntlich war Fort Douaumont den vordringenden Deutschen am 25.  Februar 1916, vier Tage nach Beginn der Offensive in die Hände gefallen, da es von den völlig überraschten Franzosen nicht verteidigt worden und im Übrigen auch nicht gefechtsmäßig besetzt gewesen war. Das Bollwerk gehörte zum Angriffsstreifen des in Neuruppin stationierten Infanterieregiments 24 (4. Brandenburgisches), das im Zuge des Angriffs und durch französischen Widerstand in seinen Bataillonen recht durcheinander geraten war und vor dem eigenen Artilleriefeuer in das unmittelbare Vorfeld des Forts regelrecht flüchten musste. Dem Regiment war eine Gruppe von Pionieren aus dem II. Sächsischen Pionierbataillon Nr. 22 beigegeben worden, um die Möglichkeiten zum Eindringen in die Feste zu erkunden. Tatsächlich gelang es mehreren kleinen Gruppen, durch Löcher in der Befestigung, die dem permanenten schweren Artilleriefeuer geschuldet waren, ins Innere des Forts einzudringen – sehr zum Erstaunen der kleinen französischen Besatzung, die aus 70 älteren Landwehr-Artilleristen bestand, die sich den eindringenden Deutschen ergaben. Während ein Offizier des II. Bataillons des Infanterieregiments 24 sofort das Kommando über das Fort übernahm und die notwenigen ersten Schritte zur Inbesitznahme einleitete, erstattete einer seiner Offizierskameraden, der gerade erst angekommen war, am nächsten nach vorn verlegten Feldfernsprecher, dass das Fort genommen sei. Nun entwickelte sich im Hinterland und sodann in der Heimat eine von den Akteuren an der Front völlig losgelöste Eigendynamik, die dazu führte, dass der Telefonist – Oberleutnant Cordt von Brandis (1888–1972), Kompaniechef der 8. Kompanie im II. Bataillon des IR 24 – zum Eroberer des Forts und damit zu einem Helden wurde, dem die deutsche Propaganda nun eine ähnlich bedeutende Rolle zumaß wie etwa dem U-Boot-Kommandanten Otto Weddigen (1882– 1915) oder dem Jagdflieger Oswald Boelcke (1891–1916). Ihm und dem Führer der 7. Kompanie, Hauptmann Hans-Joachim Haupt (1876–1942), wurde der Pour le Mérite verliehen während andere, für das Gelingen der Unternehmung zentralere Akteure, leer ausgingen. Insbesondere Brandis suchte in der Folgezeit von dem „Ruhm des Douaumont-Stürmers“ zu profitieren, etwa durch Buchpublikationen oder durch Vortragsreisen. Bis in die Militärgeschichtlicher Reiseführer Verdun. Hamburg u. a. 42008, 55. Die Delegation war von Brandis geleitet worden. 64  Zum gesamten Diskurs vgl. Olaf Jessen, Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts, München 2014; Martin J. Gräßler, Fort Douaumont. Verduns Festung, Deutschlands Mythos. München 2009.

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Zeit des Nationalsozialismus hinein kam es unter den überlebenden Angehörigen der 6., 7. und 8. Kompanie des II. Bataillons des IR 24 immer wieder zu publizistischen Scharmützeln über die Frage, wer es denn nun eigentlich gewesen sei, der das Fort Douaumont erobert habe. Dabei hatten der Leutnant Eugen Radtke, Zugführer in der 6. Kompanie und erst recht der sächsische Pionierfeldwebel Otto Kunze, die beide mit hoher Wahrscheinlichkeit die ersten deutschen Soldaten65 im Fort waren, das Nachsehen. Insbesondere Kunze, der Sachse und damit natürlich kein „24er“ war, sah sich dem Hohn und Spott der Neuruppiner Veteranen ausgesetzt, die ihn schlicht als Hochstapler bezeichneten66. Kunze hatte sich 1934 im Nachgang einer Veröffentlichung des Reichsarchivs in einem Schreiben an dieses gewandt, dem er einen Bericht seines Erlebens beifügte. Auch Leutnant Radtke, der unmittelbar nach der Besetzung des Forts verwundet worden war und sich nicht mehr direkt in die Aufklärung des Hergangs der Einnahme hatte einbringen können, führte nach 1918 einen verbissenen Kampf gegen seine früheren Kameraden. Briefe an Kaiser Wilhelm nach Doorn, an Hindenburg und an Hitler blieben erfolglos. In dem 1931 von Heinz Paul (1893–1983) gedrehten Film „Douaumont – Die Hölle von Verdun“ durfte Radtke als Komparse mitwirken. In der Zeit des Nationalsozialismus erfuhr die Geschichte um die FortEinnahme dann eine nochmalige Wendung. Am 9. März 1934 konnte Radtke seine Perspektive in einem Artikel in den „Leipziger Neuesten Nachrichten“ ausführlich darlegen und dabei zugleich dem Dritten Reich danken, das ihn, der inzwischen Reichsbahnbeamter geworden war, in Anerkennung seiner Leistung, nunmehr immerhin zum Reichsbahnrat ernannt hatte und ihm überdies die Publikation eines Büchleins mit dem Titel „Douaumont – wie es wirklich war“ ermöglichte67. Nochmals aufgegriffen wurde die Angelegenheit dann 1941 durch ein Büchlein des früheren Kommandeurs des II. Bataillons, Kurt von Klüfer (1869–1941), mit dem kurios anmutenden Titel „Das Trojanische Pferd, die Fallschirmjäger und der Douaumont“68. Hintergrund dieses Machwerkes waren alliierte Vorwürfe hinsichtlich der Kampfführung der jungen deutschen Fallschirmjägerwaffe sowie der Luftwaffe beim Angriff auf Belgien und Frankreich im Mai 1940. In Reaktion auf das völlig neue und unerwartete, gleichwohl den Regeln der Kriegführung entsprechende Vorgehen dieser Einheiten waren Stimmen laut geworden, gefangene deutsche Luftlandesoldaten und Flieger als Nicht-Kombattanten zu betrachten Jessen, Verdun (Anm. 64), 164 ff. ebd. 67  Eugen Radtke, Douaumont wie es wirklich war. Berlin 1934; Ders., Die Erstürmung des Douaumont. Leipzig 1938. 68  Kurt von Klüfer, Das Trojanische Pferd, die Fallschirmjäger und der Douaumont. Ein Vergleich und die Zurückweisung eines Vorwurfes gegen deutsche Waffenehre, Berlin 1941. 65  Vgl. 66  Vgl.



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und hinzurichten. Klüfer hatte sich 1929 von einem Besuch des Forts Douaumont eine für Schlachtfeldtouristen bestimmte französische Postkarte mitgebracht, auf der nachzulesen war, dass den Deutschen die Besetzung des Forts im Februar 1916 nur dadurch gelungen sei, dass sie französische Uniformen getragen und damit rechtswidrig gehandelt hätten. Nochmals zeichnete Klüfer nun den Hergang der Ereignisse nach und wies hier darauf hin, dass der erste deutsche Soldat im Fort der sächsische Vize-Feldwebel Otto Kunze, der erste Offizier Leutnant Radtke gewesen sei. Gleichwohl fand diese Klarstellung, die heute als gesichert gilt, auch nach 1945 keinen Niederschlag in der öffentlichen Wahrnehmung. Als Charles de Gaulle 1966 anlässlich des 50. Jahrestages der Schlacht vor Ort Gedenkfeierlichkeiten ausrichten ließ, waren weder Radtke noch Kunze sondern kein anderer als Cordt von Brandis als Ehrengast eingeladen, der inzwischen an den Rollstuhl gefesselte Eugen Radtke, der erbost nach Paris gereist war, wurde von Mitarbeitern der bundesdeutschen Botschaft daran gehindert, eine Anti-BrandisErklärung vorzulesen69. Obwohl Brandis 1972 verstorben war, hatte sich die Angelegenheit auch danach noch nicht gänzlich erledigt. Denn der symbolgeladene Besuch Helmut Kohls und François Mitterrands 1984 am Douaumont führte unter den noch lebenden deutschen Verdunkämpfern erneut zu Verstimmungen, da Kohl von Ernst Jünger begleitet wurde, der der Zeremonie beiwohnte. Jünger jedoch hatte nicht vor Verdun gekämpft und war dadurch für seine früheren Kameraden nicht legitimiert, bei diesem offiziellen Akt mitzuwirken70. Hinter dieser von 1916 bis heute wirkenden Geschichte verbirgt sich die insbesondere in der Weimarer Republik latent vorhandene Unfähigkeit, die Kriegsniederlage zu akzeptieren. War doch bis November 1918 nur ein kleiner Teil deutschen Bodens im Oberelsass vom Feind besetzt gewesen. Der Douaumont-Mythos gerann so in den 1920er und 1930er Jahren in Deutschland zum Sinnbild eines Sieges in der Niederlage, einem Triumph deutscher Tapferkeit und deutschen Schneids, der auch vom Gegner, von Verdun-Verteidiger Petain ebenso wie später von Präsident de Gaulle anerkannt wurde und an dem man sich innerhalb der schwierigen Verhältnisse der Weimarer Republik, ganz nach den trüben Worten des „… im Felde unbesiegt“ mental aufrichten konnte.

69  Vgl. Verdun: Preußische Groteske. In: Der Spiegel, 26.11.1979. http: /  / www. spiegel.de / spiegel / print / d-39867416.html. 70  Diese Sicht hat erstaunlicherweise sowohl in der medialen Rezeption des Ereignisses 1984 als auch in den Jünger-Biographien keinen Niederschlag gefunden. Hier stand Ernst Jünger symbolhaft als Kriegsteilnehmer und als ein in Frankreich hoch angesehener Schriftsteller.

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Objekte Wie kein zweites Objekt, das sich bis heute mit dem Weltkrieg, genau genommen mit beiden Weltkriegen bevorzugt in Verbindung bringen lässt, steht der deutsche Stahlhelm, der 1916 den bis dahin gebräuchlichen Lederhelm ablöste, für die deutsche Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sein Design prägt die Formen etwa der vom US-Militär und von der Bundeswehr verwendeten Gefechtshelme bis heute. Die deutschen Kriegsgegner, insbesondere Briten und Franzosen, hatten bei Entwicklung und Einführung von Stahlhelmen einen zeitlichen Vorsprung und konnten ihre Modelle bereits Ende 1915 in nennenswerter Zahl an die Front bringen. Aber auch der deutsche Helm M 16 hatte in gewisser Weise einen funktionellen Vorläufer, den sogenannten Gaede-Helm71. Dieser war gleichfalls 1915 autodidaktisch von der in den Vogesen kämpfenden Armee-Abteilung Gaede entwickelt und hergestellt worden, um die Zahl der im Gebirge überproportional häufigen Kopfverletzungen durch Steinsplitter und -brocken zu reduzieren. Der etwa zwei Kilogramm schwere Helm aus sechs Millimeter dickem Stahl hatte überdies auch einen Nasenschutz. Der bekannte deutsche Chirurg Prof.  August Bier (1861–1949), der als beratender Arzt an der Westfront tätig war, regte angesichts der Vielzahl kopfverletzter Soldaten zur selben Zeit die Entwicklung eines geeigneten Kopfschutzes für die kämpfende Truppe an; mit diesen Arbeiten wurde der ursprünglich an der TH Hannover tätige Ingenieur Prof. Dr. Friedrich Schwerd (1872–1953) beauftragt, mit dem Bier persönlich bekannt war. Tatsächlich konnte dem preußischen Kriegsministerium Ende 1915 ein Helm vorgestellt werden, der den Anforderungen der Militärs genügte. Er bestand aus Chrom-Nickel-Stahl, verfügte über einen Schläfen- und Nackenschutz und ließ sich bei Bedarf mit einer Stirnplatte kombinieren, durch die sich die Beschusssicherheit erhöhte. Er wurde in einem mehrstufigen Verfahren tiefgezogen, was wohl die Herstellung komplizierte, jedoch die Schutzgüte, verglichen mit der der gegnerischen Modelle, erheblich erhöhte. Die ersten Exemplare des Helms wurden an die Truppen ausgeliefert, die im Februar 1916 den Angriff auf Verdun ausführen sollten, die erste vollständig ausgerüstete Einheit war das Sturmbataillon (später Sturmbataillon Nr. 5) des Hauptmanns Willy Rohr72. 1918 wurde der Helm an den Seiten leicht überarbeitet, um seinem Träger ein besseres Hören zu ermöglichen. In der Deut71  Der Name geht zurück auf die an der Vogesenfront im Oberelsass eingesetzte Armeeabteilung Gaede, geführt von General Hans Gaede (1852–1916). Der Helm versteht sich in erster Linie als improvisierter Schutz gegen durch Artilleriefeuer gelöste Gesteinssplitter. Eine Kulturgeschichte des „deutschen Stahlhelmes“ steht aus. 72  Vgl. Hellmuth Gruss, Die deutschen Sturmbataillone im Weltkrieg. Aufbau und Verwendung, Berlin 1939.



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schen Wehrmacht bzw. der Waffen-SS wurden weiterentwickelte Modelle M35 bzw. M42 eingesetzt, die Molybdän und Silizium als Legierungselemente enthielten. Insbesondere in der Weimarer Republik avancierte der Stahlhelm zu dem Symbol der Frontkämpfergeneration, er wurde Namensgeber des Bundes der Frontsoldaten, jener einflussreichen politischen Organisation, die der deutschnationalen Volkspartei nahestand und in dem völkisches, nationalistisches und militaristisches Gedankengut ventiliert wurde73. Daneben symbolisierte dieser Helm auf zahllosen Kriegerdenkmalen in Deutschland den Kampf und die Opfer der Front für die Heimat und wurde so auch in jeder Stadt und in jedem Dorf zum Symbol der ständigen Erinnerung und Mahnung an die Kriegsjahre und an die Gefallenen74. Viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr dieses Design eine ganz eigene, ganz und gar unkriegerische Renaissance. Während an diese deutschen Stahlhelme in der Form angelehnte Motorradhelme für eine bestimmte Klientel unter den Motoradfahrern weltweit als „angesagt“ gelten, ließ sich der Drehbuchautor, Regisseur und Produzent George Lucas (*1944) offensichtlich insofern von der Gestaltung dieses Stahlhelms beeinflussen, als er damit der Gestalt des „Darth Vader“ sowie der „imperialen Sturmtruppen“ sein charakteristisches Aussehen verlieh, die diesem Helm eine eigenwillige, zeitlose Modernität, einen festen Platz in der heutigen Popkultur zuwies, und darüber hinaus auch einen direkten Bezug zwischen dem „Imperium“ der „Star-Wars-Saga“ und dem Nationalsozialismus herstellte75.

73  Vgl. dazu nach wie vor Volker R. Berghahn, Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten 1918–1935 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien Bd. 33), Düsseldorf 1966; Anke Hoffstadt, Frontgemeinschaft? „Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten“ und der Nationalsozialismus, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge Bd. 24), Essen 2010, 191–208. 74  Vgl. dazu die ambitionierte website http: /  / www.denkmalprojekt.org / covers_ de / deutschland.htm. 75  Vgl. Christiane Kuller, Der Führer in fremden Welten. Das Star-Wars-Imperium als historisches Lehrstück? In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 3 (2006), 145–157. Das von George Lucas gewählte Design des Helmes bildet eine Kombination aus einem deutschen Stahlhelm und dem eines Samurai, d. h. eines Angehörigen der japanischen Kriegerkaste. Offen bleibt dabei freilich, ob Lucas dies als eine bewusste Anspielung auf die im Zweiten Weltkrieg verbündeten Nationen Deutschland und Japan geplant hatte, gegen die die USA ab 1941 im Krieg standen.

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Personen Der Roman „Die Offizierskammer“ des französischen Schriftstellers Marc Dugain aus dem Jahr 1998, der zwei Jahre später auch in deutscher Sprache erschienen ist, erzählt die Geschichte von Dugains Großvater, der in den ersten Tagen des Krieges durch eine Artilleriegranate sein Gesicht verlor und mehr als fünf Jahre in dem Pariser Militärkrankenhaus Val-de-Grâce verbrachte, zahllose Operationen über sich ergehen lassen musste und der doch zurück in ein normales ziviles Leben fand. Das Besondere an dieser an sich nicht so ungewöhnlichen Geschichte eines Kriegsversehrten ist der Umstand, dass Adrien Fournier, so heißt der Versehrte im Roman, von dem französischen Ministerpräsidenten Clemenceau gemeinsam mit vier gleichfalls gesichtsverletzten Kameraden zur Unterzeichnungszeremonie des Versailler Vertrages eingeladen worden war, und dadurch zu einem der in der französischen Erinnerungskultur sogenannten „cinque Gueulles cassées“ wurde76. Diese Gruppe von Verwundeten stellten für die Militärmedizin aller kriegführenden Mächte eine besondere Herausforderung dar, da es bis 1914 keinerlei Erfahrungen in der plastischen Chirurgie gab, ja man bis zum Kriegsausbruch nicht einmal ahnte, dass ein Überleben derartiger Verwundungen überhaupt möglich sein würde. Tatsächlich hatte sich 1914 das Kriegsbild, verglichen mit vorangegangenen großen militärischen Konflikten, nicht unerheblich gewandelt. Die modernen Spitzkopfgeschosse der Infanteriewaffen führten zu veränderten Verletzungsbildern, der Großteil aller Verletzungen war Ergebnis des massierten Einsatzes der Artillerie, die Granaten mit einer Vielzahl kleiner, scharfkantiger Splitter verschoss. Chemische Kampfstoffe und Flammenwerfer erzeugten bei den Verwundeten völlig neue Formen der körperlichen Schädigung, auf die die Militärmedizin mühsam reagieren musste77. Entscheidend für das Überleben eines Verwundeten war, neben dem Grad der Verletzung, die aktuelle Gefechtslage, die seinen Transport zu einem Verwundetensammelplatz ermöglichen oder verzögern konnte. Hier wurde eine Triage durchgeführt, die über das weitere Schicksal des Geschädigten entschied. Schwerstverletzte wurden sofort zur Seite gelegt und mehr oder minder sich selbst überlassen, allenfalls mittels Morphium ruhig gestellt, um ihnen einen schmerzarmen Tod zu ermöglichen. Weniger schwer Verwundete wurden versorgt und in Anschlusslazarette bzw. in die Heimat transportiert, während Leichtverletzte nach einer Wundversorgung zu ihren Einheiten zu76  Vgl. dazu die Internetpräsenz des 1921 von Yves Picot (1862–1938) gegründeten Union des Blessés de la Face et de la Tête (UBFT), „Les Gueulles Cassées“: www.gueulles.cassees.asso.fr. 77  Hinzu traten Schlamm und Dreck, die zusätzlich zur Infektion der Wunde führten. Vgl. Friedrich, 14 / 18 (Anm. 1), 605–612.



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rückkehren mussten. Insbesondere bei schweren Gefechten und vielen Verletzten sahen sich die Ärzte und Helfer gezwungen, radikal zu entscheiden, wer auf den OP-Tisch kam und wer nicht. Wer hatte eine Chance, die Operation zu überleben, wie viele Verletzte mussten in kürzesten Abständen versorgt werden  – Ärzte wurden hier zu unumstrittenen Herren über Leben und Tod78. Die ergreifenden Berichte von Hans Carossa, „Rumänisches Tagebuch“ oder, speziell für den Zweiten Weltkrieg, von Peter Bamm „Die unsichtbare Flagge“, legen hiervon eindrucksvoll Zeugnis ab. Schwer Gesichtsverletzte erhielten wohl nur in ruhigeren Zeiten die nötige Aufmerksamkeit und Zeit der Mediziner, vor allem wenn es sich um Offiziere handelte, bemühte man sich um ihr Überleben – wie etwa im oben beschriebenen Fall des Adrien Fournier. Diese „Gueules Casses“ waren in ganz besonderem Maße auf das Wollen und Können der Ärzte angewiesen, die sich mit ihren Patienten über einen langen Zeitraum und dutzende Operationen auseinandersetzen, um ihnen Schritt für Schritt ein annehmbares Gesicht und die Möglichkeit zum Sprechen und zur späteren Teilhabe am öffentlichen Leben wiederzugeben. Über lange Zeit wurden derart Verletzte übrigens nicht in die Öffentlichkeit gelassen, um die Moral der Heimatfront nicht zu untergraben. Mochte sich ein beidseitig Amputierter tatsächlich komplizierter ins Zivilleben reintegrieren lassen, wog oder wiegt doch der Verlust des Gesichts offensichtlich schwerer, wird er doch nicht zuletzt mit dem Verlust der Identität gleichgesetzt. So versinnbildlichen sich in den zerstörten Gesichtern, die man unter anderem in den Werken von Otto Dix (1891–1969) und George Grosz (1893–1959) aber auch in den Antikriegssammlungen von Ernst Friedrich (1894–1967) wiederfindet, die Zerstörungen und Verheerungen des Krieges, die ihre Spuren dauerhaft, auch lange nach Kriegsende in den Menschen hinterlassen in ganz besonderer Weise79. Ebenso schwer wogen insbesondere in den Ländern, die den Krieg verloren hatten, die Fragen der sozialen Absicherung, der materiell-technischen Unterstützung durch die Prothetik und nicht zuletzt der moralischen Anerkennung der Versehrten. Hier vollzog sich der Wandel vom „Helden“ zum „Krüppel“ mit atemberaubender Rasanz, der etwa in der Weimarer Republik den bescheidenen Möglichkeiten des Staates zur Hilfeleistung aber auch dem mangelnden politischen Druck von „Lobbygruppen“ geschuldet war. Tatsächlich erfuhren die Kriegsversehrten dann in der Zeit des Nationalsozialismus eine besondere moralische Unterstützung, als „Ehrenbürger des Rei78  Vgl. Otto von Schjerning (Hrsg.), Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914 / 1918. 9 Bde., Leipzig 1921 / 22; André Müllerschön, Neue Methoden und ihre Bewährung in der Militärmedizin des Ersten Weltkrieges. In: Wehrmedizin und Wehrpharmazie, 58. Jg. (7 / 2014), 239–244. 79  Vgl. Schjerning, Handbuch (Anm. 78); Gueulles Cassées (Anm. 76).

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ches“, denen der Dank und die Anerkennung der jüngeren Generationen gebühre. Die perfide Konzeption hinter diesem Manöver bestand darin, auch diese Gruppe in die neue Gesellschaft zu integrieren und sich dadurch ihre Tradition und ihre Geschichte, das heißt eine Geschichte des Kampfes, des Durchhaltens und des stillen Heldentums zu Nutze zu machen80. V. Ein Waffenstillstand für zwanzig Jahre. Die Rezeption des Krieges durch das europäische Militär Dieser dem französischen Marschall Ferdinand Foch (1851–1929) als Reaktion auf den Versailler Vertrag zugeschriebene Satz hat, wenn wohl auch nur rein zufällig, die Realität und den Fortgang der Geschichte Europas gut erfasst. Tatsächlich ging man unmittelbar nach Kriegsende in allen beteiligten Armeen, auch in der Reichswehr der Weimarer Republik daran, den soeben gewonnenen bzw. verlorenen Krieg penibel auszuwerten, um für künftige Konflikte gerüstet zu sein. Jedem Fachmann war dabei klar, dass dieser nächste Krieg nicht allein mehr zu Land und Wasser sondern auch in der Luft geführt, und dass damit sowohl die gegnerische Infrastruktur als auch die Zivilbevölkerung mögliche Angriffsziele werden würden81. Im Zusammenhang mit den unter aktiven Militärs wie unter Militärhistorikern geführten Strategiedebatten ist zunächst einmal zwischen Strategien für Land-, See- und Luftstreitkräfte zu unterscheiden. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten alle Planer die Bedeutung offensiven Vorgehens der Landstreitkräfte, des Angriffs um jeden Preis unterstrichen, eine Vorstellung, die bekanntermaßen nicht zuletzt aufgrund der waffentechnischen Entwicklungen, etwa durch den Einsatz von Maschinengewehren sowie der Artillerie, in den Schützengräben des Krieges in eine Sackgasse geraten war. Sowohl in Frankreich und Großbritannien als auch in der Weimarer Republik und in der Sowjetunion wurden seit den frühen 1920er Jahren Möglichkeiten und Grenzen, Vor- und Nachteile einer beweglichen, offensiven wie defensiven aber auch einer starren, defensiven Verteidigung zu Lande diskutiert. Angesichts der immensen personellen Verluste sowie der Tatsache, dass sich auch nach dem Ersten Weltkrieg die wirtschaftlich bedeutendsten Regionen Frankreichs, so etwa Lothringen, in unmittelbarer Reichweite Deutschlands befanden, die man natürlich für einen Krieg brauchte und die man deshalb schützen musste, kam für Frankreich, für die führenden Köpfe des französischen Militärs der 80  Vgl. Cay-Rüdiger Prüll, Die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Medizin im Nationalsozialismus. In: Krumeich (Hrsg.), Nationalsozialismus (Anm. 73), 363– 378. 81  Zu dieser Fragestellung vgl. weiterhin Beatrice Heuser, Clausewitz lesen! Eine Einführung, München 12005.



Gesichter des modernen Krieges

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Nachkriegszeit (Petain, Weygand, Gamelin) nur eine defensive Rolle infrage, dies heißt eine Kette mit viel Stahl und Beton tief in die Erde eingegrabener Verteidigungsanlagen mit hoher artilleristischer Feuerkraft. Wie vor 1914 stellte sich für Frankreich bezüglich offensiver Konzeptionen auch nach 1918 das Problem einer Neutralität Belgiens. Tatsächlich spielten 1940 offensive, nach Belgien ausgerichtete Pläne wie der Dyle- oder der Escaut (Schelde)Plan der Deutschen Wehrmacht im Zuge des Mansteinschen Sichelschnitts sogar in die Hände. Gleichwohl hatte man in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg auch eine Panzerwaffe aufgebaut, die sich im Übrigen der deutschen 1940 qualitativ und vor allem quantitativ als deutlich überlegen erwies. Allerdings wirkte sich hier die aus dem Ersten Weltkrieg übernommene Konzeption, die Panzer nicht als eigenständige Waffe sondern als der Infanterie beigegebene rollende Artillerie einzusetzen, in dem Maße verhängnisvoll aus, in dem Bewegung und Geschwindigkeit wieder zu den dominierenden Elementen der Kriegführung werden sollten82. Das hatte man ursprünglich auch in der Reichswehr nicht erkannt, die sich jedoch zunächst aufgrund der im Versailler Vertrag verordneten Beschränkungen vorwiegend auf theoretische Aspekte dieses Problems beschränken musste. Immerhin konnte die Reichswehr von Mitte der 1920er Jahre bis 1933 in der UdSSR im Rahmen eines geheimen Kooperationsprojekts mit der Roten Armee an der Entwicklung der Panzer- und der Luftwaffe arbeiten83. Neben der Frage von Bewegung oder statischer Defensive der Landstreitkräfte erlangte auch das Agieren gegenüber der gegnerischen Zivilbevölkerung einige Bedeutung. Diese Option der gezielten Terrorisierung gegnerischer Zivilisten war bereits während des amerikanischen Bürgerkrieges von den Nordstaaten erfolgreich praktiziert worden und fand nach 1918 auch Eingang in theoretische Diskussionen führender Militärs, etwa des britischen Generals John Frederick Charles Fuller (1878–1966), dem Vater der britischen Panzerwaffe des Ersten Weltkrieges. Der Kern von Fullers Theorie sah vor, einen Krieg im psychologischen Sinne möglichst schrecklich zu gestalten, um ihn dadurch schneller beenden zu können, da das angegriffene Volk dann seine Regierung dazu nötigen würde, den Kampf aufzugeben84. Ähnliche Modelle sahen eine von der Marine verhängte Hungerblockade des Geg82  Vgl. Karl-Heinz Frieser, Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, München 1995. 83  Zur verdeckten Kooperation von Reichswehr und Roter Armee vgl. Manfred Zeidler, Reichswehr und Rote Armee 1920–1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit, München 1993. 84  Vgl. zu Fuller Brian Holden Reid, Studies in British military thought. Debates with Fuller and Liddell Hart, Lincoln 1998; Ders., J. F. C. Fuller. Military thinker, Basingstoke 1987; Olivier Entraigues, Le stratège oublié. J-F-C Fuller 1913–1933, Bourges 2012. 1

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ners bzw. den Angriff von Bombenflugzeugen gegen die Zivilbevölkerung vor. Damit sind zugleich auch die wesentlichen Rollen der See- und Luftstreitkräfte in den einschlägigen Diskussionen der Militärtheoretiker der 1920er Jahre umrissen. Hier ist wohl den militärischen Führungsebenen der betrachteten Staaten gemeinsam, dass sie die Bedeutung bzw. das Potential neuer Waffensysteme nur selten erkannten, ausgewiesene Protagonisten „ihrer“ Waffen, wie etwa Charles de Gaulle (1890–1970) oder Giulio Douhet (1869–1930) bei ihrer militärischen Führung wiederum kaum Beachtung fanden. Dass sich hingegen in der Reichswehr bzw. in der Wehrmacht Akteure wie Heinz Guderian (1888–1954), Erwin Rommel (1891–1944) oder Erich von Manstein (1887–1973) gegen „konservative militärische Bedenkenträger“ auf teils recht unkonventionelle Weise durchsetzen konnten, sollte Europa und die Welt indes 1939 in eine erneute kriegerische Auseinandersetzung, in die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges führen.

„Die am vollständigsten überlisteten Trottel des Zweiten Weltkriegs“ Stalin und die Rote Armee im Vorfeld des Unternehmens „Barbarossa“ im Frühjahr 1941 Von Rainer F. Schmidt, Würzburg Zwanzig Jahre nach Kriegsende erinnerte sich Marschall Timoschenko, der damalige Volkskommissar für Verteidigung der Sowjetunion, an eine Begebenheit von Mitte Juni 1941. Damals hatten er und Generalstabschef Schukow das Politbüro über den Aufmarsch der Wehrmacht informiert. Als Schukow ausführte, dass man nicht vorbereitet sei, um den Angriff abzuwehren, begann Stalin, böse zu werden. „Ich erkannte das daran“, so Timoschenko, „daß er mit der Pfeife auf den Tisch schlug. Dann stand er auf, ging zu Schukow und begann, ihn anzubrüllen: ‚Was wollen Sie, sind Sie gekommen, uns mit dem Krieg zu schrecken, oder wollen Sie den Krieg?‘ Schukow verlor die Selbstbeherrschung, und man führte ihn in ein anderes Zimmer. Stalin kehrte zum Tisch zurück und sagte grob: ‚Das macht alles der Timoschenko, er versetzt alle in Kriegsstimmung […]. Timoschenko ist gesund und hat einen großen Kopf, aber offensichtlich nur ein kleines Gehirn.‘ Dann hob er den Zeigefinger: ‚Sie müssen begreifen, daß Deutschland niemals allein mit Rußland Krieg führen wird. Das müssen Sie begreifen‘, sagte er und ging. Dann öffnete er die Tür und sagte laut. ‚Wenn ihr da an der Grenze die Deutschen reizt, wenn ihr ohne unsere Genehmigung die Truppen verschiebt, dann rollen die Köpfe. Merkt euch das‘, und schlug die Tür zu.“1 Wenige Tage später begann unter dem Codewort Unternehmen „Barbarossa“ jener Vernichtungs- und Lebensraumkrieg, der die Lagebeurteilung Stalins ad absurdum führte. Er brachte die Sowjetunion binnen weniger Wochen an den Rand ihrer staatlichen Existenz. Über die Entscheidungsparameter und die Situationsdeutung sowie über die Intentionen und Motive Stalins 1  Zit. nach Lew Alexandrowitsch Besymenskij, Stalins Rede vom 5. Mai 1941. In: Gerd R. Ueberschär / Lew Alexandrowitsch Besymenskij (Hrsg.), Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941. Die Kontroverse um die Präventivkriegsthese, Darmstadt 1998, 142.

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ist seither immer wieder spekuliert worden. Zu einer überzeugenden Antwort ist man bis heute nicht gelangt. Die wichtigsten Gründe hierfür sind die folgenden: Auf russischer Seite herrscht nach wie vor eine unzulängliche Quellenlage, die keinerlei Einblick in die im Kreml ablaufenden Entscheidungsprozesse gestattet; und der alljährlich mit großem Pomp und gigantischen Paraden zelebrierte Helden- und Abwehrmythos des Großen Vaterländischen Krieges trübt von jeher die historische Erkenntnis durch politisch-funktionale Erwägungen. Auf deutscher Seite wurde die Forschung bislang ganz von der Widerlegung jener Präventivkriegsthese beherrscht, die die Nationalsozialisten zur Legitimation des Bruches des Nichtangriffspakts von 1939 in die Welt setzten. So hieß es in der Note, die in Moskau unmittelbar nach Beginn der Kampfhandlungen übergeben wurde: die Sowjetunion sei „mit ihren gesamten Streitkräften an der deutschen Grenze sprungbereit aufmarschiert.“2 All das führte dazu, dass der Klärungsprozess von Stalins Absichten und Aktionen im Vorfeld des 22. Juni 1941 nur schleppend einsetzte. Zu massiv erschien die moralische Verpflichtung der Deutschen gegenüber den Völkern der Sowjetunion. Zu gewaltig wog die historische Verantwortung, als dass man sich den Intentionen Stalins aus einer Position des ex ante heraus hätte zuwenden können. Und zu gewichtig war die geschichtspädagogische Befürchtung, es werde sich eine unkontrollierbare Sturzflut auf die Mühlen rechtsradikaler Kreise ergießen, wenn man die verbrecherischen Taten Hitlers und den deutschen Angriff dadurch scheinbar relativiere, dass man Stalin aggressive Absichten nachwies. Es bedurfte daher eines Anstoßes von außen, um eine kritische Debatte heraufzuführen, die freilich bis heute nicht frei ist von Polemik und dem Rückfall in fragwürdige, ja unwissenschaftliche Kategorien3. Ein in den 2  Gerd. R. Ueberschär / Wolfram Wette (Hrsg.), Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion – „Unternehmen Barbarossa“ 1941, Frankfurt / M. 1991, 117. 3  Vgl. diesbezüglich die tendenziöse Bestandsaufnahme der Debatte bei Gerd. R. Ueberschär, „Historikerstreit“ und „Präventivkriegsthese“. Zu den Rechtfertigungsversuchen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 26 (1987), 108–116; Ders., Zur Wiederbelebung der „Präventivkriegsthese“. Die neuen Rechtfertigungsversuche des deutschen Überfalls auf die UdSSR 1941 im Dienste „psychologischer Aspekte“ und „psychologischer Kriegführung“, in: Geschichtsdidaktik 12 (1987), 331–342; Ders., Das „Unternehmen Barbarossa“ gegen die Sowjetunion – ein Präventivkrieg? Zur Wiederbelebung der alten Rechtfertigungsversuche des deutschen Überfalls auf die UdSSR 1941, in: Brigitte Bailer-Galanda u. a. (Hrsg.), Wahrheit und „Ausschwitzlüge“. Zur Bekämpfung „revisionistischer“ Propaganda, Wien 1995, 163–182; Wolfram Wette, „Unternehmen Barbarossa“. Die verdrängte Last von 1941, in: Helmut Donat / Lothar Wieland (Hrsg.), „Auschwitz“ erst möglich gemacht? Überlegung zur jüngsten konservativen Geschichtsbewältigung, Bremen 1991, 94–103; Ders., Über die Wiederbelebung des Antibolschewismus mit historischen Mitteln. Oder: Was steckt hinter der Präventivkriegsthese? In: Gernot Erler u. a. (Hrsg.), Geschichtswende? Entsorgungsversuche zur deutschen Ver-



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Westen geflüchteter Generalstabsoffizier der sowjetischen Auslandsspionage brachte sie Ende der achtziger Jahre unter dem Decknamen Viktor Suworow [i. e. Wladimir B. Resun] mit dem Buch, „Der Eisbrecher“, in Gang4. Das führt auf die Fragestellungen der folgenden Ausführungen: 1. Welche Argumente wurden vorgebracht, um Stalins Kalkül im Vorfeld von „Barbarossa“ zu deuten? 2. Wie überzeugend sind die vorgelegten Erklärungsmodelle? Weisen sie Unzulänglichkeiten auf, die keine hinreichende Situationsdeutung ermöglichen? 3. Und: gibt es einen Faktor, der bislang übersehen wurde, der aber Stalins Kalkül im Frühsommer 1941 maßgeblich bestimmte? Zunächst der Blick auf die grundlegenden Argumente. Drei Richtungen lassen sich in der Forschung herauspräparieren: das Lager der „Aggressionstheoretiker“; dasjenige der „Verfechter der Vorwärtsverteidigung“ und drittens das der sog. „Apologeten“, die Stalins Strategie als strikte Beschwichtigungspolitik einstufen. Um Suworows Initialthese herum hat sich inzwischen mit Joachim Hoffmann, Ernst Topitsch, Walther Post, Werner Maser, Heinz Magenheimer und Stefan Scheil ein Sextett gebildet5, dessen Ergebnisse durch die Arbeiten der gangenheit, Freiburg 1987, 86–115. Hier wird nicht etwa eine kritische Auseinandersetzung mit der These einer Angriffsabsicht Stalins versucht, sondern es wird, analog zum Argumentationsmuster im sog. „Historikerstreit“, eine Verschwörungstheorie von rechts entwickelt, die angeblich darauf abzielt, „den Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sow­ jetunion am 22. Juni 1941 in einen sogenannten Präventivkrieg umzumünzen.“ Wette, Präventivkriegsthese, 86. Eine an der Sache orientierte, kenntnisreiche Darlegung der Debatte dagegen bei Volker Dotterweich, Krieg der Titanen? Spekulationen über Stalins Strategie im Frühjahr 1941, in: Ders. (Hrsg.), Kontroversen der Zeitgeschichte. Historisch-politische Themen im Meinungsstreit, München 1998, 123–159; ausgewogen auch Bernd Bonwetsch, Die Forschungskontroverse über die Kriegsvorbereitungen der Roten Armee 1941. In: Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.), Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt / M. 2000, 170–189. 4  Viktor Suworow, Who was planning to attack whom in June 1941, Hitler or Stalin? In: Journal of the Royal United Services Institute for Defence Studies 80 / 2 (June 1985) 50–55; Gabriel Gorodetsky, Was Stalin planning to attack Hitler in June 1941, in: ebd., 81, (June 1986), 69–72; Viktor Suworow, Yes, Stalin was planning to attack Hitler in June 1941, in: ebd., 73 f.; Ders., Der Eisbrecher. Hitler in Stalins Kalkül. Stuttgart 1991; Ders., Der Tag M. Stuttgart 1995. 5  Vgl. Joachim Hoffmann, Die Sowjetunion bis zum Vorabend der deutschen Angriffs und die Kriegführung aus der Sicht der Sowjetunion, in: Horst Boog u. a. (Hrsg.), Der Angriff auf die Sowjetunion (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4 Der Angriff auf die Sowjetunion), Stuttgart 1983, 69–140 u. 848–964; Ders., Die Angriffsvorbereitungen der Sowjetunion 1941, in: Bernd Wegner (Hrsg.), Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin Pakt bis zum „Unternehmen Barba-

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russischen Militärhistoriker Michail Meltjuchov, Vladimir Nevezin und Valerij Danilov gestützt werden6. Sie alle unterstellen Stalin ein Angriffskalkül. Es entwickelte sich unabhängig von Hitlers Lebensraumintentionen; es lief parallel zur Planung von „Barbarossa“; und es zielte auf einen Aggressionskrieg im Sommer 1941, spätestens jedoch im Jahr 1942. Sieben Argumente wurden angeführt, um diese These zu erhärten. Erstens der Abbau der sog. Stalin-Linie, des der deutschen Siegfriedlinie im Westen vergleichbaren Verteidigungsgürtels aus Minenfeldern und Panzersperren, der hinter der Grenze zu Polen errichtet worden war. Zweitens die ab 1938 erfolgende Ingangsetzung einer ungeheuren Aufrüstung (24.000 Panzer, 23.000 Kampfflugzeuge, 148.000 Geschütze) sowie die Aufstellung von fünf Luftlandekorps, die für den Angriff auf Bodenziele und nicht für den Luftabwehrkampf ausgerüstet waren. Drittens der Verzicht auf die Ausarbeitung einer Defensivstrategie gegenüber der Wehrmacht. Weit davon entfernt, die traditionellen Vorteile von Raum und Klima zu nutzen, beruhte die gesamte Militärdoktrin der ­Roten Armee auf dem Gedanken der strategischen Offensive. Viertens die Rede vom 5. Mai 1941 vor den Absolventen der Militärakademien. Darin verstieg sich Stalin, offenbar unter Alkoholeinfluss, zu Kriegsdrohungen ­gegen Deutschland und sprach von der „Notwendigkeit eines offensiven ­Vorgehens“. Zehn Tage später billigte er den von Timoschenko und Schu­kow vorgelegten Angriffsplan, die sog. „Strategischen Erwägungen“, vom 15. Mai. Fünftens die grenznahe Aufstellung von fast 200 Divisionen der Roten Armee. Diese operative Konfiguration ergab nur für den Fall eines Angriffes einen Sinn, denn die Konzentration solch gewaltiger Massen an Verbänden auf engstem Raum machte die Truppen nach rückwärts und seitwärts immobil. Vor allem barg sie im Verteirossa“, München 1991, 367–388; Ders., Stalins Vernichtungskrieg 1941–1945, München 1997, 18 ff.; Ernst Topitsch, Stalins Krieg. Die sowjetische Langzeitstrategie gegen den Westen als rationale Machtpolitik, Herford 1990; erw. Neuausgabe u.d.T. Stalins Krieg. Griff nach der Weltherrschaft – Strategie und Scheitern, Herford 1993; Walther Post, „Unternehmen Barbarossa“. Deutsche und sowjetische Angriffspläne 1940 / 1941, Hamburg 1995; Werner Maser, Der Wortbruch. Hitler, Stalin und der Zweite Weltkrieg, München 1994; Stefan Scheil, 1940 / 41. Die Eskalation des Zweiten Weltkrieges, München 2005. 6  Vgl. Michail Meltjuchov, Ideologiceskie dokumenty majaijunja 1941 goda o sobytijach vtoroj mirovoj vojny (Ideologische Dokumente vom Mai – Juni 1941 über die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges), in: Jurij Afanasjev (Hrsg.), Drugaja vojna (Der andere Krieg): 1939–1945, Moskau 1996, 76–105; Ders., Kanun Velikoj Otecestvennoj vojny: diskussija prodolzaetsja (Am Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges: die Diskussion dauert an), Moskau 1999; Vladimir Nevezin, Rec’ Stalina 5 Maja 1941 goda i apologija nastupatel’noj vojny (Die Rede Stalins vom 5. Mai 1941 und die Apologie des Angriffskrieges), in: Jurij Afanasjev (Hrsg.), Drugaja vojna, 106–135; Ders., Sindrom nastupatel’noj vojny. Sovetskaja propaganda v preddverii „svjasennich bojev“, 1939–1941 (Das Syndrom des Angriffskrieges. Die sowjetische Propaganda am Vorabend „der heiligen Kämpfe“), Moskau 1997.





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Abb. 1: Timoschenko

Abb. 2: Georgi Schukow

digungsfall das unkalkulierbare Risiko eines Umfasstwerdens. Sechstens die in den Tagen nach dem 22. Juni von der Wehrmacht erbeuteten Versorgungsdepots, Betriebsstofflager und Mobilmachungsvorräte. Sie waren unmittelbar an der Grenze angelegt worden. Hinzu kamen Karten, die weit in den deutschen Raum reichten, sowie Propagandamaterial für einen Angriff auf Deutschland. Und siebtens prägte diese Forschergruppe den Begriff der sog. „Stalin-Doktrin“. Er umschreibt das Ziel Stalins seit dem Frühjahr 1939, die anderen Staaten in einen Zermürbungs- und Abnutzungskrieg zu treiben. Die Sowjetunion wollte erst dann eingreifen, wenn sich die anderen Mächte gegenseitig geschwächt hatten. Nach dem schnellen deutschen Sieg über Frankreich verfolgte Stalin dann eine gezielte Provokationsstrategie gegenüber Deutschland. Als Außenminister Molotow im November 1940 in Berlin praktisch den gesamten Balkanraum als Preis für eine Fortschreibung des weiteren Stillhaltens reklamierte, entsprach dies dem Ziel Stalins, Hitler zur Wendung nach Osten zu verleiten. Unter der Parole eines Verteidigungskrieges sollte somit, gemäß dieser Stalin-Doktrin, die Ausbreitung des Sowjetkommunismus bewerkstelligt werden. Wenden wir uns der zweiten Argumentationsrichtung zu: den „Verfechtern der Vorwärtsverteidigung“. Historiker wie Manfred Messerschmidt, Jurij Afanasjew und Valerij Danilov gehen davon aus, dass man aus der grenz­ nahen Aufstellung der Roten Armee keineswegs eine gezielte Herbeiführung eines Krieges mit Deutschland ableiten könne7. 7  Vgl. Manfred Messerschmidt, Präventivkrieg? In: Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.), Präventivkrieg? (Anm. 3), 19–36; Heinz Magenheimer, Zum deutsch-sowjetischen

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Ihre Argumente sind die folgenden. Bis zum 22. Juni vermied es Stalin strikt, die Generalmobilmachung anzuordnen und sich damit für den Krieg zu entscheiden. Die Militärs, die diese einforderten und, wie erwähnt, am 15. Mai einen entsprechenden Plan präsentierten, bekamen weder für einen Präventivschlag gegen die Wehrmacht noch für eine kriegsauslösende Provokation grünes Licht. Dies ist erstens umso bedeutsamer, als Stalin über ein ganzes Bündel an konkreten Hinweisen verfügte, dass sich Hitler für einen Krieg entschieden hatte. Unter den Stalin zugänglichen Belegen befand sich Hitlers Weisung Nr. 21 vom 18. Dezember 1940, also die operative Planung von „Barbarossa“. In den Moskauer Führungskreisen herrschte daher nur noch Unklarheit über den genauen Termin des deutschen Losschlagens. Zweitens fußte die Truppenaufstellung an der Grenze exakt auf dieser Erwartung. Sie entsprach der seit den dreißiger Jahren propagierten Militärdoktrin. Ähnlich wie der Schlieffenplan, suchte sie ihr Heil in der Offensive und versuchte, einen Stellungskrieg auf eigenem Territorium zu vermeiden. Demnach galt: zur Abwehr eines Angriffs sollte die Rote Armee sofort die Initiative ergreifen, zur Offensive übergehen und die Kampfhandlungen auf das Gebiet des Gegners tragen. Die Aufstellung unmittelbar an der Grenze zu Deutschland und Rumänien war also als Bollwerk und Sprungbrett für einen Gegenstoß gedacht. Demzufolge, so die Vertreter dieser Theorie, war der Verzicht auf jegliche strategische und taktische Verteidigung und die grenznahe Massierung von Verbänden keineswegs gleichzusetzen mit dem Willen zur Aggression. All dies entsprang vielmehr einer Verteidigungskonzeption, die ganz vom Offensivgedanken geprägt war. Das dritte Lager, das der sog. Apologeten, sieht Stalins Strategie ganz von der Defensive, der peniblen Beachtung der Vereinbarungen mit Deutschland, ja von der Beschwichtigung Hitlers beherrscht. Der israelische Historiker Gabriel Gorodetsky, die Tübinger Osteuropahistorikerin Bianka PietrowEnnker, ihre Kollegin Ingeborg Fleischhauer sowie die Russen Lew Besy­ menskij, Jurij Gorkow, Oleg Wischljew und Machmut Gareev können weder Krieg 1941. Neue Quellen und Erkenntnisse, in: Österreichische Militärische Zeitschrift 32 / 1 (1994), 51–60; Ders., „Entscheidungskampf 1941. Sowjetische Kriegsvorbereitungen, Aufmarsch, Zusammenstoß, Bielefeld 2000; Valerij Danilov, Stalinskaja strategija nacala vojny: plany i realnost’ (Stalins Strategie des Kriegsbeginns: Pläne und die Realität), in: Afanasjev (Hrsg.), Drugaja vojna (Anm. 6), 136–156; Ders., Gotovil li generalnyj stab krasnoj armii uprezdajusij udar po germanii? (Bereitete der Generalstab der Roten Armee einen Präventivschlag gegen Deutschland vor?), in: Gennadij Bordjugov (Hrsg.), Gotovil li Stalin nastupatelnuju vojnu protiv Gitlera? (Bereitete Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler vor?), Moskau 1995, 82– 91; Jurij Afanasjev, Drugaja vojna: istorija i pamjat’. In: Ders. (Hrsg.), Drugaja vojna (Anm. 6), 22–45.; Ders. (Hrsg.), Vojna 1939–1945: dva podchoda (Der Krieg 1939– 1945: zwei Betrachtungsweisen), Moskau 1995.



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Abb. 3: Ausgangslage 1941 grün eingerahmt von oben nach unten

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einen Offensivaufmarsch der Roten Armee noch eine Offensivverteidigung erkennen. Sie deuten die Truppenverlagerung in die Westlichen Militär­ bezirke vielmehr als defensiv motiviertes, politisches Signal an Hitler. Der Zweck sei der einer Gegenpression gewesen, mit der Stalin etwaigen Forderungen Hitlers habe entgegentreten wollen, und mit der er der deutschen Führung habe klarmachen wollen, dass die Sowjetunion weder ahnungsnoch wehrlos sei8. Zentralen Erklärungswert für diese Interpretationsrichtung besitzen das Sicherheitsdefizit und das Einkreisungstrauma der Sowjetunion. Beide schlugen sich in einer Politik der Konfliktvermeidung nieder, um Hitler keinesfalls einen Anlass zum Kriege zu liefern und ihn durch eine ganze Serie von Goodwill-Aktionen zu beschwichtigen. Dies gilt erstens für den Pakt mit dem nationalsozialistischen Deutschland vom August 1939, der unter allen außenpolitischen Optionen Stalins zwar die ungünstigste war, jedoch der Sowjetunion vorerst eine Atempause verschaffte, sie mit Blick auf Japan vor einem Zweifrontenkrieg bewahrte und die Einheitsfront von München sprengte. Zweitens verweist man auf den Umstand, dass sich die Sowjetunion im Jahre 1941 nicht etwa in einer Position der militärischen Überlegenheit befand, sondern in einem Zustand objektiver Schwäche. Konstitutiv für diese Schwäche war die weitgehende Liquidierung der Führungskader der Armee (etwa 40.000 Generale und Offiziere) in den großen Säuberungen 8  Vgl. Gabriel Gorodetsky, Die große Täuschung. Hitler, Stalin und das Unternehmen „Barbarossa“, Berlin 2001; Ders., Stalin und Hitlers Angriff auf die Sowjetunion. Eine Auseinandersetzung mit der Legende vom deutschen Präventivkrieg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), 645–672; Ders., Russian „Appeasement“ of Germany – Spring 1941. In: Tel Aviver Jahrbücher für deutsche Geschichte 24 (1995), 257–282; Bianka Pietrow-Ennker, Deutschland im Juni 1941 – Ein Opfer sowjetischer Aggression? In: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg. München 1989, 586–607; Dies., Stalinismus. Sicherheit. Offensive. Das „Dritte Reich“ in der Konzeption der sowjetischen Außenpolitik 1933–1941, Melsungen 1983; Dies., „Mit den Wölfen heulen …“. Stalinistische Außen- und Deutschlandpolitik 1939–1941, in: Dies. (Hrsg.), Präventivkrieg? (Anm 3), 77–94; Lew Besymenskij, Der Berlin-Besuch von V. M. Molotow im November 1940 im Lichte neuer Dokumente aus sowjetischen Geheimarchiven. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 57 (1998), 199–215; Jurij Gorkow, 22. Juni 1941. Verteidigung oder Angriff? Recherchen in russischen Zentralarchiven, in: ebd., 190–207; Ders., Gotovil li Stalin uprezdajusij udar protiv Hitlera v 1941 godu (Bereitete Stalin 1941 einen Präventivschlag gegen Hitler vor?), in: Afanasjev (Hrsg.), Drugaja vojna (Anm. 6), 157–184; Oleg Wischljew, Am Vorabend des 22.6.1941. In: Hans Adolf Jacobsen (Hrsg.), Deutschrussische Zeitenwende. Krieg und Frieden 1941–1945, Baden-Baden 1995, 91–149; Machmut Gareev, Neodnoznacnye stranizy vojny (Mehrdeutige Seiten des Krieges), Moskau 1995; Ders., Gotovil li Sovetskij Sojuz uprezdajusee napadenie na Germaniju v 1941 godu? (Bereitete die Sowjetunion 1941 den Präventivangriff auf Deutschland vor?). In: A. Cubarjan (Hrsg.), Vojna i politika, 1939–1941 (Krieg und Politik), Moskau 1999, 270–279.



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der Tuchatschewski-Ära 1937 / 38. Hinzu kamen der mangelhafte Rüstungsstand der Streitkräfte, die kaum über moderne Waffensysteme verfügten und deren Reorganisation nicht vor dem Sommer 1942 abgeschlossen sein sollte; ein weiterer Faktor war die lahmende Wirtschaft, die weit hinter den Planzahlen herhinkte; und hinzu kam als unmittelbarer Erfahrungshintergrund die militärische Blamage gegen Finnland im sog. „Winterkrieg“. Die freiwillige Auslösung eines Krieges mit Deutschland im Frühsommer 1941, als sich Hitler auf dem Höhepunkt seiner Erfolge befand, als bis auf die britische Bastion von Gibraltar kein feindlicher Soldat mehr auf dem Kontinent stand, konnte demnach nicht in Stalins Interesse liegen. Drittens: all dies resultierte in einer „geradezu devoten Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler“ (Pietrow), die sich im Laufe der ersten Jahreshälfte von 1941 in einer ganzen Reihe von entsprechenden Signalen an die Adresse Berlins manifestierte. Die wichtigsten dieser Gesten waren die folgenden: die Erneuerung des Handelsabkommens mit Deutschland im Januar, der im Frühjahr eine beträchtliche Aufstockung der sowjetischen Rohstofflieferungen folgte; die Hinnahme der ständigen Verletzungen des russischen Luftraumes durch deutsche Aufklärungsflugzeuge; die demonstrativen Freundschaftsbekundungen Stalins gegenüber dem deutschen Botschafter Graf Schulenburg und dem stellvertretenden deutschen Militärattaché in Moskau, Oberst Krebs; die Übernahme des Ministerpräsidentenpostens in der sowjetischen Regierung durch Stalin persönlich am 6.  Mai 1941 sowie, Mitte des Monats, der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu den Regierungen Belgiens, Norwegens, Jugoslawiens und Hollands, – ein Schritt, der einer Anerkennung von Hitlers Eroberungen gleichkam. Am 13. / 14.  Juni schließlich ließ Stalin über die Nachrichtenagentur TASS ein Kommuniqué verbreiten, das seine Entschlossenheit bekräftigte, die Verpflichtungen aus dem Nichtangriffspakt einzuhalten und eine Art von verklausuliertem Verhandlungsangebot an Berlin darstellte. Stalin verfolgte also, dies bleibt als Resümee dieser Interpretationsrichtung festzuhalten, eine Politik des Appeasement gegenüber Hitler, und er tat sein Möglichstes, um auf Grund der objektiv gegebenen Schwächesituation einem Konflikt mit Deutschland aus dem Wege zu gehen. Mit diesen drei gegensätzlichen Deutungen rückt die zweite eingangs gestellte Frage in den Fokus: die Überzeugungskraft der vorgelegten Erklärungsmodelle. Ohne Zweifel weisen sie alle eine große innere Geschlossenheit und Folgerichtigkeit auf, so diametral verschieden sie auch angelegt sind. Aber dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass keines dieser drei Lager es vermag, für seine Deutung einen dokumentarischen Beweis bei­ zubringen. Sie operieren allesamt mit Indizien, Anhaltspunkten, Analogieschlüssen und Vermutungen. Diese werden gleichsam hochgerechnet und wie

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disparate Mosaiksteinchen in ein vorgefertigtes Bild eingepasst. Dies gilt etwa für die mit dem Mittel der Motivforschung betriebene Rekonstruktion der Situationsdeutung durch Stalin; und nicht weniger gilt es für die offenbaren Fakten, wie die vorgeschobene Truppenaufstellung der Roten Armee und den Angriffsplan des sowjetischen Generalstabes vom 15. Mai, die im Lichte der erhobenen Befunde gedeutet und in ein vorgefertigtes Bild eingepasst werden. Vor allem vier grundlegende Ungereimtheiten der vorgelegten Deutungsmuster stechen ins Auge. Erstens: Wenn Stalin so darauf erpicht war, Hitler keinesfalls einen Vorwand zum Angriff zu liefern, warum ließ er Molotow im November 1940 in Berlin mit dermaßen exorbitanten Forderungen auftreten, dass die Basis der bisherigen Vereinbarungen gesprengt wurde? Warum ließ er ihn sagen, dass „die Festlegung dieser Interessensphären im Vorjahre […] nur eine Teillösung“ darstelle, „die durch das Leben und die Ereignisse der letzten Zeit überholt und erschöpft sei […]“? Warum reklamierte Molotow Finnland und Bulgarien als exklusive Interessenzone; warum forderte er ein Mitspracherecht an der deutschen Kriegsbeute Polen bzw. am Schicksal Jugoslawiens, Griechenlands, Rumäniens, Schwedens und Ungarns; und warum verlangte er eine beherrschende Position am Bosporus und im gesamten Ostseeraum9? Es grenzt schon an Zynismus, dies mit einem Sicherheitsdefizit erklären zu wollen. Von den zwischen 1939 und 1940 durch die Sowjetunion annektierten Gebieten gar nicht zu reden. Zweitens: Was spricht dafür, dass Stalin die gleiche Realitätsperzeption hatte, wie die Historiker aus dem apologetischen Lager? Sie verweisen auf militärische und wirtschaftliche Unzulänglichkeiten und leiten daraus ab, dass die Sowjetunion im Juni 1941 nicht kriegsbereit gewesen sei. Bis heute gibt es aber keinen Beleg dafür, dass Stalin sich subjektiv der offenbar objektiv gegebenen Schwächesituation auch bewusst war. Er starrte vielmehr auf die nackten Zahlen. Und diese wiesen in punkto Manpower und Material eine ungeheure Überlegenheit der Roten Armee gegenüber der Wehrmacht aus. Es gibt eine Fülle von Indizien, die die Selbstsicherheit und Überheblichkeit des roten Diktators unterstreichen: zuletzt die Rede vom 9  Aufzeichnung des Gesandten Schmidt über die Unterredungen zwischen Hitler und Molotow am 12.11. u. 13.11.1940, Nr. 199, 256–265 u. Nr. 200, 265–279; Aufzeichnung des Botschaftsrats Hilger über die Unterredung zwischen von Ribbentrop und Molotow am 13.11.1940, Nr. 201, 284 / 285, in: Eber Malcom Carroll / Fritz T. Epstein (Hrsg.), Das Nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion 1939– 1941. Akten aus dem Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes, Berlin 1948. Vgl. dazu die Notizen Molotows vom 9.11.1940, basierend auf den Verhandlungsdirektiven Stalins, abgedruckt bei Lew Besymenski, Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren, Berlin 2002, 315–317.



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5. Mai 194110. Stalin überschätzte demnach die Kampfkraft seiner Armee sowie den Stand ihrer Wehrtechnik und schlug alle gegenteiligen Signale in den Wind. Drittens: die vorgeschobene Truppenaufstellung. Sie entsprach der Theorie der Offensivverteidigung. Deshalb lassen sich hieraus keine Aggressionsabsichten ableiten. Die nachfolgende Einkesselung durch die Wehrmacht könnte also die Folge der fatalen Überschätzung der eigenen Stärke gewesen sein und ein gravierender strategisch-operativer Führungsfehler. Gleichwohl: es bleibt die Frage, ob ausschließlich die Militärdoktrin dafür ursächlich war, dass es zu einer solch exponierten Massierung von Kampfverbänden in den Frontvorsprüngen bei Lemberg und Białystok kam, wo die Soldaten sich gegenseitig auf die Füße traten? Bot nicht ein etwas entfernter von der

Abb. 4: Strategische Erwägungen 10  Zu den unterschiedlichen überlieferten Versionen der Rede vgl. Besymenski, Pokerspiel (Anm. 9), 374 ff.; Ders., Die Rede Stalins am 5.Mai 1941. Dokumentiert und interpretiert, in: Osteuropa 42 (1992), 242–264; Bernd Bonwetsch, Nochmals zu Stalins Rede am 5. Mai 1941. Quellenkritisch-historiographische Bemerkungen, in: Osteuropa 42 (1992), 536–542.

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Grenze gewählter Standort die bessere Chance, den ersten Stoß der Wehrmacht aufzufangen und zum Gegenschlag auszuholen? Eine solche Aufstellung entsprach ebenfalls der Militärdoktrin. Und sie hatte den Vorteil, dass sie genügend Platz bot für die strategische Entfaltung der Armee. Diese Überlegung ist deshalb nicht abwegig, weil der am 11. März 1941 fertiggestellte sog. „Präzisierte Plan“ Schukows die Aufstellung der Truppen nicht an der Grenze, sondern im rückwärtigen Raum, „südlich vom Fluß Pripjat“, vorsah11. Was also – das scheint eine kardinale Frage zu sein, die alle bisherigen Deutungsmuster negieren – verursachte die Abkehr von Schukows Plan aus dem März und damit den im Laufe des Frühjahres erfolgten Übergang zur riskanten vorgeschobenen Dislozierung der Roten Armee unmittelbar an der Grenze? Damit verbindet sich der vierte Kritikpunkt. Grundsätzlich bot diese grenznahe Aufstellung drei denkbare Handlungs­ alternativen: das Abblocken des deutschen Angriffs und den sofortigen Ge-

Abb. 5: Strategische Erwägungen 11  Der russische Text in der zweibändigen Quellensammlung, die im Auftrag des Internationalen Fonds „Demokratie“ herausgegeben wurde, V. Naumov (Hrsg.), 1941 god. Dokumenty, Moskau 1998, Bd. 2, Nr. 315; der deutsche Text in: Ueberschär / Besymenskij (Hrsg.), Angriff (Anm. 1), 177–182.



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genschlag; die Möglichkeit zum Präventivschlag bzw. die Offensive; oder ein Verharren in dieser vorgeschobenen Position, bis die Kriegsgefahr vorüber war. Was aber machte Stalin so sicher, dass sich das Risiko einer Überrumpelung der eigenen Verbände durch die Wehrmacht kalkulieren ließ? Worauf stützte er seine Zuversicht, dass dieser Fall nicht eintreten würde? Darauf gibt keines der vorgelegten Interpretationsmodelle eine Antwort. Die Frage lautet also: verbarg sich hinter der hochriskanten, exponierten Truppenaufstellung und hinter Stalins bis zuletzt nachweisbarer felsenfesten Überzeugung, das Gesetz des Handelns selbst in der Hand zu halten und diktieren zu können, ein politisch-strategisches Kalkül oder ein simpler militärischer Führungsfehler? Die Antwort auf all diese offenen Fragen und Ungereimtheiten soll in Form von vier Thesen erfolgen, denen sich eine neue Deutung des Stalinschen Situationskalküls anschließt. These 1: Die Sowjetunion befand sich seit dem Frühjahr 1939 in einer diplomatisch-strategischen Schlüsselposition Mit der britisch-französischen Polengarantie vom 31. März sowie der nachfolgenden Kündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts und des Flottenvertrags mit Großbritannien durch Hitler, war die Koalition von München ohne Zutun Stalins zerfallen. Die Sowjetunion war damit von einer Position der Isolation in die Position einer allseits umworbenen Macht gerückt. Zum einen konnte die Garantieverpflichtung der Westmächte gegenüber Warschau nur mit Hilfe der Roten Armee eingelöst werden, zum anderen konnte Hitler Polen nur dann relativ gefahrlos zu Leibe rücken, wenn für Berlin und die zaudernden deutschen Militärs die Neutralität Moskaus verbürgt war. Tatsächlich lassen die verfügbaren Quellen keinen Zweifel daran, dass die Moskauer Führung diese Schlüsselstellung erkannte und bis ins letzte ausreizte. So notierte Außenminister Litwinow schon vier Tage nach der Polengarantie: „Wir wissen ganz genau, daß es unmöglich ist, die Aggression in Europa ohne uns aufzuhalten und zum Stehen zu bringen. Und je später man sich an uns mit Bitte um unsere Hilfeleistung wendet, einen desto größeren Preis wird man uns zahlen.“12 12  Für den einschlägigen Zeitraum ist heranzuziehen die vom Außenministerium der Russischen Föderation herausgegebene Quellensammlung zur sowjetischen Außenpolitik: Dokumenty wneschnej politiki (Dokumente zur Außenpolitik), Bd. XXII / 1 (1.  Januar 1939–31. August 1939), Moskau 1992; Bd. XXII / 2 (1.  September 1939– 31.  Dezember 1939), Moskau 1992; Bd. XXIII / 1 (1.  Januar 1940 − 31.  Oktober 1940), Moskau 1995; Bd. XXIII / 2 (1) (1. November 1940 − 1. März 1941), Moskau 1998; Bd. XXIII / 2 (2) (2.  März 1941–22.  Juni 1941), Moskau 1998; im folgenden abgekürzt als DWP; hier: DWP, Bd. XXII / 1, Nr. 199.

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Aus diesem Grund verhandelte Stalin in taktischer Absicht mit den Vertretern Frankreichs und Englands13; deshalb hielt er den drängenden Hitler über Wochen hinweg hin, um den Preis für den Pakt in die Höhe zu treiben; und deshalb schloss er erst dann mit den Deutschen ab, als keinerlei Zweifel mehr bestehen konnte, dass der Pakt vom August 1939 den Krieg zwischen Deutschland, Frankreich und England bedeutete14. An dieser vorteilhaften Position änderte auch der Blitzerfolg der Wehrmacht über Frankreich und das britische Expeditionskorps nichts, denn die Prämissen, auf denen die sowjetische Sicherheit ruhte, blieben stabil. Churchill bekundete seine Entschlossenheit, den Kampf bis zum Sieg fortzusetzen15; London wies Hitlers „Friedensappell“ vom 19. Juli öffentlich ab; der strategische Luftkrieg der Royal Air Force fraß sich zunehmend ins deutsche Hinterland ein; und der von Churchill wieder nach Moskau beorderte Botschafter antichambrierte im Kreml mit großzügigen Angeboten, um die Sowjetunion auf die Seite Englands zu ziehen. Im Gegenzug intensivierte sich die deutsche Luftkriegführung gegen die britischen Inseln, bestand die ökonomische Abhängigkeit der deutschen Kriegsmaschinerie von den russischen Rohstofflieferungen unverändert fort und wurde Außenminister Molotow nach Berlin zu neuen Verhandlungen geladen. Schließlich bot Japan am 30. Oktober 1940 Verhandlungen über einen Nichtangriffspakt an. Sie verschafften der Sowjetunion ein knappes halbes Jahr später, am 13. April 1941, die Rückendeckung gen Osten. Mit Blick auf diese günstige internationale Rahmensituation war für die Moskauer Führungszirkel klar, dass die Auseinandersetzung zwischen Japan und den Achsenmächten auf der einen sowie den zusammenrückenden Westmächten, USA und England, auf der anderen Seite in ein neues sich verschärfendes Stadium getreten war16. Ja, man leitete hieraus, wie es Molotow im November 1940 Hitler gegenüber herausfordernd formulieren sollte, die Schlussfolgerung ab, „daß sich das Abkommen von 1939 auf eine bestimmte 13  DWP,

Bd. XXII / 1, Nr. 453. Genese des Paktes vom August 1939 vgl. Andreas Hillgruber, Der HitlerStalin Pakt und die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. Situationsanalyse und Machtkalkül der beiden Partner, in: Historische Zeitschrift 230 (1980), 339–361 sowie den die sowjetische vorteilhafte Position und das Kalkül Stalins vollkommen verzeichnenden Ausführungen von Ingeborg Fleischhauer, Die sowjetische Außenpolitik und die Genese des Hitler-Stalin Paktes, in: Bernd Wegner (Hrsg.), Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin Pakt zum Unternehmen „Barbarossa“, München u. a. 1991, 19–39. 15  Vgl. hierzu Rainer F. Schmidt, Rudolf Heß. „Botengang eines Toren“? Der Flug nach Großbritannien vom 10. Mai 1941, München 2000, 132 ff. 16  Vgl. die Rede Molotows vor dem Obersten Sowjet, 1.8.1940, in: Jane Degras (Hrsg.), Soviet Documents on Foreign Policy, Bd. 3: 1933–1941, London 1953, 462 ff. sowie den Artikel von Generalmajor Iwanow in der PRAWDA, 20.6.1940, zit. bei Alexander Werth, Rußland im Kriege, München 1965, 84. 14  Zur



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Etappe der Entwicklung bezogen habe […]“ und es „nicht ohne Einfluß auf die großen deutschen Siege gewesen sei“17. Im Klartext hieß das: Deutschland müsse einen neuen Preis für das weitere Stillhalten der Sowjetunion zahlen. These 2: Der Kreml wusste über die deutschen Angriffspläne Bescheid und richtete sich auf den Krieg ein Ein wichtiges taktisches Moment des sowjetischen Verhandlungsfühlers vom November 1940, der in der Einladung Molotows nach Berlin gipfelte, betraf Hitlers langfristige Planungen im Osten des Kontinents. Der exorbitante Interessenkatalog, den der sowjetische Außenminister seinen deutschen Gesprächspartnern präsentierte, war demnach auch Ausdruck des Kalküls, Hitlers tatsächliche Absichten auszuloten. Ging Hitler auch nur ansatzweise auf die russischen Forderungen ein, so war ein deutscher Angriff nicht mehr möglich und die Wehrmacht büßte jedwede Aufmarschbasen ein. Der Hintergrund dafür war, dass Stalin seit dem Ende des Frankreichfeldzuges über das Anlaufen der deutschen Kriegsplanung gegen die Sowjetunion präzise im Bilde war. Schon vom ersten diesbezüglichen Befehl Hitlers an das OKH vom Sommer 1940 hatte er Kenntnis18. Praktisch auf dem Fuße erfolgte in Moskau der Schwenk zur Kriegspräparation. Am 25. Juni wurde eine Erhöhung der Schlagkraft der Streitkräfte angekündigt und einen Tag später stellte ein Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjet die gesamte Wirtschaft unter Kriegsrecht19. Gleichzeitig versuchte Stalin in Südosteuropa politischen Einfluss zu gewinnen und die Bastionen der Roten Armee weiter voranzuschieben. Er unterstützte die territorialen Revisionsforderungen Ungarns und Bulgariens gegenüber Rumänien; er beanspruchte Restrumänien als sowjetische Einflusszone20; er nahm diplomatische Beziehungen zu Jugoslawien auf, und er forderte von der Türkei die Abtretung der ehemaligen russischen Provinzen Kars und Ardahan sowie die Einräumung militärischer Stützpunkte an den Dardanellen21. 17  Aufzeichnung des Gesandten Schmidt über die Unterredung zwischen Hitler und Molotow am 13.11.1940, in: Carroll / Epstein (Hrsg.), Akten (Anm. 9), Nr. 200, 267 f. 18  Bericht Dergatschows, 6.6.1940; Bericht Tupikows, 9.6.1940, Iswestia ZK KPSS, Moskau, 1990, Nr. 3 / 4, 220–222 u. 198–199, zit. bei Valentin Falin, Zweite Front. Interessenkonflikte in der Anti-Hitler Koalition, München 1995, 192 f. 19  Vgl. Werth, Rußland (Anm. 16), 87. 20  Vgl. Andreas Hillgruber, Hitler, König Carol und Marschall Antonescu. Wiesbaden 1965, 70 ff.; Johann Wolfgang Brügel, Das sowjetische Ultimatum an Rumänien im Juni 1940, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 11 (1963), 404–417. 21  Aufzeichnung des Legationsrates Melzer über seine Unterredung mit dem türkischen Botschaftsrat Alkend, 23.7.1940, ADAP, D, Nr. 214, 230 f.

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Als Molotow ohne Ergebnis aus Berlin zurückkehrte, war klar, dass sich Hitler für eine Politik der Konfrontation entschieden hatte. „Alle“, so fasste der stellvertretende Generalstabschef Marschall Wassilewski, der Molotow auf seiner Reise begleitet hatte, die Lage zusammen, alle glaubten an einen Angriff der Wehrmacht22. Ausschlaggebend hierfür waren drei Faktoren. Erstens reagierte die deutsche Seite mit eisernem Schweigen auf alle weiteren Verhandlungsinitiativen Moskaus. Und dies, obschon Molotow von seinem Maximalprogramm abrückte und zweimal, zuletzt am 28. Februar 1941, die ausgebliebene deutsche Stellungnahme anmahnte23. Zweitens nahmen die aus Berlin einlaufenden Agentenmeldungen immer konkretere Formen an. Sie berichteten detailliert über die deutsche Aufmarschplanung, übermittelten Bombardierungspläne und Operationsstudien und sprachen vom 20. Mai als vermutlichem Kriegsbeginn (Weisung Nr. 21: Abschluß der Vorbereitungen bis 15.  Mai).24 Und drittens stellten die deutschen Aktionen im strategischen Vorfeld der sowjetischen Westgrenzen unter Beweis, dass Hitler die Bahn einer Verständigung verlassen hatte. Unter klarer Desavouierung der durch Molotow in Berlin angemeldeten sowjetischen Interessen wurden die Anrainerstaaten der Sowjetunion in den deutschen Aufmarschrayon einbezogen. Das galt nicht nur für Finnland, Ungarn und Rumänien. Im Laufe des Frühjahrs 1941 kamen auch Bulgarien und Jugoslawien durch Anschluss an den Dreimächtepakt in den Machtbereich des Hakenkreuzes25. Dies alles blieb nicht ohne Einfluss auf die Kriegsplanung des sowjetischen Generalstabs. Seit Anfang Dezember ging die Rote Armee zu einer systematischen Beobachtung des deutsch-russischen Grenzgebiets über. Und bald registrierte das OKW beinahe täglich Aufklärungsmaßnahmen durch sowjetische Flugzeuge und Bodentruppen26. 22  Bernd Bonwetsch, Vom Hitler-Stalin Pakt zum „Unternehmen Barbarossa“. Die deutsch-russischen Beziehungen 1939–1941 in der Kontroverse, in: Osteuropa 41 (1991), 562–579. 23  Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940 / 41, München 1982, 207 f.; Heinrich Schwendemann, Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem deutschen Reich und der Sowjetunion von 1939–1941. Alternative zu Hitlers Ostpolitik? Berlin 1993, 275. 24  S. A. Gorlow, Warnungen vor dem „Unternehmen Barbarossa“. Aus den Akten der Sowjetvertretung in Berlin 1940–1941, in: Osteuropa 41 (1991), 545–561; Naumov (Hrsg.): 1941 (Anm. 11), Bd. 1, Nr. 128, 158, 219, 227, 289; vgl. auch Kalender der eingehenden Agentenberichte der Berliner Residentur des Volkskommissars für Staatssicherheit der UdSSR über die Vorbereitungen Deutschlands auf den Krieg gegen die UdSSR im Zeitraum vom 6. September 1940 bis zum 16. Juni 1941, in: Ueberschär / Besymenskij (Hrsg.), Angriff (Anm. 1), 199–212. 25  Hillgruber, Strategie (Anm. 23), 461 ff. 26  Warlimont an Ritter, Geheime Kommandosache, 13.1.1941; Jodl an Ritter, Geheime Kommandosache, 1.3.1941; Dass., 23.4.1941; Dass., 6.5.1941; Dass., 8.6.1941,



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Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse fanden Eingang in die Ende Januar unter der Leitung von Generalstabschef Schukow abgehaltene Tagung der Kommandeure des Kiewer Militärbezirks. Dort forderte Schukow, „dass man sich ernsthafter auf einen Krieg vorbereiten müsse“, und er bezeichnete „das faschistische Deutschland als unseren Hauptfeind“. In Moskau, so Schukow, herrsche die Überzeugung, dass man eine „Überlegenheit der Kräfte nicht nur im Abschnitt des Hauptstoßes, sondern im ganzen Angriffsstreifen“ gewährleisten müsse. Deshalb sei der Plan gebilligt worden, „eine zweifache allgemeine Überlegenheit der Kräfte und Mittel“ zu schaffen27. Dieser Zielvorgabe entsprach der Stalin am 11. März vorgelegte sog. „Präzisierte Plan für den strategischen Aufmarsch der Streitkräfte der UdSSR“. Er sah die Aufstellung der „Hauptkräfte der Roten Armee südlich vom Fluß Pripjat“ vor28. Tatsächlich enthielt er sogar ein Datum für das sowjetische Aktivwerden, das freilich in den deutschen Versionen dieses Planes fehlt. Der Chef der operativen Abteilung des Generalstabes, General Watutin, trug nämlich ein: „die Offensive am 12.6. zu beginnen.“29 Unmittelbar nach der Erstellung dieses Aufmarschplans registrierte die mit der Feindaufklärung befasste Abteilung Fremde Heere Ost30 erstmals auffällige russische Maßnahmen. Diese umfassten die „Durchführung einer Teilmobilmachung“ und „Truppenverlegungen aller Waffen […] in Richtung auf die deutsche Grenze“31. Und auch der britische Militärattaché in Moskau beobachtete die massenhafte Einberufung von Reservisten sowie massive Truppenverschiebungen aus dem Landesinnern in die westlichen Militärbezirke32. Im Windschatten des am 6. April anlaufenden Balkanfeldzuges der Wehrmacht sowie im Gefolge der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes mit Japan wurden dann in großem Stil weitere Einheiten aus dem Inneren Russlands sowie aus dem Fernen Osten herangeführt und von Nord nach Süd auf die fünf west­ Anlage: Zusammenstellung der Grenzverletzungen durch russische Flugzeuge und russische Soldaten, Bundesarchiv Militärarchiv, Freiburg (BAMF), RW 4 / 675, F. 24593 ff. 27  J. C. Bagramjan, So begann der Krieg. Berlin (Ost) 1972, 45–48. Generalmajor Bagramjan war zu diesem Zeitpunkt Chef der operativen Verwaltung im Kiewer Militärbezirk. 28  Vgl. den unvollständigen Text bei Ueberschär / Besymenskij (Hrsg.), Angriff (Anm. 1), 177–182. 29  Watutins Eintragung fehlt in der deutschen Ausgabe des „Präzisierten Planes“. 30  Dazu im Überblick Magnus Pahl, Fremde Heere Ost. Hitlers militärische Feindaufklärung, Berlin 2012. 31  Gen.StdH.O Qu IV, Abt. Fremde Heere Ost (II), Nr. 33 / 41 g. Kdos. Chefsache, Lagebericht Nr. 1, Geheim, 15.3.1941, Imperial War Museum, London, (IWM), AL 1367, F. 32 / 33. 32  Greer an War Office, Tel. o. Nr. u. Nr. 05872, Secret, 11.4.1941, Public Record Office, London (PRO), WO 193 / 642.

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lichen Militärbezirke (Leningrad, Baltikum, Besonderer Westlicher Militärbezirk, Kiew, Odessa) verteilt33. Anfang Mai 1941 ergab sich damit folgendes Bild. Nun befand sich nicht nur knapp die Hälfte (41 Prozent) aller Versorgungsdepots der Roten Armee in den westlichen Militärbezirken34. Es hatte sich dort auch die Zahl der Schützendivisionen im Vergleich zum Herbst 1939 fast verdoppelt (143 : 77). Hinzu kamen, so notierte der Chef des OKW, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, „fast sämtliche überhaupt festgestellten mot.- und Pz.-Einheiten“, weitere 20 Kavalleriedivisionen und mehrere Fallschirmbataillone, die unter „rücksichtslosem Abtransport“ aus dem asiatischem Raum und Kaukasien nach Westrußland verlegt worden seien35. Noch aber hatten die Truppen nicht unmittelbar zur Grenze aufgeschlossen. Noch verharrten sie, wie es den Prämissen des „Präzisierten Plans“ entsprach, in vorgeschobener Defensivposition, und noch waren die weit in den gegnerischen Raum hineinreichenden Frontvorsprünge bei Bialystok und Lemberg nur spärlich besetzt. Dies führt zur dritten These. These 3: In der zweiten Maihälfte rückten die sowjetischen Truppen bis an die Grenze vor Generalstabschef Schukow und Verteidigungskommissar Timoschenko legten Stalin am 15. Mai ihre sog. „Strategischen Erwägungen“ vor, mit denen sie einen Präventivschlag gegen die Wehrmacht in Anregung brachten36. Weder die „Verfechter der Vorwärtsverteidigung“ noch die „Apologeten“ messen diesem Dokument irgendeine Relevanz zu. Sie verweisen darauf, dass es Stalin lediglich zur Kenntnis nahm, jedoch die darin enthaltenen Vorschläge keineswegs billigte oder gar seine Strategie danach ausrichtete. Dies erscheint jedoch vollkommen abwegig. Erstens ist es, gemessen an der Totalität und Bru33  Gen.StdH.O Qu IV, Abt. Fremde Heere Ost (II), Nr. 35 / 41 g. Kdos. Chefsache, Lagebericht Nr. 2, Geheim, 20.3.1941, IWM, AL 1367, F. 34 / 35; Amt Ausland / Abwehr, Telegramm der deutschen Gesandtschaft Bukarest, 9.4.1941, BAMF, RW 4 / 315, F. 248. Die Entwicklung im Kiewer Militärbezirk bei Bagramjan, Krieg (Anm. 27), 58 f. 34  Meltjuchov, Kanun (Anm. 6), 56; Sally W. Stoecker, Tönerner Koloß ohne Kopf. Stalinismus und Rote Armee, in: Pietrow-Ennker (Hrsg.), Präventivkrieg? (Anm. 3), 165. 35  Keitel an Ribbentrop, Geheime Kommandosache, 11.5.1941, BAMF, RW 4 / 675, F. 24596–24597. 36  Vgl. Naumov (Hrsg.), 1941 god. Dokumenty (Anm. 11), Bd. 2, Nr. 473; der deutsche Text bei Ueberschär / Besymenskij (Hrsg.), Angriff (Anm. 1), 186–193. Der Plan wurde handschriftlich vom stellvertretenden Chef der operativen Verwaltung des Generalstabs, Alexander Wassilewski, verfasst und trägt Randnotizen und Korrekturen, die vermutlich von der Hand Schukows stammen.



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talität von Stalins Regiment, schlicht unvorstellbar, dass die Militärs einfach vorgeprescht waren und den Plan hinter dem Rücken Stalins erstellt hatten. Vielmehr hielten der Volkskommissar für Verteidigung und der Generalstabschef mit Stalin engsten Kontakt zur laufenden Aktualisierung der Aufmarschpläne. Zwischen April und Juni trafen sie mindestens achtzehn Mal mit dem Diktator zusammen. Und in den kritischen Tagen des Mai 1941 wurden sie sechs Mal von Stalin empfangen37. Zweitens räumte Schukow zwanzig Jahre nach Kriegsende ein, dass der Plan im Zusammenhang mit der Rede Stalins vom 5. Mai entwickelt wurde, in der dieser „über die Möglichkeit offensiven Handelns gesprochen habe“.38 Und am wichtigsten: die entscheidenden Passagen und Anregungen des Planes vom 15. Mai erwiesen sich als deckungsgleich mit den operativen Bewegungen der Roten Armee in den verbleibenden fünfeinhalb Wochen bis zum Beginn von „Barbarossa“. Schon eine Woche nachdem der Plan Stalin vorgelegen hatte, waren die Verbände der Roten Armee, so ein Memorandum der Abteilung Fremde Heere Ost, „entlang der Westgrenze von Odessa bis Murmansk“ disloziert worden. In den folgenden Wochen wurden auch die in die deutschen Linien hineinreichenden Frontbögen, die im Verteidigungsfall das hohe Risiko einer Umfassung bargen, sich aber bestens als Sprungbrett für eine Offensive eigneten, mit Truppen aufgefüllt. Denn, so stellte das Memorandum fest, die „Schwerpunkte des Aufmarsches“, lägen „um Czernovitz-Lemberg, um Białystok und in den baltischen Ländern“, während „stärkere operative (bewegliche) Reserven im Raum Schepetowka  – Prosskurow  – Shitomir, südwestlich Minsk und um Pskow“ gesichtet wurden39. Begleitet wurde diese Truppenverschiebung von Richtlinien der sowjetischen Hauptverwaltung für politische Propaganda. Sie sollten der Einstimmung der Soldaten auf den Krieg gegen Deutschland dienen. Darin hieß es: „Die jetzige internationale Lage, die voller unvorhersehbarer Möglichkeiten ist, fordert eine revolutionäre Entschlußkraft und eine ständige Bereitschaft, zu einem zerschmetternden Vormarsch gegen den Feind übergehen zu können. […] Alle Formen der Propaganda, der Agitation und Erziehung sind auf ein Ziel zu richten − auf die politische, moralische und kämpferische Vorbereitung der Mannschaften und Offiziere, auf die richtige Führung eines offensiven und alles zerschmetternden Krieges.“40 37  Am 10., 12., 14., 19., 23. und 24. Mai, vgl. Gorkow, 22. Juni 1941. In: PietrowEnnker (Hrsg.), Präventivkrieg? (Anm. 3), 198. 38  Meltjuchov, Kanun (Anm. 6), 18. 39  Memorandum Fremde Heere Ost: Feindbeurteilung (Stand: 20.5.1941), IWM, AL 1367, F. 17 ff.; vgl. auch Vortragsnotiz über Feindlage am 19.5.1941, ebd., F. 66 /  67. 40  „Über die Aufgaben der politischen Propaganda in der Roten Armee in der nächsten Zeit“, Memorandum der Hauptverwaltung für Politische Propaganda [GUPP], am

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These 4: Stalin verfolgte eine doppelbödige Strategie, die Defensive und Offensive zur Deckung brachte Dies alles deutet darauf hin, dass der entscheidende Faktor, der die Situationsdeutung Stalins maßgeblich konditionierte, von allen drei genannten Interpretationsrichtungen bislang nicht in den Gang der Analyse einbezogen wurde: der Flug von Rudolf Heß nach Schottland vom 10. Mai 1941 und das Dissimulationsspiel, das die britische Regierung seither um die aufsehenerregende Aktion von Hitlers Stellvertreter entfaltete, dessen vorrangiges Ziel der sowjetische Diktator war. England stand um diese Zeit sowohl kriegswirtschaftlich wie militärisch mit dem Rücken zur Wand. Ohne Festlandsdegen war man nicht in der Lage, den Krieg gegen Deutschland zu gewinnen. Nach Einschätzung von Außenminister Eden war daher die Affäre Heß „the master key of the moment“, um aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen41. ­Deshalb verhinderten die Strategen im Foreign Office sowohl die von Churchill in Aussicht genommene Parlamentserklärung in der Causa Heß, das „stupid statement“, wie Staatssekretär Cadogan bissig anmerkte42. Und deshalb bremsten sie die Propagandaexperten um Informationsminister Duff Cooper und die S.O.1, die für schwarze Propaganda zuständige Unterabteilung des Special Operations Executive, aus, die den Führerstellvertreter zum Objekt einer großangelegten psychologischen Kriegführung machen wollten43. Somit hatten Edens Leute in den folgenden Wochen freie Hand, um ein raffiniertes Kulissenspiel zu inszenieren. In dessen Zentrum stand ein mögliches Eingehen Englands auf die durch Heß vorgelegten Friedensvorschläge und damit die Drohkulisse eines Ausstiegs Englands aus dem Krieg. Stalin sollte damit, so das Kalkül, zu einem Seitenwechsel veranlasst oder zu einem Präventivschlag gegen die im Aufmarsch begriffene Wehrmacht verleitet werden. Die Bausteine für diese taktisch motivierte Szenerie waren in machiavellistischer Manier zusammengesetzt: ständige Warnungen an die Adresse Moskaus vor einem deutschen Angriff; die Anweisung an die britischen Zeitungen, in der Sache Heß so viel Spekulationen wie möglich zu verbrei20.6.1941 von Malenkow an Stalin übergeben, zit. nach Dimitri Wolkogonow, Stalin. Triumph und Tragödie, Ein politisches Porträt, Düsseldorf 1990, 557. 41  Minute Edens to Prime Minister, 13.5.1941, PRO, PREM 3 / 476 / 10. 42  Tagebuch Cadogan, 19.5.1941, David N. Dilks (Hrsg.), The Diaries of Sir Ale­ xander Cadogan 1938–1945, London 1971, 380. 43  Cooper an Churchill, 15.5.1941, PRO, PREM 3 / 219 / 7; Tagebuch Nicolson, 14. / 16.5.1941, Harold Nicolson, Diaries and Letters, Bd. 2: The War Years, 1939– 1945, New York 1967, 166; Tagebuch Cadogan, 17.5.1941, Dilks (Hrsg.), Cadogan Diaries (Anm. 42), 379; Minutes by Roberts, Makins und Cadogan, 9.7.1941, PRO, FO 1093 / 10, F. 2 sowie Minute by Eden, 10.7.1941, ebd.; vgl. dazu ausführlich Schmidt, Heß (Anm. 15), 212 ff.



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ten; die Abberufung des britischen Botschafters aus Moskau Anfang Juni; im Umfeld des Kreta-Debakels und heftiger Angriffe auf die Regierung Churchill im Unterhaus sowie in der Öffentlichkeit genau abgezirkelte Indiskretionen aus dem Munde von Lord Beaverbrook, dass Churchills Stellung „nicht mehr fest“ sei und „der größte Teil“ der britischen Konservativen dem Abschluss eines „sofortigen Kompromißfriedens“ zuneige, der „England mehr Vorteile bringe als Deutschland;“44 sowie Mitte Juni die Aufnahme von Scheinverhandlungen mit Heß durch den Vertreter der alten Appeasement­ linie, den vormaligen Außenminister Lord Simon. Wie wirkte sich dies auf Stalins Lagebeurteilung aus? Allen warnenden Stimmen war Stalin immer mit der festen Überzeugung begegnet, dass Deutschland, „solange es seine Rechnung mit England nicht begleiche, nicht an zwei Fronten kämpfen“ werde45. Das Unternehmen von Heß war daher ein Alarmsignal ersten Ranges. Alle im Kreml eintreffenden Agentenberichte aus Tokio, London und Berlin stimmten darin überein, „daß Heß einen Geheimauftrag von Hitler“ ausführe und „mit den Engländern verhandeln [solle], um den Krieg im Westen abzukürzen, damit Hitler freie Hand hat, für den Vorstoß nach Osten“.46 Das in Moskau gefürchtete Szenario eines Separatfriedens zwischen Deutschland und England nahm nun auf dem Hintergrund der Signale aus London bedrohlich Gestalt an. Der sowjetische Botschafter in London, Ivan Maiski, sprach von einen „Kampf hinter den Kulissen“, der in der Sache Heß in Whitehall ausgefochten werde. Während Churchill, Eden, Bevin und alle übrigen Labourminister entschieden gegen die Aufnahme von Friedensverhandlungen mit Heß seien, träten, so Maiski, „Männer vom Schlage Simons“, unterstützt von anderen Konservativen, dafür ein, „Kontakt mit Hitler aufzunehmen oder zumindest die eventuellen Friedensbedingungen zu sondieren“.47 Und amerikanische Geheimdienstquellen sprachen, unter Berufung auf Schukow und Informanten aus dem Umfeld Stalins, von dem in Moskau grassierenden Schreckbild eines Komplotts zwischen London und Berlin in der Sache Heß48. 44  Kriegstagebuch der Seekriegsleitung, Bd. 21, (28.5.1941), 41417, hrsg. von Werner Rahn u. Gerhard Schreiber, Herford / Bonn 1990. 45  Zit. bei Gabriel Gorodetsky, Stalin und Hitlers Angriff auf die Sowjetunion. In: Wegner (Hrsg.), Zwei Wege (Anm. 14), 347–366, hier 350 f. In diesem Sinne äußerte sich Stalin noch am 15. Juni gegenüber Schukow und Timoschenko, vgl. Gorlow, Warnungen (Anm. 24), 561. 46  Strobe Talbott (Hrsg.), Chruschtschow erinnert sich, Hamburg 1971,145; ähnlich bei Valentin Bereschkow, Ich war Stalins Dolmetscher, München 1991, 299 ff. 47  Ivan M. Maiski, Memoiren eines sowjetischen Botschafters. Berlin (Ost) 1984, 639. 48  Memorandum Hoovers, 22.5.1941, National Archives, Washington, RG 59, 862.00 / 4041; vgl. auch Bericht des amerikanischen Militärattachés in Moskau, 20.5.1941, ebd., 740.0011 / 11348.

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Abb. 6: Anthony Eden und Ivan Maiski

Ein Sturz Churchills und ein deutsch-britisches Zusammenspiel gegen die Sowjetunion konnte somit ab Mitte Mai nicht mehr ausgeschlossen werden. Stalin ließ deshalb noch am 17. Juni – 5 Tage vor dem Beginn von „Barbarossa“ – die Botschaft in Berlin anweisen, die „ganze Aufmerksamkeit auf die Aufgabe zu richten, ob zwischen Deutschland und England tatsächlich Friedensverhandlungen geführt würden“49. Einen Tag später bat Molotow um

49  Aufzeichnung des Vortragenden Legationsrates Likus (Persönlicher Stab RAM), 17.6.1941, ADAP, D, Bd. 12 / 2, Nr. 639, 869.



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einen abermaligen Besuch in Berlin, wurde aber, wie Goebbels süffisant in seinem Tagebuch festhielt, „abgeblitzt“50. In dieser undurchsichtigen Situation verfolgte der sowjetische Diktator eine Strategie, die ihn für alle Eventualfälle wappnen sollte. Es war die Diagonale zwischen den scheinbar so gegensätzlichen Optionen von Defensive und Offensive. Sie sollte ein flexibles Reagieren je nach Sachstand ermöglichen. Einerseits setzte Stalin ganz auf Zeitgewinn und Verhandlungen mit Berlin, um nicht einer britischen Provokation aufzusitzen; glaubte er sich sicher vor einem Überraschungsschlag Hitlers, solange Churchill nicht gestürzt wurde. Andererseits ließ er aber gleichzeitig die Militärs die Weichen für einen möglichen Präventivschlag gegen die aufmarschierende Wehrmacht stellen und die Rote Armee in die grenznahen Bezirke einrücken. Dort konnte sie im Fall der Fälle die deutschen Truppen umfassen und in einer blitzartigen Offensivaktion niederwerfen. Nach Lage der Dinge war dies der Grund, weshalb Stalin nicht die Generalmobilmachung der Armee verfügte, sondern weiterhin auf klandestinen Vorbereitungen bestand; weshalb er seinen Militärs, die zunehmend die Nerven verloren, kein grünes Licht für das Prävenire gab; und weshalb er bis in die frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 einen Überrumpelungscoup der Wehrmacht ausschloss und meinte, das Gesetz des Handelns selbst diktieren zu können. Stalin verfolgte mithin eine doppelgleisige Taktik, die die Alternativen von Abwarten und Angriff verknüpfte. Diese Interpretation der Dinge hat einen ganz unverdächtigen Kronzeugen auf ihrer Seite: Adolf Hitler. Knapp eine Woche vor Beginn des Feldzuges hielt er in einer geheimen Unterredung mit Goebbels folgendes fest: „Die Russen sind genau an der Grenze massiert, das beste, was uns überhaupt passieren kann. [Wären] sie weitverstreut ins Land gezogen, dann stellten sie eine größere Gefahr dar. […] Moskau will sich aus dem Kriege heraushalten, bis Europa ermüdet und ausgeblutet ist. Dann möchte Stalin handeln, Europa bolschewisieren und sein Regiment antreten. Durch diese Rechnung wird ihm ein Strich gemacht.“51 Es gab also keinerlei aktuelle Bedrohungsgefühle auf deutscher Seite, die einen erkennbaren Einfluss auf „Barbarossa“ ausübten. Der deutsche Angriff war kein Präventivkrieg, sondern ein Eroberungskrieg gigantischen, wahnwitzigen und verbrecherischen Ausmaßes. Nachdem er begonnen hatte, vergrub sich Stalin tagelang auf seiner Datscha in Kunzewo. Ja, er befürchtete gar seine Absetzung und Verhaftung, als

50  Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente. Teil  I: Aufzeichnungen 1924–1941, München u. a. 1987, Bd. 4 (21.6.1941), 706. 51  Ebd. (16.6.1941), 694.

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die Spitzen des Politbüros ihn dort am 29. Juni aufsuchten52. „Er hatte nicht geahnt oder vorausgesehen“, so merkte seine Tochter Swetlana an, „daß der Pakt von 1939, den er als Frucht seiner eigenen großen Hinterlist betrachtete, von einem Gegner gebrochen würde, der noch hinterlistiger war, als er selbst.“53 Churchill sagte es kürzer und treffender, als er festhielt: Stalin und seine Leute seien die „am vollständigsten überlisteten Trottel des Zweiten Weltkrieges“54.

52  Robert

Conquest, Stalin. Der totale Wille zur Macht, München 1991, 304. bei Alan Bullock, Hitler und Stalin. Parallele Leben, Berlin 1991, 951. 54  Winston S. Churchill, The Second World War, Bd. 3: The Grand Alliance, Boston 1985, 316. 53  Zit.

Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit. Die Auto Union AG Chemnitz im Zweiten Weltkrieg Von Rudolf Boch, Chemnitz I. Bis in die frühen 1980er Jahre waren das wissenschaftliche wie öffentliche Interesse in der Bundesrepublik Deutschland am Thema Zwangsarbeit im „Dritten Reich“ und auch der Kenntnisstand darüber äußerst gering. Nur in der DDR waren einige Darstellungen von wissenschaftlichem Wert entstanden, auf welche die historische Forschung später, zumindest partiell, aufbauen konnte. Heute kann die Geschichte des deutschen Zwangsarbeitereinsatzes während des Zweiten Weltkriegs dagegen als gut erforscht gelten. Es liegen mit den Werken von Ulrich Herbert und Mark Spoerer bedeutende Gesamtdarstellungen vor, die durch zahlreiche Lokal- und Regionalstudien sowohl vorbereitet als auch ergänzt wurden1. Besondere öffentliche Aufmerksamkeit wurde jedoch den unternehmensgeschichtlichen Studien zur Zwangsarbeit zu Teil, die in begrenzter Zahl bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre entstanden, aber durch die Debatte um die Entschädigung von Zwangsarbeitern und die Einrichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) seit den 1990er Jahren einen enormen Zuwachs erfuhren2. Bei diesen unternehmensgeschichtlichen Forschungen hatte die 1  Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939– 1945, Stuttgart u. a. 2001; immer noch unverzichtbar: Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländereinsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 1985, Neuaufl. Bonn 1999. Zu den zahlreichen lokal- und regionalgeschichtlichen Studien vgl. die ausführlichen Forschungsberichte bei Florian Lemmes, „Ausländereinsatz“ und Zwangsarbeit im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Neuere Forschungen und Aufsätze, in: Archiv für Sozialgeschichte, 50 / 2010, 395–444; Laura J. Hilton / John J. Delanay, Forced Foreign Labourers, POW’s and Jewish Slave Workers in the Third Reich. Regional Studies and New Directions, in: German History 23 / 2005, 83–95; Ralph Klein, Neue Literatur zur Zwangsarbeit während der NS-Zeit. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 40 / 2004, 56–90. 2  Beispiele zur Zwangsarbeiterforschung als wichtigem Teilaspekt der neueren Unternehmensgeschichtsschreibung: Oliver Rathkolb (Hrsg.), NS-Zwangsarbeit. Der Standort Linz der Reichswerke Hermann Göring AG Berlin, 1938–1945, 2 Bde., Wien

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deutsche Automobilindustrie eine gewisse Vorreiterrolle. Hans Mommsen und Manfred Grieger, in ihrer Studie über das Volkswagen Werk und Neil Gregor über Daimler-Benz in der NS-Zeit, haben eindrucksvoll gezeigt, dass den Zwangsarbeitern und – als letzte Arbeitsressource – den KZ-Häftlingen im operativen wie strategischen Kalkül der Unternehmen eine zentrale Funktion zukam3. Sie gewährleisteten die Aufrechterhaltung und Steigerung der Rüstungsproduktion sowie die Sicherung von zukünftigen Markchancen oder gar ausgelagerten Maschinenparks über das Kriegsende hinweg. Der gesellschaftliche Druck in Folge der Zwangsarbeiterentschädigungs-Debatte der 1990er Jahre hat nicht nur die Archive namhafter deutscher Firmen geöffnet und damit dazu beigetragen, Ausmaß sowie Strukturen und Prozesse dieses in der Geschichte beispiellosen Vorgangs zu rekonstruieren. Im Verlauf der zahlreichen Forschungsarbeiten schälte sich viel mehr heraus, dass millionenfache Zwangsarbeit nicht nur ein Bestandteil, sondern das „Signum“ dieser Epoche deutscher Wirtschaftsgeschichte war. Ohne das Millionenheer zur Zwangsarbeit gepresster Frauen und Männer hätte die Mittelmacht Deutsches Reich niemals einen so langen Krieg gegen weit überlegene Gegner mit Zugriff auf die Masse der Ressourcen der Welt führen können. Um die Dimensionen zu verdeutlichen: Es geht um 8,4 Millionen ausländische Zivilarbeiter, ca. 4,6 Millionen Kriegsgefangene sowie ca. 1,7 Millionen KZ2001; Bernhard Lorentz, Industrieelite und Wirtschaftspolitik 1928–1950. Heinrich Dräger und das Drägerwerk, Paderborn 2001, insbes. 245 ff. u. 317 ff.; Werner Abelshauser, Rüstungsschmiede der Nation? Der Krupp-Konzern im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit 1933 bis 1951, in: Lothar Gall (Hrsg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Berlin 2002, 267–472, insbes. 400 ff.; Raymond G. Stokes, Von der I.G. Farbenindustrie bis zur Neugründung der BASF (1925–1958). In: Werner Abelshauser, (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, 221–358, insbes. 311 ff.; Bernhard Lorentz / Paul Erker, Chemie und Politik. Die Geschichte der Chemischen Werke Hüls (CWH) 1938–1979, München 2003, insbes. 312 ff.; Peter Hayes, Die Degussa im Dritten Reich. Von der Zusammenarbeit zur Militärschaft, München 2004, insbes. 249 ff.; Hans-Liudger Dienel, Die Linde AG. Geschichte eines Technologie-Konzerns, 1879–2004, München 2004, insbes. 178  ff.; Manfred Overesch, Bosch in Hildesheim 1937–1945, Göttingen 2008, insbes. 213 ff.; Hans-Christoph Seidel, Der Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg. Zechen-Bergarbeiter-Zwangsarbeiter, Essen 2010, insbes. 165 ff.; Guter Überblick: Oliver Rathkolb, Zwangsarbeit in der Industrie. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 9 / 2, hrsg. von Jörg Echternkamp, München 2005, 667–728; Unlängst auch: Andreas Heusler / Mark Spoerer / Helmuth Trischler (Hrsg.), Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“. München 2010. Die Hrsg. vermerken in ihrer Einführung eine immer noch mangelnde Erforschung der Zwangsarbeit in der Elektroindustrie. „AEG existiert nicht mehr und Siemens verfolgt eine sehr eigenwillige Geschichtspolitik“. Ebd., 2. 3  Hans Mommsen / Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich 1933–1948. Düsseldorf 1996; Neil Gregor, Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich, Berlin 1997.



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Häftlinge und sogenannte „Arbeitsjuden“, die allein auf dem Gebiet des „Großdeutschen Reiches“ das sogenannte „Menschenmaterial“ des „Arbeitseinsatzes“ bildeten4. Die 2014 veröffentlichte Studie von Martin Kukowski und mir zu Kriegswirtschaft und „Arbeitseinsatz“ bei der Auto Union AG Chemnitz reiht sich in diese Forschungen zu den großen, für die motorisierte Kriegsführung enorm wichtigen, Automobilfirmen im Deutschen Reich ein5. Diese Studie bildet in gewisser Weise auch den Abschluss so dass den Autoren ein vergleichender Blick auf die Branchenkonkurrenz Daimler-Benz, BMW, Volkswagen, Opel und mit Abstrichen den Adler-Werken in Frankfurt und Borgward in Bremen möglich war6. Die Grundlage für unsere Untersuchung bildete das Auto Union-Unternehmensarchiv, das infolge der Sozialisierung des Unternehmens nach 1945 heute im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz aufbewahrt wird. Auf Initiative nach Spoerer, Zwangsarbeit (Anm. 1), 223. Kukowski / Rudolf Boch, Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz bei der Auto Union AG Chemnitz im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 2014. So weit nicht anders vermerkt, beruht der vorliegende Beitrag auf dieser Studie und fasst deren wichtigste Ergebnisse zusammen. 6  Zu Opel und Ford vgl. Anita Kugler, Flugzeuge für den Führer. Deutsche Gefolgschaftsmitglieder und ausländische Zwangsarbeiter im Opelwerk in Rüsselsheim 1940 bis 1945. In: Bernd Heyl / Andrea Neugebauer (Hrsg.), „… ohne Rücksicht auf die Verhältnisse.“ Opel zwischen Weltwirtschaftskrise und Wiederaufbau, Frankfurt / M. 1997, 69–92; Dies., Das Opel-Management während des Zweiten Weltkrieges. Die Behandlung „feindlichen Vermögens“ und die „Selbstverantwortung“ der Rüstungsindustrie, in: Ebd., 35–68; Gerhard Kümmel, Transnationale Wirtschaftskooperation und der Nationalstaat. Deutsch-amerikanische Unternehmensbeziehungen in den dreißiger Jahren, Stuttgart 1995 (zu Opel / GM und Ford 103–140); Henry Ashby Turner, General Motors und die Nazis. Das Ringen um Opel, Berlin 2006; Reinhold Billstein / Karola Fings / Anita Kugler / Nicholas Levis, Working for the enemy. Ford, General Motors and Forced Labor in Germany during the Second World War, New York u. a. 2000; Günter Neliba, Die Opel-Werke im Konzern von GeneralMotors (1929–1948) in Rüsselsheim und Brandenburg. Produktion für Aufrüstung und Krieg ab 1935 unter nationalsozialistischer Herrschaft, Frankfurt / M. 2000; zu BMW vgl. Constanze Werner, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW. München 2006; zu Adler vgl. Ernst Kaiser / Michael Knorn, „Wir lebten und schliefen zwischen den Toten.“ Rüstungsproduktion, Zwangsarbeit und Vernichtung in den Frankfurter Adlerwerken, 3. Aufl. Frankfurt / M. u. a. 1998; Dies., Die Adler-Werke und ihr KZ-Außenlager – Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit in einem Frankfurter Traditionsbetrieb, in: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 3 / 1992, 11–42; zu Borgward und Hanomag vgl. Dieter Pfliegensdörfer, Wehrwirtschaftsführer Carl F. W. Borgward lässt rüsten. An allen Fronten, in: Ulrich Kubisch, Borgward. Ein Blick zurück auf Wirtschaftswunder, Werksalltag und einen Automythos, Berlin 1984, 26–35. Mit einer Reihe von Informationen zur Kriegsproduktion der Hanomag-Werke in Hannover, Horst-Dieter Görg (Hrsg.), Pulsschlag eines Werkes. 160 Jahre Hanomag, Soltau 1998. 4  Zahlenangaben 5  Martin

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der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der TU Chemnitz wurde vor geraumer Zeit ein gemeinsames Erschließungsprojekt mit dem Referat Archivwesen im Sächsischen Staatsministerium des Inneren durchgeführt, das die computergestützte Erstellung von Findbüchern zu diesen Beständen ermöglichte und die Forschungsarbeit wesentlich erleichterte. Finanziell gefördert wurde dieses Vorhaben durch die AUDI AG / Ingolstadt7. II. Die „Auto Union Aktiengesellschaft Chemnitz“ selber war eigentlich ein von der landeseigenen Sächsischen Staatsbank auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1931 / 32 initiiertes Rettungsprojekt für die existenzbedrohten „Reste“ der vormals sehr zahlreichen sächsischen Automobilhersteller. Mit Millionenkrediten des von der Sächsischen Staatsbank angeführten und vom Freistaat Sachsen mit Landesbürgschaften bedachten Bankenkonsortiums wurden die noch verbliebenen zukunftsträchtigen Teile des sächsischen Automobilbaus entschuldet und zu einem neuen Großunternehmen der deutschen Autobranche vereinigt. Bald nach der Gründung der Auto Union aus den Firmen DKW, Audi, Horch und der Automobilabteilung der WandererWerke zog bekanntlich über Deutschland das „Dritte Reich“ herauf. Das an die Macht gelangte NS-Regime begünstigte die Automobilwirtschaft, lockerte Steuerrestriktionen, subventionierte den werbeträchtigen Motorsport und gab als Leitbild für die Zukunft Deutschlands eine „Volksmotorisierung“ nach dem Vorbild der USA aus. Im Sog des einsetzenden Konjunkturaufschwungs und dank des ebenso breit gefächerten wie marktgerechten Typenprogramms konsolidierte sich die Auto Union rasch. Der sächsische Auto-Konzern etablierte sich als nach Opel zweitgrößter deutscher Automobilhersteller und wurde zur mit Abstand größten Firma in Sachsen. Zum Aufschwung der Auto Union trug unzweifelhaft auch die Aufrüstung Deutschlands nach der „NS-Machtergreifung“ bei. Seit 1934 baute die Auto Union in ihren Werken Siegmar und Horch am Standort Zwickau in eigens eingerichteten Abteilungen Wehrmachtskraftfahrzeuge. Ihr Zschopauer DKW-­ Werk steuerte zum Rüstungsgeschäft noch Motorräder und Einbaumotoren 7  Rudolf Boch, Der Bestand Auto Union AG Chemnitz und seine Bedeutung für die historische Forschung. In: Für Bürger, Staat und Forschung. 10 Jahre Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz, hrsg. vom Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden, Chemnitz 1998, 48–56; Martin Kukowski, Auto Union AG – Grundzüge ihrer Unternehmensgeschichte sowie wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschungspotentiale ihrer Überlieferung im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz, in: Rudolf Boch (Hrsg.), Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie. Stuttgart 2001, 109–132; Ders. (Bearb.), Findbuch zum Bestand der Auto Union AG im Staatsarchiv Chemnitz, 2 Bde., Halle / S. 2000.



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Abb. 1: Aufnahme der USAF vom Angriff Chemnitz-Siegmar am 11. September 1944. Quelle: Schlossbergmuseum Chemnitz

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bei. Der Rüstungsanteil am Jahresumsatz belief sich bis zum Zweiten Weltkrieg dennoch zumeist auf deutlich unter zwanzig Prozent. Die Aufrüstung war ein erkleckliches „Zubrot“ zum Zivilfahrzeuggeschäft – aber eben auch nicht mehr. Da die Auto Union in wichtigen Bereichen der Aufrüstung keine oder nur geringe Aktivität entwickelte, nahmen sich ihre Rüstungsumsätze ‒ im Konkurrenzvergleich etwa zu Daimler-Benz oder BMW ‒ doch eher bescheiden aus. Bei der „Luftrüstung“ zeigte die Auto Union jedoch größeres Interesse und baute mit Anschubfinanzierung durch das Reichsluftfahrtministerium in Taucha bei Leipzig eine Flugmotorenfabrik (MMW) für die Belieferung der nahen Junkers-Werke auf8. Die anstehende Privatisierung durch Ablösung des millionenschweren Staatsanteils an den Mitteldeutschen Motorenwerken (MMW) zögerte die Auto Union aber bis weit über den Beginn des Zweiten Weltkrieges hinaus. Bis dahin zog sie als Zehn-Prozent-Minderheitspartner der „Bank der deutschen Luftfahrt“ aus dem Taucha-Projekt wenig Nutzen, hatte im Gegenteil die personellen und organisatorischen Lasten des Werkaufbaus zu tragen. Die Gelegenheit zum Einstieg in den Nutzfahrzeugbau schließlich, eine weitere Säule der NS-Kriegsrüstung, ließ die Auto Union 1936 / 37 verstreichen. Der Kriegsausbruch im Spätsommer 1939 kam der Auto Union ungelegen. Sie befand sich inmitten eines Umstrukturierungsprozesses, mit dem das Unternehmen auf den anstehenden Markteintritt des vom NS-Regime massiv bevorteilten „KdF“- bzw. „Volkswagen“ zu reagieren trachtete. III. In den beiden ersten Kriegsjahren verzeichnete die Auto Union AG empfindliche Umsatzeinbußen und verlor überdies durch Rekrutierungsaktionen der Wehrmacht und Dienstverpflichtungen zu wichtigeren Rüstungsbetrieben rund ein Viertel ihrer Belegschaft, insonders kaum ersetzbare Fachkräfte. In der Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende, zeigte sich die Auto Union anfänglich nicht um jeden Preis um Kriegsaufträge bemüht. Sie versuchte eine umfassendere Umstellung ihrer Werke auf die Kriegsproduktion im Gegenteil erst einmal zu vermeiden. Man betrieb obligatorische Projekte wie die Einrichtung frontnaher Kundendienstwerkstätten für die Wehrmacht, investierte aber doch vor allem in potenzielle „Engpassteile-Lieferanten“ für das Nachkriegsprogramm, freilich auch in Verkaufs- und Kundendienstniederlassungen wie die Filialen Straßburg und Krakau in den eroberten Ost- und Westgebieten. Ab dem Spätfrühjahr 1940 wandte sich die Auto Union „umständehalber“ mehr der Kriegsrüstung zu und „mobilisierte“ unter weitge8  Vgl. Peter Kohl / Peter Bessel, Auto Union und Junkers. Die Geschichte der Mitteldeutschen Motorenwerke GmbH Taucha 1935–1948, Stuttgart 2003.



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hender Einstellung des Zivilfahrzeugbaus die eigenen Werke. Ende 1940 übernahm sie in einem finanziellen Kraftakt den Flugmotorenbauer MMW, wodurch sich ihre Rüstungsumsätze nahezu verdoppelten. Einschließlich ihrer beiden Tochterfirmen DKK (Deutsche Kühl- und Kraftmaschinen GmbH /  Scharfenstein) und MMW erzielte sie 1941 dann schon 70 Prozent ihres Umsatzes im Rüstungsgeschäft. Die nachgeordnete Priorität der Kriegsrüstung bei der Auto Union in der Anfangsphase des Zweiten Weltkrieges ist auch insofern bemerkenswert, als es sich bei ihr nicht um ein herkömmliches Unternehmen der Privatwirtschaft handelte, sondern de facto um ein privatwirtschaftlich geführtes Staatsunternehmen. Die Sächsische Staatsbank hielt immerhin knapp achtzig, später sogar über neunzig Prozent der Gesellschaftsanteile. In den ersten Jahren nach der „NS-Machtergreifung“ und der politischen „Säuberung“ der Sächsischen Staatsbank regierte die Sächsische Staatsregierung in Person des „Reichsstatthalters“ und Gauleiters in Sachsen, Martin Mutschmann (1879– 1947), und seines Staatsministers für Wirtschaft und Arbeit, Georg Lenk, denn auch recht unverhohlen in die Belange des Unternehmens hinein. Der Einfluss des Staates bildete sich nach Bereinigung von Leitungskonflikten in der Auto Union aber deutlich zurück9. Von Seiten der Mutschmann-Regierung wurde der Auto Union jedenfalls kein stärkeres Rüstungsengagement aufgenötigt. Solange sie glaubhaft ihre grundsätzliche Verbundenheit mit der Partei und den Interessen der deutschen Kriegswirtschaft bekundete, hatte ihre Führung in Strategie- und Sachfragen freie Hand. Man gestattete der Auto Union über den Kriegsausbruch hinaus, den Fokus auf den Zivilfahrzeugbau und die Absicherung ihrer Marktstellung in einem von Deutschland dominierten Nachkriegseuropa zu legen. Wie an den Beispielen der aus der Rüstungsbürokratie verordneten Nachbauten des Steyr-LKW statt der Eigenentwicklung „Auto Union 1500“ und des Maybach-Panzer-Motors „HL-42“ deutlich wird, verlagerten sich allerdings beim Fertigungsprogramm seit 1940 die Entscheidungsspielräume des Managements zunehmend zu den vorgesetzten Kriegswirtschaftsinstanzen. Die Spielräume des Managements reduzierten sich im Prinzip auf die Frage, ob man der Luftwaffe, dem Heer oder der Marine zuarbeiten wollte, ansonsten nur auf die Ausgestaltung der Rüstungsprogramme. Es gelang dem Auto Union-Management dabei immerhin, mögliche Verpflichtungen und Bindungen gegenüber anderen Firmen aus Nachbauprogrammen für die Nachkriegszeit abzuwehren. 9  Zu den Leitungskonflikten: Eva Pietsch, Kommunikationsproblem oder Kommunikationsstrategie? Zum Führungsstreit in der Auto Union AG Chemnitz 1931–1938, in: Rudolf Boch u. a. (Hrsg.), Unternehmensgeschichte heute: Theorieangebote, Quellen, Forschungstrends, Leipzig 2005, 187–205; Immo Sievers, Jorgen Skafte Rasmussen. Leben und Werk des DKW-Gründers, Bielefeld 2006.

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Die anhaltenden Lieferrückstände – bei von der Rüstungsbürokratie höher geschraubten Sollzahlen − waren stets sachlicher Natur und konnten mit übergeordnet zu verantwortenden Faktoren – Materialengpässen, Mangel an Maschinen und Arbeitskräften – begründet werden. Sie führten deshalb in keinem Fall zu persönlichen Konsequenzen bei Meistern, Werksleitern oder Konzernlenkern. Trotz heftiger Konflikte konnten ganz erhebliche Produk­ tionssteigerungen erzielt werden – mit fachlich minderqualifiziertem Personal, durch verschärfte Arbeitsbedingungen und Rationalisierungen. Freiräume eröffneten sich bei diesen Auftragsfertigungen allerdings bei den Bedarfskalkulationen. Man zielte möglichst auf eine maschinelle Mehrausstattung ab – schließlich waren Maschinen angesichts der erwartbaren Zerrüttung der Reichsmark eine Sachwährung von bleibendem Wert. In Verlauf des Krieges wurden die Handlungsspielräume aller Unternehmen im Deutschen Reich deutlich geringer, da staatliche Interessen bei betrieblichen Entscheidungen stärker als im Frieden zu gewichten waren, aber Zwangsmaßnahmen spielten zumindest in der rüstungsrelevanten Industrie eine untergeordnete Rolle, da der Staat weiterhin über genügend ökonomische Anreize gebot und ohnehin Zwang kontraproduktiv für die vom Regime verfolgten Ziele sein konnte. Wichtige Entscheidungen wurden daher nicht befohlen, sondern ausgehandelt, und stets beachtete der Staat betriebswirtschaftliche Argumente und akzeptierte das kapitalistische Gewinnmotiv10. Damit verblieben den Unternehmen auch im Krieg nicht unerhebliche Handlungsspielräume, die sie nutzen konnten. Die v. a. in der älteren historischen Forschung der Bundesrepublik vertretene These von der nationalsozialistischen „Zwangswirtschaft“, die Unternehmer letztlich zu „entrechteten“, nicht verantwortlich zu machenden „Befehlsempfängern“ degradierte, gilt heute deshalb weithin als widerlegt11.

10  Vgl. Heusler / Spoerer / Trischler; Eine Einführung (Anm. 2), 2 f.; Jonas Scherner, Das Verhältnis zwischen NS-Regime und Industrieunternehmen – Zwang oder Kooperation?, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51 / 2006, 166–190; Christoph Buchheim / Jonas Scherner, The Role of Private Property in the Nazi Economy. The Case of Industry, in: The Journal of Economic History 66 / 2006, 390–416. 11  Vgl. Lemmes, „Ausländereinsatz“ (Anm. 1), 407. Siehe auch die in einzelnen Fragen durchaus differierenden Bilanzierungen des Forschungsstandes zum Verhältnis von Staat und Unternehmen: Christoph Buchheim, Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933–1945. Versuch einer Synthese, in: Historische Zeitschrift 282 / 2006, 351–390; Werner Plumpe, Unternehmen im Nationalsozialismus. Eine Zwischenbilanz, in: Werner Abelshauser / Jan-Ottmar Hesse / Werner Plumpe (Hrsg.), Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neuere Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. FS für Dietmar Petzina zum 65.  Geburtstag, Essen 2003, 243– 266. Unlängst auch: Norbert Frei / Tim Schanetzky, (Hrsg.), Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen 2010.



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IV. Für den erstaunlich raschen Ausbau der Auto Union zu einem veritablen Rüstungskonzern ließen die Kriegswirtschaftsinstanzen im deutlichen Unterschied zu den Fertigungsprogrammen der Auto Union „freie Hand“. Wehrmacht und NS-Staat traten hier meist nur in Erscheinung, wenn sie von der Auto Union selbst als Verhandlungspartner oder auch Vermittler direkt eingeschaltet wurden. Das Ziel des Managements bei der Unternehmensexpansion war die eigeninitiierte Sicherung von weiteren Rüstungsaufträgen und zukünftigen Marktchancen. Auch das Bemühen der Auto Union um die Einbindung ausländischer Betriebe in ihre Fertigungsprogramme v. a. in Frankreich und Belgien erfolgte nicht auf Aufforderung staatlicher Stellen hin, sondern eigeninitiativ – und nicht zuletzt in der Absicht, bei der Erschließung eines eroberten großdeutsch-europäischen Marktes mit den einschlägigen Konkurrenzfirmen mithalten zu können. Die grundlegenden Verhaltensmuster waren dabei völlig einseitige Vorteilsorientierung und strikte Kontrollausübung. So folgte man der Maxime deutscher Besatzungspolitik in Westeuropa bewusst oder unbewusst im Kleinen. Die Eingliederung des Flugmotoren-Großwerkes MMW in den Konzern markierte dann den rasanten Aufstieg der Auto Union in eine höhere Liga der deutschen Rüstungsproduzenten. Im Mai 1941 – die Auto Union war unlängst in die Wirtschaftsgruppe Luftfahrt aufgenommen worden  – berief Hermann Göring die Vorstände Dr. Richard Bruhn (1886–1964) und Dr. h. c. William Werner (1893–1975) in seinen neu gegründeten Industrierat, der die Luftrüstung reorganisieren sollte. Nun recht nahe am Zentrum der Macht des Rüstungsapparats, erwies sich die Etablierung des „Speer-Systems“ seit 1942, die sogenannte Selbstorganisation der Wirtschaft, weniger als Handlungsspielräume weiter einschränkender Nachteil – wie für zahlreiche kleinere Firmen – sondern vielmehr als große Chance für den Bedeutungsgewinn und die weitere Expansion des Auto Union-Konzerns. Rüstungsminister Albert Speer zeigte sich von diversen Ausführungen Werners über die Großserien-Planung bzw. Fließstreckenfertigung bei Luftwaffengerät derart angetan, dass er sie als Denkanstoß für eine Neuordnung der deutschen Panzerproduktion an der Jahreswende 1942 / 43 sah. Auch im Panzerbereich sollte die Großserien-Planung und Fließbandfertigung Einzug halten. Speer forderte die Produktion des schweren Maybach-Panzermotors „HL-230“ für die Tiger- und Panther-Panzer in monatlicher Kammlinie von je tausend Stück bei Maybach und der Auto Union sowie von vierhundert Stück bei Nordbau in Berlin. Ende April 1943 erfolgte die endgültige Bestätigung des großen Panzermotoren-Auftrags durch Speer, im Winter 1943 / 44

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begann die Fertigung im Werk Siegmar. Die Auto Union genoss nun die Vorzüge höchster Dringlichkeitseinstufung wie bevorrechteter Maschinenund Arbeitskräftezuteilung, zumal sie nach der Ausbombung Maybachs in Friedrichshafen am Bodensee die Führungsrolle im Panzermotoren-Programm übernahm. Kaum hatte Speer den Großauftrag erteilt, forderte die Auto Union nachträglich die Verankerung einer „Kriegsrisikoklausel“ bzw. erhöhte Auftragsvergütung, da das Werk Siegmar durch die Übernahme der Panzermotoren-Fertigung mit Sonder- und Einzweckmaschinen für die Nachkriegszeit seine Elastizität verliere. Bei aller Beschwörung patriotischer Pflicht­ erfüllung verlor man mithin die Sicherung des Gewinns nicht aus den Augen. Das Motorenprogramm für die Panther- und Tiger-Panzer beschäftigte, anders als die bisherigen Rüstungsprogramme in den Werken der Auto Union, permanent höchste Stellen der deutschen Kriegsrüstung. Die spätere Untertageverlagerung nach Leitmeritz (Litoměřice) erfolgte auf „Führerbefehl“, ihre Realisierung in Regie Speers über den SS-Baustab Kammler bzw. den Reichsführer-SS. Denn der nur wenige Monate anhaltende Höhenflug der Panzermotorenfertigung in Siegmar wurde durch die Bombardierung des Werkes am 11. September 1944 abrupt gestoppt. Bei allen Zweifeln an der Eignung der Kalkwerkstollen im böhmischen Leitmeritz und Sorgen um die hier einzubringenden wertvollen Maschinenbestände setzte man im Panzermotorenbau nun ganz auf die Untertageverlagerung – mit der Folge, dass sich der „Arbeitseinsatz“ bis zum Äußersten radikalisierte und das Unternehmen nach eher zögerlichen Anfängen immer mehr auf die schiefe Bahn in den Abgrund nationalsozialistischer Verbrechen geriet. Dabei ist hinsichtlich der verbliebenen Handlungsspielräume der Rüstungsbetriebe aufschlussreich, dass sich die Auto Union erst nach langwierigen Verhandlungen dazu bequemte, sich auf einen Kompromissvorschlag des Rüstungsministeriums einzulassen, der ihren Beitrag für die gesamten Erschließungskosten in Leitmeritz auf den sehr geringen Höchstbetrag von 100.000 Mark begrenzte. Von besonderer Bedeutung für die kriegswirtschaftliche Entwicklung der Auto Union war die Entwicklung ihrer Belegschaft. Durch Einberufungen zur Wehrmacht und Dienstverpflichtung zu kriegswichtigeren Betrieben büßte die Auto Union in den beiden ersten Kriegsjahren wie bereits erwähnt rund ein Viertel ihrer Arbeitskräfte ein. Dieser zahlenmäßige Verlust, der mit der Ausdünnung des tragenden Facharbeiterstamms einherging, konnte durch Rationalisierung, Dienstverpflichtung von Textilarbeitern und Propagierung zuvor verfemter Frauenarbeit nicht wirklich kompensiert werden. Für die nach und nach zum Anlauf anstehenden Rüstungsprogramme fehlten der Auto Union zunehmend die Arbeitskräfte, insbesondere die Fachkräfte. Deshalb griff auch die Auto Union ab Sommer 1942 massiv auf eine durch das NS-Regimes neu eröffnete Quelle für die Rekrutierung von Arbeitskräften zurück: den Einsatz ausländischer Zivil- und Zwangsarbeiter. Von März 1942



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bis September 1944 nahm die Belegschaft um insgesamt mehr als vierzig Prozent zu. Nachdem die Verluste der ersten beiden Kriegsjahre ausgeglichen waren, kletterte sie im März 1943 konzernweit über die Marke von 40.000 Beschäftigten und reichte Ende 1944 schon an die „50.000“ heran. Sieht man einmal von der Flugmotorenherstellung bei MMW ab, erfolgte der Einsatz ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter im Auto Union-Konzern im Branchenvergleich spät. Im Laufe des Jahres 1942 glich sich die Entwicklung zumindest des Zivil- und Zwangsarbeitereinsatzes aber zunehmend an die Branchenkonkurrenten an. Ab der zweiten Jahreshälfte 1942 rekrutierte das Unternehmen mehr ausländische als inländische Arbeitskräfte. Im ersten Quartal 1943 erreichte der Anteil ausländischer Arbeitskräfte konzernweit gut 31 Prozent, erhöhte sich dann aber bis Juni 1944 nur noch geringfügig auf knapp 35 Prozent. Die Nationalitätengliederung der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter zeigt, dass sie in ihrer überwiegenden Mehrheit einschneidenden Einschränkungen ihrer Freizügigkeit und Lebensgestaltung unterworfen waren, d.  h. mehrheitlich als Zwangsarbeiter zu betrachten sind12. Auch die größte Gruppe der ausländischen Beschäftigten, die aus Westeuropa und vornehmlich Frankreich stammte, verfügte – wie nicht zuletzt die behördlich zwangsverordnete Überstellung von rund 2.000 Ci­troenFacharbeitern aus Paris zur Auto Union nach Chemnitz verdeutlicht – über eine bereits recht eingeschränkte Freizügigkeit und einen sehr begrenzten Einfluss auf die eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Als Gruppe waren sie, anders als die bald an Zahl zunehmenden Polen und „Ostarbeiter“ sowie ab Winter 1943 / 44 die sogenannten „italienischen Militärinternierten“, freilich nicht unmittelbarer rassistischer Diskriminierung, Verfolgung und Gewaltandrohung ausgesetzt13. Gewalt wurde insbesondere den Ostarbeitern und russischen Kriegsgefangenen übrigens nicht nur angedroht, sondern war im Alltag durchaus verbreitet. Sie erreichte in den Werken des Konzerns eine unterschiedliche Intensität und hing in ihren Ausmaßen von den jeweiligen Personenkonstellationen ab. Die Unternehmensleitung missbilligte Gewaltexzesse aus ökonomischen Gründen, wich einer Konfrontation mit NS-Aktivisten im eigenen Konzern aber in aller Regel aus und deckte deren Untaten. Selbst Mord- und Totschlagshandlungen fanatisierter Werkschutzangehöriger blieben so ungesühnt.

12  Unsere Studie zur Auto Union folgt dem weithin akzeptierten Definitionsvorschlag von Zwangsarbeit und der Kategorisierung von Zwangsarbeitern im Standardwerk von Spoerer, Zwangsarbeit (Anm. 1), 16 f. 13  Nach der Kapitulation Italiens im September 1943 in deutsche Gefangenschaft geratene italienische Soldaten wurden unter Missachtung der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention zu fast rechtlosen „Militärinternierten“ degradiert und in großer Zahl auch in Rüstungsbetrieben eingesetzt.

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Die freiwillige und zwangsweise Rekrutierung von Arbeitskräften im Inland und den vom Deutschen Reich beherrschten Gebieten Europas vermochte mit den Anforderungen der Auto Union im Kriegsjahr 1944 längst nicht mehr Schritt zu halten. Der Rückgriff auf das in den Konzentrations­ lagern vorhandene „Menschenpotenzial“ erlaubte es ihr nun abermals, wie bereits der forcierte Einsatz ausländischer Zwangsarbeiter zwei Jahre zuvor, die drohende Kapazitätsgrenze zu transzendieren. Sie wurde dadurch in die Lage versetzt, im besten Einvernehmen mit dem NS-Regime und den Kriegswirtschaftsorganen den eingeschlagenen Kurs unbedingter betrieblicher ­Expansion in Verfolgung ehrgeiziger Rüstungsprogramme fortzusetzen und – aus humanitärer Sicht – mit dem Masseneinsatz entrechteter „Sklavenarbeiter“ auf die Spitze zu treiben. Ein direkter Zwang für den Rückgriff auf KZ-Häftlinge bestand für die Auto Union und vergleichbare Unternehmen nach heutigem Forschungsstand nicht. Die Firma Opel verzichtete ohne erkennbare Konsequenzen auf den Einsatz von KZ-Häftlingen14. Gern gesehen war der Einsatz der KZ-Häftlinge von Seiten der Rüstungsbehörden jedoch allemal. Nach vergleichsweise fragmentarischer Quellenlage kann davon ausgegangen werden, dass die interne Initiative zum Produktionseinsatz von KZ-Häftlingen durch den Konzernvorstand der Auto Union erfolgte. Offenbar wurde mit der Reichsführung-SS eine Art Rahmenvereinbarung getroffen. In der Forschung geht man heute überwiegend davon aus, dass Zwangsarbeiter, aber auch KZ-Häftlinge nicht (oder nur unwesentlich) billiger oder im Durchschnitt gar produktiver waren als deutsche Arbeitskräfte, mithin kein „Extraprofit“ von den Unternehmen erzielt werden konnte. Einem „Extraprofit“ standen allein schon die hohen fiskalischen Abschöpfungen des Reichsfinanzministeriums entgegen. Doch weisen gerade die neueren Studien und auch die Studie zur Auto Union mit Nachdruck darauf hin, dass Zwangsarbeit in allen ihren Formen das entscheidende Mittel zur betrieblichen Expansion war und zugleich Chancen zu Fertigungsrationalisierung eröffnete. Nur durch den immer größer werdenden Umfang der Zwangsarbeit war in der heißlaufenden Rüstungskonjunktur eine „Gewinnmitnahme“ in großem Stil möglich, die sonst nicht hätte realisiert werden können. Also war der Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen, zivilen Zwangsarbeitern und schließlich KZ-Häftlin14  Vgl. Billstein / Fings / Kugler / Levis (Anm. 6), 12, 63, 260. Ob das Verhalten der Unternehmensleitung von Opel in ethischen Motiven begründet lag, geht aus der Aktenüberlieferung nicht hervor. Im Gegensatz zu Opel verfügten die Ford-Werke in Köln über ein Arbeitskommando von Häftlingen mit Facharbeiterausbildung aus dem KZ Buchenwald – ein Hinweis darauf, dass es nicht unbedingt die Eigentumsverhältnisse bei Opel als früherer Konzernteil von General Motors in Detroit waren, die für die Entscheidung, keine KZ-Häftlinge anzufordern, den Ausschlag gaben (zu Ford ebd., 155 f.).



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gen auf jeden Fall profitabel, weitgehend unabhängig von Lohnniveau, geringerer Produktivität oder fiskalischen Abschöpfungen des Staates15. Die Ausgestaltung des Häftlingseinsatzes überließ die Konzernspitze der Auto Union den einzelnen Werken selbst. Diese klärten mit der SS die Details der Unterbringung und Bewachung. Die Bewachung erfolgte in der Regel durch kleinere SS-Wachmannschaften und für die weiblichen KZHäftlinge zusätzlich durch dienstverpflichtete Frauen aus den Belegschaften der Auto Union-Werke bzw. der Auslagerungsbetriebe, die in Kurzlehrgängen durch die SS zumeist im Konzentrationslager Ravensbrück entsprechend ausgebildet wurden. Die Arbeits- und Lebenssituation der KZ-Häftlinge war in den verschiedenen Werken bzw. Werkteilen des Konzerns auf dem Gebiet des Landes Sachsen durchaus unterschiedlich. Gemeinsam war diesen Standorten jedoch die vielfach nachgewiesene, völlig unzureichende Ernährung der KZ-Häftlinge, die sich seit der Jahreswende 1944 / 45 offenbar noch einmal drastisch verschlechterte. Für die Versorgung mit Lebensmitteln und den Unterhalt der Kantinen waren die jeweiligen Werke zuständig. Doch liegen kaum aussagekräftige Quellen im Aktenbestand der Auto Union zu diesem prägenden Aspekt des KZ-Häftlingseinsatzes vor. Anders als in den übrigen KZ-Außenlagern bei der Auto Union in Sachsen kam es im Außenlager beim Horch-Werk in Zwickau zu gezielten Tötungshandlungen durch das SS-Wachpersonal. Zudem war dieses Außenlager durch eine hohe Fluktuation mit ständigen Rücküberstellungen wegen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit in das bayerische Stammlager Flossenbürg sowie durch eine vergleichsweise hohe Sterberate der Häftlinge gekennzeichnet16. Dort wie auch in den Außenlagern bei der Agricola GmbH in Oederan und der DKK in Wilischthal waren Essens- und Kleidungsentzug, Schläge und sonstige Schikanen feste Bestandteile des Alltags der Häftlinge17. Das 15  Vgl. Cornelia Rauh-Kühne, Hitlers Helfer? Unternehmensprofite und Zwangsarbeiterlöhne, in: Historische Zeitschrift 175 / 2002, 2–55; Mark Spoerer, Profitierten Unternehmen von der KZ-Arbeit? Eine kritische Analyse der Literatur, in: Historische Zeitschrift, H. 1 268 / 1999, 61–95; Resümierend Manfred Grieger, Industrie und NSZwangsarbeitersystem. Eine Zwischenbilanz, in: Dittmar Dahlmann u. a. (Hrsg.), Zwangsarbeiterforschung in Deutschland, Essen 2010, 87–97. 16  Vgl. die veröffentlichte Masterarbeit von Franziska Hockert, Zwangsarbeit bei der Auto Union. Eine Fallstudie der Werke Audi und Horch in Zwickau, Hamburg 2012. 17  Hinsichtlich der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der KZ-Häftlinge in einigen Zweigwerken der Auto Union in Sachsen kann auf die umfangreichen und bereits quellenkritisch aufbereiteten Zeitzeugenberichte zurückgegriffen werden, die der H ­ istoriker Pascal Cziborra zusammengetragen hat. Pascal Cziborra, KZ Zschopau. Sprung in die Freiheit, Bielefeld 2007; Ders., KZ Oederan. Verlorene Jugend, Bielefeld 2008; Ders., KZ Wilischthal. Unter Hitleraugens Aufsicht, Bielefeld 2007; Ders., Frauen im KZ. Möglichkeiten und Grenzen der historischen Forschung am Beispiel des KZ Flossen-

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größte Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg im böhmischen Leitmeritz hatte nicht nur eine ganz andere Dimension als die Außenlager bei der Auto Union in Sachsen, sondern wies auch wesentliche Unterschiede in Zielsetzung, Organisation und Lageralltag auf. Das Lager diente vor allem zur Unterbringung der „Bauhäftlinge“, die in unmittelbarer Unterstellung unter den SS-Führungsstab B5 unter unsäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen zum Ausbau der maroden Leitmeritzer Kalkwerkstollen in eine schlüsselfertige unterirdische Panzermotorenfabrik für die Auto Union eingesetzt wurden. Eine Zurechnung dieser KZ-„Bau-Häftlinge“ in den unmittelbaren personellen Verantwortungsbereich der Auto Union wird den Verhältnissen nicht gerecht. Die Auto Union trug für die „Bau-Häftlinge“ weder Personalverantwortung noch hatte sie gegenüber der SS und den eingebundenen Bauunternehmen irgendeine Weisungsbefugnis. Eine direkte, justiziable Personalverantwortung kam ihr lediglich beim „Kommando Elsabe“ zu, mithin für die ab Ende 1944 in der anlaufenden Produktion eingesetzten und auf Betreiben der Auto Union zunehmend von den „Bau-Häftlingen“ separierten etwa 800 „Produktions-Häftlinge“18. Die Auto Union ließ sich dessen bürg und seiner Außenlager, Bielefeld 2010. Ergänzt wird die Quellenlage noch durch die Überlieferung des KZ Flossenbürg, welches die Masse der bei der Auto Union eingesetzten Häftlinge stellte. Vgl. auch Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hrsg), Flossenbürg. Das Konzentrationslager Flossenbürg und seine Außenlager, München 2007, 141 ff., 169 ff., 216 ff., 253 ff., 264 ff., 276 ff., 279 ff.; Hans Brenner, Der „Arbeitseinsatz“ der KZ-Häftlinge in den Außenlagern des Konzentrationslagers Flossenbürg – ein Überblick, in: Ulrich Herbert / Karin Orth / Christoph Dieckmann (Hrsg.), Die Nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, 2 Bde., Göttingen 1998, 682–706; Ulrich Fritz, Von der Moral der Effizienz zur Effizienz der Moral – der Einsatz von KZ-Häftlingen in sächsischen Unternehmen und seine Aufarbeitung, in: Veronique Töpel / Eva Pietsch (Hrsg.), Mehrwert, Märkte, Moral. Interessenkollision, Handlungsmaximen und Handlungsoptionen in Unternehmen und Unternehmertum der modernen Welt (Sachsen und Europa), Leipzig 2012, 33–53. 18  Das Außenlager Leitmeritz mit seiner hohen Zahl von Todesfällen  – es war in den letzten Kriegsmonaten auch das Ziel von sog. Todesmärschen aus anderen KZLagern  – hat schon vergleichsweise früh die Aufmerksamkeit von Historikerinnen und Historikern aus der Tschechoslowakei erfahren. Deren Forschungsergebnisse wurden mit einiger zeitlicher Verzögerung teilweise auch auf Deutsch veröffentlicht. Sie enthalten wichtige Informationen, doch wird nur selten zwischen den besser versorgten und räumlich separierten „Produktions-Häftlingen“ von „Elsabe“ und ­ der großen Masse der „Bau-Häftlinge“ des SS-Stabs B5 unterschieden. Vgl. v. a. Jiři Křivsky / Marie Křižkova, Richard. Unterirdische Fabrik und Konzentrationslager in Litoměřice, Theresienstadt 1967; Miroslav Kárny, „Vernichtung durch Arbeit“ in Leitmeritz. Die SS-Führungsstäbe in der deutschen Kriegswirtschaft, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, H. 4 / 1993, 37–61; Miroslava Benešová, Das Konzentrationslager in Leitmeritz und seine Häftlinge, in: Theresienstädter Studien und Dokumente (1995), 217–240; Miroslava Langhamerová, Leitmeritz (Litoměřice), in: Benz / Distel, Flossenbürg (Anm. 17), 169–179. Unlängst auch die Publikation eines deutschen Historikers: Alfons Adam, „Die Arbeiterfrage



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ungeachtet aus kriegswirtschaftlichen Interessen heraus in einem skandalösen Maße in den KZ-Komplex einbinden. Ihre moralische Mitverantwortung für die Zustände in Leitmeritz  – dort wurden 1944 / 45 insgesamt rund 18.000 KZ-Häftlinge eingesetzt, von denen wohl 4.500 den Tod fanden – steht außer Frage.

Abb. 2: Luftaufnahme der Wanderer Werke und der Auto Union Chemnitz. Quelle: Schlossbergmuseum Chemnitz soll mit Hilfe von KZ-Häftlingen gelöst werden“. Zwangsarbeit in KZ-Außenlagern auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik, Berlin 2013, hier 332–364.

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Angesichts ernüchternder Produktionsergebnisse rückte die Auto Union im Winter 1944 / 45 allerdings von Leitmeritz ab. Sie bemühte sich in gewissem Rahmen um Separierung und Besserstellung ihrer KZ-Produktions-Häftlinge und stoppte zugleich intern alle Planungen zur weitergehenden Nutzung der Leitmeritzer Stollen. Den Krieg gab das Management zu dieser Zeit längst verloren. Seit dem Sommer 1944 arbeitete man klammheimlich und verbotenerweise im höchsten Managementkreis an Planungen für die Nachkriegszeit und erörterte in diesem Kreis Anfang 1945 wohl auch eine Evakuierung der Unternehmensspitze nebst Verwaltungsstab nach Süddeutschland. Auf das Schloss Sandizell in Oberbayern  – unweit von Schrobenhausen − wurden anscheinend bereits wichtige Unterlagenbestände verbracht. Offiziell folgte die Auto Union der Politik des untergehenden NS-Regimes aber bis in die letzten Kriegstage. In der Konsequenz schloss dies die Aufrechterhaltung des Zwangsarbeitskomplexes und insbesondere einen forcierten KZ-HäftlingsEinsatz ein. Auf dem Höhepunkt im Februar / März 1945 beschäftigte die Auto Union in ihren Werken nach den vorliegenden Stichtagserhebungen rund 3.700 KZ-Häftlinge. Das entsprach einem Anteil von 7,4 Prozent an ihrer zu dieser Zeit fast 50.000-köpfigen Belegschaft – und nur das nahende Kriegsende verhinderte einen noch umfänglicheren KZ-Häftlings-Einsatz. Mit ihrem KZ-Häftlings-Anteil bewegte sich die Auto Union aber durchaus noch im branchenüblichen Rahmen. Der vergleichbare Wert lag bei BMW bei 4,8 und bei Daimler-Benz bei 7,6 Prozent − in der Forschung weniger beachtete Hersteller wie Adler oder Borgward kamen sogar auf Werte von deutlich über zehn Prozent19. Auch der Gesamtumfang des Zwangsarbeitskomplexes bei der Auto Union, der sich durch die Übernahmen tschechischer Firmen und den Einsatz „rückverlagerter“ Justizstrafgefangener im letzten Kriegsjahr auf bis zu 45 Prozent erhöhte, blieb im Rahmen der deutschen Kraftfahrzeugbranche. Die zu Rüstungskonzernen mutierten Automobilhersteller agierten in den Kriegsjahren in erschreckender Gleichförmigkeit.

19  Bei BMW machten Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge nach Spoerer etwa 51 Prozent der Beschäftigten aus, beim Daimler-Benz-Konzern rund 53 Prozent. Adler kam nach Kaiser / Knorn, Adlerwerke (Anm. 6), 21 f. schon 1943 auf knapp 40 Prozent ausländischen Belegschaftsanteil. Borgward erreichte diesen Wert im Sommer 1944. Beim Kdf-Werk (Volkswagen) machte der Zwangsarbeiterkomplex nach Spoerer 1944 / 45 sogar rund 65 Prozent der Beschäftigten aus. Vgl. Mark Spoerer, Umfang und Interpretation des Einsatzes von Zwangsarbeitern für den Auto Union-Konzern im Zweiten Weltkrieg, 2010 (Gutachten im Anhang der onlineAusgabe des Artikels „Öffentliche Verbrechen“ von Harald Schumacher und Martin Seiwert, Wirtschaftswoche Nr. 39 vom 27.09.2010, 138–141).



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V. Die Auto Union war zweifelsohne tief in das NS-Regime eingebunden und zunehmend integraler Bestandteil seiner Verbrechen. Sie war dabei aber keineswegs ein herausgehobener „faschistischer Musterbetrieb“, der der Branchenkonkurrenz hier zeitlich oder qualitativ in protagonistischer Weise vo­ rangeschritten wäre. Wie ihre Konkurrenten nutzte sie aus Profitinteresse, nationalistischer Verblendung und vor allem im Hinblick auf die Positionierung in einer „europäisch-großdeutschen“ Nachkriegswirtschaft zu jeder Zeit des Krieges die ihr durch das NS-Regime dargebotenen Expansionschancen. Trotz Bombenschäden vergrößerte sich z. B. der durchweg modernisierte Maschinenpark allein der Stammbetriebe der Auto Union AG von 1939 bis 1945 um 51,2 Prozent20! Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs koppelte sich die Entwicklung der Auto Union freilich von der überwiegend in den „Westzonen“ beheimateten Konkurrenz ab. Während diese − bei ähnlich starker Vermehrung der Maschinenbestände − eher verschmerzbare Demontageverluste erlitt oder im Falle Volkswagen sogar noch Unterstützung durch die britische Besatzungsmacht erfuhr, wurde die Kraftfahrzeugbranche in der Sowjetischen Besatzungszone rigoros zur Rechenschaft gezogen21. Die Führungskräfte der Auto Union, die sich bei Kriegsende in die Besatzungszonen der Westalliierten begaben, kamen dagegen – salopp formuliert – mit einem „blauen Auge“ davon. Ohne Schuldbewusstsein empfanden sie es nachgerade als Schikane und Zumutung, dass einige von ihnen von den Amerikanern in den sog. „automatischen Arrest“ genommen wurden, der bis zu einem Jahr dauern konnte. Doch stimmte der beginnende „Kalte Krieg“ die westlichen Siegermächte rasch milde. Dr. Richard Bruhn, der als einflussreichstes Mitglied des Vorstands und Träger der staatlichen Auszeichnung „Wehrwirtschaftsführer“ die Auto Union durch den Weltkrieg geführt und 1949 maßgeblich ihre Ingolstädter Neugründung inspiriert hatte, bekam bereits 1953 das Große Bundesverdienstkreuz verliehen22! Über die Auto Union zwischen 1939 und 1945 wurde in Ingolstadt eher geschwiegen. Wenn man den Krieg dennoch thematisieren wollte, konnte man in der jungen Bundesrepublik nun seine Ansichten recht ungeschminkt kundtun – so wie Dr. Carl Hahn (bis 1945 stellvertretendes Vorstandsmitglied und ebenfalls Ingol20  Angabe nach dem Unternehmensbericht an die Sowjetische Militäradministration (SMAD) vom 23.08.1945, in StAC, Best. 31050 Auto Union Nr. 1804. Vgl. Kukowski / Boch, Kriegswirtschaft (Anm. 5), 313. 21  Siehe v. a. Martin Kukowski, Die Chemnitzer Auto Union und die „Demokratisierung“ der Wirtschaft in der Sowjetischen Besatzungszone von 1945 bis 1948. Stuttgart 2003. 22  Zur Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes am 25. Juni 1953 vgl. DKW-Nachrichten Nr. 24 / 1953, 555.

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städter Neugründer) beim Presseempfang der Auto Union zur Internationalen Automobilausstellung 1953. Hahn führte in seiner Rede wörtlich aus: „Ja, während des Krieges, und das sage ich nicht etwa heimlich oder mit einem Entschuldigungsbeiwerk, haben wir selbstverständlich unsere Pflicht getan und uns in die Kriegswirtschaft eingeschaltet und haben im Jahre 1945 noch an die 46.000 Arbeiter in Sachsen beschäftigt. […] Wir waren eine grosse Firma, eine stolze Firma mit eigener Tradition, mit einem eigenen Geist, mit einem grossen Sozialwerk. […] Am 7. Mai 1945, als Herr Dr. Bruhn und ich … die Stätten unserer Tätigkeit verliessen, sagte er: Warum soll ich weg, ich habe doch ein gutes Gewissen, weshalb soll ich mich absetzen? Als wir dann kaum aus Chemnitz heraus waren … da haben wir dann oben auf der Strasse noch mal gehalten und wir sahen … noch einmal auf das unter uns liegende Chemnitz zurück. Eigentlich nicht, um Abschied zu nehmen sondern nur, um zu sagen … jetzt wollen wir das Bild noch mal in uns aufnehmen. Wir werden in Glück wiederkommen und werden wieder dort arbeiten können.“23

23  Unternehmensarchiv

AUDI AG-Handapparat-Personalunterlagen Dr. Carl Hahn.

Judenverfolgung im Nationalsozialismus Das Beispiel Chemnitz oder „wie aus einer Großstadt plötzlich ein großes Raubtier wurde“1 Von Jürgen Nitsche, Chemnitz / Mittweida I. Einleitung Als die 11-jährige Erika Rottluff am 12. November 1938 mit dem Zug aus Olbernhau in Chemnitz (Abb. 1) eintraf, war ihr der Schreck in die Glieder gefahren. Ihre erhoffte Freude auf die Großstadt war auf einmal verschwunden. „Und die Großstadt kam ihr plötzlich wie ein großes Raubtier vor.“2 Die Nationalsozialisten erschienen dem unschuldigen Mädchen aus dem Erz­ gebirge wie hungrige, ja gefräßige Raubtiere. Sie spürte, dass die Welt nicht mehr dieselbe war. Erst wenige Wochen zuvor hatte sie erlebt, dass Ruth Lawenda, ihre einzige jüdische Mitschülerin, nicht mehr die Volksschule besuchen durfte. Ruth und ihre Nichte Nora (Abb. 2) mussten später nach Chemnitz fahren, um dort die neugegründete Private Jüdische Volksschule zu besuchen. Im Juni 1940 wurde Malka Lawenda, ihre Mutter, gezwungen, den 1  Der Aufsatz fußt auf dem Vortrag „Judenverfolgung und Holocaust. Das Beispiel Chemnitz 1942–1945“, den der Verf. am 12. November 2014 im Rahmen der Ringvorlesung „Sachsen, Europa und der Zweite Weltkrieg“ an der Technischen Universität Chemnitz gehalten hat. Mein herzlicher Dank gilt an dieser Stelle allen Nachfahren der in dem Aufsatz genannten Familien, die mich mit ihren Erinnerungen, persönlichen Unterlagen und ihrer fortwährenden Bereitwilligkeit zu helfen, sehr beeindruckt haben: Justin Sonder, Siegmund Rotstein, Manfred Kleinberg, Hanna Kohn †, Erika Rottluff † (alle Chemnitz), Inge Schmidt (Stuttgart), Edith Schmidt (Hohndorf b. Stollberg / E.), Ralf Bachmann †, Joachim Reiter, Christine Mähler, Ilse Rewald † (alle Berlin), Dorothea Freise (Göttingen), Till Heidenheim (Lübeck), Hans Günter und Stefan Flieg (Brasilien), Gerardo G. Sachs † (Argentinien), Ilana Drori, Dina Givon †, Ronen Nitzan, Reuwen Reiter (alle Israel), Franz T. Cohn (Schweden), Anni Fleiss †, Ruth Elend, Arthur Flynn †, Hannelore Cohen, Steffi Kester, Anthony Parker (alle England), Simon Beck (Schweiz), Miriam Brookfield, Vera Burns, Conrad G. Frank †, Henry H. Hartmann †, Marc Goldschmidt, Thomas Heumann †, Eleonore Krongold, Jessica Lehman, Stephen Falk (alle USA) und Michael Baratz (Kanada). 2  Erika Rottluff, Erinnern Sie sich noch? – Möglicherweise wurden die Erinnerungen in einer Ausgabe der Chemnitzer „Freien Presse“ veröffentlicht. Der Verf. erhielt den Text während eines Interviews mit Erika Rottluff im Frühjahr 2012.

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Abb. 1

gemeinsamen Wohnsitz nach Chemnitz zu verlegen. Ruths Schulbesuch endete jedoch im Mai 1942 jählings. Was war geschehen? Jean Imgrund (Abb. 3), der Ehemann einer im April 1942 verstorbenen Chemnitzer Jüdin, wurde Zeuge der damaligen Ereignisse. Elias Goral, der von der Jüdischen Kultusvereinigung Chemnitz, der Nachfolgeeinrichtung der im Herbst 1939 aufgelösten Israelitischen Religionsgemeinde (IRG), beauftragt worden war, den Abtransport ihrer Mitglieder, darunter auch Ruth Lawenda, am 10. Mai 1942 zu begleiten, hatte ihm danach über den Ablauf berichtet. Am Folgetag fasste der mutige Handelsvertreter den Entschluss, all das, was er selbst gesehen und aus erster Hand erfahren hatte, seiner in Stuttgart lebenden, jüngeren Tochter mitzuteilen. Inge Schmidt, die heute in einem Seniorenheim in Baden-Württembergs Landeshauptstadt lebt, bewahrte diesen Brief all die Jahre auf:



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Abb. 2

Abb. 3 „Mein liebes Ingelein!  – Also die glorreiche ‚Einkesselungsschlacht‘ gegen die Juden von Zwickau, Plauen, Chemnitz, Leipzig ist entschieden und einige hundert3 – hauptsächlich alte Weiblein – sind verfrachtet. […] [Sonntag] ab sieben Uhr 3  Insgesamt wurden an dem Tag 204 Juden aus den genannten Städten in das Ghetto Belzyce bei Lublin deportiert.

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standen vor jedem Haus, aus dem Juden evakuiert wurden, zwei Schutzleute in Uniform und ließen keinen Juden raus – auch Max Abel nicht, obwohl er Befehl hatte, ½ acht Uhr in der Staatlichen Akademie zu sein als Ordner. Die drei Weiblein4 bei uns im Haus mussten um sieben Uhr ihre – riesigen – Rucksäcke aufsetzen und so der Dinge warten, die dann kommen sollten. – Außer den zwei Schutzleuten waren noch vier Gestapoleute da, die dann den Befehl gegen neun Uhr zum Abmarsch gaben. Es ging von hier aus zu Fuß – mit Rucksack, Handtasche und viel zu schweren Koffern – ab, weit sind sie nicht gekommen, denn Abel sagte uns hinterher, dass sie vor der Akademie mit Lastkraftwagen vorfuhren. Frau Paul5 sagte zu einer Frau, die erst nach dem Abmarsch gucken kam: ‚Wären Sie eine ¼ Stunde früher gekommen, konnten Sie ein wunderbares Schauspiel erleben!‘ – Dumm und gefühlsroh dazu! – […] Dann gingen wir zur Akademie und sahen zweimal Bahren vor dieser zum Gemeindehaus6 tragen (Abel erzählte dann hinterher, dass Ludwig Leopold […] und Dr. Alfred Lachmann sich vergiftet hätten; ersterer ist diesmal tot – er hat es ja 1938 auch versucht – letzterer liegt im Sterben, beide Frauen7 aber mussten trotzdem mit weg).  – Gegen 20 Uhr war ich zufällig oben am Hauptbahnhof, als der Zug der Verschickten hinten aus der Akademie […] kam und in die untere Unterführung zum Bahnsteig 14 geführt wurde. […] Das blöde Publikum sagte: ‚Das sind die Shuden!‘, ohne zu bedenken, dass es ihnen vielleicht bald ebenso gehen kann und ohne zu sehen, dass es meist alte Weiblein waren. Wir gingen wieder durch den Tunnel zur Dresdner Straße und sahen, dass vor und hinter dem Zuge Schutzleute standen, konnten aber keine Personen erkennen […]. Abel erzählte uns hinterher (er kam um 23 Uhr heim): Die Rucksäcke und Koffer wurden mehrfach genau kontrolliert und die Koffer dann von den jüdischen Ordnern zur Bahn (gleich in einem Güterwagen) geschafft. Gegen 18 Uhr erschien der Polizeipräsident [vielmehr Gestapochef Johannes Thümmler – d. Verf.] und da ging’s mit Brüllen los, alle mußten ihre Rucksäcke umstülpen, die leeren Rucksäcke verkehrt hochhalten (dass sie leer waren) und dann kommandierte er. ‚Proviant einpacken!‘, nach zwei Minuten ‚Schluss!‘ (was nicht drin war, blieb liegen, eine Mutter mit sechs Kindern aus Zwickau8 musste also fast alles Eßbare liegen lassen), dann Kommando: ‚Waschzeug!‘, keinerlei Luxussachen erlaubt, wieder ‚Schluß!‘, dann ein Paar Reserveschuhe, etwas Wäsche ‚Schluß!‘ zu machen und so lagen ganze Berge von Eßwaren, Wäsche und andere Sachen noch da, die dann wohl ins Gemeindehaus gebracht wurden […]. – Gegen ¾ neun Uhr ist dann der Zug abgegangen, teils Personenwagen (wo die Chemnitzer rein kamen), teils Viehwagen.“9

4  Hedwig

Doerzbacher, Luise Hönig und Adelheid Rosenberger. war die Ehefrau des Monteurs Emil Paul, der im III. Obergeschoss des Hauses Ahornstraße 32 wohnte. 6  Das Gemeindehaus befand sich in der Zöllnerstraße 6. 7  Batty Leopold und Helene Lachmann. 8  Gemeint war Netty Grünberg aus Plauen, die mit ihrem Ehemann und sechs Kindern zu den Verhafteten gehörte. 9  Jean Imgrund an Inge Imgrund, 11. Mai 1942. Privatbesitz: Inge Schmidt, Stuttgart. 5  Gemeint



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Als die fast 21-jährige Inge den Bericht damals las, war sie einerseits betroffen, andererseits aber auch froh, dass dieses Schicksal ihrer Mutter erspart blieb. Ida Imgrund war am 17. April 1942 in Chemnitz gestorben, nachdem ihr als Jüdin die erforderliche medizinische Hilfe in den Krankenhäusern der Stadt verwehrt worden war. Für die Mutter zweier Töchter war im Juni 2010 ein Stolperstein in der Nähe des heutigen Hauses Ahornstraße 3210 in Anwesenheit ihrer Tochter Inge verlegt worden. Um die tragischen Ereignisse des 10. Mai 1942 einordnen zu können, muss zunächst erörtert werden, was in den Jahren nach der Machtübertragung an die NSDAP in Chemnitz geschehen war II. Von der Machtübertragung bis zu den „Nürnberger Gesetzen“, 1933–193511 Wie in ganz Deutschland nahm auch in Chemnitz die nationalsozialistische Judenverfolgung unmittelbar nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 neue Züge an. Bei einer landesweiten Verhaftungswelle waren auch aus  Chemnitz etliche Juden „in gehobener Lebensstellung, insbesondere Akademiker“12, verhaftet worden. Es handelte sich dabei in der Regel um jüdische Männer, die sich bis dahin vor allem für die Sozialdemokratische Partei (SPD) bzw. die Deutsche Demokratische Partei (DDP) engagiert hatten. So waren der Arzt und Sozialdemokrat Dr. Kurt Glaser (Abb. 4), ein früherer Stadtrat, und der langjährige Landgerichtsrat Dr. Kurt Cohn am 8. / 9. März 1933 in „Schutzhaft“ genommen worden. 10  Das Haus Ahornstraße 32, dass sich bis Mai 1939 im Besitz der jüdischen Familie Doerzbacher befand, war bei den Luftangriffen auf die Stadt im März 1945 total zerstört worden. 11  Vgl. dazu u. a. Wolfgang Benz, Die Juden im Dritten Reich. In: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, 273–290 sowie Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Zürich 2002. Mit Bezug zu Sachsen vgl. Irina Suttner, Juden in Sachsen während der Herrschaft des Nationalsozialismus. In: Gunda Ulbricht / Olaf Glöckner (Hrsg.), Juden in Sachsen. Leipzig 2013, 153–174. Suttner behandelt die Fragestellung am Beispiel der Lage der Juden in Mittel- und Kleinstädten. 12  Dr. Kurt Cohn berichtete, dass er am 8. und 28. März 1933 jeweils für eine Woche in polizeilicher Schutzhaft in Chemnitz gewesen sei. Archiv der Gedenkstätte Buchenwald (BwA) o. Signatur. Kurt Cohn, Bemerkungen zur „Judenaktion“ 1938. Berlin, 19.6.1981, 2. Zu den verhafteten Juden gehörten u. a. auch Dr. Rudolf Kochmann und Dr. Martin Lappe.  – Vgl. auch Birgit Schubert, Die Machtübernahme der Nationalsozialisten und die Auflösung der Stadtverordnetenversammlung 1933 in Chemnitz. In: Aus dem Stadtarchiv. Beiträge zur Stadtgeschichte. Heft. 3. Radebeul 1999, 108–110 sowie dies., Demütigung jüdischer Menschen im März 1933. In: Stadtarchiv Chemnitz (Hrsg.), Spurensuche. Jüdische Mitbürger in Chemnitz. Chemnitz 2002, 62 f.

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Abb. 4

Noch Anfang April 1933 befanden sich 150 „Schutzhäftlinge“ in der Untersuchungshaftanstalt auf dem Kaßberg, wurde in dem „Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger“ verlautbart, ohne allerdings diese namentlich zu benennen13. Daher lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob darunter auch jüdische Gefangene waren. Fest steht, dass schon im Februar 1933 Chemnitzer Juden in „Schutzhaft“ genommen und zum Teil schwer misshandelt worden waren. So berichtete der Kaufmann Sally Reich, dass er bereits in jenem Monat für eine Woche inhaftiert worden wäre. Ferner gab er an, dass SAund SS-Leute in die Geschäftsräume des Hauses Gartenstraße 15, das im Besitz der Familie war, eingebrochen und durch Plünderung großen Schaden angerichtet hätten14. Der 50-jährige Handlungsreisende Salomon Walrauch (Abb. 5), der bis dahin ein eher unauffälliges Leben geführt hatte, wurde in dieser Zeit wiederholt verhaftet. Der Vater zweier Kinder, dessen Ehefrau erst kurz zuvor verstorben war, hatte sich gerade von den ersten schweren Misshandlungen erholt, als er erneut in „Schutzhaft“ genommen wurde. Seine Gesundheit war völlig zerrüttet, als er endlich zu seinen Kindern auf dem Sonnenberg zurückkehrte. Voller Verzweiflung und düsterer Gedanken veranlasste er im Herbst 1934, dass seine minderjährigen Kinder bei Pflegeeltern in den Ver13  Bei den Schutzhäftlingen zu Besuch. In: Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger, Chemnitz, Nr. 95, 5. April 1933. – Die Quellenlage erlaubt auch keine weiterführenden Angaben. 14  Archiv JGC, Auskunft: Sally Reich über Jüdische Gemeinde Hildesheim, 12. Oktober 1960.



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einigten Staaten aufwachsen konnten15. Salomon Walrauch starb am 14. Dezember 1934 in seiner Wohnung. Die Trennung von seinen Kindern hatte ihm – laut Auskunft der Enkeltochter – das Herz gebrochen. Noch am Vortag hatte er sich in einem Brief an seine Schwester, die schon seit längerer Zeit in den Vereinigten Staaten lebte, nach dem Befinden seiner Kinder erkundigt und die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass es ihnen „dort“ bestimmt gut gehen werde. Salomon Walrauch fand auf dem Jüdischen Friedhof in Chemnitz seine letzte Ruhestätte. Wenn Malka Lawenda wieder einmal das Grab ihres 1929 verstorbenen Ehemanns in Chemnitz zur Jahrzeit aufsuchte, zeigte sie ihrer Tochter Ruth mutmaßlich auch die Gräber der zuletzt Verstorbenen. Der Fabrikant Max Stein, der einst dem Arbeiter- und Soldatenrat in Chemnitz 1918 / 19 angehörte, führte später an, dass er zu den am meisten geschlagenen Gefangenen im „Polizeigefängnis Kaßberg“ gehört hätte. Die Schläger, unter denen der Sohn eines bekannten Chemnitzer Opernsängers16 gewesen wäre, hätten ihn damals zum Krüppel gemacht. Er konnte erst Ende März 1939 mit Ehefrau und Sohn nach den USA auswandern. Völlig mittellos traf der einst wohlhabende Fabrikant17 in New Orleans ein und sah sich gezwungen, als Lohnarbeiter in einer Weberei ums Überleben zu kämpfen18. 15  Dank der Hilfe einer US-amerikanischen Hilfsorganisation gelangten Hela und Jaco Walrauch an Bord von MS „New York“ am 20. November 1934 nach New York. 16  Gemeint war der Opernsänger Albert Herrmanns. 17  Der Fabrikant hatte 1922 eine Strumpffabrik gegründet, die bis März 1939 Bestand hatte. Außerdem gehörten ihm drei Mietshäuser auf dem Kaßberg. 18  Max Stein starb bereits am 1. April 1952 in New Orleans.

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Abb. 6

Zum Teil waren die politischen Gegner und Juden auch in das berüchtigte „Hansa-Haus“ (Abb. 6) in der Chemnitzer Innenstadt verschleppt worden. Das Haus gehörte zu den zahlreichen Prügel- und Folterstätten in Deutschland, in denen die Häftlinge den Wachmannschaften hilflos ausgeliefert waren. Das „Hansa-Haus“, ein Bier- und Speiselokal, befand sich seit 1926 im Besitz des Kaufmanns Adolf Schumny. Der überzeugte Nationalsozialist ließ es in der Folgezeit aufwendig umbauen. Bereits einige Jahre später befand sich dort der Sitz des geheimen Nachrichtendienstes der NSDAP, Gruppe Mitte Sachsen. Die Chemnitzer Nationalsozialisten bewarben das Haus als das „größte NS-Vereinslokal Sachsens“. Unmittelbar nach der NS-Macht­ ergreifung wurde das „Braune Haus“, wie es in der Bevölkerung bezeichnet wurde, für einige Wochen, wenn nicht gar Monate, zum Haftlokal. In den oberen Räumen des Hintergebäudes war eigens ein „Vernehmungszimmer“ eingerichtet worden. Dies bedeutete, dass die Inhaftierten dort geschlagen und unter Einsetzung von Hundepeitschen, Stahlruten, Gummiknüppeln und



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anderen Instrumenten unmenschlich gefoltert wurden. Zu den Opfern gehörte der Fabrikant Louis Goldschmidt. Ein Zeitzeuge gab 15 Jahre später zu Protokoll: „Ende Februar oder Anfang März 1933, wurde mein damaliger Chef, der Geschäftsführer der Firma Textil-Syndikat GmbH, Herr Louis Goldschmidt, der sich mit Geschäftsfreunden abends im Chemnitzer Hof befand, unter dem Vorwand auf die Straße gelockt, dass er in dem, in der Nähe gelegenen Polizeirevier, zu einer Befragung verlangt würde. – Herr Goldschmidt leistete dieser Aufforderung ahnungslos Folge, da er sich nichts vorzuwerfen hatte. Anstatt ihn zum Polizeirevier zu führen, brachte man ihn in den berüchtigten Hansa-Haus-Keller, wo er, ohne jeden Grund, auf brutalste Weise misshandelt und schwer verletzt wurde. – Nachdem die Misshandlungen vorüber waren, musste der aus zahlreichen Wunden stark blutende Verletzte noch eine Zeitlang dort in einer Kellerecke ‚Werg zupfen‘ und wurde schließlich, blutüberströmt, in das Gebäude der Kreisleitung, an der Dresdner Straße 38, gebracht, wo er von dem Kreisgeschäftsführer Rehme19 noch mit einem Revolver bedroht wurde. – Rehme äußerte sich dabei ungefähr wie folgt: ‚Eigentlich könnt ich Dich Lump ja jetzt erschießen, aber die Kugel ist mir für Dich, Judenschwein, zu schade‘. – Rehme war ein ehemaliger Angestellter des Textil-Syndikats und wegen seiner nazistischen Umtriebe entlassen worden. – Es gelang der Familie des Herrn Goldschmidt, ihn nach diesem bestialischen Überfall in die Schweiz zu schaffen, wo er monatelang in einem Krankenhaus zwischen Tod und Leben schwebte. Einige der im Gesicht erhaltenen, klaffenden Wunden mussten vernäht werden und die Narben zeugen heute noch von der Rohheit und Bestia­ lität des Überfalles.“20

Louis Goldschmidt sollte seine Chemnitzer Dienstwohnung21 nicht wiedersehen. Er lebte vorübergehend in einem Hotel in Luzern, bevor er nach Berlin übersiedelte und von dort aus bis September 1935 die Geschäfte der TextilSyndikat GmbH leitete. Im September 1936 verlegte er seinen Wohnsitz nach London22. Übrigens wurde unlängst ein Gemälde23, das die Kunstsammlungen Chemnitz in der NS-Zeit erworben hatten, den Erben des Berliner Großban­ 19  Herbert Rehme wurde nach Kriegsende auf Anordnung des Polizeipräsidiums Chemnitz als örtlicher NSDAP-Führer in Haft genommen. 20  Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Außenstelle Chemnitz. – Verhandlung gegen die Schläger aus dem Hansa-Haus. November 1948 (Zeugenaussage von Franz Herrmann), Signatur ist nicht überliefert. 21  Louis Goldschmidt wohnte in dem Haus Ottostraße 11, das im Besitz der TextilSyndikat GmbH war. 22  Der Fabrikant starb am 8. Januar 1962 in London. 23  Bei dem Gemälde handelte es sich um Fritz Schiders „Am Klavier“ (1866). Das Bild befand sich bis Anfang der 1930er Jahre im Privatbesitz des Berliner Bankiers Jakob Goldschmidt (1882–1955). 1933 siedelte dieser in die Schweiz über, 1934 in die USA. Seine umfangreiche Kunstsammlung blieb in Deutschland zurück. Am 25. September 1941 ersteigerte die Stadt Chemnitz das beschlagnahmte Gemälde für 23.000 Reichsmark für ihre Kunstsammlungen. Bis nach Kriegsende hing dieses im

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Abb. 7

kiers und Kunstsammlers Jakob Goldschmidt, eines Bruders des Misshandelten, zurückgegeben. Zum Teil wurden die Verhafteten in die seit dem Frühjahr 1933 errichteten „Schutzhaftlager“24, wie die frühen Konzentrationslager zunächst bezeichnet wurden, verlegt. Zu den Verhafteten gehörten auch jüdische Mediziner, die sich bis 1933 politisch engagiert hatten. Stellvertretend seien hier die Namen zweier Ärzte genannt: Dr. Max Mannheim (Abb. 7) aus Burkhardtsdorf, der in das „Schutzhaftlager“ Colditz gebracht worden war, und Dr. Ludwig Katzenstein aus Eppendorf, der zu den 200 Personen gehörte, die in dem „Schutzhaftlager“ Plaue bei Flöha, einer Turnhalle, inhaftiert und schwersten Misshandlungen ausgesetzt worden waren. Anfang Mai 1933 errichtete die SA in der Nähe der Stadt Frankenberg das „Schutzhaftlager“ Sachsenburg (Abb. 8 + 9). Das Konzentrationslager war das einzige in Sachsen, das bis zum 9. Juli 1937 Bestand haben sollte. Es befand sich unterhalb des Schlosses Sachsenburg. 50 bis 60 Häftlinge aus Chemnitz wurden gezwungen, das Lager aufzubauen. Dazu kamen noch 40 Häftlinge aus Plaue, die am 2. Mai 1933 nach Sachsenburg verlegt worden waren. Ihre Bewachung erfolgte durch 25 SA- und SS-Leute. Bis zur Auflösung des Lagers wurden über 7.000 Menschen dorthin verGästehaus der Stadt in Forchheim (Erzgebirge). Am 6. Juli 2013 war es einem in den USA lebenden Enkel von Jakob Goldschmidt zurückgegeben worden. 24  Vgl. Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. II: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager, hrsg. v. Wolfgang Benz und Barbara Distel, München 2005, 15–230.



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schleppt25. Die letzten Häftlinge wurden zum größten Teil in das mittlerweile errichtete Konzentrationslager Buchenwald verlegt. 25  Sachsenburg. Dokumente und Erinnerungen. Chemnitz 1994. – Juden aus ganz Deutschland befanden sich dort in „Schutzhaft“. Der Dresdner Redakteur Dr. Max Sachs gehörte zu den Gefangenen, die in dem Lager zu Tode gefoltert wurden.

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Die brutalen Maßnahmen des NS-Regimes sorgten im Ausland für Unruhe und Proteste, wofür dieses „jüdische Gräuelpropaganda“ verantwortlich machte und dies zum Anlass nahm, für den 1. April 1933 zu einem landesweiten Boykott jüdischer Geschäfte, Anwälte und Ärzte aufzurufen. Die Aktion richtete sich aber auch gegen die jüdischen Kauf- und Warenhäuser in den Großstädten. So hatten bereits am Vortag Haussuchungen und Verhaftungen in den Räumen der Kaufhäuser Schocken und H. & C. Tietz in Chemnitz stattgefunden. Bereits unmittelbar nach der Machtübertragung hatte das NSRegime damit begonnen, ein Sonderrecht für Juden26 zu schaffen. Zu den ersten Gesetzen, die von essentieller Bedeutung für die jüdische Bevölkerung waren, gehörte das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933. Der Paragraf 3 legte fest, dass „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind“, in den Ruhestand versetzt werden sollten. Die Stadt Chemnitz hatte bereits am 1. April 1933 verfügt, zum 5. April alle bei der Stadtverwaltung beschäftigten Juden zu beurlauben bzw. zu entlassen, dies betraf einen Beamten, zwei Angestellte und zwei Arbeiter. So wurden auf diese Weise der verdienstvolle Spielleiter und Regisseur am Schauspielhaus Dr. Heinz Wolfgang Litten27, die allseits geschätzte Stadtschulärztin Dr. Frieda Freise28 (Abb. 10) und der angesehene Kinderarzt Dr. Rudolf Kochmann aus dem Dienst entlassen. Darüber hinaus war die Bezirksfürsorgeärztin Dr. Else Wolff in den Ruhestand versetzt worden. Die Ruhegelder wurden in der Folgezeit gekürzt. Der Personalamtsvorstand brüstete sich zudem im „Verwaltungsbericht des Oberbürgermeisters“, dass die städtischen Beschäftigten „zum Juden […] kein Geld“29 tragen würden. Mit spezifischen Gesetzen wie dem „Heimtückegesetz“30 und dem während des Nürnberger Reichsparteitages erlassenen „Blutschutzgesetz“31 ging der NS-Staat in der Folgezeit noch entschiedener gegen die jüdische Bevöl26  Vgl. Josef Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. 2. Aufl., Heidelberg 1996. 27  Heinz W. Litten war ein Bruder des bekannten Rechtsanwaltes und Strafverteidiger Hans Litten (1903–1938), der sich als „Anwalt des Proletariats“ in der NS-Zeit einen Namen gemacht hatte. 28  Vgl. Jürgen Nitsche, Die Stadtschulärztin Dr. Frieda Freise (1886–1938) und die „Chemnitzer Mütterschule“. Eine Medizinerin mit jüdischen Wurzeln, in: CarisPetra Heidel (Hrsg.), Die Frau im Judentum  – jüdische Frauen in der Medizin. (= Schriftenreihe Medizin und Judentum Bd. 12), Frankfurt / M. 2014. 29  Vgl. Personalpolitik einer Großstadt in den ersten Jahren nach der national­ sozialistischen Revolution. Aus dem Verwaltungsbericht des Oberbürgermeisters zu Chemnitz, Chemnitz 1936, 18. 30  Das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“ wurde am 20. Dezember 1934 erlassen. 31  Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ wurde am 15. September 1935 verabschiedet.



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kerung vor. In Sachsen wurden innerhalb weniger Monate 14 Frauen und ein Mann wegen „rassenschänderischer“ Beziehung32 zu Juden in „Schutzhaft“ genommen33. Die jüdischen Partner wurden entweder im Lager Sachsenburg festgehalten oder – sofern sie ausländische Staatsbürger waren – des Landes verwiesen. In Chemnitz betraf dies die Kaufleute Dr. Erich Blumberg und Moritz Hermann. Von besonderer Tragik war der Fall des damals 42-jährigen Kaufmanns Willy Wertheim aus Meerane, der von Juni 1933 bis Juli 1935 mit einer „arischen“ Fabrikarbeiterin verlobt gewesen war34. Wegen „Rassenschande“ wurde er am 26.  August 1935 in „Schutzhaft“ genommen und zwei Tage darauf in das KZ Sachsenburg gebracht. Mit Verletzungen an den Handflächen, den Unterarmen und der Brust, die von schwersten Misshandlungen herrührten35, wurde Willy Wertheim bereits am 6.  September 1935 in das Städtische Krankenhaus am Küchwald in Chemnitz eingeliefert, wo er fünf 32  Vgl. Alexandra Przyrembel, „Rassenschande“. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003. 33  Warnung vor rassenschänderischem Umgang (Zeitungsartikel, ohne Angaben zur Provenienz). 34  StAC, 30063 Geheime Staatspolizei, Staatspolizeistelle Chemnitz, Nr. 0019. 35  Wiener Library, London, P IIIa, Nr. 571. Augenzeugenbericht „Rassenschänder“ im Dritten Reich. Vgl. auch Jürgen Nitsche, Jüdische Häftlinge in Sachsenburg. Eine erste Annäherung anhand des Schicksals des Meeraner Kaufmanns Willy Wertheim, in: Sachsenburg. Dokumente und Erinnerungen. Neuauflage, hrsg. v. Enrico Hilpert, VVN / BdA Stadtverband Chemnitz / Thiemo Kirmse, Rosa-Luxemburg-Stiftung Chemnitz, Chemnitz 2009, 58–66.

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Tage später starb. Weitere Beispiele könnten an dieser Stelle aufgezählt werden. Es seien nur die Namen des Arztes Dr. Kurt Boas aus Crimmitschau, des Kaufmanns Ernst Jacobsohn aus Mittweida oder des Händlers Israel Miller aus Chemnitz genannt. In der Folgezeit wurden die verurteilten „Rassenschänder“ oftmals zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Sie mussten die Strafen in den Zuchthäusern Bautzen, Waldheim oder Zwickau verbringen. Zu den wenigen Männern, die nach der Haftverbüßung noch auswandern konnten, gehörten der Arzt Dr. Curt Berliner und der Kaufmann Felix Leyser aus Chemnitz. Am 5.  August 1935 wurden 61 Juden und „Staatsfeinde“ von der Stadt Chemnitz aufgrund des „Gesetzes zur Änderung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes“ ausgebürgert36. Darunter befanden sich auch die bereits verstorbenen Kaufleute Juda L. Herzog, Aron S. Mandel, Moses Sternschuß und Nessaniel S. Weiss sowie die Witwe Clara Aspis37. Die Entrechtung der Chemnitzer Juden machte also selbst vor Toten bzw. deren Angehörigen nicht halt. Noch im selben Monat, und zwar am 23. August 1935, fassten der Oberbürgermeister und der Polizeipräsident der Stadt einen gemeinsamen Beschluss, mit dem Juden in Chemnitz zu unerwünschten Personen erklärt wurden. Der Beschluss hatte folgenden Wortlaut: „Der Zuzug von Personen jüdischer Rasse ist für Chemnitz ebenso unerwünscht wie für andere Orte, in denen die maßgebenden Behörden bereits Schritte gegen einen solchen Zuzug unternommen haben. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass solchen Personen jede öffentliche Unterstützung in offener Fürsorge versagt wird, und dass sie bei Unterkunftsschwierigkeiten ausnahmelos kurzfristig im Obdachlosenheim untergebracht und gezwungen werden, die Stadt wieder zu verlassen. – Im Übrigen werden alle Hausbesitzer und Vermieter von Untermietswohnungen nichtjüdischer Rassezugehörigkeit hiermit dringend gewarnt, neu nach Chemnitz zuziehenden Personen jüdischer Rassezugehörigkeit Unterkommen zu gewähren; […]38.

Die Schriftleitung der „Chemnitzer Tageszeitung“, des Sprachrohrs der Ortsgruppe der NSDAP, attackierte wenig später die 2.387 jüdischen Einwohner der Stadt als „Gäste, die uns lästig fallen“39. Im vorauseilenden Gehorsam verfolgte die Stadt Chemnitz damit erneut Ziele, die erst mit „Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939 Bestandteil des NS-Unrechts wurden. Sie bedrängte damit nicht nur die Vermieter, sondern ermunterte auch Mieter, gegen den Zuzug jüdischer Nachbarn vorzugehen. 36  Das „Gesetz zur Änderung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetztes“ wurde am 5. Mai 1935 erlassen. 37  Die Stadt räumt auf. In: Chemnitzer Neueste Nachrichten, Chemnitz, Nr. 184, 9.8.1935. 38  Vgl. Chemnitzer Tageszeitung, Chemnitz, 24. / 25. August 1935. 39  Vgl. Chemnitzer Tageszeitung, Chemnitz, 29. August 1935.



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Prompt erreichten den Oberbürgermeister zwei Schreiben der NSDAP-Ortsgruppen Brauhausviertel und Schlossteich, in denen die Zustände in dem Haus Rochlitzer Straße 3340 angeprangert wurden. Dort befand sich im Hinterhaus eine Mikwe, ein jüdisches Tauchbad, außerdem wäre das Haus als Versammlungsort genutzt worden. Im Herbst 1937 geriet auch die 1929 gegründete Bau- und Boden Aktiengesellschaft, die zahlreiche Immobilien auf dem Kaßberg, im Stollberger Viertel und in Kappel besaß, in die Kritik, weil diese weiterhin Juden41 in ihre Häuser aufnehmen würden. III. Von den „Nürnberger Gesetzen“ bis zum Novemberpogrom, 1935–1938 Am 17. Dezember 1937 wurden die Mitglieder der IRG Chemnitz von den Polizeibehörden aufgefordert, „Formulare zwecks Aufstellung einer Judenkartei“ auszufüllen42. Die Gemeindemitglieder sollten zwischen dem 20. Dezember 1937 und dem 18. Januar 1938 gestaffelt im Israelitischen Gemeindehaus (Mutschmannstraße 943) erscheinen. Zu diesem Zwecke sollten sie für sich und ihre Familie sämtliche Unterlagen (Pass, Familienstammbuch, Führerschein, Wandergewerbeschein und Gewerbelegitimation) mitbringen. Damit begann auch die statistische und polizeiliche Erfassung aller im Gemeindebezirk Chemnitz44 wohnhaften Juden. Die Anlegung einer reichsweiten „Judenkartei“ war bereits am 17. August 1935 durch die Geheime Staatspolizei auf den Weg gebracht worden45. Bereits im Oktober 1936 waren die evangelisch-lutherischen Pfarrämter aufgefordert worden, Auskunft über den Umfang der „Judentaufen“ wie auch „Mohrentaufen“ zu erteilen. So teilte das Evangelisch-lutherische Pfarramt St. Jakobi in Chemnitz noch im selben Monat dem Landeskirchenamt in Dresden mit, dass zwischen 1918 und 1934 fünf Judentaufen stattgefunden 40  Vgl. Rituelles Tauchbad (Mikwe). Rochlitzer Straße 33. In: Stadtarchiv Chemnitz (Hrsg.), Spurensuche (Anm. 12) 34 f. 41  Gemeint waren u. a. der Geschäftsführer Friedrich Cohn und der Kaufmann Boris Prilutzky, die in den Häusern Neefestraße 70 und 79 eine Wohnung hatten. 42  Archiv IRG Leipzig, Nr. 2 / 25 – Rundschreiben des Vorstandes der IRG Chemnitz an die Gemeindemitglieder, 17.12.1937. 43  Die Hohe Straße auf dem Kaßberg wurde 1933 in Mutschmannstraße umbenannt. 44  Die IRG Chemnitz war für die Juden zuständig, die in der Stadt und dem Umland wohnhaft waren. 45  Vgl. dazu Götz Aly / Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Frankfurt / M. 2000. – Die Chemnitzer „Judenkartei“ wurde vermutlich ein Opfer der Luftangriffe auf die Stadt im Frühjahr 1945.

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hätten. Eine Frau wäre 1918 zum Judentum übergetreten. Zu den getauften Juden gehörten u. a. der frühere Sänger und Kaufmann David Gedalia Langsam sowie der Hotelbetreiber Max Spielmann46. Einen weiteren Höhepunkt erreichte die Judenverfolgung im Jahre 193847. Im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ wurden im April und Juni 1938 bei zwei landesweiten Verhaftungswellen über 10.000 Personen als „Asoziale“ in Konzentrationslager verschleppt. Während der eher judenfeindlich ausgerichteten Juniaktion wurden auch in Sachsen jüdische Männer, die wegen geringster Delikte als vorbestraft galten, verhaftet. Nach vorliegenden Unterlagen wurden 14 Männer in Chemnitz verhaftet und am 14. Juni 1938 in das KZ Buchenwald48 gebracht, darunter sechs Männer jüdischer Herkunft und ein „Zigeuner“. Unter ihnen befand sich der Kaufmann und Weltkriegsteilnehmer Adolf Blumenfeld. Der frühere Landgerichtsrat Dr. Kurt Cohn erinnerte sich später an dessen Verhaftung: „So wurde der Sohn meiner Wirtin namens Blumenfeld wegen einer Jahre lang zurückliegenden Gefängnisstrafe ins KZ Buchenwald verschleppt. […] Nach einiger Zeit erhielten wir seinen Sarg […]. [Adolf Blumenfeld] hatte angeblich Selbstmord durch Hineinrennen in den elektrisch geladenen Stacheldraht begangen.“49 Georg Neumann, ein weiterer Kaufmann, starb am 7. Oktober 1938 in Buchenwald. Ihre Urnen wurden nach Chemnitz überführt und auf dem Jüdischen Friedhof im Ortsteil Altendorf beigesetzt. Marie Bogopolsky berichtete nach Kriegsende von der Gefangennahme ihres Ehemannes Joseph: „Nach einem glücklichen Familienleben wurde mein Ehemann am 3. Pfingstfeiertag 1938 auf Grund einer Sonderaktion gegen Juden und Geltungsjuden in unserer Wohnung verhaftet und – wie wir erst nach vier Wochen erfuhren – nach dem Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar geschleppt. Auf wiederholte Gesuche meinerseits gelang es mir, meinen Mann aus dieser Hölle zu befreien, und zwar auf der Basis, dass er sich verpflichtete, innerhalb eines Vierteljahres Deutschland zu verlassen. Er ging daraufhin im Januar 1939 unter den größten Gefahren illegal nach Belgien.“50

Zu den damals Verhafteten gehörte auch Ruths Bruder Philipp Lawenda. Der knapp 17-jährige Bürolehrling, der erstmals im Mai 1936 mit der NS46  Die getauften Juden gerieten später auch ins Visier der Geheimen Staatspolizei und wurden zwischen 1942 und 1945 verhaftet und deportiert. Nur Max Spielmann kehrte im Juni 1945 nach Chemnitz zurück. 47  Vgl. dazu u. a. Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München, Zürich 1998, Kapitel III. 48  Vgl. Harry Stein, Juden in Buchenwald 1937–1942. Gedenkstätte Buchenwald 1992, 15 ff. 49  Kurt Cohn, Bemerkungen (Anm. 12), 8. Adolf Blumenfeld starb am 10.  Juli 1938. 50  StAC, 30413, Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Nr. 9.2_02443.



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Strafgesetzgebung51 in Konflikt geraten war, wurde im Juni 1938 von der Geheimen Staatspolizei in Villach (Kärnten) verhaftet. Zuvor hatte er sich in Belgrad aufgehalten. Das Heimweh hatte ihn offensichtlich veranlasst, das sichere Staatsgebiet des Königreichs Jugoslawien zu verlassen. Philipp Lawenda wurde daraufhin am 21. November 1938 in das KZ Buchenwald verlegt. Die rechtliche Lage der Juden verschlechterte sich in dieser Zeit gravierend. So leitete die Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 17. August 1938 die weitere Diskriminierung der jüdischen Bürger ein. Sie zielte darauf ab, jüdische Deutsche anhand ihrer Vornamen kenntlich zu machen. Sofern sie nicht ohnehin bereits einen vermeintlichen jüdischen Vornamen52 trugen, wurden sie gezwungen, vom Januar 1939 an zusätzlich den Vornamen „Israel“ oder „Sara“ anzunehmen. Die Eheleute Manfred und Ruth Neumeyer, die erst im Januar 1937 in Siegmar-Schönau geheiratet hatten, kamen dieser Aufforderung bereits zwischen dem 31. Dezember 1938 und dem 28. Januar 1939 nach. Der Standesbeamte der Stadt Olbernhau hatte am 5. Januar 1939 die Beischreibung vorgenommen, wonach Ruth Lawenda fortan den Zusatz­ namen „Sara“ tragen musste. Die Mutter eines Zwickauer Juden verwechselte den Vornamen, als sie beim zuständigen Standesamt den Antrag gestellt hatte. Anstatt „Israel“ gab sie „Daniel“ an, woraufhin sie in das Standesamt vorgeladen wurde. Am 28. Oktober 1938 wurden 338 Chemnitzer Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet und nach Polen abgeschoben. Darunter befanden sich auch Familien aus Siegmar-Schönau und Glauchau sowie ein Technikumbesucher aus Mittweida. Das waren 78 Prozent aller polnischen Juden in Chemnitz. Etliche von ihnen hatten jahrzehntelang in dieser Stadt gelebt53. Ein Drittel von ihnen war sogar in Chemnitz geboren. So auch die 16-jährige Gerta Pfeffer. Rückblickend erinnerte sie sich im März 1940, bereits in England lebend, an diese verhängnisvollen Stunden, an ihre, wie sie es bezeichnete, „Austreibung aus Deutschland“: „Wir saßen eines Abends im Oktober 1938 bei Tisch, als ein junger Mann zu uns kam und erzählte, dass eine polnisch-jüdische Familie soeben verhaftet worden war. Eine quälende Unruhe bemächtigte sich unser. Ich sah durchs Fenster auf die Straße, sah hellerleuchtete, mächtige Polizeiautos durch die Straße fahren und fast 51  StAC,

30129 Amtsgericht Olbernhau, Nr. 518. Selbstverständnis der Nationalsozialisten waren zum Beispiel Abel, Isaac, Leiser, Moses oder Samuel bzw. Abigail, Gittel, Rachel oder Zipora jüdische Vornamen. – Vgl. auch Gerhard Kessler, Die Familiennamen der Juden in Deutschland. Leipzig 1935. 53  HStAD, MdI, Nr. 111 80 / 2. 52  Im

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nur bei Häusern halten, wo polnische Juden wohnten. Es war eine der Austreibungsaktionen von Juden im Gang, die damals so grassierten. Um elf Uhr nachts kam man auch zu uns. Die ganze Familie mußte mitkommen, wir durften nur Essen für 24 Stunden mitnehmen, sonst nichts. Erklärungen wurden uns keine gegeben. Ein Polizist, der mit mir Mitleid zu haben schien, fragte mich nach meinem Alter und tröstete mich, dass da ich noch jung sei, mir nichts passieren werde. Wir wurden in einen großen Gasthaussaal in der Stadt geführt, wo dicht zusammengedrängt schon eine Menge Leidensgenossen waren. Alle hatten ein verängstigtes, bleiches Gesicht, jeden quälte die Frage, was wohl die Nazibanden mit uns vorhatten. […] Meine ganze Familie54 musste in der Nacht einen Zettel unterschreiben, dass wir innerhalb von 24 Stunden das Land verlassen mussten. Wir waren natürlich sehr erregt und hatten noch immer keine Ahnung, wohin man uns eigentlich bringen werde. […]. Lange endlose Stunden fuhren wir mit dem Zug. Wir wußten nun, es ging nach Polen, wo wir sicherlich unerwünschte Gäste sein werden, obwohl wir polnische Staatsangehörige waren.“55

Die Ölhändlerwitwe Malka Lawenda blieb von der „Austreibung“ verschont. Sie und ihre Tochter Ruth konnten weiterhin in Olbernhau leben und mussten nicht den Weg in das ferne Grajewo in Ostpolen antreten, woher der verstorbene Ehemann bzw. Vater stammte. Im Laufe des Jahres 1933 war es in dieser Stadt zu antijüdischen Ausschreitungen gekommen. Wer keine Zuflucht bei Verwandten oder Bekannten in polnischen Städten fand, wurde in dem Lager Zbaszyn (deutsch: Bentschen) interniert. Im Frühjahr 1939 gestatteten die NS-Behörden ausgewählten Personen eine befristete Rückkehr nach Chemnitz. Die Festlegung war keine humanitäre Regung, sondern diente der Auflösung der Gewerbebetriebe und Haushalte. Einige der Rückkehrer nutzten die Gelegenheit, um sich in Sicherheit zu bringen. Anderen wiederum gelang es, dauerhaft in Chemnitz zu bleiben, wie die Eheleute Herschberg. Der einst wohlhabende Altwarenhändler Jacob Herschberg, der im Besitz des imposanten Hauses Dresdner Straße 66 war, starb jedoch wenige Monate später in Chemnitz. Die Mehrheit der Ausgewiesenen, die nach Kriegsausbruch zumeist in Ghettos leben mussten, wurde 1942 und 1943 in den Vernichtungslagern im Osten ermordet. Einige Chemnitzer Familien gehörten aber auch zu den Opfern schwerer antijüdischer Pogrome in den polnischen Gebieten, die nach dem September 1939 unter sowjetischer Zwangsverwaltung standen.

54  Zur Familie gehörten ihre Eltern Jacob und Rosa Pfeffer und ihre Geschwister Bella und Martha. 55  Gerta Pfeffer, [Meine Erlebnisse in Deutschland vor und nach 1933]. 50–56. Unveröffentlichtes Manuskript (Archiv der Harvard Universität). Die Aufzeichnungen wurden den Herausgebern freundlicherweise von Professor Dr. Detlef Garz, Fachbereich Erziehungswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, zur Verfügung gestellt.



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So hatten die Trödlerwitwe Betty Bank und ihre Kinder in der Stadt Lemberg (heute: Lwow) Zuflucht gefunden, die bald sowjetisch kontrolliert wurde. Ein letztes Lebenszeichen von ihnen war im April 1939 bei einer Verwandten in Dänemark eingegangen. Anfang Juli 1941 nahmen Hitlers Truppen Lemberg ein und organisierten in den ersten Tagen zusammen mit den ukrainischen Nationalisten antijüdische Pogrome. Während dieser Ausschreitungen wurden 2.000 Juden ermordet, darunter auch Betty Bank, die Tochter Nelli und die Schwester Rosa Morgenroth. Ihr Sohn Bernhard Bank war zu diesem Zeitpunkt bereits getötet worden. Er hatte in der Stadt Stryi, südlich von Lemberg gelegen, Arbeit gefunden und soll unter ähnlich tragischen Umständen bereits am 1.  Januar 1941 den Tod gefunden haben. Lange Zeit gingen die Angehörigen davon aus, dass er noch in Russland leben würde. Die Verfolgung der Juden polnischer Herkunft war zwar am 29. Oktober 1938 ausgesetzt worden, doch sollte sie nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu Ende geführt werden. Im Anschluss an den Befehl vom 7. September 1939 sollten alle noch im Land verbliebenen Juden mit polnischer oder ehemals polnischer Staatsangehörigkeit in der Folgezeit als „Schutzhäftlinge“ in Konzentrationslager gebracht werden. So wurden am 10. Oktober 1939 die Brüder Josef und Hermann Kleinberg als Häftlinge Nr. 8257 und 8258 der Verwaltung des KZ Buchenwald übergeben und dort in der Folgezeit ermordet. Ihr Bruder Leib Kleinberg, gegen den wegen angeblicher „Rassenschande“ in Chemnitz Ermittlungen eingeleitet worden waren, hatte sich bereits im Untersuchungsgefängnis auf dem Kaßberg das Leben genommen. Nur wenige der Ausgewiesenen überlebten und kehrten nach Kriegsende in die stark zerstörte Stadt Chemnitz zurück: Adolf Diamant56, Hans Herschberg, Fred Hillmann und Hans Kleinberg, später Gemeindevorsteher. So gab Letztgenannter gegenüber einem früheren Chemnitzer Juden an, dass er „in Polen auf falsche, arische Papiere“57 gelebt und sich dadurch gerettet hätte. IV. Vom Novemberpogrom bis zum Kriegsausbruch, 1938–1939 In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 inszenierten die National­ sozialisten deutschlandweit Pogrome, die den Kulminationspunkt der Judenverfolgung seit 1933 bildeten58. Die Chemnitzer Synagoge am Stephan56  Adolf Diamant (1924–2008) erwarb später durch die Herausgabe zahlreicher Bücher zur Geschichte der Juden und der Gestapo in Sachsen große Verdienste. 57  Archiv der JGC: Hans Kleinberg an Sally Reich, 7. August 1959. 58  Zum Verlauf des Novemberpogroms in Chemnitz vgl. Werner Kreschnak, Die Verfolgung der Juden in Chemnitz während der faschistischen Diktatur von 1933 bis 1945. Karl-Marx-Stadt 1988, 29–39.

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Abb. 11

platz (Abb. 11) wurde in Brand gesetzt und noch im selben Monat auf Anordnung der NS-Behörden abgerissen. Rabbiner Dr. Hugo Fuchs wurde schwer misshandelt und musste in einem städtischen Krankenhaus behandelt werden. Nach Auskunft eines Augenzeugen hätte ein „arischer“ Arzt für die Einweisung des Verletzten gesorgt. Professor Dr. Heinrich Kuntzen, Direktor der chirurgisch-gynäkologischen Abteilung des Krankenhauses an der Zschopauer Straße, war der Mediziner, der damals Zivilcourage bewiesen und dem Rabbiner vor Schlimmeren bewahrt hatte59. SA- und SS-Leute60 erschossen den langjährigen Direktor des Chemnitzer Warenhauses H. & C. Tietz, Hermann Fürstenheim (Abb. 12), am frühen Morgen des 10. November 1938 in seiner Villa auf dem Kaßberg (Weststraße 13)61. Er gehörte zu den 91 Toten, die es in jenen Tagen in Deutschland zu beklagen gab. 59  Vgl. Jürgen Nitsche, Der Rabbiner, der Professor und die „Kristallnacht“ in Chemnitz. Ein Beitrag zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht, in: Ärzteblatt Sachsen. Offizielles Organ der Sächsischen Landesärztekammer mit Publikationen ärztlicher Fach- und Standesorganisationen, Nr. 11, Dresden 2008, 603 f. 60  Werner Puchta, SA-Sturmbannführer, Werner Görmer, SA-Obersturmführer, Guido Immenthal, SS-Rottenführer und Kurt Müller, SS-Rottenführer. 61  Fürstenheims Urne wurde am 20. November 1938 auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt. Der Mord wurde in den 1950er Jahren in München



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Abb. 12

Während des Novemberpogroms wurden in Chemnitz und Umgebung 186 jüdische Männer verhaftet, darunter Ruths älterer Bruder Zalko Lawenda. Eine Zeitzeugin, die an jenem Tage mit dem Zug aus Olbernhau in Chemnitz eintraf, erinnerte sich später: „In der Bahnhofshalle (Abb. 13) sah ich große Gruppen von Menschen stehen, die keineswegs so aussahen, als wollten sie verreisen, denn sie trugen fast ausschließlich nur Bündel in der Hand und sahen verstört und bleich aus. – Während ich zu enträtseln suchte, was dieser sonderbare Aufzug darstellte, hörte ich einen Mann sagen: ‚Die Leute, die dort stehen, sind Juden, sie werden alle nach der Insel Rügen transportiert.‘ Wegschauend entgegnete ein anderer: ‚Rügen – das sagt man nur als Bestimmungsziel, in Wirklichkeit bringt man sie fort, sie werden alle erschossen! – Ich traute meinen Ohren nicht. Der Schreck fuhr mir in die Glieder, und die Großstadt kam mir plötzlich wie ein großes Raubtier vor.“62

Zum Glück irrte sich der zweite Mann, die Verhafteten wurden nicht erschossen. 172 Männer wurden an dem Tag mit Zügen der Deutschen Reichsbahn nach Buchenwald gebracht63. Weitere 14 Männer hielt man für einige Wochen im Gefängnis auf dem Kaßberg fest. Dr. Kurt Cohn, der zu fünf auswärts in „Schutzhaft“ genommenen Chemnitzer Juden gehörte, beschrieb später die katastrophalen Bedingungen, unter denen die Gefangenen in Buchenwald leben, ja vegetieren mussten: und Tübingen in gerichtlichen Untersuchungen gegen zwei der daran Beteiligten detailliert rekonstruiert. Vgl. Yad Vashem Archives, Nr. TR 10 / 12. 62  Vgl. Rottluff, Erinnern Sie sich noch? (Anm. 2). 63  Mit einer Gedenktafel wird seit dem 9.  November 2015 in der Lichthalle des Hauptbahnhofes Chemnitz an die „Judendeportationen“ erinnert.

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Abb. 13 „In Buchenwald wurden wir auf die Baracken I–V verteilt. Sie hatten kein Fundament und waren unzulänglich gebaut, dass sie von außen durch Schrägbalken abgestützt werden mußten. Zu den oberen Geschossen gab es keine Treppen oder Leitern. Man mußte an Vorsprüngen der Balken emporklimmen und dann wieder herabsteigen, was bei der Überbelegung schwierig war, wenn man nachts die primitive, hinter den Baracken gelegene Latrine aufsuchen mußte. […] Die Verpflegung war zunächst gänzlich unzulänglich. […] Unentschuldbar war der Wassermangel. Uns wurde von Defekten der Wasserleitung erzählt. Dem hätte aber durch Wasserwagen abgeholfen werden können. Der quälende Durst zwang uns zum Kauf von Mineralwasser – die Flasche zu einer Reichsmark und mehr. […] In den nächsten Tagen, in denen wir durch verschiedene Kommandos schikaniert wurden, starb eine große Zahl von Häftlingen. Ich sah, wie die Leichen auf Bahren zum Krematorium, genannt ‚Rost‘, vorbeigetragen wurden. Eine Anzahl von Häftlingen starb eines ‚natürlichen Todes‘, vor allem Alte und Kranke, die in den meisten Orten in erheb­ licher Zahl verhaftet worden waren. Sie konnten die mangelhafte Verpflegung, den Durst und die schlechte Unterbringung nicht aushalten. […].“64

Zu diesen Opfern zählten auch Max Conrad, Shlomo Salman Grünberg und Max Schindler aus Chemnitz sowie David Thorn aus Aue, alle anderen Verhafteten kehrten in der Regel binnen sechs bis acht Wochen in ihre Heimatorte zurück. Zalko Lawenda durfte erst am 3.  Februar 1939 zu seiner Ehefrau und einjährigen Tochter nach Olbernhau zurückkehren. 64  Kurt

Cohn, Bemerkungen (Anm. 12), 10 ff.



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Die Männer waren zwar wieder mit ihren Familien vereint, oft waren sie aber von den Entbehrungen und Misshandlungen in Buchenwald gezeichnet. Die Zahl der Opfer, die in der Folgezeit aufgrund der Haftfolgen verstarben, ist nur bedingt zu ermitteln. Fest steht, dass der Kaufmann Julius Steinberg bereits am 2. Dezember 1938 in einem Chemnitzer Krankenhaus verstarb, nachdem er erst wenige Tage wieder in Freiheit gewesen war. Der Kaufmann Max Moses Löwenstein erlag am 14.  Juli 1939 den Folgen der Haft. Es gab aber auch spätere Todesfälle, die auf Misshandlungen in den Po­ gromsonderlagern zurückzuführen waren, wie der Leidensweg des ehemaligen Patentingenieurs Gilel Reiter zeigte. Obwohl er nur 20 Tage in Haft war, kehrte er mit schwersten Nierenquetschungen zu seiner Ehefrau und ihren drei Söhnen in Chemnitz zurück. Da ihm die erforderliche medizinische Hilfe seitens des Leiters des Gesundheitsamtes verwehrt worden war, starb er am 18. Februar 1944 in der Stadt, in der er seit dem Herbst 1914 gelebt hatte65. Unter den zuerst Entlassenen befanden sich diejenigen, die der „Arisierung“ bzw. „Entjudung“ ihrer Unternehmen zugestimmt hatten, wie beispielsweise der Fabrikant Hans Mecklenburg66. Auch Inhaftierte, die eine „konkrete, alsbaldige Auswanderungsmöglichkeit bei der Geheimen Staatspolizei nachweisen konnten“, wurden nach einigen Wochen auf freien Fuß gesetzt67. Die Entlassenen erhielten die Auflage, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. Einen Eindruck von der nun einsetzenden dramatischen Fluchtbewegung vermitteln die Auswanderungszahlen. Vom 1. Januar bis 21. September 1939 emigrierten 452 Juden aus dem Regierungsbezirk Chemnitz nach England, Nord- und Südamerika, Palästina, Südafrika oder Australien. Bis zum 8. Dezember 1939 gelang weiteren 30 Personen die Auswanderung68. Allein im April verließen 72 Chemnitzer Juden ihre Heimat. Neunzehn von ihnen waren bis Januar 1939 in Buchenwald festgehalten worden69. Die erhoffte Einreise in die USA blieb für die meisten jedoch ein unerfüllba65  Gilel Reiter wurde an einem Wintertag auf dem Jüdischen Friedhof in Chemnitz „beigesetzt“, obwohl der Zugang für die Gemeindemitglieder seit dem Sommer 1943 gesperrt war. Die ordentliche Beisetzung des Verstorbenen fand erst nach Kriegsende statt. 66  Hans Mecklenburg erklärte sich am 26. November 1938 bereit, seine Färberei in Oberlungwitz zu verkaufen. 67  Kurt Cohn, Bemerkungen (Anm. 12), 18. 68  STAL, 20206, Oberfinanzpräsident Leipzig – Devisenstelle Nr. 802. 69  LBI New York, Archiv, Collection Saalheimer AR 36 / 6.  – Für die Monate ­April, Mai und Juni 1939 sind die Zahlen der „Abwanderung“ aus Chemnitz überliefert. April: 72, Mai: 52 und Juni: 48. In der Statistik wurden auch die Jugendlichen aufgeführt, die mit Hilfe der Kindertransporte gerettet wurden, sowie auch die, die auf Hachschara gingen.

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rer Traum70. Auch die Einreise nach Palästina gestaltete sich immer schwieriger. Ruths Brüder Zalko und Erich Lawenda konnten erst im Herbst 1939 in das Britische Mandatsgebiet auswandern. Einige jüdische Familien aus dem Chemnitzer Gemeindebezirk fanden daher nur in Schanghai eine letzte Zuflucht71. Miriam Brookfield, geb. Fleischmann, berichtete im März 2013 in den Räumen der Kunstsammlungen über ihr entbehrungsreiches Leben in der Enklave. Sie hatte dort mit ihren Eltern von 1939 bis 1947 gelebt. Nach Kriegsausbruch wurde das Exil, besonders in Holland72, Belgien, Norwegen oder Griechenland, für viele zur Falle, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Die Eheleute Dr. Fritz Gabriel und Flora Margot Cohn (Abb. 14), die erst im April 1939 nach Norwegen geflohen waren, wurden verhaftet und am

Abb. 14 70  So die Eheleute Avramovici, die seit Februar 1939 vergeblich auf die Einreiseerlaubnis in die USA gewartet hatten, und am 10. Mai 1942 nach Belzyce deportiert wurden. 71  Nach Schanghai, dem „Exil der kleinen Leute“, emigrierten u. a. die Familien des Schuhwarengroßhändlers Bernhard Balkind und des Kaufmanns Moritz Mecklenburg. Moritz Mecklenburg beging am 17. März 1945 Selbstmord in Schanghai (Archiv JGC, Paul Eilenberg, 1.11.1956). Seine Ehefrau Elise geb. Adler zog später nach England, wo sie 1959 verstarb. Vgl. auch Georg Armbrüster / Michael Kohlstruck / Sonja Mühlberger (Hrsg.), Exil Shanghai 1938–1947. Jüdisches Leben in der Emigration. Teetz 2000. 72  Zur Ermordung der Juden in Holland vgl. Gedenkboeken van de Oorlogsgravenstichting. In memoriam. Den Haag [o. J.].



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26. November 1942 über Stettin ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Viele Chemnitzer Juden verlegten ihren Wohnsitz innerhalb Deutschlands, vor allem in die Großstädte. Dieser Entschluss bewahrte sie jedoch in der Regel nicht vor der Deportation, wie die Schicksale von Deborah Silberstein, Hedwig Lachmann und Hans Erich Steinberg sowie der Kinder Stefan und Thomas Kaufmann zeigen. Sie wurden von Berlin73, Leipzig, Dresden oder Köln in den Osten verschleppt. Soziale Isolation, seelische Beklemmung und Hoffnungslosigkeit trieben immer mehr Juden in Deutschland in den Freitod. In der neueren Literatur wird daher vom „erzwungenen Freitod“ gesprochen. Konrad Kwiet und Helmut Eschwege schrieben bereits 1984 in ihrer Untersuchung über „Selbstbehauptung und Widerstand“, dass sich im Selbstmordverhalten der deutschen Juden nach 1933 „die verschiedenen Phasen und Ereignisse des Verfolgungsprozesses sowie der Zusammenbruch der deutsch-jüdischen Symbiose und internationalen Solidarität“74 widerspiegeln würde. Bereits unmittelbar nach der NS-Machtübertragung hatten Bedrängnis, Diskriminierung und Gräuelpropaganda bedrohliche Zeichen für die Lebensperspektive der jüdischen Menschen in Deutschland gesetzt. Erinnert sei an den Selbstmord der Geschäftsinhaberin Frida Blumenthal aus Meerane, die im Rahmen des weiter oben erwähnten „Judenboykotts“ aufgrund einer unbegründeten Anzeige verhaftet worden war. Obwohl die 48-jährige Geschäftsfrau sofort wieder entlassen wurde, „glaubte sie“, wie sich ihr Neffe Alfred Born später erinnerte, „nicht länger leben zu können“. Die verängstigte Witwe schied noch in der Nacht zum 3. April 1933 freiwillig aus dem Leben. Dem „wilden“ SATerror konnten in den Folgemonaten „Einhalt“ geboten werden, dennoch kam es auch zu weiteren Selbstmorden unter den Juden75. Die Auswirkungen der Nürnberger Rassengesetze zeigten sich auf besonders tragische Weise in dem Entschluss des Kaufmanns Paul Bruck, sich in der Nacht zum 13. Oktober 1938 das Leben zu nehmen. Er erhängte sich im Revier des Zeisigwaldes, eines beliebten Ausflugszieles in Chemnitz. Als Beweggrund wurde in der amtlichen Anzeige „vermutlich Schwermut, weil Nichtarier“ angegeben. Ihm wurde seine eigene Herkunft zum Verhängnis. Bereits am 8. Juli 1938 hatte er seinen „letzten Willen“ aufgesetzt und darin die Bitte geäußert, „ohne jeglichen Aufwand“ verbrannt zu werden. Dement73  Vgl. Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Berlin 1995. 74  Vgl. Konrad Kwiet / Helmut Eschwege, Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933–1945, Hamburg 1984, 194–215. 75  So schied beispielsweise der Fabrikant Daniel Flieg, Stefan Heyms Vater, am 9. Juli 1935 freiwillig aus dem Leben.

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gegen stehen die Suizide des Zahnarztes Dr. Curt Lichtenstein aus Chemnitz und des Kaufmanns Heinrich Chanange aus Annaberg, die sich aus Verbundenheit gegenüber ihren nichtjüdischen Ehepartnern in jenem Jahr das Leben nahmen. Die Motive für den Freitod der Juden änderten sich nach den schrecklichen Ereignissen des Novemberpogroms. Der Zusammenbruch der deutsch-jüdischen Symbiose war nunmehr eine vollendete Tatsache. Die Zahl der Selbstmorde nahm in den Folgemonaten zu. Die Chemnitzer Schuhwarengeschäftsinhaberin Jenny Fleischer und ihre 38-jährige Tochter Ilse suchten nach der Reichspogromnacht einen Ausweg aus ihrer aussichtlosen Lage. Der Verkauf ihres Geschäftshauses stand seit Juni 1938 unmittelbar auf der Tagesordnung, ebenso die „Arisierung“ ihres Geschäftes. Ihre Lage spitzte sich nach dem 10. November 1938 noch zu, nachdem ihr Geschäftspartner Dr. Ludwig Cohn, mit dem sie seit über 30 Jahren in Freundschaft verbunden waren, verhaftet und nach Buchenwald verschleppt worden war. Nunmehr völlig auf sich gestellt, beschlossen die Frauen, gemeinsam aus dem für sie unerträglich gewordenen Leben zu scheiden. Am Mittag des 19.  November 1938 wurden ihre leblosen Körper im Haus Holzmarkt 15 gefunden. Als Todesursache wurde von den Polizeibehörden „Freitod durch Rauchgasvergiftung“ angegeben. Von besonderer Tragik war der Freitod von Leo Elend (Abb. 15), der seit Juli 1938 Leiter der Jüdischen Sonderklassen in Chemnitz gewesen war. Während des Novemberpogroms war der Lehrer und Prediger in „Schutzhaft“ genommen und nach Buchenwald verschleppt worden. Als Weltkriegsteilnehmer durfte Leo Elend bereits am 28.  November 1938 nach Chemnitz zurückkehren. Zwei Wochen später wurde er, der seinen Beruf als Berufung

Abb. 15



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verstand, mit dem Beschluss der städtischen Schulbehörde konfrontiert, der Israelitischen Religionsgemeinde die Mittel und Räume für die Jüdischen Sonderklassen in der Brühlschule für Mädchen zu streichen und dem eigens eingestellten Personal zu kündigen. Die Schüler erhielten bis zum 5. Januar 1939 ihre Abgangszeugnisse. Im Februar 1939 konnte die Familie Elend endlich eine eigene Wohnung im 4. Obergeschoss des Hauses Markgrafenstraße 11 beziehen, nachdem sie ihre Dienstwohnung im Israelitischen Gemeindehaus aufgeben musste. Am 9. des Monats quittierte Leo Elend den Empfang des Zensurbuches seiner Tochter, die möglicherweise schon das Land in Richtung England verlassen hatte. Ende des Monats wurden Leo Elend all seine Vermögenswerte auf Anordnung der zuständigen Oberfinanzdirektion gesperrt. „Schwermut und Nervenzusammenbuch“ waren die Folge. Aufgrund der zunehmenden Ausweglosigkeit fasste Leo Elend am Abend des 7. März 1939 einen folgenschweren Entschluss. Er nahm „große Mengen Schlafmittel“ ein. Am Folgemorgen fand seine Ehefrau ihn bewusstlos in der Wohnung und rief sogleich die Feuerschutzpolizei. Das Krankenauto brachte den leblosen Körper „ohne ärztliches Zeugnis“ um 8.30 Uhr in das Stadtkrankenhaus im Küchwald. Die Ärzte diagnostizierten schwerste Vergiftungserscheinungen und konnten den Lehrer nicht mehr ins Leben zurückrufen. Die Staatsanwaltschaft gab den Leichnam des beliebten Erziehers am Morgen des 9. März 1939 frei. Seine sterblichen Überreste wurden am 13. März 1939 im Krematorium eingeäschert und am Folgetag auf dem Jüdischen Friedhof im Ortsteil Altendorf beigesetzt. Nach dem Novemberpogrom wurde die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung schnell vorangetrieben. Die fortwährenden Repressalien, die jeden Tag zum Überlebenskampf werden ließen, führten unter anderem am 30. April 1939 zu dem „Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden“. Mit dem Gesetz wurde der allgemein verbindliche Mieterrechtsschutz, der bislang auch für die Juden in Deutschland galt, aufgehoben. Dies hieß, Juden konnte von ihren (nichtjüdischen) Vermietern gekündigt werden, sofern diese durch eine Bescheinigung der kommunalen Behörden Ersatzwohnraum nachweisen konnten. Juden durften nur noch mit Juden Untermietverträge abschließen und sie konnten leer stehende oder freiwerdende Räume nur mit Zustimmung der kommunalen Behörde neu vermieten. Die Behörde ihrerseits konnte fortan jüdische Hausbesitzer und Hauptmieter zwingen, andere Juden als Mieter oder Untermieter aufzunehmen. Diese und weitere, die Rechte von Juden beschränkende Vorschriften, blieben bei „Mischehen“, wenn die Ehefrau jüdischer Herkunft war oder Kinder vorhanden waren, ohne Anwendung. Wenn jedoch der Ehemann jüdischer Abstammung war, konnte die kommunale Behörde das Gesetz anwenden, wie das Schicksal des Chemnitzer Arztes Dr. Adolf Lipp zeigte. Die Behörde zwang ihn, sich räumlich von seiner schwerkranken Ehefrau, einer nichtjüdischen Fabrikantentochter, zu trennen.

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Alle Hauseigentümer, Hausverwalter und Hauptmieter wurden aufgefordert, vorhandene Mietverhältnisse mit Juden bei den kommunalen Behörden zu melden. Nach dieser „Bestandsaufnahme“ konnten die jüdischen Mieter auf eine begrenzte Zahl von Häusern in den Städten „umgelenkt“ werden. Den noch in Chemnitz verbliebenen Juden (oftmals nur Witwen oder Greise) wurde Wohnraum in festgelegten Mietshäusern zugewiesen, wo sie unter besonderer Aufsicht des NS-Staates standen. Diese Häuser – nunmehr abwertend als „Judenhäuser“, andernorts als „Ghettohäuser“ (z. B. in Plauen oder Weimar) bezeichnet – waren bis dahin zumeist in Besitz jüdischer Personen oder Organisationen. Oft waren es Häuser, in denen bis zum 28. Oktober 1938 jüdische Familien mit polnischer Staatsangehörigkeit gewohnt hatten. Die Wohnungen standen nach deren Ausweisung zwar leer, waren aber versiegelt. Erst, nachdem entweder die Hausbesitzer oder die Hauptmieter im Frühjahr 1939 vorübergehend nach Chemnitz zurückkehrten, um ihre Häuser zu verkaufen bzw. ihre Wohnungen aufzulösen, konnte die kommunale ­Behörde über diesen Wohnraum verfügen. Das Haus Zschopauer Straße 74 wurde solch ein „Judenhaus“76. Mangels überlieferter Dokumente der kommunalen Behörde kann nur anhand früherer Chemnitzer Adressbücher und Erinnerungen von Zeitzeugen rekonstruiert werden, wie die judenfeindliche Wohnungspolitik vor Ort aussah. 1940 und 1941 enthielten die Adressbücher gesonderte Verzeichnisse, in denen die „Jüdischen Einwohner deutscher Staatsangehörigkeit einschließlich staatenloser Juden“ der Stadt – mit wenigen Ausnahmen – gesondert erfasst waren. Die Auswertung der Adressbücher der Stadt Chemnitz zeigte, dass mindestens drei Viertel der jüdischen Haushaltsvorstände bis 1942 ihre ­Wohnungen wechselten. Für einige Familien traf dies sogar fast jährlich zu. Nachdem die Eheleute Karl und Eva Flieg zunächst gezwungen waren, ihre Wohnung auf dem Kaßberg aufzugeben, mussten sie im Oktober 1939 in das „Judenhaus“ Äußere Klosterstraße 2 ziehen, wo sie sich mit Else FliegFuchs, Stefan Heyms Mutter, und drei weiteren Personen eine kleine Wohnung teilten. Ihr in Brasilien lebender Sohn Hans Günter kennt noch heute die Namen der Mitbewohner: Paul und Fanny Archenhold (Abb. 16) sowie Elsa Hauptmann. Irmgard Claus, eine couragierte Fabrikantentochter, die bis zuletzt zu ihren „jüdischen Freunden“ in Chemnitz stand, besuchte sie oft, obwohl dies nicht erlaubt war. Sie erinnerte sich später, dass die winzige Küche von allen Mietern gemeinsam benutzt wurde, und bemerkte diesbezüglich: „Zum Glück passten diese sechs Menschen einigermaßen zusammen, so dass es in dieser Wohnung harmonisch zuging.“77 76  Vgl. Jürgen Nitsche, „Judenhäuser“ in Chemnitz. Das Haus Zschopauer Straße 74, in: Führerschule, Thingplatz, „Judenhaus“. Orte und Gebäude der nationalsozialistischen Diktatur in Sachsen. hrsg. v. Konstantin Herrmann, Dresden 2014.



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Abb. 16

Bis Ende 1941 waren die Konzentrierung und die damit verbundene wachsende Isolierung der jüdischen Einwohner in Chemnitz weitgehend abgeschlossen. Zwei Drittel der noch in der Stadt wohnhaften Juden lebten damals in „Judenhäusern“. Dazu gehörten auch das Haus Antonplatz 15, das im Februar 1940 zu einem Jüdischen Alten- und Siechenheim umgebaut, und das Haus Zöllnerstraße 6, das bereits im Frühjahr 1939 zum Sitz der Jüdischen Kultusvereinigung, der „letzten Zufluchtsstätte der Chemnitzer Juden“, ausgebaut worden war. Gleichzeitig mit der Regelung der „jüdischen Wohnungsfrage“ war der zwangsweise Umzug der Juden aus dem Umland nach Chemnitz verbunden. So wurde die Kaufmannswitwe Frieda Bach bereits am 14. Juli 1939 gezwungen, ihre Wohnung in Mittweida aufzugeben. Malka Lawenda (Abb. 17) aus Olbernhau ereilte im Juni 1940 dasselbe Schicksal. Ihr wurde eine Wohnung in dem Haus Dresdner Straße 4 zugewiesen, das noch im Besitz des jüdischen Kaufmanns Richard Sander war. Auch für ihre elfjährige Tochter Ruth begann ein neuer Lebensabschnitt. Sie musste sich 77  Vgl. Irmgard Claus, Meine armen jüdischen Freunde. o. D. Privatbesitz: Ruth Geller (Israel).

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Abb. 17

von der ihr vertrauten Umgebung an der Blumenauer Straße in Olbernhau verabschieden. Erfreut war sie offensichtlich, dass sie in der Notunterkunft auf ihre älteste Schwester Chana Zylberstein und deren Tochter Sonja traf, die bis 1939 in Plauen gewohnt hatten. Die rücksichtslose Verkleinerung des Wohnraums bedeutete für die Juden den Verlust ihrer Wohnungseinrichtungen und damit ihrer letzten Vermögenwerte, wie dies aus überlieferten Unterlagen der Devisenstelle Chemnitz hervorgeht. V. Vom Kriegsausbruch bis zur Vernichtung der deutschen Juden, 1939–1945 Im Sommer 1947 wandte sich die Chemnitzer Kriminalpolizei in einer Anfrage an die wiedergegründete Jüdische Gemeinde, um das Schicksal der Chemnitzer Juden in den Kriegsjahren aufzuklären. Der Vorstandsvorsitzende Siegbert Fechenbach (Abb. 18) sah sich zwei Jahre nach Kriegsende jedoch nicht in der Lage, die Fragen anhand von authentischen Unterlagen zu beantworten. Er wies darauf hin, „dass sämtliche Akten der Israelitischen Gemeinde s. Zt. durch den SD (Sicherheitsdienst – d. Verf.) vernichtet“ worden



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Abb. 18

Abb. 19

seien78. Dazu kam, dass die letzten Unterlagen, die der letzte Chemnitzer Vertrauensmann der Reichsvereinigung der Juden im Deutschland, Dr. Adolf Lipp (Abb. 19), besessen hatte, bei der Bombardierung im Frühjahr 1945 vollständig verbrannt waren. Fechenbachs Schreiben ist unter anderem zu entnehmen: „1943 begannen dann auch die Abtransporte der Invaliden und 78  Archiv JGC. Siegbert Fechenbach an Kriminalpolizei Chemnitz, 28.9.1947 (Kopie). – Das Schreiben der Kriminalpolizei ist nicht überliefert.

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Kranken, auch Bettlägerigen nach Theresienstadt. Man räumte eines Tages 1943 das Jüdische Altersheim am Antonplatz und schaffte sämtliche Insassen nach Theresienstadt. Der letzte Transport dorthin wurde im Februar 1945 vorgenommen. […] Insgesamt wurden ca. 350–400 Personen nach 1942 aus Chemnitz weggeschafft.“79 Gegenüber dem Sächsischen Landesverband der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) machte Fechenbach anderthalb Jahre später folgende Angabe, „durch Auswanderung und Wohnungswechsel verlor die Gemeinde ca. 1.200 Seelen, durch die Nazis wurden ermordet ca. 600 Personen, es leben noch hier 55 Personen.“80 Die Angaben, obwohl vom Gemeindevorsteher „frei aus dem Gedächtnis rekonstruiert“81 und nicht immer korrekt, vermitteln ein erstes Bild von den Deportationen in den Jahren 1942 bis 1945: Insgesamt gab es aus dem Chemnitzer Gemeindebezirk zwischen Januar 1942 und Februar 1945 acht Deportationen, in deren Verlauf über 300 Personen den „Weg ins Ungewisse“ antreten mussten. Wenn man die Ausweisung der polnischen Juden vom 28. Oktober 1938 hinzurechnet, waren es tatsächlich über 600 Personen, wie Fechenbach angab. Über Organisation und Ablauf der einzelnen Deportationen liegen nur spärliche Angaben vor. Die fragmentarische Quellenüberlieferung lässt keine umfassende Darstellung der Geschehnisse in Chemnitz zu. Fest steht aber, dass unter den 785 sächsischen Juden, die am 21. Januar 1942 in das Ghetto Riga deportiert worden waren, keine Juden aus Chemnitz, Plauen, Zwickau oder Annaberg waren82. Allerdings befanden sich Gertrud Beck83, die bis 1938 in Chemnitz gelebt hatte, und ihre Söhne Karl und Edgar unter den Leipziger Juden, die in den Zug nach Riga steigen mussten (Abb. 20). Mit Zügen der Deutschen Reichsbahn wurden am 10. Mai 1942 132 Chemnitzer Juden  – darunter neun Kinder  – nach Leipzig gebracht und von dort in das Ghetto Belzyce bei Lublin deportiert. Sie erhielten die Aufforderung, sich im Innenhof der Staatlichen Akademie für Technik84 einzufinden. Die meisten der Betroffenen waren zwischen 30 und 65 Jahre alt, über 100 Personen besaßen die deutsche Staatsangehörigkeit. Zu den Deportierten ge79  Ebd.

80  Archiv JGC. Siegbert Fechenbach an Landesverband VVN, Bundesland Sachsen, Dresden, 16.3.1949. 81  Vgl. Jean Imgrund an Inge Imgrund, 11. Mai 1942. Privatbesitz Inge Schmidt (Stuttgart). 82  Vgl. Ellen Bertram, Menschen ohne Grabstein. Gedenkbuch für die Leipziger jüdischer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, 2. Aufl., Leipzig 2011, 49–54. Es wurden ausschließlich Juden aus Leipzig und Dresden deportiert. 83  Gertrud Beck war von 1934 bis 1938 Sekretärin des Chemnitzer Rabbiners Dr. Hugo Fuchs. 84  Heute Hauptgebäude der Technischen Universität Chemnitz.



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Abb. 20

hörten aber auch über 30 inzwischen staatenlose Frauen, die vormals die polnische Staatsbürgerschaft besessen hatten. Unter den Frauen befand sich auch die damals 58-jährige Fabrikantenwitwe Hedwig Doerzbacher, die sich am 7. Mai von ihren Freunden und Bekannten mit einem herzbewegenden Kartengruß verabschiedete. Sie wusste, dass ihr in wenigen Tagen der „Weg hinaus in die kalte Welt und ins Ungewisse“ bevorstand. Sie schrieb: „Gott wird uns führen und so müssen wir unser Los tragen.“85 Ruth Lawenda und ihre Verwandten begleiteten die einst wohlhabende Witwe auf ihrem Weg ins Ungewisse. Sie ahnte damals nicht, dass das Leben ihres Bruders Philipp bereits am 11. März 1942 in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Bernburg (Saale) ein gewaltsames Ende gefunden hatte86. Er war Opfer der geheimen Tötungsaktion „14f13“ geworden, in deren Rahmen „invalide Häftlinge“ selektiert und in den Euthanasieanstalten Bernburg, Pirna-Sonnenstein und Hartheim getötet wurden87. 85  Hedwig Doerzbacher an Inge Imgrund, 7. Mai 1942, Privatbesitz Inge Schmidt, Stuttgart. 86  Die Urne mit seinen sterblichen Überresten wurde erst am 24. Juni 1942 zur Beisetzung auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee angemeldet. Eine Beisetzung in Chemnitz kam nicht in Frage, da der „Wohnsitz“ des Verstorbenen nicht bekannt war. 87  Die Chemnitzer Kaufleute Chaim Dataschwili und David Leib Nachmann befanden sich unter den Opfern der Aktion 14f13, die in Bernburg ermordet wurden.

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Am 12. Mai 1942 kam der Sonderzug mit den Juden aus Mitteldeutschland in Belzyce an. Die Neuankömmlinge sahen sich äußerst schwierigen Lebensbedingungen ausgesetzt. Es mangelte an allem: Keine Tag- und Nachtwäsche, keine Strümpfe, keine bezahlte Arbeit88. Über das weitere Schicksal der Chemnitzer Juden ist kaum etwas überliefert89. Im Oktober 1942 wurde das Ghetto aufgelöst, die meisten der jüngeren Bewohner wurden nach Majdanek verschleppt. Nach Berichten einer Augenzeugin wurden Ende Oktober insgesamt 5.300 Juden aus Belzyce und Umgebung zusammengetrieben und in den Gaskammern der umliegenden Vernichtungslager ermordet90. Es liegen nur wenige Berichte jüdischer Überlebender aus Chemnitz vor. Nur eine junge Frau aus dem Transport kehrte zurück. Wie durch ein Wunder überlebte die damals 17-jährige Inge Heinel aus Glauchau (Abb. 21) die Zeit in Belzyce und Majdanek. Sie wurde später nach Auschwitz91 verschleppt und überstand selbst die Sklaven- und Zwangsarbeit in diesem Vernichtungslager92. Nach unbestätigten Berichten soll auch ihre Mutter Else Heinel überlebt haben. Anita Maier, die nichtjüdische Ehefrau eines Chemnitzer Juden, gab im April 1948 vor dem Amtsgericht Chemnitz folgende eidesstattliche Erklärung ab, als sie über den Verbleib der Eheleute Motulski aus Zschopau Auskunft geben sollte: „Ich habe mit den Eheleuten Motulski im Hause gewohnt und freundschaftlich verkehrt. Am 10. Mai 1942 wurden die Eheleute nach Belzyce, Kreis Lublin, abtransportiert. Sie haben mir einige Male geschrieben, die letzte Post erhielt ich im April 1943. Seitdem habe ich nie wieder ein Lebenszeichen von ihnen erhalten.“ Laut dem Bericht der überlebenden Inge Heinel soll Frieda Motulski im Jahr 1943 gestorben sein. Emil Motulski war damals bereits von seiner Ehefrau getrennt und in das Lager Auschwitz gebracht worden. Wie lange Ruth Lawenda und ihre Verwandten noch in dem überfüllten Ghetto lebten, ist nicht überliefert.

88  Alfred Lachmann an Gerhard Frank, 8.  Juni 1942, Privatbesitz, Erben der Eva Feuchtwanger (Israel). 89  Bekannt ist lediglich, dass Oskar Simon am 31. Juli 1942 in Chodel bei Lublin „verstarb“. Eugen Simon an Georg Simon, 14. September und 28. Oktober 1942. Privatbesitz, Erben des Georg Simon (Dänemark). 90  Zit. nach Harry Stein, Rede zur Eröffnung der Belzyce- Ausstellung in Leipzig. Juni 2002 (Mskr.), 6. 91  Vgl. Robert Jan van Pelt / Debórah Dwork, Auschwitz. Von 1270 von heute. Zürich / München 2000, 339 ff. 92  Nach ihrer Befreiung wohnte Inge Heinel zunächst in Frankfurt / M., 1946 wanderte sie in die USA aus.



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Abb. 21

Am 13. Juli 1942 wurden weitere 18 Chemnitzer Juden in das Ghetto Belzyce deportiert93. Darunter befand sich auch der Arzt Dr. Alfred Lachmann, der, wie eingangs berichtet, unmittelbar vor dem ersten Transport versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Fechenbach erinnerte sich nach Kriegsende weiter: „Zurück blieben bestimmte Invaliden, höhere Altersklassen, Lehrer, in der Gemeinde Beschäftigte, Ärzte und von der Industrie reklamierte Juden. Insgesamt mögen es von Chemnitz etwa 200 Personen gewesen sein“.94 Ruths langjähriger Schulleiter Hermann Jungmann, der im August 1939 eigens nach Chemnitz gezogen war, um die Leitung der neugegründeten Privaten Jüdischen Volksschule zu übernehmen, war einer der deportierten Gemeindemitarbeiter. Einige Chemnitzer Juden wurden wegen angeblicher Vergehen, unerlaubtem Besitz von Lebensmitteln oder Tabakwaren auch außerhalb der großen Deportationstransporte nach Auschwitz oder in andere Konzentrations- und Vernichtungslager gebracht, wie der Fabrikant Albert Peretz, der ehemalige Arzt Dr. Max Katz und sein Sohn Hans. 93  Unter den Chemnitzern befanden sich die Eheleute Salgo. Sie besaßen die ungarische Staatsangehörigkeit und hatten bis zuletzt auf die Einreiseerlaubnis nach Ungarn gehofft. 94  Vgl. Anm. 71.

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Am 27. Februar 1943 kam es zu einer reichsweiten Aktion, bei der die jüdischen Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie verhaftet wurden. In dem als „Fabrik-Aktion“ bezeichneten Vorgehen wurden auch Jüdinnen und Juden verhaftet, die bisher durch ihren Status als „Mischlinge“ oder durch eine „Mischehe“ geschützt waren. In Chemnitz wurde unter anderen der 17-jährige Justin Sonder95 in Gewahrsam genommen. Nachdem er einige Tage im Polizeigefängnis Hartmannstraße in Chemnitz festgehalten worden war, brachte man ihn Anfang März in das „Judenlager Hellerberg“ in Dresden, von wo er mit anderen „Rüstungsjuden“ und den Insassen des Lagers nach Auschwitz deportiert wurde96. Die Liste der Chemnitzer Juden ist nicht überliefert. Bekannt ist aber, dass zu den Deportierten auch etliche Personen gehörten, die sich bis dahin um die Belange der noch in Chemnitz lebenden Juden gesorgt hatten: Dr. Ludwig Katzenstein („jüdischer Krankenbehandler“), Käthe Simon (Krankenschwester im Jüdischen Altersheim) und Susanne Schwarzwald (Vorstandsmitglied der Jüdischen Kultusvereinigung). Unter den Verhafteten waren

Abb. 22 95  Vgl. Klaus Müller / Justin Sonder, 105027 Monowitz. Ich will leben! Von Chemnitz nach Auschwitz – über Bayern zurück, Berlin 2014 und Margitta Zellmer, Chemnitz, Auschwitz und zurück. Aus dem Leben von Justin Sonder, Chemnitz 2014. 96  Vgl. Marcus Gryglewski, Zur Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Dresden 1933–1945. In: Norbert Haase / Stefi Jersch-Wenzel / Hermann Simon, Die Erinnerung hat ein Gesicht. Leipzig 1998, 138 ff.



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Abb. 23

auch zwei Männer, die nicht in Chemnitz wohnten: der Schuster Georg Primo aus Niederwürschnitz und der Kapellmeister Erwin Pollini (Abb. 22) aus Zwickau. In einigen Fällen wurden die nichtjüdischen Ehepartner über den Tod der Deportierten informiert. So erhielt Johanna Simon am 2. Juni 1944 vom Sonderstandesamt Auschwitz die offizielle Nachricht, dass ihr Ehemann Eugen Simon (Abb. 23) am 17. April 1943 in Auschwitz „verstorben“ sei. Justin Sonder und Erwin Pollini überlebten den Transport und kehrten nach Kriegsende nach Sachsen zurück. Bereits Anfang September 1942 war Kurt Benjamin, der Verwaltungsstellenleiter der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in Chemnitz, davon in Kenntnis gesetzt worden, dass auch die Chemnitzer Juden in das Altersghetto in Theresienstadt in Nordböhmen übersiedeln müssten. Dies bezog sich auch auf Familien in Annaberg, Plauen und Zwickau. Den betroffenen Personen war zuvor vorgespiegelt worden, sie wären bis an ihr Lebensende „gut versorgt“, wenn sie „Heimeinkaufsverträge“ abschließen würden. So ist überliefert, dass Henriette Frensdorf, bis 1930 Oberin in der Städtischen Nervenheilanstalt in Chemnitz, die zuletzt in dem Jüdischen Alten- und ­Siechenheim lebte, einen solchen Vertrag abschloss97. Sie hatte sich damit verpflichtet, ihr gesamtes Bankguthaben an das extra dafür eingerichtete Sonderkonto „H“ des Berliner Bankhauses Tecklenburg & Sohn zu überweisen.

97  Vgl.

Archiv IRG Leipzig. Heimeinkaufsvertrag Nr. V 763.

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Von den Chemnitzern Juden, die seit September 1942 nach Theresienstadt98 deportiert wurden, kamen 35 im Ghetto um. 16 Frauen und vier Männer wurden noch im September 1942 nach Treblinka, 22 Frauen, Männer und Kinder zwischen Januar 1943 und Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert. Von denen kehrte lediglich Leo Sonder (Abb. 24) im Juni 1945 nach Chemnitz zurück. Am 5. Februar 1945 konnte das Leben von 1.200 Menschen aus Theresienstadt, darunter von zwei Chemnitzerinnen, durch eine humanitäre Hilfsaktion der Schweiz gerettet werden. Anna Horn und Clara Fleischmann (Abb. 25 + 26) waren die glücklichen Frauen, die damals befreit wurden und sich auf dem Weg zu ihren Verwandten machen konnten99. Für den nächsten Transport nach Theresienstadt war der 29. März 1943 festgelegt worden. Die Juden aus Chemnitz und Plauen wurden über Dresden nach Theresienstadt gebracht. Unter den sechs Deportierten aus Chemnitz befanden sich das Ehepaar Wangenheim, Simon Eis und Mircia Wieselberg. Sie waren von der Deportation im September 1942 zurückgestellt worden. Henriette Frensdorf wurde am 17. Mai 1944 nach Auschwitz verlegt und gilt seitdem als verschollen. Am 21. Juni 1943 folgte ein weiterer Transport nach

Abb. 24 98  Vgl. Theresienstädter Gedenkbuch. Die Opfer der Judentransporte aus Deutschland nach Theresienstadt 1942–1945. Prag 2000. 99  Die damals 48-jährige Anna Horn reiste weiter nach England, wo ihre Tochter Hannelore seit 1939 lebte. Am 26.  April 1960 starb sie in Manchester.  – Clara Fleischmann wartete in der Schweiz auf ihren Sohn Willy und dessen Familie, die seit 1939 in Schanghai Zuflucht gefunden hatten. Bevor sie die Einreisegenehmigung in die USA in den Händen halten konnte, starb sie jedoch am 29. April 1948 in der Gemeinde Castagnola (heute ein Stadtteil von Lugano).



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Theresienstadt, der die Auflösung des Jüdischen Altenheimes bedeutete. 15 Chemnitzer Juden waren davon betroffen, die Damenschneiderin Mera Schapira-Kartuson starb noch unmittelbar vor dem Abtransport auf dem

Abb. 25

Abb. 26

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Bahnhof in Chemnitz. Zu den Deportierten gehörten auch Jetti Mühlfelder, die Witwe des zweiten Chemnitzer Rabbiners100, und Kurt Benjamin, der langjährige Sekretär der Israelitischen Religionsgemeinde in Chemnitz. Am 11. Januar 1944 wurden vier weitere Chemnitzer Juden ins Ghetto deportiert. Darunter befand sich der Bauarbeiter James Gottschalk, der bis 1942 in Zwickau gelebt hatte. Am 14. / 15. Februar 1945 wurden die letzten Juden aus Chemnitz, Plauen, Zwickau und Annaberg nach Theresienstadt deportiert. 57 Personen sollten sich im Innenhof der Staatlichen Akademie für Technik zum Abtransport einfinden. Am Abend des Vortages vergiftete sich jedoch der ehemalige Handelsvertreter Gustav Glaser101. Seine nichtjüdische Ehefrau Martha folgte ihm aus Verbundenheit in den Tod. Unter den Deportierten befanden sich auch Siegmund Rotstein, der von 1966 bis 2006 die Jüdische Gemeinde Chemnitz leiten sollte, und sein jüngerer Bruder Roland (Abb. 27). Frieda Eckstein (Abb. 28) aus Lengenfeld (Erzgebirge) verfasste nach Kriegsende einen fesselnden Bericht über ihre Inhaftierung: „Am 7. Februar 1945 erhielt ich durch die hiesige Polizei die Mitteilung, dass ich mich zum Arbeitseinsatz nach Theresienstadt einzufinden und am 13. Februar mit dem Frühzug sechs Uhr in Plauen bei der Gestapo zu sein habe. Dort angekommen, wurden wir öfters registriert und jeder musste sein Fahrgeld (11,80 Reichsmark) noch selbst bezahlen. Nachdem der Transport zusammengestellt war, ging es in Tempo unter Kommando und Bewachung zum Bahnhof. Die Leute blieben zwar stehen und sahen uns mitleidig an, denn viele trugen ja den Judenstern und man wusste gleich, wer wir waren. Von Plauen bis Chemnitz ließ man uns so einigermaßen im Personenwagen. In Chemnitz wechselte die Gestapo, die Nacht waren wir in der ehemaligen Akademie untergebracht, als Lager diente uns die Erde und [wir] bekamen so langsam einen Vorgeschmack von den Dingen, die da kommen sollten. Der schwere Terrorangriff auf Dresden am 13. / 14. [Februar] ließ uns hoffen, dass wir wieder zurück müssen, aber wir wurden eines Besseren belehrt. Am 14. Februar, früh um 6 Uhr wurden wir wie Schlachtvieh in Viehwagen verfrachtet. Die Fahrt dauerte drei Tage, ohne Sitzgelegenheit, ohne Essen und Trinken. Ging mal ein Zug, so wurden unsere Wagen mit angehängt, sonst standen wir stundenlang auf totem Gleise und [waren] allen Bombenangriffen in fest mit Eisenstangen verschlossenen Wagen ausgesetzt. Trotzdem brachten sie uns noch nach Terezin, und als sich die Tore hinter uns schlossen, wussten auch wir, dass wir verloren sind, wenn uns nicht von irgendwelcher Seite Hilfe kommt. Die Aufnahme geschah in so 100  Dr.

Jacob Mühlfelder (188–1907). Glaser hatte bis 1942 als Hilfsgärtner und Turnlehrer auf dem Jüdischen Friedhof gearbeitet. Von der Geheimen Staatspolizei wurde er mehrfach beauftragt, „Ascheurnen von zu Tode gekommenen Chemnitzer Juden“, so von Albert und Lina Peretz, die am 3. Mai 1943 Selbstmord begangen hatten, aber auch von anderen Personen auf dem Gemeindefriedhof zu vergraben. Vgl. Adolf Diamant, Gestapo Chemnitz und die Gestapoaussenstellen Plauen i. V. und Zwickau. Chemnitz 1999, 452. 101  Gustav



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Abb. 27

Abb. 28 schamloser Art und Weise, vor allem für uns Frauen. Das Geld wurde uns restlos abgenommen, ebenso der Schmuck, manchem sogar die Trauringe. Jeder hatte Angst vor der SS und ihren großen Hunden. Manche Frauen wurden auch noch geschlagen. Auch sahen wir […] die politischen Häftlinge, die von ganz jungen Bengels mit Maschinengewehren bewacht und von diesen geschlagen wurden. […].“102 102  STAC, 30413, Nr. 9.2_2996. – Die letzten Worte von Frieda Eckstein, die 1955 in Lengenfeld gelebt hatte, bezogen sich u. a. auf den Mord an dem Chemnitzer Juden

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Während der Transport V / 11 von Chemnitz nach Theresienstadt stattfand, kam es nicht mehr zu der für den Folgetag geplanten Deportation mit Juden aus Dresden. Die Bombardierung der Stadt am 13. / 14.  Februar 1945 führte dazu, dass die Dresdner Juden, die bereits den Deportationsbefehl in der Hand hielten, entweder zu den Bombenopfern gehörten oder im Umland untertauchen konnten. Dr. Walter Brinitzer, Salomon Baermann und Henny Wolf sollten damals nach Theresienstadt deportiert werden. Im Unterschied zu den bis zu 25.000 Opfern der Luftangriffe war für die heute über 90-jährige, in Weiden lebende Henny Brenner „die Bombardierung Dresdens die Ret­tung“103. Ihre Familie fand Unterschlupf in einem verlassenen Haus in Blasewitz und erlebte dort das Kriegsende. Dr. Walter Brinitzer, ein früherer Rechtsanwalt, und Salomon Baermann gehörten hingegen zu den Opfern, die die 15 Stunden anhaltenden Luftangriffe forderten104. Nur noch wenige jüdische Männer, Frauen und Kinder lebten im März 1945 in den Städten und Gemeinden des Regierungsbezirkes Chemnitz. Auch sie sowie die „jüdischen Mischlinge“ und „jüdisch Versippten“ waren für einen „allerletzten“ Transport vorgesehen, der jedoch „durch den Einmarsch der Roten Armee vereitelt wurde“, schrieb Fechenbach, der sich selbst unter den bis dahin Nichtdeportierten befand, im September 1948 an die Kriminalpolizei. Im Anschluss an einen Bericht des Chemnitzer Kaufmanns Paul Raspe, selbst „jüdischer Mischling“, war der Transport V / 12 ursprünglich für den 10. März 1945 vorgesehen. Es kam jedoch anders: „[…] am 5. März 1945 brannte die Gestapo aus, […]“105. An jenem Tag kam auch der frühere Bankier und Kunstsammler Carl Heumann (Abb. 29), der einst mit dem Judentum gebrochen hatte, ums Leben. Sein in den USA lebender Sohn Thomas rätselte bis zu seinem Tod, ob sein Vater das Kriegsende überlebt hätte, wenn er nach Theresienstadt deportiert worden wäre. Er nahm an, dass sein Vater einen einflussreichen Gönner unter den Chemnitzer N ­ ationalsozialisten gehabt hätte, der ihn vor dem „Arbeitseinsatz“ im Februar 1945 bewahrte. Neue Deportationslisten mussten erstellt werden. „Wir wurden“, so Raspe weiter, „für den 10. Mai 1945 zur Vergasung samt den Frauen vorgesehen“.106 Sally Zeilingher, der am 17. März 1945 von einem Funktionshäftling mit einer Schaufel erschlagen worden war. 103  Olga Havenetidis, Die Bombardierung von Dresden. Das Schicksal einer Nacht, in: Tagespiegel, Berlin, 6.  Mai 2015; vgl. auch Henny Brenner, Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden. Mit einem Vorwort von Iring Fetscher und einem Nachwort von Michael Brenner, Dresden 2005. 104  In dem „Buch der Erinnerung. Juden in Dresden, deportiert, ermordet, verschollen“ (Dresden 2006) sucht der Leser vergeblich die Namen von Dr. Walter Brinitzer und Salomon Baermann. 105  Vgl. STAC, 30413, Nr. 9.2_02484. 106  Ebd.



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Abb. 29

Abb. 30

Bekannt ist auch, dass Dr. Adolf Lipp im April von der Geheimen Staatspolizei beauftragt worden war, zu den in Frage kommenden Personen zu gehen und jeweils fünf Reichsmark für den Transport einzufordern. So erschien er u. a. bei Marie Jacobsohn und Tochter Edith. Laut deren Auskunft hätte der frühere Arzt ihrer Mutter gesagt: „Sie sollten sich nicht ängstigen. Er würde

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mit dieser Liste in den Untergrund gehen!“107 Durch die bedingungslose Kapitulation NS-Deutschlands am 8. Mai 1945 kam es nicht mehr dazu. In der Stadt Chemnitz war das erschütternde Ziel der Nationalsozialisten, Deutschland „judenfrei“ zu machen, trotz der ungezählten Opfer nicht erreicht worden. Erika Rottluff erinnerte sich noch im Frühjahr 2013 an ihre einstige jüdische Mitschülerin. Sie hatte all die Jahre befürchtet, ja geahnt, dass auch Ruth Lawenda (Abb. 30) Opfer „des großen Raubtieres“ geworden war, nachdem sie in der Großstadt Chemnitz leben musste. Wenige Monate später erlag Erika Rottluff einer schweren Krankheit. Ihr war es nicht vergönnt, die Verlegung von Stolpersteinen für Ruth Lawenda108 und deren ermordete Familienmitglieder im September 2014 in Olbernhau noch zu erleben109.

107  Auskunft:

Edith Schmidt (Hohndorf), 18. Juni 2004. Gedenken an Ruth erhielt eine in Israel lebende Nachkommin von Max Lawenda, eines weiteren Bruders, denselben Vornamen. 109  Für weitere Opfer des nationalsozialistischen Judenmordes, der Shoa, wurden in den vergangenen Jahren Stolpersteine in Chemnitz, Mittweida, Frankenberg, Freiberg, Eppendorf, Oederan, Hainichen, Döbeln und Waldheim verlegt. 108  In

„Codename Blackfin“ Die Stadt Chemnitz und ihr Umland als „strategical target“ der Westalliierten des Zweiten Weltkrieges – eine Untersuchung unter besonderer Beachtung britischer und amerikanischer Quellen Von Uwe Fiedler, Chemnitz1 I. Vorgeschichte „Man stelle sich nur einmal vor, was in einer Großstadt vor sich geht, deren Zentrum im Umkreis von rund 250 Metern durch eine 20-Tonnen-Last von Luftzerstörungsmaterial verheert wird. Einschlag auf Einschlag! Brände, Explosionen, einstürzende Häuserfronten. Darüber wälzt sich das Giftgas. Die Feuersbrünste greifen um sich, die Verbindung zwischen den Brandherden und ihrer Umgebung ist unterbrochen, immer heller lodern die Brände, während das Gas seinen furchtbaren Weg zieht. Das Leben dieser Stadt ist erstickt. Die großen Verkehrsadern, die sie durchziehen, sind gelähmt. Was sich in einer Stadt abspielt, kann noch am gleichen Tag, in der gleichen Nacht in 10, 20, 50 großen Wohnstätten geschehen … Und wenn am nächsten Tage weitere Siedlungsgebiete verwüstet werden, wer könnte dann die Bevölkerung noch abhalten, aus den Städten, welche das Ziel der feindlichen Angriffe sind, zu flüchten? Ein vollständiger Zerfall des Staatsapparates ist unvermeidlich, und der Augenblick nicht mehr fern, da die Bevölkerung, scheinbar schutzlos den Angriffen der feindlichen Luftflotten preisgegeben, unter dem gemeinsamen Drang des Selbsterhaltungstriebes die Einstellung des Kampfes um jeden Preis fordern wird, vielleicht noch, bevor ihre Armee und ihre Flotte überhaupt zum Aufmarsch und Eingreifen kam.“ (Giulio Douhet)2

Der Textauszug entstammt keinem schlechten Science Fiction oder Endzeit-Roman, sondern ist dem Buch „Il dominio dell’aria“ (Dt.: „Die Luftherrschaft“) des italienischen Generals Giulio Douhet entnommen. Douhets 1921 erstmalig publizierte Überlegungen zu den Kriegen der Zukunft, die Schlüsse, die Politiker und Militärs in aller Welt daraus zogen, führten in ihrer Konsequenz zu einem vollständigen Paradigmenwechsel in 1  Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine überarbeitet und ergänzte Fassung des 2005 publizierten Aufsatzes des Verf. in: Gabriele Viertel / Uwe Fiedler / Gert Richter, Chemnitzer Erinnerungen 1945. Teil III, Chemnitz 2005, 29 ff. 2  Giulio Douhet, Die Luftherrschaft. Berlin 1935, 49.

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der Kriegführung, ohne dessen Kenntnis die Bombennächte des Zweiten Weltkrieges kaum verständlich sind. Bereits die ersten „modernen“ Kriege der Neuzeit hatten gezeigt, dass tradierte, im allgemeinen Verständnis von „Krieg“ fest verwurzelte Begriffspaare wie „Soldat und Zivilist“, „Front und Heimat“, „Sicherheit hier und Gefahr draußen“ obsolet geworden waren – sofern sie das nicht ohnehin seit ehedem gewesen sind. Nie zuvor jedoch trat die enge Verflechtung von „kämpfender Front“ und „produzierendem Hinterland“ so offen zu Tage wie vor dem Hintergrund der Materialschlachten des Ersten Weltkrieges. In durchaus richtiger Bewertung dieser Verflechtung entwickelten die kriegführenden Parteien in der Folgezeit Konzepte, die eine Entscheidung an den Fronten durch die Ausschaltung des produzierenden Hinterlandes und die Untergrabung der öffentlichen Moral herbeizwingen wollten. Mit Luftschiff und Flugzeug, mit Dynamit und Giftgas standen erstmalig in der Geschichte auch Instrumentarien bereit, derartige Konzepte im großen, mög­ licher Weise kriegsentscheidenden Maßstab zu realisieren. Bereits 1914 waren England und Deutschland dazu übergegangen, Ziele im gegnerischen Hinterland aus der Luft anzugreifen. Die vieldiskutierte Frage, wer denn dabei nun die allererste Bombe geworfen habe und damit die „Schuld“ an der Genese des uneingeschränkten Luftkrieges gegen die Zivilbevölkerung trage, kann von der Forschung nicht eindeutig beantwortet werden. Sie ist insofern ohnehin nicht von Bedeutung, als unabhängig voneinander beide Seiten die zielstrebige Entwicklung derartiger Konzepte verfolgten. Obwohl Deutsche wie Briten Einsätze zunächst gegen Objekte im gegnerischen Hinterland flogen, die man als wehrwirtschaftlich wichtig einschätzte, fasste – bedingt durch ihren technologischen Vorsprung – die deutsche Fliegertruppe bald noch ein weiteres Ziel ins Auge, nämlich mit fortschreitender Gefährdung durch Luftangriffe die Moral des Gegners zu untergraben. Ziel der Zeppeline, später der Großflugzeuge, war dezidiert die Terrorisierung der Bevölkerung. Allein die Tatsache, dass deutsche Gothas ungehindert am helllichten Tag Bomben auf das Herz des britischen Empires werfen konnten, brachte die englische Öffentlichkeit derartig auf, dass sich die Regierung unter Premier Lloyd George in einer echten Krise sah.3 Das Ziel, mittels massiver Bombenangriffe auf das Hinterland des Gegners dessen Moral zu untergraben, schien tatsächlich erreichbar.

3  Das Bombenflugzeug Gotha G V wurde ab März 1917 in den Dienst der deutschen Luftwaffe gestellt. Die Gothas wurden zum Hauptträger der Luftangriffe bei Tag wie auch bei Nacht gegen London.



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Nach dem Krieg wurden die Wirkungen dieser neuen Form der Kriegführung eingehend untersucht. Die politischen und militärischen Eliten der ehemals Krieg führenden Mächte kamen zu dem Schluss, dass der Schlüssel zum Sieg in künftigen Kriegen bei den Luftflotten und den modernen Massenvernichtungswaffen liege. Darauf aufbauend, entwickelte der italienische Luftwaffengeneral Giulio Douhet (1869–1930)  – und neben ihm weitere hochrangige Militärtheoretiker – ein völlig neues Strategiekonzept, das sich vereinfacht auf folgende, zentrale Komponenten reduzieren lässt: Wer in einem modernen militärischen Konflikt als Erster durch massive Luftangriffe ganze Städte des Gegners mit ihrer Infrastruktur, ihren Fabriken, Verwaltungs-, Kommunikations- und Verkehrseinrichtungen, mit ihren Wohngebieten, ihren Fabrikarbeitern und deren Familien vernichtet, entzieht nicht nur der kämpfenden Front die wirtschaftliche Basis, sondern schwächt den Durchhaltewillen der Bevölkerung, der Kombattanten und letztlich der gesamten Nation nachhaltig und dauerhaft. Der strategische Luftkrieg stellt  – richtig geführt – die gesamte Existenz des gegnerischen Staates in Frage, vielleicht sogar, bevor überhaupt Fronten im herkömmlichen Sinne eröffnet werden. Derartige Kriege sind schneller, sie sind billiger als die Materialschlachten des ersten Weltkrieges, und – so die ernste Überlegung von Politikern und Militärs – sie kosten weniger Opfer. II. Weichenstellung Die Lehre von der kriegsentscheidenden Wirkung massiver Luftangriffe gegen das gegnerische Hinterland leitete einen vollkommenen Paradigmenwechsel ein. Die Funktion des Topos „Stadt“ verkehrte sich im 20. Jahrhundert in ihr Gegenteil: Gegründet, um Menschen innerhalb ihrer Mauern zu schützen, wurden Städte jetzt, und mit ihnen ihre Bewohner, zum wichtigsten Zielpunkt auf den strategischen Planungskarten der Militärs. Nahezu alle entwickelten Industrienationen der Welt, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg aufrüsteten, hingen in mehr oder minder starkem Maße dem sog. „Douhetismus“ an. Blieb die Diskussion um derartige Konzepte zunächst auf Militär- und Politikerkreise beschränkt, erreichte sie ab Mitte der 1920er Jahre zunehmend die Öffentlichkeit. In Deutschland blickte man mit besonderer Sorge auf den Diskurs, denn die Bedingungen des Versailler Vertrages verboten der Weimarer Republik nicht nur Entwicklung und Besitz eigener Luftkampfmittel, auch Defensivmaßnahmen zum passiven Schutz der Bevölkerung blieben bis 1926 untersagt. Dass sich auch unter den Einwohnern Sachsens zunehmend die Auffassung durchzusetzen begann, ein künftiger Krieg würde durch den Einsatz gigantischer Luftflotten mit Massenvernichtungsmitteln entschieden, war

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letztlich auch der lokalen Presse zu verdanken, die das Thema zunehmend in den Mittelpunkt ihrer Artikel rückte: Die Chemnitzer Allgemeine Zeitung beschäftigte sich am 3. April 1927 erstmalig explizit und sehr sachlich mit der Problematik „Deutschland und die Luft-Abrüstung“4. Die Artikel der folgenden Jahre jedoch lassen zunehmend Nervosität erkennen, etwa, wenn sich die sächsischen Städte als von gigantischen tschechischen Luftflotten bedroht darstellten5. So absurd und überzogen aus heutiger Sicht die in der Presse artikulierten Bedrohungsszenarien6 erscheinen, sie reflektieren insofern bedrohliche Realitäten, als international die beschriebenen Formen künftiger Kriegführung tatsächlich immer konkreter untersetzt wurden. Besonders in England kam strategischen Luftkriegsplanungen große Bedeutung zu7. Betrachteten sich die Briten aufgrund ihrer Insellage sowie der Schlagkraft ihrer Marine Jahrhunderte lang als unangreifbar, so hatten die deutschen Angriffe 1915–17 britisches Selbstbewusstsein untergraben und den Mythos der sog. „splendid isolation“ zerstört. Als Reaktion darauf baute Großbritannien systematisch seine Luftwaffe als Bollwerk gegen künftige Angriffe oder Invasionsversuche auf. Wesentliche Initiatoren der britischen Luftrüstung waren die Generale Jan Christiaan Smuts (1870–1950) und Hugh Trenchard (1873–1956), die vorrangig auf die Bomberflotte als strategische Erstschlagswaffe setzten. Wie in den Überlegungen Douhets war auch ihr Ziel die Niederringung des Gegners, bevor dieser seine militärische Macht überhaupt entfalten konnte. Diese als „Trenchard-Doktrin“ in die Geschichte eingegangene Auffassung bildet das Gelenk zu den Luftangriffen des Zweiten Weltkrieges. Die in der Trenchard-Doktrin formulierten Zielstellungen wurden regierungsamtliche Auffassung. Premier Stanley Baldwin (1867–1947) erklärte bereits 1932 dem Unterhaus, dass „der Bomber immer durchkomme und Angriff die beste Verteidigung darstelle“8. Nachdem man in England Mitte der 1930er Jahre 4  Chemnitzer

Allgemeine Zeitung vom 3.4.1927. Neueste Nachrichten Nr. 80 vom 7.4.1931; Nr. 18 vom 22.1.1932. 6  So etwa „Gastod bedroht Europa“ oder „Unsere Stadt – ideales Ziel für Luftangriffe“. 7  Aufgrund der geografischen Lage bestand dagegen in den USA kein so vordergründiger Bedarf an strategischen, dem Douhetismus vergleichbaren Konzepten wie z. B. in England. Primär setzten die Amerikaner auf raschen Bewegungskrieg im Zusammenspiel der einzelnen Teilstreitkräfte. Außerdem tendierte die amerikanische Außenpolitik in den 1920er und 30er Jahren stark in Richtung Neutralität; selbst Abrüstungstendenzen lassen sich für diese Jahre konstatieren. Radikale Douhetisten bildeten eine absolute Minderheit: Vertreter dieser Auffassung wurden, wie William „Billy“ Mitchell, mit Schimpf und Schande aus der Army ausgestoßen. 8  Vgl. dazu Noble Frankland, Bomber Offensive. London u. a. 1970. 5  Chemnitzer



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besorgt Hitlers Wiederaufrüstung, v. a. der Luftwaffe, beobachtet hatte, förderte die britische Regierung den Aufbau einer strategischen Bomberflotte mit Nachdruck: Im Jahr 1936 wurde das Bomber Command der RAF ins Leben gerufen, dem allerdings zu diesem Zeitpunkt die zur Durchsetzung der Trenchard-Doktrin geeigneten Flugzeuge noch völlig fehlten. Zwar war im gleichen Jahr ein moderner viermotoriger Bomber ausgeschrieben worden. Bis zu dessen Truppenreife und Großserienproduktion jedoch wären noch einmal vier Jahre vergangen, in denen England, hätte es sich sklavisch an die Trenchard-Doktrin geklammert, fast jeglichen Schutzes seines Territoriums hätte entbehren müssen. In dieser Situation kam es kurzzeitig zu einer Prioritätenverlagerung: Sir Thomas Inskip (1876–1947), Minister für Verteidigungskoordination, setzte 1937 / 38 durch, dass zunächst dem Aufbau des Fighter Command oberste Dringlichkeit einzuräumen sei. Damit erhielt Großbritannien erst einmal nicht – wie ursprünglich angestrebt – die modernste Bomberstreitmacht, dafür jedoch das derzeit modernste – auf Radar und Jagdflugzeug basierende ‒ Luftabwehrsystem der Welt. Wie glücklich trotz des offiziellen Festhaltens an der Trenchard-Doktrin dieser Paradigmenwechsel war, offenbarte nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die „Battle of Britain“: Am britischen Abwehrsystem scheiterten die deutschen Versuche, die Lufthoheit über den Inseln zu gewinnen und das Empire kapitulationsreif zu bomben9. Aufgrund der enormen Verluste, die ihr durch das Fighter Command beschert wurden, rückte die deutsche Luftwaffenführung von ihrem ursprünglichen Plan ab, zunächst die RAF, die militärischen und die Rüstungsziele niederzukämpfen, und verlagerte ihre Aktivitäten mehr und mehr auf die strategische Offensive gegen London, Birmingham und andere Städte10. Anders als von deutscher Seite jedoch erwartet, verstärkten die Luftangriffe die britische Verteidigungsbereitschaft. Premierminister Winston Churchill (1874–1965) griff die Stimmung der Öffentlichkeit auf und versprach, mit dem vom Bomber Command getragenen strategischen Luftkrieg Deutschland „den Sturm ernten zu lassen“ („reaping the whirlwind“), den es mit der Offensive gegen England „als Wind gesät habe“. Churchill hatte unter dem dazu Constantine Fitzgibbon, London’s burning. London u. a. 1970. Forschung ist sich bis heute nicht einig, inwiefern dem Douhetismus verhaftete Anschauungen die Rüstungs- und Militärpolitik des nationalsozialistischen Deutschen Reiches beeinflusst haben. In der Wiederaufrüstungsphase bildeten die Befürworter derartiger Konzepte – Göring, Richthofen, Jeschonnek, vor allem aber Walter Wever – eine einflußreiche Fraktion, die nachdrücklich den Aufbau einer schweren Bomberwaffe forderte. Nach Wevers Unfalltod 1936 gewannen jedoch die Befürworter der „Blitzkrieg“-Konzepte die Oberhand. Für diese stellte die Luftwaffe eher ein Unterstützungsinstrument der Landkriegsführung dar, als ein eigenständiges strategisches Element. 9  Vgl.

10  Die

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Eindruck der Katastrophe von Dünkirchen in einem Brief an William Maxwell Beaverbrook (1879–1964), den Minister für Flugzeugherstellung, bereits im Juli 1940 erklärt, dass es nur eine Möglichkeit gebe, Hitler zu besiegen, und diese bestünde „in einem absolut verheerenden, vernichtenden Angriff auf das Heimatland der Nazis, der … mit sehr schweren Bombern geflogen werden müsse“11. Dieser Empfehlung folgend, entschied sich Churchills Kabinett, nicht etwa wegen der Verletzung der „splendid isolation“, sondern weil es – das hatte Dünkirchen gezeigt ‒ für die Briten zu Beginn der 1940er Jahre einfach keine Alternative im offensiven Kampf gegen Hitlerdeutschland gab, für die konsequente und radikalisierte Umsetzung der TrenchardDoktrin. Nicht mehr die ohnedies erfolglosen Tagesangriffe gegen ausgewählte Einzelziele z. B. im Ruhrgebiet, sondern die nächtlichen „raids“ gegen Flächenziele ziviler Natur tief im gegnerischen Hinterland bestimmten zunehmend ab 1941 das Vorgehen des Bomber Command. Obwohl die britische Regierung während der als „Blitz“ bekannten deutschen Bomberoffensive die Erfahrung gemacht hatte, dass durch die Luftangriffe der Verteidigungswillen der Öffentlichkeit eher nachhaltig gestärkt wurde, betrachtete man die Situation auf Deutschland bezogen völlig anders: Man ging davon aus, dass die Moral eines diktatorisch geführten Volkes anfälliger für existentielle Gefährdungen sei und unter dem Bedrohungsszenario des Bombenkrieges schneller zusammenbrechen würde. Die Städte im Reich sowie der Verbündeten Deutschlands sollten nun hinsichtlich ihrer Bedeutung für Infrastruktur und Wehrwirtschaft systematisch militärisch aufgeklärt werden. III. Planungen In der Nacht vom 16. auf den 17.  August 1940 fielen erstmalig in der Geschichte Bomben auf das Chemnitzer Stadtgebiet. Sie richteten keine größeren Schäden an: Mehrere Fensterscheiben gingen zu Bruch, eine Gartenlaube und eine Trockentoilette wurden zerstört. Für die Anwohner war der erste richtige „Feindkontakt“ eine Sensation: Das Obst in den Gärten war heruntergefallen, dafür hing der Latrineninhalt auf den Bäumen12. Pimpfe suchten in der Gartensiedlung nach Bombensplittern, Kleingärtner ersetzten Fensterscheiben. Am Wochenende pilgerten Ausflügler in die Südvorstadt, um einen Blick auf den Krieg zu werfen.

11  Ralph

Barker, Die RAF im Kriege. Eltville am Rhein, 1993, 83. Fahnert / Gert Richter (Hrsg.), Chemnitzer Erinnerungen 1945. Bürger schreiben für Bürger, Chemnitz 1996, 124 ff. 12  Karin



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Dem Chemnitzer Anzeiger war dieses Ereignis lediglich eine Elf-ZeilenNotiz auf der letzten Seite wert13, die den Fakt des Abwurfes und die leichten Schäden erwähnte. Einige Beobachter aber hatten vor diesem Hintergrund realisiert, dass die Einschlagstellen der Bomben in jener Augustnacht nahe der Verwaltung der Auto Union in der Bernd-Rosemeyer-Straße lagen14. Die Schlüsse, die man daraus zog, legten den Grundstock für eine langlebige Legende: Die „Tommies“ hätten mit der Außenstelle der Auto Union einen kriegswirtschaftlich wichtigen Betrieb treffen wollen, diesen jedoch knapp verfehlt. Dieser Schluss geht jedoch von zwei falschen Prämissen aus: Zum ersten impliziert er die generelle Möglichkeit – und dieses Bild wurde im Zusammenhang mit den Angriffen der Luftwaffe auf englische Städte durch die deutsche Propaganda nachhaltig gefördert – durch „Präzisionsangriffe“ selbst kleinere Objekte wirkungsvoll und kriegsentscheidend aus dem Umfeld „herausbomben“ zu können. Zum zweiten setzt er ein detailliertes Zielwissen des Bomber Command voraus. Beides trifft, zumindest 1940 / 41, nicht zu: Zwar hatte der RAF-Generalstab zu diesem Zeitpunkt durchaus auf Einzelziele orientiert, die für die Kriegführung des Reiches von grundsätzlicher Bedeutung waren und noch am 15. Januar 1941 dem Oberbefehlshaber des Bomber Command mitgeteilt, „dass das einzige Hauptziel der Bomberoffensive bis auf weiteres die Zerstörung der deutschen Hydrierwerke sein sollte“15. Die Weisungen ignorierten jedoch völlig die Tatsache, dass die Bomberpulks, von wenigen Einzelfällen abgesehen, komplett außerstande waren, solche Punktziele zu treffen – weder bei Tag, wo die Verlustziffern nur als „katastrophal“ zu bezeichnen waren, geschweige denn bei Nacht, wo die Bomberbesatzungen schon froh waren, ein Ziel von der Größe einer Stadt überhaupt zu finden. Der sog. „Butt-Report“, der 1941 in Auswertung der bisherigen Bombardierungsergebnisse im Auftrag der britischen Regierung erstellt wurde, wartete mit schockierenden Tatsachen auf: Lediglich ein Fünftel aller Bomber hatte es überhaupt geschafft, ein avisiertes Ziel in einem Radius von fünf Meilen anzugreifen16. Wie wir heute aus den britischen Quellen, etwa den „Bomber Command War Diaries“17 wissen, handelte es sich bei den Bomben im Umfeld der BerndRosemeyer-Straße um Fehlwürfe: Ziel des Whitley- oder Wellington-Bombers war eigentlich das Stadtgebiet von Jena. 13  Chemnitzer

Anzeiger vom 17.8.1940. heute Scheffelstraße. 15  Frankland, Bomber Offensive (Anm. 6), 35. 16  Vgl. Ingrid Permooser, Der Luftkrieg über München 1942–1945. Oberhaching 1997, 54. 17  Vgl. Martin Middlebrook / Chris Everitt, The Bomber Command War Diaries. An operational reference book 1939–1945, Leicester 1996, 74. 14  Bernd-Rosemeyer-Straße,

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Was die zweite Prämisse anbelangt, so war das Zielwissen des Bomber Command im August 1940 noch viel zu gering, als dass man mit Fug und Recht einen bewussten Angriff auf einen ausgewählten Rüstungsbetrieb annehmen dürfte. Die Erkenntnis derartiger Mängel zwang das Bomber Command zu neuen Schritten: Zunächst wurde formuliert, dass Präzisionsangriffe auf Industrie- und Eisenbahnziele nur unter äußerst günstigen Witterungsbedingungen zu fliegen und ansonsten vorrangig die dicht besiedelten Industriegebiete sorgfältig ausgewählter Städte anzugreifen seien. Systematisch wurden daraufhin die Städte auf Reichsgebiet und in den okkupierten Territorien als potentielle Ziele erfasst, militärisch aufgeklärt und nach Prioritäten geordnet. Nebst den anderen sächsischen Großstädten geriet vor diesem Hintergrund nun auch Chemnitz erstmalig in den Fokus des Bomber Command, wenngleich das Interesse des britischen Air Staff an der Stadt zunächst nur ein rein theoretisches war: als potentielles Ziel künftiger Luftangriffe wird Chemnitz erstmalig am 25. September 1941 in einem Memorandum der Royal Air Force an Winston Churchill als mögliches Ziel angesprochen18. Im Memorandum aufgeführt wurden 43 Großstädte mit einer Gesamteinwohnerzahl von 15 Millionen Menschen. Kriterien für die Aufnahme in diese Liste waren die Größe der Stadt, wodurch Chemnitz mit auf ebendiese Liste gelangte, sowie ihre Entfernung zur Mildenhall Air Base, einem für die „raids“ gegen Reichsgebiet optimalen englischen Flugplatz. Zum Zeitpunkt, als nun die RAF ihre Liste erstellte, lag Chemnitz noch außerhalb der effektiven Reichweite der britischen Bomberverbände und landete somit zunächst in der untersten von insgesamt vier Kategorien. Mit der Truppeneinführung neuer viermotoriger Bombenflugzeuge war jedoch abzusehen, dass künftig auch Ziele hinter der Linie Kiel-Hannover-Kassel-Mannheim angegriffen werden könnten. Daher wurden auch die Städte, die das September-Memorandum noch als nachrangig eingeschätzt hatte, als potentielles „Target“, d. h. als militärisch definiertes Angriffsziel weiter aufgeklärt. Was Chemnitz anbelangte, wurde die Stadt gezielt auf die in den 41er Direktiven des Bomber Command ausgewiesenen Ziele – Verkehrs- und Flächenziele – hin untersucht: Im Oktober / November des Jahres 1941 fotografierten Flugzeuge des Photo Reconnaisance Unit19 das Stadtgebiet, den Rangierbahnhof Hilbersdorf sowie das Reichsbahnausbesserungswerk20. Die Luftbilder bildeten eine wichtige Grundlage für die weitere detaillierte Recherche zum „Target Chemnitz“.

18  Public

Record Office London, PRO Air 8 / 3718. Roy Conyers Nesbitt, Eyes of the RAF. A history of photo-reconnaissance, Phoenix Mill 1996. 20  PRO Air 40 / 1954; Air 14 / 3685 (Schloßbergmuseum Chemnitz, Luftbildsammlung). 19  Vgl.



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Obwohl trotz dieser Maßnahmen bis Mitte 1942 von einer grundlegenden und umfassenden militärischen Aufklärung der Stadt und ihrer Umgebung noch überhaupt keine Rede sein konnte, tauchte Chemnitz erneut auf Grund seiner Größe und seines vermuteten, nachrichtendienstlich jedoch noch immer nicht verifizierten wirtschaftlichen Profils am 14. April 1942 in einer weiteren Zielliste auf21. Wiederum nennt diese Liste eine Anzahl ausgewählter Städte. Interessant ist dabei der formulierte Kontext im Schreiben vom Air Ministry an den Commander des Air Staffs, das der Erstellung dieser Zielliste vorausging. Denn die 25 Städte, unter denen Chemnitz an viertletzter Stelle steht, wurden für eine „Coventrierung“22 vorgeschlagen. Geplant war dabei allerdings nicht vordergründig die unmittelbare Durchführung von massiven Luftangriffen, vielmehr war das ganze Vorhaben eine Maßnahme der psychologischen Kriegführung, denn die Liste sollte über die BBC veröffentlicht werden. Da man wusste, dass der britische Rundfunksender im Deutschen Reich illegal, nichtsdestoweniger aber recht intensiv gehört wurde, und man mit Fug und Recht davon ausging, dass die Gerüchteküche das dort Gehörte entsprechend verarbeiten und streuen würde, versprachen sich Regierung und Air Staff einen deutlichen Effekt auf Moral und Leistungsfähigkeit der Bevölkerung. Der Vorschlag wurde direkt an Winston Churchill weitergeleitet, der das Anliegen des Schreibens mit den lapidaren Worten „I agree“ bestätigte23 ‒ im Gegensatz zum Chef des Bomber Commands, der das ganze Vorhaben als schwachsinnig charakterisierte und sich schlichtweg dagegen aussprach24. Die Orientierungslosigkeit, die aus dieser Kontroverse spricht, war nicht nur symptomatisch für die frühen 1940er Jahre; bis zum Ende des Krieges sollte es immer wieder heftige Meinungsverschiedenheiten, nicht nur zwischen Kabinett und Bomber Command, sondern auch zwischen einzelnen Ministerien, ja sogar auf der Ebene des Oberkommandos der alliierten Streitkräfte darüber geben, auf welche Weise die Luftkriegsdoktrin am effizientesten umzusetzen sei. In diesen Richtungskämpfen allerdings wurde eines deutlich: Man wusste immer noch viel zu wenig über die potentiellen Ziele, als dass man militärische Planungssicherheit in welcher Form auch immer, geschweige denn Erfolge auf der Grundlage der TrenchardDoktrin hätte erreichen können25. 21  PRO Air

8 / 424; „25 German towns suitable for heavy attack …“ vom 14.4.1942. „Minute sheet“ vom 7.4.1942: „[…] we should make a list of about 25 towns in Germany suitable for „Coventration […]“. 23  Ebd. Schreiben Winston Churchills an R.  S. Crawford, Air Ministry vom 14.4.1942. 24  Wohlgemerkt ging es dem Chef des BC nicht um die tatsächliche „Coventrierung“, sondern lediglich um den angestrebten Propagandaeffekt. 25  Vgl. dazu etwa Horst Boog, Strategischer Luftkrieg in Europa und Reichsluftverteidigung. In: Ders. / Gerhardt Krebs / Detlef Vogel, Das Deutsche Reich in der 22  Ebd.

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Folgerichtig konzentrierten die britischen Planungsstäbe nun alle Anstrengungen darauf, zuverlässige Informationen in Vorbereitung auf effektive „Raids“ gegen das Reichsgebiet zu sammeln. Auch die oben erwähnten Luftbilder von Chemnitz wurden ausgewertet, die aus ihnen gewonnenen Daten um komplementäres Material unterschiedlichster Provenienz ergänzt. Geheimdienstinformationen flossen in die Dossiers ebenso ein wie Erkenntnisse aus Firmenkatalogen, Zeitungen, Messeprospekten, Reiseführern, Fahrplänen oder Kartenmaterial. Nicht nur die Stadt Chemnitz selbst und ihre Industrie, auch ihr unmittelbares Umland wurden um die Jahresmitte 1942 genau untersucht: Im Ergebnis dieser Untersuchungen und als Bestandteil des „Chemnitz“-Dossiers entstand eine Karte26 („zone map“) der Region. Diese Karte umfasste neben dem City-Bereich, den angrenzenden Arealen um den Hauptbahnhof und um die Eisenbahneinrichtungen in Hilbersdorf auch nahezu alle Gemeinden im Chemnitzer Umland als potentielle Zielgebiete. Den Schlüssel zum Verständnis der Karte bildet das dazugehörige zweiseitige „Zone Map Information Sheet“27, in dem Chemnitz nicht wie bisher lediglich eine aufgrund ihrer Einwohnerzahl definierte Listennummer ist, sondern in dem Stadt und Region als militärisches Ziel exakt definiert sind. Das Informationsblatt, das zur Grundlage für alle weiteren, die Luftkriegsführung gegen Chemnitz betreffenden Planungen wurde, beschreibt zunächst oberflächlich das allgemeine wirtschaftliche Profil der Stadt, ihre Form und Flächenaufteilung, Bevölkerungszahlen, geografische Lage und Besonderheiten. Detaillierter hingegen sind die unterschiedlichen Zonen analysiert, wie sie für das Bomber Command von konkretem Interesse waren. An erster Stelle stehen dabei zunächst das City-Areal mit der Altstadt, einem Bereich zwischen City und Hauptbahnhof, sowie den Arealen, die durch Konzentration öffentlicher Gebäude gekennzeichnet waren. Im Folgenden widmete sich das „Information Sheet“ in drei Unterabschnitten den Wohnbezirken, wobei als besonders bemerkenswert die enorm hohe Bevölkerungs- und Industriedichte ausgewiesen und außerdem angemerkt wurde, dass es im gesamten Stadtgebiet kaum dünn besiedelte Areale gebe. Nachdrücklich erfolgte auch der Verweis auf die großen Wohngebiete südlich der City, von denen man annahm, sie beherbergten vorrangig Industriearbeiter und von denen „berichtet wurde, sie schließen viele kleinere Defensive. (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 7, hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt.) Stuttgart, München 2001. 4 ff. 26  „Zone Map of Chemnitz“, Air Force Historical Research Center (im ff. AFHRC), Maxwell, Arizona, U.S.A. Microfilm Roll Nr. 25175, Intelligence Target Analyses, file 1207, GH583 (Schloßbergmuseum Chemnitz, Microfilmsammlung) fol. 0441. 27  Ebd. „Chemnitz. Zone Map Information Sheet“, fol. 0442 f.



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Werkzeugmaschinenfabriken ein“28. Hinsichtlich der in Punkt 3 folgenden Vorstädte konstatierte das Dossier, dass solche kaum erkennbar wären, dagegen das Umland der Stadt aber äußerst dicht besiedelt sei. Schließlich widmete sich das Dossier den Industriearealen und Eisenbahneinrichtungen. Hier wurden nochmals besonders die Areale entlang des Chemnitz-Flusses südlich der City mit dem Endpunkt Harthau und westlich der Stadt mit dem Endpunkt Siegmar erwähnt sowie außerdem der Standort von Reichsbahnaus­ besserungswerk und Ablaufberg Hilbersdorf, wobei betont wurde, dass die wichtigsten Eisenbahnlinien durch die „industriellen Korridore“ führten. In Auswertung aller aufgeführten Faktoren kam nun das „Information Sheet“ vom 29.8.1942 zu einem Schluss, der in direkter Linie zu den Bombenangriffen auf Chemnitz zwischen Mai 1944 und April 1945 führen sollte: „Chemnitz hat eine kompakte, voll bebaute Fläche von über fünf Quadratmeilen Ausdehnung … Der größte Teil dieses Gebietes ist voll bebaut – Innenstadt, Industriegebiet und dicht besiedelte Wohngebiete. Chemnitz weist, wie andere deutsche Städte auch, eine ausnehmend hohe Bevölkerungsdichte auf, die der Dominanz von Wohngebieten geschuldet ist. Fabriken erstrecken sich direkt in diese Areale hinein und sind den dicht besiedelten Wohngebieten der Industriearbeiter unmittelbar benachbart. For these reasons, Chemnitz is an attractive blitz target“29.

Um es noch einmal klar zu betonen: Obwohl in der Präambel des „Information Sheet“ zwar die strukturbestimmenden Chemnitzer Industriezweige – Textilindustrie, Fahrzeug- und Maschinenbau – erwähnt wurden, fanden die geplanten Flächenangriffe ihre Legitimierung dezidiert nicht vorrangig in den wehrwirtschaftlich wichtigen Betrieben; die konstatierte optimale Verflechtung von wirtschaftlichen Faktoren (Industrie, Eisenbahn), Bevölkerungsdichte, Wohnbezirken unter besonderer Beachtung der Industriearbeiter definieren die Stadt Chemnitz und die Orte ihres Umlandes als „blitz target“30! Bedeutende Betriebe der Rüstungsindustrie in Chemnitz waren für die britischen Planungsebenen in diesem Moment der strategischen Weichenstellung völlig nachrangig. Die Schlüsse des Chemnitz betreffenden „Information Sheet“ korrespondierten damit unmittelbar mit der Weisung des britischen Air Staff vom 14.2.1942, wonach sich alle Luftangriffe der R.A.F. zuerst gegen die Moral der feindlichen Zivilbevölkerung, vorrangig der Industriearbeiter, zu richten hätten. 28  Ebd.

fol. 0443.

29  Hervorhebung

des letzten Satzes durch den Verfasser. Der Terminus „Blitz“ ging nach den deutschen Angriffen auf London in den allgemeinen und militärischen englischen Sprachgebrauch über. (Blitz = heftig bombardieren). Vgl. dazu auch Pons Wörterbuch für die berufliche Praxis, Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig 1998. 30  Vgl. ausführlicher dazu Uwe Fiedler, Chemnitz als „strategic target“ der alliierten Luftstreitkräfte im Zweiten Weltkrieg. In: Autorenkollektiv, Luftkrieg und Zivilbevölkerung. Niederfrohna 2003, 111 ff.

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Trotz dieser klaren Prioritätensetzung aber wurden ab 1942 die Chemnitzer Betriebe nun doch genauer untersucht. Dass dies trotz der scheinbar klaren Orientierung auf Flächenangriffe geschah, war einer ganzen Reihe von Interessen außerhalb des Bomber Commands geschuldet. Gerade das Ministry of Economic Warfare, dessen Mitglieder davon überzeugt waren, der Schlüssel für den Erfolg der Bomberoffensive gegen das Reich läge bei der Zerstörung der Rüstungsindustrie, der Ölraffinerien und Hydrierwerke, versuchte immer wieder, im Kabinett und gegenüber dem Bomber Command seine Auffassung durchzusetzen − nicht zuletzt gegen den Mann, der seit 22.Februar 1942 das Bomber Command leitete und der überzeugt war, den Krieg durch konsequentes Zerbomben gegnerischer Städte entscheiden zu können: Arthur T. Harris (1892–1984). In Vorbereitung der ersten Edition des „Bombers Baedeker – A guide to economic importance of German towns and cities“, einer Zielempfehlung des Ministry of Economic Warfare (MEW) an das Bomber Command, entstanden die ersten Einzeldossiers zu Chemnitzer Verkehrs- und Industrie­ einrichtungen: Nachdem bereits im März 1942 das „Information Sheet“ zum Verladebahnhof („marshalling yard“) Chemnitz-Hilbersdorf31 ediert worden war, wurden bis Frühjahr 1943 die bekannten Chemnitzer Großbetriebe aus der Luft fotografiert32. Weil Chemnitz jedoch weiterhin außerhalb der effektiven Reichweite des Bomber Commands lag, wurde die Stadt, zusammen mit Dresden, Breslau, Danzig, Königsberg u. a. auf Weisung des MEW vorerst gestrichen33. Zwei Ereignisse aber sollten die Situation für das Bomber Command nun grundlegend ändern. Mit der Stationierung der 8th USAAF in Europa und der Casablanca-Konferenz im Januar 1943 traten die Alliierten in eine neue Phase des Luftkrieges ein. Zur Entlastung der Sowjetunion und um die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches schnellstmöglich herbeizuführen, einigten sich die Westalliierten auf folgende Aufgabenteilung: Die bisherige Praxis der nächtlichen Flächenbombardements des britischen Bomber Command wurde um die Tagesangriffe der amerikanischen 8th Army Air Force auf wirtschaftlich und militärisch wichtige Einzelziele ergänzt. Ziel dieses aufgabenteiligen „round-the-clock-bombing“, so wurde in Casablanca beschlossen, sei „[…] die fortschreitende […] Zerstörung der militärischen Struktur Deutschlands und die Unterhöhlung der Moral seiner Bevölkerung bis zu einem Punkt, an dem die Fähigkeit, bewaffneten Widerstand zu leisten, entscheidend geschwächt ist.“34 31  AFHRC, Roll Nr. A5308, Tactical Targets, Nr. 1207 Chemnitz GH 583, (Schloßbergmuseum Chemnitz, Microfilmsammlung). 32  Schloßbergmuseum, Luftbildsammlung „Targets“. 33  PRO Air 14 / 1206, MEW, Explanatory memorandum „German Towns and Cities“, 04.XI.1942.



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Damit aber die 8th USAAF ihren Beitrag wirkungsvoll leisten konnte, musste man zunächst das alte Problem des mangelnden Zielwissens beseitigen. Auf der Grundlage bereits vorhandener britischer Daten erarbeiteten nun die Amerikaner im Verlauf des Jahres 1943 umfangreiche eigene Dossiers zu Zielen im Chemnitzer Stadtgebiet und dessen Umland, die für Präzisionsangriffe geeignet schienen35. Die von den Alliierten gewonnenen Informationen gingen 1943 / 44 in die zweite Auflage des „Bombers Baedeker“ ein36. In der 2nd Edition ist Chemnitz an 29. Stelle der 44 wichtigsten strategischen Ziele zu finden. Insgesamt 47, darunter 38 als kriegswichtig eingeschätzte Betriebe, Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen legitimierten diesen Rang. Die 38 Einrichtungen waren auf vier Kategorien aufgeteilt. Dabei entfiel auf die Kategorie 1+ (Betriebe von herausragender Bedeutung für die deutsche Rüstungsindustrie) in Chemnitz kein einziger Betrieb, auch in Kategorie 1 (Hauptbetriebe in Schlüsselindustrien) ließ sich mit der Reinecker AG lediglich ein Vertreter zu finden. Insgesamt 7 Betriebe und Einrichtungen, darunter Reichsbahnausbesserungswerk, Auto Union Siegmar und Wanderer-Werke Schönau37, wurden unter Stufe 2 (kleinere Betriebe in Hauptindustrien bzw. Großbetriebe kleinerer Industriezweige) subsummiert. Das Gros der Chemnitzer Industriebetriebe, dreißig an der Zahl, wurde lediglich als Kategorie 3 (Betriebe von relativ geringer Bedeutung für die deutsche Rüstungsindustrie) ausgewiesen. Die Stadt als Flächenziel, ihre Eisenbahneinrichtungen, ihre Betriebe waren damit bis Ende 1943 weitgehend aufgeklärt. Bis 1944 wurden noch Dossiers zu den Flugplätzen bzw. Flugfeldern an der Stollberger Straße und in Euba38 hinzugefügt, sowie Analysen zu militärischen Einrichtungen, etwa zu den Flakstellungen39 oder den Heeresdepots und Fahrzeugparks der Wehrmacht40. Alles in allem aber ist Chemnitz für die Westalliierten bis wenigstens zum ersten Quartal des Jahres 1944 kein Luftangriffsziel von besonderer Priorität, schon gar keines, das durch eine als „bedeutend“ eingeschätzte Rüstungsindustrie legitimiert wäre.

34  Zit. nach Mathias Forster, Luftkrieg. In: Christian Zentner / Friedemann Bedürftig, Das große Lexikon des Zweiten Weltkrieges. München 1993, 349. 35  Vgl. AFHRC, Roll Nr. 25189 (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung). 36  Vgl. PRO Air 14 / 2662 XP0305, fol. 118 ff.; Air 14 / 2663 XP026053. 37  Name und Lagebeschreibung folgt dem Wortlaut des „Baedeker“. 38  Vgl. PRO Air 40 / 1951; Air 40 / 1953 (Schloßbergmuseum, Luftbildbestand). 39  AFHRC, Roll N°6319, Flak reports, fol. 0608 ff. (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung). 40  Vgl. AFHRC, Roll Nr. A5308, Tactical targets, fol. 180 ff. (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung).

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IV. „Raids“ Bis Mitte 1943 war die strategische Initiative von den Achsenmächten auf die Anti-Hitler-Koalition übergegangen41. Stalin drängte Großbritannien und die USA zur Eröffnung der zweiten Front in Westeuropa, deren Erfolg allerdings von der alliierten Lufthoheit über dem Kontinent abhängig war. Trotz spürbaren Erstarkens der deutschen Luftabwehr erschienen unter dem Schutz der neuen Mustang-Begleitjäger die Bomber der 8th USAAF ab Frühjahr 1944 nun nahezu täglich über dem Reichsgebiet. Mit der „Big Week“ eröffneten die Amerikaner am 20. Februar eine Angriffsserie, die vorrangig gegen die Betriebe der Flugzeugindustrie und deren Zulieferer gerichtet war. Zusammen mit der Öloffensive, die mit den Angriffen auf die Raffinerien Leuna, Lützkendorf und Böhlen am 12.  Mai 1944 eingeleitet wurde, zielten diese Aktionen auf die Erringung der alliierten Luftherrschaft. Im Zusammenhang mit den „Oil Raids“ geriet nun Chemnitz exakt am 12. Mai erstmalig auf die Ziellisten der amerikanischen Bomberstaffeln: Dabei jedoch interessierten zunächst keine konkreten Ziele. Chemnitz wurde lediglich als „oportunity target“, ausgewiesen42, d. h. dass Flugzeuge, die aus beliebigen Gründen nicht zum Abwurf ihrer Kampfmittel über den „primaries“ oder „secondaries“ – den oil targets – kamen, dort noch einmal Gelegenheit finden sollten, vor ihrer Rückkehr zu den Air Bases einen Kampfauftrag zu erfüllen. Elf „Flying Fortresses“43 warfen 26 Tonnen Sprengbomben über „unidentifizierten Zielen“ im Raum Chemnitz ab44. Die Bomben fielen in Rottluff und auf Rabenstein, wo sie ein erstes Luftkriegsopfer forderten: Ein wenige Wochen alter Säugling verlor bei diesem Angriff sein Leben. Auch beim zweiten Angriff auf Chemnitz am 29. Juni 1944 spielten konkrete Ziele keine Rolle, die Stadt taucht in den Einsatzunterlagen der 8th USAAF nicht einmal namentlich auf. Diesmal luden 15 B17-Bomber, deren Einsatz dem „primary target“ Leipzig galt und die nun die Stadt Lim41  Vgl. ausführlich dazu Boog / Krebs / Vogel, Das Deutsche Reich in der Defensive (Anm. 22). 42  AFHRC, Roll Nr. B5461 Division / 0003 / Air, fol. 1213 ff. reports and narratives, 12.4.1944 (Schloßbergmuseum Chemnitz, Microfilmsammlung). 43  Die Boeing B 17 war ursprünglich für den Einsatz gegen Seeziele konzipiert. In ihr kulminierten jedoch exakt jene Anforderungen, die Giulio Douhet für eine Waffenplattform zur Durchsetzung seines strategischen Luftkriegskonzeptes formulierte: Große Höhentauglichkeit, starke Panzerung und die Möglichkeit einer autarken Selbstverteidigung durch bis zu dreizehn Maschinengewehre. Diese Eigenschaften brachten der B 17 den Beinamen „Fliegende Festung (flying fortress)“ ein. 44  Kit C. Carter / Robert Mueller, The Army Air Forces in World War II. Combat Chronology 1941–45, o. O. (HQ USAF) 1973, 340. Vgl. auch Roger E. Freeman, The Mighty Eight. War Diary, London u. a. 242 f.



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bach als „opportunity target“ anflogen, 35 Tonnen Sprengbomben über Chemnitzer Stadtgebiet ab45. Zwar waren die Flugzeugbesatzungen der Auffassung, Limbach bombardiert zu haben, tatsächlich fielen die Kampfmittel auf Chemnitz im Bereich des vorderen Kaßberges, wiederum in Rabenstein und in Borna – im Sinne des Kampfauftrages also ein weiterer Fehlschlag. Von einem völlig anderen militärischen Stellenwert hingegen war der Angriff vom 11. September 194446. Für 74 B-17-Bomber, 20 Mustang-Jagdflugzeuge sowie zwei als Wetterbeobachter fliegende Mosquitos47 definierten die Briefings vor dem Start um 9.30 Uhr „Chemnitz“ als „primary target“. Doch ist es kurioserweise wieder nicht die eigentliche Stadt, die als Ziel gemeint ist, sondern der Betriebsteil der Auto Union in Siegmar ‒ damals noch eine eigenständige „Stadt vor der Stadt“, die die Amerikaner unter Chemnitz subsummierten48. Der Betrieb sei eine bedeutende Fabrik, die Halbkettenfahrzeuge, Zugmaschinen und „elektrische Ausrüstung und Ersatzteile für Panzer“ produziere. Diese Orientierung auf sog. „M / T“- Targets49 war typisch für die zweite Hälfte des Jahres 1944, denn nach Eröffnung der zweiten Front richteten sich die Aktivitäten der USAAF vorrangig gegen Ziele, die für die Mobilität der deutschen Bodentruppen von Bedeutung waren. Mit deren Ausschaltung strebten die Alliierten eine deutliche Entlastung der Fronten an – und verfehlten dieses Ziel im Falle des Angriffs auf die Auto Union-Betriebe in Siegmar deutlich. Den Fliegenden Festungen gelang an diesem Tag kein Präzisionsangriff: Ein Großteil der 170 Tonnen Sprengmittel ging auf den Feldern50 und in der benachbarten Siedlung nieder, wobei mindestens 21 Menschen ums Leben kamen. Bei der Auto Union richteten die Bomben zwar erhebliche Sachschäden an und töteten im Betrieb selbst 85 Personen, darunter 41 Fremdarbeiter. Das Werk war jedoch in keinem vulnerablen Punkt ernsthaft und nachhaltig getroffen worden. Es kam zu kurzzeitigen Einschränkungen in der Produktion, bereits nach drei Wochen aber 45  Freeman,

Mighty (Anm. 40), 282. AFHRC, Roll Nr. A 5991, 0008 / Air Force, fol. 129 ff. („frantic mission“); PRO, Air 40 / 736, XC 17733 (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung). 47  Die britische De Havilland „Mosquito“ galt als eines der vielseitigsten Flugzeuge des Zweiten Weltkrieges. Ursprünglich als unbewaffneter Schnellbomber konzipiert, wurden aus dem Prototyp während des Krieges eine Vielzahl von Modifika­ tionen  – als (Foto-) Aufklärer, (Nacht-) Jagdflugzeug, Schnellbomber etc.  – entwickelt. Geschwindigkeit und Höhenflugeigenschaften machten die Mosquito nahezu immun gegenüber deutschen Abwehrmaßnahmen. 48  Heiner Matthes / Jörn Richter, Siegmar-Schönau. Eine Stadt vor der Stadt. Chemnitz 2003, 29–32. 49  „Military Vehicles & Tanks“ = Militärfahrzeuge und Panzer. 50  “75 H. E. (high explosives = Sprengbomben) bursts in open fields South East; …50 H. E. bursts in open fields … South of the target area“ PRO, Air 40 / 736. 46  Vgl.

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konnte wieder mit voller Leistungsfähigkeit weitergearbeitet werden, und das in Bereichen, von denen die alliierte Aufklärung – wie noch zu sehen sein wird ‒ nicht die geringste Ahnung hatte. Obwohl das Ziel des Angriffes – die Ausschaltung der Auto Union – nicht erreicht werden konnte, war der Einsatz alles andere als ein Misserfolg. Der Siegmar-Raid war lediglich ein Baustein im Rahmen einer komplexeren und zugleich auch symbolträchtigeren Mission. Nach dem „bombs away!“ über dem Target flogen die Maschinen der Air Force geradewegs weiter bis zu den Flugplätzen bei Poltawa in der Ukraine, tankten dort auf, griffen in einer zweiten Etappe die Raffinerien im ungarischen Diosgyör an, landeten im oberitalienischen Foggia zwischen und kehrten schließlich über Frankreich zu ihren Heimatflugplätzen in England zurück. Waren bei einem ähnlichen Unternehmen wenige Monate zuvor die amerikanischen Maschinen in Poltawa noch von deutschen Schlachtfliegern vernichtet worden51, so ließ das ungehinderte Agieren selbst relativ kleiner alliierter Verbände während der „frantic mission“ vom 11. / 12.  September 1944 nun keinen Zweifel mehr daran, wer die Luftschlacht über der Festung Europa endgültig zu seinen Gunsten entschieden hatte! In den folgenden Monaten begrenzte sich das Luftkriegsgeschehen über der Chemnitzer Region auf Aktivitäten von Aufklärungsflugzeugen sowie auf Überflüge einzelner Maschinen oder Verbände52. Die relative Ruhe, die im Oktober / November 1944 für den mittelsächsischen Raum einsetzte, war der Konzentration der alliierten Aktivitäten gegen die Einrichtungen der Ölindus­ trie, gegen die Städte vorrangig im westdeutschen Raum und dem Vorrücken der Westfront geschuldet: Die Luftwaffen der Verbündeten hämmerten auf die Nachschubverbindungen der Wehrmacht ein. Der Landgewinn auf dem Kontinent brachte nun auch mit sich, dass alliierte Flugzeuge von französischem Boden aus starten und damit auch weit östlich im Reichsgebiet gelegene Städte angreifen konnten. Angesichts ihrer raschen Erfolge gingen die Alliierten davon aus, dass die Kampfhandlungen bis Weihnachten 1944 beendet und die „boys back home“ seien: Das Scheitern der „Operation Market Garden“ aber, die Ardennenoffensive der Wehrmacht, die V-Waffen und die Konfrontation mit den neuen deutschen Strahl- und Raketenflugzeugen sowie eine immense Erhöhung des Rüstungsausstoßes der deutschen Industrie selbst unter den Bedingungen des verschärften Bombenkrieges täuschten die Alliierten über die ökonomische und militärische Leistungsfähigkeit des Reiches. Das Ziel eines baldigen deutschen Zusammenbruchs schien wieder in weite Ferne gerückt, die ver51  47

zerstörte B17 am 21. / 22.6.44 in Poltawa. PRO Air 40 / 736 Interpretation reports, dates of photographs.

52  Vgl.



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meintlichen wirtschaftlichen Potenzen werteten die Bedeutung jener Städte in den Augen von USAAF und Bomber Command deutlich auf, denen man bisher nur nachrangige Bedeutung zugemessen hatte. Die Hoffnungen auf einen baldigen Sieg knüpften sich nun an die für Januar 1945 geplante Großoffensive der Roten Armee, die durch massive Luftschläge gegen die weitgehend intakten Ballungszentren Mitteldeutschlands unterstützt werden sollte. Dabei fasste die britische Regierung sogar den Einsatz chemischer und biologischer Massenvernichtungsmittel u. a. gegen Chemnitz und Dresden ins Auge53: Sie unterblieben nur, weil Churchill überzeugt war, dass Deutschland seinerseits gleichfalls mit Giftgasangriffen gegen Großbritannien reagieren würde. Anfang November 1944 informierte Arthur Harris den Chef des britischen Air Staff, Charles Portal (1893–1971), dass insgesamt 45 deutsche Städte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits völlig zerstört worden seien und die Vernichtung 12 weiterer Großstädte unweigerlich zum endgültigen Zusammenbruch des Reiches führen würde. Neben Berlin, Hannover, Halle, Leipzig, Dresden, München oder Breslau, nannte Harris auch die Stadt Chemnitz54. Harris’ obsessives Städtebombardieren schien nun doch die Chance auf einen Zusammenbruch des Reiches nahezulegen. In dem Maße, in dem sich Ost- und Westfront auf Reichsgebiet vorwärts bewegten, kam den Städten in Mitteldeutschland besondere Bedeutung für die deutschen Abwehrkämpfe zu. In enger Abstimmung mit den Sowjets55 wurden daher neue Prioritäten gesetzt. Chemnitz, Plauen oder Dresden fehlten ab Ende November 1944 auf keiner Einsatzliste mehr56: Chemnitz wurde mittlerweile unter die wichtigsten Verkehrs- und Kommunikationszentren im Restkorpus des Reiches gerechnet. Noch einmal klärten Tiefflieger das Stadtgebiet auf: Neue Luftbilder von der Innenstadt entstanden57, die Bedeutung der Eisenbahneinrichtung für Evakuierung und Truppenbewegung von Ost nach West wurde untersucht und die bereits 1942 erstellten Dossiers zum Reichsbahnausbesserungswerk und Verschiebebahnhof Hilbersdorf an die 8th USAAF zur konkreten Einsatzplanung ausgehändigt58. Selbst die beiden kleinen, militärisch unbedeutenden Chemnitzer Flugplätze stiegen in ihrer Wertigkeit in dem Maße, in dem immer mehr Luftwaffenein53  PRO,

Cab. PRO Air 8 / 1020, Schreiben Harris an Portal vom 1.11.1944. 55  Vgl. PRO Air 20 / 3725. Die Vertreter der alliierten Militärmission in Moskau legten die Ziellisten den sowjetischen Behörden zur Bestätigung vor. 56  Vgl. PRO Air 14 / 1206, Order of Priority, dat. 23.11.1944; Air 20 / 3361, Schreiben Bottomley, dat. 26.1.1945. 57  Vgl. Luftbilder N°4123 und 4124 vom Dez. 1944 (Schloßbergmuseum, Luftbildsammlung). 58  Vgl. AFHRC, Roll Nr. A5032, Ordnance survey, fol. 270  ff. (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung). 54  Vgl.

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richtungen von den Truppen der Anti-Hitler-Koalition überrannt worden waren59. Um schließlich die von den Westalliierten sehnlichst erwartete, jedoch infolge des deutschen Widerstandes in Schlesien nicht optimal verlaufende Offensive der 1. Ukrainischen und 1. Belorussischen Front im Januar 1945 zu entlasten, stimmten sich Winston Churchill, Norman Bottomley (1891– 1970), ein führender Mitarbeiter des Air Staff, und Charles Portal auf drängendes Bitten der Sowjetunion hin über die weitere Vorgehensweise ihrer Luftwaffen ab. Sie einigten sich am 26. / 27. Januar 1945 dahingehend, „alle Anstrengungen in einen Großangriff auf Berlin und Angriffe auf Dresden, Leipzig und Chemnitz (zu konzentrieren U. F.), wo ein schweres Bombardement nicht nur Konfusion bei der Evakuierung aus dem Osten erzeugt, sondern auch die Heranführung von Truppen aus dem Westen behindern“60 würde. Am 29. Januar 1945 wurde der Entschluss, „sobald es die Witterungsbedingungen zulassen, Angriffe auf Berlin, Dresden, Leipzig und Chemnitz zu fliegen“61 per Rundschreiben dem Bomber Command und der 8th USAAF bekannt gegeben. Ziel der Angriffe sei es, das Chaos, das in diesen Städten aufgrund des russischen Vormarsches herrsche, zu vergrößern62. Den Rangier- und Verschiebebahnhöfen im Stadtgebiet galt am 6.  Februar 1945 der erste Angriff auf Chemnitz im Kontext der aktuellen strategischen Vorgaben63. 474 B17 der 8th USAAF versuchten, die Hilbersdorfer Bahnanlagen auszuschalten. Die Flugzeugbesatzungen konnten witterungsbedingt die Wirkung ihrer Kampfmittel jedoch nicht beobachten; ihre Einschätzungen in unmittelbarer Auswertung des Einsatzes variierten von „möglicherweise exzellent“ bis „unbeobachtet“64. Erst im „Weekly Operational Summary“ konnten die Ergebnisse einigermaßen verifiziert werden65: Dabei stellte sich heraus, dass die Staffeln ihre Ziele verfehlt hatten. Die Verkehrseinrichtungen der Reichsbahn blieben nahezu unversehrt. In der Endkonsequenz 59  Vgl. AFHRC, Roll Nr. 25191 MAAF, Landing grounds (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung). 60  PRO Air 20 / 3361, Schreiben 24A und 27A. 61  PRO Air 14 / 1433, Letter CMS 608 / BCAS, 27.1.1945. 62  Ebd. „The attacks have the object of exploiting the confused situation which exist in the above mentioned cities during the russian advance“. 63  Vgl. PRO Air 40 / 802 Intops summary 282 vom 6.2.1945; Interpretation report S. A.3189 vom 7.2.1945. 64  AFHRC, Roll Nr. B0485, Group / 0398 / Bombardment (heavy), fol. 0992 ff. (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung); auch: PRO 40 / 802 Intops Summary Nr.  282 pg.1 ff. 65  AFHRC, Roll Nr. B0896, Combat Wing Reports, fol. 841 f. (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung).



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konnte der Erfolg der Mission nur als „completely wasted“ eingeschätzt werden66. Der Misserfolg vom 6.  Februar 1945 und die seitens der alliierten Frontkommandeure immer stärker artikulierte Bedeutung der mitteldeutschen Industriestädte mussten zwangsläufig weitere Angriffe nach sich ziehen. Nach der verheerenden Dresdener Bombennacht vom 13. / 14.  Februar 194567 wurde wenige Stunden später erneut Chemnitz auf die Ziellisten gesetzt und um die Mittagszeit von 294 Fliegenden Festungen der 8th USAAF angegriffen68, allerdings mit vergleichbaren Resultaten wie schon am 6.  Februar. Hauptziel waren wiederum die „Marshalling Yards“, abermals bombardierten die Flugzeuge, diesmal mit einem Mix aus Spreng- und Brandbomben, durch eine geschlossene Wolkendecke. Erneut verfehlten die Flugzeuge ihre Ziele; stattdessen wurde das Areal Reichenhain / Altchemnitz schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die bisherige Misserfolgsserie der Chemnitz-Raids mit dem Ziel, die Stadt als vitales Target aus dem Kriegsgeschehen herauszubomben, fand ihre Fortsetzung am Abend des 14. Februar 1945. Das prognostizierte Wettergeschehen in Mitteldeutschland ließ zunächst das britische Bomber Command auf den in der Januar-Direktive geforderten entscheidenden Schlag hoffen, so dass Chemnitz als „primary target“ ausgewiesen wurde. Das Angriffsmuster folgte im Wesentlichen dem Angriff auf Dresden vom Vorabend. Das Bomber Command griff die Stadt in zwei Phasen an69: Gegen 21 Uhr warfen zunächst 313 Lancaster und Halifax-Bomber ihre tödliche Last über dem vermeintlichen Stadtgebiet ab, 00.21 Uhr folgten die 358 Flugzeuge der zweiten Welle70. Insgesamt setzten die Staffeln, ziemlich unbeeindruckt von den deutschen Abwehrmaßnahmen71, neben rund 790 Tonnen Spreng- und 1.200 Tonnen Brandbomben auch 230 2-Tonnen-Luftminen sowie eine im Gewicht von vier Tonnen ein. In Auswertung des Raids musste das Bomber Command in den Morgenstunden des 15. Februar 1945 jedoch zum wiederholten Male konstatieren, dass der Angriff zwar einige Schäden u. a. an In66  AFHRC, Roll Nr. B0896, fol. 841 u. (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung). 67  Zu Dresden vgl. Götz R. Bergander, Dresden im Luftkrieg. Köln 1995; Helmut Schnatz, Tiefflieger über Dresden. Dresden u. a. 2000; Verbrannt bis zur Unkenntlichkeit. Die Zerstörung Dresdens 1945, hrsg. v. d. Landeshauptstadt Dresden, Stadtmuseum, Direktor Matthias Griebel, Dresden 1994. 68  Vgl. AFHRC, Roll Nr. 7094, 0008 Air Force, fol. 514 ff. (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung). 69  Vgl. PRO Air 14 / 1214, Night raid report N° 838; BC report on night operations: 14. / 15.February 1945. 70  Vgl. ebd. 71  Vgl. PRO Air 14 / 3080, Nr. 1 Group summary of operations night 14. / 15.2.1945.

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Abb. 1: B17-Bomber der USAAF beim Angriff auf Chemnitz am 2. März 1945. Quelle: Schlossbergmuseum Chemnitz

dustrieeinrichtungen verursacht habe, es jedoch zu keinen flächigen Zerstörungen vergleichbar Dresden gekommen sei. In seinem Bulletin N°17797 räumte das britische Air Ministry den Fehlschlag des Nachtangriffes vom 14. Februar ein und leitete Konsequenzen daraus ab: Im Hinblick auf die große Bedeutung von Chemnitz in dieser Phase des Krieges wurde ein zweiter schwerer Nachtangriff für notwendig befunden72. Am 2. März 1945 griff zunächst die 8th USAAF Chemnitz als „secondary target“ an; ab diesem Datum werden seitens der Amerikaner nicht mehr nur Verkehrs- und Industrieziele, sondern auch die City („town area“) und „bewohnte Gebiete“ („populated areas“) als target angesprochen73. Die 72  Vgl. PRO Air Ministry Bulletin Nr. 17797, Nr. 9: „And in view of the great importance of Chemnitz at this stage of war, a second heavy night attack was judged necessary“. 73  AFHRC, Roll Nr. B5021, 0008 Air Force; Roll Nr. A5881, 0008 Air Force; Roll Nr. B5290 Division / 0001 / Air (alle 2.3.1945) (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung).



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255 Flugzeuge zerstörten u. a. den Betrieb mit der höchsten Priorität im Baedeker, die Werke der Reinecker AG74 und verursachten Schäden an den Eisenbahneinrichtungen. Im Rahmen der Angriffshandlungen gegen die Chemnitzer Bahnanlagen geriet wiederholt Siegmar ins Visier der Bomber; am Bahnhof wurde ein vollbesetzter Personenzug getroffen, wobei 73 Personen75 im Bombenhagel (und nicht wie vielfach kolportiert im Resultat einer perfiden „Tiefflieger-Menschenjagd“76) ums Leben kamen. In Bernsdorf starben 103 Jungen und Mädchen, als die Bomben das Städtische Kinderheim trafen. Weitere Angriffe der 8th USAAF, so am 3.77 und am Vormittag des 5. März78, blieben in Planung, Durchführung und Resultaten den bisherigen Einsätzen vergleichbar: Zwar hinterließen die Raids im gesamten Stadtgebiet schwere Schäden, sowie − alle Angriffe vom 12.  März 1944 an zusammengenommen − weit über 1.000 Todesopfer. Keiner der Angriffe aber hatte, noch nicht einmal in der Addition aller Ergebnisse, einen nennenswerten Effekt auf das Funktionieren der Stadt als Wirtschaftsstandort, Kommunikationszentrum oder Verkehrsknotenpunkt. Chemnitz erfüllte im Funktionieren auf diesen Ebenen nach wie vor alle Kriterien einer noch immer leistungs­ fähigen Infrastruktur, die ihrerseits integraler Bestandteil der Verteidigungsanstrengungen des Reiches war. Mit dem Vorrücken der Fronten an Mitteldeutschland heran79 lag die strategische Bedeutung einer funktionierenden Infrastruktur der Städte in Sachsen („essential for the defence of Eastern Germany“80), wo immerhin fast 1,5 Millionen Mann deutscher Truppen, 74  Entgegen der bisherigen Auffassung des Verf. wird man in Frage stellen müssen, ob es sich bei der Zerstörung der Reinecker-Werke um einen geplanten „precission raid“ handelte oder die Einrichtungen im Rahmen der allgemeinen, auf das Stadtgebiet orientierenden Angriffshandlungen zerstört wurden. Hinsichtlich der in den Briefings ausgewiesenen Angriffsziele findet sich nämlich kein Hinweis auf ein geplantes Vorhaben gegen die Reinecker A. G. 75  Vgl. Gert Richter, Chemnitzer Erinnerungen 1945. Eine Dokumentation in Wort und Bild über die Zerstörung von Chemnitz im Zweiten Weltkrieg, Chemnitz 1995, 25 ff. 76  Tieffliegereinsätze („strafings“), besonders gegen „rollendes Eisenbahnmaterial“ waren allerdings gängige Praxis; dabei spielte es keinerlei Rolle, ob es sich um Lok oder Waggon, Militär-, Güter- oder Personentransport handelte. Während eines „bomb­ing runs“ jedoch hatten die Eskort-Jäger den Bomberpulk gegen Feindeinwirkung abzuschirmen; eine Vernachlässigung dieser Aufgabe oder die freie Jagd unterhalb bombardierender Einheiten hätte selbstmörderischen Charakter gehabt. 77  Vgl. AFHRC, Roll Nr. B5021, 0008 Air Force; Roll Nr. A5881, 0008 Air Force; Roll Nr. B5290, Division / 0001 / Air. 78  Vgl. AFHRC, Roll Nr. B0485; Group / 0398 / Bombardment (Heavy); Roll Nr. B5508, Division / 0003 / Air; Roll Nr. B5291 / Division / 0001 / Air. 79  Vgl. Percy E. Schramm (Hrsg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht 1944–1945. Teilbd. 2. 80  Air Ministry Bulletin Nr. 17797.

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noch dazu in direkter Verbindung zur Heeresgruppe Schoerner in Böhmen, standen, auf der Hand. Allein diese Intaktheit von Stadt und Region, und nicht die aus Bodensicht bereits zu diesem Zeitpunkt recht hohe Zahl von zerstörten Einzelgebäuden und Luftkriegsgefallenen bestimmte den Entschluss der Alliierten über einen finalen Schlag gegen Chemnitz. Das Bomber Command hatte diesen Schlag für die Abendstunden des 4. März angesetzt81, der Einsatz gegen das Ziel unter dem Namen „Blackfin“, der Codebezeichnung für Chemnitz, musste jedoch auf Grund der Wetterbedingungen um 24 Stunden verschoben werden. In den Nachmittagsstunden des 5. März schließlich erfolgte das Briefing für die Staffeln des Bomber Commands, „to destroy built up area and associated industries and rail facilities“82. Obwohl die Witterungsbedingungen auch an diesem Abend nicht besser waren als am 14. Februar, gelang es diesmal dem Masterbomber, die Zielmarkierer exakt an das Stadtzentrum heran zu führen. Die Crews des Bomberstromes, die wenig später aus NordNordwest das Stadtgebiet anflogen, berichteten übereinstimmend, dass die Sky Marker, die Leuchtzeichen, trotz der dichten Wolken „gut konzentriert“ auszumachen gewesen wären83. Die Detonationen von fast 500 Luftminen signalisierten den Flugzeugbesatzungen gleichfalls eine dichte Konzentration der Kampfmittel im Stadtkern. Insgesamt warfen in der ersten Angriffswelle um 21.37 Uhr 683 Flugzeuge außer den Luftminen über 1.100 Tonnen Spreng- und 850 Tonnen Brandbomben über der Chemnitzer Innenstadt ab84. Der Feuersturm, der durch die Kombination von Luftminen, Brand- und Sprengmitteln hervorgerufen wurde, erreichte zwar nicht die Intensität der Dresdner Bombennacht − die City und das angrenzende Südviertel brannten jedoch bereits nach der ersten Angriffswelle lichterloh −, als 23.28 Uhr noch einmal sechs Mosquito-Schnellbomber das Stadtzentrum attackierten und mitten in das „gut konzentrierte, furchtbar brennende Flammenmeer“ hinein bombten85. Der Doppelschlag des Bomber Command in der Nacht zum 6. März 1945, dem über 2.100 Menschen zum Opfer fielen, erfüllte − bezogen auf das Target „Blackfin“ − nun die Erwartungen der Alliierten: Die Aufklärer, die zwei Tage später über Chemnitz kreisten und berichteten, dass noch immer „Feuer im Stadtgebiet brennen“86, schätzen die Innenstadt, die Industrieareale und die Eisenbahneinrichtungen als „völlig zerstört“ ein. Der 81  Vgl.

PRO Air 24 / 310, 4.3.1945 BC Signal Office. 5.3.1945 BC Signal Office. 83  Ebd., BC Intelligence Narrative of Operations Nr. 1025; 5. / 6.3.1945. 84  Vgl. PRO Air 14 / 1214, Night Raid Report Nr. 856. 85  PRO Air 24 / 310, BC Intelligence Narrative of Operations Nr. 1025. 86  AFHRC, Roll Nr.  A5228, 8th Air Force Damages Assessements, fol. 535 (Schloßbergmuseum, Microfilmsammlung). 82  Ebd.,



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„Interpretation Report Nr. K.3899“ fasste die Ergebnisse der gesamten Angriffe der 8th USAAF vom 2.,3. und 5. März sowie des Bomber Command vom 5. / 6.  März wie folgt zusammen: „Die vorher nur leicht beschädigte Stadt Chemnitz hatte schwerstens zu leiden; Schäden wurden überwiegend durch Feuer hervorgerufen, das 60 Prozent der zentralen Hochbauzone ­vernichtete. Schwere Schäden erstrecken sich auf die Vorstadtareale. Von 50 mit Priorität ausgewiesenen Industrieeinrichtungen wurden 17 zerstört. Das Transportsystem ist schwerstens betroffen. Das Bahnausbesserungswerk etwa verlor über ein Drittel seiner Gebäude.“ In Auswertung aller Schadenseinschätzungen87 sahen die Alliierten offenbar den Zweck der Angriffserie gegen Chemnitz erfüllt: In Umsetzung der offiziellen Verlautbarungen des Headquarter’s Public Relation Office schrieb die amerikanische Associated Press Chemnitz als „tote Stadt“ für die Kriegführung des Reiches ab88. Damit war der Luftkrieg für Chemnitz jedoch noch nicht beendet. In der Nacht zum 11. April flogen 20 britische MosquitoSchnellbomber einen Einsatz gegen das Stadtgebiet („town area“)89. Luftminen, Spreng- und Brandbomben gingen weit verteilt im Nordosten der Stadt nieder. Die Ergebnisse dieser Abwürfe waren für das Bomber Command nicht mehr von Interesse, denn der eigentliche Auftrag der schnellen Verbände bestand in einer „feint attack“, einem Ablenkungsangriff, der die ­beiden Hauptziele dieser Nacht  – Plauen und der Rangierbahnhof LeipzigWahren – gegenüber der deutschen Nachtjagd verschleiern sollte. Nach den Bombenangriffen blieb im Zusammenhang mit dem Vorrücken der amerikanischen Bodentruppen auf Chemnitz die Gefahr von Tieffliegern bis zum Kriegsende latent. Zwar hatten die Jagdbomber der 9th USAAF ab Mitte April 1945 strikte Weisung, Bodenangriffe zu unterlassen, da die Gefahr bestand, dass Kolonnen sog. „displaced persons“, eigene Truppen oder Einheiten der Roten Armee attackiert würden90. Die massiven Aktivitäten der Jabos über Sachsen aber führten zusammen mit dem Artilleriebeschuss, mit dem die amerikanischen Bodentruppen ab 18. April 1945 Chemnitz eindeckten91, zu einer weiteren Demoralisierung der Bevölkerung.

87  Vgl.

AFHRC; Roll Nr. B5021; 0008 Air Force; fol. 1610–1626. Roll Nr. A5882, Public Relation Office Releases; fol. 7 ff. 89  PRO, Air 14 / 1214, Night Raid Report Nr. 888. 90  Vgl. AFHRC, Roll Nr. B5701, 9th Air Force, fol. 270–635. 91  Vgl. AFHRC, Roll Nr. C5159, Army / 0020 / Corps, fol. 530–855. 88  AFHRC,

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Abb. 2: Luftaufnahme vom Chemnitzer Stadtzentrum im April 1945. Quelle: Schlossbergmuseum Chemnitz.

V. Resümee Wohl kaum ein anderes Ereignis der sächsischen und der Chemnitzer Geschichte ist so reich an Widersprüchen und Fehleinschätzungen wie das Luftkriegsgeschehen in den Jahren 1940 bis 1945. Legenden betreffen Details der Angriffe ebenso wie generelle Fragestellungen. Sie entspringen unterschiedlichen Motiven: Sie wurden nicht nur aus traumatischem Erleben und dem Erklärungsbedürfnis Betroffener geboren: Sie waren (und sind) politischen Überlegungen ebenso geschuldet wie einem weit verbreiteten Informationsdefizit. Um heute zu annähernd exakten Aussagen über Motive, Verlauf und Ergebnisse alliierter Luftkriegshandlungen in Sachsen zu gelan-



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gen, ist die Analyse der britischen und amerikanischen Quellen unerlässlich. In der Tat relativieren die in den Jahren 1941 bis 1945 entstandenen Dokumente unterschiedlichster Provenienz – von der ministeriellen Entscheidungsebene bis hinunter zum einzelnen Crewmitglied – viele bisher als feststehend angenommene Auffassungen. Es lässt sich heute nachweisen, dass die Chemnitzer Industrie als Weltmarktkonkurrent, besonders aber in ihrer Relevanz für die deutsche Rüstung, nicht die jahrelang vermutete he­ rausragende Rolle gespielt hat. Keiner der Industriezweige, der angeblich der U.S.A.-Konkurrenz ein Dorn im Auge gewesen wäre (etwa Schreibmaschinen oder Automobilbau) wurde explizit in strategischen Überlegungen der Westalliierten einbezogen. Bezogen auf die Rüstungsindustrie blieb ihr Wissen bis Kriegsende viel zu gering, als dass daraus eine besondere Motivik für die Zerstörung der Stadt hätte abgeleitet werden können, wie beispielsweise im United States Strategic Bombing Survey im August 1945, der die Resultate der amerikanischen Einsätze untersuchte, konstatiert werden musste92. Angesichts der erst zu diesem Zeitpunkt offenbarten militärischen Bedeutung der Auto Union in Siegmar-Schönau räumte der Survey ein vollständiges Versagen der alliierten Aufklärung ein. Im britischen Bombing Survey tauchte Chemnitz bezeichnenderweise gar nicht erst auf. Die britischen und amerikanischen Quellen machen jedoch deutlich, dass es − wie bereits im Information Sheet von 1942 formuliert − die Stadt Chemnitz selbst in ihrer ganzen Komplexität, mit ihrer Bausubstanz, ihren Menschen, ihren Verkehrseinrichtungen, ihrer Industrie gewesen ist, von deren Zerstörung sich die alliierten Planungsstäbe einen für sie positiven Einfluss auf den Kriegsverlauf versprachen. Entgegen der lokalen Annahme, die Bombardierung der sächsischen Städte sei militärisch sinnlos gewesen, weil der Krieg schon entschieden gewesen sei, stehen die alliierten Auffassungen für eine gegenteilige Sichtweise: Vor dem Hintergrund der konkreten militärischen Situation des ersten Quartals 1945 versprachen sich die Alliierten in allgemeinem Konsens, d. h. auch in direkter Abstimmung mit der Sowjetunion, einen unmittelbaren Nutzen von den Luftangriffen. In Übereinstimmung mit den in Casablanca formulierten allgemeinen Direktiven der strategischen Bomberoffensive und in der Umsetzung radikaler Luftkriegskonzepte sollte zu diesem Zeitpunkt mit allen Mitteln verhindert werden, dass die mitteldeutschen Städte die Operationsbasis der Wehrmacht in einem langwierigen, für die alliierten Bodentruppen verlustreichen Kampf in der Agonie des Dritten Reiches bildeten. Die Ausschaltung der Infrastruktur sowie die Demoralisierung der Bevölkerung „bis zu einem Punkt, an dem die Fähigkeit, bewaffneten Widerstand zu leisten, 92  Vgl. United States Strategic Bombing Survey, Washington D.C., 1945 / 47 „Auto Union Chemnitz / Zwickau“.

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entscheidend geschwächt ist“ – dieses waren auch in Bezug auf die Zerstörung von Chemnitz und anderer sächsischer Städte die entscheidenden Motive. Letztendlich jedoch war es nicht der uneingeschränkte Luftkrieg gegen zivile Ziele, der über den Ausgang des Zweiten Weltkrieges entschied, wenngleich dieser enorme Ressourcen des Reiches band und im Einzelnen, wie beispielsweise in Chemnitz, tatsächlich eine völlig demoralisierte Bevölkerung hinterließ, der nichts ferner lag, als aus „ihren Mauern heraus“ den alliierten Bodentruppen noch Widerstand entgegenzusetzen. Der entscheidende Beitrag, den die britische und amerikanische Luftwaffe durchaus zu leisten in der Lage war, lag in ihrer Überlegenheit über den Schlachtfeldern und im Ausschalten der für die Mobilität der Achsenmächte wichtigen Industrien. Mit Blick auf letztgenannten Aspekt aber hätte es vielleicht, bei Vermeidung von fast 4.000 Todesopfern, auch zu den Bombennächten in Chemnitz eine Alternative gegeben: „Es ist offensichtlich“, konstatierte der United States Strategic Bombing Survey im August 1945, „dass die Aufklärung nichts darüber wusste, dass das Werk Siegmar von April bis September (1944, U. F.) alleiniger Hersteller von Tiger- und Panther-Motoren und somit ein höchst lebenswichtiges Angriffsziel war […] Die Zerstörung dieses einen Werkes im April hätte den kompletten Ausfall des Nachschubes von Panzermotoren zur Folge gehabt. Ein Zeitraum von 4–5 Monaten wäre verstrichen, in dem die deutsche ­Armee auf 2.000 Panzer verzichten müsste.“93 Durch militärische Versäumnisse und Unzulänglichkeiten sowie durch starres Festhalten an einer Luftkriegsdok­ trin, die vordergründig auf Zerstörung ziviler Ziele und den massenhaften Tod von Zivilisten orientierte, entging den alliierten Luftwaffen über Chemnitz tatsächlich eine reale Chance, die deutsche Niederlage zu beschleunigen.

93  Vgl.

ebd.

Das Ende der Illusionen Die Situation der Zivilbevölkerung im Osten Deutschlands 1944 / 45 Von Manfred Nebelin, Dresden Es gehört zu den Grunderfahrungen historischen Forschens, dass in der Geschichtswissenschaft die Beendigung von Kriegen und militärischen Konflikten – verglichen mit der Erörterung ihrer Ursachen und Anlässe – nur bedingt die ihrer Bedeutung entsprechende Beachtung findet. In exemplarischer Weise gilt dies für die militärischen Auseinandersetzungen des Deutschen Reiches im 19. und 20. Jahrhundert. So hat das Ende des DeutschFranzösischen Krieges von 1870 / 71 erst nach über hundert Jahren eine adäquate wissenschaftliche Darstellung gefunden1 und vergleichbar angelegte Untersuchungen über die Schlussphasen des Ersten und Zweiten Weltkrieges liegen erst seit den 1990er Jahren vor2. Erschwerend für die Erhellung der verschiedenen Stationen des militärischpolitischen Zusammenbruchs des „Dritten Reiches“ wirkt sich dabei die Tatsache aus, dass die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges anlässlich der Pariser Friedenskonferenz im Februar 1947 zwar Frieden mit Hitlers ehemaligen Verbündeten Italien, Ungarn, Finnland, Rumänien und Bulgarien schlossen, ein entsprechender Vertrag mit Deutschland – im Unterschied zu dem den Ersten Weltkrieg beendenden Versailler Vertrag3 – hingegen nicht zustande kam. Die Gründe dafür sind in den deutschlandpolitischen Differen1  Vgl. Eberhard Kolb, Der schwierige Weg zum Frieden. Das Problem der Kriegsbeendigung 1870 / 71, München 1985. 2  Für das Ende des Ersten Weltkrieges nach wie vor am ausführlichsten Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, hrsg. von Jörg Duppler und Gerhard P. Groß, München 1999. Für das Ende des Zweiten Weltkrieges vor allem Ian Buruma, ’45. Die Welt am Wendepunkt, München 2014; Rolf-Dieter Müller / Gerd R. Ueberschär, Kriegsende 1945. Die Zerstörung des Deutschen Reiches, Frankfurt / M. 1994; Richard Overy, 8. Mai 1945: Eine internationale Perspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 16–17 / 2015, 3–9; The Closing of the Second World War, ed. by David W. Pike, New York 2001. Besonders eindrucksvoll eingefangen wird die Dramatik der letzten Kriegstage (20. April bis 9.  Mai 1945) in dem Werk von Walter Kempowski, Das Echolot. Abgesang ’45, Ein kollektives Tagebuch, München 2005. 3  Siehe Eberhard Kolb, Der Friede von Versailles. München 2005; Hans-Christof Kraus, Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verstän-

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zen der drei Westmächte und der Sowjetunion während des Kalten Krieges zu sehen. Zudem dürfte Stalin, der von 1939 bis 1941 mit Hitler paktiert hatte4, kaum daran gelegen gewesen sein, im Rahmen eventueller Friedensverhandlungen die bei dem Einmarsch der Roten Armee im Osten Deutschlands begangenen Kriegs- und Menschenrechtsverletzungen in die öffentliche Diskussion gerückt zu sehen. Welche politische Sprengkraft die Vorgänge im Osten des Deutschen Reiches während des letzten Kriegswinters lange Zeit für die sowjetische Innenpolitik besaßen, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass erst im Zeichen von „Glasnost“ und „Perestroika“ in der Ära Gorbatschow die Archive für eine Bewältigung dieses wichtigen Abschnitts sowjetischer Geschichte geöffnet wurden. In welchem Maß die Vorgänge im Osten Deutschlands 1944 / 45 und die damit auf das engste zusammenhängende Flucht und Vertreibung von sieben Millionen Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße5 auch in der Bundesrepublik ein Politikum darstellte, bekam in Jahr 1986 der in Köln lehrende Historiker Andreas Hillgruber zu spüren. In seinem Essay „Der Zusammenbruch im Osten 1944 / 45 als Problem der deutschen Nationalgeschichte und der europäischen Geschichte“6 hatte der international renommierte Forscher die Ergebnisse der bisherigen Forschung bilanziert und Anregungen für künftige Untersuchungen gegeben. Dass er damit an einem Tabu gerüttelt hatte, zeigte die heftige Reaktion auf den Beitrag, der von seinen wissenschaftlichen Kontrahenten mit zum Anlass des sogenannten Historikerstreits genommen wurde und die in dem absurden Vorwurf gipfelte, Hillgruber beabsichtige, der Bundesrepublik einen „Staatsmythos Ostfront“ aufzupfropfen7. Ohne auf die dadurch seinerzeit in der historischen Zunft und der Publizistik ausgelöste Diskussion einzugehen, soll im Folgenden die Lage der Zivilbevölkerung im Osten Deutschlands vom Beginn der sowjetischen Großoffensive am 12. Januar 1945 bis zur Kapitulation des Deutschen Reiches am 7. / 9.  Mai 1945 skizziert werden. Dazu ist zunächst (I.) zu fragen, wie Hitler und die NS-Führung die Situation im Osten, speziell in Ostdigung 1919–1933, Berlin 2013; Peter Krüger, Versailles. Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedenssicherung, München 1986. 4  Vgl. dazu Klaus Hildebrand / Andreas Hillgruber, Kalkül zwischen Macht und Ideologie. Der Hitler-Stalin-Pakt: Parallelen bis heute?, Berlin 1985. 5  Vgl. Die deutschen Vertreibungsverluste. Bevölkerungsbilanzen für die deutschen Vertreibungsgebiete 1939 / 50, hrsg. vom Statistischem Bundesamt, Stuttgart 1958. 6  Andreas Hillgruber, Der Zusammenbruch im Osten als Problem der deutschen Nationalgeschichte und der europäischen Geschichte, in: Zweierlei Untergang, hrsg. von Andreas Hillgruber, Berlin 1986, 11–74. 7  Micha Brumlik, Neuer Staatsmythos Ostfront. Die neueste Entwicklung der Geschichtswissenschaft der BRD, in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, 77–83.



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preußen und Schlesien, um die Jahreswende 1944 / 45 einschätzten und welche Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen wurden. Daran anschließend (II.) soll beleuchtet werden, welche Lage sich für die Bevölkerung nach dem Vordringen der Roten Armee ins Reich ergab. Schließlich (III.) ist zu zeigen, mit welchen Mitteln die NS-Propaganda den Widerstandswillen der Männer, Frauen und Kinder an der „Heimatfront“ zu stärken sowie den Glauben an den „Endsieg“ des „Großdeutschen Reiches“ wach zu halten suchte. Bei alldem geht es nicht darum, die bei der Besetzung Ost- und Mitteldeutschlands von Angehörigen der Roten Armee begangenen Verbrechen gegen die Gräueltaten der Deutschen in der Sowjetunion in den Jahren 1941 bis 1944 „aufzurechnen“ und damit den Charakter des Unternehmens „Barbarossa“ als rassenideologischem Vernichtungskrieg zu relativieren. Vielmehr kommt der Betrachtung der Situation in Ostdeutschland in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges über den Ereigniszusammenhang hinaus in zweifacher Hinsicht besondere Bedeutung für die Geschichte des Nationalsozialismus zu: zum einen, weil dadurch die Kontinuität von Hitlers Anfang der 1920er Jahre entwickelten politischen „Programm“ bis zu seinem Selbstmord am 30. April 1945 deutlich wird; zum anderen, weil dadurch Hitlers Stellung als omnipotenter Herrscher auch in den letzten Monaten seiner zwölfjährigen Herrschaft beispielhaft sichtbar wird und somit ein Beitrag zu der immer wieder auflodernden Debatte geleistet werden kann, ob Hitler ein „starker“ oder „schwacher“ Diktator war8. I. Die östlich von Oder und Neiße gelegenen Provinzen des Deutschen Reiches waren auf Grund ihrer großen Entfernung von den Luftbasen der Alliierten bis zum Sommer 1944 weitgehend von den Auswirkungen des Bombenkrieges verschont geblieben. Als Folge davon und angesichts der scheinbar riesigen Entfernung von der Front hatte sich in der Bevölkerung Ostpreußens und Pommerns sowie Nieder- und Oberschlesiens ein Gefühl relativer Sicherheit breit gemacht, welches durch den Zustrom von Hundertausenden von Luftkriegsevakuierten aus West- und Mitteldeutschland eher noch verstärkt worden war. Durch die Aufnahme immer neuer Flüchtlinge wuchs die Einwohnerzahl der östlichen Provinzen des Reiches trotz der Einberufung des überwiegenden Teils der männlichen Bevölkerung zum Wehrdienst bis zum Sommer 1944 ständig an und überschritt schließlich sogar die der Vorkriegsjahre. Das Gros der rund 10 Millionen zählenden Bevölkerung stellten 8  So Manfred Funke, Starker oder schwacher Diktator? Hitlers Herrschaft und die Deutschen, Ein Essay, Düsseldorf 1989.

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Frauen und Kinder. Dagegen war der Anteil der Männer relativ gering, weil nur die älteren und die in einem kriegswichtigen Landwirtschafts- oder Industriebetrieb tätigen von der Einberufung befreit waren. Zu der einheimischen Bevölkerung kam schließlich eine statistisch nicht genau erfasste Zahl von ausländischen Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen hinzu, von denen einige im Rahmen der im Januar 1945 einsetzenden Fluchtwelle wichtige Aufgaben übernehmen sollten9. Eine erste Änderung erfuhr die Einschätzung der Lage im Osten sowohl durch die nationalsozialistische Führung als auch durch die Bevölkerung infolge der sowjetischen Sommeroffensive des Jahres 1944, die am 22. Juni – dem dritten Jahrestag des deutschen Überfalls – auf breiter Front gegen die Heeresgruppe Mitte begann und die Angriffsspitzen der Roten Armee trotz heftiger deutscher Gegenwehr bis Mitte Oktober 1944 an die Grenze Ostpreußens führte. Unter dem Eindruck des sich abzeichnenden Zusammenbruchs der von Generalfeldmarschall Busch befehligten Heeresgruppe und des gleichzeitigen Vordringens der am 6. Juni 1944 in der Normandie gelandeten Westalliierten hatte sich Hitler bereits am 13. Juli gezwungen gesehen, seine im November 1942 getroffene Entscheidung, die Gauleiter für den Verteidigungsfall zu Reichsverteidigungskommissaren zu ernennen, in einem „Führererlass“ über die Zusammenarbeit von Partei und Wehrmacht „für den Fall eines Vordringens feindlicher Kräfte auf deutsches Reichsgebiet“ zu konkretisieren10. Demgemäß sollten die „Mobilisierung aller Kräfte im Heimatgebiet“ sowie die Koordinierung „aller Maßnahmen zur Evakuierung der deutschen Zivilbevölkerung“ allein Aufgabe der Partei-Dienststellen sein11. Mit der Vorbereitung und Durchführung der zu ergreifenden Maßnahmen betraute Hitler den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels. Diesen hatte er wenige Tage nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 zum „Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz“ ernannt12. Gleichzeitig erteilte der Diktator den Befehl, zum Schutz vor den „bolschewistischen Horden“ von Memel bis Schlesien entlang der Reichsgrenze einen „Ostwall“ anzulegen. Die Leitung des gewaltigen Bauvorhabens, welches freilich über Ansätze nie hinausgelangte, übertrug er dem ebenso fanatischen wie brutalen Gauleiter von Ostpreußen und ehemaligen Reichskommissar der Ukraine, Erich Koch, der die Bevölkerung der Grenzgebiete in den folgen9  Vgl. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. I / 1: Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten östlich der Oder-Neisse, hrsg. v. Bundesministerium für Vertriebene, Bonn 1953, 3 f. 10  Hitlers Weisungen für die Kriegführung, hrsg. von Walther Hubatsch, 2. Aufl., Koblenz 1983, 256. 11  Ebd., 260 f. 12  Siehe Peter Longerich, Goebbels. München 2012, 423 ff.



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den Wochen und Monaten zu Schanzarbeiten heranzog13. Angesichts der mit dem geplanten Bau eines derart ausgedehnten Befestigungssystems verbundenen hohen Erwartungen aber glaubten Hitler und Goebbels, alle Forderungen nach Erstellung von Evakuierungsplänen für die Bevölkerung der östlichen Grenzgebiete kategorisch ablehnen zu können, wie sie von verantwortungsbewussten militärischen und zivilen Dienststellen vorgebracht wurden. Unterstützt wurden Hitler und sein Paladin Goebbels, den Joachim Fest aufgrund seiner Machtfülle treffend als „Unterdiktator“ charakterisiert hat14, in ihrer Haltung vor allem von dem Leiter der Parteikanzlei, Martin Bormann, und dem Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, welchem der Diktator gemäß seiner Devise „divide et impera“ am 20. September 1944 die „reichseinheitliche Ausrichtung“ der Arbeit der Reichsverteidigungskommissare übertragen hatte, selbstredend nach von ihm selbst erteilten „allgemeinen Richtlinien“15. Mit welchen Mitteln der in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges mit Ämtern überhäufte Himmler16 die Verteidigung Deutschlands und schließlich den „Endsieg“ des „Dritten Reiches“ sicherstellen zu können glaubte, hatte dieser zwei Wochen zuvor, am 3. September, Vertretern aus Partei, Wehrmacht und Wirtschaft erläutert: „Wir verteidigen unser Land und wir sind am Anfang eines großen Weltreiches. Wenn die Kurve einmal abwärts geht, so geht sie auch eines Tages wieder aufwärts. Ein Weltreich, das nicht teuer zu stehen kommt und schwer erkämpft und erobert wird, ist keins. Es gibt keine Schwierigkeiten, die nicht von uns allen mit einer verbissenen Zähigkeit, mit Optimismus und Humor gemeistert werden“17. An dieser illusionären Lageeinschätzung hielten Hitler und seine Umgebung auch dann noch fest, als es sowjetischen Truppen am 19. Oktober 1944 gelang, im Raum Gumbinnen nach Ostpreußen vorzustoßen. Die, im Laufe der zwei Wochen währenden Besetzung, von sowjetischen Soldaten verübten Grausamkeiten, die in dem Massaker von Nemmersdorf am 20. / 21. Oktober gipfelten, schienen die von den Nationalsozialisten seit den 1920er Jahren propagierte Gefährdung der abendländischen Kultur durch den sogenannten jüdischen Bolschewismus zu belegen18. Zwar sahen sich Hitler und Gauleiter Koch auf Drängen der Militärs und der zivilen Verwaltungsbehörden veran13  Vgl. Armin Fuhrer / Heinz Schön, Erich Koch. Hitlers brauner Zar, Gauleiter von Ostpreußen und Reichskommissar der Ukraine, München 2010, 123 ff. 14  Joachim Fest, Die unbeantwortbaren Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwischen Ende 1966 und 1981, Reinbek 2005, 132. 15  Hitlers Weisungen (Anm. 10), 295 f. 16  Dazu Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2010. 17  Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, hrsg. von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson, Frankfurt / M. 1974, 247. 18  Vgl. Das Russlandbild im Dritten Reich, hrsg. von Hans-Erich Volkmann, Köln 1994.

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lasst, die Einwohner des Regierungsbezirkes Gumbinnen nahezu vollständig zu evakuieren, doch deutete der „Führer“  – im Unterschied zu den 600.000 Betroffenen und der Mehrheit der Bevölkerung Ostpreußens – das Zurückdrängen der sowjetischen Truppen hinter die Reichsgrenze durch die Wehrmacht Anfang November 1944 als Indiz für eine Wiederholung der Verteidigung Ostpreußens nach dem Muster des deutschen Erfolges in der Schlacht bei Tannenberg Ende August 1914. Seinerzeit hatten Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff einen Monat nach Beginn des Ersten Weltkrieges mit ihrer 8. Armee eine mehr als doppelt so starke russische Streitmacht vernichtend geschlagen und den drohenden Vormarsch der Armee des Zaren auf Berlin zum Stehen gebracht19. Vor allem aber negierte der gegen Ende des Krieges von der Außenwelt immer mehr isolierte, sich in eine Scheinwelt flüchtende Hitler, dass sich in der Bevölkerung Zweifel an dem lauthals propagierten deutschen „Abwehrsieg“ regten. Hierauf deutete die stille Abwanderung hin, welche Ende 1944 in weiten Teilen der deutschen Ostprovinzen einsetzte. Vorkehrungen für eine geordnete Räumung der gefährdeten Grenzgebiete glaubten die verantwortlichen Gauleiter indes nicht treffen zu müssen; Ausnahmen waren der Umsicht einiger weniger verantwortungsbewusster Regierungspräsidenten, Landräte und Bürgermeister zu danken. Wie seine Satrapen leugnete Hitler noch am Vorabend der sowjetischen Großoffensive die von der Roten Armee ausgehende Bedrohung. Entschiedene Warnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres, Generaloberst Heinz Guderian, tat der sich als „Feldherr“ verstehende Diktator während einer Lagebesprechung als „größten Bluff seit Dschingis Khan“ ab20. Im Zentrum seiner Überlegungen stand vielmehr die Lage im Westen Deutschlands, wo er mit der Ardennen-Offensive im Kampf gegen die Westmächte die militärische Entscheidung suchte. Seinem Kalkül zufolge war ein Sieg im Osten sicher, wenn es gelang, die vermeintlich hinter den Bolschewisten stehenden „westeuropäischen und amerikanischen Zuhälter“ zu schlagen21. Dass sich der Vabanque-Spieler Hitler hierbei über die politischen Konsequenzen einer deutschen Niederlage sehr wohl im Klaren war, gab er am 29. Dezember 1944 gegenüber dem Chef des Stabes des Generalinspekteurs der Panzertruppen, Generalmajor Wolfgang Thomale, in seltener Offenheit zu erkennen: „Noch einmal so lange, wie der Krieg gedauert hat, dauert er nicht mehr. Das ist ganz sicher. Das kann kein Mensch aushalten; wir nicht, 19  Ausführlich dazu Manfred Nebelin, Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2011, 123 ff. 20  Heinz Guderian, Erinnerungen eines Soldaten. Heidelberg 1951, 346. Zu Hitlers vermeintlicher militärischer Genialität siehe Wolfram Pyta, Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr, Eine Herrschaftsanalyse, München 2015. 21  Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945, hrsg. von Max Domarus, Bd. 2 / 2, Wiesbaden 1973, 2205.



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die anderen auch nicht. Es ist nur die Frage, wer es länger aushält. Derjenige muss es länger aushalten, bei dem alles auf dem Spiel steht. Bei uns steht alles auf dem Spiel … Wenn wir heute sagen würden: Wir haben es satt, wir hören auf, – dann hört Deutschland auf zu existieren.“22 II. Während Hitler und die NS-Führung hofften, den am 12. Januar 1945 beginnenden sowjetischen Großangriff23 abwehren zu können und damit das „Wunder des 20. Jahrhunderts“ zu vollbringen24, offenbarte der in der zweiten Januarhälfte erfolgende Einmarsch der Roten Armee ins Reich der Zivilbevölkerung eine bislang unbekannte Seite des Krieges: willkürliche Erschießungen, Massenvergewaltigungen, Deportationen, Raub, Plünderungen sowie Brandstiftungen bestimmten fortan für einige Monate das Leben der Menschen in Ostdeutschland. Voller Hass gegen den von den Einsatzgruppen des SD, der SS und der Wehrmacht auf dem Territorium der Sowjetunion geführten Weltanschauungskrieg25 und unter dem Einfluss einer massiven germanophoben Agitation in Soldatenzeitungen, Flugblättern und Rundfunksendungen stehend, waren viele Rotarmisten entschlossen, Rache zu üben. Wie diese aussehen sollte, beschrieb ein Flugblatt, das bereits im Oktober 1944 an die Soldaten verteilt worden war und dessen Urheberschaft dem russischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg zugeschrieben wird: „Tötet. Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht! Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft für immer das faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen! Nehmt sie als rechtmäßige Beute! Tötet, ihr tapferen Soldaten der siegreichen sowjetischen Armee!“26 22  Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942–1945, hrsg. von Helmut Heiber, Stuttgart 1962, 780. 23  Vgl. Rainer Behring, Die Winteroffensive der Roten Armee. Der Anfang vom Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, in: 1945. Untergang und Neubeginn, hrsg. von Thomas Prüfer, Köln 2005, 5–16; Christoffer Duffy, Red storm on the Reich. The Soviet march on Germany, 1945, London 1991. 24  Vgl. die Rede Hitlers vom 1. Januar 1945, in: Hitler, Reden und Proklamationen (Anm. 21), 2184. 25  Zum Unternehmen „Barbarossa“ ausführlich: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983; Christian Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941 / 42, München 2009; Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, hrsg. von Hannes Heer und Klaus Naumann, Hamburg 1995. 26  Zitiert nach Alfred M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, München 1977, 213, Anm. 19.

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Die bei der Besetzung der östlichen Provinz des Deutschen Reiches verübten Verbrechen an der Bevölkerung sind unmittelbar nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Vertriebene von einer Historiker-Kommission unter Leitung von Theodor Schieder im Rahmen einer breit angelegten Zeitzeugenbefragung erfasst und der Öffentlichkeit unter dem Titel „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ in Auswahl zugänglich gemacht worden27. Die nach Regionen geordneten Dokumente belegen, was den Zeitgenossen ohnehin bewusst war: die Hauptlast der Besetzung hatten die Frauen zu tragen. Zahlreiche Berichte über Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen legen davon Zeugnis ab28. Schier ausweglos wurde ihre Situation dadurch, dass denjenigen, die sich ihren Peinigern zu widersetzen suchten, sadistische Misshandlungen oder sofortige Ermordung drohten. Dass in dieser Extremsituation viele den Tod von eigener Hand vorzogen, ist bezeugt29. Eindringlicher als der Historiker vermag der Dichter der existenziellen Bedrohung der Frauen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Die Schilderung einer Begebenheit, welcher der junge russische Hauptmann Alexander Solschenizyn nach dem Einmarsch seiner Einheit in Neidenburg am 19. Januar 1945 beiwohnte und die er Jahre später in seiner Dichtung „Ostpreußische Nächte“ literarisch verarbeitete, verdeutlicht dies mit aller Intensität: „Zweiundzwanzig, Höringstraße.   /   Noch kein Brand, doch wüst, geplündert.   /   Durch die Wand gedämpft  – ein Stöhnen: Lebend finde ich die Mutter.   /   Waren’s viel auf der Matratze?  /   Kompanie? Ein Zug? Was macht es!  /   Tochter – ein Kind noch, gleich getötet.   /   Alles schlicht nach der Parole: NICHTS VERGESSEN! NICHTS VERZEIH’N! BLUT FÜR BLUT! – und Zahn für Zahn. Wer noch Jungfrau, wird zum Weibe, und die Weiber  – Leichen bald.   /   Schon vernebelt, Augen blutig, bittet: ‚Töte mich, Soldat!‘   /   Sieht nicht der getrübte Blick? – Ich gehör doch auch zu jenen!“30 Für den späteren Literaturnobel27  Vgl. Dokumentation der Vertreibung (Anm. 9). Zur Methode Martin Broszat, Massendokumentation als Methode zeitgeschichtlicher Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2, 1954, 202–213; Theodor Schieder, Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten als wissenschaftliches Problem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 8 (1960), 5–16. 28  Siehe Roland Thimme, Schwarzmondnacht. Authentische Tagebücher berichten (1933–1953). Nazidiktatur  – Sowjetische Besatzerwillkür  – Überlebensstrategien, Berlin 2009; Feindberührung: Die russischen Sieger in Berlin. Frauen berichten, hrsg. von Vera Albrecht, Berlin 2013. 29  Als Beispiel kann der „Massenselbstmord“ im pommerschen Demmin gelten. Während der Besetzung der Stadt zwischen dem 30. April und dem 3. Mai 1945 nahmen sich von den 15.000 Einwohnern nach Schätzungen zwischen 800 bis 2.000 Menschen das Leben; vgl. Florian Huber, Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945, Berlin 2015. 30  Alexander Solschenizyn, Ostpreußische Nächte. Eine Dichtung in Versen, Darmstadt 1976, 35.



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preisträger wurden die Vorgänge in Ostpreußen bekanntlich zum Wendepunkt seines Lebens. Er zählte fortan zu denen, die sich dem an Deutschen begangenen Unrecht widersetzten. Die Konsequenzen einer solchen entschiedenen Haltung waren stets die gleichen: Entlassung aus der Armee, Verurteilung wegen „Mitleid mit dem Feind“ oder „Untergrabung der politisch-moralischen Haltung der Truppe“, schließlich der Weg durch die Straflager. Nicht wenige spätere Dissidenten-Karrieren nahmen auf diese Weise ihren Ausgang. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Germanisten und Schriftstellers Lew Kopelew (1912–1997). Der hochdekorierte Major und „Ober­ instrukteur für die Arbeit unter den feindlichen Truppen des Gegners und in der Feindbevölkerung“ forderte seinen Vorgesetzten nach der Eroberung Allensteins am 21. Januar 1945 mehrfach auf, gegen Ausschreitungen der Truppe vorzugehen. Die Antwort, die er erhielt, ließ jedoch erkennen, dass die Besatzer die Deutschen längst zu einer Art „Freiwild“ erklärt hatten: „Wozu quakst du hier herum? Wir saufen ihren Cognac, fressen ihren Schinken. Nehmen ihre Uhren, ihre Weiber, ihren ganzen Kram. Das ist Krieg, verstehst du, du bärtiger Säugling!“31 Angesichts einer solchen Situation erstaunt es nicht, dass viele Menschen ihr Heil in panikartiger Flucht nach Westen suchten. Dabei zeigte sich freilich, dass es vor allem in den größeren Städten an ausreichenden Transportmitteln mangelte. Unkomplizierter gestaltete sich die Vorbereitung der Flucht auf dem Lande, da hier genügend Fuhrwerke zur Verfügung standen. Gerade der Landbevölkerung fiel es oft jedoch besonders schwer, ihre Häuser, Höfe und Tiere zurückzulassen. Nach dem Verlassen ihrer Heimat sahen sich die Flüchtenden vor neuen Schwierigkeiten gestellt: nicht selten gerieten die Trecks in Kampfhandlungen hinein und wurden von den schnell vorrückenden sowjetischen Truppen überrollt. Die grauenhaften Szenen, die sich auf den Straßen Ostpreußens, Pommerns und Schlesiens abspielten, sind in unzähligen Dokumentationen und Erlebnisberichten hinlänglich belegt und bedürfen an dieser Stelle keiner weiteren Kommentierung32. Eine erhebliche Beeinträchtigung erfuhr die Massenflucht zudem durch die extrem kalte Witterung Anfang 1945, die vor allem viele ältere Menschen 31  Lew Kopelew, Einmarsch in Allenstein. In: Flucht und Vertreibung. Deutschland zwischen 1944 und 1947, hrsg. von Frank Grube und Gerhard Richter, Hamburg 1980, 80. 32  Vgl. Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, hrsg. von Wolfgang Benz, Frankfurt / M. 1985; Bernhard George, Les russes arrivent. La plus grande migration des temps modernes, Paris 1966; Zeittafel der Vorgeschichte und des Ablaufs der Vertreibung sowie der Unterbringung und Eingliederung der Vertriebenen und Bibliographie zum Vertriebenenproblem, hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Bonn 1959.

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und Kinder erfrieren ließ. Allerdings eröffnete der Frost den Flüchtlingen einen ungewöhnlichen Fluchtweg, nachdem die Rote Armee am 26.  Januar 1945 Elbing erreicht und damit Ostpreußen vom Reich abgeschnitten hatte: Über das gefrorene Frische Haff gelangten sie auf die Nehrung und von dort mit dem Schiff nach Westen. Zur zweiten Fluchtburg für die ostpreußische Bevölkerung wurde der samländische Hafen Pillau, den deutsche Truppen bis zum 25. April 1945 verteidigten. Über eine Million Menschen gelangten von Ende Januar 1945 bis zur Waffenruhe am 9. Mai 1945 auf dem Seeweg nach Pommern, Mecklenburg und Schleswig-Holstein. Die Gefahren, welche mit der Passage über die Ostsee verbunden waren, dokumentiert der Untergang des einstigen KdF-Dampfers „Wilhelm Gustloff“, der – von einem sow­ jetischen U-Boot torpediert – am 30. Januar 1945 vor der Küste Pommerns sank und bei dem über fünftausend Menschen den Tod fanden33. Bilanziert man die Opfer von Besetzung und Flucht im Osten Deutschlands im Winter 1944 / 45, so zeigt sich, dass es dem Gros der Bevölkerung – allen Schwierigkeiten zum Trotz – gelang, über die Oder zu flüchten. In Ostpreußen fielen den Sowjets von 2,3 Millionen Einwohnern 500.000 in die Hände; von den 4,7 Millionen Schlesiern blieben 1,7 Millionen zurück. Nach den späteren Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wurden zwischen 75.000 und 100.000 Menschen bei der Besetzung von Soldaten der Roten Armee erschossen oder starben an den Folgen von Vergewaltigung und Misshandlung. Über 200.000 Deutsche aus dem Osten wurden zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt, mindestens die Hälfte kam dabei ums Leben. Fest steht schließlich auch, dass durch Plünderung und Brandstiftung in den Wochen des Einmarsches durch die Soldaten der Roten Armee größerer Sachschaden verursacht wurde als durch Bombenangriffe und Kampfhandlungen während der gesamten vorangegangenen Kriegsjahre34. III. Der deutsche Diktator nahm an den Leiden der ostdeutschen Bevölkerung keinen Anteil. Mehrmals lehnte er es ab, entsprechendes Bild- und Filmmaterial auch nur zur Kenntnis zu nehmen35. Gleichwohl waren Hitler und Goebbels entschlossen, die an der Zivilbevölkerung begangenen Gräueltaten 33  Armin

Fuhrer, Die Todesfahrt der Gustloff. München 2007. die Zahlenangaben vgl. Dokumentation der Vertreibung, Bd. I / 1, S. 60E– 69E; Rüdiger Hoffmann, Die Toten des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Bilanz der Forschung unter besonderer Berücksichtigung der Wehrmacht- und Vertreibungsverluste, in: Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, hrsg. von Wolfgang Michalka, München 1989, 858–873. 35  Vgl. Albert Speer, Erinnerungen. Frankfurt / M. 1969, 441. 34  Für



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propagandistisch ihren Zwecken dienstbar zu machen. Entsprechend eingestimmt wurde die Bevölkerung in Hitlers Rundfunkansprache von 30. Januar 1945, in welcher der „Führer“ die Westmächte beschuldigte, zuzulassen, dass im Osten Deutschlands „die Menschen zu Zehn- und Hunderttausenden ausgerottet“ würden36. In den wenigen öffentlichen Verlautbarungen, zu denen er sich in der Folgezeit bis zu seinem Selbstmord in der Reichskanzlei am 30. April 1945 noch bewegen ließ, sprach er wiederholt seine Furcht vor der vermeintlich drohenden Vernichtung der germanischen Rasse aus und kam in seiner letzten Proklamation an seine „Ostkämpfer“ am 16.  April 1945 zu dem Schluss: „Zum letzten Mal ist der jüdisch-bolschewistische Todfeind mit seinen Massen zum Angriff angetreten. Er versucht, Deutschland zu zertrümmern und unser Volk auszurotten. Ihr Soldaten aus dem Osten wißt zu einem hohen Teil selbst, welches Schicksal vor allem den deutschen Frauen, Mädchen und Kindern droht. Während die alten Männer und Kinder ermordet werden, werden Frauen und Mädchen zu Kasernenhuren erniedrigt. Der Rest marschiert nach Sibirien.“37 Damit aber glaubte der Diktator, das von ihm selbst für die slawische Bevölkerung Osteuropas im „Generalplan Ost“38 vorgesehene Schicksal als letztes Ziel der Deutschlandpolitik seines ideologischen Hauptwidersachers Stalin ausgemacht zu haben. In den wenigen, den Nationalsozialisten bei Kriegsende verbliebenden Presseorganen, die seit der Jahreswende 1944 / 45 vielfach nur als Notausgaben erschienen, griff Goebbels in den letzten Wochen vor dem Zusammenbruch mehr und mehr selbst zur Feder und ließ vor allem den „Völkischen Beobachter“ wieder im Wortsinn zum „Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung Großdeutschlands“ werden. Eröffnet wurde die letzte anti-bolschewistische Propaganda-Kampagne der Nationalsozialisten am 5. Februar 1945 mit seinem Artikel „Stalins nackter Imperialismus“, der in großer Aufmachung erschien und Verbrechen von Soldaten der Roten Armee mit den Worten geißelte: „In diesen blutigen Tagen und Wochen des deutschen Ostens entblößt sich der Völkerfresser Stalin bis zur Nacktheit seiner wahren Gesinnung. Sie heißt Herrschsucht, Raffgier, Raublust, Expansion, Imperialismus – alles in der schroffsten, brutalsten, hemmungslosesten Form.“39 Dass der Propagandaminister und Bevollmächtigte für den totalen Kriegseinsatz entschlossen war, der Bevölkerung im Osten des Reichs das Äußerste abzuverlangen, zeigen seine Kolumnen in der Wochenzeitung „Das Reich“ 36  Hitler,

Reden und Proklamationen (Anm. 21), 2195. 2223. 38  Vgl. Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungsund Vernichtungspolitik, hrsg. v. Mechthild Rössler und Sabine Schleiermacher, Berlin 1993. 39  „Völkischer Beobachter“, Nr. 30 vom 5. Februar 1945, 1. 37  Ebd.,

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im März und April 1945. Hatte er sich am 25. Februar 1945 in dem Artikel „Das Jahr 2000“ noch zuversichtlich gezeigt, die deutsche Nation werde am Ende des zweiten Jahrtausends die „geistige Führerin der gesitteten Menschheit“ sein40, rief er die „Volksgenossen“ in seinen beiden letzten, in der zweiten April-Hälfte verfassten Artikeln „Kämpfer für das ewige Reich“ und „Der Einsatz des eigenen Lebens“ auf, im Kampf für „Führer“ und Reich auf die eigene physische Existenz keine Rücksicht zu nehmen41. Ähnlich hatte sich Reichsleiter Martin Bormann bereits am 2. April 1945 in einem auf Flugblättern verbreiteten Aufruf an die Zivilbevölkerung ausgedrückt: „Ein Hundsfott, wer seinen vom Feind angegriffenen Gau ohne ausdrücklichen Befehl des Führers verläßt, wer nicht bis zum letzten Atemzuge kämpft; er wird als Fahnenflüchtiger geächtet und behandelt. Reißt hoch die Herzen und überwindet alle Schwächen! Jetzt gilt nur noch eine Parole: siegen oder fallen!“42 Um der Bevölkerung zu suggerieren, dass es ungeachtet der offenkundigen militärischen Überlegenheit der Gegner gleichwohl möglich sei, das – wie Hitler es ausdrückte – „Schicksal zu wenden“ und den „bolschewistischen Ansturm in einem Blutbad zu ersticken“43, bediente sich die NS-Propaganda neben der Hoffnung auf den bevorstehenden Einsatz sogenannter Wunderwaffen und den Schilderungen von Heldentaten der Verteidiger der zu „Festungen“ erklärten Metropolen Königsberg und Breslau ferner zunehmend pseudo-historischer Vergleiche44. Als geeignete Vorbilder erschienen der nationalsozialistischen Führung vor allem die Situation Roms während des Zweiten Punischen Krieges, die „schicksalhafte“ Wendung des Siebenjährigen Krieges zugunsten Friedrichs II. nach dem Tod der Zarin Elisabeth sowie die Erhebung Preußens gegen die Herrschaft Napoleons45. Mit welchen subtilen Mitteln der Geschichtsfälschung Goebbels hierbei zu Werke ging, zeigt die Entstehung des Ende Januar 1945 unter der Regie von Veit Harlan fertiggestellten Durchhalte-Streifens „Kolberg“46. War die im Jahr 1807 von Gneisenau, Nettelbeck und Schill erfolgreich verteidigte pom40  „Das

Reich“, Nr. 8 vom 25. Februar 1945, 2. Nr. 14 vom 8. April 1945, 1 f.; ebd., Nr. 15 vom 15. April 1945, 1 f. 42  Zit. nach Müller / Ueberschär, Kriegsende 1945 (Anm. 2), 168. 43  Vgl. die Proklamation an die „Soldaten der deutschen Ostfront“ vom 16. April 1945; Hitler, Reden und Proklamation (Anm. 21), 2224. 44  Vgl. Joseph Goebbels, Die Geschichte als Lehrmeisterin, in: „Das Reich“, Nr. 13 vom 1. April 1945, 1 f. 45  Zur Instrumentalisierung Friedrichs II. durch die Nationalsozialisten siehe Konrad Barthel, Friedrich der Große in Hitlers Geschichtsbild. Wiesbaden 1977. 46  Vgl. Veit Harlan, Im Schatten meiner Filme. Selbstbiographie, Gütersloh 1966, 183. 41  Ebd.,



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mersche Hafenstadt nach dem Frieden von Tilsit von napoleonischen Truppen besetzt worden, ließ Goebbels den Widerstand der Verteidiger Kolbergs zum Fanal für die Befreiungskriege werden. Entsprechend ausgewählt war die Musik: Der Film begann mit Theodor Körners Versen „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“, welche Hitler im September 1944 bereits zur Losung des Volkssturms erkoren hatte und endete mit dem Schlusschoral des „Niederländischen Dankgebetes“, das freilich erst mehr als fünfzig Jahre später, also in den 1860er Jahren, entstanden war. Was den Nationalsozialisten im Film gelang, scheiterte bekanntlich in der Wirklichkeit: Am 19. März 1945 wurde Kolberg von sowjetischen Truppen besetzt. In seinem Bestreben, die Fiktion der zuvor im Wehrmachtbericht ausführlich geschilderten erfolgreichen Verteidigung aufrechtzuerhalten47, untersagte Goebbels die Bekanntgabe der Eroberung der Stadt48. Ungeachtet der Anstrengungen des Propagandaministers konstatierte der Sicherheitsdienst der SS in einem für Goebbels bestimmten Lagebericht vom 28. März 1945 eine „Vertrauenskrise zur Führung“ in der Bevölkerung, von der erstmals auch die Person des „Führers“ nicht ausgenommen sei und die in dem Versagen der Parteidienststellen bei der Verteidigung des deutschen Ostens ihre Ursache habe49. Angesichts der in der Bevölkerung aufkeimenden Kritik am Allmachtsanspruch der NSDAP und ihrer Führung sowie der scheinbar nachlassenden Verteidigungsbereitschaft von Wehrmacht und Volkssturm, auf welche die Kapitulation der ostpreußischen Hauptstadt Königsberg am 7. April 1945 hinzudeuten schien50, zeigten Hitler und seine Umgebung sich in den letzten Tagen ihrer Herrschaft entschlossen, mit äußerster Brutalität gegen jede Form von Defätismus vorzugehen und die Illusion eines nach wie vor erzwingbaren „Abwehrsieges“ aufrechtzuerhalten51. Dass der Diktator bis zuletzt an seiner in „Mein Kampf“ niedergelegten politischen Maxime „Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt 47  Vgl. Erich Murawski, Der deutsche Wehrmachtsbericht 1939–1945. Ein Beitrag zur Untersuchung der geistigen Kriegführung. Mit einer Dokumentation der Wehrmachtberichte vom 1.7.1944 bis zum 9.5.1945, Boppard am Rhein 1962, 505–524 (Eintragungen vom 6.–18.3.1945). 48  Vgl. Joseph Goebbels, Tagebücher 1945. Die letzten Aufzeichnungen, hrsg. von Rolf Hochhuth, Hamburg 1977, 304. 49  Siehe Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte der SS, hrsg. von Heinz Boberach, Herrsching 1984, 6732 ff. 50  Vgl. Otto Lasch, So fiel Königsberg. Kampf und Untergang von Ostpreußens Hauptstadt, München 1958; Jürgen Manthey, Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik, München 2005, 667 ff. 51  Vgl. den Erlass Himmlers vom 12. April 1945, in dem es heißt, „jedes Dorf und jede Stadt“ sei „mit allen Mitteln“ zu verteidigen; zit. nach Müller / Ueberschär, Kriegsende 1945 (Anm. 2), 171.

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nicht sein“52 festzuhalten gedachte, belegen die Formulierungen in seinem „Politischen Testament“ vom 29. April 194553. Dabei schloss die von ihm gewählte Alternativformel eine Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung von vornherein aus. In aller Deutlichkeit sprach Hitler dies am 18. März 1945 gegenüber Albert Speer aus, als er seinem Lieblings-Architekten und Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion in einem Gespräch unter vier Augen den „Nero“-Befehl über Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet erläuterte: „Wenn der Krieg verlorengeht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil ist es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf übrigbleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn“, so Hitler gegenüber seinem „jungen Freund“ weiter, „die Guten sind gefallen.“54

52  Adolf

Hitler, Mein Kampf, 558. Auflage, München 1940, 742. Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab), Bd. IV: 1.  Januar 1944–22.  Mai 1945, hrsg. von Percy Ernst Schramm, Frankfurt / M. 1961, 1665 ff. 54  Speer, Erinnerungen (Anm. 35), 446. Zum Verhältnis Hitlers zu Speer ausführlich Joachim Fest, Speer. Eine Biographie, Berlin 1999, 59 ff. 53  Vgl.

Flucht und Vertreibung in Mitteleuropa als Folge des Zweiten Weltkriegs Von Matthias Stickler, Würzburg I. Grundsätzliches Das 20. Jahrhundert, welches wir gewöhnlich verbinden mit der Geschichte der beiden Weltkriege, der nationalsozialistischen Judenvernichtung und des stalinistischen GULAG, wird nicht ganz zu Unrecht auch als das Jahrhundert der Vertreibungen gekennzeichnet1. Dies zeigen vor allem die nackten Zah1  Vgl. hierzu Hans Lemberg, Das Jahrhundert der Vertreibungen. In: Dieter Bingen / Włodzimierz Borodziej / Stefan Troebst (Hrsg.), Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen. Wiesbaden 2003, 44–53; Zur Geschichte von Flucht und Vertreibung im internationalen Vergleich vgl. ferner: Robert Streibel (Hrsg.), Flucht und Vertreibung. Zwischen Aufrechnung und Verdrängung. Wien 1994; Haus der Heimat des Landes BadenWürttemberg (Hrsg.), Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als internationales Problem. Zur Geschichte eines europäischen Irrwegs. Stuttgart 2002; Steven Béla Várdy / T. Hunt Tooley (Hrsg.), Ethnic Cleansing in 20th-Century Europe. New York 2003; Norman M. Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. München 2004 (US-amerik. OA 2001); Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Flucht, Vertreibung, Integration. Bielefeld 2005; Frank-Lothar Kroll / Matthias Niedobitek (Hrsg.), Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa (= Chemnitzer Europastudien Bd. 1), Berlin 2005; Mathias Beer (Hrsg.), Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage Tübingen 2007; Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung. Hamburg 2007 (engl. OA 2005); Deutsches Historisches Museum (Hrsg.), Flucht, Vertreibung, ethnische Säuberung. Eine Herausforderung für Museums- und Ausstellungsarbeit weltweit. Berlin 2010; Detlef Brandes / Holm Sundhaussen / Stefan Troebst (Bearb.), Lexikon der Vertrei­ bungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien 2010; Frank-Lothar Kroll / Henrik Thoß (Hrsg.), Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte. Das Ende des Alten Reiches und die Entstehung des Nationalitätenproblems im östlichen Mitteleuropa (= Chemnitzer Europastudien Bd. 11). Berlin 2011; Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2011; Jan M. Piskorski, Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, Berlin 2013; Michael Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013; Arnold Suppan, Hitler – Berneš – Tito. Konflikt, Krieg und Völkermord in Ostmittel- und Südosteuropa. 3 Bände, Wien 2014.

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len: So haben allein im Zeitraum zwischen 1912 und 1948, den wir als Hochzeit des Vertreibungsgeschehens ansehen dürfen, zwischen 40 und 70 Millionen Europäer ihre Heimat verloren2. Dass Flucht und Vertreibung allerdings keineswegs nur ein auf Europa beschränktes Phänomen war, zeigt etwa die Tatsache, dass nach der Teilung der in die Unabhängigkeit entlassenen Kronkolonie Indien 1947 dort schätzungsweise 10 Millionen Menschen Opfer von Zwangsmigration wurden: Hindus und Sikhs flohen oder wurden vertrieben aus Pakistan in die Indische Union, Muslime von dort nach Pakistan. Das von einem hinduistischen Maharaja beherrschte, von Muslimen, Hindus und Buddhisten bewohnte Fürstentum Kaschmir wurde 1949 zwischen Indien und Pakistan geteilt, der daraus resultierende Konflikt destabilisiert die Region bis heute. Das europäische Modell war für diese Vorgänge von Zwangsmigration auf dem indischen Subkontinent durchaus Vorbild3. Nennen kann man in diesem Zusammenhang auch Flucht und Vertreibung als Folge der Teilung Palästinas bzw. des ersten arabisch-israelischen Kriegs von 1948; betroffen davon waren bis Ende der 1950er Jahre über 1,3 Millionen Menschen, etwa 567.000 Juden und 750.000 Araber4. Seit Ende der 1940er Jahre schienen dann zumindest in Europa Flucht und Vertreibung der Geschichte anzugehören, das ungeheuerliche Geschehen der ersten Jahrhunderthälfte geriet, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des beginnenden Ost-West-Konflikts und erst recht der Entspannungspolitik seit den 1970er Jahren, in gewisser Weise in Vergessenheit. Es stellte, wie Karl Schlögel anmerkte, so etwas dar „wie die graue Vorzeit des heutigen Europa, den heute Lebenden kaum bewusst und im kollektiven Gedächtnis der mittleren und jüngeren Generation kaum gegenwärtig“.5 Die Gründe hierfür liegen keineswegs vorrangig in einer angeblichen „Umerziehungspolitik“ der Siegermächte, dem Wirken opportunistischer Politiker oder Journalisten respektive geschichtspolitisch motivierter Wissenschaftler, sondern nicht zuletzt darin, dass es zumindest in Mitteleuropa so etwas wie eine stillschweigende Übereinstimmung darüber gab, dass bei aller Blockkonfrontation an dem 1945 erreichten territorialen Status quo nicht mehr gerüttelt werden sollte. Dies kann man besonders gut am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland sehen, wo die von den deutschen Vertriebenenverbänden lange vehement erhobenen Forderungen nach Rückkehr in die früheren Heimatgebiete ihrer 2  Vgl. Karl Schlögel, Europa ist nicht nur ein Wort. Zur Debatte um ein Zentrum gegen Vertreibungen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003) 1, 5–12, hier 8. 3  Vgl. Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 580–599 und Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten (Anm. 1), 212–223. 4  Vgl. Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 600–621, v. a. 620 f. und Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten (Anm. 1), 224–233. 5  Schlögel, Europa ist nicht nur ein Wort (Anm. 2), 8.



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Klientel und, damit verbunden, einer Grenzrevision – trotz anderslautender Bekundungen der politischen Eliten in der Öffentlichkeit  – bereits in den 1950er Jahren keine echte Chance mehr auf Realisierung hatten6. Wie sehr die Abwesenheit von Flucht und Vertreibung eine Konsequenz der Tatsache war, dass das nukleare „Gleichgewicht des Schreckens“ die Konflikte in Europa gleichsam eingefroren hatte, zeigte sich, als mit dem Zusammenbruch des Ostblocks ab 1989 und der damit verbundenen Auflösung der bis dahin machtpolitisch stabilisierend wirkenden bipolaren Konfrontation alte Aggressionsherde wieder aufbrachen. Vor allem im Zuge des Auseinanderbrechens des jugoslawischen Vielvölkerstaats (1991–1999)7 entlud sich eine für die westlich-liberale Öffentlichkeit unfassbare Brutalität, die das verdrängte Trauma Flucht und Vertreibung geradezu schockartig ins Bewusstsein zurückrief. In gewisser Weise schloss sich damit am Ende des 20. Jahrhunderts ein Kreis, denn begonnen hatte das „Jahrhundert der Vertreibungen“ ebenfalls auf dem Balkan als Folge des Ersten und Zweiten Balkankriegs 1912 / 13, durch die das Osmanische Reich den größten Teil seiner verbliebenen europäischen Besitzungen verlor. Diese wurden zwischen den jungen Balkanstaaten aufgeteilt, was zu neuen Konflikten und umfangreichen „ethnischen Säuberungen“ führte mit dem Ziel, möglichst homogene Staatsvölker bzw. Staatsgebiete zu schaffen. Zu diesem Zweck gab es auch erstmals vertragliche Abmachungen zwischen Staaten über wechselseitige Umsiedlungen8. Die in den 1990er Jahren in Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen bis hin zu brutalen „ethnischen Säuberungen“, die Bilder heimatloser, flüchtender Menschen, die dank der modernen Medien Tag für Tag in jedes Wohnzimmer übertragen wurden, bewirkten in vielen Teilen Europas ganz offensichtlich eine neue 6  Vgl. hierzu Matthias Stickler, Gegenspieler der Aussöhnung? Die Haltung der Vertriebenenverbände zur deutsch-polnischen Verständigung 1949 bis 1969, in: Friedhelm Boll / Wiesław Wysocki / Klaus Ziemer unter Mitarb. v. Thomas Roth (Hrsg.), Versöhnung und Politik. Polnisch-deutsche Versöhnungsinitiativen der 1960er-Jahre und die Entspannungspolitik, (= Archiv für Sozialgeschichte Beiheft 27), Bonn 2009, 224–244; Ders., „… bis an die Memel“? Die Haltung der deutschen Vertriebenenverbände zur deutsch-polnischen Grenze, in: Karoline Gil / Christian Pletzing (Hrsg.), Granica. Die deutsch-polnische Grenze vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, München 2010, 105–134 und im Detail Ders., „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972 (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte Bd. 46), Düsseldorf 2004. 7  Vgl. im Überblick Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten (Anm. 1), 239– 255, Piskorski, Die Verjagten (Anm. 1), 321–336 und ausführlich Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 175–229 sowie Mann, Die dunkle Seite der Demokratie (Anm. 1), 520–632. 8  Vgl. Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 298–318.

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Sensibilität für das Thema „Flucht und Vertreibung“. Zunehmend drang die Erkenntnis ins öffentliche Bewusstsein, dass nahezu alle Völker Mittel-, Ostund Südosteuropas im 20. Jahrhundert von Vertreibungsmaßnahmen betroffen gewesen waren9. Die neuen massenhaften Flüchtlingsbewegungen nach Europa aus vielen Staaten des Vorderen Orients und Afrikas als Folge von Unterentwicklung, politischer Verfolgung und / oder Krieg lassen erwarten, dass Flucht und Vertreibung auch dem 21. Jahrhundert ihren Stempel aufdrücken werden. In öffentlichen Diskursen über Flucht und Vertreibung kommt es immer wieder vor, dass Vertreibungsmaßnahmen plakativ gleichgesetzt werden mit Völkermorden10, nicht zuletzt Opfergruppen neigen zu dieser Sichtweise. Demgegenüber ist festzuhalten, dass Vertreibungen und Völkermorde respektive Genozide11 zwei verschiedene Formen von Gewalt an Kollektiven darstellen. Die UN-Resolution 96-I vom 11.  Dezember 1946 definierte Völkermord als „die Leugnung des Existenzrechts einzelner Menschengruppen, wie Mord die Leugnung des Existenzrechts einzelner Menschen ist“12. Die Konvention der UNO über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948, die am 12. Januar 1951 in Kraft trat und bis Ende 2015 von 147 Staaten ratifiziert wurde, legte in Anknüpfung an den aus Polen stammenden jüdisch-amerikanischen Völkerrechtler Raphael Lemkin (1900– 1959)13 fest, diese seien Taten, „die mit der Absicht begangen werden, natio­ nale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppen ganz oder teilweise zu vernichten“14. Der Unterschied zu Vertreibungen liegt damit auf der Hand: Dort geht es nicht vorrangig um die physische Eliminierung von Kollektiven, sondern darum, diese ganz oder teilweise aus einem bestimmten Territorium zu entfernen. Dieses Ziel kann – und ist es häufig auch – mit Morden bzw. dem Sterben großer Menschenmassen verbunden sein, doch sind diese in 9  Vgl. hierzu Karl Schlögel, Nach der Rechthaberei. Umsiedlung und Vertreibung als europäisches Problem, in: Bingen / Borodziej / Troebst (Hrsg.), Vertreibungen europäisch erinnern? (Anm. 1), 11–38. 10  Vgl. in diesem Zusammenhang etwa das Motto des Sudetendeutschen Tags 2006 „Vertreibung ist Völkermord – Dem Recht auf Heimat gehört die Zukunft“. 11  Vgl. hierzu ausführlich Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen, München 2006. 12  Zit. nach ebd., 15. 13  Vgl. Raphael Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe. Laws of Occupation. Analysis of Government. Proposals for Redress, Washington D.C. 1944 und John Cooper, Raphael Lemkin and the Struggle for the Genocide Convention, London 2008. Lemkin prägte insbesondere auch den damals neuen Begriff Genozid respektive Genocide. 14  Zit. nach Norman M. Naimark, Ethnische Säuberung in vergleichender Perspektive: Themen für ein Dokumentationszentrum über die Vertreibung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003) 1, 20–30, hier 23.



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erster Linie Begleiterscheinungen des Vertreibungshandelns, nicht Selbstzweck. Seit den 1990er Jahren wird als Synonym für „Vertreibung“ oftmals auch der Begriff „Ethnische Säuberung“ bzw. englisch „Ethnic Cleansing“ verwendet, eine Lehnübersetzung aus dem Serbischen („etnicko ćišćenje“), die im Kontext des Zerfalls des früheren Jugoslawien Eingang in die politisch-soziale Sprache gefunden hat und die nicht zuletzt der US-amerikanische Historiker Norman M. Naimark in der Wissenschaftssprache etabliert hat. „Die Absicht der ethnischen Säuberung“, so Naimark, „liegt in der Entfernung eines Volks und oft auch aller seiner Spuren von einem bestimmten Territorium.“15 Naimark betont in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass ethnische Säuberungen und Völkermorde zwar miteinander verbundene, aber letztlich doch zu unterscheidende Phänomene sind: „Am einen Ende des Spektrums berührt sich die ethnische Säuberung mit der Deportation oder dem sogenannten ‚Bevölkerungsaustausch‘. Hier geht es darum, Menschen zur Umsiedlung zu bringen und zwar mit legalen oder halblegalen Mitteln. Am anderen Ende unterscheiden sich ethnische Säuberung und Völkermord nur durch das Endziel. Hier geht die ethnische Säuberung in den Völkermord über, da Massenmord begangen wird, um das Land von einem Volk zu ‚säubern‘ “16. Hinzuzufügen wäre noch, dass mit den Begriffen Genozid bzw. ethnische Säuberung selbstverständlich keine gleichsam moralische Bewertung verbunden ist, wie schlimm bzw. verwerflich eine Handlungsweise ist; anders gesagt, derartige Begriffsdefinitionen taugen nicht und sind auch nicht gemacht für Auseinandersetzungen im Hinblick auf das Phänomen der Opferkonkurrenz17. Der prinzipielle Unterschied zwischen Völkermord / Genozid und Vertreibung / ethnischer Säuberung ist zuletzt am 3.  Februar 2015 vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag noch einmal festgestellt worden, als dieser den Genozidcharakter der durch Serbien und Kroatien in den 1990er Jahren durchgeführten ethnischen Säuberungen im früheren Jugoslawien verneinte und betonte „Eine ethnische Säuberung ist nicht gleichbedeutend mit einem Völkermord.“18 Noch ein letzter Hinweis sei den weiteren Ausführungen vorausgeschickt: Flucht und Vertreibung sind selbstverständlich keineswegs nur Phänomene des 20. Jahrhunderts. Diese hat es vielmehr zu allen Zeiten gegeben, man 15  Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 12. Zur Genese des Begriffs vgl. ebd., 10–14 und Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 1–5. 16  Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 12. 17  Vgl. hierzu Mihran Dabag, Kollektive Gewalt als Herausforderung. Überlegungen zur transdisziplinären Genozidforschung, in: Wissenschaft und Frieden, 26,2 (2008), 52–54. 18  Zit. nach: „Serbien und Kroatien vom Vorwurf des Völkermords freigesprochen“ (Spiegel online, 3.2.2015); vgl. auch o.V., Den Haag: Serbien hat keinen Völkermord begangen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Februar 2015, 1.

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denke etwa an die zwangsweise Umsiedlung der Burgunden aus ihrem Siedlungsgebiet am Rhein bei Worms in die heutige Westschweiz und Südostfrankreich durch den römischen Feldherrn Aëtius um 443 n. Chr., die Ausweisung der sogenannten Morisken aus Spanien im frühen 17. Jahrhundert, der Hugenotten aus Frankreich im späten 17. Jahrhundert oder der Salzburger Protestanten 1731 / 32. Vertreibungsmaßnahmen mit teilweise genozidalem Charakter waren ferner ein verbreitetes Phänomen in den Siedler-Demokratien Amerikas und Australiens im 19. Jahrhundert sowie in den Kolonien der europäischen Mächte: Man denke etwa an die Deportation der sogenannten „Five Civilized Nations“ des Südostens durch die USA ins heutige Oklahoma in den 1830er Jahren, insbesondere den „Trail of Tears“ der Cherokee 1838, oder an den deutschen Kolonialkrieg gegen die Hereros 1904–1908 im heutigen Namibia19. Neu an den ethnischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts sind v. a. vier Aspekte, die allesamt Ausdruck der europäischen Moderne sind20: 1. Ideeller Bezugspunkt der Diskriminierung und Vertreibung von Minderheiten war das seit dem 19. Jahrhundert zunehmend kaum noch hinterfragte Leitbild ethnischer, von tatsächlicher oder fiktiver gemeinsamer Abstammung und Sprache hergeleitete, objektive Nationsverständnis, aus dem die Forderung nach einem ethnisch homogenen Nationalstaat abgeleitet wurde. Dieses Ideal fiel besonders im territorial bis 1866 / 71 zersplitterten Deutschland und bei den alten Adels- und Kulturnationen Ostmitteleuropas (v. a. Polen, Magyaren, Tschechen und Kroaten) sowie den bisher weitgehend staatenlosen kleinen Völkern Ostmittel- und Südosteuropas (z. B. Letten, Esten, Litauer, Slowenen, Slowaken, Rumänen, Serben, Bulgaren, Mazedo­ niern, Griechen, Albaner, Ukrainer) auf fruchtbaren Boden, wo es sich nicht selten mit älteren mittelalterlichen oder gar spätantiken Reichsvorstellungen verband. Diese wurden in nationalistischem Sinne uminterpretiert, zum Teil auch erst historistisch neu geschaffen und entfalteten so eine v. a. gegen a. die die noch existierenden tatsächlichen, supranationalen Imperien (v.  Habsburgermonarchie und das Osmanische Reich, partiell auch das Russische Reich) gerichtete systemsprengende Kraft. 2.  Nationale Minderheiten waren in einer solchen Ideologie letztlich nicht vorgesehen und wurden als grundsätzlich feindliche Elemente angesehen, die 19  Vgl. hierzu im Überblick Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 7 f.; Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten (Anm. 1), 59 f. und ausführlich Mann, Die dunkle Seite der Demokratie (Anm. 1), 58–165. 20  Vgl. zum folgenden Philipp Ther, Erinnern oder aufklären. Zur Konzeption eines Zentrums gegen Vertreibungen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003) 1, 36–41, v. a. 36 f.; Ders., Die dunkle Seite der Nationalstaaten (Anm. 1); 65–67, Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 5–16 und 623–646 sowie Mann, Die dunkle Seite der Demokratie (Anm. 1), 87–108.



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der Entwicklung der privilegierten Staatsnationen im Wege standen. Der daraus sich entwickelnde wechselseitige Hass begünstigte zum einen bei den Minderheiten separatistische bzw. irredentistische, auf Vereinigung mit getrennten Angehörigen der eigenen Ethnie gerichtete, Sehnsüchte, zum andern bei den Mehrheitsvölkern die Vorstellung, dass man sich der potentiell illoyalen Minderheiten durch aggressive Assimilationspolitik oder gezielte Umsiedlungsmaßnahmen tunlichst entledigen müsse. 3.  Der moderne, bürokratisch durchorganisierte Anstaltsstaat schuf völlig neue Voraussetzungen für die Identifizierung von Minderheiten, indem er durch Ausschaltung historisch gewachsener, intermediärer Gewalten bzw. Gruppenloyalitäten die Homogenisierung des Staatsvolks vorantrieb. Voraussetzung hierfür war vor allem die statistische Erfassung und damit Klassifizierung der Einwohner nach bestimmten obrigkeitlich vorgegebenen Kriterien, denen letztlich wissenschaftliche bzw. pseudowissenschaftliche (implizit natürlich auch ideologische) Kriterien zu Grunde lagen. Mit Schulpflicht und Wehrpflicht wurden Assimilierungsinstrumente geschaffen, die die Homogenisierung des Staatsvolks effektiv vorantrieben. Wer sich dem widersetzte, wurde als Feind stigmatisiert und nicht selten politisch verfolgt. Insofern schuf der moderne staatliche Zentralismus auch die Voraussetzungen für Vertreibungen in völlig neuen Dimensionen, weil diesen ein „Konzept rationaler Planungen und Steuerung“21 und die sozialtechnologisch geplante Zielvorstellung der Schaffung einer völlig neuen Gesellschaft zugrunde lag. 4.  Letztlich wurzeln auch die totalitären Ausprägungen ethnischer Säuberungen und Genozide im 20. Jahrhundert in Europa (Nationalsozialismus, Stalinismus) in erheblichem Umfang in den (freilich pervertierten) Modernisierungs-, Homogenisierungs- und Zentralisierungsidealen des 19. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang muss allerdings betont werden, dass es keineswegs genügt, moderne ethnische Säuberungen als bloße Pervertierung westlich-liberaler Werte, als Rückfall in die Barbarei oder als Ausdruck von Rückständigkeit zu bewerten. Auch westlich-liberale Staaten haben immer wieder zum Mittel der ethnischen Säuberung gegriffen bzw. aggressive Methoden der Homogenisierung angewandt. Der britisch-amerikanische Soziologe Michael Mann hat deshalb, durchaus zutreffend, Genozide als die dunkle Seite der Demokratie bezeichnet. Für Mann sind ethnische Säuberungen, worunter er ein breites Spektrum obrigkeitlicher, auf Homogenisierung abzielende Maßnahmen von der bloßen Diskriminierung bis hin zum Genozid versteht, ein modernes Phänomen, weil bzw. wenn Demos und Ethnos werthaft miteinander verbunden werden, anders gesagt, der ethnisch begründete Nationalismus das Prinzip der Volksherrschaft pervertiert. Hierbei grenzt Mann nationalistisch motivierte ethnische Säuberungen im weitesten Sinne 21  Schwartz,

Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 12 f.

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ab von sozialistisch motivierten Säuberungsbewegungen, bei denen der Demos mit der Arbeiterklasse gleichgesetzt wurde bzw. wird22. II. Flucht und Vertreibung der Deutschen im Kontext der ethnischen Säuberungen im Zweiten Weltkrieg Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte den bis dahin größten Schub an Vertreibungsopfern im 20. Jahrhundert: Waren zwischen 1939 und 1943 „nur“ 15,1 Millionen Menschen Opfer von Flucht und Vertreibung geworden (nicht eingerechnet sind hier die Opfer der nationalsozialistischen Judenvernichtung und die Menschenverluste durch Krieg und Besatzungspolitik), so waren es zwischen 1944 und 1948 rund 31 Millionen23. Die zahlenmäßig größte Gruppe darunter stellten die Deutschen dar24: Etwa 14 Millionen 22  Vgl. zu diesem wichtigen Buch meine Rezension in: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 9 (2009), 306–308. 23  Zu den Zahlen vgl. Karl Schlögel, Bugwelle des Krieges. Die Völkerverschiebungen im 20. Jahrhundert, in: Stefan Aust / Stephan Burgdorff (Hrsg.), Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Stuttgart / München 2002, 179– 196, hier 180. Höhere Zahlen für den ersten Zeitraum („etwa 30 Millionen“) nennt Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 424. 24  Zu Flucht und Vertreibung der Deutschen vgl. v. a. folgende Arbeiten: Alfred M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. 14. Aufl., Berlin 2000 (engl. OA 1977, Neuauflage u.d.T. „Die Nemesis von Potsdam. Die AngloAmerikaner und die Vertreibung der Deutschen“. München 2005); Ders., Anmerkungen zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. 3. Auflage, Stuttgart 1993 (Neuauflage u.d.T. „Die deutschen Vertriebenen. Keine Täter – sondern Opfer. Hintergründe, Tatsachen, Folgen“. Graz 2006); Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt / M. 1985, aktual. Neuausg. 1996; Detlef Brandes u. a. (Hrsg.), Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938–1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien, Essen 1999; Hans Lemberg / K. Erik Franzen, Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer, München 2001; Thomas Urban, Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert, München 2004; Adrian von Arburg, Zwangsumsiedlung als Patentrezept. Tschechoslowakische Bevölkerungspolitik im mitteleuropäischen Vergleich 1945–1954, in: Kroll / Niedobitek (Hrsg.), Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa (Anm. 1), 43–113; Winfrid Halder, „… in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ – Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und dem Sudetenland 1945–1947. Voraussetzungen – Verlauf – Konjunkturen des historiographischen und öffentlichen Diskurses, in: Kroll / Niedobitek (Hrsg.), Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa (Anm. 1), 15–42; Manfred Kittel / Horst Möller / Jiří Pesek / Oldřich Tůma (Hrsg.), Deutschsprachige Minderheiten 1945. Ein europäischer Vergleich, München 2007; Aust / Burgdorff (Hrsg.), Die Flucht (Anm. 23); Mathias Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011; Manfred Kittel, Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa am Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Kroll / Thoß (Hrsg.), Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte (Anm. 1),



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Menschen flohen vor der anrückenden Roten Armee aus ihren Heimatgebieten in den deutschen Ostgebieten, der Tschechoslowakei, Polen, der Sowjetunion, dem Baltikum, Ungarn, Rumänien und Jugoslawien oder wurden von dort vertrieben25. Wie viele Deutsche als Folge von Flucht und Vertreibung umkamen, ist bis heute umstritten26. Dies auch deshalb, weil hohe Zahlen scheinbar größere Bedeutsamkeit und damit einen „privilegierteren“ Opferstatus suggerieren. Die in Veröffentlichungen genannten Zahlen schwanken zwischen etwas mehr als 600.000 und maximal 2,8 Millionen Todesopfern: Bei den niedrigen Zahlen handelt es sich um sogenannte nachgewiesene „Todesopfer[n] von Vertreibungsverbrechen als Folge von Gewalttaten und Unmenschlichkeiten“, wie es 1974 in einem erst 1989 veröffentlichten Bericht des Bundesarchivs hieß27. D. h. dieser Bericht beruhte auf der Klärung von Einzelschicksalen. Auch das Bundesvertriebenenministerium war bei eigenen Recherchen in den 1950er und frühen 1960er Jahren, die allerdings nie veröffentlicht wurden, zu einer ähnlichen Einschätzung gekommen, näm197–231; Ray M. Douglas, Ordnungsgemäße Überführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012; Wichtige Quellensammlungen stellen dar: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa (Bd. 1: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße; Bd. 2: Das Schicksal der Deutschen in Ungarn; Bd. 3: Das Schicksal der Deutschen in Rumänien; Bd. 4: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei; Bd. 5: Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien). In Verbindung mit Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels bearbeitet von Theodor Schieder. Bonn 1953–1962. Nachdruck München 1984 / 2004; vgl. hierzu auch: Mathias Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- Mitteleuropa“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), 345–389; Odsun. Die Vertreibung der Sudetendeutschen  – Vyhnání sudetských Němců. Dokumentation zu ­Ursachen, Planung und Realisierung einer „ethnischen Säuberung“ in der Mitte Europas 1848 / 49–1945 / 46. 2 Bde., München 2000 und 2011; Fritz Peter Habel (Hrsg.), Dokumente zur Sudetenfrage. Unerledigte Geschichte. 5. Aufl., München 2003; ­ Włodzimierz Borodziej / Hans Lemberg (Hrsg.), „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden …“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945–1950. Dokumente aus polnischen Archiven. 4 Bde., Marburg 2000–2004. 25  Die diesbezüglichen Zahlen sind im Detail unsicher und schwanken zwischen ca. 12 Millionen und 16,9 Millionen; vgl. hierzu Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen (Anm. 24), 127–134, Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 426 und Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten (Anm. 1), 233 f. 26  Vgl. hierzu ausführlich Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen (Anm. 24), 127–134, der den gegenwärtigen Forschungsstand übersichtlich zusammenfasst. Vgl. ferner die sehr abgewogenen Ausführungen von Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 562 f. 27  Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945–1948. Bericht des Bundesarchivs vom 28.5.1974. Archivalien und ausgewählte Erlebnisberichte. Hrsg. von der Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen, Bonn 1989, 53 f.

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lich 500.000 nachgewiesene Todesopfer28. Die höheren Opferzahlen resultieren aus den Ergebnissen einer Ende der 1950er Jahre vom Statistischen Bundesamt erarbeiteten Studie29. Diese stellte sogenannte Bevölkerungsbilanzen auf, indem Vor- und Nachkriegszahlen verglichen wurden; teilweise musste hier allerdings mit Schätzungen gearbeitet werden. Aus dieser Vor­ gehensweise ergaben sich 2,8 Millionen sogenannter ungeklärter Fälle, bei denen vermutet wurde, dass es sich hierbei um Menschen handelte, die als Folge von Flucht und Vertreibung ums Leben gekommen seien. Die oben erwähnte Untersuchung des Bundesvertriebenenministeriums war von rund 1,9 Millionen ungeklärten Fällen ausgegangen. Ob die Gleichsetzung der ungeklärten Fälle mit Todesopfern zulässig ist, kann bis heute weder bewiesen noch widerlegt werden. Der Militärhistoriker Rüdiger Overmans hat in einem 1994 erschienenen Beitrag Bedenken gegen eine solche Gleichsetzung angemeldet und in Stichprobenanalysen gezeigt, dass Opferzahlen häufig zu hoch angegeben werden30. Der Tübinger Historiker Mathias Beer plädierte jüngst unter Würdigung aller verfügbaren einschlägigen Untersuchungen 2011 dafür, von deutlich unter einer Million Todesopfern als Folge von Flucht und Vertreibung auszugehen31. Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs und weiteren Gebieten Ost- und Ostmitteleuropas war letztlich eine Konsequenz des Zweiten Weltkriegs bzw. der aggressiven Außenpolitik des „Dritten Reichs“ seit 1933. Michael Schwartz hat in diesem Zusammenhang zu Recht festgestellt, dass die „NS-Gewaltpolitik gegen andere Völker … die unabdingbare Voraussetzung für die nach dem Sieg über Hitler folgenden Zwangsmigrationen zwischen 1945 und 1950“ war, zugleich aber hinzugefügt, dass es für die ethnischen Säuberungen auch längerfristige Ursachen gegeben habe. Die Politik des Dritten Reiches habe ältere ethnonationale Konfliktlagen, geostrategische Interessen und längst vorhandene Politikmodelle ethnischer Säuberung mobilisiert und radikalisiert32. Zu nennen ist hier insbesondere der sogenannte griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch von 192333: So bezog sich 1944 / 45 etwa der britische Premierminister WinBeer, Flucht und Vertreibung der Deutschen (Anm. 24), 130 f. Bundesamt (Hrsg.), Die deutschen Vertreibungsverluste. Bevölkerungsbilanzen für die deutschen Vertreibungsgebiete 1939 / 50, Stuttgart 1958. 30  Vgl. Rüdiger Overmans, Personelle Verluste der deutschen Bevölkerung durch Flucht und Vertreibung, in: Dzieje Najnowsze 26 (1994), 51–63. 31  Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen (Anm. 24), 134. 32  Vgl. Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 426 f. 33  Vgl. hierzu Matthias Stickler, „Christlich-griechisch“ oder „muslimisch-türkisch“ – Überlegungen zum Stellenwert religiöser und ethnisch-nationaler Identitätskonstruktionen beim griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch von 1923, in: Historisches Jahrbuch 135 (2015), 69–93; dort auch weiterführende Literatur. 28  Vgl.

29  Statistisches



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ston Churchill (1874–1965) ausdrücklich auf die Ereignisse von 1922 / 23 als Vorbild für die geplante Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa und betonte hierbei vor allem die friedensstiftende Funktion einer solchen Maßnahme34. Möglich wurde die Realisierung derartiger, bisherige bekannte Dimensionen von Zwangsmigration sprengende Überlegungen innerhalb der Anti-Hitler-Koalition vor allem deshalb, weil die Gewaltpolitik des Dritten Reiches und die deutsche Terrorherrschaft in den besetzten Ländern die ursprünglich vorhandenen Vorbehalte der Westalliierten gegenüber radikalen Lösungen zurücktreten ließ35. Der nationalsozialistischen Besatzungspolitik in Ost- und Ostmitteleuropa wohnte von vornherein ein eliminatorisches Ziel inne, Genozid und Vertreibungsmaßnahmen vermischten sich dort insofern. Generell kann man sagen, dass Hitlers Politik einer Revision des Versailler Vertrags ab 1933 nur die Vorstufe zu seinem eigentlichen Ziel, nämlich der Gewinnung von „Lebensraum“ im Osten für die „arische Rasse“, war. Das zweite Hauptziel Hitlers war bekanntlich die Vernichtung des europäischen Judentums, welches mit der Lebensraumpolitik insofern zusammenhängt, als ursprünglich eine Umsiedlung der mitteleuropäischen Juden in zu erobernde Gebiete in Osteuropa als Vorstufe zu ihrer physischen Vernichtung vorgesehen war. Die deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa wurden für die „Lebensraumpolitik“ instrumentalisiert, die vorhandenen Nationalitätenkonflikte insbesondere in der Tschechoslowakei und Polen ausgenutzt. Besonders gut erkennt man diese Instrumentalisierung daran, dass intakte deutsche Minderheiten, wie etwa die Deutschbalten, die Deutsch-Südtiroler, die Dobrudscha-, Bukowina- und Bessarabiendeutschen geopfert und „ins Reich“, d. h. in die ab 1939 in Polen und der Sowjetunion neu eroberten Gebiete, umgesiedelt wurden. Langfristig planten die Nationalsozialisten, wie aus dem ab 1940 im Auftrag Heinrich Himmlers entstandenen sogenannten „Generalplan Ost“36 hervorgeht, für die nächsten Jahrzehnte eine großangelegte Verschiebung der deutschen Volkstumsgrenzen nach Osten. Zu diesem Zweck sollte die vorhandene slawische Bevölkerung Ostmitteleuropas, d. h. insbeNaimark, Flammender Hass (Anm. 1), 141. hierzu Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938–1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, 2. Aufl., München 2005 sowie Hans-Åke Persson, Rhetorik und Realpolitik. Großbritannien, die Oder-Neiße-Grenze und die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, Potsdam 1997 und Matthew Frank, Expelling the Germans. British Opinion and Post-1945 Population Transfer in Context, Oxford / New York 2008. 36  Vgl. hierzu: Mechthild Rössler / Sabine Schleiermacher (Hrsg.), Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993; Bruno Wasser, Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940–1944, Basel u. a. 1993; Czesław Madajczyk (Hrsg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd. 80), München 1994. 34  Vgl. 35  Vgl.

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sondere die Polen und Tschechen, teilweise auch Weißrussen und Ukrainer, sofern nicht eindeutschungsfähig, „in den Osten“, d. h. ins Innere Russlands deportiert werden, wo sie als Sklavenvölker Dienst leisten sollten. Ihre Eliten wurden ermordet oder waren zur Eliminierung vorgesehen. Insbesondere Polen zahlte hierbei einen sehr hohen Blutzoll37. Neben den Deutschen wurden, wie bereits erwähnt, auch viele andere europäische Völker bei Kriegsende in erheblichem Umfang Opfer von Vertreibungsmaßnahmen. In absoluten Zahlen handelte es sich dabei zwar um deutlich kleinere Gruppen, in Relation zur Gesamtbevölkerungszahl waren damit allerdings umfangreiche Verwerfungen verbunden, die denen in Deutschland mindestens vergleichbar waren: Nennen kann man hier insbesondere Polen, wo nach der Befreiung des Landes durch die Sowjetunion, die eine Rückkehr vieler Überlebender der Vertreibungs- und Vernichtungspolitik des Dritten Reichs in ihre Heimat ermöglichte, mehr als 2 Millionen Angehörige der polnischen Minderheit in den Ostgebieten der Zweiten Polnischen Republik (die sogenannte Kresy, d. h. Grenzland), die nun endgültig an die Sowjetunion fielen, diese verlassen mussten. Hinzu kamen noch knapp 3 Millionen Ansiedler aus Zentralpolen, die zusammen mit den Vertriebenen aus der Kresy die bisherigen deutschen Ostgebiete polonisieren sollten; sogenannte Repatriierungsmaßnahmen aller Art, insbesondere aus der Sowjetunion, zogen sich noch bis 1959 hin. Als Konsequenz dieser Ereignisse wurde die Zusammensetzung der polnischen Gesellschaft von Grund auf verändert, der Anteil der ostpolnischen Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung lag 1950 in nur drei von 17 Wojewodschaften (Łódź, Kielce und Warschau) unter 25 Prozent38. Bemerkenswert und in Deutschland weniger bekannt ist auch das Beispiel Finnland, das im Zweiten Weltkrieg mit dem Dritten Reich verbündet gewesen war, aber dennoch nach 1945 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion bewahren konnte, allerdings 12 Prozent seines Staatsgebiets an den östlichen Nachbarn abtreten und die Vertreibung von 420.000 Finnen und Kareliern (knapp 12 Prozent der Gesamtbevölkerung) aus ihrer Heimat hinnehmen musste39. Der Vertriebenenanteil an der 37  Vgl. hierzu Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 429–492, dort auch viele Hinweise auf weiterführende Spezialliteratur; Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 77–110 und Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1939–1945, Darmstadt 32011. 38  Vgl. hierzu ausführlich Grzegorz Hryciuk / Małgorzata Ruchniewicz / Bożena Szaynok / Adrzej Żbikowski (Hrsg.), Atlas Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung. Ostmitteleuropa 1939–1959. Polen, Deutsche, Juden, Ukrainer, Warschau 2009 [Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2010, polnische OA Warschau 2008], 84–105. 39  Vgl. im Überblick Päivi Partanen, The Expulsion oft the Karelians, in: Flucht, Vertreibung, ethnische Säuberung (Anm. 1), 69–73, Pekka Kauppala, Karelier: Flucht und Evakuierung (1939–1944), in: Lexikon der Vertreibungen (Anm. 1), 334 f. und



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Gesamtbevölkerung lag in Finnland damit nur wenig niedriger als in den Westzonen Deutschlands, wo er 1946 ca. 13 Prozent betrug40. Entsprechend umfangreich und schwierig, und durchaus mit den deutschen Problemen dieser Jahre vergleichbar, waren die Maßnahmen, die der finnische Staat unternahm, um die damit verbundenen Probleme zu lösen. Als weitere Opfer ethnischer Säuberungen am Ende des Zweiten Weltkriegs können genannt werden: Ukrainer aus Polen und innerhalb Polens (ca. 650.000), Magyaren (Ungarn) aus der Tschechoslowakei und Jugoslawien (ca. 150.000), Slowaken aus Ungarn (ca. 70.000), Bulgaren aus Jugoslawien und Griechenland (ca. 120.000) Italiener aus Jugoslawien (ca. 300.000). Umsiedlungen, die nicht immer freiwillig waren, gab es ebenso innerhalb der Tschechoslowakei (ca. 1,9 Millionen, zumeist Tschechen, aber auch Roma und Magyaren), um die sudetendeutschen Gebiete neu zu besiedeln. Nicht vergessen darf man auch die Millionen Opfer der Säuberungs- und Deportationspolitik Josef Stalins, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Vorwand des Vorgehens gegen „Kollaborateure“ und „Faschisten“ einen neuen Höhepunkt erreichte. Opfer waren nicht nur Angehörige ethnischer Minderheiten (wie Litauer, Letten, Esten, Krimtataren, Tschetschenen, Inguschen, Wolgadeutsche und Kalmücken), sondern ebenfalls sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, derer die Rote Armee im besetzten Deutschland habhaft wurde; diese wurden häufig als Verräter und potentielle Staatsfeinde betrachtet. Zwangsumsiedlungen fanden des Weiteren in die von der Sowjetunion neu erworbenen Territorien bzw. in die Gebiete statt, die als Folge von stattgefundenen Vertreibungsmaßnahmen ganz oder teilweise neu besiedelt werden mussten. Auf diese Weise betrieb Stalin zudem eine gezielte Russifizierungspolitik in den nichtrussischen Sowjetrepubliken, die deren Trennung von der Sowjetunion künftig unmöglich machen sollte41. Bemerkenswert ist, dass in der bisherigen Forschung zu Flucht und Vertreibung ein wichtiger Aspekt stark unterbelichtet ist, nämlich die unterschätzte Rolle der Frauen, die zumeist allenfalls als passive Opfer, etwa von männlicher Gewalt, in Blick genommen werden. Dies ist umso unverständ­ Osmo Jussila / Seppo Hentilä / Jukka Nevakivi, Vom Großfürstentum zur Europäischen Union. Politische Geschichte Finnlands seit 1809, Berlin 1999, 264–267. 40  Vgl. Gerhard Reichling, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen. Zwei Teile, Bonn 1989 und 1995, hier Teil II, 30 f. 41  Zu angegebenen Zahlen vgl. Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten (Anm. 1), 233 f. und Schlögel, Bugwelle des Krieges (Anm. 23), 180–184. Zu den stalinschen Säuberungen, die ihre Vorgeschichte bereits in der Zwischenkriegszeit haben, bei denen ethnische und politische Zuschreibungen häufig amalgamierten und die vielfach genozidale Züge aufweisen, vgl. Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 519–532 sowie Norman M. Naimark, Stalin und der Genozid. Berlin 2010, Ders., Flammender Hass (Anm. 1), 111–137 und Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012.

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licher, als den Frauen in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit wegen der Abwesenheit eines beträchtlichen Teils der Männer aufgrund Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft eine wichtige gesellschaftliche Funktion zukam42. III. Etappen von Flucht und Vertreibung der Deutschen Schon die Begrifflichkeit „Flucht und Vertreibung“ impliziert, dass dieses historische Ereignis phasenweise verlaufen ist, wobei man sich klar machen muss, dass die im Folgenden genauer auszuführenden Phasen idealtypisch zu verstehen sind. Sie überschneiden sich je nach Region bzw. Kriegsverlauf vor Ort zeitlich und sie stellen auch keine gleichsam zwingende Abfolge der Ereignisse dar, die von allen Betroffenen durchlaufen wurden. Man kann für die Jahre 1944 bis 1950 grob drei Phasen unterscheiden, in denen sich Flucht und Vertreibung der Deutschen vollzog: •• Phase 1 (Herbst 1944 bis Mai 1945): Die Evakuierung deutscher Bevölkerungsteile bzw. die Flucht von Teilen der deutschen Bevölkerung vor den befürchteten bzw. tatsächlichen Exzessen der Roten Armee. •• Phase 2 (Frühjahr 1945 bis Sommer 1945): Internierung und / oder sogenannte „wilde Vertreibungen“ von Teilen der verbliebenen deutschen Bevölkerung auf Anordnung der neu installierten Regierungen und unter Duldung der UdSSR. Damit gingen die weitgehende Entrechtung der Deutschen und teilweise gezielte Tötungsmaßnahmen einher. •• Phase 3 (Sommer 1945 bis ca. 1950): Die sogenannten „ordnungsgemäßen und humanen Überführungen“ nach der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945. Phase 1 (Herbst 1944 bis Mai 1945) Vergleicht man die Entwicklung am Ende des Zweiten Weltkriegs und hierbei insbesondere deren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung an der Ost- und der Westfront, so fällt auf, dass es beim Einmarsch der Westalliier42  Vgl. hierzu die bedenkenswerten Ausführungen und Jan M. Piskorski, Zwangsmigrationen im Kontext des Zweiten Weltkriegs. Zwölf ausgewählte Schwerpunkte, in: Matthias Stickler (Hrsg.), Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung. Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration (= Historische Mitteilungen  – Beiheft 86), Stuttgart 2014, 155–176, hier 166–168 und ausführlicher Piskorski, Die Verjagten (Anm. 1), Kapitel 4; vgl. ferner Christian Graf von Krockow, Die Stunde der Frauen. Bericht aus Pommern 1944 bis 1947, München 1995 und Mathias Beer, „Die Stunde der Frauen“. Graf von Krockow revisited, in: August H. Leugers-Scherzberg / Lucia Scherzberg (Hrsg.), Genderaspekte in der Aufarbeitung der Vergangenheit, Saarbrücken 2014, 233–261.



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ten z. B. in den Großraum Aachen im Herbst 1944, anders als etwa in Ostpreußen, nicht zu größeren Fluchtbewegungen kam, auch nicht zu vergleichbaren Übergriffen von Soldaten auf die Zivilbevölkerung43. Die Flucht der Deutschen aus dem Osten begann im Zuge des Rückzugs der Wehrmacht aus den vom Dritten Reich besetzten osteuropäischen Ländern. Insbesondere Angehörige der volksdeutschen Minderheiten schlossen sich den zurückweichenden Truppen an, teilweise – etwa bei den Karpatendeutschen (100.000 von 140.000) und den Deutschen aus Kroatien (ca. 95.000)  – fanden auch förmliche Evakuierungen statt44. Der nationalsozialistische Wahn vom Endsieg führte allerdings dazu, dass konkrete Evakuierungsmaßnahmen teilweise gar nicht oder zu spät in Angriff genommen wurden, insbesondere in Ostpreußen, wo der fanatische Gauleiter Erich Koch vorbeugende Flucht bei Todesstrafe verboten hatte. Als der Krieg seit dem Herbst 1944 in Ostpreußen auch unmittelbar deutsches Territorium erreichte, begannen deshalb als Folge der Überforderung und des Versagens der nationalsozialistischen Verwaltungen vor Ort unkoordinierte und überstürzte Fluchtbewegungen. Diese wurden noch angeheizt durch massive Übergriffe der Roten Armee auf die Zivilbevölkerung (v. a. Morde und Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen). Besonders bekannt wurde in diesem Zusammenhang das Massaker von Nemmersdorf (21. bis 23.  Oktober 1944)45. Berichte über derartige Gräuel wurden von der NS-Propaganda begierig aufgegriffen und verstärkt, was die Panik der deutschen Bevölkerung indes nur noch vergrößerte und so im Ergebnis für das Regime kontraproduktiv war. Bereits im Februar 1945 erreichten die sowjetischen Truppen die Oder bei Küstrin und die Weichselmündung bei Danzig, Ende März war Deutschland östlich von Oder und Neiße, abgesehen von „Festungen“ wie Königsberg und Breslau sowie kleineren Stützpunkten, die in sinnlosem Widerstand zerstört wurden, weitgehend militärisch besetzt. Die von Stalin eingesetzte sowjetfreundliche, polnische Regierung, das sogenannte Lubliner Komitee, begann nun, eine polni43  Dem NS-Regime war bekannt, dass Evakuierungspläne im Westen des Reiches auf Unverständnis und Widerwillen stießen; vgl. Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 538. 44  Vgl. Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg (Hrsg.), Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als internationales Problem (Anm. 1), 16 f.; vgl. zum folgenden auch Joachim Rogall, Deutsche aus dem heutigen polnischen Staatsgebiet, in: Lexikon der Vertreibungen (Anm. 1), 144–149. 45  Vgl. hierzu Andreas Kossert, Ostpreußen. Geschichte und Mythos, München 2005, 318–330, v. a. 318–321 und Bernhard Fisch, Nemmersdorf, Oktober 1944. Was in Ostpreußen tatsächlich geschah, Berlin 1998. Zum Grundproblem des Verhaltens der sowjetischen Truppen in Deutschland vgl. Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die Sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997 sowie folgende Zeitzeugenberichte: Lew Kopelew, Aufbewahren für alle Zeit. Göttingen 1996 [Erstdruck 1976] und Hans Graf von Lehndorff, Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945–1947, München 1961.

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sche Verwaltung aufzubauen und die „wiedergewonnenen Gebiete“, wie die eroberten Provinzen von den neuen Machthabern euphemistisch genannt wurden, in den wiederentstehenden polnischen Staat einzugliedern. Etwa 4,4  Millionen der (1939) etwa 9,5 Millionen Einwohner der deutschen Ostgebiete waren zu diesem Zeitpunkt bereits in den Westen geflüchtet. Allerdings strömten nach dem Ende der Kampfhandlungen Flüchtlinge teilweise wieder in ihre Heimat zurück; dies geschah vor allem in grenznahen Gebieten wie Niederschlesien, Hinterpommern und der Neumark. Das Sudetenland wurde von den Siegern überwiegend erst nach der deutschen Kapitulation vom 8. Mai 1945 militärisch besetzt, weshalb viele Flüchtlinge, v. a. aus Schlesien, dort vorübergehend Aufnahme fanden. Phase 2 (Frühjahr 1945 bis Sommer 1945) Fluchtbewegungen und damit verbundene Menschenverluste hatte es in allen Kriegen der Neuzeit immer wieder gegeben, etwa auch im Ersten Weltkrieg, als Ostpreußen 1914 / 15 schon einmal teilweise russisch besetzt und erheblich zerstört worden war46. Nach dem Ende der Kampfhandlungen waren damals die Flüchtlinge zurückgekehrt, entsprechendes erwarteten viele Betroffene auch jetzt für die nahe Zukunft. Mehrheitlich war den Flüchtlingen 1944 / 45 nicht klar, dass es für sie keine Rückkehr geben würde. Indem die Siegermächte ihnen diese verweigerten, wurden sie zu Vertriebenen. Die Alliierten unterstrichen diese Haltung durch eine entsprechende Begrifflichkeit. So wurde in der US-Zone die Bezeichnung „Refugees“ (Flüchtlinge) durch „Expellees“ (Vertriebene), zeitweise auch durch „Neubürger“ ersetzt, in der Sowjetischen Besatzungszone war dagegen von „Umsiedlern“ die Rede. Beides sollte schon damals die Endgültigkeit und Unabänderlichkeit des Vertreibungsvorgangs zum Ausdruck bringen47. Die sich der Flucht eines Teils der deutschen Bevölkerung der deutschen Ostgebiete anschließende Vertreibung war die Konsequenz der von den Alliierten beschlossenen „Westverschiebung Polens“, die sich seit der Konferenz von Teheran (28. November bis 1. Dezember 1943) abgezeichnet hatte. Dort wurde grundsätzlich die Zugehörigkeit der polnischen Ostgebiete zur Sowjet­ Kossert, Ostpreußen (Anm. 45), 196–208. hierzu Mathias Beer, Flüchtlinge, Ausgewiesene, Neubürger, Heimatvertriebene. Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsintegration in Deutschland nach 1945, begriffsgeschichtlich betrachtet, in: Mathias Beer / Martin Kintzinger / Marita Krauss (Hrsg.), Migration und Integration. Aufnahme und Eingliederung im historischen Wandel (= Stuttgarter Beiträge zur historischen Migrationsforschung 3), Stuttgart 1997, 145–167 und Michael Schwartz, Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integra­ tionskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ / DDR 1945–1961, München 2004, 3–6. 46  Vgl. 47  Vgl.



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Abb. 1: Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene 1945–1950 Original-Kartenüberschrift aus dem Heft „Umsiedlung, Flucht und Vertreibung ...“

union anerkannt, Polen dafür eine Entschädigung mit deutschem Land in Aussicht gestellt und Moskau zusätzlich die Annexion des nördlichen Ostpreußen mit Königsberg zugesagt. In welchem Umfang Polen entschädigt werden sollte, blieb zunächst offen, wie auch das Problem der in den zur Entschädigung vorgesehenen Gebieten lebenden deutschen Mehrheitsbevölkerung zunächst ungelöst blieb. Die Gründe für den nun folgenden Exodus, der zweifellos die größte Katastrophe der deutschen Geschichte seit dem Dreißigjährigen Krieg darstellt, nicht zuletzt deswegen, weil mehrheitlich

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Abb. 2: Europäische Bevölkerungsbewegungen 1944–1952 Original-Kartenüberschrift aus dem Heft „Umsiedlung, Flucht und Vertreibung ...“

Gebiete verloren gingen, die seit Jahrhunderten geschlossener deutscher Siedlungs- und Kulturraum gewesen waren, waren mannigfaltig. „Der deutsche Aggressionskrieg ab 1939 und sein Scheitern 1945 mobilisierten und radikalisierten“, wie oben bereits erwähnt, „ältere ethnonationale Konflikt­ lagen, geostrategische Interessen und längst vorhandene Politikmodelle ethnischer ‚Säuberung“48. Die Schaffung möglichst „ethnisch reiner“ Nationalstaaten sollte verhindern, dass Minderheitenprobleme wieder das machtpoli48  Vgl.

Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 427.



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tische Gleichgewicht bedrohen konnten. Am 15. Dezember 1944 sagte Wins­ton Churchill vor dem britischen Oberhaus mit entwaffnender Offenheit: „… die Vertreibung ist, soweit wir in der Lage sind, es zu überschauen, das befriedigendste und dauerhafteste Mittel. Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, wodurch endlose Unannehmlichkeiten entstehen wie zum Beispiel im Fall Elsaß-Lothringen. Reiner Tisch wird gemacht werden. Ich bin von der Ansicht einer Entflechtung der Bevölkerung nicht beunruhigt, auch nicht von diesen umfangreichen Umsiedlungen, die durch moderne Hilfsmittel jetzt besser möglich sind als früher.“ Ähnlich hatte sich 1943 auch US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1882–1945) geäußert: „Wir sollten Vorkehrungen treffen, um die Preußen aus Ostpreußen auf die gleiche Weise zu entfernen, wie die Griechen nach dem letzten Kriege aus der Türkei entfernt wurden.“49 Beide Staatsmänner stimmten insofern weitgehend überein mit den neuen Machthabern in Polen und der Tschechoslowakei: Der tschechoslowakische Exilpräsident Edvard Beneš (1884–1948) sah nun die Chance gekommen, die lange Konfliktgeschichte zwischen Deutschen und Tschechen zu Gunsten letzterer zu entscheiden. So führte er etwa bei einem Treffen mit Stalin am 16. Dezember 1943 aus: „Die Niederlage Deutschlands gibt uns die einzigartige historische Möglichkeit, das deutsche Element radikal aus unserem Staat zu entfernen … Es [die Tschechoslowakei] sollte ein Staat der slawischen Völker sein.“50 Und der polnische KP-Generalsekretär Władysław Gomulka (1905–1982) erklärte im Frühjahr 1945: „Wir müssen alle Deutschen abschieben, denn Staaten werden auf nationaler Grundlage errichtet, nicht auf multinationaler.“51 Es erübrigt sich eigentlich zu betonen, dass auch Stalin, der im Hinblick auf die Durchführung ethnischer Säuberungen zweifellos die größte praktische Erfahrung hatte, ins gleiche Horn stieß. Er sagte mit entwaffnender Offenheit im Februar 1945 zu Churchill, er sei keineswegs „schockiert von der Idee, Millionen von Menschen umzusiedeln“52 und kokettierte auch immer wieder damit, dass aufgrund des Vorrückens der Roten Armee und der damit verbundenen Fluchtbewegung gar nicht mehr viele Deutsche in den abzutrennenden Gebieten übrig sein würden. Im Grunde waren derartige Äußerungen die Ankündigung der Schaffung vollendeter Tatsachen, die Stalin angesichts des Umstandes, dass über den Umfang der an Polen abzutretenden Gebiete noch keine Einigung erzielt worden war, offenbar für nötig hielt. Churchill widersprach solchen Äußerungen nicht, er benutzte sie sogar als Argumente gegenüber Mitgliedern seiner Regierung53. 49  Beide Aussagen zitiert nach Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 141. „Preußen“ wie „Ostpreußen“ stellen hier Begriffe pars pro toto dar. 50  Zitiert nach Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 146. 51  Zit. nach ebd., 158. 52  Zit. nach ebd., 140. 53  Vgl. ebd., 140 f.

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All dies bedeutete, was den Siegern auch klar war, die zwangsweise Umsiedlung von mindestens 10 Millionen Deutschen, die dann in Restdeutschland aufgenommen werden mussten. Im Hinblick auf dessen Aufnahmekapazität waren die Großmächte anfangs recht optimistisch: Churchill ging im Oktober 1944 von voraussichtlich sieben Millionen deutschen Kriegstoten aus, die durch die Vertriebenen kompensiert werden könnten54. In Bezug auf das Schicksal der Sudetendeutschen taktierte die tschechoslowakische Exilregierung allerdings aus Rücksicht auf das sudetendeutsche Exil in London sowie die US-Amerikaner und Briten bis 1942 / 4355. Beneš hatte bereits auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise im September 1938 gegenüber der französischen Regierung Planspiele im Hinblick auf eine erhebliche Reduzierung der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei bei gleichzeitiger Bereitschaft zu Teilabtretungen von tschechoslowakischem Staatsgebiet entwickelt. Erst gegen Kriegsende gelang es Beneš, v. a. mit Hilfe der Sowjetunion, das Ziel einer weitgehenden Vertreibung aller Sudetendeutschen (etwa 3 Millionen Menschen) und damit der völligen Wiederherstellung der Grenzen von 1937 bei den Westmächten durchzusetzen. Erkauft wurde die Unterstützung Stalins mit der Zustimmung zur Abtretung der Karpato-Ukraine (endgültig im tschechoslowakisch-sowjetischen Vertrag vom 29.  Juni 1945) und der engen politischen Anlehnung der Tschechoslowakei an die Sowjetunion, wie er im Freundschafts- und Beistandspakt vom 12. Dezember 1943 seinen Ausdruck fand. Diese engen Sonderbeziehungen stellten eine wichtige Voraussetzung für die Sowjetisierung der Tschechoslowakei nach 1945 dar56. Begründet wurde die Vertreibung der Sudetendeutschen (und Magyaren) mit deren angeblichem „Verrat“ an der ersten Tschechoslowakischen Republik und dem Ziel einer ethnischen Homogenisierung der Tschechoslowakei, die damit endgültig zu einem Staat nur der Tschechen und Slowaken ohne Minderheiten werden sollte. In Polen57 gab es zwischen der Londoner Exilregierung und der sowjetfreundlichen Lubliner Regierung insofern gewisse Unterschiede im Hinblick auf die Vertreibung der Deutschen, als die antikommunistische Exilregierung das Kompensationsgeschäft „Ostpolen gegen Ostdeutschland“ zunächst ab54  Vgl.

ebd., 141. hierzu im Detail Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938–1945 (Anm. 35) und Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 139–174. 56  Vgl. hierzu Jörg K. Hoensch, Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis zur Gegenwart, München 1997, 434–440. 57  Vgl. hierzu ausführlich Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938–1945 (Anm. 35), Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 139–174; Krzysztof Ruchniewicz, Wilde Vertreibungen aus Polen. In: Lexikon der Vertreibungen (Anm. 1), 725–728 und Bernadetta Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949. München 2003. 55  Vgl.



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lehnte, weil sie zutreffend befürchtete, dass die mit einer solchen Grenzänderung verbundene Machtverschiebung in Osteuropa die sowjetische Hegemonie dort stärken würde. An polnischen Gebietsgewinnen zu Lasten Deutschlands, etwa Ostpreußen und Oberschlesien, war die Exilregierung allerdings ebenso interessiert, wie auch an der grundsätzlichen Ausschaltung der „deutschen Gefahr“ und damit der Aussiedlung der Deutschen aus dem neuen Polen. Die endgültige Festlegung der künftigen deutsch-polnischen Grenze blieb vorerst noch ungeklärt, wie eine geheime Karte des US State Departement vom 10. Januar 1945 zeigt58. Bei den Drei-Mächte-Verhandlungen in Jalta (4. bis 11. Februar 1945) wurden lediglich verschiedene Optionen diskutiert, von denen aber keine abschließend angenommen wurde. Lediglich die Abtrennung Ostpreußens und Oberschlesiens von Deutschland konnte als weitgehend sicher gelten, zumal die Sowjetunion für sich den Norden Ostpreußens mit Königsberg beanspruchte. Deshalb kam es Polen wie der Sowjetunion v. a. darauf an, nach der Eroberung der von ihnen beanspruchten Gebiete, Fakten im Hinblick auf einen möglichst weitgehenden Territorialgewinn zu schaffen. Dies bedeutete, dass die in den deutschen Ostgebieten verbliebenen Deutschen möglichst rasch vertrieben werden mussten. Stalin warb bezeichnenderweise später auf der Potsdamer Konferenz (17.  Juli bis 2.  August 1945) für die ­Annahme der Oder-Neiße-Linie als künftige polnische Westgrenze mit dem Argument, dass es östlich davon kaum noch Deutsche gebe59. Die in den deutschen Ostgebieten verbliebenen Deutschen wurden im Zuge der Errichtung einer polnischen Verwaltung dort entweder im Zuge staatlich organisierter „wilder Vertreibungen“ gleich vertrieben (im Juni / Juli 1945 300.000 bis 400.000 Menschen) oder es wurden, wie Stalin Gomulka geraten hatte, Bedingungen geschaffen, die dafür sorgen sollten, dass die Deutschen freiwillig gingen60. Nach den vielfach traumatischen Erfahrungen, die die Ostdeutschen mit der einrückenden Roten Armee gemacht hatten und teilweise immer noch machten, folgte jetzt ihre weitgehende Entrechtung im neuen polnischen Staat. Norman Naimark hat in diesem Zusammenhang nicht ganz zu Unrecht von einem polnischen „Wilden Westen“ gesprochen61, in dem die verbliebene deutsche Bevölkerung der Siegerwillkür weitgehend schutzlos ausgeliefert war. Teilweise wurden die Deutschen in Ghettos zusammengepfercht, erhielten kaum Lebensmittel, mussten eine Armbinde mit 58  „Germany-Poland: Proposed Territorial Changes“, 10.1.1945, in: Foreign Relations of the United States (FRUS), PD I, gegenüber v. Seite 748; vgl. auch https: /  /  commons.wikimedia.org / wiki / File:Vertreibungsgebiet.jpg (4.4.2016). 59  Vgl. Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 142. 60  Ebd., 140 und 159. 61  Ebd., 161. Vgl. hierzu jetzt auch Beata Halicka, Polens Wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945–1948, Paderborn u. a. 2013.

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dem Buchstaben „N“ (für Niemec = Deutscher) tragen, die sie sofort identifizierbar machte; die Benutzung vieler öffentlicher Einrichtungen (etwa Theater, Gaststätten) wurde ihnen sukzessive untersagt, deutsche Zeitungen wurden verboten, deutsche Schulen und Hochschulen geschlossen, deutsche Gottesdienste, gerade auch katholische, immer mehr eingeschränkt. Die polnische katholische Kirche beteiligte sich unter dem Kardinalprimas August Hlond (1881–1948) aktiv an der Polonisierung der deutschen Ostgebiete und schreckte dabei auch nicht vor Zwangsmaßnahmen gegen katholische deutsche Geistliche zurück62. Verschlimmert wurde die Situation noch durch den einsetzenden Zustrom polnischer Vertriebener aus dem vormaligen Ostpolen und polnischer Ansiedler aus Zentralpolen, für die die verbliebenen Deutschen nun Platz machen mussten. Besonders schlimm war die Lage der ca. 105.000 deutschen Männer, Frauen und Kinder, die von den neuen pol­ nischen Machthabern in Internierungslagern gefangen gehalten und dort schweren physischen und psychischen Misshandlungen ausgesetzt waren. Besonders bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang das Lager Lamsdorf (Łambinowic) südwestlich von Oppeln, wo ca. 8.064 Menschen inhaftiert waren63. Nach Angaben des Lagerarztes Hans Esser starben dort etwa drei Viertel der Insassen64, darunter viele Frauen und Kinder, an Unterernährung, Krankheiten, unmenschlichen Arbeitsbedingungen, Misshandlungen und Hinrichtungen. Insgesamt geht die Forschung heute von ca. 500.000 deutschen Todesopfern in Polen aus65. Viele dieser Exzesse erklären sich aus den Erfahrungen der deutschen Gewaltherrschaft in Polen, dem Bedürfnis nach Rache und Vergeltung, was die Verbrechen selbstverständlich nicht entschuldigt. Handlungsleitend war, wie oben bereits angedeutet, jedoch auch die Vorstellung vom ethnisch reinen polnischen Nationalstaat, der jetzt radikal durchgesetzt werden sollte. Entsprechend fielen den polnischen Umsiedlungs- und Vertreibungsmaßnahmen auch 480.000 Ukrainer im polnisch-sowjetischen Grenzgebiet zum Opfer, die 1945 / 46 in die sowjetische Ukraine „repatriiert“ wurden. Viele Ukrainer leisteten allerdings gegen ihre Zwangsumsiedlung Widerstand, be62  Vgl. Franz Scholz, Zwischen Staatsräson und Evangelium. Kardinal Hlond und die Tragödie der ostdeutschen Diözesen, Frankfurt / M. 1988 und Urban, Der Verlust (Anm. 24), 132–138. 63  Vgl. hierzu im Überblick Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 163–165 sowie ausführlich: Edmund Nowak, Lager im Oppelner Schlesien im System der Nachkriegslager in Polen (1945–1950). Geschichte und Implikationen, Oppeln 2003; Ders., Schatten von Łambinowice. Versuch einer Rekonstruktion der Geschichte des Arbeitslagers in Łambinowice in den Jahren 1945–1946, Oppeln 1994; Rex Rexhäuser, Das Bild des Nachkriegslagers in Lamsdorf im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 / 2001, 48–71. 64  Urban, Der Verlust (Anm. 24), 130. 65  Vgl. Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 562 f.



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reits während des Zweiten Weltkriegs ausgebrochene Kämpfe zwischen der polnischen Armee und ukrainischen Untergrundkämpfern setzten sich nun in bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen fort. Erst 1947 gelang es der polnischen Armee in der „Aktion Weichsel“, die verbliebenen 140.000 Ukrai­ ner militärisch zu unterwerfen. Sie wurden in die ehemaligen deutschen Ostgebiete zwangsumgesiedelt (wobei etwa 5.500 Menschen ums Leben kamen) und dort einer rigiden Polonisierungspolitik unterworfen66. Auch für die überlebenden 250.000 polnischen Juden blieb die Lage in Polen unsicher, da sie weiterhin als Fremde angesehen wurden und antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt waren. Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang v. a. der Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946, dem 42 Juden zum Opfer fielen und der eine Emigrationswelle auslöste67. Die Lage der Deutschen in der wiederhergestellten Tschechoslowakei war ähnlich hart wie in Polen68. Dort kam es im Zuge des Zusammenbruchs des Dritten Reichs ab Mai 1945 zu regelrechten Pogromen gegen die Sudetendeutschen. Besonders bekannt geworden sind in diesem Zusammenhang der „Prager Aufstand“ vom 5. Mai 194569 und das „Massaker von Aussig“ (Ústí nad Labem) am 31. Juli 194570, dem eine bis heute ungeklärte Anzahl Deutscher zum Opfer fiel (die Schätzungen schwanken zwischen mehreren hundert und 2.700 Toten). Viele Deutsche wurden auch in Lagern interniert, so 66  Vgl. hierzu: Małgorzata Ruchniewicz, Ukrainer, Weißrussen und Litauer. Umsiedlung aus Polen in die UdSSR (1944–1946), in: Lexikon der Vertreibungen (Anm. 1), 673–675; Grzegorz Hryciuk, Aktion „Weichsel“, in: Lexikon der Vertreibungen (Anm. 1), 27f; Marek Jasiak, Overcoming Ukrainian Resistance. The Deportation of Ukrainians within Poland in 1947, in: Philipp Ther / Ana Siljak (Hrsg.), Redrawing Nations. Ethnic Cleansing in East-Central Europe, 1944–1948, Lanham u. a. 2001, 173–194. 67  Vgl. hierzu David Engel, Patterns Of Anti-Jewish Violence In Poland. 1944– 1946, in: Yad Vashem Studies Vol. XXVI (1998), 43–85; Jan T. Gross, Kielce, in: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Bd. 3., Stuttgart u. a. 2012, 345–350; Jan Tomasz Gross, Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen, Berlin 2012. 68  Vgl. hierzu neben der weiter oben bereits genannten Literatur Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 139–174, Tomáš Staněk, Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse), Wien u. a. 2002; Ders., Internierung und Zwangsarbeit. Das Lagersystem in den böhmischen Ländern 1945–1948 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum Bd. 92), München 2007 und Detlef Brandes, Wilde Vertreibungen aus der Tschechoslowakei, in: Lexikon der Vertreibungen (Anm. 1), 728–730. 69  Vgl. Stanislaw Kokoška, Prag im Mai 1945. Die Geschichte eines Aufstandes (= Berichte und Studien des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Nr. 55), Göttingen 2009. 70  Vgl. Kateřina Lozoviuková. Aussiger Brücke, in: Lexikon der Vertreibungen (Anm. 1), 57 f. und Otfried Pustejovsky, Die Konferenz von Potsdam und das Massaker von Aussig am 31. Juli 1945. Untersuchung und Dokumentation, München 2001.

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z. B. im ehemaligen KZ Theresienstadt, und waren dort schweren Misshandlungen ausgesetzt. Wie in Polen wurden die Deutschen entrechtet, vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, durch Armbinden mit dem Buchstaben „N“ als Feinde gekennzeichnet, waren öffentlichen Demütigungen und Übergriffen bis hin zu Vergewaltigung und Mord ausgesetzt. Bis zur Potsdamer Konferenz kam es zu zahlreichen staatlich organisierten „wilden Vertreibungen“, die von unvorstellbaren Grausamkeiten begleitet waren. Besonders bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang der „Brünner Todesmarsch“ vom 30. Mai 1945, als alle 30.000 deutschen Bewohner der mährischen Hauptstadt Brünn aus ihren Häusern geholt und zum sofortigen Verlassen ihrer Heimatstadt gezwungen wurden. Bei den sich anschließenden Gewaltmärschen zur österreichischen Grenze starben ca. 1.700 Menschen71. Wie viele Sudetendeutsche als Folge der Vertreibungsmaßnahmen starben, ist bis heute umstritten, die Schätzungen schwanken zwischen 220.000 bis 250.000 (Sudetendeutsche Landsmannschaft) und 16.000 bis maximal 30.000 (Deutsch-Tschechische Historikerkommission). Naimark hat sich zuletzt dafür ausgesprochen, von ca. 30.000 Todesopfern auszugehen72. Bis zum Herbst 1945 wurden durch die „wilden Vertreibungen“ zwischen 700.000 und 850.000 Deutsche verjagt73. Die Motive für die brutalen Ausschreitungen waren ebenfalls im Wunsch nach Rache und Vergeltung für die deutsche Besatzungszeit zu suchen, doch auch in der Tschechoslowakei spielte, wie oben bereits erwähnt, das politische Ziel, die Gunst der Stunde zu nutzen, um einen „ethnisch reinen“ Staat der Tschechen und Slowaken zu schaffen, eine wichtige Rolle. Opfer von Vertreibungsmaßnahmen wurden deshalb auch 90.000 Magyaren aus der Südslowakei, die nach Ungarn umgesiedelt wurden, während dafür 60.000 Slowaken aus Ungarn in die Tschechoslowakei kamen; zu einem vollständigen Austausch beider Minderheiten kam es allerdings nicht74. Dem Ziel der Homogenisierung der Bevölkerung diente v. a. auch die Umsiedlung vieler slowakischer Roma in das bisherige Sudetenland (z. B. nach Brüx), die man auf diese Weise sesshaft machen und tschechisieren wollte – ein Ziel, das allerdings im Ergebnis nicht erreicht wurde. Legalisiert wurden die Vertreibungsmaßnahmen sowie die damit verbundenen Vermögens- und Besitzkonfiskationen durch die sogenannten Beneš71  Vgl. Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 152 sowie Kateřina Lozoviuková, Brünner Todesmarsch. In: Lexikon der Vertreibungen (Anm. 1), 85 f. 72  Naimark, Flammender Hass (Anm. 1), 233. Vgl. hierzu auch die Angaben bei Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 562 f. 73  Vgl. ebd., 554. 74  Vgl. Adrian von Arburg, Magyaren aus der Südslowakei nach Ungarn. In: Lexikon der Vertreibungen (Anm. 1), 410–412.



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Dekrete75, eine Sammelbezeichnung für verschiedene Erlasse mit Gesetzescharakter zwischen Mai und Oktober 1945 sowie das Amnestiegesetz vom 8.  Mai 1946. Diese verstießen streng genommen gegen Artikel 2 der Atlantikcharta vom 14. August 1941 sowie gegen das Erste und Vierte Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950. Ähnliche Verordnungen bzw. Gesetze gab es in nahezu allen Staaten, die Deutsche vertrieben, so in Polen die sogenannten Bierut-Dekrete (Februar 1945 bis 24.  März 1946)76 und in Jugoslawien die AVNOJ-Dekrete vom 21. November 194477. Phase 3 (Sommer 1945 bis ca. 1950) Der Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) der Siegermächte USA, Großbritannien und Sowjetunion kam angesichts der von Polen und der Tschechoslowakei mit Rückendeckung Moskaus geschaffenen Fakten im Hinblick auf die Vertreibung der Deutschen gleichsam nur noch eine Nota­riats-Funktion zu78. Zu diesem Zeitpunkt lebten in den deutschen Ost75  Vgl. hierzu Karel Jech (Hrsg.), Die Deutschen und Magyaren in den Dekreten des Präsidenten der Republik. Studien und Dokumente, 1940–1945, Brünn / Brno 2003; Niklas Perzi, Die Beneš-Dekrete. Eine europäische Tragödie, St. Pölten u. a. 2003; Jan Kuklik, Deutschland und die Personen deutscher Nationalität in der tschechoslowakischen Gesetzgebung (1940–1948), in: Kittel / Möller / Pesek / Tůma (Hrsg.), Deutschsprachige Minderheiten 1945 (Anm. 1), 1–130. 76  Vgl. Grzegorz Janusz, Die rechtlichen Regelungen Polens zum Status der deutschen Bevölkerung in den Jahren 1938 bis 1950, in: Kittel / Möller / Pesek / Tůma (Hrsg.), Deutschsprachige Minderheiten 1945 (Anm. 1), 131–251. Boleslaw Bierut (1892–1956) war polnischer Staatspräsident (1944 / 47–1952), Ministerpräsident (1952–1954) und KP-Chef (1948–1956). 77  Vgl. Damijan Guštin / Vladimir Prebilič, Die Rechtslage der deutschen Minderheit in Jugoslawien 1944 bis 1946, in: Kittel / Möller / Pesek / Tůma (Hrsg.), Deutschsprachige Minderheiten 1945 (Anm. 1), 297–346; AVNOJ bedeutet „Antifaschistischer Volksbefreiungsrat Jugoslawiens“. 78  Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auch noch die Politik Rumäniens, Ungarns und Jugoslawiens gegenüber deren deutschen Minderheiten zu behandeln: In Rumänien hatte sich die deutsche Minderheit vor allem durch Flucht und Verhinderung der Rückkehr vermindert, Vertreibungsmaßnahmen gab es dort nach Kriegsende nicht, wohl aber Deportationen; bis in die jüngste Vergangenheit existierte deshalb in Rumänien eine intakte deutsche Minderheit, die erst nach 1989 / 90 durch die Auswanderung der Mehrheit der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben nach Deutschland erheblich reduziert wurde. Ungarn wies nach 1945 etwa die Hälfte seiner deutschen Minderheit aus. Am schärfsten ging Jugoslawien gegen die alteingesessene deutsche Bevölkerung vor, dort gibt es seit den frühen 1950er Jahren praktisch keine Deutschen mehr. Vgl. zu diesen zumeist wenig beachteten Aspekten von Flucht und Vertreibung ausführlicher Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen (Anm. 24), 86–97; dort auch Nennung weiterführender Spezialliteratur.

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gebieten noch mehr als fünf Millionen Deutsche und im Sudetenland mehr als zwei Millionen79. Es konnte also keine Rede davon sein, dass, wie Stalin dies immer wieder behauptete, die Deutschen bereits weg waren. Dennoch sanktionierte die Konferenz im Wesentlichen die Vertreibung, legte aber auch gewisse Mindeststandards für die konkreten Zwangsaussiedlungsmaßnahmen fest. In Artikel XIII. des Potsdamer Protokolls hieß es: „Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, dass die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muss. Sie stimmen darin überein, dass jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.“80 Vor allem die Westalliierten hatten ein ureigenes Interesse daran, dass die Vertreibungen gleichsam bürokratisch eingehegt wurden, weil der bisherige ungeregelte Zustrom in ihren Besatzungszonen große Probleme verursachte. Wesentlich humaner wurde das Vertreibungsgeschehen dadurch allerdings nicht, wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von Humanität sprechen kann. Vertreibungen fanden zudem weiterhin auch außerhalb der in Artikel XIII. genannten Staaten statt, etwa in Jugoslawien. Die Frage der polnischen Westgrenze wurde in Potsdam dahingehend geregelt, dass die drei Siegermächte in Artikel IX. darin übereinstimmten, „dass bis zur endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens, die früher deutschen Gebiete östlich der Linie, die von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der westlichen Neiße und die westliche Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verläuft, einschließlich des Teiles Ostpreußens, der nicht unter die Verwaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in Übereinstimmung mit den auf dieser Konferenz erzielten Vereinbarungen gestellt wird, und einschließlich des Gebietes der früheren Freien Stadt Danzig unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen.“81 Auch wenn die endgültige Regelung einem mit Deutschland abzuschließenden Friedensvertrag vorbehalten wurde, war damit klar, dass sich die Sow79  Vgl.

Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 554 und

80  Peter

März (Bearb.), Dokumente zu Deutschland 1944–1994. München 32004,

558. 88.

81  Bezüglich der Stadt Königsberg in Pr. und des nördlichen Ostpreußens verpflichteten sich die USA und Großbritannien in Art. VI., sich auf einer künftigen Friedenskonferenz dafür einzusetzen, dass dieses Gebiet dauerhaft an die Sowjetunion abgetreten wird; vgl. März (Bearb.), Dokumente zu Deutschland 1944–1994 (Anm. 80), 85 f. und 87.



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jetunion bzw. Polen mit ihren Maximalforderungen durchgesetzt hatten und – auch angesichts der Fakten, die mit den Vertreibungen geschaffen wurden – mit einer Revision dieser Grenze zu Gunsten Deutschlands nach menschlichem Ermessen nicht mehr zu rechnen war. Polen gelang es in den nächsten Monaten sogar, die in einigen Punkten unklare Potsdamer Grenzbeschreibung noch weiter zu seinen Gunsten zu verschieben. Dies betraf vor allem das westliche Umland der wichtigen pommerschen Hafenstadt Stettin, die überwiegend westlich der Oder lag und wo nach der Eroberung durch die Rote Armee eine deutsche Verwaltung wiederaufgebaut worden war. Die Sowjet­union übergab den größten Teil der Stadt im Juli 1945 an Polen, die deutsche Bevölkerung wurde in der Folgezeit ausgewiesen. Bis Ende 1945 gelang es Polen zudem, weitere Grenzstreifen westlich der Oder von der Sowjetischen Besatzungszone zu bekommen und so das westliche Hinterland Stettins auszudehnen82. Bis 1947 wurden in der Tschechoslowakei die Vertreibungen abgeschlossen83, bis 1950 in Polen. In beiden Ländern durften in gewissem Umfang dringend benötigte Arbeitskräfte bleiben, in der Tschechoslowakei ca. 200.000, in Polen zwischen 400.000 und einer Million Menschen, v. a. in den Bergbaugebieten Nieder- und Oberschlesiens84. Die verbliebenen Deutschen wurden rigiden Polonisierungs- bzw. Tschechisierungsmaßnahmen unterworfen, der Gebrauch der deutschen Sprache und die Pflege der eigenen Kultur verboten und bestraft85. In beiden Ländern versuchte man darüber hinaus, die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit zu tilgen – bis hin zur Zerstörung von Friedhöfen und vieler verbliebener öffentlich sichtbarer Erinnerungen an die bisherigen Bewohner des Landes. Das Verhältnis zu den Deutschen in der Vergangenheit wurde im Sinne einer jahrhundertealten Konfliktgeschichte verfälscht und der Mythos von angeblich urpolnischen bzw. urtschechischen 82  Vgl. Alina Hutnikiewicz, Pommern nach dem zweiten Weltkrieg (bis 1995). Das polnische Pommern, in: Jan M. Piskorski (Hrsg.), Pommern im Wandel der Zeiten. Stettin / Szczecin 1999, 369–421, hier 369–387. 83  Vgl. hierzu auch Ján Mlynárik, Fortgesetzte Vertreibung. Vorgänge im tschechischen Grenzgebiet 1945–1953, München 2003. 84  Vgl. Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen (Anm. 24), 79 und 83. Zu den verbliebenen Deutschen in Ostmitteleuropa vgl. ferner: Ingo Eser, Wider das Prinzip ethnischer Homogenität. Der Verbleib deutscher Minderheiten in Ostmitteleuropa nach dem Ende von Vertreibung und Zwangsaussiedlung, in: Kroll / Thoß (Hrsg.), Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte (Anm. 1), 233–251. 85  Vor diesem Hintergrund verließen auch die meisten sogenannten „deutschen Antifaschisten“ die Tschechoslowakei, wobei diese sozusagen unter Vorzugsbedingungen ausreisen durften. Vgl. dazu Jan Foitzik, Kadertransfer. Der organisierte Einsatz sudetendeutscher Kommunisten in der SBZ 1945 / 46, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), 308–334. Vgl. hierzu auch Alena Wagnerová (Hrsg.), Helden der Hoffnung – Die anderen Deutschen aus den Sudeten 1935–1989, Berlin 2008.

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Territorien, die man nach jahrhundertlanger deutscher Fremdherrschaft endlich zurückgewonnen habe, verbreitet86. Zwischen die Fronten gerieten bei diesen gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen v. a. die sogenannten „Autochthonen“, zweisprachige Menschen, v. a. in den vormaligen Grenzgebieten, die keine eindeutige nationale Identität besaßen, so z. B. die Masuren in Ostpreußen87. Sie sprachen einen polnischen Dialekt, waren aber überwiegend evangelisch wie ihre deutschsprachigen Nachbarn und hatten 1920 bei der Volksabstimmung über die politische Zukunft des südlichen Ostpreußen mit 98 Prozent für den Verbleib ihrer Heimat bei Deutschland gestimmt. Die Masuren wurden von den polnischen Behörden nun vor die Wahl gestellt, entweder das Vertreibungsschicksal der deutschsprachigen Ostpreußen zu teilen oder für Polen zu optieren und sich zu assimilieren. Ähnlich erging es den oberschlesischen Schlonsaken (pejorativ oft auch als „Wasserpolen“ bezeichnet)88, den Kaschuben in Westpreußen und Hinterpommern89 oder den litauischen Memelländern90, aber auch, wie bereits erwähnt, den griechisch-katholischen Ukrainern im polnischen Teil Galiziens. Was die juristische Bewertung der Vertreibung der Deutschen anbelangt, so ist festzuhalten, dass ein völkerrechtliches Vertreibungsverbot 1945 noch nicht kodifiziert war. Der US-amerikanische Völkerrechtler Alfred de Zayas beurteilt die Vertreibung der Deutschen dennoch als völkerrechtswidrig, weil sie gegen die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung verstoßen habe und im Sinne der Artikel 6(b) und 6(c) des Nürnberger Statuts ein Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit gewesen sei91. Aus Sicht des Historikers wird man hinzufügen dürfen, dass es sich bei der Vertreibung der Deutschen, wie bei allen Vertreibungen im Kontext des Endes des Zweiten Weltkriegs, letztlich um machtpolitisch motivierte Entscheidungen der Siegermächte handelte. Die Aggressionspolitik des Dritten Reiches und die seit 1939 durchgeführten Umsiedlungen und Vertreibungen hatten den Weg bereitet für eine „Rehabilitierung“ des Lausanner Modells hierzu etwa Urban, Der Verlust (Anm. 24), 177–182. hierzu ausführlich Andreas Kossert, Masuren – Ostpreußens vergessener Süden. Berlin 2001. 88  Vgl. hierzu Małgorzata Świder, Die Entgermanisierung Oberschlesiens nach 1945, in: Stickler (Hrsg.), Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung (Anm. 42), 65–87 und Dies., Die sogenannte Entgermanisierung im Oppelner Schlesien in den Jahren 1945–1950. Lauf an der Pegnitz 2002. 89  Miloš Řezník, Die Kaschuben zwischen Deutschen und Polen – eine „selbstpolonisierte“ Minderheit?, in: Kroll / Niedobitek (Hrsg.), Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa (Anm. 1), 297–311. 90  Vgl. Kossert, Ostpreußen (Anm. 45), 362–369. 91  Vgl. Alfred de Zayas, Vertreibung und Völkerrecht, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Flucht, Vertreibung, Integration (Anm. 1), 181–187, hier 186. 86  Vgl. 87  Vgl.



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von 1923. Dieses schien die Möglichkeit zu eröffnen, nach dem Vorbild des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs eine „Lösung“ für die Minderheitenprobleme und die politisch gewollten Verschiebungen von Staatsgrenzen im ostmitteleuropäischen Raum zu finden92 – wobei freilich hinzugefügt werden muss, dass die Vertreibung der Deutschen auf den Kriegskonferenzen der Alliierten, anders als in Lausanne, ohne Beteiligung Deutschlands beschlossen wurde. Andere zeitgleich erfolgende Zwangsumsiedlungen erfolgten dagegen – allerdings nicht ganz freiwillig – mit Zustimmung der jeweiligen Regierungen. Das Verlockende an solchen Maßnahmen war, dass sie scheinbar eine humane, rationale und finale Konfliktlösung darstellten. Die unmittelbaren Konsequenzen für die Betroffenen, die gleichsam auf dem Schachbrett hin und her geschoben wurden, aber auch deren originäre Menschenrechte, gerieten dabei allerdings meist aus dem Blick. IV. Fazit Im Ergebnis fand zwischen dem Ende des Ersten und des Zweiten Weltkriegs eine gigantische „Entmischung“ (Karl Schlögel)93 der Völkerkarte Ostmitteleuropas statt. Damals ging dort endgültig Alteuropa unter. In der klinisch reinen und bisweilen die Grenzen des Zynismus streifenden Sprache der Sozialhistoriker könnte man auch sagen, es fanden Homogenisierungsprozesse, wie sie sich seit dem frühen Mittelalter in West- und Mitteleuropa in Jahrhunderten vollzogen hatten, nunmehr gleichsam im Zeitraffer und unter den Bedingungen effizienter, häufig totalitärer moderner Staatlichkeit statt. Zurück blieb, ohne dass dies den damaligen Zeitgenossen so zu Bewusstsein gekommen wäre, ein im Kern zerstörter Kontinent, der sich nun konsequent nationalstaatlich organisiert hatte. Für beide deutsche Staaten, aber auch  – was oft vergessen wird  – für die Republik Österreich bedeutete die Integration der insgesamt mehr als 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen eine gewaltige Herausforderung, die unterschiedlich gelöst wurde: In der Bundesrepublik Deutschland (ca. 8 Millionen Menschen) durch eine mühsam errungene „Gleichberechtigung für den ‚Fünften Stand‘ (Linus Kather)“, in der DDR (ca. 4 Millionen Menschen) durch „Assimilation und Repression“ und in Österreich (ca. 300.000 Menschen) durch eine „Vertriebenenintegration wider Willen“94. 92  Vgl. hierzu ausführlich Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne (Anm. 1), 411–424. 93  Schlögel, Bugwelle des Krieges (Anm. 23), 185. 94  Vgl. hierzu im Überblick Matthias Stickler, Vertriebenenintegration in Österreich und Deutschland  – ein Vergleich, in: Michael Gehler / Ingrid Böhler (Hrsg.), Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945 / 49 bis zur Gegenwart, Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Ge-

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Es ist eine alte Frage an die Historiker, ob man aus der Geschichte lernen kann. In meinen Ausführungen habe ich, so hoffe ich, zeigen können, dass Nationalitätenkonflikte, Vertreibungen, ethnische Säuberungen und Genozide vor allem die Konsequenz übersteigerten Nationalstaatsdenkens, von Nationalismus und Rassismus waren. Die „Entmischung“ Ostmitteleuropas bedeutete einen schweren Verlust für alle Völker, auch für die, die territorial gesehen, zu den Gewinnern der Vertreibungen gehören. Der Buchtitel des Historikers und Journalisten Thomas Urban „Der Verlust“ bringt dies treffend zum Ausdruck. Von einem „Verlust“ kann man v. a. deshalb sprechen, weil die Geschichte der europäischen Völker nie nur eine Addition von miteinander in Konkurrenz liegenden Nationalgeschichten war; dies ist ein nationalistisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Diesen ethnozentristischen Mythen, nationalistischen Geschichtsbildern und Traditionen gilt es durch eine konsequente Rückbesinnung auf die gemeinsamen Wurzeln der europäischen Kultur entgegenzutreten. Nur durch einen ungeschminkten Rückblick in die Vergangenheit ohne gegenseitiges Aufrechnen ist ein dauerhafter Bewusstseinswandel und damit echte Versöhnung der Völker erreichbar95. Nicht Harmonisierung ist also angesagt, sondern schonungslose Aufklärung, aus der allein gegenseitiges Vertrauen erwachsen kann. Die Europäer im Herzen des Kontinents haben, so scheint mir, eine wichtige Verpflichtung: Aus dem Geiste des im 20. Jahrhundert zerstörten Alteuropa ein neues Europa aufzubauen, dessen Basis zweifellos die heute bestehenden Nationalstaaten sind, welche aber das Verbindende und nicht das Trennende suchen. Es geht heute nicht mehr um Grenzfragen und offene nationale Rechnungen, es geht um unsere gemeinsame Zukunft. Dies gilt auch und gerade angesichts der Herausforderungen, die die aktuelle europäische Flüchtlingskrise mit sich ­ bringt. Die Staaten Europas, die als Folge des Zweiten Weltkriegs in besonderer Weise Flucht und Vertreibung erfahren haben, sollten aus den damals gemachten historischen Erfahrungen heraus hier eigentlich in besonderer Weise sensibel sein. Doch das ist ein anderes Thema.

burtstag, Innsbruck 2007, 416–435. Vgl. auch ausführlich Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008 und Schwartz, Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“ (Anm. 47). 95  Vgl. hierzu Matthias Stickler, Einleitung, in: Stickler (Hrsg.), Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung (Anm. 42), 11–15, v. a. 10 f. und 14 f. Vgl. zu dieser Problematik auch und Frank-Lothar Kroll, Europas verlorene Mitte, in: Kroll / Thoß (Hrsg.), Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte (Anm. 1), 17–28.

Das Kriegsende in Sachsen 1945 Von Jens Boysen, Warschau I. Einführung Im Frühjahr 1945 ereignete sich in Deutschland und Europa eine doppelte Zäsur: zum einen der Übergang von einem in buchstäblich jeder Hinsicht neue Maßstäbe setzenden Krieg zum Frieden (wobei dieser Zustand noch näher zu definieren sein wird), zum anderen ein Systemwechsel in Deutschland, aber auch vielen anderen Ländern Mittel- und Osteuropas, mit zunächst noch nicht absehbaren Folgen für die europäische und globale Ordnung. Als Ansatz zur Behandlung dieser verschiedenen Aspekte sollen im Folgenden neben einem ereignisgeschichtlichen Teil mit Bezug auf die letzten Monate des Krieges auch einige theoretische Aspekte angesprochen werden, nämlich die Diskussion historischer Übergangszeiten wie zum einen System- bzw. Regimewechsel und zum anderen Übergänge vom Krieg zum Frieden bzw. umgekehrt. Grundsätzlich ist bei der Frage nach dem Ende von Kriegen eine ganze Reihe von Aspekten zu berücksichtigen, und fast nie kann ein Kriegsende auch nur annähernd als punktueller Vorgang beschrieben werden, sondern beschreibt einen Zeitraum des Übergangs mit oft deutlichen Phasenverschiebungen zwischen den verschiedenen Aspekten (s. u.). Ein weiterführender allgemeiner Gesichtspunkt ist die Frage danach, welche Faktoren in welcher Kombination und Abfolge zu größerer oder geringerer Stabilität von Nachkriegsordnungen führen1. Jedermann ist die Wendung vertraut, wonach Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Krieg im Sinne militärischer Kampfhandlungen. Darin kommt die eben angesprochene Komplexität des Prozesses zum Ausdruck: Die Einstellung der militärischen Kampfhandlungen ist technisch mit Abstand das Einfachste; alles Weitere ist oft ungleich komplexer und schwieriger. Grundlegende – interne – Aspekte eines Übergangs vom Krieg zum Frieden sind: – die Aufhebung bzw. Umkehrung der sozialen, administrativen und wirtschaftlichen Militarisierung des Staates und die Wiederherstellung des 1  Vgl. Gabriele Metzler, Ewiger Frieden? Zur Bedeutung und Haltbarkeit von Nachkriegsordnungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 16–17 / 2015, 10–16.

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„Friedenszustandes“; dieser Zustand bedarf dabei aber einer genaueren Bestimmung, schon allein deshalb, weil selbst im günstigsten Fall (Sieg) eine einfache Wiederherstellung des status quo ante meistens nicht möglich ist. – die Etablierung einer friedensorientierten Einstellung der am Krieg beteiligten und durch ihn mehr oder weniger militarisierten Bevölkerungen (Herstellung der inneren „Friedensbereitschaft“). Auch hier handelt es sich um eine hochkomplexe Aufgabe; die Neigung von Siegern – besonders solchen demokratischer Prägung im Innern2 –, nur die Bevölkerung der Verlierer als „militarisiert“ anzusehen und daher bezüglich ‚Pazifizierung‘ bzw. Demobilisierung bei sich selbst keinen Handlungsbedarf zu sehen, stellt sich regelmäßig als Irrtum heraus. Ein weiterer zentraler Aspekt der Bestimmung einer historischen Zäsur besteht darin, dass in der Historiographie derartige Ereignisse nur scheinbar „Zeitpunkte“ sind; tatsächlich handelt es sich dabei aber um Momentaufnahmen innerhalb eines längeren Prozesses. Die Schilderung des Kriegsendes erfordert also die Beschreibung eines historischen Zeitabschnitts, der die Endphase des Krieges ebenso umfasst wie die ihm folgenden kurz- und langfristigen Umwälzungen. Um dies beispielhaft zu illustrieren, sei vorab auf zwei andere, unter gewissen Aspekten vergleichbare Übergangszeiten verwiesen: 1. 1914 Seit 2014 (und dies wird sich, wenn auch mit verringerter Kraft, wohl auch in den Folgejahren bis 2018 / 2019 fortsetzen), haben sich nicht nur die Historiker, sondern auch viele andere mehr oder weniger dazu berufene Personenkreise mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges beschäftigt3. Im Zusammenhang der vorliegenden Betrachtung interessiert dabei weniger die Frage nach der Verantwortung für den Kriegsausbruch als vielmehr diejenige, wie sich die Gesellschaften der kriegführenden Staaten so augenscheinlich schnell

2  Hier ist die realistische Schule der Theorie der Internationalen Beziehungen zu berücksichtigen, der die Führungen der USA und Großbritanniens im Zweiten Weltkrieg weitgehend anhingen. Dieser zufolge kann auch ein demokratischer Staat nach außen hin, etwa im Krieg, uneingeschränkt Gewalt und andere Maßnahmen anwenden, die im innenpolitischen Zusammenhang untersagt sind. Vgl. Christoph Rohde, Hans J. Morgenthau und der Weltpolitische Realismus. Wiesbaden 2004. 3  Vgl. etwa zahlreiche Artikel von Historikern und Publizisten in der WELT unter http: /  / www.welt.de / themen / erster-weltkrieg /  (Zugriff 23.09.2015).



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von Friedens- in Kriegsgesellschaften4 verwandelten. Das gilt nicht zuletzt für die Zuspitzung der wechselseitigen Feindbilder nach Jahrzehnten eines insgesamt friedlichen Miteinanders. Viele Zeitgenossen hielten damals einen allgemeinen Krieg – im Unterschied zu lokalen Kriegen wie den Balkankriegen von 1912 / 13 – schon deshalb für unmöglich, weil in den 40 Jahren zuvor zwischen den Staaten zahlreiche transnationale Verflechtungen (Interdependenzen) entstanden waren, vor allem auf den Gebieten von Wissenschaft und Technik, dem Verkehrs- und Kommunikationswesen sowie der damals erstmals so genannten Weltwirtschaft, die auf dem Goldstandard basierte5. Eine durch Krieg bewirkte Auflösung dieser Bindungen würde, so die damalige Ansicht, derartige Verluste für alle Beteiligten mit sich bringen, dass die involvierten Experten einen solchen Schritt für ausgeschlossen hielten. Szenarien wie das Werk „Der Krieg. Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaft­ lichen und politischen Bedeutung“ des russisch-polnischdeutsch-jüdischen Eisenbahnmagnaten Johann (Jan / Iwan) von Bloch von 1898, das die Natur des totalen Krieges – sowie die Verwundbarkeit Deutschlands in seiner Mittellage – geradezu seherisch genau vorhersah, schien dessen Unmöglichkeit aus physisch-ökonomischer Sicht zu unterstreichen6. Trotz solcher Warnungen und neben dem beschriebenen Interdependenzprozess bestand aber weiterhin die Sphäre der politisch-militärischen Souveränität, deren tendenziell – etwa unter dem Einfluss sozialdarwinistischer Anschauungen – antagonistisch7 bzw. fatalistisch8 denkende Politiker und Militärs sich 1914 gegen die ‚zivilen‘ Gruppen durchsetzten. Ein anderer Faktor war z. B. die Vorstellung, sich in einer Phase der endgültigen Aufteilung der Erde in Großmachträume zu befinden, bei der man nicht abseits stehen dürfe9. Es handelte sich aber in all diesen Fällen um Elitendiskurse; 4  Hierzu siehe z. B. Dierk Spreen, Krieg und Gesellschaft. Die Konstitutionsfunktion des Krieges für moderne Gesellschaften, Berlin 2008. 5  Vgl. Jürgen Osterhammel / Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003; Robert Pahre, Politics and Trade Cooperation in the Nineteenth Century. The „Agreeable Customs“ of 1815–1914, Cambridge 2008. 6  Johann von Bloch, Der Krieg. Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaft­lichen und politischen Bedeutung, 6 Bde., Berlin 1899 (Original russisch Sankt Petersburg 1898). 7  So beispielsweise der General a. D. Friedrich von Bernhardi in seinem Buch „Deutschland und der nächste Krieg“, Stuttgart 1912. Er hatte freilich Pendants in allen Ländern. 8  Im deutschen Fall traf dies z. B. auf den Chef des Großen Generalstabs von 1891 bis 1906, Alfred Graf von Schlieffen, zu, der tiefgläubiger Pietist war, aber auch auf seinen Nachfolger, Helmuth von Moltke d. J. 9  Vgl. Sönke Neitzel, Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus, Paderborn 1999.

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die Ansichten der breiten Volksmassen spielten nirgendwo eine maßgebliche Rolle. In dieser Hinsicht bestand auch kein Unterschied zwischen vermeintlich mehr oder weniger demokratischen Regimen. Jene Volksmassen waren es jedenfalls, die später nicht nur die Last des Krieges vor allem zu tragen hatten, sondern ebenso  – auf Seiten der Verliererstaaten  – die Last der Niederlage. Ganz allgemein ist die Frage nach den physischen und mentalen Folgen eines solchen fundamentalen Übergangs für verschiedene Völker bzw. Gruppen von zentraler Bedeutung für dessen Bewertung. Nicht nur Kriege, auch Friedensschlüsse können fatal sein. 2. 1989 / 90 Hier endete zwar kein echter Krieg, aber immerhin der Kalte Krieg, der in vielerlei Hinsicht die Nationen bzw. Gesellschaften beider Blöcke in ähnlicher Weise beeinflusst hatte wie ein heißer Krieg10. Man hatte es hier also – wenn auch seit den 1970er Jahren in abnehmendem Maße – auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs mit Arten von Kriegsgesellschaften zu tun. Es ist offensichtlich, dass dies besonders für uns Deutsche als geteilte Nation von erheblicher Bedeutung war; hier standen die Frage der Einheit, der ideologischen Orientierung nach Ost bzw. West sowie des Überlebens im nuklearen Zeitalter in einem komplizierten Dreiecksverhältnis zueinander. Am deutschen Beispiel lässt sich ein weiterer zentraler Gesichtspunkt des vorliegenden Themas „Vom Krieg zum Frieden“ festmachen: Bestimmte Aspekte eines solchen Übergangs vollziehen sich schnell, andere zum Teil viel langsamer bzw. es ist mitunter sehr schwierig festzustellen, ob und wann sie definitiv abgeschlossen sind. Das naheliegende Beispiel ist hier der Unterschied zwischen der äußeren und der inneren Einheit unseres Landes: Die äußere wurde in relativ wenigen politischen, diplomatischen und juristischen Schritten zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 vollzogen, an der inneren arbeiten wir – ohne Zweifel mit guten Fortschritten – bis heute. Die besonders oft für den Ersten Weltkrieg angeführte Frage nach Gewinnern und Verlierern wurde und wird bekanntlich auch für die Epochenwende von 1989 / 90 gestellt, sei es auf Deutschland bezogen oder in überstaatlicher Hinsicht.

10  Als Überblicksdarstellung siehe Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991, München 2007; zu kulturellen Aspekten Annette Vowinckel / Marcus M. Payk, / Thomas Lindenberger (Hrsg.), Cold War Cultures. Perspectives on Eastern and Western European Societies, New York / Oxford 2012.



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II. Zur Spezifik des Zweiten Weltkrieges Nach diesen Vorbetrachtungen kommen wir zum Jahr 1945 zurück als Beispiel für einen dritten Typ des Übergangs, nämlich denjenigen vom ‚echten Krieg‘ zum Frieden, wobei hier sowohl die schon angedeuteten allgemeinen als auch spezielle Phänomene zu beobachten sein werden. Es dürfte dabei offensichtlich sein, dass der Charakter eines Friedensschlusses nicht unwesentlich von demjenigen des vorangehenden Krieges und besonders von dessen Endphase abhängt. Das bedeutet, je totaler, kompromissloser und vernichtungsorientierter die Kriegführung war (wobei die kriegführenden Seiten mit der Dauer des Krieges zunehmend in einer Wechselwirkung stehen), desto unwahrscheinlicher ist ein auf Ausgleich oder wohlwollendem Kompromiss basierender Friedensschluss. Bekanntlich war der Zweite Weltkrieg noch ‚totaler‘ als der Erste; dies lag zwar wesentlich in der totalitären Natur des nationalsozialistischen und des bolschewistischen Regimes begründet, aber keineswegs allein darin; ebenso wirkten wie schon im Ersten Weltkrieg  – auf allen Seiten  – die (militär)technologische Entwicklung, die Persistenz des Nationalismus (der nach 1918 allenfalls vorübergehend nachgelassen hatte) und nach 1929 die Schwächung des Glaubens an europäische bzw. globale Lösungen der Weltwirtschaftskrise und die Stärkung von Autarkiebestrebungen. Die menschlichen und materiellen Energien, die dann ab 1939 in zunehmender Eskalation zum Ausbruch kamen, stellten von Beginn an den „Großen Krieg“ in den Schatten. An dieser Stelle ist zunächst noch ein weiteres spezifisches Phänomen der beiden Weltkriege zu nennen, das seinen Beginn 1918 / 19 nahm, nämlich die zeitgleiche bzw. rückwirkende Moralisierung der Auseinandersetzung mit wiederum spezifischen Folgen für die Vorstellung vom Charakter der zu etablierenden Friedensordnung. Anstelle der grundsätzlichen Gleichheit der Kontrahenten, wie sie in allen Kriegen der Neuzeit – und im Prinzip auch noch 1914 – gegeben war und grundsätzlich den Akt des wohlwollenden Vergessens (oblivio) seitens des Siegers einschloss (so zuletzt im Frankfurter Frieden von 1871), wurde 1918 / 19 eine dichotomische Situation geschaffen, die die vorübergehende oder dauernde strukturelle bzw. moralische Benachteiligung des Verlierers nach sich zog und rechtfertigte. Die präzedenzlos harten11 Friedensverträge, welche den Verlierern nach dem Ersten Weltkrieg diktiert worden waren, wurden dementsprechend mit einer Schuld-und11  Die noch heute bei manchen – vor allem britischen und amerikanischen – Autoren zu findende Position, die Friedensverträge seien nicht hart genug gewesen, zeugt von einer tradierten Sicht einer einseitigen Kriegsschuld und des entsprechenden punishment sowie von der Vorstellung, Europa lasse sich ohne bzw. gegen Deutschland organisieren. Der oft bemühte Vergleich mit dem ebenfalls harten Frieden von BrestLitowsk vom Februar 1918, der aber das eigentliche Russland intakt ließ, ist wiede-

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Sühne-Argumentation bezüglich des angeblich einseitig von den Mittelmächten ausgegangenen „Angriffskrieges“ begründet. Dieser letztlich erst im Briand-Kellogg-Pakt von 1928 definierte, aber schon 1919 avant la lettre behauptete Tatbestand erhob die subjektive und schon während des Krieges in den jeweiligen „Farbbüchern“ (französische „Gelbbücher“ und britische „Blaubücher“) niedergelegte Sicht der Siegermächte zur ‚Wahrheit‘ und unterband jedenfalls auf offizieller Ebene jede Diskussion über deren Mitwirkung an der Entstehung der kriegsauslösenden Situation vom Sommer 191412. Im Gegenzug wurden allein die deutschen „Weißbücher“ und österreichischen „Rotbücher“ zu Propagandaschriften erklärt, obwohl sie ebenso selektive Wahrheiten enthielten wie ihre westmächtlichen Pendants, so dass die synoptische Auswertung aller „Farbbücher“ der heutigen Historiographie ein recht umfassendes Bild der damaligen Interessen und Anschauungen der herrschenden Kreise Europas liefern kann. Dieser etwas längere Rekurs auf 1919 war notwendig, da in der geschichtlichen Debatte seit Jahrzehnten fast stets ein Zusammenhang zwischen den beiden Weltkriegen hergestellt wird, sei es in Form der Einschätzung, dass die Friedensverträge eine echte Befriedung Europas verhinderten und fast zwangsläufig zum Zweiten Weltkrieg hinführten („zweiter Dreißigjähriger Krieg“), sei es umgekehrt, dass „negative Kontinuitäten“ vom Kaiserreich zum Dritten Reich behauptet werden, die sich gegen eine an sich tragfähige Friedensordnung durchgesetzt hätten. Zeigt die erste Sichtweise fatalistischteleologische Züge, so basiert die zweite auf einem negativen Essentialismus bezüglich des deutschen „Nationalcharakters“13. Aber auch weniger fanatische Autoren hegen die eigentümliche Furcht, dass eine ‚Aufhebung‘ der vermeintlichen deutschen Alleinschuld 1914 auch Hitler für 1939 entlasten würde14; diese verquere Logik ignoriert nicht nur die Autonomie früherer historischer Ereignisse gegenüber späteren, sondern folgt in auffälliger Weise der nationalsozialistischen Geschichtssicht, wonach der Nationalsozialismus die Nemesis für 1918 war.

rum schwer vereinbar mit dem alliierten Anspruch auf normative und moralische Überlegenheit. 12  Nur exemplarisch für eine im Prinzip keineswegs neue, ausgewogenere Sicht siehe die gegen alle Seiten gleichermaßen kritische Darstellung von Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 12013. 13  Wichtigster zeitgenössischer Vertreter dieser deutschfeindlichen Einstellung in England war der Diplomat Robert Vansittart; vgl. hierzu Jörg Später, Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902–1945, Göttingen 2003. 14  Siehe etwa Heinrich August Winklers publizistischen Versuch, den Einfluss Christopher Clarks zu begrenzen; vgl. http: /  / www.zeit.de / 2014 / 32 / erster-weltkriegchristopher-clark (Zugriff 24.09.2015).



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Nach dem zweiten Krieg, im Jahre 1945, gab es dann zwar wesentlich bessere Gründe für eine solche antagonistische Sicht der Dinge einschließlich – allerdings unter dem Vorbehalt erheblicher alliierter Heuchelei bezüglich der eigenen Kriegsziele – des Gedankens der „Bestrafung“ der am Kriege schuldigen Seite; es ist spezifisch für den Zweiten Weltkrieg, dass er bekanntlich in jeder Hinsicht neue Extreme geschaffen hat. Dies war allerdings nicht nur auf deutscher Seite der Fall; wie zu zeigen sein wird, muss auch die Natur der Kriegsgegner, insbesondere der Sowjetunion, unter den besonderen Bedingungen der ideologisch motivierten Kriegführung betrachtet werden. Überdies hat die schon 1918 / 19 erfolgte Stigmatisierung Deutschlands in Gestalt einer self-fulfilling prophecy dazu beigetragen, die Weimarer Republik scheitern zu lassen und somit eine Entwicklung herbeizuführen, durch die die damals behauptete Kriminalisierung der deutschen Politik nach 1933 zu einer Tatsache wurde. III. Kampfhandlungen in der Endphase des Krieges in Sachsen Im Folgenden werden der Charakter und Verlauf des Zweiten Weltkriegs hier als im Wesentlichen bekannt vorausgesetzt, um sich auf seine Endphase zu konzentrieren sowie – soweit dies sinnvollerweise möglich ist – auf Sachsen als Handlungsraum bzw. „Kriegstheater“ bzw. „Kriegsschauplatz“15. Ausgehend von den historischen Kerndimensionen Raum und Zeit ist zu fragen: – Was war in der Endphase des Krieges spezifisch für Sachsen im Vergleich zu Deutschland bzw. Europa insgesamt? – Wie lässt sich der Betrachtungszeitraum bzgl. der Endkämpfe in Sachsen bzw. Mitteldeutschland sinnvoll eingrenzen? In diesem Zusammenhang ist die vermeintlich einfachste (zeitliche) Definition des Kriegsendes, nämlich die Unterzeichnung der Kapitulation durch das Oberkommando der deutschen Wehrmacht am 7. Mai 1945 in Reims bzw. am 8. Mai16 in Berlin-Karlshorst, weder sachlich korrekt noch methodisch sonderlich hilfreich. Denn erstens kann die Betrachtung nicht auf das Frühjahr 1945 oder gar diesen speziellen Tag beschränkt werden, da verschiedene politische, rechtliche, wirtschaftliche und soziale Kriegsfolgen mit unterschiedlicher Intensität noch Jahrzehnte weiterwirkten und vieles unklar blieb oder sogar noch heute ist; und zweitens schuf die Kapitulation als sol15  Im Russischen ist dieser poetisierende Begriff noch immer in Gebrauch (teatr wojny bzw. teatr dejstvij wojennych). 16  Nach Moskauer Zeit bereits am 9. Mai, daher wurde und wird der sowjetischrussische „Tag des Sieges“ (den‘ pobedy) an diesem Tag begangen.

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che noch keineswegs die rechtlich-politische Neuordnung, die wir als Nachkriegszeit bzw. Kalten Krieg kennen. Zudem lassen sich so natürlich keinerlei spezifisch sächsische Aspekte identifizieren. In pragmatischer Weise lässt sich der Beginn des Betrachtungszeitraums dadurch festlegen, dass man den Zeitpunkt der Unabwendbarkeit der Niederlage und des Vorrückens gegnerischer Streitkräfte auf sächsischen Boden bestimmt. Als ein Indikator hierzu dient in dem seit 1942 immer stärker vom Luftkrieg bestimmten Geschehen die zunehmende Wehrlosigkeit der Wehrmacht und des Zivilschutzes in den Städten der Region gegen alliierte Luftangriffe. Damit verband sich das Betreten sächsischen Bodens durch feindliche Truppen Anfang April 1945; in der Folge kam es zur Annäherung und schließlichen Berührung von Ost- und Westfront am 25. April 1945 in Torgau (dieses lag damals zwar in der preußischen Provinz Halle-Merseburg und gehörte später 1947–1952 zum Land Sachsen-Anhalt, wird hier aber dennoch dem Ereignisraum Sachsen zugeordnet). Dass sich die Endphase des Krieges im Raum Brandenburg-Sachsen-Thüringen abspielte, lag letztlich daran, dass diese Gebiete im Zentrum des Großdeutschen Reiches lagen und daher von amerikanischen und sowjetischen Truppen zeitgleich erreicht wurden, wobei die US Army hier im Süden weiter vorstieß, während sie im Norden der Roten Armee die Einnahme Berlins überließ17. Der Besetzung Sachsens zu Land gingen mehrere schwere Luftangriffe voraus, insbesondere derjenige auf Dresden in der Nacht von 13. auf den 14. Februar 1945 mit – nach einer im Auftrag der Stadt erstellten Studie18 – ca. 25.000 Toten sowie – allgemein weniger bekannt – derjenige auf Chemnitz in der darauffolgenden Nacht. Der schwerste Angriff auf Chemnitz erfolgte aber am 5. / 6.  März mit über 2.000 Toten. Die Gesamtopferzahl des Luftkriegs in Chemnitz betrug 3.000–4.000 Menschen, die Innenstadt war im Mai 1945 zu 80 Prozent zerstört. Die amerikanische Luftwaffe setzte ihre Angriffe auch noch im April fort (so wie weiter nördlich die britische, etwa gegen Potsdam am 14.  April); zugleich setzten sich amerikanische Heereseinheiten – vor allem Verbände der 3. US-Armee – in Westsachsen fest (Einnahme Zwickaus am 17. April und Leipzigs am 18. / 19. April). Danach machten sie gemäß einer Absprache mit dem sowjetischen Oberkommando 17  Die militärgeschichtlichen Angaben in diesem und den folgenden Abschnitten stützen sich, sofern nicht anders angegeben, auf das Werk des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 10: Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 und die Folgen des Zweiten Weltkrieges, Teilband 1: Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht, hrsg. von Rolf-Dieter Müller, Stuttgart 2008. 18  Siehe Rolf-Dieter Müller (Hrsg.), Die Zerstörung Dresdens 13. bis 15.  Februar 1945. Gutachten und Ergebnisse der Dresdner Historikerkommission zur Ermittlung der Opferzahlen, Göttingen 2010.



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zunächst an der Mulde halt. Da die am Südrand Thüringens und Sachsens verbliebenen Wehrmachtsverbände gegen die US-Armee nur hinhaltend oder gar nicht mehr kämpften, sondern vielmehr häufig in amerikanische Gefangenschaft gingen, flauten die Kämpfe im Westen ab, so dass schon ab dem 19. April ein Teil der US-Kräfte nach Bayern verlegt wurde. An der zu diesem Zeitpunkt an der Lausitzer Neiße verlaufenden Ostfront führten die Reste der Heeresgruppe Mitte (ca. 900.000 Mann) dagegen einen harten Abwehrkampf gegen die Verbände der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee, die Mitte April – als Nebenschauplatz der „Berliner Operation“ – bei Niesky und Weißwasser / Spremberg über die Neiße setzten und auf Bautzen vordrangen. Infolge der hartnäckigen Verteidigung Bautzens vom 18. bis zum 27. April wurde die Stadt stark zerstört. Nach dem amerikanischsowjetischen Treffen in Torgau am 25. April zog sich die 4. US-Panzerarmee endgültig nach Süden zurück; zugleich setzen sich Teile der in Südsachsen und Böhmen stehenden Verbände der Heeresgruppe Mitte in Richtung Bayern ab, um dort in amerikanische Gefangenschaft zu gehen. Gerade dies suchte das Oberkommando der 1. Ukrainischen Front aus zwei Gründen zu verhindern: Zum einen litt das Prestige der Sowjetunion darunter, dass die amerikanische Gefangenschaft – aus offensichtlichen Gründen – so viel attraktiver war als die sowjetische; zum anderen war es erklärte Politik Stalins, möglichst viele Kriegsgefangene zu machen, um diese zur Zwangsarbeit in der Sowjetunion einzusetzen19. Zumindest aus diesem Grund war der massive deutsche Widerstand gegen die Sowjetarmee bis zum Ende keineswegs, wie häufig pauschal suggeriert wird, unverständlich oder sinnlos. Mit dem Ziel, im beschriebenen Sinne nicht nur des Territoriums, sondern auch seiner Bewohner Herr zu werden, begann am 5. Mai ein letzter sowjetischer Großangriff aus Nordost-Sachsen (Raum Riesa / Niesky) Richtung Dresden und Prag (sogenannte Prager Operation). Die der 1. Ukrainischen Front angegliederte 2. Polnische Armee, deren Anwesenheit vor allem symbolische Bedeutung besaß, wurde bei dieser Offensive an besonders gefährlichen Abschnitten eingesetzt und infolgedessen weitgehend aufgerieben. Als die Kampfhandlungen am 7. Mai eingestellt wurden, sah sich die Wehrmacht auf einen dünnen Saum im Erzgebirge unmittelbar südlich von Chemnitz zurückgedrängt, hielt aber noch den Großteil des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren. Von der Härte der Kämpfe, aber auch von der teilweise mangelhaften Ausstattung der sowjetischen Truppen zeugt die Tatsache, dass in dieser letzten Kampfphase bis zum 7. Mai ca. 8.000 Gefallenen auf deutscher 19  Auf dieses Vorgehen, das häufig völkerrechtswidrig war, wird weiter unten noch zurückgekommen werden.

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Seite ca. 20.000 Gefallene auf sowjetischer und polnischer Seite gegenüberstanden. Während die Frontstellung gegenüber der Sowjetunion im Grunde bis zuletzt auf deutscher Seite Konsens war – mit Ausnahme des kommunistischen Teils des Widerstands –, entfaltete sich als eigentliches inneres Drama des Kriegsendes die Spannung zwischen den militärischen Verteidigungshandlungen der Wehrmacht, dem weltanschaulichen Fanatismus der Gestapo und SS – die dabei oftmals sogenannte „Endphaseverbrechen“20 an Wehrmachtssoldaten, deutschen Zivilisten, KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern begingen – und dem Überlebensinteresse der Zivilbevölkerung. Einen speziellen Fall bildeten die Gefangenen der nationalsozialistischen Lager, die naturgemäß in der Hoffnung auf Befreiung wenig auf den politischen Hintergrund der feindlichen Truppen sahen21.

Abb. 1: Sowjetische und US-Soldaten in Chemnitz, 11. Mai 1945.

20  Vgl. Cord Arendes / Edgar Wolfrum / Jörg Zedler (Hrsg.), Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 2006. 21  Näheres hierzu siehe unten.



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Das Zusammentreffen amerikanischer und sowjetischer Soldaten bei Torgau an der Elbe am 25. April 1945, durch welches das noch von der Wehrmacht gehaltene Gebiet, sieht man von den Außenstellungen in Norwegen, Dänemark und Kurland ab, in zwei Teile geteilt wurde, gehört sicher zu den bekanntesten Ereignissen der Endphase des Krieges in Deutschland. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass beide bekannten Fotos von dem Treffen – das heute touristisch gewinnbringend jährlich als Elbe Day begangen wird22 – nachgestellt sind, da das eigentliche Treffen am 25. April nicht bildlich dokumentiert wurde. Zum einen fand das erste Treffen nicht in Torgau selbst, sondern am selben Tag im nahegelegenen Strehla statt, wo eine amerikanische Patrouille die Elbe überquerte. Ein weiterer Grund für die spätere Inszenierung war, dass beim tatsächlichen Treffen am Ostufer der Elbe zahlreiche tote deutsche Zivilisten lagen, was die Anfertigung von Fotografien beiden Seiten wenig opportun erscheinen ließ. Diese Menschen waren vor den Sowjettruppen geflohen, aber von den Amerikanern nicht auf das Westufer hinübergelassen worden; in der Folge wurden sie teils von den Sowjetsoldaten massakriert, teils begingen sie Selbstmord. Am 26.  April trafen sich daher Vertreter beider Seiten an einer anderen Stelle, um das erste offizielle Foto dieses ‚Events‘ zu machen23. 1. Die Besetzung Sachsens durch feindliche Truppen Die am 7. Mai noch unbesetzten deutschen Restgebiete, darin Dresden, wurden im Zuge der Kapitulation der Wehrmacht am 7. bzw. 8. Mai 1945 kampflos an die Sowjetarmee, bzw. im äußersten Westen an die US Army, übergeben. Dabei blieb ein kleines Gebiet im äußersten Süden vermutlich versehentlich ca. zwei Monate lang unbesetzt, woraus sich die Legende der „Freien Republik Schwarzenberg“ entwickelte, u. a. in der literarischen Bearbeitung durch Stefan Heym. Dies hatte jedoch keinerlei reale politische Bedeutung. Die öffentliche Gewalt ging an die sowjetische und − nur vorübergehend in Westsachsen − die amerikanische Militärverwaltung über. Schon zum 1. Juli 1945 zogen sich die amerikanischen Kräfte gemäß dem Abkommen von Jalta aus der entstehenden Sowjetischen Besatzungszone zurück; dabei führten sie jedoch – was dem Abkommen nicht entsprach – eine große Zahl inhaftierter NS-Funktionäre mit sich, deren Wissen sie für sich nutzen woll22  Siehe die Website der Stadt Torgau, http: /  / www.torgau.eu / p / d2.asp?artikel_ id=1043 (Zugriff 30.09.2015). 23  Vgl. eine Pressemeldung zum 70. Jahrestag des Treffens 2015: http: /  / www. freiepresse.de / NACHRICHTEN / SACHSEN / Torgau-kuerzt-Programm-beim-ElbeDay-artikel9129737.php (Zugriff 1.10.2015).

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ten24. Allgemein wurden in der Zivilverwaltung des amerikanisch besetzten Gebiets unbelastete oder geringbelastete bzw. parteilose Personen nach Maßgabe ihrer Kompetenz eingesetzt. Dabei wurden allerdings tendenziell Konservative bzw. Christdemokraten und Liberale, teilweise auch Sozialdemokraten bevorzugt, hingegen kamen Kommunisten nur selten zum Zuge. Das umgekehrte Bild bot sich in der sowjetzonalen Verwaltung, wo ein politischer Primat dafür sorgte, dass vorrangig Kommunisten Verwendung fanden25. In der Forschung ist umstritten, wie zielgerichtet und ab welchem Zeitpunkt Stalin die Sowjetisierung der deutschen Gebiete betrieb; unter anderem wird von manchen Autoren nicht völlig ausgeschlossen, dass er bereit gewesen wäre, diese Politik einer Neutralisierung Deutschlands nachzuordnen. Andererseits ist es plausibel, dass ihm bzw. allgemein der sowjetischen Führung vor dem Hintergrund der seit 1917 im In- und Ausland betriebenen Politik gar kein anderes Vorgehen vorstellbar war. Vorbild war die Sowjetisierung der 1939–41 und dann erneut 1944 / 45 besetzten bzw. annektierten Gebiete (Baltikum, Ostpolen, Bessarabien usw.) sowie der „befreiten“ Länder Mittel- und Osteuropas26. In rechtlicher und politischer Hinsicht ist es wichtig festzuhalten, dass – die Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 7. / 8.  Mai 1945 ein rein militärischer Vorgang war, der die deutsche Reichsregierung zunächst intakt ließ. – die Verhaftung der Regierung Dönitz wegen der regierungsamtlichen Verbrechen des Dritten Reiches am 23. Mai 1945 die Übernahme der Regierungsverantwortung in Deutschland durch die Besatzungsmächte nach sich zog. Dadurch wurde keineswegs das Deutsche Reich aufgelöst. Die genaue Rechtslage blieb damals zwischen deutschen und alliierten Juristen umstritten27; man könnte behelfsweise davon sprechen, dass de facto der 24  Auch wenn der Beginn des Kalten Krieges heute allgemein auf 1947 datiert wird (Suspendierung der Treffen des Alliierten Kontrollrats, Sieg der prowestlichen Kräfte im griechischen Bürgerkrieg, Anlaufen des Marshallplans auch in den deutschen Westzonen), so begannen die beiden Supermächte schon direkt nach Kriegsende damit, sich zu misstrauen und sich Positionsvorteile zu verschaffen. Ein bekanntes Beispiel dafür war die beiderseitige „Erbeutung“ deutscher Spitzenwissenschaftler wie z. B. Wernher von Brauns. 25  Vgl. Alexander Sperk, Kriegsende in Sachsen-Anhalt 1945, Vortrag bei der Friedrich-Ebert-Stiftung Magdeburg, http: /  / www.fes.de / magdeburg / pdf / d_1_7_5_2. pdf (Zugriff 1.10.2015). 26  Zur Sowjetisierung allgemein siehe Leonid J. Gibianskij, Sowjetisierung Osteuropas  – Charakter und Typologie, in: Michael Lemke (Hrsg.), Sowjetisierung und Eigenständigkeit in der SBZ / DDR (1945–1953). Köln u. a. 1999, 31–80. 27  Siehe hierzu Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956. Bd. 4: Wirtschaft und Rüstung, Souveränität und Sicherheit, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 1997, 195–202.



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völkerrechtliche Zustand der „Treuhänderschaft“ eintrat, wie ihn die Organisation der Vereinten Nationen eigentlich als Übergangsregime für Kolonien auf dem Weg in die Unabhängigkeit vorgesehen hatte (Gründung des VN-Treuhandrats 1947, Suspendierung seiner Tätigkeit 1994). – die alliierten Regelungen bzgl. Deutschlands, besonders auf der Potsdamer Konferenz im August 1945, unzweideutig von dieser Kontinuität ausgingen, die im Übrigen das alliierte Handeln überhaupt erst ermöglichte. Außerdem wurden diese Regelungen unter den Vorbehalt eines Friedensvertrags gestellt, zu dem es aber aufgrund des beginnenden Kalten Krieges nicht kam28. IV. Befreiung? Eine Bewertung der Frage, ob bzw. in welchem Sinne von einer Befreiung Deutschlands die Rede sein kann, kann nicht einheitlich und erfahrungsgemäß auch nicht rein wissenschaftlich erfolgen. In diesem Punkt ist es immer wieder zu politischen Interventionen gekommen, die freilich für die Histori­ kerzunft nicht bindend sein können, selbst wenn manche von deren Vertretern hierbei nicht selten selbst Protagonisten sind. In jedem Fall genügt es nicht zu fragen, wer und wovon befreit wurde, sondern auch, wozu bzw. unter welchen Umständen und zu welchem Preis diese Befreiung ggf. erfolgte? – Das „wovon“ ist dabei relativ offenkundig, obwohl es auch hier im Lauf der Jahre zu verbreiteten Verbiegungen der Erinnerung gekommen ist: So wurde zwar z. Zt. des Geschehens das Ende der Kampfhandlungen allgemein begrüßt, jedoch kann für damals angesichts der politischen Verhältnisse von einer Befreiung streng genommen nur für bestimmte Minderheiten gesprochen werden, aber nur eingeschränkt für die damals zur nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ rechnende Bevölkerungsmehrheit, wobei es nicht leicht ist, deren „objektive“ bzw. „subjektive“ Situation zu bestimmen.

28  Inwieweit der zwischen den beiden deutschen Staaten und den früheren Besatzungsmächten geschlossene 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 einen faktischen Friedensvertrag darstellt, ist umstritten. Von einem zu beendenden Kriegszustand wurde dabei jedenfalls gar nicht mehr ausgegangen, nachdem die Besatzungsmächte schon in den Jahren 1951 (USA, Großbritannien) bzw. 1955 (Sowjetunion) den Kriegszustand einseitig für beendet erklärt hatten. Juristisch unklar ist aber, ob das wiedervereinigte Deutschland dennoch einen Friedensvertrag braucht, da eigentlich erst infolge des 2+4-Vertrages wieder eine gesamtdeutsche Regierung legitimiert und in voller Souveränität handlungsfähig ist.

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– Hingegen verlangen das „wozu“ bzw. die negativen Folgen der Niederlage und Besetzung ebenfalls nach einer näheren Betrachtung. 1. Befreiung vom NS-Regime. Ende der NS-Herrschaft in Sachsen Der seit 1925 amtierende sächsische Gauleiter Martin Mutschmann war als besonders radikaler Nationalsozialist und Antisemit bekannt. Hinsichtlich der Kriegszeit nahm er in seiner seit September 1939 ausgeübten Funktion als Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis IV (Sachsen) nur unzureichende Luftschutzmaßnahmen vor, was wohl die Folgen der Luftangriffe auf die sächsischen Städte Anfang 1945 zusätzlich verschärfte. Am 14. April 1945 erklärte er Dresden zur Festung; in den letzten Kriegswochen unterstützte er die erwähnten harten Maßnahmen von SS und Partei gegen zur Übergabe bereite Personen. Nach der Kapitulation versuchte er, sich abzusetzen, wurde aber am 16.  Mai verhaftet und nach Moskau verbracht; dort wurde er im Januar 1947 von einem sowjetischen Militärgericht verurteilt und im Februar 1947 hingerichtet29. 2. Ende der willkürlichen deutschen Militärgerichtsbarkeit Das seit August 1943 in Torgau (in der dortigen Zietenkaserne) ansässige Reichskriegsgericht stellte nach dem Vordringen der amerikanischen und sowjetischen Truppen im April 1945 seine Tätigkeit ein, ebenso wie die angeschlossenen Wehrmachtsgefängnisse Fort Zinna und Brückenkopf. Zuvor hatte das Gericht ca. 1.400 Todesurteile gegen Wehrmachtsangehörige wegen Desertion, Wehrkraftzersetzung und anderer Vergehen im Sinne der NS-Justiz gefällt30. An dieser Stelle ist allerdings die einschränkende Feststellung zu treffen, dass ähnlich wie an anderen Tatorten des NS-Regimes auf dem Gelände des bisherigen Reichskriegsgerichts im August 1945, genauer gesagt im Fort Zinna, ein sowjetisches „Speziallager“ (Nr. 8) eingerichtet wurde, das bis März 1947 zur Inhaftierung von Gegnern der Sowjetisierung genutzt wurde. Im Folgejahr 1946 wurde zusätzlich das Speziallager Nr. 10 eingerichtet31. Die Häftlinge dieser Lager waren nicht nur ehemalige Funktionsträ29  Vgl. Mike Schmeitzner, Der Fall Mutschmann. Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal, Beucha 2011. 30  Vgl. die Website des Dokumentations- und Informationszentrums Torgau ­https: /  / www.stsg.de / cms / torgau / startseite (Zugriff 30.09.2015). 31  Allgemein zu den Speziallagern siehe Gerhard Finn, Die Speziallager der sowjetischen Besatzungsmacht 1945 bis 1950. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat. Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. IV, Frankfurt-Baden-Baden 1995, 337–397.



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ger des NS-Regimes, sondern ebenso nichtkommunistische politische Akteure, die teilweise schon von den Nationalsozialisten inhaftiert worden waren. In jedem Fall verstieß das sowjetische Vorgehen gegen elementare Rechtsgrundsätze, wie es aber von diesem Regime auch kaum anders erwartet werden konnte. 3. Ende des NS-Lagersystems In Sachsen befand sich 1945 keines der bekannten größeren Konzentra­ tionslager. In den Jahren 1933–37 waren vor allem zunächst von der SA geführte sogenannte „frühe (provisorische) KZs“ (in Colditz, Schloss Osterstein / Zwickau, Sachsenburg und Hohnstein) betrieben worden32; später war Sachsen – vermutlich wegen seiner zentralen Lage und recht hohen Bevölkerungsdichte – kein Standort des SS-geführten Lagersystems gewesen, dessen Schwerpunkte mit den Vernichtungslagern in Polen (d. h. dem Generalgouvernement) lagen. In den weiteren Kontext gehört aber, dass 1940 / 41 die Heilanstalt Pirna-Sonnenstein ein Ausführungsort der T4-Aktion zur Ermordung geistig Behinderter gewesen war; hierzu wurde 1947 der sog. Dresdner Ärzteprozess durchgeführt33. Jedoch gab es 1945 auf sächsischem Boden ca. 50 Außenlager bzw. Zwangsarbeiterlager folgender Stammlager34: – von Buchenwald (Thüringen): in Leipzig-Abtnaundorf, Colditz, Flößberg, Leipzig-Thekla, Markkleeberg – von Groß-Rosen (Niederschlesien): in Bautzen, Brandhofen (sorbisch Spohla), Görlitz, Guben, Kamenz, Klein-Radisch, Kunnerwitz, Niederoderwitz, Niesky, Rennersdorf, Weißwasser – von Flossenbürg (Niederbayern): in Dresden, Chemnitz, Flöha, Freiberg, Gröditz, Hainichen, HohensteinErnstthal, Johanngeorgenstadt, Königstein, Meißen-Neuhirschstein, Mittweida, Mockethal, Nossen, Oederan, Plauen, Rochlitz, Wolkenburg (Limbach-Oberfrohna), Schönheide, Seifhennersdorf, Venusberg, Zschopau, Zwickau. 32  Für Sachsen siehe https: /  / www.stsg.de / cms / stsg / ausstellungen / fruehe_kz_in_ sachsen / errichtung-der-fruehen-konzentrationslager-im-fruehjahr-sommer-1933-insachsen (Zugriff 30.09.2015). 33  Vgl. Thomas Schilter, Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940 / 41, Leipzig 1998. 34  Aufgrund von teilweise sehr kurzen Bestandszeiten einzelner Lager ist die Liste vermutlich unvollständig. Sie beruht auf einer Durchsicht der Liste der KZ-Außenlager auf https: /  / de.wikipedia.org / wiki / KZ-Au %C3 %9Fenlager (Zugriff 1.10.2015).

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In den letzten Kriegswochen wurden wie im ganzen deutschen Machtbereich die Insassen mehrerer dieser Lager noch von der SS ermordet, entweder direkt vor Ort oder auf den sogenannten „Todesmärschen“35. 4. Ende der Unterdrückung der Sorben Nachdem sie vom NS-Regime massiven Assimilationsmaßnahmen unterworfen worden war und auch zahlreiche Ermordete (z. B. katholische Geistliche) zu beklagen hatte, konnte sich die Minderheit der Sorben nach dem Ende der NS-Herrschaft wieder kulturell entfalten. Bereits am 10. Mai 1945 wurde ihr Dachverband, die Domowina, von der sowjetischen Besatzungsmacht reaktiviert. Diese Entwicklung wurde durch die damals von der Sowjetunion vorübergehend verfolgte Idee einer „panslawischen“ Gemeinschaft begünstigt. Letztere führte auch zu polnischen und tschechischen Gebietsansprüchen auf die Lausitz im Sinne einer ‚Schutzherrschaft‘ über die Sorben; diese Ideen wurden jedoch von der Sowjetunion zurückgewiesen36. Allerdings mussten die Sorben bzw. musste deren Führungsschicht für ihre in der SBZ / DDR geschützte Stellung bis 1989 den politischen Preis einer besonders starken SED-Nähe bezahlen, die bis heute zu Spannungen zwischen den verschiedenen Generationen beiträgt. 5. (Schein-)Föderalisierung Zum 1. Juli 1945 kam es auf dem Gebiet der SBZ zur nominellen Wiederherstellung der von den Nationalsozialisten zugunsten der Gaustruktur aufgehobenen Länder, darunter auch Sachsens. Die Länder wurden dabei teilweise gegenüber der Zeit vor 1933 territorial modifiziert; im sächsischen Fall betraf dies den Verlust des Gebiets östlich der Lausitzer Neiße und den Gewinn des bis dahin preußischen Gebiets um Görlitz. Diese Revision des Zentralismus der NS-Zeit war aber nur vorübergehender und scheinbarer Natur; ähnlich wie andere Maßnahmen der sowjetischen Behörden diente sie vorrangig als Mittel zur Gewinnung von Anerkennung für die in der gesellschaftlichen Minderheit befindlichen Kommunisten und dazu, der Bevölkerung die Rückkehr zu den geordneten und demokratischen Zuständen der Weimarer Zeit zu

35  Siehe hierzu Daniel Blatman, Die Todesmärsche 1944 / 45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek bei Hamburg 2011. 36  Vgl. Jan C. Behrends, Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR, Köln-Weimar 2006, 92–96; Ludwig Elle, Die Domowina in der DDR. Aufbau und Funktionsweise einer Minderheitenorganisation im staatlich-administrativen Sozialismus, Bautzen 2010.



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suggerieren37. Nach der Konsolidierung ihrer Machtstellung und zeitgleich mit der Verkündung des „Aufbaus des Sozialismus“ als Staatsziel auf dem 2.  Parteitag der SED 1952 lösten die Kommunisten die Länder in Bezirke auf, die nur dezentrale Transmissionsriemen der SED-Regierung waren und somit in funktionaler Hinsicht tendenziell den NS-Gauen ähnelten38. V. Aspekte der Nicht-Befreiung Neben den bereits genannten Einschränkungen der wenigstens grundsätzlich als „Befreiung“ wertbaren Veränderungen ab Mai 1945 traten in der Sowjetischen Besatzungszone – und teilweise über diese hinaus – andere, eindeutig negative Entwicklungen ein, die keinesfalls zu einer Würdigung jener Phase als „Befreiung“ beitragen können. 1. Gebietsverluste, Flucht und Vertreibung Anders als im Falle Preußens waren die territorialen Verluste Sachsens infolge der 1945 erfolgenden faktischen39 Grenzziehung an Oder und Neiße zwar relativ gering; sie umfassten „nur“ das zum Landkreis Zittau gehörende Gebiet um die Stadt Reichenau mit ca. 25.000 Menschen, die vermutlich mehrheitlich über die Neiße ins verbleibende sächsische Gebiet flohen. Zugleich gewann Sachsen das viel größere bis dato niederschlesische, also preußische Gebiet links der Neiße mit den Städten Görlitz, Rothenburg, Niesky, Weißwasser und Hoyerswerda. Allerdings zogen schon seit Anfang 1945 durch Sachsen zahlreiche Flüchtlinge und Vertriebene aus Schlesien und anderen Ostgebieten des Reiches sowie aus dem Sudetenland und den deutschen Siedlungsgebieten in Mittel- und Osteuropa. Darunter waren auch die Flüchtlinge, die sich beim alliierten Luftangriff auf Dresden am 13. Februar 1945 in der sächsischen Hauptstadt befanden. In der SBZ / DDR wurde bezüglich dieser Personengruppe offiziell stets nur von „Umsiedlern“ gesprochen, um eine politische Belastung der Beziehungen zur Sowjetunion und zu 37  In diesen Kontext verortet sich auch das Schlagwort „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“. 38  Vgl. Henning Mielke, Die Auflösung der Länder in der SBZ / DDR. Von der deutschen Selbstverwaltung zum sozialistisch-zentralistischen Einheitsstaat nach sowjetischem Modell 1945–1952, Stuttgart 1995. 39  Völkerrechtlich wurde diese neue Grenze erst durch den deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14.10.1990 fixiert, dessen Abschluss im Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12.09.1990 postuliert worden war. Siehe auch Bernhard Kempen, Die deutschpolnische Grenze nach der Friedensregelung des Zwei-plus-Vier-Vertrages. Frankfurt / M. 1997.

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Polen zu vermeiden; als Folge hiervon konnten sich die Vertriebenen dort nicht offen organisieren40. Der 1950 auf sowjetischen Druck zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen abgeschlossene Görlitzer Vertrag über die Oder-Neiße-Grenze sollte diese Nachbarschaft pazifizieren, produzierte aber im Gegenteil für lange Zeit beiderseits weiteren Unmut41. Als Gegenleistung für den Verzicht der DDR auf die deutschen Ostgebiete – der auch der SED sehr schwer fiel und ihr ohnehin geringes Ansehen unter der DDR-Bevölkerung zusätzlich belastete – wurde Polen dazu verpflichtet, seine antideutsche Propaganda auf die Bundesrepublik zu beschränken sowie der DDR Kohle und andere Rohstoffe zu liefern. 2. Demontagen Die Sowjetunion betrieb vom ersten Tag ihrer Besatzungsherrschaft an die massive Demontage von Industrieanlagen vor allem in Berlin und im mitteldeutschen Industriegebiet, zu dem Sachsen zählte. Dies war ihr wie den anderen Besatzungsmächten zum Zweck der Kompensation von Kriegsschäden im eigenen Land auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam zugestanden worden; allerdings führte die radikale Umsetzung dieser Politik durch die Sowjetunion teilweise zum Zusammenbruch der Produktion. Dementsprechend schwierig gestaltete sich der wirtschaftliche Wiederaufbau. Anders als die Westmächte, die die Demontagen in ihren Besatzungszonen 1947 / 48 weitgehend einstellten und das Gebiet der nachmaligen Bundesrepublik in den Marshallplan integrierten, verweigerte die Sowjetunion der SBZ und den Staaten ihres Machtbereichs die Nutzung dieser Kapitalquelle und setzte überdies die Demontagen auf deutschem Boden, wenn auch in abnehmendem Umfang, bis 1953 fort. Erst damals wurden sie in Reaktion auf den Aufstand vom 17. Juni eingestellt42. 3. Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung in der Endphase des Krieges und unter sowjetischer Besatzung Direkt nach der Besetzung Sachsens verübten sowjetische Soldaten, so wie zuvor schon in den deutschen Ostgebieten, wilde Plünderungen, Vergewalti40  Vgl. Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ / DDR und in Polen 1945–1956, Göttingen 1998. 41  Vgl. Sheldon Anderson, A Cold War in the Soviet Bloc. Polish-East German Relations, 1945–1962, Boulder, Co., 2000. 42  Vgl. Klaus Neitmann / Jochen Laufer (Hrsg.), Demontagen in der Sowjetischen Besatzungszone und in Berlin 1945 bis 1948. Sachthematisches Archivinventar. Bearbeitet von Klaus Jochen Arnold, Berlin 2014.



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gungen und Morde. Nach der Errichtung der sowjetischen Militärverwaltung (SMAD) in der SBZ trat zwar eine gewisse Regulierung ein; diese bedeutete aber keineswegs ein Ende der Gewaltakte, sondern nur deren Kanalisierung. In einer nächsten Phase kam es dann zu willkürlichen Verhaftungen, Deportationen und Exekutionen durch den NKWD bzw. den militärischen Geheimdienst SMERSCH, teils vor Ort, teils – nach Deportationen – in der UdSSR. Wohl gestattete das Kriegsvölkerrecht die Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen unter bestimmten Bedingungen – allerdings grundsätzlich nur während der Dauer des Krieges. Hingegen betrieben die sowjetischen Geheimdienste und die Sowjetarmee die völkerrechtswidrige – aber von den Westmächten geduldete – Deportation von Kriegs- und Zivilgefangenen in die UdSSR. Neben bis zu zeitweise vier Millionen Kriegsgefangenen, die daraufhin – sofern sie bis dahin überlebten – bis 1955 in sowjetischen Gefangenenlagern Zwangsarbeit leisten mussten, widerfuhr dies auch hunderttausenden von Zivilgefangenen. Auf dem Gebiet der SBZ / DDR wurden zehn sowjetische Speziallager errichtet (1945–50), davon auf dem heutigen Gebiet Sachsens in Mühlberg, Hohenschönhausen, Bautzen und, wie schon erwähnt, Torgau. 1950 erfolgte die Auflösung der Speziallager und die Überführung der rest­ lichen Häftlinge in das Zuchthaus Waldheim43. Bei der Betrachtung dieser Vorgänge ist die Erklärung im Sinne der historischen Rekonstruktion von der Frage einer möglichen Rechtfertigung zu unterscheiden. Der zweite Punkt ist einfacher zu klären: In juristischer Hinsicht beriefen sich die Staaten der „Anti-Hitler-Koalition“ auf das Kriegsvölkerrecht, was keineswegs heißt, dass sie es vollständig einhielten, sowie auf ihre eigene faktische Regelsetzungshoheit. Moralisch ist das Verhalten der Sowjetsoldaten und ihrer Vorgesetzten sowie der Geheimdienste, ebenso wie analog das der polnischen Kommunisten in den besetzten deutschen Ostgebieten und der Tschechen im Sudetenland, in keinem Fall zu rechtfertigen, da es einen fundamentalen und systematischen Bruch der Menschenrechte und der demokratischen Prinzipien darstellte, auf die sich die Alliierten gleichwohl explizit beriefen44. Es muss daher nach denselben Maßstäben be- und verurteilt werden wie analoge NS-Verbrechen in den Jahren zuvor; die unterschiedliche ideologische Basis – sofern man diese als Ursache ansieht – kann keinen kategorischen Unterschied der Bewertung rechtfertigen.

43  Vgl. zu diesem Komplex etwa Hubertus Knabe, Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland, Berlin 2008, sowie Freya Klier, Verschleppt ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern, Berlin 1996. 44  Der Umstand, dass die Motivlage bei allen kriegführenden Mächten bedeutend komplexer und tendenziell weniger idealistisch war, als oft unterstellt, soll hier nur grundsätzlich vermerkt werden.

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Ebenso notwendig, aber auch komplexer ist hingegen die Suche nach Erklärungsansätzen für die sowjetischen Gewaltakte. Vor allem die folgenden Gesichtspunkte lassen sich in der wissenschaftlichen Diskussion finden: 1. Allgemein wird die Erfahrung des deutschen Vernichtungskriegs im Osten als eine Quelle von Hass und Wut der Sowjetsoldaten sowie – zumindest von manchen – als vermeintliche (subjektive) Rechtfertigung angesehen. 2. Hinzu tritt das Bild einer allgemeinen Brutalisierung durch den langen und blutigen Krieg an der Ostfront, also auch unabhängig von spezifischen Verbrechen des Gegners45. 3. Weiterhin nennen Experten die relative Jugend und geringe Reife eines Großteils der Angehörigen jener sowjetischen Infanterieverbände, die für die genannten Gewaltakte hauptsächlich verantwortlich waren. 4. Schließlich, als ein Gesichtspunkt, der womöglich nicht sogleich ins Bewusstsein kommt, sprechen viele Berichte deutscher Vertriebener, aber auch sowjetischer Autoren von einer Verstörung sowjetischer Soldaten angesichts des im Reich selbst bei Kriegsende noch vorgefundenen Wohlstands, der den deutschen Angriff auf die weit ärmere Sowjetunion besonders unverständlich erscheinen ließ. Alle diese Faktoren besitzen eine erhebliche Plausibilität, wobei sie individuell bei den einzelnen Soldaten sicher in unterschiedlicher Kombination und Intensität vorherrschten. Zusammen liefern sie zweifellos wichtige Erklärungshinweise für das Verhalten der sowjetischen Invasionsarmee auf deutschem Boden. Hierbei handelt es sich aber gänzlich um reaktive Gesichtspunkte, die ihre letztliche Ursache bzw. ihren Auslöser – in der Wahrnehmung der Täter – auf der deutschen Seite hatten. Dagegen wird ein fünfter, ganz anders gearteter Faktor oft vergessen: Die sowjetischen Soldaten, und insbesondere die jüngeren, waren das Produkt einer (lebens)langen negativen Vorprägung unter der stalinistischen Herrschaft; ihre Erziehung und politisch gefärbte Bildung spiegelte überwiegend destruktive Prozesse wider: Aushöhlung des Rechtsstaates, ideologische Indoktrination, Militarisierung, staatlich geschürte Paranoia und Hasserziehung, radikale Gegnerbekämpfung, Anhaltung zur Denunziation, Entstellung von Tatsachen und Wahrnehmung usw. Wer aus dieser Schule kam – im wört­ lichen wie im übertragenen Sinne –, besaß tendenziell46 keinen Begriff von Menschenrechten sowie kaum zivilisatorische Gegengewichte oder alterna45  Zum deutschen – aber mutatis mutandis auf den sowjetischen und andere Fälle übertragbaren – Beispiel siehe Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek bei Hamburg 1999. 46  Ausnahmen bestätigten auch hier die Regel. Der wohl bekannteste sowjetische Soldat, der versuchte, mildernd auf seine Kameraden einzuwirken, und dafür wegen



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tive Bildungsinhalte, die ein humanes Verhalten hätten begünstigen können. Nicht von ungefähr fielen den genannten Gewaltakten nicht nur die Bevölkerung des deutschen Gegners zum Opfer, sondern nicht selten auch Bürger verbündeter Staaten wie Polen und sogar Sowjetbürger47. Im April 1945 wurde insofern eine Milderung anvisiert, als die sowjetische Staats- und Armeeführung in der Propaganda eine „klassenmäßige“ Kursänderung vornahm: Die amtliche Hasspropaganda richtete sich nur noch gegen die „Faschisten und Kapitalisten“, nicht mehr gegen die Deutschen an sich. Dies sollte offensichtlich die Machtübernahme durch die deutschen Kommunisten in Gestalt der Gruppe Ulbricht unterstützen. Darüber hinaus war dies aber eine verdeckte Reaktion auf beginnende Kritik der damals mit der Sowjetunion verbündeten westlichen Alliierten an den Maßnahmen des NKWD. Noch war die westliche öffentliche Meinung ein Faktor der sowjetischen Politik, da man sich in Moskau von einer Fortsetzung der Vier-Mächte-Politik die größten Vorteile versprach und überdies mittels der in den westlichen Ländern durchaus vorhandenen Sympathien für den „Sozialismus“ Einfluss gewinnen wollte48. Unabhängig davon aber, wie ernst man diese Maßnahmen nehmen will, konnten sie an der Generallinie der sowjetischen Politik nichts ändern, geschweige denn demokratische Zustände herbeiführen, da ein Unrechtssystem ipso facto in einem anderen Land keine rechtsstaatlichen und demokratischen Zustände schaffen kann, es sei denn nur vordergründig, für einen begrenzten Zeitraum und aus taktischen Gründen. VI. Spätere Folgen, die eine analytische Ausdehnung des Zeitraums „Kriegsende“ erfordern Die nach 1945 wegen des Kalten Krieges ungelöst bleibenden Fragen der Neuordnung Deutschlands und Europas schufen einen dauernden Schwebezustand. Offiziell wurde die Forderung nach einem Friedensvertrag und der Wiedervereinigung Deutschlands von beiden Seiten aufrechterhalten, d. h. von beiden deutschen Staaten und ihren jeweiligen Schutzmächten. Auch die SED verfolgte bis Ende der 1950er Jahre nominell eine solche ‚nationale‘ Politik mit dem Ziel, ihr System auf ganz Deutschland auszudehnen. „Mitleids mit dem Feind“ bestraft wurde, war der spätere Schriftsteller Lev Kopelev; vgl. ders., Aufbewahren für alle Zeit! Deutsch zuerst Göttingen 1976. 47  Zum ‚Wesen‘ des Bolschewismus vgl. Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003. 48  Vgl. Jochen Laufer, Die UdSSR und der alliierte Kontrollmechanismus für Deutschland 1943–1948, in: Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Clemens Vollnhals (Hrsg.), Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955, Göttingen 2006, 509–535.

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Nach dem Mauerbau 1961 sorgten insbesondere bleibende familiäre und andere Verbindungen über die Grenze hinweg für einen Rest an Zusammenhalt; dennoch trat schon lange vor 1989 namentlich im Westen eine weitgehende Resignation bzgl. einer möglichen Wiedervereinigung ein. Nicht völlig aufzulösen ist die Frage, ob internationale Abkommen wie die Ostverträge und die KSZE-Schlussakte von Helsinki zu einer zumindest vorläufigen Verstetigung der Nachkriegsordnung einschließlich der Grenzen und Regime führten, wie dies die Staaten des Warschauer Pakts sahen, oder vielmehr – gemäß der Position von Willy Brandt und Egon Bahr – von Beginn auf deren Unterminierung abzielten49. Ohne die Ereignisse von 1989 / 90 wäre diese Frage kaum zu verifizieren, und selbst danach bleibt ein Element der Ungewissheit bestehen. Der Sturz des SED-Regimes 1989 öffnete die historische Situation neu. Auch danach kam es zwar zu keinem nominellen Friedensvertrag, aber de facto wirkt ein Bündel internationaler Verträge als „Friedensvertrag“, insbesondere der 2+4-Vertrag von 1990. Damals begann auch eine Umorientierung der Zeitgeschichtsschreibung dahingehend, dass seither die deutsche Nachkriegsgeschichte für beide deutsche Staaten im Zusammenhang geschrieben wird. Gleich, ob man das Kriegsende von 1945 nun als Befreiung, Niederlage oder beides interpretiert, so gibt es bleibende physische bzw. menschliche Folgen des Kriegsendes, von denen im heutigen Deutschland eher wenig gesprochen wird. Es sind dies neben dem im deutsch-polnischen Grenzvertrag von 1990 endgültig anerkannten Verlust der Ostgebiete, immerhin einem Viertel des Vorkriegsgebiets Deutschlands, vor allem die Folgeleiden der noch lebenden 1945 und später misshandelten Personen, z. B. der vielen von Sowjetsoldaten vergewaltigten Frauen50. Ein einseitiger Fokus des öffentlichen Diskurses auf die Schädigung anderer Völker durch Deutsche sowie auf eine vermeintlich allgemeine Verantwortung der deutschen Nation für die NS-Verbrechen enthält hier vielen Kriegsopfern die legitime Anerkennung vor51. 49  Für letztere Position siehe Oliver Bange, Der KSZE-Prozess und die sicherheitspolitische Dynamik des Ost-West-Konflikts 1970–1990. In: Ders. / Bernd Lemke (Hrsg.), Wege zur Wiedervereinigung ‒ Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990, München 2013, 87–104. 50  Vgl. hierzu Miriam Gebhardt, Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs, München 12015. 51  Als Einstieg eignet sich noch immer Jürgen Danyel, Deutscher Opferdiskurs und europäische Erinnerung. Die Debatte um das „Zentrum gegen Vertreibungen“, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung, hrsg. von Jürgen Danyel, Januar 2004, http: /  / www.zeitgeschichte-online.de / md=Debatte-Ver treibung-Danyel (Zugriff 1.10.2015).



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Auf eher staatlich-politischer Ebene stellt sich darüber hinaus die Frage, ob bzw. wann es vor dem Hintergrund der Belastung durch die NS-Geschichte zu einer Normalisierung nationalstaatlichen bzw. außenpolitischen Denkens und Handelns in Deutschland kommen kann. In den letzten Jahrzehnten begonnene und weiter voranschreitende Prozesse wie Europäisierung und Globalisierung, die ihre komplexen Eigengesetzlichkeiten haben und multilateraler Natur sind, werden in Deutschland oftmals als historische Ausflucht betrachtet, um die vermeintlich belastete nationalstaatliche Existenzform hinter sich zu lassen52. In diesem Zusammenhang besteht zumindest bei einem Teil der politischen Eliten die Vorstellung einer „historischen“ Pflicht zur Eingliederung Deutschlands in größere Ordnungssysteme als Kompensation für den als Hypernationalismus interpretierten Nationalsozialismus. Abgesehen von dieser theoretisch unzureichenden Sicht scheitert dieser Ansatz in der Praxis schon daran, dass die anderen Völker zu einer derartigen Metamorphose nicht bereit sind und die Deutschen sich nicht allein „transnationalisieren“ können.

52  Als instruktive Reflexion dieses Themas siehe Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wiesbaden 2006.

„Vor allem müssen die Helden tot sein …“ Von Elke Mehnert, Chemnitz Diese Empfehlung gab Wolfgang Joho (1908–1991) 1979 seinen Kollegen von der schreibenden Zunft mit auf den Weg. Damit hat er nicht ganz Unrecht, wie uns Debatten, ja Prozesse um Schlüsselromane lehren. Freilich lassen sich auch genügend Gegenargumente zu Johos These finden, weil ein Roman immer eine Melange aus Dokumentarischem, Biographischem und Fiktivem darstellt. Sicher ist das Mischungsverhältnis der Ingredienzien unterschiedlich und historische Faktentreue kein Indiz für die ästhetische Qualität eines Romans. Unter Literaturwissenschaftlern sollte es aber Usus sein, dass jeder Interpret den zeitgeschichtlichen Hintergrund eines Romans beurteilen kann und sowohl Handlungs- wie Entstehungszeit des Textes in seine Interpretation einbezieht. Gerade dann, wenn der literarische Autor nicht wie Anna Seghers (1900–1983) von sich behaupten kann „Ich war dabei und ich gebe es weiter …“, ist es interessant, aus historischem Kontext der Stoffwahl und -verarbeitung Schlüsse für die Interpretation zu ziehen. Sicherlich stammen ästhetische Positionen, wie die hier geäußerten, aus einer Zeit vor literarischer Popart, Postmoderne und Poetry-Slam, aber sie haben eine jahrhundertelange Tradition und noch jede Mode überdauert. Warum sage ich das? Weil Literaturwissenschaftler gute Gründe haben, Geschichte als eine für sie wichtige Hilfswissenschaft zu schätzen. Umgekehrt scheint das zumindest partiell zu gelten – sonst wäre ich nicht aufgefordert worden, in einer Ringvorlesung zur Darstellung des Kriegsendes in der Literatur zu sprechen. Eine weitere Vorbemerkung sei gestattet: Auch wenn der literarische Text sich noch so nah an der Realität bewegt – die Welt des Kunstwerks bleibt eine fiktive Welt – der realen ähnlich aber ihr nicht gleich. Das Kunstwerk ist und bleibt Modell der Wirklichkeit, Spielfeld der Phantasie von Schöpfer und Rezipienten. Das zu betonen ist mir gerade in Bezug auf einen Roman wichtig, der regionalen Kultstatus erreicht hat: Ich meine Stefan Heyms (1913–2001) „Schwarzenberg“ von 1984 − in der DDR erst 1990 im „Buchverlag Der Morgen“ veröffentlicht. Wenn man es mit den historischen Fakten genau nähme und vom Modellcharakter des Kunstwerks absähe, hätte ich als Auerin manchen Grund, gegen Heyms Umgang mit dem Stoff zu Felde zu ziehen; denn erstens waren außer dem Landkreis Schwarzenberg auch der

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Kreis Stollberg und die Stadt Aue zwischen Kriegsende und dem 10. Juni 1945 weder von amerikanischen, noch von sowjetischen Truppen besetzt. Zweitens – und das wäre der wichtigere Einwand – hat es nicht einmal für einen momentanen Nu die Chance selbstbestimmten Aufbruchs in ein demokratisches Gemeinwesen gegeben. Warum im Gebiet zwischen Stollberg und Oberwiesenthal 21 Städte und Gemeinden unbesetzt geblieben sind, haben die Historiker bis heute nicht erklären können. Eine These lautet, man habe die Zwickauer mit der Freiberger Mulde verwechselt; eine andere, es habe Geheimabsprachen zwischen den Amerikanern und Großadmiral Dönitz mit dem Ziel gegeben, der Heeresgruppe Mitte einen Korridor in die amerikanisch besetzten Gebiete offenzuhalten. Bestätigt ist das nicht. Fest steht nur, dass der Krieg im Westerzgebirge zu Ende gegangen ist und sich hier die Einheiten der Heeresgruppe Mitte mit über einer Million deutscher Soldaten auflösten. Gleichzeitig strebten Zwangsarbeiter aus den mitteldeutschen Rüstungsbetrieben in ihre Heimatländer, und aus den grenznahen Gebieten der Tschechoslowakei kamen erste Flüchtlinge. Sie alle überfluteten ein Gebiet, in dem die Menschen ohnehin schon auf engem Raum zusammenlebten, seitdem Evakuierte aus den westdeutschen Großstädten hier Zuflucht gesucht hatten. Diese Menschen wollten essen, mussten medizinisch versorgt und irgendwie auch transportiert werden. Das alles in einer Enklave von rund 2.000 Quadratkilometern und etwa einer halben Million1 Eingeschlossenen zu organisieren, war schwierig genug und forderte die ganze Kraft der „Aktivisten der ersten Stunde“. Mein Großvater war einer von diesen Männern und Frauen, die in gemeinsamer Aktion, ungeachtet ihrer unterschiedlichen politischen Positionen, versucht haben, das Tagesnotwendige im unbesetzten Gebiet zu tun. Aus seinen Erzählungen ist mir vieles bekannt. An politische Experimente, gar eine „Freie Republik“ mitten im besetzten Land haben die Akteure der ersten Stunde ganz sicher nicht gedacht. Das aber unterstellt Heym seinen Protagonisten. In seiner Interpretation kommt ein sowjetischer Major mit einem amerikanischen Leutnant überein, dass man ein Experiment wagen solle: „Vielleicht ist dieses Schwarzenberg ein Modellfall und wert, es in seiner weiteren Entwicklung zu beobachten“2, sagt der Amerikaner. Der Russe pflichtet bei: „[…] eins steht für mich fest, schon auf Grund dessen, was Lenin einmal gesagt hat […]. Ein jedes Volk muss seinen eigenen Weg gehen, wir können ihm seine Entwicklung nicht aufzwingen, so praktisch das auch erscheinen mag.“3 Dem Major der Sowjetarmee ist bewusst, dass er 1  Zahlenangaben

nach Peter Bukvic (unveröffentlichtes Typoskript). Heym, Schwarzenberg. Berlin 1990, 213. 3  Ebd., 214. 2  Stefan



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sich auf dünnem Eis bewegt; aber die Verlockung ist groß, „einmal auszuprobieren, wie sich das vereinbaren könnte: Sozialismus und Freiheit“.4 Das liest sich wie eine Antizipation der Rede Stefan Heyms vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz: „Der Sozialismus, nicht der Stalinsche, der richtige, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes. Freunde! Mitbürger! Übernehmt die Herrschaft!“5 Damals hat man Heym noch zugejubelt und ihn den „Nestor unserer Bewegung“ gegen die SED-Diktatur genannt. Fünf Jahre danach ist der Alterspräsident des Deutschen Bundestages mit PDS-Mandat ähnlicher Worte wegen angefeindet worden. In Schwarzenberg freilich ist Heyms Nimbus bis heute unangefochten – hat doch eine pfiffige Schwarzenberger Künstlergruppe die Mär von der „Freien Republik“ für wahr erklärt und daraus ein tourismusförderndes Spektakel gemacht; mit Augenzwinkern inszeniert, missgünstig beäugt von den Verfechtern der reinen historischen Lehre. Gegen die Gleichsetzung seiner fiktionalen mit der realen Welt hat sich Heym selbst nicht verwahrt, wie ich als Augen- und Ohrenzeugin eines 1995 von PDS-nahen Institutionen in Schwarzenberg veranstalteten Forums weiß. Da Heym nun einmal seinem Roman den Titel „Schwarzenberg“ gegeben hat, ist ihm widerfahren, was immer wieder absichtsvoll oder aus Unkenntnis mit literarischen Texten geschieht: Sie werden beim Wort genommen. Das ist Johannes Arnold (1928–1987) so nicht geschehen. Er hat 1969 in seinem Roman „Aufstand der Totgesagten“ die Namen von Handlungsort („Waldenberg“) und Akteuren zwar verfremdet, aber zweifellos die Absicht verfolgt, an der Herausbildung „sozialistischen Geschichtsbewusstseins“ mitzuwirken. Dem antifaschistischen Gründungsmythos der DDR wird mit Arnolds Roman eine weitere Facette hinzugefügt: Die Kommunisten als „Selbsthelfer in wilder anarchischer Zeit“ sind die einzige Kraft, die nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur nicht nur Handlungskonzepte hat, sondern diese auch konsequent und selbstlos im Interesse der Bevölkerung umsetzt. Arnolds Roman ist ob seines Sujets gerade in unserer Gegend (zumal der Autor ein Chemnitzer war) viel gelesen und besprochen worden. Seine künstlerische Qualität hat wohl keine große Rolle in den Diskussionen gespielt – wie ja ohnehin der „Kulturwert“ eines Textes meistens wichtiger war als dessen „Kunstwert“. Auch Arnold hat es mit den historischen Fakten (ganz im Sinne der sozialistischen Parteilichkeit) nicht zu genau genommen. Aber generell war die Faktenkenntnis in der Bevölkerung − Zeitzeugen ausgenommen − lückenhaft. Erst nach der politischen Wende sind auch gründ­ 4  Ebd.,

215. Heym, Offene Worte in eigener Sache 1989–2001. München 2003, 14.

5  Stefan

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liche historische Untersuchungen zum unbesetzten Gebiet erschienen: Lenore Lobecks Buch „Die Schwarzenberg-Utopie“ hat binnen kurzer Zeit bereits zwei Auflagen erlebt6 und auch Christian Löhrs Aufsatz „Zwischen Traum und Wirklichkeit. Der Landkreis Schwarzenberg im Frühsommer 1945“7 bemüht sich um faktengenaue Rekonstruktion dieser 60 Tage im Niemandsland. Beide Verfasser haben eine Vielzahl von Quellen neu erschlossen und sich nicht allein auf die Berichte von Zeitgenossen verlassen. Während Lobeck schon im programmatischen Untertitel des Buches ihre Absicht kenntlich macht, Ideologisierungen aller Couleur im Umgang mit dem historischen Phänomen „Unbesetztes Gebiet“ entgegenzutreten und auch dessen Trivialisierung mittels touristischer Vermarktung sehr kritisch sieht, leugnet Löhr den Phantomschmerz nicht: „Für einen winzigen geschichtlichen Augenblick sah es aus, als gäbe es noch eine letzte, schon nicht mehr für möglich gehaltene Chance, das Geschick Deutschlands in die eigenen Hände zu nehmen.“8 Dieses Urteil ist nicht weit entfernt von Heyms utopischem Modell eines demokratisch-sozialistischen Miniaturstaates. Im Jahr 2004 sind neue Texte zum Sujet erschienen – Volker Brauns „Das unbesetzte Gebiet. Im schwarzen Berg“9. Braun interessiert die Geschichte vom unbesetzten Gebiet als Parabel. Dabei schickt er den Leser erst einmal auf eine falsche Fährte: „[…] diese Geschichte ist gelaufen und vorbei […]“10. In der „Geschichte vom schwarzen Berg“ heißt es hingegen: „ ‚Die Geschichte wiederholt sich nicht, doch wo etwas nicht Geschichte wurde und Geschichte nicht gemacht wurde, wiederholt sie sich durchaus‘, sagte Bloch, was ich eben darum wiederhole.“11 Auf solche Weise verunsichert, entdeckt der Leser schon bald, dass Braun vom Jahr 1945 berichtet und die Jahre 1989 ff. meint – denn was ist die „gewollte Unterwerfung der Bevölkerung unter die neue Ordnung“12 anderes als der in „Das Eigentum“ benannte Nach-Wende-Zustand: „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen“. Wer bleibt? Was bleibt? Im Gedächtnis des Volkes (sofern sie darin überhaupt Platz beanspruchen durften) sind die Tage ohne Besatzungsmacht geblieben als Zeit des Hungers, der Unsicherheit, des Abgeschnittenseins von der Welt und allen Waren13. Dabei war das auch eine Aufbruchszeit, in der viele (und nicht nur die Mitglieder des Aktionsausschusses – das stellt Braun 6  Lenore

Lobeck, Die Schwarzenberg-Utopie. Leipzig 2004. Löhr, Zwischen Traum und Wirklichkeit. Der Landkreis Schwarzenberg im Frühsommer 1945. In: Enttäuschte Hoffnung. Miriquidi-Jahresheft 2004. 8  Ebd., 33. 9  Volker Braun, Das unbesetzte Gebiet. Im schwarzen Berg, Frankfurt / M. 2004. 10  Ebd., 9. 11  Ebd., 101. 12  Ebd., 9. 13  Vgl. ebd., 64. 7  Christian



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deutlich heraus) über sich hinausgewachsen sind. Pragmatisch und selbstbewusst haben die Erzgebirger von der Freiheit Gebrauch gemacht, die ihnen überraschend zugefallen ist. Braun lässt den Fabrikanten Nier für viele sprechen: „Wir sind gedanken- und staatenlos, aber selbstbestimmt.“14 Ob „Gedankenlosigkeit“ (hier wohl verstanden im Sinne eines Plans, einer Ideologie) den realen Vorbildern wie den Fabrikanten Nier und Friedrich Emil Krauß, dem Kommunisten Paul Korb oder dem Schuhmachermeister Amand Stocklöw unterstellt werden kann, bleibt fraglich. Dass ihr Handeln selbstbestimmt war, ist unbestreitbar. Das macht diese Persönlichkeiten (die übrigens bei ihren tatsächlichen Namen genannt werden) für Braun interessant. Schon 1970 hatte er in seinem „Prometheus“-Gedicht das Bild des freien, selbstbestimmt handelnden Individuums antizipiert: „Auf diese Zeit nicht, auf nichts Vertrauend als auf uns, nicht Mit freudig geschlossenen Augen; Bedroht, aber nicht gedrillt Sieht mich der Tag Der widerstrahlt Wenn wir unser Feuer tragen In den Himmel.“15

Die Chance selbstbestimmten Handelns hat es nach Brauns Ansicht 1945 im unbesetzten Gebiet für einen „momentanen Nu“ gegeben; wenngleich die Akteure durch die Umstände einfach gezwungen waren, die Frage „Wie kommen wir weiter?“16 zu beantworten. Diese Frage verbindet das Gestern mit dem Heute, den Berliner Autor mit den erzgebirgischen Selbsthelfern: „Denn es ist jetzt mein eigenes Gebiet, das unbesetzt ist, von den Truppen der Doktrin und des Glaubens …“17. Es sind Brauns heutige Fragen, gerichtet an die historischen Vorläufer mit den in der Region bis heute bekannten Namen („Keine Gestalt und Begebenheit ist erfunden, Abweichungen von real existierenden Personen sind Zufall.“18). Von diesem − die üblichen ­Autorenerklärungen ironisierenden − Schlusssatz des Textes sollte man sich nicht verführen lassen. Die Akteure sind Braunsche Kunstfiguren, ebenso wie sie Teil  der Historie sind, nach der Braun in einem Berg von Legenden (dem „schwarzen Berg“) schürft. Dass diese Figuren auch ein Kunstidiom sprechen, wird Lesern in Hamburg weniger auffallen als im Erzgebirge. Aber wenn es nun einmal um Genauigkeit geht, hätte der gebürtige Sachse Braun dem Volk auch ein wenig aufs Maul schauen können. 14  Ebd.,

53. Braun, Prometheus. In: Ders., Wir und nicht sie. Halle 1970, 62. 16  Volker Braun, Das unbesetzte Gebiet (Anm. 9), 48. 17  Ebd. 18  Ebd., 64. 15  Volker

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Der zweite Teil  des schmalen Büchleins („Im schwarzen Berg“) versammelt Kalendergeschichten und Anekdoten in Kleistscher Manier – zumeist im Erzgebirge angesiedelt und unschwer als Fingerübungen für den Schwarzenberg-Text zu identifizieren. Nach meiner Kenntnis sind die drei besprochenen Werke die einzigen, die den Stoff „unbesetztes Gebiet“ sujetbildend verarbeitet haben. Knappe Episoden aus diesem Zeitraum finden sich auch bei der Chemnitzerin Kerstin Hensel, deren Roman „Im Spinnhaus“19 im Erzgebirge der Nachkriegszeit handelt. In der Fantasiewelt, die aber immer wieder als dieses „unbesetzte Gebiet“ verortet wird, geschehen gar seltsame Dinge – da gibt es jahrzehntewährende Schwangerschaften, Haare aus purem Silber und Bären; aber es gibt auch ganz Reales wie die Russeninvasion in Berta Tschiedrichs Waschanstalt, Wodkagelage im „Rilpsstübel“, Semmelweiss-Märries Kneipe. Fakten der Realgeschichte werden in einen fantastischen Kontext gestellt, der die Erzgebirger rund um den „Schwarzen Berg“ als skurrile Figuren erscheinen lässt. Vielleicht deswegen ist die Resonanz auf diesen Roman in hiesiger Gegend verhalten geblieben. Spricht man vom Kriegsende und den ersten Nachkriegsjahren im Erzgebirge, muss man auch vom Wismutbergbau sprechen. Es gab Vermutungen, der amerikanisch-sowjetische Gebietsaustausch nach dem Krieg habe etwas mit den erzgebirgischen Uranvorkommen zu tun gehabt, die der Sowjetunion das Material für Atombomben liefern sollten. Diese These gilt als widerlegt20. Wahrscheinlich war auch den Sowjets nicht bekannt, wie umfangreich die Erzvorkommen um Johanngeorgenstadt, unter dem Radiumbad Ober­ schlema und im Umkreis von Aue tatsächlich waren. Dennoch entstand im Jahr 1947 mit der Wismut-AG im sächsischen Erzgebirge und in Thüringen „das größte Reparationsunternehmen des 20. Jahrhunderts“21. Es hat nicht nur das Gesicht der Landschaft, sondern auch die Bevölkerungsstruktur des Erzgebirges völlig verändert: Zur Arbeit in der zuerst rein sowjetischen, später sowjetisch-deutschen Wismut-AG wurden 20.000 Arbeitskräfte gebraucht. Die waren auf normalem Weg nicht zu beschaffen; so kamen viele Menschen gegen ihren Willen zum Bergbau nach Aue, Schlema und Johanngeorgenstadt. Ob Aue (wo sich zunächst die Wismut-Hauptverwaltung befand) tatsächlich das „Tor der Tränen“ genannt wurde, kann ich nicht sagen. Aber an überfüllte Wohnungen, spitzkegelige Abraumhalden, die „Atomhexen“ genannten Frauen in ihren schmutzigen Gummianzügen, an Wismutküchen und Wismutläden kann ich mich noch erinnern – ebenso an die Schlagbäume auf 19  Kerstin

Hensel, Im Spinnhaus. München 2003. Rainer Karlsch / Zbyněk Zeman, Urangeheimnisse. Das Erzgebirge im Brennpunkt der Weltpolitik 1933–1960, Berlin 2003, 36 f. 21  Rainer Karisch, Wismut AG. In: Spuren – Sledy, Deutsche und Russen in der Geschichte, Stiftung Haus der Geschichte der BRD 2004, 138. 20  Vgl.:



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den Zufahrtstraßen ins Wismut-Sperrgebiet. Einen – verglichen mit den tatsächlichen Zuständen – sicherlich harmlosen Zustandsbericht aus dieser Zeit und dieser Gegend hat Werner Bräunig in dem 1965 vom 11. Plenum des ZK der SED inkriminierten Roman „Rummelplatz“22 geliefert. Erst nach der politischen Wende konnte er vollständig erscheinen. Auch Harald Gerlachs „Windstimmen“23, ein Roman aus dem Jahr 1997, geht auf die Folgen des Uranbergbaus ein: „In der Gegend um Schlema bluten die offenen Wunden der Erde. Entlang der Straßen türmen sich bedenkenlos aufgeschüttete Abraumhalden, zaghaft von Nesseln besiedelt. Verrottete Gleisanlagen. Barackenreste. Ausgeschlachteter Boden. Der letzte Ausverkauf des Bodens, er galt dem Uran, hat Wüstungen hinterlassen.“24

In rasantem Tempo hat die Erzgebirgslandschaft in den ersten Nachkriegsjahren ihr Gesicht verändert. Die Heldin in Angela Krauß’ Erzählung „Kleine Landschaft“25 erblickt auf ihrer Eisenbahnfahrt nach Schlema nicht Natur, sondern eine „gekippte Landschaft“. Sie fährt zum Begräbnis ihrer Großmutter, die früher im Radiumbad Oberschlema, später bei der Wismut ihren ­Lebensunterhalt hart erarbeiten musste. Die Erzählerin ist in nachdenklichsentimentaler Stimmung. Dazu passt die graue Landschaft, passen die „bleiernen Steine“, die strahlen, aber nicht leuchten – was das Kind einst nicht verstehen konnte. Als Angela Krauß diesen Text schrieb, konnte sie das spätere „Wunder von Bad Schlema“ noch nicht ahnen. Im wiedervereinigten Deutschland ist es Wirklichkeit geworden. Bad Schlema ist wieder Radonheilbad und wirbt wie einst mit dem Slogan „Schlemas Wässer wirken Wunder“. Damit beende ich den Rückblick auf die ersten Nachkriegsjahre in meiner sächsischen Heimat. Es ist mir nicht leicht gefallen, mich dessen zu enthalten, was Christa Wolf „subjektive Authentizität“ genannt hat und was wir schlicht als Zeitzeugenbericht klassifizieren können. Der Verzicht ist mir umso schwerer gefallen, als ich – im Gegensatz zu fast allen genannten Autoren – diese Zeit im „unbesetzten Gebiet“ erlebt habe, mich gut an die letzten Kriegswochen erinnern kann, an die erzwungene Wohngemeinschaft mit einem GPU-Vernehmungsoffizier und an die wild-anarchischen Anfangsjahre der Wismut, als an den Wohnungstüren mitunter acht und mehr Namen von einquartierten Wismutkumpeln standen. Aber einen Zeitzeugenbericht zu geben war nicht mein Auftrag.

22  Werner

Bräunig, Rummelplatz. Berlin 2007. Gerlach, Windstimmen. Berlin 1997. 24  Ebd., 155. 25  Angela Krauß, Kleine Landschaft. Berlin u. a. 1989. 23  Harald

Die Autoren des Bandes Prof. Dr. Rudolf Boch, Inhaber der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der TU Chemnitz Dr. Jens Boysen, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der TU Chemnitz Prof. em. Dr. Hans Fenske, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg Uwe Fiedler, Historiker und Leiter des Schloßbergmuseums Chemnitz Prof. Dr. Peter Hoeres, Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Universität Würzburg Dr. Erik Lommatzsch, Historiker, Leipzig Prof. em. Dr. Elke Mehnert, ehem. Inhaberin der Professur für Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts / Komparatistik an der TU Chemnitz Prof. Dr. Manfred Nebelin, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der TU Dresden Dr. Jürgen Nitsche, freier Historiker, Autor und Kurator, Mittweida b. Chemnitz Prof. em. Dr. Reiner Pommerin, ehem. Inhaber der Professur für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der TU Dresden Dr. Dirk Reitz, Habilitand an der TU-Chemnitz, Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Prof. Dr. Rainer F. Schmidt, Inhaber der Professur für Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Universität Würzburg Dr. Matthias Stickler, apl. Prof. am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Universität Würzburg Dr. Hendrik Thoß, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der TU Chemnitz Dr. Justus H. Ulbricht, Historiker und Geschäftsführer des Geschichtsvereins Dresden

Personen- und Ortsregister Adolf Friedrich, Ghz. v. Mecklenburg  38 Aëtius (röm Feldherr)  302 Ägypten  59, 103 Andersen, Hans Niels  64 Annaberg  238, 244, 249, 252 Archenhold, Paul u. Fanny  240 Arco auf Valley, Anton Gf. v.  .133 Ardahan  185 Arnold, Johannes  153, 297, 353 Aschersleben  4 Aspis, Clara  226 Asquith, Herbert Henry  62 Aue  234, 352, 356 Auguste Victoria  100, 102 Auschwitz  237, 246–250 Aussig  320 Australien  147, 235 Auto Union  195, 197 f., 200 f., 203–212, 263, 269, 271 f., 281 Bad Kreuznach  32 Bad Schlema  357 Baermann, Salomon  254 Bahr, Egon  349 Baku  56 f., 123 Baldwin, Stanley  260 Ballin, Albert  64 Balmoral  59 Baltikum  36, 41, 113, 123, 134, 188, 305, 338 Bamm, Peter  167 Bank, Bernhard  231 Bank, Betty  231 Barbusse, Henri  155 Barleben  4

Barth, Karl  82 Batum  52, 56 Bautzen  226, 335, 341, 346 Beaverbrook, William Maxwell  191, 262 Becher, Johannes R.  153 Beer, Mathias  306 Belfort  24, 40 Belgien  18, 20, 21, 23, 40, 42, 44, 59, 63, 66, 68–70, 75, 78, 81 f., 85, 89 f., 107, 123, 127, 154, 162, 169, 179, 203, 228, 236 Belgrad  61, 229 Belzyce  215, 236, 244, 246 f. Benedikt XV.  71, 72 Beneš, Edward  316 f., 321 f. Benjamin, Kurt  249 Beradt, Martin  153 Bergson, Henri  76, 77, 91 Berlin  .11, 20, 22, 24, 30 f., 33, 35 f., 41, 47 f., 53, 56, 60 f., 63, 67, 71, 79, 81, 89, 101, 109, 127, 133, 156, 175, 179 f., 183–187, 191, 193 f., 203, 217, 221, 248, 273 f., 288, 333, 344, 355 Berlin-Karlshorst  333 Berliner, Curt  226 Bernard, Raymond  157 Bernburg  245 Bernhardi, Friedrich v.  81 f., 85 f., 329 Bethmann Hollweg, Theobald v.  18, 22, 24 f., 28 f., 39, 43, 59, 61, 63–67, 70 f. Beumelburg, Werner  154 Białystok  25, 181, 188 f. Bier, August  164 Bitterfeld  10 f.

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Personen- und Ortsregister

Blech, Maria  8 Bloch, Iwan v.  329, 354 Bloom, Philipp  1 Blumberg, Erich  225 Blumenthal, Frida  237 Boas, Kurt  226 Boelcke, Oswald  161 Bormann, Martin  294 Born, Alfred  237 Borna  271 Borneo  45 Bosanquet, Bernard  83, 85 Bosnien  70 Bosporus  60, 180 Brandis, Cordt v.  161, 163 Brandt, Willy  349 Bräunig, Werner  357 Bremen  197 Brenner, Henny  208, 254 Brentano, Lujo  79 Breslau  110, 268, 273, 294, 311 Brest-Litowsk  34, 46, 48 f., 51, 54, 57, 72, 118 f., 121, 122 f., 331 Brinitzer, Walter  254 Brockdorff-Rantzau, Ulrich, Gf.  125 f. Bruck, Paul  237 Brühl, Daniel  159 Bruhn, Richard  203, 211 f. Brünn  321 Brüssel  60 Bucharin, Nikolai  48 Buchenwald  206, 217, 223, 228, 229, 231, 233 ff., 238, 341 Budjonny, Semjon  136 Bulgarien  44, 53 f., 67, 73, 108, 122, 135, 180, 186, 283, 314 Bülow, Bernhard v.  101 Burg  4 Burian, Stephan, Gf.  67 Busch, Ernst  286 Cambrai  122 Carossa, Hans  167

Casablanca  268, 281 Chanange, Heinrich  238 Chaplin, Charlie  156 Chemnitz  4–9, 13, 145, 152, 195, 197 ff., 205, 209, 212–282, 334 ff., 341, 351 Christian X., Kg v. Dänemark (1879– 1947)  64 Churchill, Winston  1, 92, 119, 142, 160, 184, 190–195, 261 f., 264 f., 273 f., 307, 316 f., 334 f., 341, 353 Clark, Christopher  1, 61, 75, 137, 332 Claus, Irmgard  240 Clausewitz, Carl v.  139 Clemenceau, Georges  84, 86, 124, 126, 140, 143 f., 166 Cohn, Flora Margot  236 Cohn, Kurt  233 Cohn, Ludwig  238 Colditz  222, 341 Compiègne [Rethondes]  121 f., 123, 126, 139 Cork  94 Crimmitschau  226 Czernin, Ottokar, Gf.  44 f., 48 f., 70 ff. Czernovitz  189 Daladier, Eduard  150 Danilov, Valerij  174 f. Danzig  133, 268, 311, 323 Dardanellen  47, 60, 185 Darwin, Charles  86 Delcassé, Théophile  62 Den Haag  301 Deutschland  6, 4, 12, 19, 30, 42, 45–48, 52–55, 57, 59, 61, 63–71, 73–78, 81 f., 84 f., 107, 111, 120, 122, 125, 128, 133, 134–140, 147, 150 f., 153–155, 158 f., 165, 171, 174 ff., 178 f., 185, 187, 189 ff., 193, 195, 198, 201 f., 207, 217, 221, 223, 228 ff., 232, 235, 237, 239, 243, 249, 256, 258 ff., 262, 273, 283, 289–293, 295, 297 f., 302, 308 f., 311 f., 318,



Personen- und Ortsregister

322 f., 325 ff., 330, 333, 337 ff., 348 ff., 357 Diosgyör  272 Dix, Otto  167 Doenecke, Justus  92 Doerzbacher, Hedwig  216, 245 Dönitz, Karl  338, 352 Dorgeles, Roland  155, 157 Douaumont (Fort)  120, 154, 160, 161, 162, 163 Douhet, Giulio  170, 257, 259, 270 Dresden  25 f., 31, 33–38, 56, 98, 102, 108, 132, 227, 237, 244, 248, 250, 252, 254, 268, 273–276, 283, 334 f., 337, 340, 341, 343 Dublin  62 Dugain, Marc  159, 166 Düna  51 f. Dünkirchen  262 Dupeyron, François  159 Dyle  169 Ebermayer, Erich  111 Ebert, Friedrich  123 f., 338 Eckstein, Frieda  252, 253 Eden, Antony  190 f., 193 Edinburgh  62 Eichhorn, Hermann v.  49, 55 Eilenburg  23 Eisner, Kurt  134 Elbing  292 Elend, Leo  238 f. Elsass  17 ff., 21–28, 33, 36, 69, 107, 128, 133 Elsass-Lothringen  19, 25, 28, 33, 133, 149, 316 England  41 f., 57, 61 f., 64 f., 76, 89, 138, 141 ff., 184, 190 f., 193, 213, 235, 236, 239, 250, 258, 260 f., 272, 332 Erler, Fritz  87 Ernst Heinrich, Prinz v. Sachsen  107 Erzberger, Matthias  34, 71, 133 Erzgebirge  252, 335, 355 f.

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Esser, Hans  319 Estland  135 Ettighoffer, Paul  154 f. Eucken, Rudolf  76 Eupen  133 Falkenhain, Minna  8 Falkenhayn, Erich v.  41, 63, 65, 88 Fechenbach, Siegbert  242 Fellisch, Alfred  105, 108 Finnland  53, 56, 179 f., 186, 283, 308 f. Fischer, Fritz  44 Fleischer, Jenny  238 Fleischhauer, Ingeborg  176 Fleischmann, Clara  236, 250 Flex, Walther  129 Flieg, Daniel  237, 240 Flieg, Karl u. Eva  240 Flieg-Fuchs, Else (Mutter Stefan Heyms)  240 Flöha  222, 341 Flößberg  341 Flossenbürg  207 f., 341 Foch, Ferdinand  122, 125, 142, 147, 168 Foggia  272 Frankfurt  51, 116, 118, 197, 304 Frankreich  4, 14, 17, 19 f., 35, 41, 53, 59–64, 66, 68, 70, 76, 78, 80 f., 83, 88, 94, 96, 107, 115–118, 123, 125–129, 132 ff., 137 ff., 147, 149 ff., 155, 162, 162, 168 f., 184, 203, 205, 272, 302 Franz Joseph I., Ks v. Österreich. (1830–1916)  28, 70, 102 Freiberg  341 Freise, Frida  224 Frensdorf, Henriette  249 f. Friedrich August II., Ghz v. Oldenburg  20 Friedrich August III., Kg v. Sachsen (1865–1932)  9, 17, 20–23, 25, 26, 28–30, 32–36, 38, 97, 98, 101–111 Friedrich Christian v. Sachsen, Prinz  34

364

Personen- und Ortsregister

Friedrich, Ernst  167 Fryde v. Stromer, Natalie  141 Fuchs, Hugo  232 Fulda, Ludwig  79 Fuller, Frederick Charles  169 Fürstenheim, Hermann  232 Gabriel, Fritz  236 Galizien  20, 128 Gallipoli  130, 160 Gamelin, Maurice  169 Gareev, Machmut  176 Gaulle, Charles de  1, 163, 170 Genevoix, Maurice  155 Georg, Kg. v. Sachsen (1832–1904)  102–104 Georg V., Kg. v. England (1865–1936)  59 Georg, Kronprinz v. Sachsen (1893– 1943)  26, 28, 35, 107, 153 Georgien  56 Gibraltar  179 Giono, Jean  155 Glauchau  229, 246 Goebbels, Josef  193, 286.f., 292–295 Goetz, Karl  92 Goldschmidt, Jakob  222 Goldschmidt, Louis  221 Gomulka  316, 318 Goral, Elias  214 Göring, Hermann  203, 261 Gorkow, Jurij  176 Gorlice- Tarnow  40 Görlitz  23, 341, 343 f. Gorodetsky, Gabriel  176 Göttingen  81, 208 Gottschalk, James  252 Grajewo  230 Grey, Edward  59, 61, 65 f. Griechenland  42, 236, 309 Grieger, Manfred  196 Grillparzer, Franz  139 Grodno  25 f.

Groener, Wilhelm  38, 49, 55, 123 Gross, Reiner  3 Großbritannien  14, 40, 56–59, 68, 76, 78, 84, 91, 94, 127 f., 146–151, 155, 168, 183, 260 f., 270, 273, 307, 321, 323, 339 Groß-Rosen  341 Grosz, George  167 Grotius, Hugo  115 Grünberg, Shlomo Salman  234 Guben  341 Guderian, Heinz  170, 288 Gumbinnen  287 f. Haeckel, Ernst  79, 86 Haffner, Sebastian [Raimund Pretzel]  140 Hahn, Carl  211 Halle  12, 273, 334 Hannover  164, 197, 264, 273 Harden Church, Samuel  82 Harlan, Veit  294 Harnack, Adolf v.  86 Harris, Arthur  268, 273 Hartheim  245 Hartwig, Nikolaus  60 Haupt, Hans-Joachim  161 Hauptmann, Elsa  240 Hauptmann, Gerhard  79 Hedin, Sven  83 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  85 Heinel, Inge  246 Heinemann, Gustav  100 Heinze, Rudolf  109 Helsinki  349 Hensel, Kerstin  356 Herbert, Ulrich  195 Hermann, Moritz  225 Herschberg, Hans  231 Hertling, Georg, Gf. v.  18–22, 24, 26, 31–34, 36, 38, 45, 72 f. Herzegowina  70 Herzog, Juda  226



Personen- und Ortsregister

Heß, Rudolf  190, 191 Heumann, Carl  254 Heym, Stefan  7, 337, 352 f. Hilbersdorf  264, 266 f., 273 Hillgruber, Andreas  284 Hillmann, Fred  231 Himmler, Heinrich  287, 307 Hindenburg, Paul v.  25, 29, 35, 39 f., 43, 49, 122, 152, 162, 288 Hintze, Paul v.  73 Hitler  56, 140, 151, 162, 172–176, 178 ff., 183–186, 191, 193 f., 207, 231, 261 f., 270, 274, 283–289, 292–297, 306 f., 332, 346 Hlond, August  319 Hobhouse, L.T.  83 ff. Hofmannsthal, Hugo v.  14 Hohenschönhausen  346 Hohenthal, Wilhelm Gf. v.  104 Holtzendorff, Hans Gf. v.  56 Horn, Anna  250, 316 Hötzendorf, Franz Gf. Conrad v. [meist: Conrad, Franz]  60 House, Edward  67 Hoyerswerda  344 Humperdinck, Engelbert  79 Huntington, Samuel  129 Imgrund, Jean  214 Indien  45, 57, 83, 298 Ingolstadt  211 Iswolski, Alexander  59 Italien  2, 42, 63, 66, 123, 127 f., 137 ff., 283 Jagow, Gottlieb v.  65 Jalta  318, 337, 345 Japan  40, 42 f., 65 f., 118, 139, 178, 184, 187 Java  45 Jena  263 Jeschonnek, Hans  261 Johannsen, Ernst  158

365

Joho, Wolfgang  351 Jones, Gwyn  144 Jugoslawien  185, 229, 299, 301, 304 f., 309, 322 f. Julians, Rupert  156 Jünger, Ernst  132, 154, 163 Jungmann, Hermann  247 Kalisch  43 Kamenz  341 Karl I., Ks. v. Österreich/Karl IV., Kg. v. Ungarn (1887–1922)  70 f., 136 Karpato-Ukraine  317 Kars  52, 185 Kaßberg  218 f., 227, 231 ff. , 240 Katz, Max  247 Katzenstein, Ludwig  222, 248 Kaukasus  52, 55 f., 113, 123 Keil, Wilhelm  100 Keitel, Wilhelm  188 Keller, Mathilde Gfin v.  101 Kennan, George F.  1 Keynes, John Maynard  114, 125, 127, 143 Kiautschou  65 Kielce  308, 320 Kiew  38, 48 f., 55, 188 Kjellen, Rudolf  83 Kleinberg, Hans  231 Kleinberg, Josef u. Hermann  231 Klüfer, Kurt v.  162 f. Koblenz  18 f., 63, 286 Koch, Erich  286 f., 311 Koch, Hans  14 Kochmann, Rudolf  224 Kohl, Helmut  163 Köln  206, 237, 284 Königsberg i. Pr.  37, 268, 294 f., 311, 313, 318, 323 Königstein  341 Kopelew, Lew  291, 311 Körner, Theodor  295 Kracauer, Siegfried  158

366

Personen- und Ortsregister

Krauß, Angela  355, 357 Krebs, Hans  179 Kress v. Kressenstein, Friedrich v.  123 Kresy  308 Krim  55, 123 Kroatien  301, 311 Kropotkin, Pjotr  82 Krumeich, Gerd  14, 75 Krylenko, Nikolai  51 Küchwald  225, 239 Kühlmann, Richard v.  31, 46–49, 52, 54, 73 Kuntzen, Heinrich  232 Kunze, Otto  163 Kunzewo  193 Kurland  25–34, 36, 43 f., 52, 337 Küstrin  311 Lachmann, Alfred  247 Lachmann, Hedwig  237 Lamsdorf/Łambinowic  319 Lamprecht, Karl  79 Langsam, David  228 Lansing, Robert  70, 74 Lausanne  135, 326 Lawenda, Erich u. Zalko  236 Lawenda, Ruth   213 f., 219, 228 ff., 233 f., 241, 245 f., 256 Leipzig  4, 14, 97 f., 152, 200, 215, 217, 235, 237, 244, 270, 273 f., 279, 341 Leitmeritz  204, 208 ff. Lemberg  181, 188 f., 231, 297, 304 f. Lemkin, Raphael  300 Lengenfeld (ErzGeb.)  252 f. Lenin, Wladimir Iljitsch  45–48, 53, 56, 72, 137, 352 Leningrad  188 Lenk, Georg  201 Leonhard, Jörn  1 Lettland  135 Leyser, Felix  226 Lichtenstein, Curt  238 Liebermann, Max  79

Lipp, Adolf  239, 243, 255 Litauen  25–38, 43 f., 108, 135 Litten, Wolfgang  224 Litwinow, Maxim  183 Livland  34, 36, 52 Lloyd George, David  56, 61 f., 71, 126, 140 ff., 148, 258 Lobeck, Leonore  354 Löhlein, Heinrich  79 Löhr, Christian  354 London  59, 61, 72 f., 82, 137, 184, 190 f., 221, 225, 261, 267, 316 Lothringen  128 Louis Ferdinand v. Preussen  100 Löwen  81 Löwenstein, Max Moses  235 Lublin  25, 215, 244, 246 Lucas, George  165 Luckner, Felix Gf.  152 Ludendorff, Erich  25, 29, 32 f., 36, 38–57, 107, 122 f., 139, 152, 288 Ludwig II. v. Bay. (1845–1886)  111 Ludwig III., Kg. v. Bay. (1845–1921).  18, 99, 102 Luise, Kronprinzessin v. Sachsen  101 Luther, Martin  79 Lüttich  19, 40 Luzern  221 MacDonald, Ramsay  149 Machins, Alfred  146 Macmillan, Margaret  141 Magdeburg  4, 8 f., 11 Magenheimer, Heinz  173 Maiski, Ivan  191, 193 Majdanek  246 Malmédy  132 Mandel, Aron  226 Mann, Thomas  137 Mannheim, Max  222 Manstein, Erich v.  170 Marie Adelheid, Ghzin v. Luxemburg  21



Personen- und Ortsregister

Markkleeberg  341 Marokko  59 Maser, Werner  173 Maurer, Trude  75 Maurois, André  155 Max von Baden  73, 122 Mecklenburg  24, 292 Mecklenburg, Hans  235 Meerane  225, 237 Meinecke, Friedrich  79 Meißen-Neuhirschstein  341 Meltjuchov, Michail  174 Memel  37, 118, 286, 299 Mertens, Peter  3 Michaelis, Georg  31, 71 f. Milestone, Lewis  156 Miller, Israel  226 Minsk  51, 189 Mitterrand, François  163 Mittweida  213, 226, 229, 241, 256, 341 Mlawa  43 Molotow, Wjatscheslaw  175, 180, 184 ff., 193 Moltke [d. J.], Helmuth v.  40, 42, 329 Mommsen, Hans  196 Morgenroth, Rosa  231 Moskau  51, 172, 179, 184 f., 187, 191, 194, 273, 313, 340, 348 Mosley, Oswald  149 Motulski, Emil, Frieda  246 Mühlberg  346 Muirhead, John Henry  85 f. Müllerschön, Nikolai  159 München  17, 19, 25, 34, 36, 39, 72, 99, 117, 125, 178, 183, 208, 228, 273, 287, 289, 304, 329 Münster  116 Mutschmann, Martin  201 Nagel, Paul Artur  28 Naimark, Norman  301, 318, 321 Namur  19 Napoleon  84, 117

367

Narwa  52, 57 Naundorf  8 Nemmersdorf  287, 311 Neu-Guinea  45 Neuilly  135 Neumeyer, Manfred u. Ruth  229 Neuruppin  161 Nevezin, Vladimir  174 New Orleans  219 Niesky  335, 341, 344 Nikolaus II., Zar v. Russland (1868–1918)  29, 45, 54, 60 f., 64 f., 71, 108, 288 Nogi, Maresuke  120 Nordhausen  8 Nordschleswig  133 Nossen  341 Oberschlema  357 Oberschlesien  285, 317 f. Odessa  188 f. Oederan  207, 341 Oklahoma  302 Olbernhau  213, 229 f., 233 f., 241 f., 256 Oppenheim, Louis  88 Orlando, Vittorio  127 Oschersleben  4 Osnabrück  116 Österreich  4, 27, 41–44, 46, 52 ff., 59, 62 f., 67 f., 82, 99, 105, 118, 123, 129, 135, 326 Osterwieck  4 Ostpreußen  43, 83, 128, 133, 286 f., 291 f., 311 ff., 316, 318, 325 Ostrolenka  43 Overmans, Rüdiger  306 Pabst, Georg Wilhelm  158 Palästina  113, 123, 135, 235, 236 Paris  57, 61 ff., 70, 74, 113, 118, 132, 134, 136, 138, 163, 205, 283 Paul, Heinz  162 Peretz, Albert  247

368

Personen- und Ortsregister

Persien  52 Pétain, Philippe  163, 169 Peter I., Kg. v. Serbien (1844–1921)  60 Petersburg  40, 45 Pfeffer, Gerta  229 Pietrow-Ennker, Bianka  176 Pillau  37, 292 Piper, Ernst  1 Pirna-Sonnenstein  245, 341 Pittsburgh  82 Plaue  222 Plauen  159, 215 f., 240, 242, 244, 249 f., 252, 273, 279, 341 Plechanov, Georgi  82 Pleß  67 Poincaré, Raymond  59 f., 136 Poiriers, Leon  157 Polen  1, 20, 23, 25–28, 32, 36, 42 f., 52, 63, 66 f., 69, 132, 134, 135, 174, 180, 183, 205, 229 ff., 300, 302, 305, 307 ff., 313 f., 315, 325, 341, 344, 348 Pollini, Erwin  249 Poltawa  272 Pommern  292, 310, 324 Pommeroy, Roy  157 Port-Artur  120 Portsmouth VA  118 Post, Walther  173, 246, 307 Potsdam  78, 304, 320, 323, 334, 345 Pressburg  118 Primo, Georg  249 Pripjat (Fluss)  182, 187 Prosskurow  189 Pskow  189 Rabenstein  270 f. Radtke, Eugen  162 f. Rapallo  72, 139 Raspe, Paul  254 Rathenau, Walter  41 f., 134 Ravensbrück  207 Reich, Sally  218

Reicke, Georg  79 Reiter, Gilel  235 Remarque, Erich Maria  153, 157 f. Renn, Ludwig [Arnolt Vieth v. Golßenau]  153 Renner, Karl  99 Rhine  143 Richthofen, Manfred v.  152, 261 Riehl, Alois  79 Rochlitz  341 Rocque, François de la  150 Rohr, Willy  164 Rom  66, 294 Roosevelt, Franklin Delano  316 Rothenburg  344 Rotstein, Siegmund  213, 252 Rottluff, Erika   213, 233, 256, 270 Rumänien  42, 44 f., 54, 67, 114, 176, 185 f., 283, 305, 322 Rupprecht v. Bay., Kronprinz  26, 45 Russell, Bertrand  92 Rußland  40, 42, 44–47, 52 f., 64, 66, 171 Ryle Hopps, Harry  90 Sachsen  1, 3–6, 9–11, 13, 17, 20–37, 97–99, 101, 102, 104, 106–110, 129, 130, 198, 201, 207, 208, 212, 220, 222, 225, 228, 249, 259, 277, 279, 280, 327, 333–337, 340–345 Sachsenburg  222 f., 225, 341 Sander, Richard  241 Sasonow, Sergeij  59–62, 65 Scapa Flow  143 Schaper, Fritz  82 Schapira-Kartuson, Mera  251 Schauwecker, Franz  154 Scheil, Stefan  173 Schelde  169 Schindler, Max  234 Schlema  356 f. Schlesien  133, 314 Schleswig-Holstein  292



Personen- und Ortsregister

Schlögel, Karl  298, 300, 304, 309, 326 Schmid-Wildys, Ludwig  159 Schmoller, Gustav  79 Schoen, Wilhelm v.  17 Schönau  229, 281 Schönbrunn  118 Schönheide  341 Schottland  190 Schukow, Georgi  171, 174, 175, 182, 187 ff., 191 Schulenburg, Gf. Friedrich-Werner v. d.  179 Schumny, Adolf  220 Schwarzwald, Susanne  248 Schweden  42, 213 Schweighöfer, Matthias  159 Schwerd, Friedrich  164 Schwerin, Ulrich Karl Wilhelm v.  36 Seeckt, Hans v.  134 Seghers, Anna  351 Seiffen  105 Seifhennersdorf  341 Seldte, Franz  13 Sèvres  135 Seydewitz, Ernst v.  23, 27, 32 Shantung  65 Shitomir  189 Sibirien  42, 293 Sibyllenort  110 Siegmar  198 f., 204, 229, 267, 269, 271 f., 277, 281 f. Silberstein, Deborah  237 Simmel, Georg  77 Simon, Eugen  249 Simon, Johanne  249 Simon, Käthe  248 Sixtus, Prinz v. Bourbon-Parma  70 Skoropadskyj, Pavlo  49 Smuts, Jan Christiaan  72, 260 Solschenizyn, Alexander  290 Somme  43, 130, 146, 156 Sonder, Justin  248 f.

369

Sonder, Leo  66, 213, 248, 250 Sowjetunion (UdSSR)  135, 138, 168 f., 171 f., 178, 180, 183–187, 192, 268, 274, 281, 284 f., 289, 292, 305, 307, 309 f., 316 f., 321, 323, 333, 335 f., 339, 342–347, 356 Spa  35, 107 Spear, Fred  94 Speer, Albert  203 f., 296 Spielmann, Max  228 Spoerer, Mark  195 Spremberg  335 St. Petersburg  29, 31, 60, 62 Stalin, Josef  171–181, 183–194, 270, 284–289, 293, 309, 311, 315–317, 322, 335, 338, 340 Stein, Max  219 Steinberg, Hans Erich  237 Stendal  4 Sternberg, Adalberg Gf.  99 Sternschuß, Moses  226 Stettin  237, 324 Stieglitz, Robert v.  20 ff. 24 Stirner, Max  86 Stockholm  65 f. Stresemann, Gustav  54, 139 Strothmann, Frederick  91 Stryi  231 Stuttgart  20, 100, 197, 213, 297 Südafrika  83, 235 Sudermann, Hermann  79 Sudetenland  304, 312, 321, 323, 344, 346 Südslowakei  321 Sumatra  45 Suwałki  25 Suworow, Viktor [alias Wladimir Resun]  173 Thale  4, 10 Theresienstadt  208, 244, 249 ff., 254, 321 Thomale, Wolfgang  288

370

Personen- und Ortsregister

Thorn  43, 234 Tilsit  118, 295 Timoschenko, Semjon  171, 174 f., 188, 191 Tirol  105 Tirpitz, Alfred v.  152 Tisch, Reiner  171, 316 Tokio  66, 191 Topitsch, Ernst  173 Torgau  334 f., 337, 340, 346 Treblinka  250 Treitschke, Heinrich v.  82, 86 Trenchard, Hugh  260 ff., 265 Trianon  114, 135 Troeltsch, Ernst  95 Trotzki, Leo  48 f. Tschechoslowakei  135, 208, 304 f., 307, 309, 314, 316 f., 320–324, 352 Tschitschernin, Georgi  139 Tuchatschewski, Michail  179 Türkei  44, 53, 56, 135, 185, 316 Ucickys, Gustav  159 Ukraine  1, 48 f., 52–56, 135, 272, 286 f., 319 Ungarn  25, 27, 41–44, 46, 52 f., 59, 63, 67 f., 114, 122 f., 129, 135 f., 139, 186, 247, 283, 304, 305, 309, 321 ff. Urach, Wilhelm Hzg. v.  30, 38 Urban, Thomas  319, 327 USA, Vereinigte Staaten  67, 70, 78, 81, 91, 94, 121, 127 f., 137, 140, 146 f., 149, 194, 198 f., 219, 235, 254, 270, 302, 321 Ústí nad Labem [Aussig a. d. Elbe]  320 Utrecht  116 Venusberg  341 Verdun  10, 130, 133, 153 ff., 157, 160–164 Versailles  15, 113–119, 121 f., 125–128, 130–144, 284 Villa Giusti  123

Villach  229 Vitzthum v. Eckstädt, Christoph Joh. Fr., Gf.  20 ff., 24–34, 36, 38, 107 f. Wagner, Richard  111 Waldheim  226, 346 Walrauch, Salomon  219 Wandt, Heinrich  154 Warschau  25, 36, 50, 135, 183, 308 Washington  67 f., 73 Watutin, Nikolai  187 Weber, Marianne  77 Weber, Max  39 Weddigen, Otto  161 Wedgwood, Josiah  78 Wehberg, Hans  87 Wehler, Hans-Ulrich  137 Wehner, Josef Magnus  154 Weichsel  136, 311, 320 Weimar  78, 228, 240 Weiss, Nessaniel  226 Weißwasser  335, 341, 344 Weizsäcker, Carl Frhr. v.  19 Wellmans, William  156 Werner, William  203 Wernigerode  4 Werth, Leon  155 Wertheim, Willy  225 Wever, Walter  261 Weygand  169 Wieselberg, Simon  250 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich v.  79 Wilhelm II., dt. Ks. (1859–1941)  6, 17–19, 28–30, 34–36, 39, 48, 49, 51, 56, 64, 67, 68, 100, 102 f., 107, 110, 140 f., 154, 162 Wilischthal  207 Wilna  9, 17, 19, 21, 23, 25, 27 ff., 31, 33, 36 ff., 136 Wilson, Woodrow  67–70, 73 f., 121 f., 127 f., 149 Windelband, Wilhelm  79

Wischljew, Oleg  176 Wittenberg  8 Wolf, Henry  254, 357 Wolff, Else  224 Wolkenburg  341 Worms  302 Wundt, Wilhelm  76 f., 79

Personen- und Ortsregister

371

Zayas, Alfred de  289, 304, 325 Zbaszyn (dt. Bentschen)  230 Zöberlein, Hans  154 Zschopau  207, 246, 341 Zwickau  198, 207, 215, 226, 244, 249, 252, 341 Zylberstein, Chana  242