Räume zwischen Kunst und Religion: Sprechende Formen und religionshybride Praxis 9783839446720

A renewed attention to artefacts is one of the consequences of the spatial turn. Searching for religion in such phenomen

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German Pages 240 Year 2019

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Räume zwischen Kunst und Religion: Sprechende Formen und religionshybride Praxis
 9783839446720

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Kunsträume
I. Materialität und die Produktion von Bedeutung
Interphänomenalität. Zum Erscheinungsverhältnis von Gesellschaft
Wider die „entadelte Kunst“ der Industrie1 Zum Verhältnis von Kunst, Handwerk und Industrie im kirchlichen Milieu des 19. Jahrhunderts
Objekte zwischen Kunst und Ritual
II. Räume der Zeit, der Systeme und des Verstehens
Die Erfahrungsräume ‚Kunst‘ und ‚Religion‘ Überlegungen zu ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen
„Am Nullpunkt der Religion“. Kunst in der Kirche
Bilder des Zen – Möglichkeitsräume
III. Kunstpraxis in der Region
Kunstvermittlung in Mecklenburg-Vorpommern Ein Bericht aus der Praxis
Das Modell Künstlerhaus – Über die Freiheit fremd zu sein und fremd zu bleiben
Kunst und Kirche im Lassaner Winkel Galerie in der Kirche St. Johannis zu Lassan
Eine Synthese aus angewandter Kunst und Trauerarbeit Fallanalyse
IV. Kultur zwischen Kunst und Religion
Kunst-Religion. An den Grenzen des Unterscheidbaren
Kunst, Raum und Religion – Ein Fazit
Autorinnen und Autoren

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Antje Mickan, Thomas Klie, Peter A. Berger (Hg.) Räume zwischen Kunst und Religion

 | Band 1

Editorial Religion ist ein Kulturphänomen. Sie zeigt sich in Kunst und Gesellschaft, in Ethos und Recht, in Sprache, Konsumkultur, Musik und Architektur. Eine Deutung spätmoderner Religion wird sich darum immer auch auf weitere Segmente der Gegenwartskultur einlassen müssen. Dies gilt auch und gerade aus der Perspektive der Religionsforschung innerhalb und außerhalb von Theologie. Jenseits der überkommenen polarisierenden Orientierungen am isolierten Subjekt oder am dogmatischen Normenkanon rückt Religion als dynamische Ausdrucksform performativer Praxis ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Religionswissenschaft, Praktische Theologie und Kulturwissenschaft stellen sich dieser Aufgabe in je spezifischen Theoriezugriffen. Dabei werden Differenzen und Deutungskonflikte, Geltungsansprüche und Übergänge kenntlich gemacht und aufgeklärt. Denn die Frage nach religionskulturellen Formaten korreliert mit der nach religiösen Traditionen, theologischen Normierungen und sozialen Zuschreibungen. Diskurse zu Religion werden so in Bezugnahme auf religionstheoretische Fragehorizonte zum Gegenstand interdisziplinären Austauschs – empirisch, philologisch und historisch vergleichend. Die Bände dieser neuen Reihe widmen sich in unterschiedlicher Weise kulturellen Phänomenen und deuten sie semiotisch und ästhetisch in ihrer geschichtlich gewordenen Gestalt. Im Horizont fachlich gebundener Herangehensweisen wissen sich die Herausgeberin und die Herausgeber in besonderer Weise der Frage nach der Relevanz ihres Gegenstands verpflichtet. Die Reihe wird herausgegeben von Klaus Hock, Anne Koch und Thomas Klie.

Antje Mickan, Thomas Klie, Peter A. Berger (Hg.)

Räume zwischen Kunst und Religion Sprechende Formen und religionshybride Praxis

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© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildungen: Ines Diederich: Geschichten vom Goldenen Flies (www.inesdiederich.de) Satz: Frank Hamburger, Rostock Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4672-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4672-0 https://doi.org/10.14361/9783839446720 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort  | 7 Einleitung: Kunsträume

Antje Mickan/Thomas Klie/Peter A. Berger  | 9 I  Materialität und die Produktion von Bedeutung Interphänomenalität. Zum Erscheinungsverhältnis von Gesellschaft

Joachim Fischer  | 21

Wider die „entadelte Kunst“ der Industrie Zum Verhältnis von Kunst, Handwerk und Industrie im kirchlichen Milieu des 19. Jahrhunderts

Uta Karstein  | 45

Objekte zwischen Kunst und Ritual

Aida Bosch  | 69

II  Räume der Zeit, der Systeme und des Verstehens Die Erfahrungsräume ‚Kunst‘ und ‚Religion‘ Überlegungen zu ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen

Andreas Mertin  | 97

„Am Nullpunkt der Religion“. Kunst in der Kirche

Oliver Zybok  | 113

Bilder des Zen – Möglichkeitsräume

Hans-Georg Soeffner  | 131

III  Kunstpraxis in der Region Kunstvermittlung in Mecklenburg-Vorpommern Ein Bericht aus der Praxis

Susanne Burmester  | 157

Das Modell Künstlerhaus – Über die Freiheit fremd zu sein und fremd zu bleiben

Miro Zahra  | 167

Kunst und Kirche im Lassaner Winkel Galerie in der Kirche St. Johannis zu Lassan

Ulrike Seidenschnur  | 175

Eine Synthese aus angewandter Kunst und Trauerarbeit Fallanalyse

Antje Mickan/Thomas Klie  | 189

IV  Kultur zwischen Kunst und Religion Kunst-Religion. An den Grenzen des Unterscheidbaren

Antje Mickan  | 207

Kunst, Raum und Religion – Ein Fazit

Norbert Fischer  | 233

Autorinnen und Autoren  | 237

Vorwort

Eine Nähe von Kunst und Kunsthandwerk zu Religion zeigt sich insbesondere, wenn Artefakte für die Vermittlung religiöser Inhalte hergestellt werden, wie dies in christlicher Tradition eine vertraute Praxis ist. Doch spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts tritt Kunst aufgrund ihrer Funktion, etwas dem Wesen nach Unsichtbares sichtbar zu machen (Luhmann), freilich auch immer wieder in Konkurrenz zur überkommenen Religion: teils religionskritisch, teils mit unabhängigen Entwürfen neuer Sinnwelten – und stets im Bemühen, außeralltägliche Erlebnisräume in künstlerischer Eigenverantwortung zu erschaffen. Selbst in Regionen, die sich mehrheitlich längst von kirchlicher Religion emanzipiert haben, wählen Kunsthandwerker und Künstlerinnen für die Präsentation ihrer Werke nicht selten sakrale Orte wie Kirchen, Klöster oder die dort veranstalteten (Kloster-)Märkte. Gleichzeitig kommt es zur Vor- und Ausstellung, Vor- und Aufführung religionshaltiger Kunst in säkularen Räumen – in Funktionsgebäuden, Werfthallen, öffentlichen Foyers oder Entrees. So entstehen eigenwillige Resonanzen zwischen heterogenen symbolischen Ordnungen mit ihren je eigenen Sichtweisen von Welt und Wirklichkeit, die in „Religionshybriden“ Struktur annehmen können. Solche Resonanzen im interdisziplinären Austausch anschaulich zu machen, zu hinterfragen und im Zusammenhang theoretischer Reflexionen zur (Re-)Konstruktion von Räumen zwischen Kunst und Religion zu diskutieren, war Thema eines Workshops, der am 24./25. März an der Universität Rostock stattfand. Er bildet das Initial für den vorliegenden Band und wurde durch das DFG-Projekt „Märkte des Besonderen. Religionshybride Netzwerke in Mecklenburg-Vorpommern“ ausgerichtet. Ein ganz besonderer Dank sei an dieser Stelle ausgesprochen. Er gilt Frank Hamburger für seine gewohnt umsichtige Erstellung der Druckvorlage sowie Matthias Frenzel für seine Unterstützung der editorischen Arbeit. Rostock, im Herbst 2018 Antje Mickan/Thomas Klie/Peter A. Berger

Einleitung: Kunsträume Antje Mickan/Thomas Klie/Peter A. Berger

Der spatial turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften seit den 1980er Jahren1 bedeutete eine Wende zu einem eher relational verstandenen Raumbegriff und hin zu einer analytischen Kategorie Raum,2 die zu differenzierteren Wahrnehmungen soziokultureller Beziehungsgefüge führte.3 Raumtheoretische Fragen nach dem, wie konkrete Orte eingerichtet sind und was in soziokultureller Hinsicht dadurch ermöglicht oder verunmöglicht wird, erbringen neue Antworten betreffs der Funktion von Räumen. Sie zeigen andererseits aber auch die Relevanz der materialen Raumelemente mit den ihnen zugesprochenen kulturellen und individuellen Bedeutungen.4 Es spricht viel dafür, dass eine aktuelle Tendenz in kultursoziologischer Forschung, Artefakte, Architekturen und Körper stärker zu thematisieren, 1 Vgl. Günzel, Stephan: Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung, Bielefeld 2018, S. 7-24.107-140 sowie insgesamt den Band von Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2009.

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2 Vgl. Quadflieg, Dirk: „‚Zum Öffnen zweimal drehen‘. Der spatial turn und die doppelte Wendung des Raumbegriffs“, in: Suzana Alpsanca/Petra Gehring/Marc Rölli (Hg.), Raumprobleme. Philosophische Perspektiven, München 2011. 3 Als exemplarische aktuelle Beispiele vgl. u.a. Böhme, Gernot: Atmospheric architectures. The aesthetics of felt spaces, London u.a. 2018; Leineweber, Ann-Kathrin: Frühkindliche Kompetenzentwicklung im Bereich Raum und Form. Eine vergleichende Interviewstudie in niedersächsischen Kindertagesstätten und Grundschulen, Hildesheim 2018; Beck, Christian/van Rießen, Anne/Knopp, Reinhold/Schlee, Thorsten: Sozialräumliche Perspektiven in der stationären Altenhilfe. Eine empirische Studie im städtischen Raum, Wiesbaden 2018. 4 Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 92017, S. 191-194; Tervooren,Anja/Kreitz, Robert (Hg.), Dinge und Raum in der qualitativen Bildungs- und Biografieforschung, Opladen, Berlin, Toronto 2018.

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auch eine Konsequenz dieses Wissenschaftsdiskurses darstellt.5 Dabei können sich raumtheoretische Perspektiven ebenso auf geografisch bestimmbare Orte menschlicher Interaktion (z.B. Einkaufszentrum, Friedhof, Kunsthalle) wie auf Strukturen einer Vergemeinschaftung (z.B. Vereine, Netzwerke, Gemeinden) beziehen.6 Und weitet man den Blick auf die gesellschaftliche Ebene, so sind gleichfalls Fragen nach der Struktur und Funktion sozialer Systeme bzw. Felder (z.B. Kunst, Religion) raumtheoretisch zu begreifen.7 Nach Pierre Bourdieus Theorie sozialer Felder, die ein Resultat aus seinen sich überlagernden Forschungen zu Kunst und zu Religion darstellt,8 konstituieren sich diese immer wieder neu in Positionskämpfen von im Feld Agierenden.9 Es geht um die Macht, den Wert von Gütern und die Regeln für Handlungszusammenhänge zu bestimmen,10 mithin zu beeinflussen, was das Integral bzw. den geteilten

5 Vgl. u.a. Karstein, Uta/Schmidt-Lux, Thomas (Hg.): Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen, Wiesbaden 2017; Lueger, Manfred/Froschauer, Ulrike (Hg.): Artefaktanalyse. Grundlagen und Verfahren, Wiesbaden 2018; Gugutzer, Robert/ Klein, Gabriele/Meuser, Michael (Hg.): Handbuch Körpersoziologie, Bd. 1: Grundbegriffe und Theoretische Perspektiven, Bd.2: Forschungsfelder und methodische Zugänge, beide Wiesbaden 2017 sowie Bosch, Aida: Konsum und Exklusion. Eine Kultursoziologie der Dinge, Bielefeld 2010. 6 Vgl. Christmann, Gabriela B.: „Das theoretische Konzept der kommunikativen Raum(re)konstruktion“, in: Dies. (Hg.), Zur kommunikativen Konstruktion von Räumen. Theoretische Konzepte und empirische Analysen, Wiesbaden 2016, S. 89-117; ferner Hitzler, Ronald/Niederbacher, Arne: Leben in Szenen. Formen juveniler Vergemeinschaftung heute, Wiesbaden 32010. 7 Vgl. u.a. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der Gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1982. – Vgl. zum Thema des Bandes ferner Grüter, Verena: Klang – Raum – Religion. Ästhetische Dimensionen interreligiöser Begegnung am Beispiel des Festivals Musica Sacra International, Zürich 2017; Beinhauer-Köhler, Bärbel/ Franke, Edith/Frateantonio, Christa/Nagel, Alexander (Hg.): Religion, Raum und Natur. Religionswissenschaftliche Erkundungen, Berlin 2017. 8 Vgl. Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort, Frankfurt a.M. 1992, S. 36. 9 Einen instruktiven und kritischen Überblick mit zahlreichen Verweisen auf Primärquellen zu Bourdieus Feldtheorie geben Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot: „Feld“, in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hg.), Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2009, S. 99-103. 10 Zu Bourdieus Kapitalbegriff vgl. Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot: „Kapital“, in: B. Fröhlich/G. Rehbein (Hg.), Bourdieu (2009), S. 134-140; Miebach, Bernhard: Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung, Wiesbaden 42014, S. 453-462.

Einleitung: Kunsträume | 11

Glauben (Illusio)11 ausmachen soll, der alle Beteiligten im Feld verbindet. Von der Deutungsmacht von Institutionen der Felder ist also die Stabilität der jeweiligen Feldstruktur abhängig. Wo diese Deutungsmacht schwindet oder infrage gestellt wird, kommt es auch zu Neuaushandlungen temporär etablierter Feld-Grenzen. Aufgrund des Bedeutungsverlustes kirchlicher Institutionen für ehemals zu ihren Kernaufgaben gehörende Praktiken konstatiert Bourdieu für die späte Moderne eine Erweiterung des religiösen Feldes wie sie ähnlich die Kunsthistoriker Jutta Held und Norbert Schneider für das Kunstfeld beschreiben.12 Zumal Bourdieu seinen Feldbegriff in deutlicher Nähe (bis hin zur synonymen Verwendung) zum Marktbegriff entwirft,13 bieten sich gerade an diese Konzepte erweiternde Anschlüsse mit einer sozialökonomischen Ausrichtung an. Eben hier setzt das Forschungsprojekt an, in dessen Rahmen dieser Band herausgegeben wird . In diesem Projekt geht es darum, wie sich Religion in Phänomenbereichen darstellt, die auf den ersten Blick kaum oder gar nicht mit Religion in Verbindung gebracht werden. Ziel ist es dabei, gewissermaßen die Ränder des religiösen Feldes neu zu vermessen – und dies in einer Region, die sich mehrheitlich von kirchlicher Religion emanzipiert hat. Die neuen Bundesländer, in unserem Fall: Mecklenburg-Vorpommern, bieten sich insofern für die empirische Religionsforschung an, als hier die Transformationsprozesse einer nach-christlichen Religionskultur exemplarisch verdichten.

RELIGIONSHYBRIDE UND MÄRKTE DES BESONDEREN An den Rändern des erweiterten religiösen Feldes sind soziale Praktiken zu beobachten, die jenseits von dogmatisch verfasster Religion zwischen Teilreligiosität, Religionsanalogie bzw. -äquivalenz oder auch sich explizit abgrenzender Nicht-Religion changieren. Potentiell können sie sich dem religiösen Kernfeld 11 Zu Bourdieus Konzept der Illusio als einem handlungsleitenden Praxis-Sinn, der die Funktion eines sozialen Feldes bestimmt, vgl. B. Miebach: Handlungstheorie 42014, S. 455-458; ferner Böning, Marietta: „Illusio“, in: B. Fröhlich/G. Rehbein (Hg.), Bourdieu (2009), S. 129f. 12 Zum erweiterten religiösen Feld vgl. Bourdieu, Pierre: „Die Auflösung des Religiösen“, in: Ders., Religion, Schriften Bd. 13, Frankfurt a.M. 2011, S. 243-249 sowie zur Erweiterung des Kunstfeldes vgl. Held, Jutta/Schneider, Norbert: Grundzüge der Kunstwissenschaft, Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder, Köln 2007, S. 44-60. 13 Vgl. B. Rehbein/G. Saalmann: „Feld“, S. 100; Holder, Patricia: „Markt“, in: B. Fröhlich/G. Rehbein (Hg.), Bourdieu (2009), S. 179-185.

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(kirchlich institutionalisierte Religion) entsprechend ausdifferenzieren, doch ebenso mag ihre signifikante Relation zum Religiösen an Bedeutung verlieren und sich in religiöse Indifferenz wandeln. Die interdisziplinäre Rostocker Forschungsgruppe unter Leitung von Peter A. Berger (Makrosoziologie), Klaus Hock (Religionswissenschaft) und Thomas Klie (Praktische-Theologie) fasst derartige Ausdrucksweisen unter das Konzept der Religionshybride.14 Mit einem ersten DFG-Projekt zu hybrider Religiosität in Kirchbau- und Gutshausvereinen sowie alternativen Gemeinschaften (2011-13) legten sie einen Grundstein für die theoretische Beschreibung dieser neuen Formen.15 Von besonderer Bedeutung ist dabei die Fokussierung auf Mecklenburg-Vorpommern, somit auf den spezifisch ostdeutschen bzw. DDR-Kontext, in dem 40 Jahre lang religiöses Wissen und religiöse Haltungen systematisch delegitimiert wurden.16 Für die Forschungsgruppe standen von Beginn an symbolische Orte im Fokus, die sich durch „Identität, Relation und Geschichte“17 auszeichnen und damit eine Kontrastfolie zu den von Marc Augé beschriebenen Nicht-Orten (z.B. Einkaufszentren, Flughäfen) bilden, welche durch ihre starke Zweckausrichtung jeder anthropologischen Funktion entbehren.18 Unter anderem stellte sich im Forschungsverlauf für die Region Mecklenburg-Vorpommern heraus, dass die Bildung von Netzwerken und das Agieren auf Märkten in den Bereichen Heilung und Heil, Ökologie und Spiritualität sowie Kunsthandwerk und spirituelle Kunst von signifikanter Bedeutung für die Herausbildung von Religionshybriden sind. Dieses Ergebnis bildet nun die Basis für das 14 Vgl. Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas: „Religionshybride. Zur Einführung“, in: Dies. (Hg.): Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden 2013, S. 7-45, hier bes. S. 21-29. 15 Vgl. Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie (Hg.), Thomas Hybride Religiosität – posttraditionale Gemeinschaft. Kirchbauvereine, Gutshausvereine und alternative Gemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin 2014. 16 Vgl. Karstein, Uta: Konflikt um die symbolische Ordnung. Genese, Struktur und Eigensinn des weltanschaulich-religiösen Feldes in der DDR, Würzburg 2013; Wohlrab-Sahr, Monika/Karstein, Uta/Schmidt- Lux, Thomas: Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands, Frankfurt a.M. 2009; Schmidt-Lux, Thomas: Wissenschaft als Religion. Szientismus im ostdeutschen Säkularisierungsprozess, Würzburg 2008. 17 Augé, Marc: Orte und. Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt 1994, S. 92. 18 Vgl. ebd.; Liszka, Arnaud: Heimweh nach einer besseren Welt. Die Kraft der Wiederverzauberung an symbolischen Orten, in: P.A. Berger/K. Hock/Th. Klie (Hg.), Religionshybride (2013), 135-150.

Einleitung: Kunsträume | 13

DFG-Projekt „Märkte des Besonderen. Religionshybride Netzwerke in Mecklenburg-Vorpommern“, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist.19 Neu ist hier die religionstheoretische Operationalisierung der Marktmetapher, die sich an den französischen Sozialökonomen Lucien Karpik anschließt. Nach Karpik lassen sich Elemente von Pierre Bourdieus Konzept des erweiterten religiösen Feldes durchaus auch wirtschaftssoziologisch transformieren. Denn im Mittelpunkt steht das Handeln mit symbolischem Kapital,20 was – in nicht-metaphorischer Interpretation21 – einem Handel mit singulären Produkten (z.B. künstlerische Artefakte oder alternative Heilungsangebote) nach einer Ökonomie des Einzigartigen exemplarisch entspricht.22 Sie lässt sich nur angemessen erfassen, wenn für dieses besondere Marktsegment neo-klassische Marktvorstellungen, die auf Relationen von Angebot und Nachfrage ausgerichtet sind, überwunden werden. Für die Werteinschätzung derart einzigartiger Produkte und Dienstleistungen kann kein verallgemeinerbares Wissen herangezogen werden, stattdessen dienen Netzwerke, Professionen und Experten als Instanzen zur Bildung von Urteilskraft und Vertrauen, das heißt als Basis für eine solche Einschätzung. Mit Blick auf die Märkte von Kunsthandwerk und spiritueller Kunst richtet sich im Forschungsprojekt „Märkte des Besonderen“ die Leitfrage darauf, in welcher Weise hier Aushandlungsprozesse der Grenzziehungen zwischen einem erweiterten religiösen Feld und einem künstlerischen Feld zu beobachten sind. Wo geht Religion in Kunst, Kunst in Religion über, wo entstehen hybride, möglicherweise religionsästhetische Formen? Dafür sind nun auch ökonomische Aspekte relevant: Unter der Beteiligung welcher Instanzen gestaltet sich die Erschaffung von Produkten, deren Qualität nur aufgrund von Glauben und Vertrauen zu beurteilen ist? Und inwiefern haben hier Kommunikationen Anteil, die Charakteristika religiöser Kommunikation aufweisen?23 In welcher Weise vernetzen sich die Akteure und Akteurinnen und wie verdichten sich innerhalb dieser Netzwerke spezifische Vorstellungen, Werte, Normen und Motivationen zu Sinndeutungen? Lassen sich netzwerküber19 Die Basis für den Band bildet der interdisziplinäre Workshop „Kunsträume, Religionshybride Raumkreationen in Kunst und Kunsthandwerk“, der am 24./25. März 2016 in Rostock stattfand. 20 Vgl. Bourdieu, Pierre: Meditation – Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2001, S. 311. 21 Zum metaphorischen Verständnis von Bourdieus Feldtheorie vgl. u.a. M. Löw, Raumsoziologie S. 179-182. 22 Vgl. Karpik, Lucien: MehrWert. Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt a.M. 2011, zu singulären Produkten hier S. 20-24. 23 Zu diesen Charakteristika vgl. Krech, Volkhard: Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft, Bielefeld 2011, S. 40-43.

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greifend gültige „Spielregeln“ feststellen, die das Handeln auf diesen Märkten des Besonderen (mit) steuern und auf eine feldspezifische Illusio (Bourdieu) oder auf differenzierbare Illusionen schließen lassen?

PRAGMATISCH-EMPIRISCHER FORSCHUNGSANSATZ Bestehende Gemeinsamkeiten von künstlerischer und religiöser Ästhetik sind – ausgehend von institutionalisierter Kunst und institutionalisierter Religion als Perspektive bzw. Untersuchungsgegenstand – bereits gut erforscht.24 Auf Praktiken jenseits institutioneller Normen an den erweiterten und sich teils auch überlappenden Feldrändern von Kunst und Religion trifft das jedoch deutlich weniger zu. Um sie zu beschreiben und zu verstehen, greifen Konzepte, die im Sinne der Säkularisierungsthese von einer zunehmenden Erosion von Religion, weniger von ihrer Transformation und steigenden Diversität ausgehen, kaum, zumal auch Prozesse einer Einwanderung graduell religiöser Kommunikationen in Räume, die als Ausdruck von Kunst oder Kunsthandwerk präsentiert werden, empirisch zu beobachten sind. Vielmehr bietet sich neben einer stärkeren Gewichtung der Pragmatik gegenüber der Semantik methodisch ein Zugang an, wie er bemerkenswerterweise ähnlich innerhalb einer zeitgenössischen, sich als Erkenntnis bringende Reflexionsweise (Science)25 verstehenden Kunst von Bedeutung ist. Wenn Künstlerinnen

24 Vgl. u.a. Müller, Ernst: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Anfang des deutschen Idealismus, Berlin 2004; Mädler, Inken: Kirche und bildende Kunst in der Moderne. Ein an F.D.E. Schleiermacher orientierter Beitrag zur theologischen Urteilsbildung, Tübingen 1997; Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 22009; Nedden, Christian/Barboza, Amalia/ Hüttenhoff, Michael/Lorenzen, Stefanie (Hg.): Spektakel der Transzendenz. Kunst und Religion in der Gegenwart, Würzburg 2017; Erne, Thomas/Schütz, Peter (Hg.): Der religiöse Charme der Kunst, Paderborn 2012; ferner Karstein, Uta/Schmidt-Lux, Thomas (Hg.): Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen, Wiesbaden 2017. – Bereits im 20 Jahrgang erscheint im Internet „Tà katoprizómena. Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik“ (siehe http://www.theomag.de [letzter Zugriff 14.08.2018]). 25 Vgl. u.a. Belting, Hans: Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden, München 22013, S. 105-124; J. Held/N. Schneider: Grundzüge, S. 27-31.

Einleitung: Kunsträume | 15

und Künstler wie Miro Zahra26 oder Wolfgang Friedrich27 Werke für den öffentlichen Raum schaffen, steht am Anfang selten eine konkrete Idee, sondern die Wahrnehmung der charakteristischen Eigenschaften des Ortes der späteren Präsentation. Welche aussagekräftigen Formen fallen ins Auge, welche Objekte und welche Handlung ergeben hier ein Beziehungsgefüge? Werden Geschichte(n) und Sinnkonzepte in Erinnerung gerufen oder vielleicht verschleiert? Und könnte eine inhaltliche Recherche relevantes Material für die künstlerische Umsetzung erbringen? Was schließlich zu sehen sein wird, ist Kunst, die neue Modi des Sehens und Verstehens ermöglicht. Hiermit vergleichbar zeigt sich in empirisch gewonnener Forschungsperspektive an den Grenzen von künstlerischem und religiösem Feld eine Vielgestaltigkeit von neuen Kommunikationen, Handlungsmustern und Vergemeinschaftungsprozessen, die in unterschiedlicher Deutlichkeit und Stärke eine Relation zu Religion aufweist, sich aber gleichzeitig als eine Spielart von Kunst oder Kunsthandwerk verstehen lassen.

DIE BEITRÄGE Im ersten Abschnitt des Bandes sind drei Artikel versammelt, die sich mit der Bedeutung von materialen Ausdrucksweisen für die Konstitution von Gesellschaft, für die Herausbildung und Stabilisierung einer eigenen Identität und – hier insbesondere mit Blick auf einen historischen Diskurs – das ethisch-moralische Bewusstsein einer Gemeinschaft befassen. Von zwei konträren, über die menschliche Welt hinausgehenden Untersuchungsperspektiven her – zum einen aus einer quasi „kosmischen“ Sicht und zum anderen aus einer inneren Erlebnissphäre der Lebewesen blickend – erarbeitet Joachim Fischer in seinem Aufsatz eine Theorie der Konstitution und Regulation menschlicher Sozialwelt innerhalb von Ausdrucksrelationen. Das von ihm für das Zusammen- und Wechselspiel der erfahrbaren Welt geschaffene Kunstwort „Interphänomenalität“ markiert zugleich den weiten Rahmen, in den die insgesamt in diesem Band traktierten Themen zu fassen sind. Auch der Artikel von Aida Bosch weist eine starke sozialanthropologische Ausrichtung auf. Die Autorin lässt deutlich werden, wie und warum die „besonderen Dinge“ in kultureller Praxis, aber auch bei der psychosozialen Identitätsausbil26 Vgl. Zahra, Miro: „Das Modell Künstlerhaus. Über die Freiheit fremd zu sein und fremd zu bleiben“, im vorliegenden Band, S. 167ff.; siehe ferner http://www.miro-zahra.de (letzter Zugriff 14.08.2018). 27 Vgl. Mickan, Antje: „Kunst-Religion. An den Grenzen des Unterscheidbaren“, im vorliegen Band, S. 207ff.; siehe ferner http://www.bildhauer-friedrich.de (letzter Zugriff 14.08.2018).

16 | Antje Mickan/Thomas Klie/Peter A. Berger

dung als Bedeutungsträger fungieren. Sie plädiert für eine stärkere Wahrnehmung der menschlichen Abhängigkeit gegenüber den Dingen und zeichnet ein differenziertes Bild vom Fetischismus in modernen Gesellschaften. Die Vervielfältigung der Artefakte durch neue industrielle Herstellungsmöglichkeiten wurde, wie es Uta Karstein im anschließenden Beitrag belegt, in Kunstvereinen des kirchlichen Milieus bereits Mitte des 19. Jahrhunderts als zunehmender Verlust eines Repräsentationsmediums christlicher Werte kritisiert – ein Umstand, dem man mit der Förderung von Kunsthandwerk begegnete. Die von Karstein dargestellten historischen Diskussionsstränge veranschaulichen nicht allein exemplarische Umstände, die zur Etablierung von Kunsthandwerk gegenüber dem industriell produzierten Kunstgewerbe beitrugen. Sie erhellen auch einen für das Verstehen der Bedeutung von Kunsthandwerk heute im Zeitalter zunehmender Digitalisierung hoch relevanten Kontext und bieten wertvolles Vergleichsmaterial. Den nächsten Block bilden drei Aufsätze, die das Thema „Raum“ als ein Verhältnis zwischen kulturellen materialisierten Formen, Praktiken und Deutungen an konkreten (Zeit-)Orten aufnehmen. Ausgehend von einer Unterscheidung zwischen freier künstlerischer Ästhetik und Ausdrucksweisen, die dem Symbolsystem einer Religion als zugehörig angesehen werden, durchschreitet der Theologe Andreas Mertin den Zeitraum von den ersten menschheitlichen Kulturzeugnissen bis heute, begleitet von der Frage nach je erkennbaren Kunst- oder Religionshaltigkeiten. Er veranschaulicht den episodischen Charakter der mittelalterlichen engen Verbindung von Kunst und Religion und stellt stattdessen die sich durch wechselseitige Anerkennung und Interaktion der beiden Systeme ergebenden Möglichkeiten heraus. Hier schließt sich der Beitrag von Oliver Zybok gewissermaßen nahtlos an. Zybok beginnt, nun aus kunsthistorischer Perspektive, mit einer Reflexion des Verhältnisses von Kirche und Kunst in der Neuzeit und stellt unter Bezug auf den phänomenologischen Raumdiskurs des 20. Jahrhunderts die „anthropologische Qualität“ von Raum als etwas zu Erfahrendes heraus. Den anschaulichen Kern des Artikels bilden drei kuratorische Beispiele zeitgenössischer Kunst im Kirchenraum, die unter dem Aspekt von Raum als „Gefühlsraum“ dargestellt und reflektiert werden. Der Wahrnehmungs- und Verstehensprozess als solcher rückt dann im Beitrag noch Hans-Georg Soeffner in den Mittelpunkt. Ausgehend vom Beispiel der japanischen Bildtradition, die durch nicht vollständig ausgeführte Formen die Imagination der Betrachtenden besonders aktiviert, zeigt Soeffner die wissenstheoretische Bedeutung von Erinnerungen und Vorstellungen und entwickelt in Auseinandersetzung mit Arbeiten des Künstlers Sugimoto elementare Bausteine einer soziologischen Hermeneutik des Sehens. Mit empirischer Kunstpraxis der Region Mecklenburg-Vorpommern, auch unter Thematisierung der Funktion von Netzwerken, befassen sich die folgenden vier Aufsätze. Die Kunstwissenschaftlerin und Galeristin Susanne Burmester

Einleitung: Kunsträume | 17

stellt auf der Basis ihrer beruflichen Erfahrung die Notwendigkeit und spezifisch regionalen Herausforderungen von Vermittlungs- und Bildungsarbeit in Bezug auf zeitgenössische Kunst dar. Einer der bedeutendsten Kunst-Orte des Landes ist das Mecklenburgische Künstlerhaus Schloss Plüschow. Einen Eindruck von der dort stattfindenden Arbeit vermittelt die Künstlerin, langjährige Leiterin und Mitbegründerin dieser Einrichtung Miro Zahra. In ihrem Beitrag lässt sie Fremdheit von Kunstproduktion(en) gegenüber dem umgebenden Raum ihres Entstehens und Erfahren-Werdens als eine Voraussetzung und Eigenschaft von Kunst deutlich werden. Welches Potential zur Verknüpfung andererseits über die (temporäre) Implementierung von Kunst in eine Stadtkirche freigesetzt werden kann, zeigt der Artikel von Ulrike Seidenschnur, in dem die Künstlerin, Kunstpädagogin und -therapeutin von ihrer nunmehr seit 20 Jahren gelingenden kuratorischen Arbeit in Lassan berichtet, die auch zu einer allmählich wachsenden Vernetzung von Kirchen- und Ortsgemeinde führte. Diesen praktisch orientierten Abschnitt beschließen Antje Mickan und Thomas Klie mit einer Fallanalyse. Diese basiert auf einem qualitativen Interview mit einer mecklenburgischen Keramikerin, die ihre kunsthandwerkliche Arbeit mit einer Tätigkeit als Trauerbegleiterin verbindet. Das theoretische Konzept der „Religionshybride“, die auf den „Märkten des Besonderen“ heute Struktur annehmen, scheint hier in besonders exemplarischer Weise empirisch nachvollziehbar. Am Ende des Bandes stehen zwei Beiträge, die – einerseits mit Blick auf Leitfragen des Forschungsprojektes „Märkte des Besonderen“, andererseits mit Blick auf den Band „Kunsträume“ – noch einmal die Fäden des vorausgehenden Diskurses aufnehmen und zusammenführen. Antje Mickan beginnt ihren Aufsatz mit grundlegenden Überlegungen zur Relation von Kunst und Religion in nicht allein institutionalisierten Spielarten sowie zur Herausforderung, die Grenzen der sozialen Felder von Kunst(handwerk) und von Religion wissenschaftlich zu bestimmen. Sie stellt ihre raum- und performanztheoretisch basierte Analysemethodik kurz vor und entwirft auf der Grundlage eigner Feldforschung eine Typologie künstlerisch-kunsthandwerklicher Praxis in Mecklenburg-Vorpommern mit einer signifikant differenten Relation zu Religion bzw. dem Religiösen. Die kulturanthropologische Reflexion wesentlicher Gesichtspunkte des im Band Diskutierten münden im Resümee-Artikel Norbert Fischers schließlich in eine Betonung des widerständigen Potentials von durch (Kunst-)Objekte geschaffenen, häufig religiös imprägnierten Kulturräumen gegen das Verschwinden und Vergessen und letztlich in eine Hervorhebung der soziokulturellen Bedeutung von Erinnerungsorten.

I. Materialität und die Produktion von Bedeutung

Interphänomenalität. Zum Erscheinungsverhältnis von Gesellschaft Joachim Fischer

1.  EINFÜHRUNG Man muss gleich zu Beginn die Wucht, die überwältigende Omnipräsenz der Interphänomenalität für die menschliche Lebenswelt sich vor Augen führen. Käme man als Fremder in eine Gesellschaft und wäre nicht von vornherein primär auf menschliche Ansprechpartner hin disponiert (weil man deren Sprache nicht kennt), würde man statt Dialog mit Subjekten fast nur Design von Dingen begegnen. Fremd ist einem dieser Blick des Fremden nicht, wenn man an den Touristen einer Stadt denkt, der kein Wort von deren Sprache spricht, sondern sich schauend und hörend (und riechend und schmecken) nur phänomenal durch sie bewegt. Das Erste, woran er sich hält, ist die gebaute Gesellschaft, die unzähligen Groß-Artefakte der Baukörper, die jede Bewegung rahmen und bahnen und die in ihren Fassaden, in den expressiven Ansichten ihrer Vorderseiten sich einander phänomenal zuzuwenden scheinen – Bau und Gegenbau –, sich gleichsam durch die Fenster und Türöffnungen einander zusehen. In der Oberfläche ihrer Phänomenalität, in expressiven Ornamenten oder den Wänden angehextem Graffiti scheinen sie sich auch dem Fremden zuzuwenden, ihm durch die Art ihrer Gestaltung Winke zur Struktur der Sozialität, dem Lebensstil des Kollektivs geben zu wollen. Neben und gleichzeitig zu diesen immobilen trägen Baukörpern nimmt der explorierende Blick des Fremden die fahrende Gesellschaft wahr, die Mobilien, die unzähligen mobilen Fahrzeugkörper, gleich ob Kutschen, Automobile oder Fahrräder, die im Aneinander-Vorbeigleiten in ihren Karosserien und Rundumfenstern und Scheinwerfern voreinander zu erscheinen scheinen – Autos haben Gesichter und ihre

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„Frontpartien sagen uns etwas“1. Zwischen den Baukörpern der fremden Orte und auch aus ihren Fensterbänken und Balkonen strecken sich dem Fremden je eigentümliche Pflanzen und Bäume mit ihren expressiven Blättern und Blüten entgegen; vor allem in Gärten und Parks kreuzen Hunde und Katzen in ihren Erscheinungsgestalten, die sich auch wechselseitig wahrnehmen, seinen Weg, flattern und zwitschern ihm Vögel – untereinander – über seinen Kopf etwas zu. Geht man in die Häuser hinein, stößt der Blick auf das Interieur, das unzählige Mobiliar, die gestalteten Dinge, die Haus- und Küchengeräte, das Porzellan und Glas, die Tapeten und Teppiche, das Spielzeug, die ästhetisch verpackten Naturalien in den Regalen und Kühlschränken, die Bilder, Poster und Fotos blicken seinem wahrnehmenden Blick entgegen. Aber auch umkultete Herrgottswinkel von geheimnisvoll besonderer Bedeutung. In den Ecken und von den Decken leuchten Lampen, die auch nachts die Erscheinungsverhältnisse der Dinge zum Tanzen bringen, auf den Tischen schimmern Mediengeräte mit ihren rasch alternierenden Benutzeroberflächen, ihren Bildschirmmasken, dem Display und den Zeichenoberflächen. Und erst jetzt würde der Fremde – in unserem Gedankenexperiment – huschende und hockende menschliche Bewegungskörper sehen, in und zwischen den Baukörpern, in/auf und zwischen den Fahrkörpern, mitten in der Fülle der Animale und Dinge und Artefakte und Mediengeräte. Aber auch die lebendigen Körper der Personen würde er nicht sofort als solche sehen – denn er bekäme sie nur vermittelt durch die Kleider, ihre Gewänder zu sehen, in denen sie sich stilisiert veröffentlichen und zugleich verhüllen. Sein Blick fiele auf demonstrativen Schmuck an Hals und Ohren oder an der Nase und auf Uhren an den Handgelenken. Und fielen nun – wie von Zauberhand – die Kleider und Kopftücher, auch dann würde er nicht die Bewegungssubjekte selbst sehen, sondern ihre Erscheinungsfülle und -hülle via Haut und Haaren, mit Tätowierungen und Frisur – modisch designed. Und würde er jetzt den Blick heben, ja dann würde er ins Gesicht, ins Antlitz schauen, er hätte endlich die Face-to-face-Interaktion des wechselseitigen Blickes erreicht, die Vorstufe der Intersubjektivität – aber auch hier im Fall des Antlitzes wäre alles bereits durch Erscheinung, durch das „Design“ vermittelt: durch die Ausdruckshaltung des Gesichts, seine Mimik, seine Fassade, das Make-up, die Maske des spielerischen Lächelns, die kosmetisch-chirurgische Retusche an Nase und Augenlid. Intersubjektivität, die sprachliche und praktische Zwischenmenschlichkeit der Gesellschaft – das ist ein erstes Resümee – ist also ein bloß insulares, partikulares, hochselektives Phänomen inmitten grenzenloser Interphänomenalität der 1 Allert, Tilman: „Das Gesicht des Autos. Was uns die Frontpartien sagen – und wie wir diese Botschaften wahrnehmen“, in: Ders., Latte Macchiato – Soziologie der kleinen Dinge. Frankfurt a.M. 2015, S. 173-182.

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Pflanzen und Tiere, Dinge, Artefakte, Bau- und Fahrkörper, Kleider und Masken – einer natürlichen und artifiziellen Interphänomenalität, zwischen der und durch sie vermittelt die Subjekte und Akteure der Gesellschaft immer schon indirekt voreinander erscheinen und die sie deshalb durch das „Design“ zu steuern und regulieren versuchen. Diese Umkippfigur, der Gestaltswitch von der dialogischen Intersubjektivität der Akteure – die im thematischen Fokus der Sozial- und Kulturwissenschaften steht – zur expressiven Interphänomenalität der lebendigen und nichtlebendigen Dinge macht die Bedeutung der Interpänomenalität für die Sozial- und Kulturwissenschaften überhaupt aus – einer Soziologie der Interphänomenalität der Phänomene im Verhältnis zur klassischen Dialogsoziologie der rationalen Kommunikation der Sprechersubjekte – die immer überhaupt nur als intersubjektiver Raum im interphänomenalen Raum auftaucht. „Interphänomenalität“ ist ein neuartiges Kompositum aus zwei bekannten griechisch-lateinischen Termini – aus „Phänomenon“, in dem altgriechisch ein Etwas, eine Entität als „sich Zeigendes“, als ein „Erscheinendes“ aufgefasst ist, und aus dem Präfix „Inter“, das lateinisch das Verhältnis des „Zwischen“, des „unter- und voreinander“ von mindestens zwei Entitäten anspricht. Die Pointe der Begriffsfügung und -findung, seit 2009 im Umlauf,2 ist offensichtlich die Abwendung von der vertrauten Auffassung aller ‚Phänomenologie‘ (Kant, Hegel, Husserl), dass die ‚Phänomene‘ sich immer für uns, für unsere (sprich: menschliche) sinnliche Wahrnehmung zeigen, also als ‚Phänomene‘ für ein Bewusstseinssubjekt „zur Erscheinung kommen“.3 Der neue Kunstbegriff vollzieht die Abkehr von dieser klassischen Annahme im Subjekt-Objekt-Verhältnis hin zum eventuell aufschlussreichen Verhältnis, in dem die „Phänomene“ selbst als Phänomene voreinander bzw. untereinander sich zeigen – in einer Intersphäre, im Zwischenraum zwischen ihnen –, in einer quasi-kommunikativen Relation

2 Fischer, Joachim: „Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs“, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hg.), Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld 2012, S. 91-108; ders.: „Interphänomenalität“, in: Sprache und Literatur 45, 2014, 1. Hj., H. 113 (erschienen 2016), Themenheft: Oberflächen, S. 3-18. Unabhängig davon auch in einem anderen englischsprachigen Kontext: Veissiere, Samuel: „Varieties of Tulpa Experiences. The Hypnotic Nature of Human Sociality, Personhood, and Interphenomenality“, in: Amir Raz/Michael Lifshitz (ed.), Hypnosis and meditation: Towards an integrative science of conscious planes, Oxford 2016, S. 55-78. 3 Eusterschulte, Anne/Stock, Wiebke-Marie (Hg.): Zur Erscheinung kommen. Bildlichkeit als theoretischer Prozess (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft [ZÄK], Sonderheft 14), Hamburg 2016.

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voreinander erscheinen – ungeachtet dessen, dass sie auch für ein menschliches Bewusstsein erscheinen können. Würde man den Terminus „Interphänomenalität“ übersetzen, müsste man von einem „Voreinander-Erscheinen der Erscheinungen“ sprechen. Der hohe Reiz, stattdessen mit dem Fremdwort „Interphänomenalität“ zu operieren, ist natürlich die gezielte Intervention in das sozialontologisch und soziologisch wohl etablierte Begriffsfeld von „Intersubjektivität“ und „Interobjektivität“, um bisher nicht entdeckte bzw. nicht auf den Punkt gebrachte Dimensionen von Lebenswelten sachlich freilegen zu können. Wenn ich im Folgenden analytisch mit dem Begriff der „Interphänomenalität“ operiere, meine ich also offensichtlich etwas anderes als „Intersubjektivität“, dem seit Husserl, Schütz oder Goffman klassischen Begriff für die menschliche Lebenswelt, aber auch etwas anderes als „Interobjektivität“, mit der Latour diese Lebenswelt durch Schlüssel und Schalter, also die artifiziellen Dinge, immer bereits durchfurcht denkt. „Interphänomenalität“ meint einfach alle Phänomene, die als Phänomene vor- und füreinander erscheinen, also auf so etwas wie Ausdruck und Eindruck bzw. Ausdruckswahrnehmung und Eindrucksmanöver eingestellt sind. Dieses Reich des Interphänomenalen übersteigt die Zone des Intersubjektiven und auch des Interobjektiven bei weitem. Meine Überlegungen setzen also nicht einfach beim Ausdrucksgeschehen innerhalb der zwischenmenschlichen Welt ein, der Sphäre der Intersubjektivität, und auch nicht bei den Kausalverhältnissen der Objekte untereinander, der Interobjektivität, sondern wollen auf die Einbettung dieser Intersubjektivität und Interobjektivität in ein Reich der Interphänomenalität, genauer auf ein zweifach konstituiertes Reich des Interphänomenalen hinaus. Unter dem Stichwort „Universeller Ausdrucksüberschuss“4 der menschlichen Lebenswelt komme ich von den Rändern des Intersubjektiven und Interobjektiven her auf die spezifisch intersubjektive Ausdrucks-Verstehensrelation zu. Vorausgesetzt wird, dass Ausdrucksphänomene über die eigentlich zwischenmenschliche Welt hinausreichen, und von diesen überschießenden Ausdrucksphänomenen her, im Umweg über sie, beobachte ich, wie sich in ihnen die menschliche Sozialwelt konstituiert und reguliert. Hat man es so aufgestellt, dann lässt sich ein vielfacher Grenzverkehr der insularen zwischenmenschlichen Lebenswelt mit dem Doppelreich des Interphänomenalen beobachten. Von den Rändern her meint: von universalen Rändern her, vom Universum oder Kosmos aus auf die spezifisch sozio-kulturelle Ausdruckswelt zu kommen, die sich gleichsam als intersubjektive Eigenzone in diesen weit darüber hinausrei4 Fischer, Joachim: Universeller Ausdrucksüberschuss. Randbeobachtungen zur philosophischen Anthropologie der Intersubjektivität (Rostocker Phänomenologische Manuskripte, H. 11), Rostock 2011.

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chenden Ausdrucksuniversen konstituiert. Dabei gelange ich von zwei verschiedenen universellen Ausdruckskosmen zur menschlichen Welt: 1. vom natürlichen Faktum, dass es bereits vor oder neben menschlichen Lebewesen Ausdrucksphänomene im Kosmos gibt – nämlich in der Pflanzen- und Tierwelt, in der Welt des Lebendigen, in der Organismen von sich her bereits auf expressive Erscheinung (voreinander) angelegt sind. Es gibt eine vitale Zone des Interphänomenalen vor und neben der zwischenmenschlichen Lebenswelt; kurz gesagt: Selbst wenn alle menschlichen Lebewesen von der Erdoberfläche verschwinden würden, gäbe es immer noch Ausdruckverhältnisse (zwischen Pflanzen und Tieren, vor allem zwischen Tieren). Und 2. komme ich von der kognitiv-emotionalen, der epistemischen Disposition menschlicher Lebewesen her, tendenziell oder primär alles um sich herum, weit über Mitgenossen und weit über Organismen hinaus, tendenziell alles Gegebene im Universum und Kosmos als Ausdrucksphänomen auffassen zu können – eine ‚kosmische‘ Interphänomenalität aufschließen zu können. Menschliche Lebewesen sind ausdrucks-projizierende Lebewesen, sie vermuten – weit über ihresgleichen und weit über tierische und pflanzliche Ausdrucksverhältnisse hinaus – auch Ausdrucksverhältnisse in der sogenannten unbelebten Natur, in den Steinen und Sternen. Menschen unterstellen von sich her einen Ausdrucksüberschuss in der Welt. Beide Theoreme zur „Interphänomenalität“ sind von Max Scheler und Helmuth Plessner aus entwickelt, von ihnen aus ausgewickelt worden. Insofern gehören sie zum Kernschatz der Philosophischen Anthropologie – und zwar im Sinne eines Paradigmas verstanden, nicht als philosophische Subdisziplin.5 Zuerst führe ich das Theorem des Ausdrucksüberschusses vor, das ich auch als das ontologische Theorem der Interphänomenalität (2.1) kennzeichne: Dieses ist in der Linie Scheler-Plessner-Portmann entfaltet worden. Dann biete ich das zweite Theorem des Ausdrucksüberschusses, das ich auch das epistemologische Theorem der Interphänomenalität (2.2) nenne: Es ist in der Linie Scheler-Plessner-Luckmann ausgearbeitet worden. Dann skizziere ich kurz (3), was die Konstitution der spezifisch zwischenmenschlichen Ausdruckswelt inmitten zweier nicht-menschlicher Ausdrucksreiche bedeutet; welchen flexiblen Grenzverkehr die intersubjektive Lebenswelt mit dem Interphänomenalen pflegt – die praktischen Grenzziehungen des Sozialen hinsichtlich der Inklusion/Exklusion von Subjekten, den Status der

5 Zu dieser Unterscheidung: Fischer, Joachim: Philosophische Anthropologie – eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg 2008, S. 482f.; oder auch ders.: „Philosophische Anthropologie“, in: Georg Kneer/Markus Schroer (Hg.), Handbuch Soziologische Theorien, Wiesbaden 2009, S. 323-344.

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Dinge, die Aufrechterhaltung des universalen Interphänomenalen in der Poesie und Kunst.6

2.  I NTERPHÄNOMENALITÄT – AUSDRUCKSÜBERSCHUSS ÜBER DEN MENSCHEN HINAUS 2.1  I nterphänomenalität durch ontologischen Ausdrucksüberschuss im Kosmos Das erste Theorem vom universellen Ausdrucksüberschuss über die intersubjektive Zwischenwelt der Menschen hinaus meint: Im Universum, im Kosmos gibt es ontisch bereits neben und vor dem menschlichen Lebewesen Ausdrucksverhältnisse, die tatsächlich über das menschliche Lebewesen hinausschießen, über seine Welt hinausreichen, die als Seiendes auch ohne ihn da sind – also vor seinem Auftauchen und nach seinem Abtreten. Diese These eines ontologischen Ausdrucksüberschusses ist erstmals prominent von Scheler und Plessner formuliert worden und dann vom Biologen Adolf Portmann in einem wegweisenden Aufsatz „Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde“7 (in einer Plessner-Festschrift) bis hin zu einer ‚Neuen Biologie‘ in ihren Konsequenzen durchdacht worden.8 Das Theorem selbst taucht in der philosophischen Biologie der Philosophischen Anthropologie auf, also in deren Schlüsseloperation, einen Begriff des Lebens so anzulegen, dass von ihm aus – im Durchgang durch Stufen des Organischen wie Pflanze und Tier – ein unverkürzter Begriff des Menschen als Lebewesen möglich wird. Die These ist die vom „Urphänomen des Ausdrucks“ bereits im Reich des Organischen – wie Scheler formuliert; eine Behauptung, die im Anschluss an Scheler übrigens auch Cassirer übernimmt: „die Erscheinung des Ausdrucks

6 Zu einem ersten Versuch: Fischer, Joachim: „Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs“, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hg.), Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld 2009, S. 91-108. 7 Portmann, Adolf: „Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde“, in: Klaus Ziegler (Hg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen 1957, S. 29-41. 8 Zum Stellenwert einer philosophischen Biologie für die Philosophische Anthropologie s. auch Grene, Marjorie: Approaches to a Philosophical Biology, New York/London 1965; Jonas, Hans: The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology. Essays, New York 1966.

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scheint ein echtes Urphänomen des Lebens zu sein“9 – wohlgemerkt des Lebens, nicht des Menschen! „Urphänomen“ meint hier, dass sich ein Phänomen von sich selbst her zeigt (ontologisch) – nicht vom Bewusstsein her (epistemologisch). Scheler stützt sich auf die phänomenologische Biologie von Buytendijk, der zur adäquaten Beschreibung von Lebewesen einen „demonstrativen Seinswert des Organischen“ überhaupt postulierte, der neben dem „Funktionswert“ des Organischen an seiner Grenzoberfläche selbst zur Erscheinung käme.10 Es „findet sich“, so Scheler, „bereits im pflanzlichen Dasein das Urphänomen des Ausdrucks, eine gewisse Physiognomik ihrer Innenzustände, der Zuständlichkeiten des Gefühlsdrangs als dem Innesein ihres Lebens wie matt, kraftvoll, üppig, arm. Der Ausdruck ist eben ein Urphänomen des Lebens – keineswegs, wie Darwin meinte, ein Inbegriff atavistischer Zweckhandlungen.“11

Es gibt ontologisch gesehen also einen Überschuss an Ausdruck über die menschliche Lebenswelt hinaus. Spezifische Dinge im Kosmos, nämlich Lebewesen, haben in ihrem Sein Ausdruck, weisen von sich aus Ausdrucksqualität auf. Das bedeutet: nicht nur menschliche Wesen haben ontologisch Ausdruck; und es meint auch nicht: alle Dinge im Kosmos (oder dieser als Ganzer) haben ontologisch Ausdruck – z.B. nicht die unbelebten Dinge wie Steine oder Sterne. Plessner hat in seiner am weitesten ausgearbeiteten philosophischen Biologie diesem Theorem des „Urphänomens des Ausdrucks“ bei Organismen die begriffliche Basis gegeben, die dann für die ‚Neue Biologie‘ von Adolf Portmann bedeutsam wurde. Der Kern des Buches Die Stufen des Organischen und der Mensch ist ja eine Theorie des Lebens, um im Umweg über sie einen Begriff des Menschen und seiner Lebenswelt zu erreichen. Die Möglichkeit von „Jemand“ oder der „Person“, als Erkenntnissubjekt Distanz zur eigenen Position einzunehmen, wird vorausgesetzt, um nun im Sachfeld der anschaulich-physischen „Wahrnehmungsdinge“ methodisch den Blick dem „Ding“ am Objektpol – gegenüber dem Erkenntnissubjekt – zuzuwenden mit der Frage, was Leben als „Etwas“, was „lebendige Dinge“ im Vergleich zu anderen Dingen auszeichnet. Plessner unterscheidet lebendige Dinge von unbelebten Dingen durch den Grenzcharakter. Anorga9 Cassirer, Ernst: Metaphysik der symbolischen Formen, hrsg. v. Krois, John M., in: Ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte, John M. Krois/Oskar Schwemmer (Hg.), Bd. 1, Hamburg 1995, S. 37. 10 Buytendijk, Frederik J. J.: „Anschauliche Kennzeichen des Organischen“, in: Ders., Das Menschliche. Wege zu seinem Verständnis, Stuttgart 1958 [1928], S. 1-13. 11 Scheler. Max: „Die Stellung des Menschen im Kosmos“, in: Ders.,Späte Schriften. Gesammelte Werke, Bd. 9, Manfred Frings (Hg.), Bonn 1976 [1928], S. 7-71.

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nische Dinge – wie z.B. Steine – haben demnach eine „Kontur“, einen „Rand“, an dem sie anfangen bzw. im Verhältnis zum „Medium“ aufhören. Belebte Dinge hingegen sind solche, die ihren „Rand“ selbst als „Grenze“ haben, über die sie mit einer Umwelt verkehren. Lebendige Dinge haben ein „hauthaftes Verhältnis zu sich“, wie es an anderer Stelle heißt. In diesem Fall gehört „die Grenze […] reell dem Körper an, der damit nicht nur als begrenzter an seinen Konturen den Übergang zum anstoßenden Medium gewährleistet, sondern in seiner Begrenzung vollzieht und dieser Übergang selbst ist.“12 Ihre Bestätigung findet diese These, „wonach lebendige Dinge grenzrealisierende Körper sind“, durch Ableitung der organischen Wesensmerkmale oder Vitalkategorien. „Die Membranbildung […] markiert das Lebe,wesen‘ als einzelnes und wirkt doppelsinnig: einschließend-abschirmend gegen die Umgebung und aufschließend-vermittelnd zu ihr.“13 Das ist der Hauptgehalt der Theorie des Lebens in den Stufen des Organischen von 1928, die Plessner später, in den 1960er Jahren, in ihrer Kompatibilität mit der modernen biologischen Forschung als „glücklichen Griff“ bestätigt sieht.14 Mit der Kategorie der „Grenze“ als Spezifikum des lebendigen Dinges unternimmt Plessner innerhalb der Organismustheorie eine Umstellung von der Relation Ganzes/Teil zur Relation System/Umwelt, wobei erstere Differenz nun mit Bezug auf die „Grenzrealisierung“ eines Systems in seiner Umwelt als Ausdifferenzierung einbezogen wird. Diese grundbegriffliche Umstellung ist motiviert durch die Umweltlehre von Jakob von Uexküll, die eine „Entsprechung“ von spezifischem Organismus und spezifischer Umwelt als „Funktionskreislauf“ beobachtbar macht. Plessner spricht – im bündigen Altersstil – in den 1970er Jahren hinsichtlich der Theorie des Lebens vom „ganz neuen Ansatz, den ich im Verhältnis eines physischen Körpers zu seiner Begrenzung fand. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: dem Körper ist seine Begrenzung äußerlich. Er hört da auf, wo das umrundende Medium beginnt. Solche Körper nennen wir anorganisch. Oder aber die Begrenzung gehört zum Körper, z.B. durch eine Membran in sich. Solche Körper heißen organisch. Sie sind in sich, auch wenn sie äußerlich begrenzt sein mögen. Sie haben Positionalität.“15 Grenzrealisierende Dinge werden also von Plessner als „positional“ gekennzeichnet. Im Begriff „Positionalität“ bzw. „Gesetztheit“ zieht Plessner kategorial 12 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie Berlin 21965 [1928], S. 103. 13 Plessner, Helmuth: „Ein Newton des Grashalms“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1984 [1964], S. 247-266, hier S. 257. 14 Ebd. 15 Plessner, Helmuth: „Selbstdarstellung“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10, Frankfurt a.M., 1985, S. 302-341, hier S. 325. (Kursivierung von J.F.)

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empiristische Motive (Raum-Zeit-Fixierung der Position des Dinges) und lebensphilosophische Motive (den Schellingschen Es-Charakter des Lebens, die naturhafte Gesetztheit vor jeder Setzungsleistung des Ichs) zusammen, um nun eine kategoriale Basis zu haben, die Niveaus des Organischen in einer Stufenlogik des Lebendigen zu rekonstruieren. Plessner spricht also nicht bloß von der „Position“ des lebendigen Dinges, sondern seiner „Positionalität“. Man darf in der ganzen Plessnerschen Kategorienbildung niemals den eingebauten passivischen Grundzug dieser Basiskategorie aus dem Blick verlieren. Damit wird die bioevolutionäre Einsicht in die Gesetztheit, Geworfenheit, Getragenheit des Organischen in die Kategorie mit eingeholt, die Einsicht in den Es-Charakter des Lebens, auch des menschlichen Lebens, die jeder Konstruktion, jeder Ich-Konstruktion, auch jeder Wir-Konstruktion, jeder sogenannten sozialen Konstruktion vorausgeht. Gleichwohl ist – anders als der Stein – das „grenzrealisierende Ding“ ein Etwas, das in eine aktive Leistung der „Grenzrealisierung“ im Verhältnis zu seinem Umfeld gesetzt ist. Jedes Leben ist als Positionalität korrelativ in ein Positionsumfeld gesetzt, dessen Lebenskreisläufe nunmehr als System-Umwelt-Korrelation rekonstruierbar sind. Im Kontrast zur „offenen Positionalität“ der Pflanzen sind Tiere positional gefaltet oder „geschlossene Positionalitäten“. „Zentrische Positionalitäten“ sind dann im Rahmen „geschlossener Positionalitäten“ solche Lebewesen, die sensorisch und motorisch über ein Zentralnervensystem koordiniert aus ihrer Lebensmitte heraus in eine spezifische Umwelt hinein und zur Lebensmitte zurück agieren. Die Konsequenzenkraft von Plessners Bestimmung des Lebens als ‚grenzrealisierendes Ding‘ für die Biowissenschaft und deren Begriff des Lebens lässt sich am besten erkennen, wenn man ihre Entfaltung bei den Biologen Buytendijk und Adolf Portmann verfolgt (beide gehören theoriegeschichtlich zur Autorengruppe der Philosophischen Anthropologie16). Adolf Portmann hat Plessners Charakterisierung des Organischen durch seine ‚Grenze‘ (die bereits in Buytendijks Aufsatz von 1928 über ‚Anschauliche Kennzeichen des Organischen‘ angesprochen war) später als „Neue Wege in der Biologie“17 ausgebaut, einer Biologie, die das Phänomen des Lebens vom Menschen aus so in den Blick nimmt, dass das Leben in seiner Phänomenalität ohne Reduktion, aber auch ohne Einbettung in eine spekulative Naturphilosophie verstehbar wird. Also keine Metaphysik, die über den Sinn des Lebens spekuliert, sondern eine Ontologie des Organischen, die der Phänomenalität des Phänomens angemessen ist, angemessener als eine bloß empirische Biologie. Ergänzt durch eigene empirische Beobachtungen der „Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde“ hält er fest, dass Positionalitäten 16 Vgl. J. Fischer: Philosophische Anthropologie, S. 361f. 17 Portmann, Adolf: Neue Wege der Biologie, München 1961. (Kursivierung von J.F.)

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bzw. „grenzrealisierende Dinge“ nicht allein durch Selbsterhaltung ihrer je verkörperten Positionsgrenze im Positionsfeld charakterisiert sind, sich auch nicht in Arterhaltung (oder Generhaltung als reproduktiver Weitergabe der körperlichen Kerninformationen über ihre Positionalitätsgrenze hinaus) erschöpfen. Vielmehr weisen grenzrealisierende Dinge mit der „Filterfunktion semipermeabler Membranen“18 zugleich ein gegenüber nichtbelebten Dingen eigentümliches Moment genuiner „Selbstdarstellung“ an ihrer Grenze auf, an der Grenzfläche (Haut, Fell, Federn, schließlich in der Visage und Physiognomie etc.) – wegen des grundsätzlichen Grenzcharakters des Organischen. Bei lebendigen Dingen verdeckt die opake Hülle, also die Erscheinungsoberfläche des lebendigen Dinges, mit ihrer tendenziell symmetrischen Struktur den – so Portmann – (meist asymmetrischen) Aufbau des Inneren, das bloß funktional differenzierte „Eingeweideknäuel“; die Grenzfläche unterscheidet also erscheinungsmäßig eine äußere Oberfläche gegenüber dem Innenraum. Um es ganz prägnant zu fassen: Natürlich sind auch Organe (so wie auch alle anorganischen Dinge) ‚Phänomene‘, Erscheinungen für einen wahrnehmenden Beobachter, aber sie – die Organe wie Herz, Nieren, Adern – sind nicht auf Sichtbarkeit oder eine Eigenphänomenalität hin angelegt –, es sind „uneigentliche Erscheinungen“ – wie übrigens auch alle anorganischen Phänomene. Zwischen diesen uneigentlichen Phänomenen gibt es auch keine „Interphänomenalität“. Von diesen „uneigentlichen Erscheinungen“ unterscheidet Portmann die „eigentlichen Erscheinungen“ der Grenzoberfläche lebendiger Körper, die ihrer Musterung und Faserung nach ontologisch auf prinzipielle Sichtbarkeit angelegt sind (auch dann, wenn niemand sie sieht, wie bei farbenfrohen Fischen der Tiefsee). Oberflächlichkeit der Grenzfläche des Körpers ist somit von Natur aus das Verwirklichungsfeld für die damit möglich gewordene äußerliche Darstellung, und das ist Manifestation und Verbergung von ‚Innerlichkeit‘ eines Dinges – „Innerlichkeit“ oder „Interiorität“ als neutrale Kategorie, die etwas anderes ist als das „Innere“ der „Außenseite“ eines Wahrnehmungsdinges. Von Plessners und Portmanns philosophischer Biologie aus lässt sich nun diese grundsätzliche Expressivität des Lebens, der „Eigenwert der Erscheinung“ an der Grenzfläche jedes einzelnen „grenzrealisierenden Dinges“, konsequent beobachten. Die konstitutionelle Überschüssigkeit der Erscheinungsgestalt in der zunächst „unadressierten Erscheinung“ ist die Bedingung der Möglichkeit für die genuine Sozialität des Lebendigen in der wechselseitigen Sichtbarkeit der Grenzflächen, bereits auf subhumaner Ebene. Interphänomenale Phänomene sind von sich her auf Sichtbarkeit disponiert. Als „adressierte Erscheinungen“ gewinnt die Grenzfläche dann spezifische und zugleich typische Ausdrucksfunktionen von 18 Plessner, Helmuth: „Ein Newton des Grashalms“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, 1984 [1964], S. 247-266, hier S. 258.

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Gestimmtheiten und Bereitschaften, die für die Abgestimmtheiten der Positionalitäten in ihren konfligierenden oder kooperierenden Verhaltensweisen unverzichtbar sind. Spätestens hier (wenn nicht schon früher auf der Ebene der Zellen) wird Leben nicht nur biosemiotisch und insofern fundierend für jede Kulturwissenschaft, sondern der genuine Erscheinungscharakter des Organischen impliziert bereits eine (subhumane) Soziologie des Lebens, die nicht deckungsgleich mit der „Soziobiologie“ ist. Die von der Philosophischen Anthropologie her entworfene Biologie bietet also bei Portmann ein Korrektiv der biologischen Funktionstheorie, die die Oberflächenmuster entweder auf Nebeneffekte physiologischer Mechanismen oder auf genuin soziobiologische Effekte (bloß funktional für die Koordination der genetischen Reproduktion) zurückführt. Herausgearbeitet wird demgegenüber der biologische Eigenwert der Oberfläche des Organischen. Der philosophisch-anthropologischen Theorie des Organischen gilt dessen Oberfläche nicht als bloßes Epiphänomen (eines eigentlichen Kerns), sondern als das ontologische Auftauchen der Eigenwertigkeit von Phänomenalität überhaupt, von genuiner Erscheinungshaftigkeit oder Expressivität in der Welt, notwendig verknüpft mit der „Grenzbestimmtheit“ des lebendigen Körperdings – alles ontologisch vor der Emergenz der sozio-kulturellen Lebenswelt der Intersubjektivität und der Interobjektivität der menschlichen Lebenswelt. Diese von vornherein auf Sichtbarkeit (und im akustischen Sinneskreis auf Vernehmbarkeit, im taktilen Sinneskreis auf Tast- und Fühlbarkeit)19 angelegte, gleichsam semi-öffentliche Disposition der lebendigen Körper war es, die Hannah Arendt an Portmanns Theorie des Lebens als Letztfundierung ihrer Theorie des Öffentlichen so fasziniert hat: „Könnte es nicht so sein, dass nicht die Erscheinungen für den Lebensprozess da sind, sondern vielmehr dieser für die Erscheinungen?“ – „Was sehen kann, möchte gesehen werden; was hören kann, möchte gehört werden; was berühren kann, möchte sich berühren lassen. Es ist gerade so, als hätte alles, was lebt – neben der Tatsache, dass seine Oberfläche zum Erscheinen da ist, dass sie gesehen werden und anderen erscheinen soll –, einen Drang, zu erscheinen, sich in die Welt der Erscheinungen einzufügen, indem es – nicht sein ‚inneres Selbst‘, sondern – sich als Individuum zeigt und darstellt.“20

Beim Theorem vom über die menschliche Welt hinausschießenden ontischen Ausdrucksphänomen handelt es sich nicht um eine spekulative Naturphilosophie im 19 Der Beitrag fokussiert auf die optische ‚Erscheinung lebendiger Gestalten im Lichtfeld‘ – nicht auf die gleichsam bedeutende akustische Erscheinung der (tierischen) Lebewesen im Resonanzfeld. 20 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes, Bd. 1, München/Zürich 1979, S. 37f.

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Sinne von: etwas an Sein käme durch die lebendigen Dinge an ihren vermittelnden Oberflächen zum Ausdruck, der Kosmos selbst bringe sich zum Ausdruck. Es ist vielmehr eine philosophisch-anthropologische Theorie des Lebens: Es gibt im Kosmos Ausdrucksverhältnisse ontologisch bereits vor und immer mitlaufend neben den menschlichen Lebewesen. Selbst wenn kein menschliches Lebewesen mehr da wäre, würden immer noch Lebewesen ausdruckshaft voreinander erscheinen, es würde immer noch faktisch Ausdrucksverhältnisse oder Interphänomenalität im Kosmos geben. Poetisch ist dieses Faktum in der berühmten Vision von Lotte in Botho Strauß‘ Groß und Klein umschrieben: „Siehe, der Mensch wird abgehen von dieser Erde/und aus sein in all seinen Werken./Hinter ihm wird der Boden erröten/in Scham und in Fruchtbarkeit./Die Gärten und die Felder werden in die leeren Städte einziehen,/die Antilopen in den Zimmer äsen, und/in offenen Büchern wird der Wind zärtlich blättern./Die Erde wird unbemannt sein und aufblühn.“21 Mit der von Portmann erläuterten nüchternen philosophischen Biologie der lebendigen Erscheinung, der Phänomenalität des Organischen selbst ist nun die Basis gegeben, die spezifisch menschliche Ausdruckswelt als Novum innerhalb dieses in der Natur vorausgesetzten und parallel weiterlaufenden Ausdrucksgeschehens zu rekonstruieren. In Abwandlung von Plessners ‚Stufen des Organischen und der Mensch könnte man von vitalen Stufen der Interphänomenalität und damit auch dem Gesicht sprechen. Im menschlichen Gesicht, im Levinaschen „Antlitz“ wird die Interphänomenalität gleichsam reflexiv. Georg Simmel hat die „Wechselbeziehung“, die „Wechselwirkung“ der „Gegen­seitigkeit“ mit ihrer Korrelation von Aktion und Reaktion, Wirkung und Gegenwirkung als Zentralbegriff dieses intersubjektiven Phänomens gewählt und zum Dreh- und Angelpunkt der Frage gemacht: „Wie ist Gesellschaft möglich?“ An einer scheinbar entlegenen Stelle in der Soziologie, im „Exkurs über die Soziologie der Sinne“, hat er die Spezifik des wechselseitigen voreinander Erscheinens, der spezifisch menschlichen Interphänomenalität erläutert, und zwar dort, wo er analysiert, dass „das Auge auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt“ sei: „auf die Verknüpfung der Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitig Sich-Anblicken liegt. Vielleicht ist dies die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht“, was – so fährt Simmel fort – daran liegt, „dass der auf den Anderen gerichtete, ihn wahrnehmende Blick selbst ausdrucksvoll ist, und zwar gerade durch die Art, wie man den Anderen ansieht. In dem Blick, der den anderen 21 Strauß, Botho: Groß und klein. Szenen, München/Wien 21978. – . Vgl. zu einer solchen spekulativen Perspektive z.B. den Biologen Weber, Andreas: Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften, Klein-Jasedow 2014.

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aufnimmt, offenbart man sich selbst; mit demselben Akt, in dem das Subjekt sein Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekte preis.“

Simmel drückt also in Termini der Subjekt-Objekt-Relation die spezifische Inter-Subjekt-Relation aus: „Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge entschleiert dem Anderen die Seele, die ihn zu entschleiern sucht.“22 „Exzentrisch positioniert“ sind diese eigentümlichen Lebewesen zur „natürlichen Künstlichkeit“ und „vermittelten Unmittelbarkeit“ ihrer Lebensführung genötigt und begabt.23 Sie müssen sich zu ihrer Erscheinungsfläche, zu ihrer vermittelnden Oberfläche verhalten, sich in der Ausdrucksgrenzfläche zu einer Figur, zu einer Rolle, zu einer Maske gestalten, um sich hinter ihr zu verbergen oder um die eigene Unergründlichkeit durch sie hindurch zur Darstellung zu bringen. „Zur Figur gehört das Kleid, der Schmuck, die Insignien der Macht und Würde […] ‚Die Philosophie der Kleider ist die Philosophie des Menschen. Im Kleid steckt die ganze Anthropologie’“ – zitiert Plessner den niederländischen Philosophen G. van der Leeuw.24 Erst durch diese durch ‚Kleider‘ vermittelte doppelte Kontingenz (Luhmann) kommen die Subjekte zueinander. Dadurch kommt es zur spezifisch menschlichen Intersubjektivität, in der der künstlich vermittelte Ausdruck immer mehr zu verstehen gibt als beabsichtigt, und in der künstlichen Vermitteltheit immer zugleich weniger manifestiert als unmittelbar intendiert. 2.2  I nterphänomenalität durch epistemologischen Ausdrucksüberschuss im Kosmos Die zweite These vom Ausdrucksüberschuss im Kosmos über die sozio-kulturelle Lebenswelt hinaus ist vollständig anders gebaut. Ich wechsle also den Ansatzpunkt. Die These eines epistemologischen Ausdrucksüberschusses ist – bereits mit Vorläufern wie Wilhelm Wundt – ebenfalls erstmals prominent von Scheler und Plessner formuliert worden und dann vom Soziologen Thomas Luckmann in

22 Simmel, Georg: „Exkurs über die Soziologie der Sinne“, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1968, S. 485. 23 H. Plessner: Stufen des Organischen, S. 309-346. 24 Plessner, Helmuth: „Zur Anthropologie des Schauspielers“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd 7, hrsg. v. Günter Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker, Frankfurt a.M. 1983 [1948]. Plessner zitiert aus Leeuw, Gerald van de: Der Mensch und die Religion, Basel 1941, S. 23.

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einem wegweisenden Aufsatz zu den „Grenzen der Sozialwelt“25 in ihren Konsequenzen durchdacht worden. Demnach sind Menschen – exzentrisch positionierte Lebewesen – zunächst und zumeist dazu disponiert, nicht nur andere Menschen – andere Subjekte – und auch andere nicht-menschliche Lebewesen für expressiv zu halten, sondern darüber hinaus zunächst alle Gegenstände überhaupt, also auch nicht-lebendige Dinge wie Landschaften, Atmosphären, Sterne im Kosmos: d.h. sie in einer „personifizierende[n] Apperzeption“26 als Wesen wie Du und Ich aufzufassen, an die man sich richten kann, sprechend, sie „anplappernd“ (wie Gehlen diese universelle Kommunikation nennt)27 in der Erwartung, eine verstehbare Antwort zu erhalten. Diese Disposition zur universellen Ausdrucksüberschüssigkeit der menschlichen Wahrnehmung ist auch als intuitive Beseelung oder Einseelung der Objekte, als universelle Einfühlung oder Empathie behandelt worden. „Primär“ – so Scheler – „ist alles Gegebene überhaupt Ausdruck.“28 Das gesamte Feld des subjektiv und intersubjektiv Gegebenen erscheint – weit über Pflanzen und Tiere hinaus – als interphänomenales Feld, vom Stein bis zum Stern als Feld ausdruckshafter Phänomene, die nicht nur für ein menschliches Wahrnehmungssubjekt, sondern auch untereinander im expressiven Bezug stehen. Diese genuine Expressivitätsanmutung aller in der Wahrnehmung gegebenen Phänomene gilt sowohl ontogenetisch wie phylogenetisch. „Man darf weder dem Kind, noch darf man dem Primitiven das Weltbild der Erwachsenen und Zivilisierten unter- und einlegen, um dann reale Prozesse anzunehmen, die dieses Weltbild zu dem des Kindes und des Primitiven erst umgestalten.“29 Plessner formuliert die These von der epistemologischen Ausdrucksüberschüssigkeit so: „Nichts widerlegt schon innerhalb der einfachen Lebenserfahrung die berühmten Theorien des Analogieschlusses und der Einfühlung, nach denen angeblich der Mensch auf die Idee einer Mitwelt verfällt und schließlich zur Gewissheit der Wirklichkeit anderer Iche gebracht wird, stärker als die in Individual- oder Kollektiventwicklung überall zu beobachtende Tatsache einer ursprünglichen Tendenz zur Anthropomorphisierung und Personifizierung. In der Umwelt des Kindes nehmen auch die toten Dinge den 25 Luckmann, Thomas: „Über die Grenzen der Sozialwelt“, in: Ders., Lebenswelt, Identität und Gesellschaft. Schriften zur Wissens- und Protosoziologie, hrsg. v. Jochen Dreher, Konstanz 2007, S. 62-90. 26 Wundt, Wilhelm: Grundriß der Psychologie, Leipzig 1896, S. 355. 27 Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Bonn 21950. 28 Scheler, Max: Wesen und Formen der Sympathie, Frankfurt a.M. 51948 [1913/1916], S. 257. Zu Schelers Intersubjektivitätstheorie im engeren Sinn vgl. Schloßberger, Matthias: Die Erfahrung des Anderen. Gefühle im menschlichen Miteinander, Berlin 2005, S. 141-208. 29 M. Scheler: Sympathie S. 257.

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Charakter persönlicher Lebendigkeit an. Das Weltbild des Primitiven […] zeigt ähnliche Züge.“30 Man kann diese Interphänomenalität – die Kommunikation zwischen den Phänomenen selbst mit einem Einfall von Lichtenberg erläutern. „Man könnte auch leblose Dinge unter sich korrespondieren lassen. Schreiben des Göttingschen Quadranten (also des Sternenhöhenmessgerätes) an seinen Bruder in Greenwich, oder das eines Fußschemels an einen Armsessel. Geheime Unterredung eines Tintenfasses mit einer Sandbüchse, ihre Philosophie über die benachbarten Gegenstände.“ Goethe hatte ja bemerkt: Wo immer Lichtenberg einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen. Wenn nun sowohl Subjekte wie Soziokulturen von diesem Potenzial überschießender Ausdruckswahrnehmung durchzogen sind, dann bilden sich konkrete Intersubjektivitäten wie sozio-kulturelle Lebenswelten überhaupt erst im Verfahren der Einengung, der Beschränkung, der Limitation dieses epistemischen Ausdrucksüberschusses: „Bei der Annahme der Existenz anderer Iche handelt es sich nicht um Übertragung der eigenen Daseinsweise, in der ein Mensch für sich selbst lebt, auf andere ihm körperhaft gegenwärtige Dinge, also um die Ausdehnung des personalen Seinskreises, sondern um die Einengung und Beschränkung dieses ursprünglich eben gerade nicht lokalisierten und seiner Lokalisierung Widerstände entgegensetzenden Seinskreises auf die ‚Menschen‘. Das Verfahren der Beschränkung, wie es sich in der Deutung lebhaft erscheinender fremder Lebenszentren abspielt, muss streng getrennt werden von der Voraussetzung, dass fremde Personen möglich sind, dass es eine personale Welt überhaupt gibt.“31

Und Scheler fasst diese Limitierung des ursprünglichen epistemologischen Ausdrucksüberschusses so: „[D]as, was wir Entwicklung durch Lernen nennen, ist nicht eine nachträgliche Hinzufügung von psychischen Komponenten zu einer vorher schon gegebenen ‚toten’ dinglich gegliederten Körperwelt, sondern eine fortgesetzte Enttäuschung darüber, dass sich nur einige sinnliche Erscheinungen als Darstellungsfunktionen von Ausdruck bewähren, andere nicht. ‚Lernen’ ist in diesem Sinne zunehmende Entseelung, nicht aber Beseelung.“32

Aus dieser philosophisch-anthropologischen These von der „ontogenetischen und phylogenetischen Priorität eines belebten Universums“ hat Thomas Luckmann kulturanthropologische und soziologische Konsequenzen für die Theorie des So-

30 H. Plessner: Stufen des Organischen, S. 301. 31 A.a.O., S. 307. 32 M. Scheler: Sympathie, S. 257.

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zialen gezogen.33 Wenn zunächst alle Phänomene nach Analogie des eigenen Leibes als Ausdrucksphänomene erscheinen, dann konstituieren sich Gesellschaften überhaupt erst durch eine Grenzziehung innerhalb der „universalen Projektion“, des ursprünglichen Ausdrucksüberschusses, einer Grenzziehung, in der sich bestimmt, was als Ausdrucks-Verstehens-Zusammenhang gelten kann und was nicht. Es gibt prinzipiell flexible „Grenzen der Sozialwelt“, Grenzen der Einbeziehung von nicht-menschlichen Phänomenen in die Sozialwelt – oder umgekehrt die Ausschließung von menschlicher Phänomenalität aus der Sozialwelt. Dabei balancieren Gesellschaften zwischen der institutionell möglichen Verfestigung des universalen Ausdrucksüberschusses und seiner Beschränkung auf Grund von Erfahrung. „[D]ie ‚universale Projektion’ […] kann sich durch kommunikative Vorgänge in ein objektives, soziales Klassifikationssystem umwandeln und in sozialen Institutionen verfestigt werden. Eine so geartete Weltanschauung definiert alle Beziehungen zwischen einem Individuum und der Umwelt als sozial bedeutsam und all seine Handlungen als moralisch relevant. Die Sozialwelt ist [dann] nicht ein Teilbereich der Lebenswelt, sondern fällt mit ihr zusammen.“34

Andererseits bleibt die Möglichkeit, dass sich subjektive Ergebnisse der ‚universalen Projektion‘ nicht in einen institutionellen Zusammenhang fügen bzw. die Glaubwürdigkeit solcher Weltanschauungen fraglich wird: „[D]ann kann sich ein möglicherweise bedeutsamer Unterschied zwischen Dingen, auf die die Bedeutung ‚Leib‘ übertragen wurde, aufdrängen. Einige dieser Dinge haben einen veränderlichen Ausdruck, andere nicht. Z.B. wird ein Stein zunächst als Teil eines intersubjektiven Handlungszusammenhanges erfahren. Ich stolpere über einen Stein: Der Stein verletzt meine Zehen. Die Außenseite des Steins wird als Verkörperung einer durée erfahren. Aber zusätzlich – als Folge spezifischer apperzeptiver Bedeutungsübertragungen, die in ‚universaler Projektion‘ gründen – kann eine besondere Ansicht der Außenseite als Ausdruck eines besonderen inneren Zustandes des Steins aufgefasst werden, nämlich Zorn oder Ähnliches. Wenn ich den Stein nach einiger Zeit erneut betrachte, bemerke ich jedoch, dass sich sein Ausdruck nicht verändert hat. Vergleiche ich nun den Stein mit anderen Körpern aus meiner Erfahrung […], bin ich durch den gleich bleibenden Ausdruck verblüfft. Viele Körper der Lebenswelt verändern ihren Ausdruck und diese Änderungen bieten sich meiner Erfahrung

33 Th. Luckmann: Grenzen der Sozialwelt, S. 75. 34 A.a.O., S. 78.

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als Anzeichen einer Umwandlung des ‚Inneren‘ dieser Körper dar. Bei dem Stein kann ich keine derartigen Umwandlungen an einer vergleichbaren, äußeren Veränderung ablesen.“35

Lebensweltliche Dinge, die eine solche „unbewegliche Physiognomie“ aufweisen, für die erwartungsvolle Erfahrung also durch „Ausdrucksstarre“ gezeichnet sind, tendieren dazu, in der Weltsicht der universellen Projektion „ent-gesellschaftet“ zu werden – „es sei denn, besonderen gesellschaftlichen, durch Institutionen abgesicherten Auslegungen gelingt es, die unbewegliche Physiognomie bestimmter lebensweltlicher Objekte wegzudeuten.“36 Systematisch lässt sich dieser philosophisch-anthropologischen Aufklärung der Scheler-Plessner-Luckmann-Linie auch die sog. Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour einfügen, der selbst eine solche Aufklärung mangels Theoriereflexion nicht erbringen kann.37 Im Grunde genommen ist die Akteur-Netzwerk-Theorie ja nichts anderes als eine Märchen-Theorie des Sozialen in einem nüchternen Sinn, insofern sie in der Beobachtung der Handlungsträger und ihrer kontingenten Vernetzung der Logik der Märchen folgt: Alle Entitäten können Aktanten sein, Handlungsträger, etwas tuend oder ein Tun veranlassend, jede Gegebenheit, jedes Ding kann in die Position eines wirkungsmächtigen Helden, Schurken, Ermittlers, Helfers, Betroffenen geraten – z.B. die Hefe bei Pasteur als Aschenputtel der chemischen Industrie wird zu einer Heldin in einer Labornarration. Insofern lässt sich die Latoursche Theorie als eine Extrapolation des epistemologischen Ausdrucksüberschusses systematisch einordnen, die von Scheler bis Luckmann entfaltet wurde.

3.  G ESELLSCHAFT ALS ERSCHEINUNGSVERHÄLTNIS: DER GRENZVERKEHR DER INTERSUBJEKTIVEN LEBENSWELT MIT DEM INTERPHÄNOMENALEN Es gilt, aus den zwei Aufklärungen über die zwei unabweisbaren Quellen der Interphänomenalität Konsequenzen für die Gesellschaft zu ziehen. Es gibt ein doppeltes Ausdruckssurplus im Kosmos. Menschliche Lebewesen stammen evolutionär – ontologisch gesehen – aus vor ihnen entfalteten Ausdrucksverhältnissen (des Organischen) im Kosmos, die in einer unübersehbaren Vielfalt sich vor und neben ihnen zur Geltung bringen, über sie hinausschießen, und die in ihnen – den 35 A.a.O., S. 80. 36 Ebd. 37 Latour, Bruno: „Eine Soziologie ohne Objekt? Anmerkungen zur Interobjektivität“, in: Berliner Journal für Soziologie, H. 2, Wiesbaden u.a. 2001, S. 237-252.

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menschlichen Lebewesen – gebrochen (durch natürliche Künstlichkeit, vermittelte Unmittelbarkeit) sich fortsetzen – im Maskenspiel der Gesichter, in der Repräsentation, der Rolle, dem Kleid. Und in diesen nun spezifisch menschlichen Lebewesen ist zugleich epistemologisch eine universelle Ausdruckssupposition aktiviert, die über die Intersubjektivität unter ihresgleichen hinausschießt und wie im Märchen alle Dinge in den Zustand der Interphänomenalität versetzt sieht. Oder um Heine zu zitieren: „Aus alten Märchen winkt es/Hervor mit weißer Hand/Da singt es und da klingt es/Von einem Zauberland:/Wo große Blumen schmachten/ Im goldnen Abendlicht,/Und zärtlich sich betrachten/Mit bräutlichem Gesicht;– / Wo alle Bäume sprechen/Und singen, wie ein Chor,/Und laute Quellen brechen/ Wie Tanzmusik hervor“.38 Und die ontologische Interphänomenalität – die unabhängig vom Menschen voreinander erscheinende Welt des Lebendigen (der Blumenblüten und Tiervisagen) – ist in der menschlichen Lebenswelt die stärkste Stütze für die epistemologische Interphänomenalität, d.h. die animistische Setzung, dass alle (auch nicht vitale) Dinge im Kosmos wie Phänomene voreinander erscheinen. „Interphänomenalität“ erweist sich vielleicht als ein glücklicher terminologischer Griff, der eine ganze Reihe anderer vertrauter Begriffe für diese Zwischen-Phänomenalität der Phänomene einzusammeln und zu ordnen vermag – zum Beispiel Benjamins berühmten Begriff der „Aura“: „Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“39 Streng genommen wären dann durch den epistemologischen Ausdrucksüberschuss in der Wahrnehmungserfahrung die Phänomene mit dem Vermögen belehnt, untereinander „den Blick aufzuschlagen.“ Dabei bildet sich immer erneut eine kulturell schwimmende Grenze, ob es sich bei diesem ‚Belehnen‘ um ein aus der Ausdrucksprojektion abgeleitetes oder um ein aufgespürtes Beziehungs-Geschehen handelt. Auch Husserls intersubjektivitätstheoretische Variation der Monadologie, der Lehre von den aufeinanderbezogenen Kraftzentren oder „Monaden“, ist hier einschlägig: die Verschiebung der Bestimmung von Leibniz „Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas hinein- oder heraustreten könnte“40 zur Beschreibung: „Jedes Ich ist eine ‚Monade‘. Aber die Monaden haben Fenster“41, durch 38 Heine, Heinrich: „Aus alten Märchen winkt es“. 39 Benjamin, Walter: „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1974 [1939], S. 646. 40 Leibniz, Gottfried W.: „Monadologie §35,7“, in: Ders., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Bd. 2, Hamburg 1996, S. 603-621, hier S. 603. 41 Husserl, Edmund: „Texte aus dem Zusammenhang der Vorbereitungen eines ‚großen systematischen Werkes‘ (Frühjahr 1921 bis Frühjahr 1922)“ in: Ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass, Zweiter Teil: 1921-1928, Den

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sie über die „Einfühlung“ einander zugänglich sind – „Fenster der Einfühlung“.42 Mit der Husserlschen Verwendung der füreinander und voreinander geöffneten Monaden im Rahmen der Intersubjektivitätstheorie – und über Husserl hinaus – lässt sich im Rahmen der Interphänomenalitätstheorie auch der haltbare Sinn der Leibnzischen Metaphysik der prästabilisiert aufeinander abgestimmten Monaden interpretieren – wenn man Monaden als flexible Erscheinungs- und Ausdrucksverhältnisse von Phänomenen zueinander und voreinander versteht. Menschliche Gesellschaften oder konkrete soziokulturelle Lebenswelten kennen also nicht von vornherein klar umrissene Ausdrucks-Verstehens-Verhältnisse, sondern konstituieren sich je erst durch die jeweilige Festlegung sozialer Grenzen: was oder wer dazugehört, was oder wer draußenbleibt. Insofern muss man „[d]as Soziale von seinen Grenzen her denken“.43 Also „was“ zu den Subjekten, – zum „Wer“ – gerechnet wird, so dass Intersubjektivität möglich wird, oder umgekehrt „Wer“ zum „Was“, zu den Objekten gestoßen und geschoben wird, der Welt der sachlichen Dinge, die bloß von einem Kausalverhältnis „interobjektiv“ bewegt werden. Das ist bezogen auf das Phänomen des ‚Menschen‘ selbst eine Dauerherausforderung – bei der Abtreibung von Neuankömmlingen, beim Absterbenlassen von Hirntoten: Wer im Ausdrucks-Verstehens-Kreis gehalten oder in die Zone der nichtexpressiven Dinge (das bloße Was) abgeschoben wird.44 Das ist aber auch die Entscheidung bezogen auf die vitale Interphänomenalität überhaupt, inwiefern nämlich subhumane Lebewesen (Pflanzen und Tiere) in ihrer ontischen Expressivität in den Kreis des Verständlichen mit aufgehoben werden, ihnen Zurechenbarkeit zugemutet, zumindest Fürsorge und Schmerzvermeidung (Tierethik) zugestanden wird bis hin zu zugesprochenen passiven Personenrechten für nicht-menschliche Primaten.45 Gesellschaften operieren also ständig entlang der Limitation des Ausdrucksüberschusses, sie pflegen einen Grenzverkehr mit der Interphänomenalität: sie lassen Enttäuschung universaler Ausdrucksprojektionen zu, die sogenannten EntHaag 1973, S. 1-302, hier S. 260. Ergänzend heißt es bei Husserl: „Sie haben insofern keine Fenster oder Türen als kein anderes Subjekt reel eintreten kann“. 42 Bredekamp, Horst: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz' Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004. 43 Lindemann, Gesa: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Weilerswist 2009. 44 Vgl. ebd. 45 Wie in der Singer-Debatte: das Great Ape Project (GAP) mit der internationalen Initiative, bestimmte Rechte, die derzeit dem Menschen vorbehalten sind, auch für die anderen Mitglieder der Familie der Menschenaffen, also Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans, zu fordern (darunter das Recht auf Leben und der Schutz der individuellen Freiheit).

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zauberungsprozesse, und differenzieren zugleich gegenläufig Sinnprovinzen der Verzauberung in der Lebenswelt aus, in denen zugelassene Ausdrucksüberschüssigkeit kultiviert und präsent gehalten wird (in Religion, Mythologie, Poesie, Ästhetik), wenn eben nicht nur Bäume, sondern auch scheinbar gleichgültige Steine und Wolken, Artefakte und Häuser, ja die Erde als Planet insgesamt expressiven Charakter annehmen können – wie bei Rilke: „Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen, aus jeder Wendung weht es her: Gedenk! Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen, entschließt im künftigen sich zum Geschenk. Wer rechnet unseren Ertrag? Wer trennt uns von den alten, den vergangnen Jahren? Was haben wir seit Anbeginn erfahren, als dass sich eins im anderen erkennt? Als daß an uns Gleichgültiges erwarmt? O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht, auf einmal bringst du‘s beinah zum Gesicht und stehst an uns, umarmend und umarmt. Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum. Ich sorge mich, und in mir steht das Haus. Ich hüte mich, und in mir ist die Hut. Geliebter, der ich wurde: an mir ruht der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.“46

Rilkes „Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen“ ist ein Gedicht über das Gedicht, über die poetische Daueroperation von Lebenswelten überhaupt: Poesie, Mythologie und Religion sind also die Medien, in denen die sozio-kulturellen Lebenswelten der Intersubjektivität den überschüssigen Raum des Interphänomenalen kultivieren – allen Phänomenen in ihrem kommunikativen Verhältnis untereinander im „Weltinnenraum“ nachspüren, nachforschen. „Weltinnenraum“ ist 46 Rilke, Rainer M.: Die Gedichte, hrsg. v. Zinn, Ernst, Frankfurt a.M. 1986, S. 878-879.

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insofern ein prägnanter Terminus für die „Interphänomenalität“ im zweiten Sinne, im Sinne des epistemologischen Ausdrucksüberschusses. In ihm erscheinen Sterne und Steine, Bäume und Tiere, Häuser und Dinge nämlich als Phänomene voreinander – eben „inter-phänomenal“. Die menschlichen Beobachter sind gleichsam Eckensteher dieses ‚Weltinnenraums‘, Lauscher und Voyeure eines interphänomenalen „Weltinnenraums“, der auch sie zugleich umringt und durchdringt. Damit läuft auch durch die Welt der Dinge selbst, der Artefakte, der materiellen Körper und Baukörper, die aus der menschlichen Lebenswelt künstlich hervorgebracht werden, die bewegliche Grenze des Interphänomenalen. Nicht nur durch die lebendigen Entitäten einschließlich der Menschen, sondern auch durch die Welt der Sachen und Dinge läuft eine offene Grenze, die markiert, welche Entitäten aus der Sachdimension zu den reinen kausalen Objekten (Interobjektivität) und welche zur interphänomenalen Ausdrucks-Zone gehören – die heiligen Dinge, überhaupt alle Dinge mit dem berühmten Fetischcharakter, denen eine helfende, schützende oder eine bannende und entfremdende Zauberkraft innewohnt (zugeschrieben wird). Es ist die „Kraft der Dinge“, die im Gabentausch „sie zwingt, zu zirkulieren, gegeben und erwidert zu werden“, so bereits die berühmte Formulierung von Marcel Mauss. Die Wertsachen des Wohlstandes besitzen eine „Persönlichkeit, einen Namen, bestimmte Eigenschaften und Macht.“ Bei den Trobriandern gilt: „Häuser, Balken und geschmückte Wände – sie alle sind Lebewesen. Alles spricht: das Dach, das Feuer, die Schnitzereien und Malereien.“47 Und weiter Mauss: „Bei den Tingit glaubt man, daß das Haus spricht, daß die Geister mit den Pfosten und Balken des Hauses sprechen, daß die letzteren selbst sprechen und daß auf diese Weise zwischen den totemistischen Tieren, den Geistern und den Menschen Dialoge geführt werden.“48 Der Leitbegriff „Interphänomenalität“ ist der Köder für ein ganzes Forschungsprogramm – die arrangierende Kraft des Kunstbegriffes für soziologische, ökologische, bioethische, ästhetische Fragen ist unabsehbar. Natürlich lassen sich damit die Kunsträume menschlicher Gesellschaften in ihrer Eigenart plausibel rekonstruieren: Bildkunstwerke in Interieurs und in Museen erscheinen so gesehen voreinander – die Bewohner und Betrachter sind gleichsam Eckensteher der „Blickwechsel zwischen den Bildern“, zwischen „den Bildern und uns“. Im „pictorial turn“ hat W.J.T. Mitchell diesem wörtlich zu nehmenden „Leben der Bilder“ theoretisch vorgearbeitet: „Bilder sind Gegenstände, die mit sämtlichen Stigmata des Personhaften und Beseeltseins gezeichnet sind (…) Sie weisen nicht 47 Mauss, Marcel: „Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften“, in: Ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, München 1975, S. 9-144, S. 80; 85. 48 A.a.O. 86.

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nur eine Oberfläche auf, sondern auch ein Gesicht.“49 „What do pictures want?“: In jedem Fall wollen sie vor uns und vor anderen Dingen erscheinen, sich auszeichnen. In der „Ästhetik“, in der Reflexion ist – von Hegel bis Hartmann – das „Erscheinungsverhältnis“ der Kunstdinge zentral50 – anders als Nutzdinge, die nebenbei auch erscheinen, existieren die Kunstdinge in dem, was sie sind, nicht ohne das Erscheinungsverhältnis. Eine weitere Probe auf „Interphänomenalität“ als Forschungsprogramm wird in der Architektursoziologie als neuem Kern der Stadtwissenschaft gemacht – unter dem Titel der „Architektur als schwerem Kommunikationsmedium“ jeder Gesellschaft51: Die „Baukörper“ jeder Siedlung überhaupt (mit ihren Fenstern und Türen, ihren Fassaden [Hausgesichtern]) stehen demnach immer schon in einem quasi-kommunikativen Erscheinungsverhältnis zueinander – ganz unabhängig von ihren praktischen Funktionen, und von diesem Phänomen der gebauten „Interphänomenalität“ (in Bau und Gegenbau) wird jeder affiziert, der durch eine menschenverlassene, vielleicht vollkommen unbewohnte (Ruinen-)Stadt streift.52 Als Baukörpergrenze ist Architektur notwendig die Kopplung von Funktion und Ausdruck, wie bereits Kleid und Haut.53 Stützender Hintergrund für den „expressiven Außenhalt“ der Architektur54 ist die epistemologische Ausdrucksüberschüssigkeit in menschlichen Lebewesen. Der Animismus der kindlichen Wahrnehmung, dass auch Häuser im Verhältnis zueinander etwas wollen und verbergen, findet seine Stabilisierung darin, dass in der kindlichen Beobachtung Menschen in Zelte hineinschlüpfen, aus Hütten heraustreten, sich an Fenstern zeigen. Dieser Animismus verliert sich auch bei den Erwachsenen 49 Mitchell, William J. T.: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008, S. 48. 50 Hartmann, Nicolai: Ästhetik, Berlin 1953. 51 Fischer, Joachim: „Architektur als ‚schweres Kommunikationsmedium‘ der Gesellschaft. Zur Grundlegung der Architektursoziologie“, in: Peter Trebsche/Nils Müller-Scheeßel/Sabine Reinhold (Hg.), Der gebaute Raum. Bausteine einer Architektursoziologie vormoderner Gesellschaften, Münster 2010, S. 63-82. 52 Delitz, Heike: „Expressiver Außenhalt. Die ‚Architektur der Gesellschaft‘ aus der Perspektive der Philosophischen Anthropologie“, in: Joachim Fischer/Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 163-194; dies.: „Architektur als ‚schweres‘ Kommunikationsmedium der Gesellschaft“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Themenheft: Architektur der Gesellschaft), H. 25, 2009, S. 7-10. 53 Zum Beispiel der Expressivitätscharakter der sog. funktionalistischen Architektur: Kaehler, Gert: Architektur als Symbolverfall. Das Dampfermotiv in der Architektur, Braunschweig 1981. 54 H. Delitz: Expressiver Außenhalt, S. 163-194.

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nicht, die um die Sachdimension von Baukörpern wissen: Selbst bei geräumten, scheinbar unbewohnten Häusern appräsentiert die Wahrnehmung das Gesehenwerden aus dem Haus, den anonymen Blick aus dem Inneren. Mit dieser theorietechnischen Umakzentuierung gewinnt die je über Generationen gebaute Stadt eine neuartige Relevanz im Verhältnis zur sozialen Stadt interaktiver Akteure – es wird klar, warum Architekturdebatten um den konkreten Erscheinungsraum auch in virtuell operierenden Gegenwartsgesellschaften von Gewicht bleiben. Hat man einmal diese philosophisch-anthropologische Reflexion auf den doppelt weltimmanenten, interphänomenalen Raum durchgeführt (gleichsam innerhalb der Sozialtheorie), dann lassen sich natürlich gesellschaftstheoretische Analysen von je konkreten Gesellschaften hinsichtlich ihrer jeweiligen „Entzauberungsprozesse“ und gegenläufigen „Verzauberungsprozesse“ anschließen – bis hin zur Moderne. Interphänomenalität, das expressive Erscheinen der kleinen Dinge voreinander, ist im sozialen Mikroraum auch eine Basis für die „Lieblingsdinge“ einer konkreten Person mit ihrer je bezaubernden, obsessiven biographischen Kraft55 - und die Ökologiebewegung wäre ein „Verzauberungsprozess“ im Makroraum der Moderne, wenn die „Erde“ insgesamt als bewahrenswerte ‚Schöpfung‘, als expressive ‚Gaia‘ in den interphänomenalen Raum der menschlichen Lebenswelt miteinbezogen würde.

55 Bosch, Aida: Konsum und Exklusion. Eine Kultursoziologie der Dinge, Bielefeld 2010.

Wider die „entadelte Kunst“ der Industrie1 Zum Verhältnis von Kunst, Handwerk und Industrie im kirchlichen Milieu des 19. Jahrhunderts Uta Karstein

1.  EINLEITUNG Als sich 1848 erstmals kirchlich gesinnte Akteure zu einem Evangelischen Kirchentag zusammenfanden, um im Zuge der Revolutionsereignisse von 1848/49 den gesellschaftlichen Platz von Religion und Kirche neu auszuloten, hatten sie sich viel auf die Agenda gesetzt. Neben der Suche nach Antworten auf die drängenden sozialen Fragen und dem Versuch, die innerprotestantische Zersplitterung aufzuheben, ging es dabei auch um das visuelle und materielle Erscheinungsbild kirchlich verfasster Religion. Um fortan regelmäßig Themen rund um Fragen von Architektur, Kunst und Kunsthandwerk besprechen zu können, berief man ab 1851 im Rahmen der Kirchentage eigens eine Spezialkonferenz für christliche Kunst ein. Immer wieder wurden dort in der Folgezeit auch konkrete Forderungen artikuliert, wie kirchliche Kunst und liturgische Gegenstände auszusehen hätten, damit sie nicht nur liturgisch „angemessen“ seien, sondern auch „schön“. Im Umfeld der Spezialkonferenzen entstanden in den 1850er und 1860er Jahren dann mehrere protestantische Kunstvereine, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein aktiv waren und sich mit Fragen des Kirchenbaus ebenso auseinandersetzten wie mit Fragen religiöser Kunst und Kunsthandwerks.2 So gab es ab 1852 den in der 1 O. [Friedrich Oldenberg]: „Berathungen über christliche Kunst auf dem Hamburger Kirchentage“, in: Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus (1859), Nr. 2, S. 11-15, hier S. 11. 2 Religiös orientierte Kunstvereine gab es auch in den katholischen Regionen des späteren Deutschen Kaiserreiches, so etwa die 1852 gegründeten Diözesankunstvereine in Paderborn und Rottenburg sowie der 1853 gegründete Verein für christliche Kunst im

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unierten Kirche Preußens agierenden Verein für religiöse Kunst in der evangelischen Kirche, ab 1857 den Verein für christliche Kunst in der evangelischen Kirche Württembergs und 1859 den Verein für kirchliche Kunst in Sachen. 1884 gründet sich dann der Verein für christliche Kunst in der evangelischen Kirche Bayerns.3 Auch ihnen ging es darum zu klären, welche Form sich das Religiöse geben solle und welche ethisch-ästhetischen Kriterien dabei von Relevanz seien. Dabei nahmen sie nicht nur die Kirchenarchitektur in den Blick, sondern das gesamte Interieur, also Abendmahlskannen ebenso wie Taufsteine, Paramente, Konfirmandenurkunden, Grabmäler, Altarbilder usw. usf. Die Vereine agierten dabei in der Regel ausgesprochen kirchennah. Ihnen ging es in erster Linie um die Stärkung der bestehenden Institution. Gegenüber den innerprotestantischen Richtungsstreitigkeiten verhielten sie sich demgegenüber eher distanziert und nahmen eine moderate mittlere Position ein. Das heißt, dass sie sich von streng pietistischen Strömungen ebenso abgrenzten wie von lutherisch-orthodoxen, da sie sie gleichermaßen als kunstfeindlich ansahen.4 Publizistisch unterstützt und flankiert wurden diese Aktivitäten durch die 1858 gegründete Zeitschrift Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus. All dies war bislang noch kein Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse.5 Abgesehen von einigen beiläufigen Erwähnungen lässt sich kaum etwas FundierErzbistum Köln. Zu diesen katholischen Kunstvereinen ist die Forschungslage ähnlich schlecht wie zu den protestantischen Vereinen. Der ständige Vergleich bzw. eine Gesamtdarstellung aller Vereine hätte den Rahmen dieses Aufsatzes jedoch überstiegen und muss daher späteren Abhandlungen vorbehalten bleiben. 3 Ein evangelischer Kunstverein hatte sich auch 1858 in Hamburg gegründet. Allerdings nahm der Hamburger Verein aus verschiedenen Gründen nie wirklich Fahrt auf, vgl. Haerter, Berthold W./Stolt, Peter: „Die Vorgänger des Kirchlichen Kunstdienstes Hamburg“, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 85, 1999, S. 63-84. Er wird daher im Folgenden nicht berücksichtigt. 4 Vgl. Evangelisches Zentralarchiv in Berlin. Archiv der Evangelischen Kirche in Deutschland [im Folgenden EZA] 49/1 D56, Jahresberichte des Vereins für religiöse Kunst in der evangelischen Kirche erstattet in den Generalversammlungen vom 27. Mai 1856 und 26. Mai 1857, S. 4. Auch die Abgrenzung gegenüber dem Katholizismus wurde nicht besonders zelebriert. Man sei der Ansicht, so konnte man 1860 im Christlichen Kunstblatt lesen, dass die christliche Kunst vor allem gedeihe, wenn man sich aus den konfessionellen Streitigkeiten heraushalte. Vgl. Ulrici, Hermann: „Karl Steinhäuser“, in: Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus (1860), Nr. 3/4, S. 17-22, hier S. 18. 5 Eine kurze Erwähnung finden die Vereine beispielsweise bei Henning Pahl (ders.: „Der Holzschnitt redet die Sprache des Volkes. Das Bild als Popularisierungsmedium im

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tes zu diesen Akteuren und ihrer Wirkungsgeschichte finden. Dabei sind diese Spezialkonferenzen und christlichen Kunstvereine nicht nur aus einer vergleichsweise engen kirchengeschichtlichen Perspektive interessant.6 Die Reichweite ihrer Bedeutung erschließt sich erst, wenn man ihre Agenda in den kulturgeschichtlichen Kontext der sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft stellt. Lohnenswert erscheinen hier vor allem Forschungsperspektiven, die nach dem Charakteristischen bürgerlicher Kultur und damit verknüpfter Spannungen und Konfliktlinien fragen.7 Einmal mehr zeigt sich nämlich am Beispiel der Förderer kirchlicher Kunst und Kunsthandwerks, dass der religiöse Bereich im 19. Jahrhundert keine Insel darstellte, die anderen – etwa historisch älteren – Strukturlogiken gehorchte. Im Rahmen des nachfolgenden Aufsatzes soll vielmehr die These vertreten werden, dass sich maßgebliche und für die bürgerliche Kultur typische Spannungen und Konfliktlinien hier nicht nur ebenso zeigten, sondern entscheidend mit vorbereitet wurden. Beispielhaft wird dies im Folgenden für die Spannung von Kunst und Kitsch, also die Unterscheidung von ästhetisch Anspruchsvollem und Minderwertigem Dienste der Religion“, in: Carsten Kretzschmann (Hg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin 2003, S. 257-279, hier S. 271-273.) sowie bei Thomas Schmitz (ders.: Deutsche Kunstvereine im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Kultur-, Konsum- und Sozialgeschichte der bildenden Kunst im bürgerlichen Zeitalter, Neuried 2001, S. 191-206). 6 In diesem Kontext gibt es die einzige ausführlichere Auseinandersetzung mit den Vereinen und ihrem Umfeld sowie den Spezialkonferenzen für christliche Kunst: Vgl. Scharfe, Martin: Evangelische Andachtsbilder. Studien zu Intention und Funktion des Bildes in der Frömmigkeitsgeschichte vornehmlich des schwäbischen Raumes, Stuttgart 1968. Hilfreich sind darüber hinaus die Überlegungen von Jochen-Christoph Kaiser zum kulturellen Formationsanspruch der Inneren Mission, zu der er auch die christlichen Kunstvereine und andere ähnlich gelagerte Initiativen zählt. Vgl. Kaiser, Jochen-Christoph: Evangelische Kirche und sozialer Staat. Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2008, S. 31-43. 7 Vgl. Elias, Norbert: „Kitschstil und Kitschzeitalter“, in: Die Sammlung 2 (1935), S. 252-263; Hettling, Manfred: Bürgerlichkeit als kulturelles System. Arbeitspapier des Internationalen Graduiertenkollegs Halle-Tokyo „Formenwandel der Bürgergesellschaft – Japan und Deutschland im Vergleich“ (2010), Nr. 9. Hein, Dieter/Schulz, Andreas (Hg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München: C.H.Beck 1996. Kaschuba, Wolfgang: »Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis«, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich Bd. 3, München: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 9-44.

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gezeigt, die sich ab dem 18. Jahrhundert vereinzelt beobachten lässt, und die sich dann im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend etabliert. Denn sowohl diese semantische Grenzziehung als auch die damit einhergehende soziale Ausgrenzung bestimmter Produzenten und Verfahrensweisen finden sich auch im Bereich von Religion und Kirche wieder – wobei sich die protestantischen Kunstvereine und ihre Unterstützer als die maßgeblichen Protagonisten erweisen. Anders als bei sonstigen Abhandlungen zum Thema Kunst und Kitsch, die neben der bildenden Kunst bevorzugt die Literatur zum Gegenstand ihrer Analysen machen, soll hier der Bereich des Kunsthandwerks und des Kunstgewerbes in den Blick genommen werden. Dieser Gegenstandsbereich ist reizvoll, weil sich an ihm bislang kaum je wahrgenommene Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen den religiösen Initiativen der Jahrhundertmitte und den Aktivitäten säkularer Kulturverbände um 1900 zeigen. Gemeinsame Grundlage dieser religiösen und säkularen Vereine ist die bis heute virulente Annahme, dass ästhetisch anspruchsvoll gestaltete Dinge eine positive Wirkung auf den Menschen entfalten – Ästhetisches also ethische Implikationen hat. Im Folgenden werden zunächst einmal die allgemeinen Veränderungen skizziert, die der sich beschleunigende Prozess der Industrialisierung im Bereich des Kunsthandwerks und Kunstgewerbes mit sich brachte (2.). Im Anschluss daran wird dargestellt, wann und wie Fragen kirchlicher Architektur und Innenausstattung im 19. Jahrhundert zum Problem wurden (3.). Argumentiert wird, dass die aus dieser Problemkonstruktion resultierenden Bemühungen der christlichen Kunstvereine um den guten Geschmack der Gemeindemitglieder und Pfarrer auf einer spezifischen Annahme über das Verhältnis von Moral (i.S. des sittlich Guten) und Ästhetik (i.S. des Schönen) beruhten, wie sie auch für die späteren Reformbünde typisch waren (4.). Schließlich sollen zwei wesentliche Effekte herausgearbeitet und kontextualisiert werden, die die Aktivitäten der Verfechter eines würdigen wie schönen christlichen Kunsthandwerks und einer darauf bezogenen Geschmackserziehung nach sich zogen (5.): Erstens lässt sich zeigen, dass es aufgrund dieses angenommenen Zusammenhangs vom Schönen und Guten zur Etablierung einer semantischen Abgrenzung gegenüber solchen Werken und Artefakten kam, deren Wirkung nach Ansicht der Akteure vorrangig auf „Reiz und Rührung“ beruhte. Damit leisteten die Unterstützer kirchlichen Kunsthandwerks einem einflussreichen Deutungsmuster Vorschub, das sowohl im Bereich der Kunst und Literatur als auch im Bereich des Kunsthandwerks und Designs zwischen ‚Anspruchsvollem‘ und ‚Kitschigem‘ unterschied (und unterscheidet). Damit gingen dann – zweitens – sehr konkrete soziale Grenzziehungen einher, die zwischen angemessenem und nicht-angemessenem Personal differenzierten, was die Vergabe entsprechender Aufträge anging. Auf diese Weise hatten die Aktivitäten strukturierende und regulierende Effekte auf die mit dem Kirchenbau

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verbundenen Professionen und Gewerke und deren Absatzmarkt. Und auch in diesen Punkten lassen sich die Kontinuitätslinien zwischen den frühen Bemühungen christlicher Kunstvereine und den späteren Aktivtäten von Kulturinitiativen wie dem Dürer- und Werkbund zeigen.

2.  I NDUSTRIALISIERUNG UND DIE FRAGE DER ÄSTHETISCHEN GESTALTUNG Die Industrialisierung mit ihren Reproduktionstechniken und den Möglichkeiten serieller Produktion von ehemals handwerklich verfertigten Gebrauchsgütern brachte zum einen neuartige Formen der Arbeitsteilung und Differenzierung hervor.8 Zum einen vergrößerte sich die schon bestehende Distanz zwischen „freier“ und „angewandter“ Kunst. Die sich im 18. Jahrhundert abzeichnende Tendenz, den künstlerischen Nachwuchs nicht mehr einzig und allein an den Akademien der schönen Künste auszubilden, dynamisierte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends und führte zu einer Reihe von Neugründungen von Kunstgewerbe- und Zeichenschulen sowie technischen Hochschulen, mit denen die Trennung zwischen freien und angewandten Künsten weitgehend institutionalisiert wurde. Aber auch innerhalb des Produktionsprozesses kam es zu Ausdifferenzierungen und Spezialisierungen. Prozesse des Entwerfens und Ausführens traten auseinander und neue Berufe wie der des Musterzeichners entstanden und etablierten sich. Lagen Entwurf und Ausführung vormals eng beieinander, hatte der Zeichner nun nur noch eine vermittelte Beziehung zum seriell produzierten Endprodukt. Umgekehrt galt dies natürlich auch für diejenigen, die die Umsetzung und Ausführung der Entwürfe zu verantworten hatten. Darüber hinaus führte die Massenfabrikation zu Anpassungen bei den verwendeten Materialien. Nicht alle vormals geläufige Rohstoffe eigneten sich gleich gut für eine maschinelle Verarbeitung. Beschleunigt wurde die Verdrängung alter Materialien wie Holz, Edelmetall oder Ton noch zusätzlich durch die Entwicklung günstiger Kunststoffe.9

8 Hirdina, Heinz: »Design«. In: Karl-Heinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe Bd. 2, Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 41-63.; Meireis, Claudia: Theorien des Designs. Zur Einführung, Hamburg 2014, S. 44-55; Cleve, Ingeborg: Geschmack, Kunst und Konsum, Göttingen 1996; König, Gudrun: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien u.a. 2009; Selle, Gert: Geschichte des Designs in Deutschland, Frankfurt a.M./New York 1994. 9 Vgl. G. Selle: Geschichte des Designs in Deutschland, S. 62.

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Damit zusammen hängt eine völlig neuartige Produktkultur. Die allgemeine „Verfügbarkeit der Dinge“10 als Waren und ihre qualitative Ausdifferenzierung, ihre Aneignung durch breite Bevölkerungsschichten und ihr schieres Ausmaß waren eine bis dato unbekannte Erfahrung. Wie Ingeborg Cleve anhand von zeitgenössischen Chroniken, Werbebroschüren und Nachlassannoncen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anschaulich zeigt, ereignete sich eine regelrechte Revolution des Konsums städtisch-bürgerlicher Schichten. Dies betrifft den Umfang an verfügbaren Dingen ebenso wie die damit verknüpfte Differenzierung zwischen ihren Funktionen.11 Statt einiger einfacher Löffel waren es nun Vorlegelöffel, Suppenlöffel, Punschlöffel, Kaffee- und Teelöffel, die den bürgerlichen Haushalt bevölkerten. Statt einiger Tische wurde nun zwischen Schreibtischen Spieltischen, Esstischen, Kaffee- und Teetischen unterschieden. Der Divan und das gepolsterte Sofa ersetzten das bis dato übliche einfache Bett und die Bank. Man demonstrierte Weltläufigkeit und Modebewusstsein, indem man chinesisches Porzellan und französisches Silbergeschirr erwarb, den Kronleuchter aus Böhmen importierte und die Tischwäsche bevorzugt aus den Niederlanden bezog. Was sich hier beobachten lässt, so Cleve, sei ein „komplexes Wechselspiel zwischen wachsender Formenvielfalt und ästhetischer Kohärenz“12, das als durchaus problembehaftet wahrgenommen wurde und daher zu einem Gegenstand ständiger Reflexion avancierte.13 Nicht zuletzt deswegen gesellten sich bei diesem Wechselspiel „zwischen Formen und Dingen, Dingen und Interieur, Interieur und Geschmack“ vielfältige „Vermittlungsinstanzen“,14 zu denen Musterkataloge, Vorlagenwerke und Journale ebenso zählten wie Ausstellungen, Kunst(-gewerbe)museen und Kunstbücher. Sie ermöglichten eine erste Orientierung und zielten damit zugleich auf die Normierung des Geschmacks. Gerade die Anzahl publizierter Kunstbücher war, befeuert durch den Bildungshunger und Bildungseifer des Bürgertums, schon im Laufe des 19. Jahrhunderts enorm angewachsen. Die literarische wie bildkünstlerische Dokumentation der obligatorischen Bildungsreisen nach Griechenland und Italien, die sich etablierende Archäologie sowie überhaupt das Interesse an Geschichte führen zu einer großen Zahl an Publikationen, die kunsthistorische Kenntnis und ästhetisches Urteilsvermögen des interessierten Bürgertums schulen. Von Anfang an gab es dabei Stimmen, die explizit den praktischen Nutzen dieser Art ästhetischer Bildung hervorhoben, denn sie sollte auch und vor allem das Niveau der 10 Schrage, Dominik: Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums, Frankfurt a.M/New York 2009. 11 Vgl. I. Cleve: Geschmack, Kunst und Konsum, S. 197-206. 12 A.a.O., S. 198. 13 Ebd. 14 Ebd.

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zeitgenössischen Produktion verbessern helfen.15 Es wurde vielfach gängige Praxis, dass sich angehende Musterzeichner an solchen Kunstbüchern wie auch an den Exponaten kunstgewerblicher Sammlungen schulten, die sie zeichneten und als Vorlagen nutzten.16 Dieses wachsende Interesse an vergangenen Epochen und ihren Stilen und deren ästhetischer Aneignung trug wesentlich dazu bei, dass diese ab den 1840er Jahren zum prägenden Maßstab wurden – und der Epoche des Historismus damit zu ihrem Namen verhalfen. Dabei prägte der Historismus nicht nur die Architektur17, sondern ebenso die Produktpalette alltäglicher, und außeralltäglicher Gebrauchsgüter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch industriell gefertigte Produkte wurden in ein historisierendes Ornament gekleidet – eine Entwicklung, die im ausgehenden 19. Jahrhundert dann zunehmend problematisiert wurde. Hierbei machten vor allem die prominent besetzten Initiativen des 1902 gegründeten Dürerbundes und des 1907 initiierten Werkbundes von sich reden.18 Diese lebensreformerisch und kulturpolitisch engagierten Bünde waren kritische Beobachter des zeitgenössischen Wechselspiels zwischen Formen und Dingen und monierten, dass das industrielle Zeitalter (immer noch) Schwierigkeiten habe, einen angemessenen Umgang mit den ihr neu zufließenden Mitteln und Stoffen zu finden. In geistiger Hinsicht mühe sich die Praxis noch vergebens, Herr ihres Stoffes zu werden. Neue Erfindungen und Produktionsweisen würden vielmehr ‚versteckt‘ hinter historisierendem Dekor und Ornament.19 Ein „Gewerbe der Imitation und des Surrogates“ sei entstanden, „ein Bauen im bessern Falle der öden Nüchternheit, im schlechtern der verlogenen Protzerei“, so Ferdinand Avenarius in einem Aufruf zur Gründung des Dürerbundes 1901.20 Oft genug würden Pro15 Vgl. A.a.O., S. 87-98. 16 Vgl. G. Selle: Geschichte des Designs, S. 62. 17 Für den Bereich der Architektur ist diese Epoche des Historismus vergleichsweise gut aufgearbeitet, vgl. z.B. Dolgner, Dieter: Historismus. Deutsche Baukunst 1815-1900, Leipzig 1993. Dies gilt jedoch nicht für den Bereich des Kunsthandwerks und der Kunstindustrie. 18 Vgl. Bürdek, Bernhard E.: Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung, Basel 2015; G. Selle: Geschichte des Designs; G. M. König: Konsumkultur. 19 Diese Gedanken formulierte schon Gottfried Semper im Nachgang der ersten Weltausstellung 1851 in London. Vgl. Semper, Gottfried: „Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühls“, in: Ders., Wissenschaft, Industrie und Kunst, und andere Schriften über Architektur, Kunsthandwerk und Kunstunterricht, Kupferberg 1966 (1851), S. 27-71, S. 33f. Sie finden sich dann vor allem im Werkbund ganz ähnlich formuliert. 20 Avenarius, Ferdinand: „Zum Dürer-Bunde! Ein Aufruf“, in: Der Kunstwart 14 (1901), H. 24, S. 469-475, S. 470.

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dukte dabei den Anschein erwecken, es handele sich um werthafte handwerkliche oder künstlerische Arbeit, in Wahrheit habe man es aber mit schlechtem Material und billigen Kopien zu tun.21 Dies sei Avenarius zufolge „grauenhaft für den, dem die Augen dafür sich erschlossen haben, denn am Ende dieses Wesens steht für die Allgemeinheit der ästhetische Tod“22. Die Reformer leiteten aus dieser Kritik die Forderung nach einer Veredelung der gewerblichen Arbeit durch die engere Zusammenarbeit von Kunst und Industrie ab, bei der dem Kunsthandwerk und mit ihm dem einzelnen Künstler wieder eine stärkere Rolle zukommen sollte. Dabei suchten sie explizit nach einem neuen Verhältnis von Form, Material und Funktion und bemühten sich um die ästhetische Erziehung der Konsumenten. Am Ende ihrer Initiativen stand in den 1920er Jahren mit der neuen Sachlichkeit ein genuin moderner Stil, in dem das industrielle Zeitalter gewissermaßen zu sich selbst gekommen war. Diese Erfolgsgeschichte steht nach wie vor im Zentrum vieler design- und kulturgeschichtlicher Abhandlungen. Doch die Auseinandersetzungen mit den neuen Fertigungstechniken und den damit einhergehenden Änderungen in der Produktkultur setzten schon viel früher ein.23 Lange bevor Dürer- und Werkbund ihre Arbeit begannen und sich einschlägige Zeitschriften wie Der Kunstwart der Aufgabe einer volkspädagogischen Erziehung zum Guten und Schönen widmeten und, zeigten sich schon Mitte des 19. Jahrhunderts im kirchlichen Milieu die kritischen Auseinandersetzungen mit den industriellen Produktkulturen und darauf bezogene Bemühungen einer stärkeren künstlerischen Durchbildung sowie auch die erzieherischen Bestrebungen in Richtung eines geläuterten, Geschmacks mehr als deutlich. Schon damals beklagte man die negativen Folgen, die der „Niedergang des Kunstgewerbes“ für die Qualität und Erscheinungsweise von Dingen des (außer-)alltäglichen Gebrauchs zeitigte.24 Auch wenn die protestantischen Kunst21 Die allgemeine Einschätzung lautet denn auch, dass die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „Ära des allgemeinen und prinzipiellen Materialschwindels“ gewesen sei, vgl. Fridell, Egon: Kulturgeschichte der Neuzeit, Frankfurt a.M. 2009 (1948), S. 867f; vgl. auch G. Selle: Geschichte des Designs, S. 62-70. 22 F. Avenarius: Zum Dürer-Bunde, S. 470. 23 Hier ist hinzuzufügen, dass die Auseinandersetzungen mit der industriellen Produktkultur nicht nur in Deutschland schon früher einsetzten, sondern dass es mit der arts & crafts-Bewegung auch gewichtige und einflussreiche Vorläufer in England gab. 24 Diese Diagnose stammt von Georg Heinrich von Merz, der in den 1880er Jahren Vorsitzender des Vereins für christliche Kunst in der evangelischen Kirchen Württembergs war. Formuliert hat er diese in einem Brief an den Württembergischen Zweigverein des Gustav-Adolf-Vereins. Vgl. Landeskirchliches Archiv Stuttgart (im Folgenden LKA) K1 (Verein für christliche Kunst in der evangelischen Kirchen Württembergs) Nr. 87,

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vereine und ihre Unterstützer nicht zuletzt in ästhetischer Hinsicht noch andere Lösungen bevorzugten als die späteren Reformbünde, so sind – was die Problemdiagnosen und Grundannahmen angeht – gewisse Kontinuitätslinien zwischen ihnen doch unverkennbar. Da sie in der Forschung bislang kaum wahrgenommen wurden, sollen sie im Folgenden genauer betrachtet werden.

3.  K UNST(-HANDWERK) ALS KIRCHLICHES PROBLEM Um die Aktivitäten kirchlich gesinnter Akteure in Bezug auf das ästhetisch-materielle Erscheinungsbild ihrer Kirche zu verstehen, muss man sich zunächst einmal anschauen, wie ihre Problemdiagnose ausgesehen hat. Dafür sollen die Gründungsdokumente der protestantischen Kunstvereine sowie die Dokumentationen der ersten Spezialkonferenzen für christliche Kunst auf den Evangelischen Kirchentagen herangezogen werden. Sichtbar werden in der Auswertung zwei Problemkreise, zu denen sich die Akteure in Beziehung setzen. Zum einen beobachtete man einen Aufschwung im Bereich der Kunst, der jedoch an der Kirche vorbei zu gehen schien. Dieses Auseinandertreten von Kirche und Kunst wurde als problematisch erachtet. Zum einen sah man damit die Möglichkeit verloren gehen, dem Religiösen mit Hilfe der Kunst Ausdruck zu verleihen. Dies habe dazu geführt, dass es auf dem Gebiet der kirchlichen Kunst gegenwärtig eine „beklagenswerthe Armuth“ gebe und die „in neuerer Zeit gebauten Kirchen nur als Zeugen völlig geschwundenen kirchlichen Geschmacks“ betrachtet werden könnten, so zeitgenössische Beobachter.25 Darüber hinaus wollte man sich zudem nicht die Möglichkeit vergeben, die Kunst mit ihrer genuinen „Macht […], auf die Gemüther zu wirken“, erneut in den Dienst der Kirche zu stellen.26 Die Akteure zielten daher auf die Überwindung der „Trennung“ von Religion und Kunst, was in der Praxis vor allem hieß, explizit christliche Kunst zu fördern.27 Der Anteil, den das Schöne am Religiösen habe, solle auf diese Weise wieder zur Geltung gebracht werden, schrieb Karl Schnaase im Vorwort der ersten Ausgabe des Christlichen Kunstblattes für Kirche, Schule Bericht über die Jahresversammlung des Württembergischen Gustav Adolf Vereins 1880, S. 44. 25 R.: „Aufruf zur Bildung eines Vereins für kirchliche Kunst in Sachsen“, in: Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus (1860), Nr. 1/2, S. 13. 26 EZA, 49/1 D2, Einladung zur Theilnahme an einem zu gründenden Vereine für religiöse Kunst in der evangelischen Kirche. 27 Ebd.

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und Haus – ein Blatt, das ab 1858 die Aktivitäten der Vereine und Initiativen rund um Fragen der christlichen Kunst und Architektur publizistisch begleitete und unterstützte.28 Der zweite Problemkreis, der in den Stellungnahmen und Publikationen sichtbar wird, bezieht sich auf den ästhetischen Sachverstand und die Urteilskompetenz der Laien. Hier sah man signifikante Defizite, die in den Augen der Protagonisten dazu führten, dass die Gemeindeglieder oder auch Pfarrer bei Fragen des Kirchenbaus und seiner Ausstattung minderwertiger „Fabrikware“ gegenüber solchen Produkten den Vorzug gaben, die die Akteure der christlichen Kunstvereine und Spezialkonferenzen für würdig und schön erachteten. Praktisch versuchte man dies über die Verbreitung entsprechenden Anschauungsmaterials, die Organisation eigener Ausstellungen29, mit Hilfe kunsthistorischer Aufklärung über öffentliche Vorträge und Zeitschriftenartikel30 sowie durch die Vermittlung für gut befundener Entwürfe an bauende Gemeinden zu korrigieren. Über diese vielschichtigen Formen der Geschmackserziehung sollte beim Kirchenvolk wieder ein „Sinn für würdigen Kirchenschmuck und ein Verständnis für kirchliche Kunst“ geweckt werden, der sie zukünftig die ‚richtige‘ Wahl treffen ließ. 31 Ich möchte mich im Folgenden vor allem dem zweiten Problemkreis zuwenden und zeigen, dass die aus dieser Problemkonstruktion resultierenden Bemühungen der christlichen Kunstvereine um den guten Geschmack der Gemeindemitglieder und Pfarrer auf einer spezifischen Annahme über das Verhältnis von 28 Grüneisen, Carl: „Vorwort“, in: Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus (1858), Nr. 1, S. 1-5, hier S. 2. 29 Diese fanden häufig im Zusammenhang mit Konferenzen der Inneren Mission statt. So berichtete der Verein für kirchliche Kunst Sachsen 1868 in seinem Jahresbericht: „Um das Interesse an der Tendenz und Wirksamkeit des Vereins in weiteren Kreisen zu beleben und zugleich einem Theile der Vereinsmitglieder Gelegenheit zur unmittelbaren Anschauung von gültigen Mustern und Proben, sowie der mannigfaltigen Objekte der Vereinstätigkeit auf den verschiedenen Gebieten der kirchlichen Kunst zu bieten“, habe man im vorigen Jahr während des Bibel- und Missionsfestes und der damit verbundenen Pastoralkonferenz zum ersten Mal eine Ausstellung organisiert. Gezeigt wurden demnach Baupläne, Gipsabgüsse von Abendmahlskelchen, Kruzifixen etc. sowie Webund Stickarbeiten. 30 Für die protestantischen Kunstvereine wurde das Christliche Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus zum wichtigsten Publikationsorgan und Verstärkermedium ihrer Ansichten und Ziele. Es erschien von 1858 bis 1927. 31 Pfannschmidt, Heinrich: „Der Verein für religiöse Kunst in der evangelischen Kirche einst und jetzt“, in: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst (1928/34), S. 120-124, hier S. 120.

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Moral (i.S. des sittlich Guten) und Ästhetik (i.S. des Schönen) beruhten, wie sie auch für die späteren Reformbünde typisch waren.

4.  DAS SITTLICH GUTE AM SCHÖNEN Das Verhältnis von Moral und Ästhetik war ab im 18. Jahrhundert und 19. Jahrhundert Gegenstand vielfältiger Auseinandersetzungen und daraus resultierender Konzeptionen.32 Im Ergebnis nahmen die freien Künste und die angewandten Künste (also das Kunsthandwerk) unterschiedliche Entwicklungen: Während Ästhetik und Moral in den Bereichen der Literatur, Musik und bildender Kunst unter dem Eindruck des Autonomiepostulats im Laufe des 19. Jahrhunderts deutlich auseinandertraten, war dies im Bereich des Kunsthandwerks nicht der Fall. Hier blieben beide Größen eng aufeinander bezogen. Grundidee war (und blieb), dass sich in ästhetisch schlecht Gestaltetem auch moralisch Verwerfliches ausdrücke. Funktionales und ästhetisches Versagen impliziere demnach auch ethisches Versagen.33 Umgekehrt galt, dass gutes Design auch auf eine gute Gesinnung schließen lasse, dass es eine „morality of goods“34 gebe, sodass die Veredelung des Geschmacks als eine notwendige Vorstufe bei der ethischen Veredelung des Menschen angesehen wurde. Ästhetische Bildung wird in dieser Perspektive zu einer moralischen Tat.35 Dass dies nicht nur Theorie blieb, davon zeugen die vielfältigen Bemühungen um die Etablierung entsprechender Ausbildungsstätten (Kunstgewerbeschulen), eine umfangreiche publizistische Tätigkeit sowie die Sammlung und Ausstellung von Exponaten in entsprechenden Kunstgewerbemuseen, die

32 Vgl. Busch, Werner: „Die Autonomie der Kunst“, in: Ders. (Hg.), Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, München/Zürich 1997, S. 230256; Kösser, Uta: Ästhetik und Moderne. Konzepte und Kategorien im Wandel, Erlangen 2006; Ullrich, Wolfgang: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs, Frankfurt a.M. 2005. 33 Vgl. Demand, Christian: „Architekturkritik als Laienpredigt. Paul-Schultze-Naumburg und die moderne Bausündenschelte“, in: Annett Zinsmeister (Hg.), Ethics in Aesthetics?, Berlin 2012, S. 110-127. 34 Demand, Christian: „Designkolumne. Moralische Anstalten“, in: Merkur 70/802 (2016), S. 41-48. Demand bezieht sich beim Begriff der „morality of goods” auf den Ethnologen Keith Murphy (Murphy, Keith M.: Swedish Design. An Ethnography, Ithaca 2015). 35 Vgl. Gurlitt, Ludwig: „Eine Mietwohnungs-Ausstellung“, in: Innendekoration. Mein Heim, mein Stolz 18 (1907), H. 7, S. 204-211.

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der Erziehung sowohl der Produzenten wie der Konsumenten dienen sollten.36 Diese Bemühungen setzten schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, erfuhren mit dem Engagement von Dürerbund und Werkbund aber noch einmal verstärkte Aufmerksamkeit. Grund dafür war offenbar, dass man im Design des Historismus eine „Ethik des Gestaltens und Gebrauchens“ nicht mehr zu erkennen vermochte.37 So richtete etwa der Direktor des Stuttgarter Landesgewerbemuseums und Vordenker des Werkbunds Gustav Eduard Pazaurek Anfang des 20. Jahrhunderts eine eigene Abteilung für „Geschmacksverirrungen“ ein, um ästhetische ‚Verfehlungen‘ vor Augen zu führen.38 Die Überzeugung, dass es einen solchen Zusammenhang gebe, war jedoch auch schon für die christlichen Kunstvereine konstitutiv. Carl Grüneisen beispielsweise, einer der Initiatoren des Vereins für christliche Kunst in der evangelischen Kirche Württembergs und Mitherausgeber des Christlichen Kunstblattes, sah es als erwiesen an, dass bestimmte Abbildungen Gottvaters – etwa als Kaiser oder Papst, nur wenig bekleidet und leidenschaftlich erregt – „ästhetisch unschön und geschmacklos“ seien – und gerade deshalb „moralischen Schaden“ verursachen.39 Das Christliche Kunstblatt argumentierte später in die gleiche Richtung: Unter dem „gleißenden Gewand“ schlechter Bilder würden „Rohheit und Sünde“ sowie eine dem nahestehende „Scheinfrömmigkeit“ in das evangelische Volk getragen, konnte man dort lesen.40 Im Blick hatte der Autor dabei weniger Kunstwerke als den für Jedermann zugänglichen und erhältlichen Bildschmuck, der eine für diese Zeit völlig neuartige visuelle Kultur hervorbrachte. Auch auf den Spezialkonferenzen für christliche Kunst auf den Kirchentagen war man von den konkreten Effekten schlechter Bilderzeugnisse überzeugt. Schon auf dem Hamburger Kirchentag 1858 hatte man gegen die „in den weitesten Kreisen verbreiteten Fabrikate, Bilderbogen und Lithographien (meist aus Neu-Ruppiner Fabriken herstam-

36 Vgl. Cleve, Cordula: “1851. The Economic Context of Design. Design Made a Difference – That Counted. Economic and Aesthetic Aspects of Consumer taste“, in: Franz Bosbach/John R. Davis (Hg.), Die Weltausstellung von 1851 und ihre Folgen, München 2002, S. 181-193. Cleve macht darauf aufmerksam, dass es bei den Stil- und Geschmacksfragen, die Mitte des 19. Jahrhunderts vermehrt diskutiert wurden, nicht zuletzt auch um ökonomische Interessen ging. 37 Diese Einschätzung findet sich bis heute, vgl. G. Selle: Geschichte des Designs, S. 66. 38 Dettmer, Ute/Küpper, Thomas: Kitsch. Texte und Theorien, Stuttgart 2007, S. 111. 39 Grüneisen, Carl: Über bildliche Darstellung der Gottheit. Ein Versuch, Stuttgart 1828, S. 40. 40 Grüneisen, Carl: „Ein Streifzug durch die Bilderwelt. Von F. Oldenberg“, in: Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus, H. 3/4 (1860), S. 28.

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mend)“ polemisiert, die „im gleichen Maße den ästhetischen wie den sittlichen Sinn des Volkes untergraben“ würden.41 In Bezug auf kirchliches Interieur wird im Christlichen Kunstblatt von 1860 die rhetorische Frage gestellt, ob „nicht die ganze Andacht gestört werden (könne) durch eine Zugritze in der Thür, in deren Nähe ein sonst aufmerksamer Hörer seinen Platz hat, oder durch ein unpassendes Dessin [sic] in dem Altartuche, auf welches zufällig der Blick des Abendmahlsgastes“ falle?! Die Antwort wird selbstredend gleich mitgeliefert: „Unzweckmäßige“ und „unschöne“ Dinge seien dazu geeignet, den „Totaleindruck zu stören“, „im entgegengesetzten Falle aber, im Zusammenhange des Ganzen auch ihrerseits zur Hervorbringung der beabsichtigten Stimmung mitzuwirken“.42 Und auch die Förderer christlichen Kunsthandwerks setzten auf einschlägige Instrumente, um dem diagnostizierten Missstand zu begegnen: neben der Gründung von Zeitschriften und der Organisation von Ausstellungen wurden gezielt Künstler und Architekten gefördert und an interessierte Gemeinden vermittelt, die den Vorstellungen und Ansprüchen der kirchlichen Kunstförderer entsprachen. Im Folgenden sollen nun die semantischen und sozialen Grenzziehungen rekonstruiert werden, die die Verknüpfung von Ethik und Ästhetik im Bereich der angewandten Kunst nach sich zog.

5.  SEMANTISCHE UND SOZIALE GRENZZIEHUNGEN 5.1  Kunst und Kitsch Immanuel Kant hatte in seiner Abhandlung „Kritik der Urteilskraft“ zwischen verschiedenen Formen des Wohlgefallens und daraus resultierender Geschmacksurteile unterschieden.43 So gebe es ihm zufolge ein interesseloses Wohlgefallen, das sich etwaiger Nutzenerwägungen enthält und nur auf die innere Zweckmäßigkeit eines Dings bezogen sei. Entsprechende Geschmacksurteile seien „reine“ Geschmacksurteile. Demgegenüber stehend sah er Formen des Wohlgefallens, die ihren Grund in moralischen Erwägungen oder in sinnlichem Vergnügen haben. Vor allem Geschmacksurteile, die auf „Reiz und Rührung“ beruhen, nannte Kant in deutlich abwertende Weise „barbarisch“, womit er dann auch gleich diejenige Kunst abwertete, die nur – oder hauptsächlich – Affekte erzeugt.44 Auch andere 41 O.: Berathungen, S. 11f. 42 Kottmeier: „Kirchenfenster und Kirchenthüren“, in: Christliches Kunstblatt (1860), Nr. 9/10, S. 68. 43 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Stuttgart 2011 (1790). 44 Vgl. a.a.O., S. 99.

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wie beispielsweise Schiller folgten dieser Auffassung. So schrieb letzterer, dass „das Prinzip der Freiheit im Menschen“ denjenigen ästhetischen Erzeugnissen zum Opfer falle, die nur den Sinnen schmeicheln und damit den Menschen berauschen. Solche Rührungen seien durch einen „edeln und männlichen Geschmack“ von der Kunst auszuschließen, weil sie dort nichts zu suchen hätten.45 Diese Ausgrenzung alles ‚bloß‘ Sinnlichen aus dem, was dann als ‚eigentliche‘ bzw. hohe Kunst gilt, wurde kulturgeschichtlich ungeheuer einflussreich und zu einer die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts bestimmenden Konflikt- und Abgrenzungslinie. Ihren einprägsamen Ausdruck findet sie Ende des 19. Jahrhunderts im Begriff des Kitsches. Ihn benutzen zuerst Münchener Maler, um sich voneinander zu distanzieren. Jemanden als Kitschier zu bezeichnen hieß, ihn der Produktion leichtgängiger Waren zu bezichtigen, die dem Publikumsgeschmack angepasst seien.46 Allerdings weitete sich der Anwendungsbereich des Begriffes schnell und umfasste neben der Malerei bald auch den Bereich der Alltagskultur – und damit die industrielle Produktkultur. Der schon erwähnte Gustav Eduard Pazaurek beispielsweise erstellte in seinem Buch „Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe“ eine ganze Typologie verschiedener Formen von Kitsch.47 Ihm und seinen in den Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts involvierten Zeitgenossen galt Kitsch als der „äußerste Gegenpol der künstlerisch durchgeistigten Qualitätsarbeit“. Dieser „geschmacklose Massenschund“ kümmere sich typischerweise nicht um „irgendwelche ethischen, logischen oder ästhetischen Forderungen“ und vergehe sich gleichermaßen „gegen das Material, gegen die Technik, gegen die Zweck- wie Kunstform“.48 Um den Kitschbegriff herum gruppiert sich dabei ein höchst aufschlussreiches semantisches Feld: Kitsch wird mit Marktgeschrei und Scharlatanerie in Verbindung gebracht, als Krankheit und Unkultiviertheit bezeichnet, er wird als anstößig und grob empfunden sowie mit Sentimentalität und Süßlichkeit gleichgesetzt.49 Durchgängig findet sich das Motiv, Kitsch setze auf vordergründige Effekte, kitzele nur die Sinne, der Geist allerdings ginge leer aus. Dabei gerät auch der sogenannte Devotionalienkitsch ins Visier.

45 Schiller, Friedrich: Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie, Stuttgart 1970 (1801), S. 58f. 46 Vgl. Avenarius, Ferdinand: „Kitsch“, in: Kunstwart und Kulturwart, H. 3 (1920), S. 222. 47 Pazaurek, Gustav E.: Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe, Stuttgart/ Berlin 1912. 48 A.a.O., S. 349. 49 Vgl. die vielfältigen Textbeispiele in: Dettmer, Ute/Küpper, Thomas: Kitsch. Texte und Theorien, Stuttgart 2007.

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„Wie unglaublich tief steht der größte Teil aller Heiligenbildchen, die früher in rohestem Holzschnitt, heute in schlechtester Farbenlithographie alljährlich in Millionen von Exemplaren verbreitet wurden und werden, ordinär gedruckte Traktätchen oder naive Gebetbücher […]. – Namentlich in den katholischen Wallfahrtsorten, wo die scheußlichen Glanzgold-Porzellantassen mit den farbigen Heiligenumdruck, die fürchterlichen „Haussegen“ mit den gepreßten Blumen, Zelluloidreliefs und Pseudostickereien auf perforiertem Karton, und ähnliche Zeugen einer kaum mehr zu unterbietenden Geschmacksverrohung zu Tausenden Käufer finden, kann man sein blaues Wunder erleben. Aber auch die evangelischen Konfirmandenbildchen mit den durchbrochenen Silberlauben in kulissenartiger Anordnung sind um kein Härchen besser.“50

Vergleicht man diese Kritik mit derjenigen, die die protestantischen Kunstvereine in den 1850er und 1860er Jahren erhoben haben, kann man feststellen, dass diese sich exakt im Kontext dessen bewegen, was der Kitschbegriff semantisch umschließt! Auch von ihnen wurde an den für einen religiösen Markt hergestellten Druckerzeugnissen das Süßliche, die „fromm scheinende Sentimentalität“ kritisiert.51 Sie seien oft mehr ein „Zauber der Sinnlichkeit“, denn der Christlichkeit.52 Gute Bilder hingegen, wie beispielsweise Julius Schnorr von Carolsfelds Bibelillustrationen, würden nicht nur eine Schärfung des ästhetischen Gewissens bewirken, sondern zugleich die sittliche Gewissenhaftigkeit schärfen.53 Neben stilistischen Fragen ging es in dieser Diskussion auch um Herstellungsund Reproduktionsverfahren. Besonders in die Kritik geriet zwischenzeitlich das durch einige Kunstanstalten angewandte Verfahren des Öldrucks, denn bei diesem Verfahren wurde der Eindruck eines gemalten originalen Ölbildes imitiert. Dies galt den Vereinen als verwerflich, denn eine künstlerische Autorenschaft wurde hier nur suggeriert, war aber faktisch nicht vorhanden. Durch Öldruckverfahren hergestellte Bilder seien wie „falsches Geld“, so der preußische Verein für religiöse Kunst in der evangelischen Kirche.54 Auch in Bezug auf liturgische Gerätschaften 50 G. E. Pazaurek: Guter und schlechter Geschmack. 51 O.: Berathungen, S. 12. 52 C. Grüneisen: Ein Streifzug, S. 30. 53 Vgl. a.a.O., S. 44. 54 EZA 49/80, Jahresbericht des Vereins für religiöse Kunst in der evangelischen Kirche 1878, S. 9. Der Verein macht sich hier die gleichlautende Kritik von August Reichensperger zu Eigen, einem bekannten katholischen Politiker und Förderer christlicher Kunst und Architektur. Dies ist nur ein Hinweis darauf, dass sich katholische wie evangelische Kunstvereine in ihrem Problembewusstsein, Zielen und Grenzziehungen sehr ähnlich waren. Eine gleichlautende Kritik findet sich u.a. auch beim Württembergischen Verein für christliche Kunst, vgl. LKA K1, Nr. 87, Geschäftsbericht des Aus-

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wie Abendmahlskannen, Altardecken usw. wurden die modernen Reproduktionsund Herstellungsverfahren kritisch hinterfragt, da sie die Möglichkeit eröffneten, günstiges Kirchengerät zu erwerben. Die Gemeinden wurden angemahnt, hieran beim Bau einer neuen Kirche nicht zu sparen. Gelobt wurden hingegen diejenigen Gemeinden, die sich um die Beschaffung wertiger Gegenstände verdient gemacht haben. So wird im Christlichen Kunstblatt im Rahmen der Besprechung eines Kirchenneubaus in Schließenberg (Mecklenburg) hervorgehoben, er zeichne sich neben vorbildlicher Architektur auch durch „kostbare(n) Altarschmucke, Leuchter und andern Bedürfnissen von Silber“ aus.55 Deutlich wird, dass die Abwehr vor allem der Fabrikware galt, also seriell hergestellten Produkten – unabhängig davon, ob es sich nun um Bildmaterial oder um liturgische Gegenstände handelte. Demgegenüber erscheinen dann die von Künstlern geschaffenen originalen Werke als das positive Gegenbild. Es liegt nahe, dass die Abgrenzung damit nicht nur auf die Produkte zielte, sondern letztlich auch auf deren Hersteller. Ins Visier gerieten dabei jedoch nicht nur gewerbsmäßig agierende Akteure, insofern sie mit ihren Produkten den schlechten Geschmack der Konsumente einfach billig bedienten und daran verdienten sondern interessanterweise auch sich in diesem Feld betätigende Dilettanten. Die semantische Grenzziehung zwischen Anspruchsvollem und ‚Kitschigem‘ lässt sich somit auch lesen als Legitimation für eine ganz reale, sozial-ökonomische Abgrenzung gegenüber unliebsamen Konkurrenten auf einem hart umkämpften Markt. 5.2  Legitime und nicht-legitime Produzenten Und tatsächlich gingen die Vorstellungen guter Wirkungen ästhetisch anspruchsvoller Dinge de facto mit weitreichenden sozialen Grenzziehungen auf der Ebene der kunstgewerblichen Produktion einher. Mit ihnen war immer auch die Bevorzugung bestimmter Akteursgruppen und die Abwertung und Ausgrenzung konkurrierender Anbieter verbunden.56 An den protestantischen Kunstvereinen lässt sich dies deutlich beobachten. Schon die Zusammensetzung der Vorstände und Expertenausschüsse, in denen akademisch ausgebildete Architekten und Künstler von Anfang an eine wichtige Rolle spielten legt nahe, dass die Auftragsvergabe vorzugsweise in diesen Kreisen erfolgte. Davon waren im Bereich der Kirchenschusses des Vereins für christliche Kunst in der evangelischen Kirche Württembergs zur Generalversammlung am 24. August 1880. 55 Keil, Ernst: Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus (1861), Nr. 21/22, S. 164. 56 Inspirierend in dieser Hinsicht: Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst, Frankfurt a.M. 1999.

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Abbildung 1: Vorschläge für Abendmahlskannen; Illustrationen aus einem Heft des Württembergischen Vereins für christliche Kunst, die eine Vorbildwirkung entfalten und den Gemeinden Orientierung geben sollten57

Abbildung 2: Vorschläge für Grabkreuze58

architektur vor allem die örtlichen Baumeister betroffen. Mit großer Beharrlichkeit kritisierten die Vereine, dass bei Baumaßnahmen zu oft einfach auf „lokale Kräfte“ zurückgegriffen werde in der Hoffnung, sie würden es „billig“ machen.59 Aber die Arbeiten von „im Kirchenbau und Kirchenschmuck ungeschulten und 57 LKA K1, Nr. 87: Ansprache des Vereins für christliche Kunst in der evangelischen Kirche Württembergs an die hochwürdigen Diöcesan-Vereine 1873, S. 11. 58 A.a.O., S. 14. 59 37. Jahresbericht des Vereins für Kirchliche Kunst in Sachsen, Dresden 1900, S. 8.

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unerfahrenen, nur in der Baugewerkschule zu ganz anderen Bauten vorgebildete(n) Meister(n)“ seien allzu oft minderwertig und müssten dann „unter Aufwendung neuer Kosten“ überarbeitet werden, so das Urteil.60 Die Vereine selbst engagierten demgegenüber ausschließlich Architekten, die an einer Akademie oder Polytechnischen Hochschule studiert hatten und brachten diese gegenüber den bauenden Gemeinden als die einzig legitimen Autoritäten im Kirchenbau in Stellung – sei es als Sachverständige, ausführende Architekten oder Preisrichter. Sie allein galten als legitime Vertreter künstlerischer Kompetenz, gegenüber den ‚bloß‘ mechanisch ausführenden Bauhandwerkern. Im Bereich der kirchlichen Innenausstattung und des Bildschmucks richtete sich die Kritik der Vereine gegen Verlage, Lithographische Druckereien und Werkstätten, die unter dem Sammelbegriff der Kunstanstalten firmierten.61 Die dort in Serie und für ein Massenpublikum hergestellten Produkte repräsentierten aus Sicht der Verfechter christlicher Kunst eine „entartete und entadelte Kunst, die im Dienste gewinnsüchtiger Industrie Stadt und Land“ mit ihren Erzeugnissen überschwemme.62 Dieser Fabrikware setzten sie Vorlagen für Kirchengerät, Kruzifixe und Grabkreuze entgegen, die von den vereinseigenen Künstlern entworfen und in ausgewählten Werkstätten angefertigt wurden. Der sächsische Verein arbeitete zudem fest mit einem Paramentiker aus Herrenhut zusammen, der exklusiv mit Aufträgen bedacht wurde und dessen Arbeiten auch in den anderen christlichen Kunstvereinen zunehmend Beachtung und Verbreitung fanden.63 Was den Bildschmuck anging, votierten die Vereine tendenziell immer für die Herstellung von Originalen. Wo dies aufgrund finanzieller Beschränkungen der Gemeinden nicht zu machen war, votierten sie für Reproduktionen, die zunächst einmal einen Pro60 LKA K1, Nr. 87: Geschäftsbericht der zehnten Hauptversammlung des Vereins für christliche Kunst in der evangelischen Kirchen Württembergs 1888, S. 3. 61 Zu diesen Produzenten und ihren Angeboten siehe: Brückner, Wolfgang: Elfenreigen, Hochzeitstraum. Die Öldruckfabrikation 1880-1940, Köln 1974; Brakensiek, Stefan (Hg.): Alltag Klatsch und Weltgeschehen. Neuruppiner Bilderbogen, ein Massenmedium des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 1993. 62 O.: Berathungen, S. 11. Siehe auch: LKA K1, Nr. 87, Geschäftsbericht des Ausschusses des Vereins für christliche Kunst in der evangelischen Kirche Württembergs zur Generalversammlung am 24. August 1880, S. 1. Im Übrigen heißt es auch bei den katholischen Vereinen kritisch, diese Bilder entsprächen dem „echt modernen Geist des Industrialismus, den Geist der Schablone, des Fabriktandes“. Vgl.: Jahresbericht der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst 1894, S. 1. 63 Vgl. 6. Jahresbericht des Vereins für kirchliche Kunst in Sachsen 1866; LKA K1, Nr. 87, Rechenschaftsbericht des Vereins für christliche Kunst der evangelischen Kirche Württembergs 1867, S. 7.

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zess der Begutachtung und Autorisierung durchliefen. Den seriellen, anonymen Produkten der Kunstanstalten setzten die Vereine somit eine Praxis entgegen, die auf eine individualisierte Kopie von Gemälden zielte. Diese wurden vom Vorstand ausgewählt und dann von ausgesuchten Künstlern angefertigt.64 Damit beschritten sie exakt denjenigen Weg, dem dann auch die späteren säkularen Kulturinitiativen der Jahrhundertwende folgten. Auch diese setzten ja auf die Kompetenz einzelner Künstler und auf die Herstellung kunsthandwerkliche Einzelerzeugnisse von hoher Qualität. Die Gegenstände wurden in der Regel in kleinen Werkstätten gefertigt und als Kontrastprogramm zu den kunstindustriellen Billigwaren ins Feld geführt. Nicht zuletzt richteten sich die Bestrebungen der protestantischen Kunstvereine und ihrer Unterstützer aber auch gegen Laien, die sich in diesem Bereich zuweilen engagierten. Dass sich beispielsweise kirchliche Frauenvereine selbsttätig und ohne Rücksprache mit der Anfertigungen von Paramenten beschäftigten oder sich andere, nicht dafür ausgewiesene Orts- und Bezirksvereine „mit (dem) Ankauf von heiligen Geräthen verdient zu machen suchen“, empfanden die Vereine als zu bekämpfenden Missstand. Auch die Ausstattung und Ausschmückung evangelischer Kirchen sei ein Studium und eine Wissenschaft, die nicht jedermanns Ding sei, sie könne also nicht nach dem Prinzip „ein jeder thät, wie ihm recht däuchte“ erfolgen.65 Hierin erweisen sich die Vereine als exemplarisch für die im 19. Jahrhundert auch in anderen Bereichen der Kunst zu beobachtende Abwertung von Dilettanten.66 Galt die Beschäftigung mit Kunst im Sinne des aufklärerischen Bildungsgedankens noch um 1800 als erstrebenswert und als wesentlicher Baustein der bürgerlichen Emanzipation, verlor der sich selbst betätigende, nicht-professionelle Kunstliebhaber ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend an

64 So etwa das Bild „Der einladende Christus“, das von Pfannschmidt stammte und für den Gebrauch als Altarbild von Georg Engelbach kopiert wurde. Die Vereine griffen auch auf historische Gemälde zurück und ließen diese entsprechend der Bedürfnisse der Gemeinden kopieren, so zum Beispiel das Bild „Christus am Kreuz“ von Pier Francesco Sacchi (1485-1528). EZA 49/89 D63, Jahresberichte des Vereins für religiöse Kunst in der evangelischen Kirche 1878/1879. 65 Brief des Vorsitzenden des Württembergischen Vereins für christliche Kunst an den Gustav Adolf Verein, verbunden mit der Bitte, sich bei Kirchenfragen doch in Zukunft mit dem Kunstverein stärker abzustimmen. LKA K1 Nr. 87, Bericht über die Jahresversammlung des Württembergischen Gustav Adolf Vereins 1880, S. 44. 66 Vgl. Schulz, Andreas: „Der Künstler im Bürger. Dilettanten im 19. Jahrhundert“, in: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 34-52.

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Ansehen, weil er zur unliebsamen Konkurrenz der sich professionalisierenden Künstler wurde. Unverkennbar verschränkten sich hier geschmackserzieherische und marktregulierende Aspekte. Die bildenden Künstler treten im Laufe des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts immer deutlicher aus den bislang vorherrschenden feudal-höfischen Unterstützungs- und Finanzierungsstrukturen heraus und werden zu „freien Bürgern: unabhängig nun in der gesellschaftlichen Stellung, abhängig freilich vom Markt und seinen Risiken“.67 In diese Dynamik wurden auch die Architekten hineingezogen. Während der Hofarchitekt im Laufe der Zeit verschwand und der Typus des Baubeamten auf eine zahlenmäßig kleine Gruppe beschränkt blieb, vergrößerte sich die Gruppe freier Architekten rasant.68 Aber auch die Kunsthandwerker werden aus den alten korporativen Strukturen und Verbänden herausgelöst. Die Gewerbefreiheit entband die vorher in Zünften organisierten Handwerker in die wirtschaftliche Unsicherheit aber auch unternehmerische Freiheit. Um diese – Freiheit wie Unsicherheiten bergenden – Verhältnisse herum organisierten sich neuartige Netzwerke und „Beziehungssysteme“, in denen sich „Produzenten und Publikum, Mäzene und Finanziers, Verlage“ und Kritiker „nicht nur in künstlerischem und aufklärerischem Impetus vereinigen, sondern auch in ihren materiellen und existenziellen Interessen“, so Wolfgang Kaschuba.69 In diesem Geflecht nahmen Vereine eine zentrale Stellung ein. Das gilt für Architekten- und Künstlervereine, die die Interessenvertretung ihrer Mitglieder übernahmen, aber auch und gerade für die Kunstvereine und die späteren Reforminitiativen wie den Dürer- und Werkbund, weil sie zwischen Produzenten und Konsumenten eine Scharnierfunktion einnahmen und einen gleichermaßen vermittelnden wie regulierenden und normierenden Einfluss hatten. Die in ihrem Professionsstatus eher prekären Architekten und Künstler waren daher häufig nicht nur in ihren Interessenverbänden organisiert, sondern mischten sich auch unter die Mitglieder der

67 Kaschuba, Wolfgang: „Kunst als symbolisches Kapital. Bürgerliche Kunstvereine und Kunstideale nach 1800“, in: Peter Gerlach (Hg.), Vom realen Nutzen idealer Bilder, Aachen 1994, S. 9-20, hier S. 10 (Herv. i.O.). 68 Clark, Vincent A. (1985): „Entstehung und Professionalisierung der Architektenberufe in England und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Werner Conze/Jürgen Kocka (Hg.), Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, Stuttgart 1985, S. 529-542; Bolenz, Eckhard: Vom Baubeamten zum freiberuflichen Architekten. Technische Berufe im Bauwesen (Preußen/Deutschland 1799-1931) Frankfurt a.M. 1991. 69 W. Kaschuba: Kunst als symbolisches Kapital, S. 14.

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Kunst- und Reformvereine.70 Diese Mitgliedschaft lohnte sich gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen betrieben die Vereine mit ihren Empfehlungen eine explizite Förderungspolitik gegenüber den akademisch ausgebildeten Künstlern und Architekten und gaben ihnen in der Auftragsvergabe in der Regel den Vorzug vor anderen Anbietern. Damit trugen sie zu deren gesellschaftlicher Anerkennung und Reputation bei. Darüber hinaus konnten einzelne Künstler und Architekten darauf hoffen, dass sie einen herausgehobenen Expertenstatus innerhalb der Vereine bekamen und zu deren bevorzugten Sachverständigen avancierten. Schaut man sich beispielsweise die protestantischen Vereine an, so hatten sie alle solch bevorzugte Ansprechpartner in ihren Vorständen oder Ausschüssen: In Sachsen waren dies beispielsweise in den 1860er und 1870er Jahren die Architekten Christian Arnold und Gotthilf Ludwig Möckel, der Paramentiker Martin Eugen Beck und der Historienmaler Carl Andreä. In Württemberg griff man in Sachen Architektur bevorzugt auf Christian Friedrich Leins und später dann auf Heinrich Dolmetsch zurück, in Preußen wurden regelmäßig der Maler Carl Gottfried Pfannschmidt und die Malerin Emma Stolzenburg mit Aufträgen versehen. Diese Experten erledigten den größten Teil der oft zeitaufwendigen und schlecht entlohnten Beratungstätigkeiten, konnten aber im Gegenzug auf bedeutsame Aufträge hoffen, die ihnen durch die Vereine vermittelt wurden. Solche Aufträge ergaben sich oft ganz zwanglos, weil die Künstler und Architekten in vorangehende Planungen oft schon involviert waren. Nebenbei wird anhand dieser ‚Vereinskünstler‘, deutlich, dass es auch im 19. Jahrhundert trotz der überaus großen Anziehungskraft des Autonomiepostulats nicht nur eine Form gab, als künstlerischer Experte zu agieren, denn ganz offensichtlich stellten ja vor allem die mit den protestantischen Kunstvereinen zusammenarbeitenden Künstler ästhetische Autonomieansprüche zugunsten des in den Vereinen bevorzugten ästhetischen Programms und der in den Gemeinden vorhandenen Vorstellungen zurück.

70 Zum Professionalisierungsprozess allgemein: Siegrist, Hannes: „Bürgerliche Berufe. Die Professionen und das Bürgertum“, in: Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich. Göttingen 1988, S. 11-48. Zum Professionalisierungsprozess der Architekten: E. Bolenz: Vom Baubeamten; Karstein, Uta: „Kunst als Anlehnungskontext. Professionalisierung und Autonomie im Feld des Bauens um 1900“, in: Uta Karstein/Nina T. Zahner (Hg.), Autonomie der Kunst? Zur Aktualität eines gesellschaftlichen Leitbildes, Wiesbaden 2016, S. 395-419. Des Weiteren aufschlussreich: Ruppert, Wolfgang: Der moderne Künstler. Zur Sozialund Kunstgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1998.

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Abbildung 3: Paramentenstickerei71

5.3  Resümee Der Aufsatz hatte sich zum Ziel gesetzt zu zeigen, dass es nicht erst die Reformbünde zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren, die die Qualität industriell gefertigter Gebrauchsgüter kritisch hinterfragten und dafür votierten, wieder verstärkt auf genuin künstlerische Arbeit zurück zu greifen, sei es als Ersatz für seriell gefertigte Produkte oder auch in Form von künstlerischen Vorlagen für dann später auch in Serie gefertigten Dingen. Die im Umfeld der protestantischen Landeskirchen entstandenen christlichen Kunstvereine erhoben 50 Jahre vorher schon die gleichen Forderungen. Dass sie stilistisch noch völlig andere Lösungen präferierten, sollte einem nicht den Blick für die offensichtlichen Parallelen verstellen, die sich hier finden lassen. So ist allen Initiativen gemeinsam, dass sie von einem engen Wirkungsverhältnis zwischen künstlerischer Form und gutem Leben ausgingen, Ästhetischem also eine ethische Dimension zusprachen. Erst von daher lassen sich überhaupt die vielfältigen Bemühungen plausibilisieren, die hier wie dort angestellt wurden, um das Niveau der Produktion von Alltagsgütern bzw. liturgischem Gerät und Bildmaterial zu verbessern. Auffällige Parallelen gibt es dann auch in den Semantiken und sozialen Grenzziehungen. Kitschiges im Sinne von Minderwertigem, Effektheischerischem wurde als den eigenen Vorstellungen geradezu entgegengesetzt angesehen und sowohl die mit diesem Label belegten Dinge also 71 LKA K1, Nr. 87: Ansprache des Vereins für christliche Kunst in der evangelischen Kirche Württembergs an die hochwürdigen Diöcesan-Vereine 1873, S. 15.

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auch deren Produzenten abgelehnt und ausgegrenzt. Norbert Elias hatte dem 19. Jahrhundert eine konstitutive Formunsicherheit attestiert und vorgeschlagen, es in diesem Sinne als Kitschzeitalter zu bezeichnen.72 Diese Bezeichnung hat sich bekanntlich nicht durchgesetzt, aber die Diagnose Elias‘ bleibt gleichwohl überzeugend. Anhand der christlichen Kunstvereine zeigt sich, dass diese Formunsicherheit nicht nur die säkulare Kultur betraf, sondern auch die Frage ästhetischer Formen des Religiösen. In diesem Sinne zeigen sich auch im kirchlichen Milieu zentrale Probleme und Spannungen des bürgerlichen Zeitalters. Gegenwärtige Netzwerke wie Artheon, das Theologinnen, Künstlerinnen und Galeristen zusammenbringt, aber auch die eigens eingesetzten Kulturbeauftragten, die sich viele der EKD zugehörigen Landeskirchen leisten, zeugen davon, dass diese Spannungen und die Bemühungen seitens kirchlicher Akteure, dazu Stellung zu beziehen, auch heute noch aktuell sind.73

72 Vgl. N. Elias: Kitschstil, S. 252-263. 73 Siehe http://www.artheon.de/ sowie https://kultur.ekd.de/kuenste/verbaende.html (letzter Zugriff 11.11.2017).

Objekte zwischen Kunst und Ritual Aida Bosch

Es gibt sie in allen Kulturen: Die besonderen Dinge – besonders schön, besonders ehrfurchtgebietend, besonders verehrt und geschützt gegen den respektlosen, verschleißenden Zugriff. Was macht die Dinge zu heiligen Gegenständen, was ist das besondere an diesen Dingen? In welchem Verhältnis stehen sie zu den nützlichen Alltags-Dingen? In welcher Relation stehen sie jeweils zur gesellschaftlichen Kosmologie und zur natürlichen Umwelt des Menschen? Für Emile Durkheim war die Unterscheidung zwischen heiligen und profanen Dingen die grundlegendste kulturelle Differenz, die Trennung zwischen beiden Kategorien unabdingbar, um die jeweilige kulturelle Sinnordnung zu sichern. Sein Bemühen war, fremde kulturelle Bräuche und religiöse Riten unvoreingenommen, funktionalistisch mit Bezug auf die jeweilige Sozialordnung zu erklären. Der funktionalistische Standpunkt erlaubt es dem Forscher, sich von eigenen kulturellen Wertvorstellungen zu distanzieren und eine unabhängige Beobachterperspektive einzunehmen,1 indem danach gefragt wird, welche Funktion das beobachtete Phänomen für die Gesellschaft hat. Dieser Beobachter-Standpunkt öffnet den Blick des Forschers und hat deshalb viel für sich. Doch war Durkheim auch unvoreingenommen genug, wenn er von einer absoluten Unterscheidung von heiligen und profanen Dingen ausging? Oder hat er zumindest in dieser Frage letztlich doch eine eurozentrische, durch die Geschichte des Christentums geprägte Perspektive eingenommen? Ist diese Differenz zwischen profan und heilig wirklich in allen Kulturen so streng gezogen? Was sind denn heilige Dinge überhaupt und in welchem Zusammenhang stehen sie zum Sozialleben? Welche Merkmale machen diese Dinge so besonders?

1 Vgl. Durkheim, Émilie: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Leipzig 2007 (1912).

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1.  D  INGE ALS MITTLER ZWISCHEN KULTUREN UND ZEITEN So viel steht fest: Der Mensch kommt ohne Dinge nicht zurecht, Artefakte sind Bestandteil jeder menschlichen Kultur. Der Gebrauch von Werkzeugen, von rituellen und alltäglichen Dingen kann als anthropologische Konstante angesehen werden. Der Mensch ist im Verständnis der philosophischen Anthropologie ein „Mängelwesen“ im biologischen Sinne, das aufgrund seiner mangelhaften Umweltanpassung und Ausstattung auf die Ergänzung durch Artefakte angewiesen ist, um mit Hilfe dieser ‚künstlich‘ hergestellten Dinge innerhalb einer natürlichen Umwelt überleben zu können.2 Die Spezies Mensch ist nicht festgelegt auf eine bestimmte Art des Nahrungserwerbs und des Überlebens, sondern ist im grundlegenden Sinne formbar und weltoffen. Um die Kontingenz des physischen und psychischen Überlebens bewältigen zu können, bedarf es der Ergänzung des menschlichen Körpers durch Dinge wie Werkzeuge und Gebrauchsobjekte. Menschliche Kultur ist ohne nützliche Dinge wie Kleidung, ohne Hammer oder Essgeschirr, auch ohne rituelle, religiöse oder andere kunstvoll ausgestaltete Objekte nicht vorstellbar. Helmuth Plessner war der Auffassung, dass es zur Natur des Menschen gehöre, eine Kultur zu haben; eine Kultur, die Artefakte umfasst, die die weltoffene Existenz des Menschen stabilisieren und ihr einen Grund, Stabilität und Ausdruck verleihen. Der menschliche Leib ist geradezu darauf ausgerichtet, durch Objekte in funktionaler wie auch in symbolischer Hinsicht (z.B. durch Bekleidung und Schmuck) ergänzt zu werden, und durch diese erst zu einem gesellschaftlichen Wesen geformt zu werden. Für Plessner bildete die Bekleidung des Menschen seine „zweite Haut“ – denn seine „erste Haut“ ist dünn und verletzlich, und bietet nicht besonders viel Schutz. Die Behausungen, die Architektur des Menschen, sind seine „dritte Haut“. Sie bieten ebenfalls sichtbaren Schutz sowie einen symbolisch bedeutsamen wie materiell stabilen Rahmen für das Sozialleben, das sie damit ermöglichen und mitgestalten. Sie geben dem Zusammenhang der Kultur einen räumlich und formal strukturierten Ausdruck, in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht.3 Neben den nützlichen Dingen sind auch die rituellen Objekte bei der Bewältigung von Kontingenz nützlich, indem sie innerhalb der Unwägbarkeiten der natürlichen Umwelt eine kulturelle Welt symbolisch formen, Transzendenz in eine sinnhafte Ordnung überführen und damit kognitiven, psychischen und spirituellen 2 Vgl. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt 2016 (1940). 3 Vgl. Plessner, Helmuth: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982.

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Halt geben. Die alltäglichen wie die außeralltäglichen Dinge des Menschen reduzieren Unsicherheiten existentieller und kultureller Art und erweisen sich auch Krisensituationen als besonders bedeutend.4 Menschliche Kultur beginnt nicht nur mit dem Werkzeuggebrauch, sie beginnt auch mit religiösen Praktiken und Vorstellungen, die mit Hilfe heiliger Objekte ausgeführt und performativ in Szene gesetzt werden. Damit wird Kosmologie sinnlich und leiblich erlebbar und schreibt sich ganz selbstverständlich in das Fühlen und Denken ein. Vor etwa 40.000 Jahren schuf der Mensch erstaunlich ausgestaltete Objekte der sog. „Eiszeitkunst“.5 Nach neueren Erkenntnissen in der Frühgeschichte geht künstlerisches Schaffen bis auf die Altsteinzeit zurück. Artefakte wie der „Löwenmensch“ (Abb. 1), eine besonders fein und kraftvoll ausgestaltete Figur, halb Mensch, halb Tier, in sich ruhend, sowie andere Statuetten wie Mammut, Bison, Bär, Pferd (Abb. 3) und Löwe, bringen uns die Welt dieser frühen Menschen näher. Sie zeigen uns, dass diese Menschen kreativ schaffende, ästhetisch empfindende Wesen, und dass sie uns durchaus ähnlich waren. Die Darstellung der Tiere ist gleichzeitig abstrahierend und naturnah, die Gestalt der Tiere gut getroffen. Die Statuetten vereinen Bewegung und Kontemplation auf verblüffende Weise. Die Artefakte der „Eiszeitkunst“, die in der Schwäbischen Alb gefunden wurden und die ganz erstaunliche neue Erkenntnissen über die frühe Menschheit brachten, sind mittlerweile zum Weltkulturerbe erklärt worden. Das Zeitalter des Aurignacien, in dem der moderne Mensch (homo sapiens sapiens) in Europa für einige Tausend Jahre neben dem Neandertaler-Menschen lebte, brachte eine überraschende Blüte der Kunst hervor: „Die Kunst des Aurignacien ist komplex und – lassen wir uns einmal zu einem emotionalen Statement hinreißen – von vollendeter Schönheit“6. Nicht nur die bildende Kunst fand damals zur Blüte, auch die Musik hat sich entwickelt: Das älteste gefundene Musikinstrument ist eine sehr zierliche Flöte, aus dem Flügelknochen eines Schwans gefertigt. Sie wurde wie die anderen Artefakte der Eiszeitkunst in der Schwäbischen Alb gefunden und ist etwa 35.000 Jahre alt (Abb. 2). Die Forscher vermuten, dass sich in diesen künstlerischen Praktiken rituelle Zwecke mit Ausdrucksvermögen und -bedürfnis der damaligen Menschen verbanden. Es ist anzunehmen, dass die 4 Vgl. Bosch, Aida: „Unsicherheit, Krise und Routine. Zur Rolle der Dinge in der menschlichen Lebenswelt“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 24 (2015), H. 1 („Unsicherheit“), S. 209-220. 5 Vgl. Müller-Beck, Hansjürgen/Holdermann, Claus-Stephan/Conrad, Nicholas J.: Eiszeitkunst im süddeutsch-schweizerischen Jura. Anfänge der Kunst, Stuttgart 2001. 6 Floss, Harald: „Die Kunst der Eiszeit in Europa“, in: Wolfgang Schürle/Nicholas J. Conrad (Hg.), Zwei Weltalter. Eiszeitkunst und die Bildwelt Willi Baumeisters. Galerie 40tausend Jahre Kunst, Ostfildern 2005, S. 8-69, hier S. 16.

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meisten damals geschaffenen Objekte sich nicht erhalten haben, da Materialien wie Holz, Rinde und Lehm vergänglich sind. Nur Objekte aus Stein können so lange bestehen, und die gefundenen Objekte waren oftmals zersplittert in viele Teile und mussten mühsam in einem zeitraubenden Prozess wieder zusammengesetzt werden. Nach heutigem Stand der Erkenntnis gehören damit ästhetische Techniken und kreative Ausdrucksweisen seit Beginn des Menschen zu seinem Handlungsrepertoire. Seit etwa 40.000 Jahren werden ‚besondere‘, künstlerische Objekte geschaffen, die nach allem, was wir wissen, nicht nur dem ästhetischen Ausdruck, sondern auch kultischen Zwecken dienten. Werkzeuge wie Faustkeile, Speerspitzen oder Nadeln sind noch sehr viel älter, und wurden an verschiedenen Fundorten auf allen Kontinenten gefunden. Betrachtet man Sammlungen steinzeitlicher Objekte, so überrascht, wie sorgfältig und ästhetisch einfache Dinge wie Faustkeile oder Speerspitzen oft gefertigt und bearbeitet wurden (Abb. 4 und 5). Das ästhetische Ausdrucksbedürfnis des Menschen richtet sich offenbar sowohl auf rituelle wie auch auf nützliche Dinge. Die Kunst wurde erst in der Moderne als eigenes Handlungssystem ausdifferenziert. In der Geschichte des Menschen haben sich die meiste Zeit künstlerische Ausdrucksformen in einem engen Zusammenhang mit nicht-ästhetischen Zwecken entwickelt, mit praktischen Zwecken etwa bei der Gestaltung von Werkzeug und Kleidung, mit religiösen und mythischen Motiven bei der Gestaltung von Kultobjekten und Kultplätzen. Für viele der historischen Funde wird eine Mischung verschiedener Handlungsmotive angenommen: praktische Funktionen, kulturelle Symbolik und ästhetische Ausführung sollten in den Objekten zusammenwirken. Die ästhetische Dimension der Dinge sollte nach heutiger Erkenntnislage die praktischen und rituellen Wirkungen (Schutz, Abwehr, Gelingen, Macht etc.) symbolisch und sinnlich unterstützen. Deuten wir diesen Befund sozialtheoretisch, so führt er uns zu der These, dass ästhetische Ordnungen in Objekten sowie in rituellen und künstlerischen Praktiken es vermögen, kognitive und soziale Sinnsysteme zu stützen und zu stabilisieren. Durch die sinnlich erfahrbare Kraft der Ästhetik können außerästhetische Werte und Funktionen in ihrer Wirkung gesteigert werden. Was also zeichnet die besonderen Dinge aus verschiedener Kulturen und Zeiten aus? Es ist ihre Ästhetik, die die jeweilige Kosmologie und die Haltung zur Welt sinnlich berührend und unmittelbar überzeugend zeigt. Es ist ihre ästhetische Formensprache, die selbst den kulturell ‚fremden‘ Betrachter anspricht, der nicht alles, doch Teile der vermittelten Haltung zur Welt auf nicht-sprachliche Weise aufzunehmen vermag. Die Dinge sprechen auch noch nach Jahrtausenden. Wir verstehen sie nicht unbedingt und nicht zur Gänze, da wir ihre Sprache nicht kennen, doch aufgrund des leiblichen Bezugs zu den Dingen und aufgrund unserer körperleiblichen Verwandtschaft zu den Menschen der frühen Zeit bekommen

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wir erstaunlicherweise doch einiges mit von ihrer Präsenz, ihrer Schönheit, ihrer Nützlichkeit – und von der Praxis, von der sie erzählen. Die experimentelle Archäologie hat es sich deshalb zu Eigen gemacht, diese frühen Dinge nachzubauen, zu gebrauchen und zu erkunden, und damit Wissensbestände und Praxen der frühen Kulturen zu erschließen. So erweisen sich die Dinge als Mittler zwischen den Kulturen und Zeiten.

2.  DIE SOZIOLOGISCHEN FUNKTIONEN DER DINGE Auch innerhalb einer Kultur haben die Dinge vermittelnde Funktionen: Sie transportieren kulturelles Wissen und Überzeugungen zum Subjekt, und sie materialisieren umgekehrt die Ideen und das kulturelle Schaffen einzelner Menschen, die zur kulturellen Entwicklung beitragen. Dinge wie Gebrauchsgegenstände und heilige Objekte dienen somit als Mittler im Kultivationsprozess. Dinge befördern die Subjektivierung von Kultur und umgekehrt die kulturelle Objektivierung von individuellem Schaffen.7 Der Mensch braucht Umwege für seine Entwicklung – so sah es Georg Simmel.8 Der Weg „zu sich selbst“ gehe zunächst „weg von sich selbst“, um anschließend, angereichert durch neue Fertigkeiten und Erkenntnisse, wieder zu sich zurückzukehren. Um sich als Subjekt weiterentwickeln zu können, benötigt es den Umweg über Elemente der objektiven Kultur wie zum Beispiel Bücher, Musik, bildende Kunst oder wissenschaftliche Abhandlungen. Die subjektive Aneignung von objektiver Kultur, die Hingabe an diese, spielt eine wichtige Rolle in diesem Prozess, um eine Entwicklung im Sinne der Kultivierung der individuellen Antriebe und Verfeinerung des Selbst zu erreichen. Als objektive Kultur gilt Simmel alles, was sich in der Kultur materialisiert hat: Infrastruktur, Technik, Kunst, Wissen in Büchern, Architektur, andere Objekte. Kultur wird als Geflecht gedacht, als dynamisches Gewebe, in dem sich objektive und subjektive Elemente durchdringen und gegenseitig inspirieren und befördern. Georg Simmel beobachtete nun, dass es in der Moderne zu einer asymmetrischen Entwicklung von objektiver und subjektiver Kultur kommt. Durch sich beschleunigenden, exponentiellen Wissensfortschritt entsteht die Gefahr einer Atrophie der individuellen Kultur und Hypertrophie der objektiven Kultur. Diese Schieflage bezeichnete Simmel als „Tragödie der Kultur“: Der einzelne Mensch könne nicht mehr Schritt halten mit der rasanten 7 Vgl. Czikszentmihalyi, Mihaly/Rochberg-Halton, Eugene: Der Sinn der Dinge. Das Selbst und die Symbole des Wohnbereichs, München 1989. 8 Vgl. Simmel, Georg: „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ (1911), in: Ralf Konersmann (Hg), Kulturphilosophie, Leipzig 1996, S. 25-57.

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Entwicklung der modernen Kultur auf allen Gebieten; er kann sich diese nur noch sehr punktuell, ausschnitthaft und zusammenhanglos aneignen. Selbst in einem einzigen Wissensgebiet ist kein vollständiger Überblick mehr möglich. Dies führe laut Simmel zu versteckten Minderwertigkeitsgefühlen des Subjekts, die sich in einer gesteigerten Exzentrik und Überbetonung von Individualität äußern, sowie in einer Geringschätzung der Gegenstände der objektiven Kultur. Simmel schrieb dazu: „Dem Überwuchern der Objektiven Kultur ist das Individuum weniger und weniger gewachsen […] ein Staubkorn gegenüber einer ungeheuren Organisation von Dingen und Mächten, die ihm alle Fortschritte, Geistigkeiten, Werte allmählich aus der Hand spielen und sie aus der Form des subjektiven in die eines rein objektiven Lebens überführen“9. Und an anderer Stelle: „Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren.“10 Das Verhältnis zu den Dingen verschiebt sich damit, die Bindung an die Dinge, an qualitative Werte wird mit dem Geldverkehr und der Massenproduktion gelockert, und es überwiegt ein schneller Zugriff, ein verschleißender Gebrauch, der sich nach Moden richtet und das einzelne Ding nicht mehr schätze. Georg Simmel bedauerte dies, da die Dinge als Mittler von Kultur Aufmerksamkeit und Wertschätzung sowie Respekt vor ihrer Eigenart verdienten. Doch er beobachtete schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass quantitative Aspekte die qualitativen mehr und mehr dominierten, und sich alle Bindungen mehr und mehr lockerten und temporär wurden. Daran hat sich seit Simmels Zeit nicht viel geändert, sondern dieser Prozess der Quantifizierung aller Sachverhalte und Beziehungen schreitet weiter fort. Ein neuerer sozialwissenschaftlicher Autor, Richard Sennett, sieht es ähnlich. Er geht von dem Befund aus, dass wir zu den realen materiellen Dingen um uns herum ein gespaltenes Verhältnis haben, denn „die Geschichte hat Bruchlinien geschaffen, die Praxis und Theorie, Technik und Ausdruck, Handwerker und Künstler, Hersteller und Benutzer voneinander trennen. Die moderne Gesellschaft leidet unter diesem Erbe“11. Die Frage, wie wir uns als Menschen und als Gesellschaft der materiellen Wirklichkeit stellen, hat neben den praktischen auch entscheidende ethische Dimensionen – zum Beispiel für das Verhältnis zur Kultur und zur Natur. Sennett sucht nach Anregungen in vorindustriellen, handwerklichen Produktionsweisen, um unser Verhältnis zu den Dingen besser und nachhaltiger zu 9 Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd 7.1, Frankfurt a.M. 1995 (1903), S. 116-131, hier 129. 10 A.a.O., S. 116. 11 Sennett, Richard: Handwerk, Berlin 2008, S. 22.

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gestalten. Das Bestreben, eine Tätigkeit um ihrer selbst willen gut zu machen, ist ein fundamentaler menschlicher Impuls, so Sennett – ein Bestreben, das in der Moderne auf strukturelle Hindernisse stößt und sich oft nicht entfalten kann. Dies ist eine Entwicklung, die ihren Preis für die menschliche Kultur und für individuelle Entwicklungsmöglichkeiten hat; der Lebensführung geht damit etwas verloren. Richard Sennett sucht deshalb Inspiration in handwerklichen Traditionen und meint, die Tätigkeit, die Motivation und die Gewohnheiten des Handwerks und der Handwerker vermögen „Wege aufzuzeigen, wie man Werkzeuge benutzen, körperliche Bewegungen organisieren und über Materialien nachdenken kann, und diese Wege bleiben auch weiterhin brauchbare alternative Möglichkeiten geschickter Lebensführung“12. Sennett geht es als Philosoph darum, grundlegende Fragen des Soziallebens mit denen konkreter materieller Kultur zu verbinden, und dabei gerade auf die Details zu achten. Dies bedeutet, vom Standpunkt der Philosophie konkrete materielle Praxen wie „Holzbearbeitung, militärischem Drill oder Solarzellen“13 zu untersuchen, um letztlich danach zu fragen, „was das Herstellen konkreter Dinge über uns selbst verrät – eine einfache Frage, auch wenn die Antwort alles andere als einfach ist. Wenn wir von den Dingen lernen wollen, müssen wir auf die Eigenschaften von Bekleidung oder die richtige Zubereitung von pochiertem Fisch achten“14. Um die sozialen und symbolischen Wirkungen von materieller Kultur zu erkunden, sollten wir uns sowohl auf theoretische Überlegungen stützen wie auch den konkreten, sinnlichen, materiellen, leiblichen Eigenschaften und Wirkungen der Dinge zuwenden. Die Dinge sind der „Weltanker“ des Menschen, deshalb sind sie nicht nur in funktionaler Hinsicht von Bedeutung, sondern auch in sozialer, kultureller und psychologischer Hinsicht. Der Mensch ist verletzlich und seine Existenz ist endlich – beides Bedingungen der Existenz, die manchmal schwer zu tragen sind und die deshalb den Traum von der Unverletzlichkeit und Perfektion des menschlichen Leibes nähren. Die Ergänzung des menschlichen Körpers durch das Ding und durch die scheinbar perfekte Maschine befördert die Fiktion, der menschlichen Vulnerabilität und Endlichkeit entkommen zu können; auch deshalb kann ein immer neues, nie erlahmendes Begehren nach den Dingen, nach den neuesten technischen und „modischen“ Objekten auch in eigentlich gesättigten Märkten und Gesellschaften geweckt werden. Die Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit des Menschen als Wesen sind im Grunde der Ansatzpunkt für die Vermarktung von immer neuen Dingen in der Moderne. Das Streben nach der Perfektionierung des Selbst und des Leibes mit Hilfe tech-

12 A.a.O., S. 22f. 13 A.a.O., S. 19. 14 A.a.O., S. 17f.

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nischer Objekte hat seinen Ursprung in der Vulnerabilität des menschlichen Daseins. Während in unserer Kultur quantitative Aspekte des Ding-Gebrauchs auffallen – sie werden zumeist in Massenproduktion hergestellt, und den Menschen scheint es auf den Besitz möglichst vieler Objekte anzukommen -, wird in vormodernen Kulturen Wert auf die qualitativen Aspekte der Dinge gelegt. Sie werden sorgfältig gefertigt; man besitzt nicht viele Dinge, doch diese werden vielfach verwendet und wertgeschätzt, sie werden repariert und immer wieder neuen Gebrauchsweisen zugeführt.15 Besitzt der Mensch nur wenige Objekte, die er immer wieder repariert, so sind auch seine Fertigkeiten und seine Kreativität gefordert, er sieht sich genötigt, Wissen, Ideen und Geschick im Umgang mit den Dingen zu entwickeln. Die Liebe zum Objekt, die Wertschätzung kann sich besser entfalten, wenn die Zahl der Dinge, denen man sich widmet, überschaubar bleibt. Der Mensch formt sich selbst im Umgang mit den Dingen und lernt dabei, Kopf und Hand für kreative und ausgefeilte Reparatur- und Recycling-Lösungen zu gebrauchen und weiter zu entwickeln. Oder er lernt im Gegenteil, von den Dingen alles zu erwarten, sich ganz auf sie zu verlassen und sie bei kleinen Macken auf den Müll der Geschichte zu befördern. Es liegt auf der Hand, welche dieser lebensweltlichen Praxen Züge von Resilienz aufweist und welche in hohem Maße vulnerabel ist.

3.  IDENTITÄT UND DIE ROLLE DER DINGE Dinge sind grundlegend verknüpft mit dem Aufbau von Identität für Individuen und Kollektive: Ihre Stabilität und Widerständigkeit gegenüber menschlichen Handlungen bildet den Hintergrund des sozialisatorischen Lernens.16 Im Prozess der Sozialisation sind die Dinge beteiligt am Aufbau des elementaren Weltvertrauens, eine Eigenschaft, die es uns letztlich ermöglicht, morgens überhaupt aus dem Bett zu steigen. Objekte haben Anteil am Aufbau von grundlegenden Wahrnehmungsstrukturen und Denkoperationen; an ihnen bildet sich unser Denken heraus.17 Sie sind beteiligt am Aufbau menschlicher Kreativität, die für so viele Handlungen und Problemlösungen im ganzen Lebenszyklus elementar ist.18 Dinge agieren im Sozialisationsprozess als Prüfstein für Lernprozesse, für das menschliche Denken und Fühlen. Am vertrauten Teddy kann das Kind verschiedene Handlungen und Emotionen ausprobieren und ausleben. Vertraute Dinge sind 15 Vgl. Hahn, Hans-Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005. 16 Vgl. A. Bosch: Identität und Dinge. 17 Vgl. Piaget, Jean: Meine Theorie der geistigen Entwicklung, Basel u.a. 2003 (1981). 18 Vgl. Winnicott, Donald: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1979.

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auch im späteren Leben ein Anker-Element für die eigenen Grundlagen, für die Herkunft, und gerade in schwierigen und befremdlichen Situationen sind sie von Bedeutung für die Sicherung von Identität. An den Dingen wird Identität nicht nur aufgebaut, sondern tagtäglich auch gesichert. Wie oben beschrieben, ist der Mensch ein Wesen, das die Dinge und Artefakte seiner Kultur benötigt, um überleben zu können in einer Umwelt, an die er nicht spezifisch angepasst ist. Helmuth Plessner spricht von einem Grundgesetz der „natürlichen Künstlichkeit“ des Menschen, was bedeutet, dass der Mensch zur Kultur „verurteilt“ und damit auf die Dinge und Artefakte um ihn herum elementar angewiesen ist. Der Mensch ist „von Natur, aus Gründen seiner Existensform künstlich“19. Als exzentrisches Wesen ist der Mensch nicht im Gleichgewicht, er benötigt die Artefakte seiner Kultur, denn „ortlos, zeitlos, im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muss er ‚etwas werden‘ und sich das Gleichgewicht – schaffen.“20 Dieses Gleichgewicht schafft er nur mit Hilfe der Artefakte der Kultur: „Der Mensch will heraus aus der unerträglichen Exzentrizität seines Wesens, er will die Hälftenhaftigkeit der eigenen Lebensform kompensieren und das kann er nur mit Dingen erreichen, die schwer genug sind, um dem Gewicht seiner Existenz die Waage zu halten“21. Diese Dinge der Kultur benötigt der Mensch, um zu überleben - physisch wie psychisch, und zwar in einem ontischen, nicht etwa in einem individualpsychologischen Sinne: Kultur ist keine Kompensation von Minderwertigkeitskomplexen, sondern existentielle Notwendigkeit. Die Dinge werden vom Menschen geschaffen, und doch müssen sie im kulturellen Leben genug Eigengewicht erhalten, um die elementare Sicherung und Ergänzung des Menschen leisten zu können. Sie müssen sich ablösen können vom Prozess ihrer Herstellung durch den Menschen. Denn dem Menschen als exzentrisches Wesen kann die Herstellung des Gleichgewichts lediglich durch die Existenz einer „zweiten Natur“ gelingen, durch die „Ruhelage einer zweiten Naivität“, die durch das Eigengewicht der Dinge vermittelt wird.22 Der Mensch kann zu seiner immer fragilen Identität nur finden, wenn sie ihm durch die Dinge der Kultur „fraglos“ vermittelt wird. Dafür benötigen die Dinge ein spezifisches Eigengewicht. Doch dieses Eigengewicht der Dinge ist heute immer gefährdet: Der Mensch herrscht über das Ding, stellt es her und verbraucht es, und schätzt es deshalb oft gering. Die Dinge selbst weisen eine materielle und kulturelle Widerständigkeit auf – manche Dinge mehr, manche weniger – sowie eine Dauer, die über die situative Handlungskonstellation hinausgeht. Der Mensch steht damit in einem meist 19 H. Plessner: Mit anderen Augen, S. 17. 20 A.a.O. 21 A.a.O., S. 18. 22 Vgl. a.a.O.

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Abbildung 1-3: Eiszeitkunst aus dem Aurignacien, Fundort Schwäbische Alb Abbildung 1 (li.): Hohlenstein Löwenmensch; Foto: Yvonne Mühleis; Bildrechte: Landesamt für Denkmalpflege im RP Stuttgart, Ulmer Museum Abbildung 2 (re.): Hohle Fels Flöte; Foto: Hilde Jensen; Bildrechte: Universität Tübingen

Abbildung 3: Vogelherd Pferd; Foto: Hilde Jensen; Bildrechte: Universität Tübingen

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Abbildung 4 (li.): Faustkeil: Foto; Barbara Voss (Goethe Universität Frankfurt) Abbildung 5 (re.): Speerspitze (wahrscheinlich); Foto: Barbara Voss (Goethe Universität Frankfurt)

Abbildung 6: Constantin Brancusi: Sleeping Muse I, 1909/10, Marble, Hirshorn Museum and Sculpture Garden, Smithsonian Institution, Washington; Bildrechte: Succession Brancusi – All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2018

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Abbildung 7: Raku Chawan; Foto: bwoom-japan.de

Abbildung 8: Bizen-Schale mit Kintsugi Reparatur; Foto: bwoom-japan.de Abbildung 9: Raku-Gintsugu-Chawan: Foto; bwoom-japan.de

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geleugneten existentiellen Abhängigkeitsverhältnis von den Dingen. Er definiert sich fundamental auch über seine Beziehung zum Ding, in der Regel ohne dies im Blick zu haben. Die Identität des Menschen wird nicht nur durch sein Verhältnis zu den Mitmenschen, sondern grundlegend auch durch sein Verhältnis zum Stein, zum Baum, zum Haus, zum Auto und zum Handy geformt. Dieser Widerspruch, die verleugnete Abhängigkeit des Menschen vom Ding, bewirkt und begünstigt ein falsches Überlegenheitsgefühl - und die Identität besonders des modernen Menschen, der seinen Fetischismus leugnet,23 enthält damit einen sehr wackeligen Grund.

4. KULTUR UND NATUR Alltags- und Gebrauchsdinge vermitteln in ihrer Präsenz die Strukturen der alltäglichen Lebenswelt. Die Selbstverständlichkeit ihrer Anwesenheit vermittelt fraglos Kultur. Durch die schlichte Präsenz des Tisches und des Tellers, der Lampe, des Schreibtischs und des Computers teilt sich dem Handelnden ganz nebenbei und in jedem Augenblick die Gegenwart seiner zeitgenössischen Sozialität mit. Im Gebrauch der Dinge vermittelt sich, gewissermaßen hinter unserem Rücken, auf vorbewusste Weise, in welcher Lebenswelt und Zeit wir uns befinden, und welche Handlungsweisen, Werte und sozialen Regeln angemessen sind. Nicht nur das einzelne Ding spielt dabei seine Rolle, sondern die Gesamtheit der Dinge einer Lebenswelt, ihr Verweisungszusammenhang ist relevant. Dieser Zusammenhang bildet Kultur ab und macht sie erfahrbar. Einzelne Dinge, aus diesem kulturellen Zusammenhang gerissen, werden zu „heimatlosen Dingen“ und erfahren einen Bedeutungswechsel, wie der Pullover, der verlassen auf der Straße liegt, der Stuhl, der aussortiert wird und auf dem Sperrmüll steht - oder unter bestimmten Voraussetzungen zum Design-Objekt aufsteigt und im Museum ausgestellt wird. Martin Heidegger unterschied die Begriffe Ding, Zeug und Werk, und seine Unterscheidung können wir uns analytisch zunutze machen. Das Ding ist die übergeordnete Kategorie, die bei Heidegger auch die Naturdinge umfasst: den Stein, den Baum, das, was der Mensch in seiner Umgebung vorfindet. Das Zeug ist vom Menschen hergestellt, es ist nützlich und dienlich und vermittelt in seiner Dienlichkeit den Verweisungszusammenhang der Dinge und der Lebenswelt auf fraglose Weise. Das Werk wurde ebenso vom Menschen hergestellt, erklärt sich aber nicht aus seiner Dienlichkeit, sondern ist im glücklichen Fall in der Lage, Verschiebungen und „Öffnungen“ der Wahrnehmung sowie elementare Ein23 Vgl. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reibek bei Hamburg 2006.

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sichten zu bewirken.24 Diese Unterscheidung Heideggers ist von Bedeutung, um die Rolle der verschiedenen Ding-Kategorien für die menschliche Existenz zu verstehen. Der Mensch als exzentrisch positioniertes Wesen ist als Natur- und Kulturwesen immer doppelt determiniert, zugleich zentrisch und exzentrisch zur Welt positioniert, zerrissen und gespalten in seiner Lebensweise.25 Er ist auf einer ewig ungelösten Suche nach einer Balancierung seiner Identität, nach einer Integration der zwei Seiten seiner Existenz: der leiblich-zentrischen und der exzentrisch-kulturellen Lebens- und Wahrnehmungsform. Eine derartige Balancierung wird, zumindest für Momente, durch den Umgang mit Dingen ermöglicht. Naturdinge wie der Stein, der Baum, der Berg und der Bach schaffen eine Verbindung unserer zentrischen Existenz zur natürlichen Umwelt und ordnen diese ein in die Kreisläufe der Natur. Diese Dinge enthalten in ihrer Materialität und Ästhetik eine Prozesshaftigkeit, die mit der Rhythmik der Natur und mit der Rhythmik des menschlichen Leibes korrespondiert. Die kultivierten Naturdinge sind eine Zwischenkategorie, auch sie vermögen es, zwischen zentrischem und exzentrischem Sein auf nützliche und schöne Weise zu vermitteln: Die Kulturpflanze, die gehegt und veredelt wird, das Möbelstück aus schönem Holz, dessen Maserung man spüren und sehen kann, die Fähigkeit, schönen, anspruchsvollen Musikinstrumenten aus erlesenen Naturmaterialien ästhetische Klänge zu entlocken. Solche Dinge vermögen es, den Menschen mit der grundsätzlichen Gespaltenheit seiner Existenz momentweise zu versöhnen und diese vorübergehend aufzuheben. Durch den körperlichen Umgang des Menschen mit Naturobjekten sowie mit anspruchsvoll kultivierten Natur-Kultur-Dingen können zentrisches und exzentrisches Sein, kann der Mensch seine zentrische und seines exzentrische Seinsweise, Leib und Geist, vorübergehend in Einklang bringen und seinem gespaltenen Dasein einen ästhetischen, flüchtig-ganzheitlichen Sinn abgewinnen. Andererseits belastet das Kaufen, Nutzen und Wegwerfen von Dingen, die man eventuell gar nicht benötigt, der massenhafte Verschleiß von nur kurzfristig nutzbaren, ressourcenraubend hergestellten billigen Produkten, dieses Verhältnis des Menschen zur natürlichen Umwelt und damit zu seinem eigenen zentrischen Sein. Die eigene zentrische Positionierung innerhalb der natürlichen Umwelt und die exzentrische Existenz der Kultur treten in diesen Vorgängen deutlich auseinander und machen die Gespaltenheit und Zerrissenheit des menschlichen Seins umso deutlicher. Die Fülle der Dinge in der Moderne sowie das oftmals billige, wertlose, industriell nicht immer sorgfältig hergestellte Zeug mit einem geringen Nutz- und Kulturwert unterstützen ein falsches Überlegenheitsgefühl des Menschen gegenüber den Dingen. Dinge werden schnell gekauft, schnell gebraucht 24 Vgl. Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960. 25 Vgl. H. Plessner: Mit anderen Augen.

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und häufig vorzeitig wieder ausgegliedert und weggeworfen, da sie durch Neues überholt werden und keinen Wert mehr zu haben scheinen. Der Respekt vor den Dingen leidet in diesem Gebrauch und Verbrauch – und damit wird das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, zu seinem Verbrauch der Natur und der natürlichen Ressourcen sowie auch zu seiner Kultur, die sich in diesen wertlosen Dingen eben auch spiegelt, in Mitleidenschaft gezogen. Die Dinge repräsentieren beides, Natur (da sie in der Regel aus natürlichen Rohstoffen hergestellt sind) und Kultur (da in ihrer Herstellung kulturelle Techniken entwickelt und verwendet wurden). Sie sind Welt und Erde – stoffliche Materie, die kulturell umgestaltet wurde.26 Die „besonderen Dinge“, auf dem Wissens- und Fertigkeitsstand ihrer Zeit hergestellt, vermögen es, Kultur und Natur auf hochentwickelte Weise einzuschließen und zu verbinden, Welt und Erde in einen produktiven Widerstreit zu verknüpfen. Gerade in Zeiten der heutigen globalisierten, weltumspannenden und sinnlos rohstoffverschleißenden Produktionsketten scheinen die auf hohem Niveau kultivierten Natur-Dinge auch für breitere Schichten eine neue Bedeutung zu gewinnen. Das spielgelt sich in verwässerter Form sogar in verschiedenen Moden mit bestimmten „naturnahen“ Symboliken wider: Raue unbehandelte Möbeloberflächen, naturbelassene Holzböden (oder deren Imitatation), überhaupt Landlust, Land-Art und Landhausstil jedweder Art zeigen das intensiv empfundene Bedürfnis des urbanen Bewohners nach einer Versöhnung seiner artifiziellen Lebensumstände mit einer sinnlichen, zentrischen, (vermeintlich) naturnahen Lebensweise. Diese Moden enthalten zwar einen großen Anteil an Projektionen und unerfüllten Bedürfnissen, und die Dinge halten nicht immer, was sie versprechen. Doch zeigen sie auch einen Reflex auf das dahinterstehende Bedürfnis nach einer neuen, sinnlich spürbaren Einbettung des Menschen in seine natürliche Umgebung. Die Dinge repräsentieren Welt und Erde, um mit Begriffen von Heidegger zu sprechen. Gemeint ist damit: Die dinglichen Objekte repräsentieren sowohl die kulturelle Welt und ihre symbolischen Bezüge als auch die natürliche Umwelt, da alle Gebrauchsdinge und technischen Objekte aus den Ressourcen der Natur durch Umformung hergestellt wurden – auch wenn ihnen das nicht in jedem Falle mehr anzusehen ist. Die Herstellung, der Gebrauch und das Ausgliedern und Wegwerfen von Dingen markiert die unscharfe Grenze von Kultur und Natur. Der Mensch lebt generell, um mit Helmuth Plessner zu sprechen, in einer künstlichen, selbstgeschaffenen Welt (der Objekte) innerhalb einer natürlichen Umwelt und hat damit zwei (Um)Welten: eine artifizielle, selbst hergestellte und eine natürliche. Diese beiden Umwelten korrespondieren mit der besonderen menschlichen Existenzweise der exzentrischen Positionalität. Der Mensch ist mit seinem Leib an die natürliche Umwelt mit ihren Rhythmen und Kreisläufen gebunden, mit 26 Vgl. M. Heidegger: Der Ursprung.

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dieser verbunden; und er hat einen Körper, der gesellschaftlich geformt und durch soziale Techniken und Praktiken gestaltet und ‚ausgebildet‘ wird. Die dinglichen Objekte repräsentieren Kultur und Natur gleichzeitig: Es gehört zur menschlichen Existenzweise, über Dinge zu verfügen, die seine kulturelle Umwelt darstellen. Gleichzeitig repräsentieren die Dinge, die der Mensch nutzt und konsumiert, auch umgeformte Natur und markieren die Art und Weise des Verbrauchs von natürlichen Ressourcen und des Austauschs mit der Umwelt. Die Dinge des Menschen wurden als Rohstoffe der Natur entnommen, durch Kulturtechniken umgeformt, und sie wandern nach dem Gebrauch – umgeformt – wieder in die Natur zurück. Dort sind sie in vielen Fällen nicht mehr absorbtionsfähig und belasten und vergiften die natürlichen Systeme, an denen der menschliche Leib Anteil hat und mit denen er verbunden ist. Somit stellt sich die Frage der Vermittlung von natürlicher Umwelt und künstlicher Welt des Menschen, der Vermittlung von Leib und Körper.27 Leib und Körper, Natur und Kultur des Menschen sind spätestens mit dem Industrialismus auseinander- und in Widerspruch zueinander getreten und lassen sich in der Existenzweise des Menschen kaum mehr vermitteln oder gar versöhnen. Bei der Herstellung und Nutzung von Dingen dominiert in der Regel die Kultur über die Natur, der Körper über den Leib. Die Dinge sind der Natur nicht mehr nur abgerungen, ihre Produktion richtet sich vielfach gegen die natürlichen Grundlagen der biologischen Existenz auf der Erde. Die Widersprüche zwischen Körper und Leib, zwischen Welt und Erde, zwischen diesen Sphären gehen immer weiter auf. Zwar gibt es neue Produkte, die eine Versöhnung zwischen Mensch und Umwelt, zwischen Körper und Leib versprechen, ökologisch hergestellte Gebrauchsdinge zum Beispiel. Die Ästhetik dieser Dinge ist geprägt von den Prinzipien des Puren, Schlichten, von der Varianz der Strukturen natürlicher Materialien wie zum Beispiel der Texturen und Oberflächen von Hölzern. Allerdings kleidet sich mittlerweile auch die weniger ökologisch hergestellte Massenware nicht selten in eine oberflächliche Ästhetik des Rohen, Schlichten, Natürlichen. Wenn sich die Dinge nur den Anschein des Natürlichen, Einzigartigen, Authentischen geben, ist damit nicht viel gewonnen.

5.  E  IGENGEWICHT DER DINGE ZUR STABILISIERUNG VON KULTUR Die begriffliche Unterscheidung der Dinge von Martin Heidegger in Zeug und Werk ist wichtig, um die Beziehung der Dinge zur Identität des Menschen zu verstehen: Das Zeug sichert menschliche Identität im Akt des Gebrauchs. Indem 27 Vgl. A. Bosch: Identität und Dinge.

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die Dinge dienlich und verlässlich sind, wird die Welt des Menschen errichtet und Kultur ist fraglos vorhanden und präsent. Durch die Nutzung der Dinge, des Zeugs, durch ihre Ergänzung des menschlichen Körpers, schreibt sich Kultur, schreibt sich Welt und Erde in den Körper ein, auf fraglose und alltägliche Weise. „Die Dienlichkeit des Zeugs ist […] die Wesensfolge der Verlässlichkeit“28. Doch müssen die Dinge genug Eigengewicht erhalten, um als kulturelle Ergänzung und Substitution der körperlichen „Mängel“, psychischen Unsicherheiten und Kontingenzen in der Lebenswelt des Menschen agieren zu können. Dies gilt für das Zeug, da es fraglos Kultur und damit „Welt“ im Sinne von Lebenswelt, Verweisungszusammenhang und Bedeutungsgeflecht repräsentiert. Auch besitzt das Zeug genug Erde (Materie), um eine eigene Schwere im Gebrauch zu entwickeln, die als Ergänzung und Gegengewicht des menschlichen Körpers wirken kann. Die Sinnlichkeit und Nützlichkeit, die Willfährigkeit und spezifische Lastigkeit des Zeugs, seine Beschaffenheit und Ästhetik entwickelt genug Schwere, um die kulturelle Lebenswelt als fraglos und sicher gegeben hinzunehmen. Die „Naturdinge“ besitzen ein noch höheres Eigengewicht, da sie nicht vom Menschen geschaffen wurden. Zudem besitzen sie die Kraft, spezifisch menschliches Tun einzuordnen in übergeordnete, eigenständige Rhythmen und Kreisläufe. Ein besonders hohes „Eigengewicht“ kommt auch dem (Kunst)Werk zu, das zwar vom Menschen hergestellt, aber ihm nicht dienlich ist. Das Werk vermittelt laut Heidegger Einsichten in die Unverborgenheit des Seins, und ergo hat es die Kraft, Identität nicht nur zu sichern, sondern auch zu erschüttern – durch neue Einsichten in sonst verborgene Zusammenhänge.29 Indem das Werk dem geübten, sensiblen und kundigen Betrachter eine „Eröffnung des Seienden“30 ermöglicht, wird menschliche Identität herausgefordert, entwickelt und bereichert. Das Werk ist ein Ding, das sich dem herrschaftlichen Zugriff nicht beugt, sondern die Fähigkeit hat, seinerseits auf den Menschen einzuwirken, ihn aus Alltag und Routine herauszuheben oder gar herauszureißen und neue Wahrnehmungen und Erkenntnisse, ästhetischer wie inhaltlicher Art, zu generieren. Alte und ältere Kulturgegenstände ermöglichen darüber hinaus Zugänge und Einsichten in die geschichtliche Existenzweise des Menschen und verankern den Menschen und seine Identität so über das individuelle Dasein hinaus in der Tiefe der Geschichte und der Zeit. Es sind solche „besonderen Dinge“, die für unsere Kultur, auch für die Spätmoderne, von hoher Bedeutung sind, um die Beschleunigung der sozialen Prozesse zu stabilisieren. Die alten Kunst- und Kulturgenstände, die wir zu den wichtigen Beständen unserer Museen, Kirchen und Kultstätten zäh28 M. Heidegger: Der Ursprung, S. 28. 29 Vgl. a.a.O., S. 33ff. 30 A.a.O.

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len, vermitteln einen sinnlichen Zugang zur Geschichte und eine „Zugehörigkeit zum Sein. Wir sind nicht aus uns selbst. […] Besonders die historischen Sammlungen haben die mythische Funktion, ein Kollektiv in der Zeit zu verankern“31. Weil diese Dinge schön und ergreifend sind, weil sie sinnlich-attraktiv und nicht nur kognitiv zeigen, dass wir über unsere begrenzte individuelle Existenz hinaus in eine lange Kette der Entwicklung des Menschen involviert sind, sichern sie unsere Identität und sind von unschätzbarem Wert. Ihnen kommt damit ein sehr hoher Eigenwert und ein hohes „Eigengewicht“ zu, ein Gewicht, das beschleunigte Zirkulationsprozesse zu stabilisieren vermag. Gerade in der Moderne, die die Menschen immer stärker in den Warenverkehr einschließt, ist die Einmaligkeit und Schönheit dieser „heiligen Dinge“ der Kultur von unschätzbarer Bedeutung, um so etwas wie einen „Kulturkern“, einen kollektiven „Identitätskern“, der der Zirkulation und dem Verschleiß entzogen ist, zu sichern. „Heilige“ Dinge, „besondere“ Objekte gibt es nicht nur in einem gesellschaftlichen Sinne, sondern auch im individuellen Leben, in der Biografie des Einzelnen. Das sind zum Beispiel Erinnerungsobjekte und Erinnerungsstücke, oft Geschenke von nahen Personen, die man nicht mehr oft sehen kann oder die vielleicht verstorben sind. Der Ring, den man von der Großmutter geschenkt bekommen hat, die Strickjacke, die man von der Mutter hat, und die immer noch familiäre Geborgenheit vermittelt.32 Der erste Fotoapparat, vom Vater geschenkt, der Aufbruch und Selbständigkeit symbolisiert, und an den Vater erinnert. Manche Erinnerungsstücke werden viel genutzt oder getragen und erinnern in dieser Nutzung an bestimmte persönliche Ereignisse. Andere Objekte werden in Schränken und Schubladen gehütet und nur selten herausgeholt und betrachtet, um sich zu erinnern. Diese „besonderen Objekte“ repräsentieren persönliche Wurzeln, die man nicht vergessen will. Oder sie stehen für eine wichtige Wende in der Biografie, für eine Erkenntnis, die das weitere Leben bestimmen soll, stellen ein gewissermaßen materiell geronnenes und greifbares Lebensmotto dar, das eine hohe symbolische und ganz persönliche Bedeutung hat. Es können besonders schöne, symbolisch aufgeladene oder auch ganz profane Objekte sein, die in einer bestimmten Situation den Weg des Menschen auf unerwartete Weise kreuzten und ihm damit zu einer Erkenntnis verhalfen. Diese Dinge waren beteiligt an biografisch einschneidenden Prozessen und Wendepunkten, sie stehen symbolisch für ein Ereignis und die damit verbundenen Interpretationen, sie nehmen tiefe Emotionen auf und repräsentieren bildlich und stofflich einen individuellen Wandlungs- oder Läuterungsprozess und dienen damit auch fortan der Selbstvergewisserung. In31 H. Böhme: Fetischismus, S. 303. 32 Vgl. Bosch, Aida: Konsum und Exklusion. Eine Kultursoziologie der Dinge, Bielefeld 2010, S. 429f.

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dem sie dies alles aufnehmen, gewinnen diese Dinge ein hohes Eigengewicht. Mit Hilfe solch „heiliger Objekte“ will der Mensch sich immer erinnern: an seine Herkunft, an wichtige Bindungen, an grundlegende Gefühle und Einsichten, die im Trubel des alltäglichen Lebens nicht untergehen sollen. Mit Hilfe dieser heiligen Dinge interpretiert der Mensch die eigene Geschichte und gibt ihr eine symbolisch verdichtete, sinnhafte Gestalt, die er fortan bewahren und vor der Entropie des Alltags schützen möchte.

6.  ÄSTHETISCHE VORBILDER An welche Prinzipien kann nun eine neue zukunftsweisende Ästhetik anknüpfen, die für einen veränderten Umgang mit Dingen, mit ökologischen Fragen und mit handwerklichen Fähigkeiten steht? Betrachten wir zunächst einige Beispiele, die es wert sind, Inspiration und Anregung zu geben. Die Kunst der europäischen Moderne hat am Beginn des 20. Jahrhunderts, durchaus in Anknüpfung, aber auch in künstlerischer Opposition zum Industrialismus, eine Ästhetik entwickelt, die durch Reduktion zum Wesentlichen kommen und damit eine neue Formensprache erschaffen will. Diese „ästhetische Sprache“ schöpft aus dem Formenrepertoire der industriellen Moderne, mit ihrem Elan des Aufbruchs, ihren technischen Erfindungen und ihrer Perfektion, doch ebenso schöpft sie auch aus den vermeintlich schlichten Darstellungen sogenannter „naiver“ Kulturen, die in dieser Sichtweise noch einen authentischen Blick auf die Welt, eine mythische Ursprünglichkeit und im Westen verloren gegangene Intensität ausstrahlten. Constantin Brancusi zum Beispiel suchte wie viele andere Künstler am Beginn des 20. Jahrhunderts beides zu verknüpfen: Die Bewunderung für die reduzierte und puristische Ästhetik der industriellen Moderne, die alle überflüssige Ornamentik und Detaillierung weglässt, und den Vorstoß zu einem ursprünglichen, mythisch-anthropologischen Wesenskern der Dinge. Bestimmte Motive wie den „Prometheus“, die „Schlafende Muse“ (Abb. 6) oder den „Vogel“ schuf er deshalb unzählige Male, immer und immer wieder, in verschiedenen Materialien, mit nur kleinen Abweichungen, um formale Varianzen seines Themas zu erkunden und dem perfekten Ausdruck für seine Idee, dem Kern der Dinge näherzukommen.33 Ein anderes beachtenswertes Beispiel finden wir in der japanischen Tradition. Dort wurde im Rahmen der japanischen Teezeremonie eine formale Ästhe33 Vgl. dazu genauer Bosch, Aida: „Die reine Form und die Essenz der Dinge. Constantin Brancusis archaische Moderene“, in: Lutz Hieber (Hg.), Gesellschaftsepochen und ihre Kunstwelten, Wiesbaden 2017, S. 271-290.

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tik (Wabi Sabi) entwickelt, die das Pure, Einfache, Schlichte und Rohe verehrt. Darin herrscht eine Klarheit der Prinzipien, und eine einfache, klare Form wird angestrebt. Wie die europäische Moderne, die als Reaktion auf den Eklektizismus und die überbordende, brachiale Ornamentik des 19. Jahrhunderts mit dem Ideal des Purismus reagierte, war auch die Entstehung des Wabi Sabi in Japan geprägt von einer Abkehr von überbordender Pracht der damals vorherrschenden chinesischen Ästhetik des 15. und 16. Jahrhunderts. Die Wabi Sabi Philosophie ist im Rahmen der Teezeremonie entstanden, unter Rückgriff auf metaphysische und moralische Prinzipien des Taoismus und des japanischen Zen-Buddhismus. Einfachheit, Natürlichkeit und Akzeptanz der Wirklichkeit sind dort angestrebte ästhetische Ideale.34 Wie die europäische Moderne vermeidet auch die Wabi Sabi Ästhetik jede Art der Verzierung, die nicht Teil des Gegenstands selbst und seines Gebrauchs ist, und pflegt einen Minimalismus der Form. Beide Richtungen, die japanische und die europäisch moderne, umfassen abstrakte und sehr klare Ideale von Schönheit. Alles Überflüssige stört nur die Klarheit des Gegenstands und seiner Form und ist wegzulassen. Doch während die Oberflächenmerkmale der europäischen Moderne, wie sie zum Beispiel im Rahmen des Bauhauses entwickelt wurde, meist nahtlos, blank poliert und glatt sind, trifft für die Wabi Sabi Objekte das Gegenteil zu: Sie sind meist rau, unvollkommen und in ihrer Farbgebung unregelmäßig (vgl. Abb. 7). Das Vergängliche, das dem Augenblick Geschuldete, die Einmaligkeit des Moments, selbst die Störung, ist in dieser Tradition Teil des ästhetischen Ganzen. Die Vielfalt und Lebendigkeit der Formen wird im Rahmen des Wabi Sabi geschätzt, und man erreicht sie, indem man das Nicht-Perfekte, das Unvollständige und Unbeständige kultiviert, seine Schönheit hervorbringt und als Teil der Form belässt – nicht als Makel, sondern als ästhetische Besonderheit. Die Idee des Wabi-Sabi ist, dass ästhetische Größe in unscheinbaren und meist übersehenen Details liegt und dass besondere Schönheit nicht in der wiederholbaren Perfektion der Form, sondern im Einschluss des Hässlichen und Nicht-Perfekten liegt.35 Wahrheit und Erkenntnis kommt in dieser Perspektive aus der Beobachtung der Natur, und die Natur schließt Anfang und Ende ein, Vitalität und Mortalität. Diese Prinzipien des Einschlusses und nicht des Ausschlusses sollen sich auch in der Ästhetik der Dinge finden. Formale Einfachheit, äußerste Sorgfalt und höchste handwerkliche Kunstfertigkeit werden im Wabi-Sabi Stil zusammengeführt mit dem Ideal des Einzigartigen, Lebendigen und Vergänglichen. Das Lebendige zu erfassen ist nur möglich, wenn man die Vergänglichkeit einschließt. Die Bedingungen des jeweiligen Au34 Koren, Leonard: Wabi-sabi für Künstler, Architekten und Designer. Japans Philosophie der Bescheidenheit, Tübingen 1995, S. 30. 35 Vgl. Koren, Leonard: Wabi-Sabi, Further Thoughts, Point Reyes 2015.

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genblicks, die Einzigartigkeit des Moments sollen in das Objekt eingehen – unter Beachtung aller Regeln der handwerklichen Meisterschaft. Jedes Ding ist im radikalen Sinne ein Einzelstück mit seinem ganz eigenen Charakter. Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch in den modernen europäischen Kunstformen, wenn vergängliche Kunstwerke wie Performances oder Land-Art geschaffen werden, deren Schönheit dadurch gesteigert wird, dass sie nur in einem bestimmten historischen Moment existieren. Das Prinzip ist uns also nicht fremd. In der Wabi Sabi Ästhetik existiert eine große Freiheit der Formen, Stile und der sublimen Farben. Die Wabi Sabi Dinge sind nicht anmaßend, jedoch haben sie Präsenz und Autorität. Natürliche Prozesse und die Spuren menschlicher Behandlung dürfen sich in ihnen ausdrücken,36 diese Spuren sind sogar erwünscht, da sie den Charakter des Objektes formen. Sonne, Wind, Regen, Hitze und Kälte dürfen sich in das Objekt einschreiben. Die Dinge dürfen sich verfärben, sie dürfen rosten, anlaufen, Flecken bekommen, Kerben, Kratzer, Dellen, Abblätterungen dürfen Spuren der Abnutzung, der Behandlung oder auch Misshandlung hinterlassen. Selbst wenn diese Gegenstände im Laufe der Zeit brüchig und schwach werden, „besitzen sie immer noch unvermindertes Gesicht und Charakterstärke“37. Derartige ästhetische Ideen finden sich ebenfalls in der modernen westlichen „Second Art“, wenn Kunstwerke von ihren Schöpfern bewusst einem Zerfall oder dem Witterungsprozess ausgesetzt werden und die Spuren dieses Prozesses ästhetisiert und zu einem konstitutiven Teil des Kunstwerks werden. Das Werk wird dann als eine Art Kollaboration zwischen Künstler und Naturkräften wie Licht, Bewegung, Luft, Zeit, Bewegung und Verfall. Der Künstler ist nicht der alleinige Schöpfer, er nutzt den Zufall und den Lauf der Dinge, ja, er setzt sich diesen aus. Das bedeutet keineswegs einen Verlust seiner Schöpfungskraft, sondern die Kollaboration mit Naturkräften bedeutet einen entscheidenden ästhetischen Zugewinn.38 Wabi Sabi ist nicht allein ein ästhetisches Prinzip, es ist eine spirituelle Haltung, eine Haltung zur Welt, die im Rahmen des Zen-Buddhismus entwickelt wurde und dort eine metaphysische Basis hat. Die Gegenstände, die mit Wabi Sabi Prinzipien geschaffen werden, stehen, um mit Heidegger zu sprechen, zwischen Welt und Erde. Sie haben einen säkularen Zweck, doch umfassen sowohl der Prozess der Herstellung wie auch der Prozess ihrer Nutzung heilige, zeremonielle Handlungen. In diesem Sinne sind sie ganz „besondere“ Dinge, profan und sakral zugleich. Der Gedanke des Wabi-Sabi wirkt auf verschiedenen Ebenen: „It pro36 Vgl. L. Koren: Wabi-sabi für Künstler. 37 A.a.O., S. 61. 38 Vgl. Zill, Rüdiger: „Widerstand als ästhetische Kategorie. Notizen, eine Ontologie der Kunst betreffend“, in: Aida Bosch/Herrmann Pfütze (Hg.), Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung, Wiesbaden 2018, S. 267-284.

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vides an integrated approach to the ultimate nature of existence (metaphysics), sacred knowledge (spirituality), emotional well-being (state of mind), behaviour (morality), and the look and feel of things (materiality)“39. Handwerkskunst in diesem Sinne ist nicht nur praktisch, funktional und an guter Qualität orientiert. Sie treibt diese Ansprüche auf die Spitze, indem sie deutlich weiter geht. Höchste Qualität und Einzigartigkeit kann nur erreicht werden, wenn eine „radikale Ästhetik“ gilt: Die Besonderheit des Objekts und des Moments kann nur erfasst werden, wenn Wahrnehmung und Sinne aufs Äußerste geschult werden. Der Schöpfer strebt an, mit dem Objekt, mit dem Prozess, eine Einheit einzugehen, um diesen Prozess von seiner Innenseite zu verstehen, um ihn auf der soliden Grundlage seines handwerklichen Wissens und seiner Erfahrung intuitiv in seinem inneren Kern zu erfassen. Die hochentwickelte handwerkliche Kultur ist daher nicht nur eine materielle Praxis, sondern auch eine spirituelle – und nur in diesem Verständnis gelingen einmalige und eindrückliche Kunstwerke, denen eine Eigenart, ein Eigenleben zugeschrieben wird. Das Einswerden mit dem Objekt ist Teil der handwerklichen Kultur, und das beginnt bei der materiellen „Quelle“ des Prozesses, bei den Roh-Stoffen, oder besser: bei den verwendeten Natur-Stoffen. Die Lebendigkeit der natürlichen Stoffe wird nicht einfach benutzt, das Ideal ist, diese Lebendigkeit durch den künstlerischen oder kunsthandwerklichen Prozess noch zu steigern: „Jiro, like Yukio Shakunaga, begins his work at „the source“. He goes to the fish market to find the best tuna; Shakanuga goes to the mountain to find the best porcelain. When they get down to work, both become one with the object they are creating. This unity with the object that they reach in a state of flow takes on special meaning in Japan, where, according to Shintoism, forests, trees, and objects have a kami (spirit or god) within them. When someone – whether an artist, an engineer, or a chef – sets out to create something, his or her responsibility is to use nature to give it „life“ while respecting that nature every moment. During this process, the artisan becomes one with the object and flows with it. An ironworker would say that metal has a life of its own, just as someone making ceramics would say that the clay does. […] Not man versus nature but rather a union of the two.“40 Eine Steigerung der Wabi-Sabi Ästhetik ist in der Kintsugi-Technik zu sehen. In dieser japanischen Kunst des „Heilens“ von Objekten erwerben beschädigte oder zerbrochene Dinge durch den Reparaturprozess eine ganz besondere Schön-

39 Koren, Leonard: Wabi-Sabi for Artists, Designer, Poets & Philosophers, Point Reyes 2008, S. 41. 40 Garcia, Hector/Miralles, Francesc: Ikigai. The Japanese Secret to a Long and Happy Life, London 2016, S. 76f.

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heit. Meist werden beschädigte Teeschalen auf diese Weise repariert, doch auch andere Objekte können der Behandlung unterzogen werden (vgl. Abb. 8 und 9). Die Einzigartigkeit des Objekts wird durch den Schaden nicht gemindert, sondern gesteigert. Die erfahrene Wertschätzung steigt mit den Brüchen, die das Objekt erfahren hat, und ihrer „Heilung“. Die Idee des Kintsugi ist von ganz besonderer Schönheit, und die Dinge, die diese Behandlung erfahren, dürfen mit gutem Recht „besondere“ Objekte genannt werden. Die ganz besondere Biografie der Dinge wird wahrgenommen und ihr Altern im Gebrauch, in ihrem Dienen, wird nicht als Makel gesehen, sondern durch einen aufwändigen Ästhetisierungsprozess aufgewertet. Diese besonderen Dinge sind nicht nur „Objekte“ des Gebrauchs. Sie sind gleichzeitig auch einzigartige Subjekte. Ihrer Ästhetik wohnt etwas Richtungsweisendes, ein Aufforderungs- und Vorbildcharakter für soziale Prozesse – und für menschliche Biografien inne, besser gesagt, für unsere Wahrnehmung und Wertschätzung biografischer Prozesse.

7.  SCHLUSSBETRACHTUNG Dinge sind auf vielfältige Weise mit sozialer Identität verknüpft, sie erzeugen und sichern diese. Der Mensch benötigt die Dinge als Aktanten, um an ihnen zu wachsen und zu lernen. Er braucht sie auf eine ganz grundsätzliche Weise, um seine hälftige Existenz kulturell zu ergänzen durch das Eigengewicht der Dinge und Artefakte kulturell zu stabilisieren. Er benötigt dingliche Objekte, um sich als Person seiner selbst zu vergewissern und eine symbolische Gestalt für biografisch relevantes Geschehen zu finden. Die Dinge können für die Selbstvergewisserung wichtig sein; oder sie können als Identitätsprothesen fungieren. Auch der moderne Mensch kann sich von einem Fetischismus nicht freisprechen. Es ist zu Recht zwischen einem primären und einem sekundären Fetischismus unterschieden worden: Der Fetischismus zweiter Ordnung richtet das Begehren auf den Konsum, auf das „herrisch besetzte und besessene Ding“, mit Hilfe narzisstischer Wunschbilder, die sich im Objekt spiegeln.41 Dieser Fetischismus kann nicht zur Erfüllung kommen und treibt mit seiner Dynamik globale Wirtschaftskreisläufe an und führt zu einem ressourcenverschleudernden Lebensstil mit hohen Folgekosten. Der primordiale Fetischismus hingegen richtet sich auf die unveräußerlichen, auf die „besonderen“ Dinge in den Sammlungen und Museen. Hier bestimmt ein anderes Ideal die Beziehungen zu den Dinge: „Wir stellen eine Art Würde der Dinge her, indem wir sie nicht in Besitz, sondern in Obhut nehmen“42. Die unveräußer41 Vgl. H. Böhme: Fetischismus, S. 364. 42 A.a.O.

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lichen Dinge stehen für den Identitätskern einer Kultur oder eines Individuums und repräsentieren auf implizite Weise sichtbare, nicht sagbare Grundlagen. Damit kommt diesen Dingen ein außerordentliches Eigengewicht zu, das der Stabilisierung von menschlicher Identität zugutekommt. Von einem solchen primären Fetischismus kann und soll sich auch der moderne Mensch nicht befreien, denn er ist einem falsch verstandenen Herrschaftsanspruch über die Dinge weit überlegen. Vielmehr geht es darum, den Dingen ihr Eigengewicht im Plessnerschen Sinne, das die Hälftenhaftigkeit der menschlichen Existenz ergänzt, zu lassen, dieses zu fördern und zu respektieren. Wir sind als Subjekte von den Dingen abhängig, denn um Subjekt sein zu können, benötigt es die dinglichen Objekte, die uns den Subjekt-Status und das Subjekt-Gefühl vermitteln, indem sie uns unvollständigen Wesen Zugang zur Welt und Handlungsmöglichkeiten verschaffen. Diese Abhängigkeit von den Dingen ist jedoch weithin verkannt. Schon Simmel beklagte die „Geringschätzung“ der Dinge und sah es als die zentrale „Tragödie der modernen Kultur“ an, dass die verkannten Dinge sich in der „objektiven Kultur“ der Moderne schneller entwickelten als der einzelne Mensch. Der einzelne Mensch sehe sich einer schnell wachsenden „objektiven Kultur“ gegenüber, die er zur Gänze gar nicht mehr überblicken und verstehen könne. In der Folge wächst ein subkutanes Minderwertigkeitsgefühl des modernen Menschen gegenüber den sich rasch entwickelnden Dingen: Waren, Bilder, Bücher, Geräte. Diese strukturell angelegte „Tragödie der Moderne“ werde jedoch selten erkannt, meist gar vehement geleugnet. Das verdrängte Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der „objektiven Kultur“ befördere dann umso mehr ein Aufbäumen eines expressiven Individualismus, das Pochen des Individuums auf seine Einzigartigkeit.43 Auch der Mensch der Moderne täte gut daran, sich bewusst zu werden, dass seine Identität auch auf den dinglichen Objekten beruht – und die Dinge wertzuschätzen anstatt ihnen nur geringe Achtung entgegenzubringen. Ideen und Praxen für eine solcherart gestaltete neue Objektekultur gibt es in der Kunst schon länger, und jüngst wird dies auch im zeitgenössischen Design sichtbar. Das Verhältnis zu den „ausgemusterten“ und weggeworfenen Dingen wurde als Erstes in der Kunst zum Thema, die seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts den „Müll“ zu anspruchsvollen und komplexen Kunstwerken „recycled“ – und ihm damit zu einem Quantensprung an Schönheit und Wertschätzung verhilft. Ein klassisches Beispiel für diesen Ansatz sind die Kunstwerke von Jean Tinguely, doch gibt es auch viele andere Künstler, die in ihrer Kunst ähnliche ästhetische Ideen umsetzten. Im zeitgenössischen Design gibt es gerade in den letzten Jahren neue Ansätze, ganz „besondere Dinge“ zu schaffen, indem man auf die Biographie der Objekte setzt, auf 43 Vgl. G. Simmel: Die Großstädte.

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ihre Einmaligkeit, auf Gebrauchsspuren, die veredelt werden, auf eine emotionale Aufladung des Objekts, die in einer einmaligen Objektbiographie erworben wurde. Eine Anerkennung der „besonderen“ Dinge, der Individualität des Objekts, seiner besonderen Geschichte, die Gebrauchsspuren, Verletzungen und „Reparaturen“ einschließt, zeichnet sich somit in ersten Umrissen ab. In der Kunst und im Design unserer Zeit ist eine solche Wende längst sichtbar. In der Kultursoziologie steht die Anerkennung der Eigendynamik der Dinge und ihrer Rolle im sozialen Prozess erst am Beginn. Diese Anerkennung könnte sich lohnen, denn sie verschafft neue Einsichten über die Beschaffenheit und die kulturelle Stabilisierung von kollektiver und individueller Identität durch die materiellen Strukturen der Kultur, durch den Zusammenhang der profanen und der „besonderen“ Objekte.

II. Räume der Zeit, der Systeme und des Verstehens

Die Erfahrungsräume ‚Kunst‘ und ‚Religion‘ Überlegungen zu ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen Andreas Mertin

1.  D  AS VERHÄLTNIS VON KUNST UND RELIGION ANDERS DENKEN Die zentrale These meiner Überlegungen lautet: Wir müssen das Verhältnis von Kunst und Religion anders denken, wir müssen nüchtern blicken auf das, was Gemeinsamkeiten und Differenzen der Erfahrungsräume Kunst und Religion sein könnten.1 Zunächst empfinde ich ein Unbehagen darüber, wie heute über das Verhältnis von Kunst und Religion in Geschichte und Gegenwart geredet wird. Etwa wenn thetisch von einer gemeinsamen Geschichte von Kunst und Religion gesprochen wird, als wenn dies nicht eine höchst einseitige Beziehung gewesen wäre. Oder wenn sich angeblich in bestimmten Farben oder Materialien Spuren des Transzendenten zeigen sollen, so als ob man Transzendenz objektiv bestimmen könnte. Oder wenn das Verhältnis so akzentuiert wird, dass sich in der Kunst existentielle Fragen erheben lassen und die Theologie darauf die Antworten gibt. Das alles scheint mir seit mehr als 200 Jahren überholt zu sein. Vermutlich hatte es seine Berechtigung allenfalls für eine kurze Phase in der Geschichte der Erfahrungsräume Kunst und Religion. Letztlich wird dabei ein Aspekt der Kulturgeschichte zwischen 800 und 1650 n.Chr. rückprojiziert auf die gesamte Geschichte. 1 Mein Text basiert auf Überlegungen aus: Mertin, Andreas: „Geistes Gegenwart. Gemeinsamkeiten und Differenzen der Erfahrungsräume Kunst und Religion“, in: Amalia Barboza u.a. (Hg.), Spektakel der Transzendenz? Kunst und Religion in der Gegenwart, Würzburg 2017, 29-48; sowie Mertin, Andreas: „‚Complete this Sculpture‘. Gemeinsamkeiten und Differenzen zweier Erfahrungsräume“, in: Jörg Herrmann (Hg.), Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München 1998, S. 23-43.

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Meines Erachtens herrschte in der Neuzeit eine historisch mögliche, keinesfalls aber notwendige enge Konstellation von Kunst und Religion. Es war eine Konstellation, die sich spätestens um 1800 historisch überlebte. Wir müssen daher das Verhältnis von Kunst und Religion noch einmal neu bedenken und anders bestimmen. Anknüpfen will ich dabei an Gedanken von Georg Simmel, der 1907 in einem Aufsatz über „Das Christentum und die Kunst“ schrieb: „An und für sich haben Religion und Kunst nichts miteinander zu tun, ja sie können sich in ihrer Vollendung sozusagen nicht berühren, nicht ineinander übergreifen, weil eine jede schon für sich, in ihrer besonderen Sprache, das ganze Sein ausdrückt. Man kann die Welt religiös oder künstlerisch […] auffassen: es sind die gleichen Inhalte, die jedes Mal unter einer andern Kategorie einen Kosmos von einheitlich-unvergleichbarem Charakter formen.“2

Und tatsächlich hat sich die Kultur nicht erst in der Neuzeit, sondern schon seit dem Beginn menschlicher Geschichte durch die Ausdifferenzierung eigenständiger Erfahrungsräume von Kunst und Religion entwickelt. Natürlich gab es eine, wenn auch menschheitsgeschichtlich betrachtet nicht ursprüngliche, gemeinsame Phase von Kunst und Religion und eine wie auch immer zu bezeichnende Allianz von Kunst und Kirche. Auf einer imaginierten Linie von 10 m Länge menschlicher Bild- und Kulturgeschichte wäre die Geschichte von Kirche und Kunst auf weniger als 40 cm abzuhandeln. Wer sich zur Bestimmung der Erfahrungsräume Kunst und Religion nur auf diese kurze Zeit bezieht, verliert Wesentliches aus den Augen. Die Zeit der intensiven Verbindung von Kunst und Kirche soll dabei nicht vernachlässigt werden, man muss sie nur in den richtigen kulturgeschichtlichen Rahmen einordnen. Selbstverständlich gilt zu bedenken, was Georg Simmel am Anfang seines Textes über „Das Christentum und die Kunst“ schrieb: „Die geschichtlichen Fäden, die sich zwischen Religion und Kunst spinnen, sind unzählige Male verfolgt worden: wie die Kultzwecke das Götterbild entstehen ließen, wie sich aus der religiösen Feier und der Anrufung der Götter die poetischen Formen entwickelten, wie die Erhebungen und wie der Verfall der Religion die Kunst oft in gleichem, oft in völlig entgegengesetztem Sinn beeinflussten - alles dies ist zu begriffenen Tatsachen der Kulturgeschichte geworden. Allein die Motive, mit denen aus dem Wesen der Sache heraus das eine das andre anzieht oder abstößt, durch die all jene historischen Verknüpftheiten nur als die

2 Simmel, Georg: „Das Christentum und die Kunst“, in: Ders., Das Individuum und die Freiheit, Berlin 1984, S. 120-129, hier S. 129.

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Die Bildentwicklung in der Geschichte der Menschheit Zeitraum ab 40.000 vor bis heute Beginn der … Artefakte / Ereignisse 40.000 Aurignacien-Kultur El-Castillo-Höhle (ab 40.800) (40.000-31.000) älteste Bilder des Homo sapiens 38.000 Höhle von Chauvet (ab 37.000) 36.000 Gravettien-Kultur (35.000-24.000) Höhle von Altamira (ab 35.000) 34.000 32.000 30.000 28.000

Cosquer-Höhle (ab 27.000)

26.000 24.000 Solutréen-Kultur (24.000-18.000) 22.000

Venus von Willendorf (etwa 24.000)

20.000

Höhle von Lascaux (ab 19.000) 18.000 Magdalènien-Kultur Grotte des Trois Frères (ab 18.000) (18.000-12.000) („Schamane“ auf den Bildern) 16.000 14.000 12.000 Azilien-Kultur (12.000-9.600) 10.000 08.000 06.000

02.000 Jüdische Kultur

02.000

Siedlung von Göbekli Tepe (ab 9.600) Siedlung von Catalhöyük (ab 7.500) Verwendung von Tontafeln (ab 5.000) ägyptische Pyramiden (ab 4.600)

04.000

0

Beginn entwickelter Religion (etwa ab 12.000) Neolithische Revolution

Christliche Kultur

älteste Texte der Bibel Geburt Jesu Geschichte der „Kunst“ (ab 1.300)

Tabelle 1: Geschichte der Bilder; Layout: Andreas Mertin

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mehr oder weniger vollkommenen Verwirklichungen tieferer und prinzipieller Zusammenhänge erscheinen diese Motive harren noch ihrer Klärung.“3

Ich komme noch auf den Lösungsvorschlag von Simmel zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen zu sprechen. Seine Beschreibung setzt freilich erst mit der Genese der Götterbilder ein, ein kulturgeschichtlich spätes Datum. 25.000 Jahre lang, also weit über die Hälfte der menschlichen Bild-Geschichte, gibt es keine derartigen Götterbilder und vielleicht nicht einmal eine in einem engeren Sinne religiös zu nennende Motivation für die Bilder. Aufklärungsbedürftig ist zunächst, was Georg Simmel noch mangels ausreichender Bekanntheit der Höhlenmalereien in Südfrankreich und Nordspanien übergehen konnte: Wie kommt es überhaupt zur Gestaltung der Erfahrungsräume Kunst und Religion und wie entwickeln sich ihre ersten Überschneidungen? Wenn man dabei nicht schon von vornherein die religiöse Grundierung aller von Menschen geschaffenen Bilder voraussetzt, dann kann man nur beobachten, welche Bilder unsere Vorfahren schufen und daraus Schlussfolgerungen ziehen. In einem zweiten Schritt müsste geklärt werden, was bei der sich 25.000 Jahre später durchsetzenden Ingebrauchnahme der Bilder durch die Religion, also der Betonung der Nützlichkeit visueller Kommunikation für die Religion geschieht und welche Konsequenzen dies für die jeweiligen Erfahrungsräume Kunst und Religion hat. Klärungsbedürftig ist drittens, warum alle großen Religionen sich auch danach in einem so ambivalenten Verhältnis zu den Bildern befinden, dass man durchaus von einer oszillierenden Geschichte von Kunstfieber und Bilderstreit sprechen kann. Es ist ja nicht so, dass das Verhältnis von Kunst und Kirche oder auch weitergreifend von Kunst und Religion ein konfliktfreies war.4 Und schließlich wäre zu fragen, wie in Anerkenntnis der Eigenständigkeit der Erfahrungsräume von Kunst und Religion in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts ihr Verhältnis vernünftig gedacht werden kann. Bevor ich ins Detail gehe noch eine kurze Bemerkung: Ich bin mir bewusst, wie problematisch es ist, angesichts von Bildern der Steinzeit oder der Frühzeit von Kunst zu sprechen.5 Ich mache dies im Folgenden nur in pragmatischer Vereinfachung, nicht um zu unterstellen, Bilder vor 1500 n.Chr. oder gar aus der Zeit 20.000 v. Chr. seien Kunst im modernen Sinne. 3 A.a.O., S. 120. 4 Vgl. Schwebel, Horst: Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts, München 2002. 5 Vgl. Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 62004.

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2.  W  IE SIND DIE ERFAHRUNGSRÄUME KUNST UND RELIGION ENTSTANDEN? Kultur kann im allgemeinsten Sinne verstanden werden als eine Tradierung von Gedanken über die Generationen hinweg. Und diese Bestimmung betrifft Kunst ebenso wie Religion. 2.1  Kunst In diesem Sinne beginnt der Homo sapiens etwa 40.000 vor heute seine Gedanken auch mit Hilfe von Bildern zu kultivieren. Vielleicht hat er dies schon vorher gemacht und brachte dieses Talent aus dem afrikanischen bzw. kleinasiatischen Raum mit. Davon haben wir aber keine Artefakte. Was wir haben, sind Höhlenmalereien im nordspanischen und südfranzösischen Raum, die nicht nur beiläufig angefertigt worden sind, sondern eine über Jahrtausende währende Tradition begründeten und im Leben der Menschen eine Rolle gespielt haben müssen. Es geht dabei nicht nur um das Malen von Phänomenen aus der unmittelbaren Umwelt, sondern auch um das Wiedererkennen der Malereien der Vorfahren und die Integration dieser Arbeiten in das Gruppenleben. Erst letzteres begründet nicht nur Kultur, sondern generiert einen eigenständigen Erfahrungsraum des Menschen. Sollte diese Malerei der Aufnahme der jüngsten Generation in die Gruppe gedient haben, dann wäre der Zugang zu diesem Erfahrungsraum ein identitätsbildendes Moment gewesen. Bezüglich der Subjekte, die die Bilder geschaffen haben, befinden wir uns in einem spekulativen Rahmen, da es keine Dokumente über die Schöpfer der Bilder gibt und alles nur über die Bilder und die Kontexte erschlossen werden muss. Dennoch gibt es Indizien, die dafür sprechen, dass diejenigen, die die Bilder schufen, von den Verpflichtungen der Jagd und der Versorgung der Gruppe freigestellt waren. 2.2  Religion Die Entstehung und Entwicklung des religiösen Erfahrungsraums ist wesentlich schwieriger zu bestimmen, weil alles davon abhängt, was man unter ‚Religion‘ versteht. Wenn diese schon bei einer rudimentären Bestattungskultur und einer fortdauernden Beziehung zu den Ahnen vorläge, dann wäre sie sehr alt und die Menschen würden sie mit dem Neandertaler und ansatzweise sogar mit Tieren tei-

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len.6 Mir leuchtet diese Frühdatierung von Religion freilich nicht ein, sie scheint mir mehr ideologisch motivierte Setzung als zutreffende Beschreibung zu sein. Das Vorhandensein von Trauerritualen allein lässt meines Erachtens noch nicht auf Religion im Sinne eines Systems schließen, sondern nur auf religiöse Empfindungen. „Es gibt keinerlei wie auch immer gearteten Hinweise auf religiöse Praktiken des Jungpaläolithikers in der Höhlenmalerei. Weder Zauberer noch Schamanen wurden abgebildet, es fanden keine jagdmagischen Rituale statt und auch nicht die Auseinandersetzung zwischen totemistischen Clanen. Sämtliche diesbezüglichen Aussagen beruhen einerseits auf einer fehlerhaften Deutung der Fakten, andererseits aber auf traditionellen Vorstellungen von vorgeschichtlicher Religion, die heute als überholt gelten müssen … Die Entwicklung der entsprechenden komplizierten Vorstellungen auf der Basis von weltanschaulicher Spekulation und begrifflicher Abstraktion sowie ihre Umsetzung in Rituale setzten offensichtlich nicht nur hochentwickelte kognitive Fähigkeiten voraus, sondern auch einen großen Zeitraum, in dem sich entsprechende Traditionen formen konnten. Als erste Spuren des Entstehens solcher Abstraktionen lassen sich vielleicht die Handzeichen und isolierten Brüste deuten. Einen weiteren und deutlicheren Hinweis auf das Entstehen religiöser Vorstellungen liefern die inzwischen gut erforschten Begräbnisse des Jungpaläolithikums“.7

Würde man Religion aber mit einem Götterglauben oder wenigstens einem Ritualsystem identifizieren, dann wäre sie eher späten Datums, vielleicht gerade erst 12.000 Jahre alt: „Im Neolithikum entstanden die Grundlagen eines Weltbildes, das wir heute als religiös bezeichnen würden. Man glaubte an übermächtige Wesen, die auf die Geschicke derjenigen Menschen Einfluss nehmen, für die […] Sorge zu tragen ist oder die im Ritual verge­ genwärtigt werden … Dies heißt, es existierten nun religiöse Vorstellungen und Praktiken. Es gab also ein Repertoire an Symbolen, die auf eine jenseitige Welt und höhere Mächte einerseits, auf gemeinsame Werte andererseits verwiesen und die im Ritual ver­gegenwärtigt wurden – vor allem zu Zeiten, in denen Brüche im Lebenszyklus Einzelner (Pubertät, Tod) die kleine Gesellschaft besonders störanfällig machten.“8 6 Vgl. Wunn, Ina/Urban, Patrick/Klein, Constantin: Götter – Gene – Genesis. Die Biologie der Religionsentstehung, Berlin 2015, S. 54: „Trauerreaktionen gehören demnach bereits zum Primatenerbe.“ 7 Wunn, Ina: „Religion und steinzeitliche Kunst. Die Höhlenmalerei als Spiegel der jungpaläolithischen Geisteswelt“, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft (2000) 8, S. 193211, hier S. 210. 8 I. Wunn: Götter – Gene – Genesis, S. 177.

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Abbildung 1: Tanzender Schamane aus der Grotte des Trois-Frères; Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Pintura_Trois_Freres.jpg (letzter Zugriff 11.07.2018)

Dieses Weltbild entwickelt sich also in einer Zeit, in der die Hochphase der frühen Bilder schon wieder vorüber ist, aber es entwickelt sich mit und aus diesen Bildern, was sich etwa aus der Darstellung des Schamanen in der Grotte des Trois-Frères ablesen lässt, bei dem die Überschneidung von Kunst und Religion vielleicht direkt beobachtet werden kann. Auch bei der Religion wird man daher – wenn auch in einem übertragenen Sinne – von einem ‚Evolutionsprozess‘ ausgehen müssen, der sich über längere Zeiträume erstreckt. Der große Entwicklungsschub der Religion kommt aber, als die Menschen sesshaft werden und sich nicht zuletzt hierarchische Strukturen ausbilden. Der Erfahrungsraum Religion stützt das Zusammenleben der Menschen, er federt Konflikte, Brüche und Übergänge ab und stellt nach und nach Narrationen bereit, die die Identität und die Grenzen einer Gemeinschaft ausbilden.

3.  E  NTWICKLUNG DER GEMEINSAMKEITEN VON KUNST UND RELIGION Lange Zeit haben die Erfahrungsräume Kunst und Religion nebeneinander existiert. Im Neolithikum entwickelt sich erstmalig eine Gemeinsamkeit von Kunst und Religion. Das äußert sich darin, dass die Religion beginnt, auf Bilder zu set-

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zen, um die eigenen religiösen Erzählungen dauerhaft zu vergegenwärtigen. Sie nutzt also die kulturellen Fähigkeiten von Bildern. 3.1  Bilder als Ausdruck von Religion Im Neolithikum sind Bilder weitgehend Darstellungen von Elementen des religiösen Systems. Bilder repräsentieren nun Religion, was auch bedeutet, wir sprechen in aller Regel über durch Bilder rekonstruierte Religion, wenn wir über die Religion dieser Zeit reden.9 Bilder übernehmen dezidierte religiöse Funktionen und – etwa in Ägypten – Funktionen der politischen Theologie. Es handelt sich um domestizierte und domestizierende Bilder. Inszenierung auf der politischen Ebene und Vergegenwärtigung auf der privaten Ebene sind in dieser Zeit die Hauptaufgabe von Bildern. Nahezu jeder Haushalt hat Artefakte, die dazu dienen, die Götter daheim zu vergegenwärtigen. Das heißt aber nicht, dass die Bilder resp. die Kunst ihre eigenständigen Qualitäten einbüßen würde, sie werden jedoch der Religion untergeordnet. Sobald die religiöse Funktion zurücktritt, kommen die ästhetischen Momente verstärkt zur Geltung. Friedrich Schiller hat in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen anhand einer griechischen Statue gezeigt, wie diese die religiöse Ingebrauchnahme quasi überdauert und weiterhin ihre ästhetischen Qualitäten ausspielt. Die Kunst geht nicht mit der jeweiligen Religion unter. Das spricht dafür, dass sie weiterhin einen eigenen Erfahrungsraum generiert: „Dieselbe Statue derselben Göttin kann Kunst sein oder nicht, oder sie kann es unterschiedlich sein, je nach dem Identifizierungsregime, in dem sie erfasst wird.“10 Mit anderen Worten, die Erfahrungsräume von Kunst und Religion verschmelzen nicht, sie verbinden sich nur und können sich auch wieder voneinander lösen und dann ko-existieren. 3.2  Kunst als Ausdruck von Religion Mit der Hinwendung des Christentums zu den Bildern Anfang des 3. Jahrhunderts wird die Schauseite der christlichen Religion kultiviert. Das Christentum steht unter einem enormen Handlungsdruck der römischen Umwelt, in der Bilder selbstverständliches Ausdrucksmittel sind. Das Bedürfnis nach Artefakten im Christentum entsteht weniger aus dem Wunsch der Visualisierung der Heilsgeschichte, als vielmehr aus dem Wunsch der Handel treibenden Christen, im Geschäftsalltag den heidnischen Symbolen zu entgehen. Sie brauchten zum Abschluss ihrer Geschäfte 9 Vgl. Hodder, Ian (Hg.): Religion in the emergence of civilization. Çatalhöyük as a case study, Cambridge u.a. 2010. 10 Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2008, S. 39.

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Siegelringe und verzierte Trinkbecher. Klemens von Alexandrien lehnt zwar spezifisch christliche Darstellungen ab, lässt aber Siegelbilder zu: „Unsere Siegelbilder sollen sein eine Taube oder ein Fisch oder ein Schiff mit geschwellten Segeln oder eine Leier […] oder ein Schiffsanker“.11 Und da kommen die Handwerker ins Spiel, die nun dem Christentum angepasste Symbolwelten entwerfen mussten. Hier entwickelt sich eine sinnvolle Verbindung von Kunsthandwerk und Religion, die bis in die Gegenwart Bestand hat. Nach und nach entsteht eine eigene christliche Bildsprache, die aus den bereits vorhandenen Bildwelten hervorgeht. Aber machen wir uns nichts vor: bis zum Jahr 1000 war dies ein höchst elitäres Geschehen für einige wenige Funktionsträger, keinesfalls ein Massenphänomen.12 Erst mit den Bernwardstüren in Hildesheim zeigt sich so etwas wie ein Konzept, aus Bildern mehr zu machen, als nur Meditationsobjekte der religiös Virtuosen. Nach dem Jahr 1000 wendet sich das Christentum mit Bildern an das Volk. Insbesondere im skulpturalen Bereich, an den Außenseiten der großen romanischen und gotischen Kirchen, wird ein visuelles Konzept entwickelt, das nicht nur künstlerischer Ausdruck religiöser Lehre, sondern zugleich sehr anpassungsfähig an die Bedürfnisse und Hoffnungen der Menschen ist. „Im Mittelalter waren über Jahrhunderte die Kirchenportale, zusammen mit den anderen an der Kirche angebrachten Bildwerken von den Kapitellen bis zur Apsis, die einzigen als solche wirkenden ‚Bilder‘ […], die in der Öffentlichkeit überhaupt existierten: Visuelle Monopolmedialität im Dienste einer weltexpansiven, dennoch die Welt verneinenden Ideologie charakterisiert die spezifisch mediale Bedeutung dieser Bilder … Insgesamt ist es also berechtigt, das romanische Kirchenportal und die gotische Kathedrale als Massenmedium in einem strikten Sinne anzusprechen.“13

Es ist zugleich die Zeit, in der religiöse Themen die Kunst vollständig beherrschen, nahezu jedes Bild ist ein religiöses Bild. Wenn man von Kunst und Bildern als Ausdruck von Religion spricht, dann trifft dies vor allem auf die Zeit zwischen 1000 und 1300 zu. Dieses „Zeitalter kennt als Zweck der Kunst den Gottesdienst allein.“14 Wenig später ist es mit dieser Engführung aber schon vorbei, die Renaissance öffnet den Blick. Später, im gegenreformatorischen Barock, versucht 11 Klemens von Alexandrien: paedagogus: 3,59,2. 12 Vgl. Duby, Georges: Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980-1420, Frankfurt a.M. 21994, S. 40. 13 Reck, Hans U.: Kunst als Medientheorie. Vom Zeichen zur Handlung, München 2003, S. 323. 14 Sedlmayr, Hans: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Berlin 171991, S. 218.

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die Kirche noch einmal die Kunst auf den Ausdruck von Religion zu fokussieren, allein es bleibt beim theatralen Gestus: „Die Welt ist große Schaubühne für das Erscheinen Gottes und die Taten des Menschen. Die Idee des ‚Theaters‘ gewinnt für alle Gebiete der Kunst und des Lebens tiefe Bedeutung.“15 Überzeugen kann das nicht mehr, zumal im protestantischen Raum: „Unannehmbar ist dem Protestantismus aus seiner Stellung zu Kult und Sakrament die Idee des Gesamtkunstwerks. Die religiöse Kunst zieht sich in das Bürgerhaus zurück.“16 Die Verschmelzung der Erfahrungsräume Kunst und Religion war endgültig an ihr Ende gekommen.

4.  E  NTSTEHUNG DER DIFFERENZEN VON KUNST UND RELIGION Anders als es noch Hans Sedlmayr mit seiner Klage vom „Verlust der Mitte“ meinte, beginnt der Bruch in der Beziehung von Kunst und Religion aber nicht erst mit der Französischen Revolution. Man kann die gesamte Zeit seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts als Bewusstwerdung der Unterschiede von Kunst und Religion begreifen. Hier entwickelt sich die Idee einer grundlegenden Differenz und damit der Eigenständigkeit beider Erfahrungsräume. 4.1  Die Freisetzung der Bilder Bereits die jüdische Aufklärung und Bildkritik nimmt an den Bildern als bloßer Schauseite der Religion Anstoß. Götterstatuen, so könnte man Jesaja 44, 13-17 modern re-formulieren, sind eigentlich nicht viel mehr als Readymades, sie sind ein Objet trouvé: ihrem Gebrauchskontext entnommene Alltagsgegenstände, die nun auf einen Sockel gestellt werden um religiöse Erfahrungen zu stimulieren. Ob etwas im Kamin oder im Tempel landet, entscheidet der Zufall oder der menschliche Wille. Der nächste Schritt in der theoretischen Freisetzung der Bilder vollzieht sich um die Zeitenwende. Die Veränderung des religiösen Konzeptes weg von der lokalen Präsenz hin zur personalen Präsenz (vom Tempel zu Christus) beinhaltet implizit eine Absage an die Idee religiöser Kunst. Jesus Christus kann so mit Kurt Marti verstanden werden als „die Befreiung der Künste zur Profanität“.17 Aber all diese aufklärerischen Positionen konnten sich im Christentum nicht dauerhaft durchsetzen. Erst als die Kunst begann, sich am Maß des Menschlichen zu messen 15 A.a.O., S. 224. 16 A.a.O., S. 225. 17 Marti, Kurt: „Christus. die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität“, in: Evangelische Theologie (1958) 8, S. 371-375.

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Abbildung 2: Tabelle nach den Angaben in Morel, J., Säkularisierung und die Zukunft der Religionen (s. Anm. 18)

beginnt die Emanzipation der Künste. Es ist nun die Kunst selbst, die die Differenz zur Religion vorantreibt.18 Freilich muss man eingestehen: Seit der Reformation definiert sich „Religion in der Kunst“ nicht mehr über religiöse Sujets, sondern über Gefühle und subjektive Wahrnehmungen. Das ist über diese Statistik nicht zu erfassen. Es gibt also weiterhin „Religion in der Kunst“, aber keine religiösen Sujets mehr. Die Reformation kann trotzdem als Beschleunigung der Freisetzung der Bilder gedeutet werden. Werner Hofmanns Rede von der „Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion“ ist jedoch mehr frommer Wunsch als Wirklichkeit.19 Sie ist zutreffend, insoweit die Reformation den Gedanken zerschlagen hat, der hinter den Stiftungsaltären stand, und die Künstler sich daher ein neues, säkulares und später autonomes Arbeitsfeld suchen mussten.20 Luther selbst und sein künstlerischer Weg18 Vgl. Morel, Julius: „Säkularisierung und die Zukunft der Religionen“, in: Theodor Hanf (Hg.): Funk-Kolleg sozialer Wandel, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, S. 237-254, hier S. 244. 19 Vgl. Hofmann, Werner: „Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion“, in: Ders. (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst, München 1983, S. 23-71. 20 Vgl. Göttler, Christine/Jezler, Peter: „Das Erlöschen des Fegefeuers und der Zusammenbruch der Auftraggeberschaft für sakrale Kunst“, in: Thomas Sternberg/Christian

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gefährte Lukas Cranach aber haben vor allem einer religiösen Didaktisierung der Kunst Vorschub geleistet. 4.2  Kunst als Freiraum Das hat dazu geführt, dass Theologie und Kirche in der Moderne die Kunst als Freiraum nicht zu würdigen vermochten. Schon 1950 kritisierte der Kunsthistoriker Wolfgang Schöne, ihm sei keine vernünftige theologische Interpretation des geschichtlichen Ablaufs der abendländischen Kunst bekannt. Er warf den Theologen vor, „weite Strecken dieser Geschichte mehr oder weniger entschieden auszuklammern, sich also das […] Passende aus dieser Geschichte auszusuchen.“21 Er könne nicht „die üblichen Versuche begreifen, zwar die Kunst als solche theologisch für gestern, heute und morgen in Anspruch zu nehmen, ihre Geschichte jedoch in großen Teilen nicht zu berücksichtigen.“22 Es ist aber eine Erkenntnis seit über 200 Jahren, dass die Kunst mehr Bedeutung hat, als nur Darstellung von etwas oder Spiegel der Wirklichkeit zu sein. Kunst ist danach der einzige Bereich, an dem wir Menschen in einem umfassenden Sinne frei sind und Freiheit erleben können.23 Während wir überall sonst Begrenzungen vornehmen, Dinge auf bestimmte Erkenntnisse reduzieren, ist das bei der Betrachtung der Kunst nicht so. Immanuel Kant hat das ästhetische Urteil als jenes bestimmt, bei dem unsere Erkenntniskräfte frei spielen können.24 Im ästhetischen Urteil geht es nicht um eine bestimmte Erkenntnis, sondern darum, dass wir das, was wir als ästhetisch erfahren, um seiner selbst willen schätzen und beurteilen. Tho­mas Lehnerer hat diesen Gedanken Kants aufgegriffen und ästhetische Erfahrung als „Empfinden aus Freiheit“ und die Kunst als „Methode aus Freiheit“ beschrieben. Kunstwerke sind dementsprechend Gegenstände, die gemacht werden, um dieses „Empfinden aus Freiheit“ auszulösen.25

Dohmen (Hg.), … kein Bildnis machen. Kunst und Theologie im Gespräch, Würzburg 1987, S. 119-148. 21 Schöne, Wolfgang: „Die Bildgeschichten der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst“, in: Wolfgang Schöne/Johannes Kollwitz/Hans Frh. von Campenhausen (Hg.): Das Gottesbild im Abendland, Witten 1957, S. 7-56, hier S. 19-22. 22 A.a.O. 23 Vgl. Scheer, Brigitte: Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 1997, S. 81f. 24 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe X, Wilhelm Weischedel (Hg.), Frankfurt a.M. 2009. 25 Vgl. Lehnerer, Thomas: Methode der Kunst, Würzburg 1994.

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5.  D  AS VERHÄLTNIS VON KUNST UND RELIGION IN DER GEGENWART Nun könnte auch genau darin eine Gemeinsamkeit von Kunst und Religion liegen, da beide sich anders als normale Erfahrungen vollziehen: „Eine genuine Andersartigkeit, eine nicht zufällige Abweichung von Alltagserfahrungen also, macht außer der ästhetischen die religiöse Erfahrung für sich geltend. Beide beanspruchen, ein besonders qualifizierender Prozeß zu sein, also Erfahrungen der Bedeutungsanreicherung zu ermöglichen, die außerhalb des Ästhetischen beziehungsweise des Religiösen nicht zu haben sind. Beide reklamieren, Freiheit generierende und Freiheit verbürgende Prozesse zu sein. Und beide werden verstanden als responsive Bewegungen des Menschen auf die Erfahrungen seiner Lebenswelt. Ästhetisch wie religiös beziehen wir uns auf das ganze Leben, schließen nichts aus der Wahrnehmung aus.“26

Grob gesprochen könnte man die Wahrnehmung von Kunst als Erfahrung von Freiheit und die Wahrnehmung von Religion als Erfahrung des Zuspruchs von Freiheit begreifen. „Etwas religiös zu erfahren heißt, es im Rahmen eines religiösen Sinn stiftenden Identifikationssystems zu deuten. Etwas ästhetisch zu erfahren heißt dagegen, etwas der Form nach bedeutsam, in seiner inhaltlichen Bedeutung aber gerade unendlich verzögert wahrzunehmen. Beide Erfahrungsweisen sind daher […] unaufhebbar different.“27

Die Kunst ist und bleibt ein innerweltliches menschliches Spiel. Das Werk des Künstlers, so formuliert es Karl Barth 1928, steht neben den lebensnotwendigen Werken der eigentlichen Arbeit, neben der Wissenschaft, neben Kirche und Staat, denn „das wagt doch der Mensch in der Kunst: die gegenwärtige Wirklichkeit […] nicht letztlich ernstzunehmen, sondern neben sie eine zweite, als Gegenwart nur höchst paradoxer Weise mögliche Wirklichkeit zu schaffen.“28 Kunst ist in dieser theologischen Perspektive eine eigene Wirklichkeit, nicht Ausdruck einer anderen Wirklichkeit (schon gar nicht einer religiösen). Allerdings spricht nichts dagegen, die Erfahrungen mit der Kunst religiös zu deuten. Aber religiöse Deu26 Wendt, Karin: „Überschreitungen? Überlegungen zur Deutung von Möglichkeiten und Grenzen in der Begegnung mit Kunst“, in: Cai Werntgen (Hg.), Szenen des Heiligen, Berlin 2011, S. 161-190, hier S. 171f. 27 A.a.O., S. 173. 28 Barth, Karl: Ethik 2. Vorlesung Münster WS 1928/29, Bonn WS 1930/31, Zürich 1978, S. 440.

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tungen sagen nichts über die ästhetische Qualität eines Kunstwerks aus. Derartige Urteile geben Auskunft darüber, welche religiösen Erfahrungen die Urteilenden mit einem künstlerischen Objekt machen, aber sie qualifizieren das Betrachtete nicht in ästhetischer Hinsicht. Und damit komme ich noch einmal zurück auf Georg Simmel und seine Reflexionen zum Verhältnis von Kunst und Religion. Simmels eigene Lösung basiert auf der Anerkenntnis, dass Kunst und Religion jeweils einen in sich vollkommenen Erfahrungskosmos ausbilden. Aber er meint, dass solch ein Kosmos zwar theoretisch vollkommen ist, praktisch aber nie ganz geschlossen sein kann. Und diese quasi lebensweltlich bedingte Offenheit gilt für die Kunst wie für die Religion. Simmel schreibt: „Aber gerade, daß diese Weltbilder der selbstgenügsamen Abrundung ihres Sachgehaltes ermangeln, erzeugt tiefste Lebendigkeiten und seelische Zusammenhänge – denn es weist jedes darauf an, aus dem andern Impulse, Inhalte, Aufgaben zu schöpfen, die es bei lückenloser innerer Ausgebautheit in sich selbst finden würde.“29

Nach Simmel sind Kunst und Religion keinesfalls ergänzungsbedürftig, aber sie sind ergänzungsoffen. Sie erweisen ihre Vitalität, weil sie zwar als Systeme vollkommen zu denken sind, aber dennoch auf andere Bereiche schöpferisch zugreifen können. Sie „bedienen“ sich des jeweils anderen für den eigenen Bedarf, sie sind sozusagen lernfähig. Das funktioniert aber nur, weil es das Subjekt selbst ist (Simmel nennt es „die Seele“), das diese Operationen (also die ästhetische und die religiöse Erfahrung) vollzieht. Indem die Kunst aus der Religion schöpft und die Religion aus der Kunst „gibt sie der Seele die Möglichkeit, mit der Ergänzung der einen Welt aus der andern sich selbst als den Einheitspunkt beider zu fühlen, als die Kraft, die einen dieser Ströme aus dem andern speisen kann, weil jeder für sich aus ihr entspringt.“30 Das Subjekt ist es, das fallweise auch künstlerische Objekte religiösen Fragestellungen und damit religiösen Erfahrungen aussetzen kann bzw. religiöse Sinnkonstruktionen ästhetischen Fragestellungen und damit ästhetischen Erfahrungen aussetzen kann. Wir müssen uns aber klar machen: Indem das Subjekt diese Transformation vollzieht, verändert es die (Erfahrung der) jeweiligen Betrachtungsgegenstände. Dort, wo die Religion Kunstwerke adaptiert, bildet die Kunst nur den religiösen Erfahrungsanlass. Dort, wo bildende Kunst religiöse Motive und religiöse Momente in sich aufnimmt, bilden sie nichts anderes als das außerästhetische Substrat, mit dem die Kunst spielt. Für die Kunst ist es gleich gültig, ob dieses außer29 G. Simmel: Das Christentum und die Kunst, S. 129. 30 A.a.O.

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ästhetische Substrat ein Urinoir, einen Flaschentrockner oder ein Kreuz oder ein Gefühl ist. Sie alle sind nur der vorkünstlerische Ausgangspunkt, mit dem die Kunst dann arbeitet. Alles andere wäre eine Kategorienverwechslung. Für die Erfahrungsräume Kunst und Religion in der Gegenwart heißt das: Wir müssen uns zunächst die Differenzen bewusst machen! Wir können nicht zu einer wie auch immer gearteten Idee der Einheit, also zur Ent-Differenzierung zurückkehren. Der neuzeitliche Differenzierungsprozess hat gezeigt, dass gerade durch die Auseinander-Setzung ein Innovationsschub für Kunst und Religion bewirkt wurde. Das Christentum reagierte dabei „auf synchrone Differenzierungen zwischen dem Bereich direkt religiöser Lebensgestaltung und solchen Lebensbereichen, die allmählich und schließlich primär von anderen Faktoren geprägt wurden. Es reagierte, anders gesagt, auf Säkularisierung.“31 Das führte aber keinesfalls zur Verarmung und Verkümmerung religiöser Praxis. „Im Gegenteil. Der Ausgliederung von nicht mehr direkt religiösen Lebensbereichen entsprach regelmäßig die innere Intensivierung von Religion, ihre Spiritualisierung, wenn man so will, oder genauer gesagt: ihre Individualisierung.“32 Und analog führte die Säkularisierung der Kunstwelt zu jenem Reichtum, der uns in der Kunst der Moderne vor Augen liegt. Dass in der Kunst Religion nicht mehr dargestellt wird, hat keinesfalls zum Ende der Kunst geführt, sondern die Kunst zu sich selbst gebracht.

6.  SCHLUSSFOLGERUNG In all dem scheint mir nun auch ein Modell für die Reflexion religionshybrider Räume zu liegen. Wenn Simmel recht hat mit der Überlegung, dass ‚Kunst‘ und ‚Religion‘ zwar theoretisch in sich vollkommene Erfahrungsräume sind, aber lebenspraktisch weiterhin vonein­ander lernen und sich gegenseitig befruchten können, dann kann dieser Gedanke auch auf die Räume von Kunst und Religion übertragen werden. Die räumlichen Gestaltungen der Kult-Ur-Orte ‚Kunst‘ und ‚Religion‘ wären auf absehbare Zeit darauf verwiesen, „aus dem andern Impulse, Inhalte, Aufgaben zu schöpfen“.33 So gälte es nicht nur für die Religionen vor Ort, die Potentiale der Kunst zu bedenken, sondern auch für das Betriebssystem

31 Sparn, Walter: „Protestantisches Christentum und Säkularisierung. Entwicklungen und Lernprozesse“, in: Johannes Lähnemann (Hg.), Das Wiedererwachen der Religionen als pädagogische Herausforderung. Interreligiöse Erziehung im Spannungsfeld von Fundamentalismus und Säkularismus, Hamburg 1992, S. 28-37, hier S. 30. 32 A.a.O. 33 G. Simmel: Das Christentum und die Kunst, S. 129.

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Kunst, den Kosmos der Religion und deren räumliche Ausgestaltungen mit einzubeziehen.

„Am Nullpunkt der Religion“. Kunst in der Kirche Oliver Zybok

Betrachtet man das Verhältnis von Kirche und Kunst seit Anbeginn der christlichen Tradition, so war Letztere zu kaum einer Zeit lediglich ein dekoratives Beiwerk, sondern stets mit der Darlegung der theologischen Legitimität bildlicher Darstellung von Glaubensinhalten verbunden, angefangen von den romanischen und gotischen Architekturen bis zu den Fresken eines Giotto (um 1270-1337) oder Michelangelo (1475-1564). Die theologischen Auseinandersetzungen hinsichtlich dieser Bildfrage und die Konflikte zwischen Bildverehrern und Bilderstürmern in der Kirchengeschichte veranschaulichen, dass in diesem Kontext die theologische Frage nach der Darstellbarkeit Gottes auf dem Spiel stand. Spätestens seit der Moderne gestaltet sich das Verhältnis von Kunst und Kirche schwieriger, weil sich die Kunst emanzipiert, von Institutionen wie Staat und Kirche unabhängig gemacht hat. Sie ist nicht mehr lediglich Auftragserfüller, sondern im Wesentlichen eine kritische Instanz, mindestens aber ein reflektierter Beobachter des Zeitgeschehens. Für Georges Bataille (1897-1962) bedeutete dies dementsprechend, dass die Stelle und das Gebot Gottes in der Moderne leer gelassen werden musste, was aber keine Nötigung zum Atheismus, sondern ein freies Zirkulieren des religiösen Begehrens zur Folge hatte.1 Kunst ist ein autonomes Betriebssystem geworden. Mit ihrem Vordringen in verschiedene gesellschaftliche Bereiche wurde sie politischer und nutzte ihr Potenzial medialer Vielfalt, um Gesellschaftskritik zu äußern, von der auch die Kirche nicht verschont geblieben ist. Diese wiederum ging auf Distanz zur Kunst, 1 Vgl. hierzu ganz allgemein Bataille, Georges: Die innere Erfahrung (Atheologische Summe I), Berlin 1999; ders.: Die Freundschaft. Das Halleluja (Atheologische Summe II), Berlin 2002; ders.: Nietzsche und der Wille zur Chance (Atheologische Summe III), Berlin 2005.

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sofern sie sich nicht im Sinne der Liturgie einsetzen ließ, also systemkonform war. Nichtsdestotrotz versuchen immer noch zahlreiche Theologen, Kunst in die ideologische Nähe von Religion zu rücken. Viele von ihnen sehen in der vereinzelten Thematisierung von Transzendenz – wie zum Beispiel bei den Farbflächenmalereien eines Barnett Newman (1905-1970) oder Mark Rothko (1903-1970) – Parallelen zur Religion: Kunst dokumentiere, „daß die uns umfassende Wirklichkeit immer, also auch heute, das rational Verstehbare und das verbal Erklärbare und Aussagbare weit übersteigt. Kunst läßt erfahren, daß unsere Welt ‚offen‘ ist – nach oben und in die Tiefe.“2 Der Theologe Philipp Harnoncourt (geb. 1931) sieht daher eine Notwendigkeit, Kunst wieder stärker in den liturgischen Kontext einzubinden. Diese Annäherung von Gegenwartskunst an die Kirche kann aber seiner Ansicht nach nicht in der Art und Weise geschehen, „Künstlern der Gegenwart die Möglichkeit zu geben, ‚etwas‘ für die Kirche zu schaffen oder sich selbst irgendwie zum Ausdruck zu bringen, sondern – und das ist der besondere Dienst der Künstler an die Kirche und Glauben, wenn sie eingeladen werden, für die Liturgie zu schaffen – sie stellen einer Christengemeinde Werke und Formen zur Verfügung, in denen und mit denen diese Gemeinde ihren Glauben artikulieren und feiern kann.“3 Diese antiquierte Haltung zum Verhältnis von Kunst und Kirche ist doktrinär und versucht, der Kunst wieder im Dienste der Kirche in ein Korsett zu zwängen. Vor allem zeigt sie aber, dass viele Kirchenvertreter immer noch nicht verstanden haben, dass Glaube nicht als allgemeines Gut vermittelbar ist, sondern sich individuell artikuliert. Der Dialog über an einem sakralen Ort ausgestellte Kunst muss vielmehr ohne Vorbedingungen erfolgen und sich mit den Begebenheiten des sakralen Ortes und darüber hinaus mit den damit einhergehenden Themen auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang muss die Kirche garantieren, dass darin eventuell enthaltene Kritik ihren freien Raum erhält. Beide Seiten – Religion beziehungsweise Kirche und Kunst – müssen sich bewusst sein, was bei einer Begegnung oder Konfrontation an einem geweihten Ort in ästhetischer und theologischer Hinsicht geschieht oder geschehen kann. „Die Theologen haben immer wieder versucht“, so der Kunsthistoriker Hans Belting (geb. 1935), „materiellen Bildern ihre Macht zu entreißen, wenn diese im Begriff waren, zuviel Macht in der Kirche zu gewinnen. Bilder waren unerwünscht, sobald sie größeren Zulauf erhielten als die Institutionen selbst und ihrerseits im Namen Gottes zu agieren begannen. Ihre Kontrolle war mit verbalen Mitteln ungewiß, weil sie wie die Heiligen tiefere Schichten berührten und andere Wünsche erfüllten, als es die 2 Harnoncourt, Philipp: „Zeitgemäß. Gegenwartskunst im Gottesdienst der Kirche“, in: Gottesdienst. Information und Handreichung der Liturgischen Institute Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, 24, Freiburg 1992, S. 186. 3 A.a.O., S. 187.

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lebenden Kirchenmänner konnten.“4 Eine Funktionalisierung von Kunst durch die Kirche ist folglich keine Basis einer kritischen Auseinandersetzung. Seit den 1980er-Jahren ist Kunst in sakralen Räumen in Deutschland verstärkt präsent, sei es an entweihten Orten oder in Kirchen, in denen immer noch die Liturgie abgehalten wird, ob temporär oder institutionell auf Dauer angelegt, wie zum Beispiel in St. Peter in Köln, im Hospitalhof in Stuttgart oder in St. Petri zu Lübeck geschehen.5 Der Aspekt des Sakralen, der Kirchen innewohnt – unabhängig ob entweiht oder liturgisch genutzt, denn die historische Bedingtheit dieser Orte tilgt ihn nicht – stellt dabei Künstler noch einmal vor ganz andere Herausforderungen als zum Beispiel die Räumlichkeiten eines Museums oder einer Kunsthalle, die im Gegensatz zur Kirche nur für die Zwecke von Kunstausstellungen errichtet worden sind. Eine Kirche ist in jeglicher Hinsicht geschichtsträchtiger als eine klassische Kunstinstitution, sie steht symbolisch als Säule einer abendländischen Kulturvorstellung. Wie geht man also als Künstlerin oder Künstler mit einem derartigen sakralen Raum um? Was für ästhetische Faktoren gilt es zu berücksichtigen? Die Phänomenologie hat die Vorstellung vom Raum als lediglich leeres Volumen als vordergründig kritisiert. Sie legte dar, dass die Körperlichkeit des Menschen die Art und Weise, wie er Räume erlebt, bestimmt. Eine nachhaltige Wirkung für einen derartigen Raum-Begriff hat Martin Heidegger (1889-1976) ausgeübt. Das Werk Sein und Zeit (1927) entwickelt eine Vorstellung von Raum als „Räumlichkeit des Daseins“ vom „In-der-Welt-Sein“ des Menschen. Heidegger arbeitete aus, dass der ursprüngliche Umgang der Menschen mit den sie umgebenden Dingen Plätze einräumt, Richtungen bestimmt, Orte schafft, und damit festlegt, wie der Raum als „Beieinander“ von diesen Dingen konkret erfahren wird.6 Diesen Gedanken hat er später präzisiert, wobei vor allem sein Beitrag „Bauen Wohnen Denken“ (1951) Eingang in die kunstphilosophischen Diskussionen gefunden hat.7 1970 veröffentlichte er mit dem baskischen Bildhauer Eduardo Chillida 4 Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 2000, S. 11. 5 Vgl. hierzu ganz allgemein zu Kunstausstellungen in Kirchen: Kölbl, Alois u.a. (Hg.): Entgegen – Religion, Gedächtnis, Körper in Gegenwartskunst, Ausst.-Kat. Kulturhaus Weiz, Mausoleum am Dom, Weiz u.a., Ostfildern 1997; Flügge, Matthias/Meschede, Friedrich (Hg.): Warum! Bilder diesseits und jenseits des Menschen, Ausst.-Kat. MartinGropius-Bau, Berlin, Ostfildern 2003; Ochs, Alexander u.a. (Hg.): Sein. Antlitz. Körper – Kirchen öffnen sich der Kunst. Das Buch zur Ausstellungsreihe, Bielefeld 2016. 6 Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 2006 (1927), S. 101-113. 7 Vgl. Heidegger, Martin: „Bauen Wohnen Denken“, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 145-181.

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(1924-2002) den kurzen Text „Die Kunst und der Raum“, der die These des früheren Aufsatzes noch einmal zusammenfasst.8 Heideggers Kritik richtet sich gegen die Dominanz des physikalisch-abstrakten Raumbegriffs, dem er die These entgegenstellt, „der Raum ist kein gegenüber für den Menschen […]. Es gibt nicht die Menschen und außerdem Raum.“9 Sie wendet sich gegen die Polarisierung von Mensch und Raum: Das Raum-Erleben lasse vielmehr deren „ursprüngliche Einheit“ erkennen und diese sei vom „In-der-Welt-Sein“ des Menschen her zu begreifen. Heideggers phänomenologischer Anstoß war nicht nur bei Künstlern und Architekten, sondern zuvor bereits bei Philosophen, Soziologen und anderen Wissenschaftlern einflussreich. Je nach ihren Erkenntnisinteressen befassen sie sich auf unterschiedliche Weise mit dem Raum-Begriff, doch kann als geteilte Grundüberzeugung gelten, „daß der Mensch in seinem Leben immer und notwendig durch sein Verhalten zu einem umgebenden Raum bestimmt ist“, wie es der Philosoph Otto Friedrich Bollnow (1903-1991) formuliert.10 In Hinblick auf das Erleben und Wahrnehmen von Räumen bedeutet diese Tatsache, dass der Mensch in seinem Handeln stets im Raum lebt und ohne räumliche Beziehungen gar nicht existieren kann. Der Begriff des Raumes ist daher vor aller Abstraktion in diesen Relationen zu denken, er hat eine anthropologische Qualität: „Es gibt einen Raum nur, insofern der Mensch ein räumliches, d. h. Raum bildendes und Raum gleichsam um sich aufspannendes Wesen ist.“11 Zu den grundlegenden Merkmalen der Raumerfahrung gehört, dass sie von bestimmten Stimmungen und Sphären geprägt sind und entsprechende Emotionen beim Menschen auslösen, sei es Heiterkeit und Freude oder Beklemmung und Angst. Wie ist es zu erklären, dass Räume mit Emotionalität aufgeladen werden? Wie entsteht ein derartiger „Gefühlsraum“, wie ihn der Philosoph Hermann Schmitz (geb. 1928) in seiner Unterscheidung von „Schichten der Räumlichkeit“ bezeichnet hat?12 Auch nach den Darlegungen seiner Kollegin Elisabeth Ströker (1928–2000) sind Stimmungen weder nur Gefühlsanteile des Subjekts noch eine Eigenschaft der Räume, die die entsprechenden emotionalen Befindlichkeiten

8 Vgl. Heidegger, Martin: Die Kunst und der Raum, St. Gallen 1969. 9 M. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 157. 10 Bollnow, Otto F.: Mensch und Raum, Stuttgart 1997 (1963), S. 23. 11 A.a.O. 12 Vgl. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1995 (1990), S. 275-320. Schmitz unterscheidet als „Schichten der Räumlichkeit“ neben dem „Gefühlsraum“ zwischen dem „Weiterraum“, dem „Richtungsraum“ und dem „Ortsraum“, drei weitere Definitionen, die in diesem Beitrag keine größere Rolle spielen.

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auslösen.13 Hinsichtlich des „Gefühlsraumes“ wird man von Stimmungen und Atmosphären ergriffen. „Atmosphäre bezeichnet zugleich den Grundbegriff einer neuen Ästhetik wie auch ihren zentralen Erkenntnisstand. Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“, schreibt Gernot Böhme (geb. 1937). „Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist.“14 Das Verhältnis zu diesen Atmosphären gestaltet sich anders als das zu einem Erkenntnisstand, den der jeweilige Mensch innehat. Die daraus resultierende vorreflexive Einheit von räumlicher Umgebung und Gefühlsreaktion geht auf eine wechselseitige Beeinflussung zurück. In den Worten von Otto Friedrich Bollnow: „Die seelische Verfassung des Menschen bestimmt den Charakter des umgebenden Raums, und umgekehrt wirkt der Raum dann zurück auf seinen seelischen Zustand.“15 Im Folgenden werden in dem Kontext des Raumes als „Gefühlsraum“ drei kuratorische Beispiele aufgeführt, die seit Anfang 2016 in der Kirche St. Petri zu Lübeck umgesetzt wurden. Das Besondere an diesen Präsentationen ist, dass sie in Kooperation mit der Lübecker Overbeck-Gesellschaft ausgearbeitet worden sind, einem Ort für zeitgenössische Kunst, womit den jeweiligen Künstlern für ihre Ausstellungskonzeptionen sowohl die funktionalistische Bauhaus-Architektur des Overbeck-Pavillons als auch ein sakraler Raum zur Verfügung standen. Zwei Institutionen mit unterschiedlicher historischer Tradition sind eine längerfristige Partnerschaft eingegangen, mit dem Ziel, möglichst viele gesellschaftliche Bereiche für Gegenwartskunst zu begeistern und sie damit in der Hansestadt Lübeck zu etablieren. Wie verschiedenartig Bilder mit einem gleichen thematischen Hintergrund in unterschiedlichen Räumlichkeiten präsentiert und auch bewertet werden können, veranschaulichte das erste Kooperationsprojekt, die Ausstellung Ulundi is Jerusalem, Andrew is Emperor, Brocoli is Holy (19. Februar bis 17. April 2016) des schottischen Künstlers Andrew Gilbert (geb. 1980). Dieser vereint mehrere Bildsprachen, die in ihrer stilisierenden Art und Weise an Comics erinnern, ebenso an die funktionale Bildsprache von Plakatmalern. Gleichzeitig entnimmt er aus der Kunstgeschichte Anleihen aus dem Expressionismus und der Miniaturmalerei. Kryptisch anmutende Texte, die häufig in Briefform an den Künstler gerichtet sind oder von ihm ausgehen, nehmen ebenfalls eine bedeutende Rolle ein. Sie erinnern in ihrer stark reduzierten Sprache an verschiedene Blogging-Dienste im Internet. 13 Vgl. Ströcker, Elisabeth: Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a.M. 1977 (1965), S. 22-134. 14 Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995, S. 34. 15 O. F. Bollnow: Mensch und Raum, S. 230.

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Abbildung 1 (1-3): Andrew Gilbert, Ulundi is Jerusalem, Andrew is Emperor, Brocoli is Holy, Ausstellungsansichten St. Petri zu Lübeck, 28.02.-17.04.2016 Fotos: Roman März, Berlin

Abbildung 2 (siehe Abb. 1)

Durch die Verbindungen der genannten Bildsprachen wird beim Betrachter, unabhängig vom Thema, ein ironischer Unterton wahrgenommen, der unter ande-

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Abbildung 3 (siehe Abb. 1)

rem durch immer wiederkehrende kleine gelbe und braune Vögel, die ein Alter Ego des Künstlers darstellen, sowie personifizierte Brokkoli und Pilze humorvolle Nuancen preiszugeben scheint. Dieser Eindruck einer eher belustigenden Art der Bildsprache verflüchtig sich jedoch rasch, wenn man das Thema erkennt, mit dem sich Gilbert seit 2005 ausschließlich beschäftigt: dem Kolonialismus und seinen Folgen. Natürlich interessieren ihn in diesem Kontext auch die Missionierungseffekte durch die christlichen Kirchen. Die Motive sind zum Teil drastisch, und das ist aufgrund der Gräueltaten der ehemaligen Kolonialmächte und der Kirche gegenüber anderen Kulturen auch nur folgerichtig. Der Betrachter sieht zerborstene Köpfe, verstümmelte Genitalien, abgeschlagene Gliedmaßen – Mord und Totschlag sind stete Begleiter in Gilberts Bildern. Die stilisierende Bildsprache und kindlich-naiv anmutende Personifizierungen von Tieren und Gemüse schwächen die Darstellung in ihrer ausdrucksstarken Wirkung keineswegs, im Gegenteil, sie verleihen den Geschichten und Anekdoten von den Schlachten, die in Zeiten des Kolonialismus ausgefochten wurden, vielmehr einen nachhaltigen Eindruck. Dem anfänglichen Schmunzeln folgt sogleich blankes Entsetzen beim Betrachter, der sofort erkennt, dass es dem Künstler nicht nur um Ironisierungen geht, sondern um historische Faktizität, die es nicht nur auszuhalten gilt, sondern mit deren Folgen wir heute auch noch leben, wenn man zum Beispiel an die Flüchtlingsbewegungen aus Afrika und dem Nahen Osten denkt. Gilberts malerischen und zeichnerischen Arbeiten werden in Ausstellungen durch Objekte aus dem Alltag sowie skulpturale und installative Arrangements er-

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weitert, so auch in der Präsentation Ulundi is Jerusalem, Andrew is Emperor, Brocoli is Holy in St. Petri und der Overbeck-Gesellschaft. Die Thematik der Kolonialzeit bekam durch die unterschiedliche Architektur der beiden Ausstellungsorte eine andere Gewichtung: Während im Lübecker Kunstverein ein allumfassender Blick auf die Kolonialisierung gerichtet worden ist, wurde in der Petri-Kirche dem Betrachter unweigerlich vor Augen geführt, dass die Kolonialisierung auch im Namen des christlichen Glaubens vorangetrieben worden ist. Ein Eindruck, der durch eine vom Eingang durch das Mittelschiff zum Altar führende Prozession einer zwölfköpfigen Figurengruppe auf Holzstelen mit Masken und Perücken, die in ihren rot bemalten Uniformen und (Damen-)Stiefeln eindeutig an die Rotröcke der britischen Armee erinnern, noch verstärkt wurde. Anstatt Waffen hielten sie Lauchstangen, Besen und Staubwedel in den Händen. Ihr Blick war auf den Shaka Zulu Instant Coffee Altar (2016) gerichtet, mit einer vom Künstler so bezeichneten Zulu-Priesterin, einem fabelartigen Hybridwesen. So wie im 19. und 20. Jahrhundert europaweit sogenannte Völkerausstellungen organisiert wurden, in denen zum Beispiel Afrikaner in einem ihrer Heimat nachempfundenen Umfeld zur Befriedigung der Sensationsgier und Belustigung über die vermeintlich Primitiven der Allgemeinheit zur Schau gestellt wurden, kehrte Gilbert in der Ausstellung in St. Petri mit der Prozession der britischen Eroberer das Verhältnis um, indem er nun sie den Besuchern zur Erheiterung präsentierte.16 Durch die Bestimmung der Kirche als sakraler Raum gelangte der Besucher mit einer ganz anderen emotionalen Befindlichkeit in die Ausstellung, der Ort ist ein genau determinierter „Gefühlsraum“, in dem immer noch eine besinnliche Atmosphäre herrscht. Die Gefühlslage in Gilberts Ausstellung erhielt eine Ambivalenz, da man unvermittelt mit einem dunklen Kapitel der Institution Kirche konfrontiert wurde: dem Kolonialismus und der damit verbundenen Missionierung. In einer Kunstinstitution wie der Overbeck-Gesellschaft kann sich eine derartige Emotionalität aufgrund ihrer Funktion als klassischer Ausstellungsort nicht einstellen. Eine solche Auseinandersetzung hier ist programmatisch verankert, was nicht heißt, dass hier keine Gefühlsregungen wie Empörung und Wut ausgelöst werden können – sie sind nur erwartbar. Um in einer Ausstellung in einer Kirche, die für viele Menschen immer noch als ein friedvoller Rückzugsort gilt, diese mit Gewaltverbrechen zu konfrontieren, die auch im Namen des Christentums begangen wurden, bedarf es eines größeren Reflexionspotenzials aller Beteiligten als in einer Kunstinstitution, das sich offen den kritischen Fragen unserer Zeit stellt.

16 Vgl. Zybok, Oliver (Hg.): Andrew Gilbert. Ulundi is Jerusalem, Andrew is Emperor, Brocoli is Holy, Ausst.-Kat. Overbeck-Gesellschaft, Lübeck, und St. Petri zu Lübeck, Bielefeld 2017.

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Für eine Herausforderung ganz anderer Art sorgte die Ausstellung Das helle Zimmer (23. Oktober bis 16. November 2016) der jungen Künstlerin Sophie Schweighart (geb. 1991). Hierbei handelte es sich um einen Raum beziehungsweise ein geschlossenes System von Räumen in einem Raum. Die Installation wurde durch den Eingang der Petri-Kirche betreten. Sie bestand aus zehn beinahe identischen, kleinen, engen, schmalen Zimmern. Sie waren ringförmig hintereinander gebaut, sodass eine Art Rundgang entstand. In der Mitte befand sich ein nicht zugänglicher Raum. Die sterilen weißen Zimmer waren mit Plastikklappstühlen und Topfpflanzen bestückt und durch weiße Türen, die Schilder wie „Bitte warten“ oder „Sprechzimmer“ trugen, miteinander verbunden. In jedem der Räume befand sich ein Fenster, das in Richtung des zentralen Raumes eingebaut war. Über den milchigen, blickdichten Fenstern waren unscheinbare Türspione eingebaut, die von der zentralen Räumlichkeit aus, von innen nach außen genutzt wurden. Die Zimmer waren lediglich durch eine unbestimmte Lichtquelle hinter den Fenstern beleuchtet, durch welche zu bestimmten Zeiten schemenhaft die Körper von Performern zu erkennen waren. Diese bewegten sich in dem abgekapselten Raum und schauten durch die Spione, um die äußeren Zimmer zu beobachten. In der Installation Das helle Zimmer schien der Besucher in ein System zu geraten, das die eigenen Bewegungen anleitete: Gehen, Warten, Neugier, Weitergehen. Gleichzeitig konnte sich beim Besucher in bestimmten Zeitabläufen das beklemmende Gefühl des Beobachtetwerdens einstellen. Er wusste, dass er durch die Spione gesehen werden konnte, aber nicht von wem, da man durch das blickdichte Glas zum Innenraum nur Schemen erkannte. Man schritt folglich Raum für Raum ab, um nach einer Kreisbewegung am Ende wieder am Eingang der Kirche zu stehen – eine kafkaeske Situation. Hinzu kam, dass die meisten Kirchenbesucher, die nicht mit einer Ausstellung im sakralen Raum rechneten, erwarteten, nach Durchschreiten der Installation irgendwann in den Kirchenraum zu gelangen. Ihre Erwartungen wurden nicht erfüllt, die Enttäuschung darüber wurde dem Aufsichtspersonal zum Teil vehement vorgetragen. Das helle Zimmer sorgte bei einzelnen Besuchern für ein befremdlich wirkendes Raum-Bild-Verhältnis. Das unvermittelte Raumempfinden stieß oftmals auf Unverständnis. Die üblichen Erwartungshaltungen an einen sakralen Ort wurden nicht erfüllt, ein Überdenken des Standpunkts, den man als Betrachter einnimmt, war gefragt – veränderte Situationen erfordern neue Sichtweisen. Bei der Ausstellung Double Act (30. Juli bis 27. August 2017) mit Werken der beiden Künstler Peter Land (geb. 1966) und Hans Petri (geb. 1963) in St. Petri zu Lübeck sorgten individuelle Assoziationsketten, die in einem sakralen Raum nicht erwartet wurden, vereinzelt für Empörung. Bei dieser Präsentation war der „Gefühlsraum“ Kirche emotional sehr aufgeladen, auch wenn die zum Teil heftigen Reaktionen der Besucher von den Künstlern in dieser Art gar nicht

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Abbildung 4 (4-6): Sophie Schweighart, Das helle Zimmer, Ausstellungsansichten St. Petri zu Lübeck, 23.10.-16.11.2016 Fotos: Sophie Schweighart

Abbildung 5 (siehe Abb. 4)

intendiert waren und erst durch den sakralen Raum hervorgerufen wurden. Vor allem die Fotografien von Petri sind kontrovers diskutiert worden. Der in Frankfurt am Main lebende Künstler fotografiert, fasziniert von dem Aufkommen des Girlietums und dem damit verbundenen neuen Selbstbewusstsein einer Frauen-

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Abbildung 6 (siehe Abb. 4)

generation, seit etwa Mitte der 1990er-Jahre vornehmlich Frauen in beiläufigen Alltags- oder Ateliersituationen, die durch Aufnahmen unter anderem von Speisen oder Accessoires aus der Modewelt und Musikbranche ergänzt werden. Wie (in Mimik, Gestik, Körperhaltung et cetera) sich die jungen Frauen, die zunächst aus dem näheren Bekanntenkreis des Künstler stammten, fotografieren lassen, bestimmen sie selbst, die Direktiven von Petri beschränken sich auf ein Minimum (so nimmt er zum Beispiel die Ortswahl vor). Interessant bei den entstandenen Aufnahmen ist die Art der Darstellung, die fast immer ein großes Maß an Aufmerksamkeit beim späteren Betrachter zum Ziel hat, vor allem durch eine laszive oder erotisch aufgeladene Ausdrucksweise, wie man sie heute aus zahlreichen Selfies kennt. Petri fotografiert seine Modelle meist fragmentarisch, das heißt, oft sind nur einzelne (Gesichts-)Partien zu erkennen, nicht aber der ganze Körper. Es geht um die Flüchtigkeit, die Spontaneität der Aufnahmen, denn bei aller Vorbereitung für die einzelnen Fotosessions handelt es sich bei fast allen Ablichtungen um Schnappschüsse, die in ihrer Ästhetik die erstaunlichen Parallelen zu den heute gängigen Selfie-Aufnahmen noch einmal betonen. Mit seiner Art der inszenierten Fotografie hat Petri die Schnappschuss-Ästhetik, die heute jeder mit dem Mobiltelefon selbst erzeugt, bereits in den 1990er-Jahren vorweggenommen. Auch wenn die alltäglichen, sexuell aufgeladenen Motive, eingestellt auf Portalen von Facebook bis Instagram heute kaum mehr für Aufregung sorgen, weil sie in der Masse der Bilder nur noch flüchtig wahrgenommen werden, haben die Fotografien von Petri im Kirchenraum von St. Petri zu Lübeck

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für ein Unbehagen gesorgt, obwohl keine explizit pornografischen Elemente gezeigt wurden. Vielleicht hat die Anonymität der fragmentarischen Physiognomie bei dem einen oder anderen Fantasien angeregt und sexuelle Konnotationen ausgelöst. Ebenso die Art der Präsentation als Petersburger Hängung, bei der die Aufnahmen auf größeren Flächen dicht an dicht gehängt wurden, könnte durch die unvermittelt auftauchende Bilderflut irritiert haben. Hinzu kommt die Haptik der Aufnahmen, die weder computergeneriert oder sorgsam kaschiert gezeigt worden sind, sondern vielmehr Gebrauchsspuren aufweisen, weil der Künstler zahlreiche der kleinen Fotos im klassischen Format von neun mal dreizehn Zentimetern ständig mit sich trägt, um sie stets für die Umsetzung neuer Ideen griffbereit zu haben. Vor allem der erhöhte Aufnahmestandpunkt einzelner Fotografien, den man im Film als „High Angle Shot“-Positionierung bezeichnet, brachte dem Künstler den Vorwurf einer Unterwerfungsästhetik gegenüber Frauen ein, und somit den des Missbrauchs17 – ein Thema, das die christlichen Kirchen in den vergangenen Jahren stark beschäftigt und demgegenüber sie hochgradig sensibilisiert sind. Im White Cube des Overbeck-Pavillons stießen Petris Installationen bei der üblichen Kunstbesucherklientel nicht auf Unverständnis. In St. Petri zu Lübeck dagegen, wo auch zahlreiche nicht kunstaffine Besucher und Touristen vorbeikommen, war die Präsentation von Privatheit oft eher ungewollt, weil die Kirche – auch wenn sie nicht mehr im klassischen Sinne für die Liturgie genutzt wird – immer noch als individueller Rückzugsort gilt, in dem man kontemplativ Abstand zur Außenwelt gewinnen kann – und sei es nur für einen kurzen Moment. Jegliche Zuwiderhandlung gegen diese atmosphärische Erwartung wird als Störung empfunden. Die Wahrnehmung von Petris Arbeiten hatte zudem auch Einfluss auf die Betrachtung der in derselben Ausstellung gezeigten Werke von Peter Land, obwohl beide Künstler sich in ihrer inhaltlichen Auseinandersetzung wesentlich unterschieden. Ganz allgemein thematisiert der dänische Künstler in seinen Gemälden, Zeichnungen, Videos, Skulpturen und Installationen das menschliche Scheitern, oft auch sein eigenes im Leben eines Künstlers. Das dadurch entstehende Gefühl der ständigen Überforderung kommentiert er auf ironische Art und Weise. Anhand eigener biografischer Erfahrungen beginnen für ihn die Anforderungen und Erwartungshaltungen in der Kindheit beziehungsweise mit der Erziehung. Werden Kinder nicht an überzogenen Maßstäben gemessen, die ihnen von außen, von den Eltern, der Schule et cetera aufgezwungen werden? Selbst wenn die historischen Erziehungsvorstellungen eines Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der in seiner Schrift Emil oder Über die Erziehung (1762) dazu aufrief, den Kindern ihre Abhängigkeit von den Erwachsenen nicht durch Befehle, sondern durch Machtdemonstration zu verdeutlichen, oder der „Schwarzen Pädagogik“ im 19. Jahr17 Vgl. E-Mail von Pastor Bernd Schwarze an den Autor vom 26. Juli 2017.

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Abbildung 7 (7-8): Hans Petri, Deutschland im Handstreich, Ausstellungsansichten St. Petri zu Lübeck, 30.07.-27.08.2017 Fotos: Jakob Engel, Köln

Abbildung 8 (siehe Abb. 7)

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Abbildung 9: Peter Land, Snapshot, 2007, bemalter glasfaserverstärkter Kunststoff, Stoff, Glasaugen und menschliches Haar, 170 x 170 x 200 cm, Tichy Ocean Foundation, Prag, Ausstellungsansicht St. Petri zu Lübeck, 2017; Foto: Jakob Engel, Köln

hundert, die für einen soldatisch strengen, autoritären Erziehungsstil stand, schon längst obsolet sind,18 unterliegen Kinder auch heute noch äußeren Zwängen – vermittelt nicht zuletzt durch massenmediale Bilder, die von Idealen berichten, denen sie glauben, folgen zu müssen. In der Ausstellunge Double Act zeigte Land zwei Büsten, die eines blonden Mädchens (Girl, 2012) mit langem, zu Zöpfen geflochtenem blondem Haar, und die eines Jungen (Boy, 2012) mit kurzem blondem Haar. Sie könnten als Prototypen einer Idealvorstellung dienen. Der Blick der beiden geht ins Leere, geradezu desillusioniert starren sie in die Ferne, jegliche Mimik und emotionale Regung fehlt. Neben dem stereotypen Charakter lösen vor allem ihre Hautpartien aus glasfaserverstärktem Kunststoff, die täuschend echt wirken, Unbehagen aus. Gesteigert wird dieses Empfinden durch die Skulptur Absolute Perfection (2013), deren modellierter Kopf zur einen Hälfte aus dem eines Mädchens, zur anderen aus dem eines Jungen besteht – das gemeinsame Vorhandensein von spezifischen Eigenschaften beider Geschlechter im biologischen wie sozialen

18 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 2003 (1762); Rutschky, Katharina (Hg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, München 2001 (1977).

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Sinne würde die Genderstudies überflüssig machen. Doch auch hier beschwört der stoische, gefühlsentleerte Blick eher beängstigende Vorstellungen herauf. Bei Peter Lands Skulptur Snapshot (2007) wiederum steht eine Mädchenfigur, die Hände auf dem Rücken und ein Bein nach hinten leicht angewickelt, auf einem erhöhten Stein aus Kunststoff und spuckt Wasser in eine Lache eines künstlichen Beckens – eine für ein Kind typische Handlung. Das Mädchen zeigt aber erneut keinen freudigen Gesichtsausdruck, sondern agiert wieder eher emotionslos. Das Kind wird durch die Präsentation seines Tuns zu einem Springbrunnen degradiert. Im Kontext von Hans Petris Fotografien war es in der Ausstellung Double Act vor allem diese Arbeit von Land, die durch ihre beängstigende Physiognomie ohne Mimik für zahlreiche Besucher unweigerlich das Thema „Missbrauch“ in den Vordergrund rückte, obwohl der Künstler in den gezeigten Werken vordergründig das Thema „Kindererziehung“ behandelt wissen möchte. Die Ausstellung verdeutlichte einmal mehr, wie unterschiedlich Bilder von Menschen mit einem unterschiedlichen Erfahrungshorizont und zudem an verschiedenartigen Orten mit jeweils anderen historischen Bedingungen wahrgenommen werden können. Vor allem zeigte Double Act, wie leicht Menschen dazu neigen, durch Bilder ausgelöste Irritationen als Vorurteil gegenüber dem Gezeigten oder den Urhebern dieser Bilder zu formulieren, frei nach dem Motto: Das kann ja nur so und nicht anders gemeint sein.19 Alle drei hier kurz angesprochenen Ausstellungen – Andrew Gilbert. Ulundi is Jerusalem, Andrew is Emperor, Brocoli is Holy, die Schau Sophie Schweighart. Das helle Zimmer und Double Act – Peter Land und Hans Petri – veranschaulichen auf unterschiedliche Weise, wie man mit Bildern in einem sakralen Raum umgehen kann, der aufgrund seiner Geschichte eine spezielle Art von „Gefühlsraum“ darstellt, da er aufgrund seiner ursprünglich liturgischen Funktion von einer gewissen emotionalen Atmosphäre bestimmt wird. Bei Schweigharts Installation wurden die Bilder durch ein Raumempfinden ausgelöst, bei Gilbert, Land und Petri waren es die Themen beziehungsweise Bildmotive, vom Kolonialismus über die Erziehung bis hin zum Frauenbild, die Emotionen hervorriefen. Die drei Präsentationen an den beiden unterschiedlichen Ausstellungsorten in Lübeck – St. Petri-Kirche und Overbeck-Gesellschaft – bestätigten, basierend auf der von Otto Friedrich Bollnow oben bereits erwähnte These, dass das Verhalten der Menschen durch den sie umgebenden Raum bestimmt wird. Gleichzeitig sorgen die individuellen Befindlichkeiten und Erfahrungswerte eines jeden Besuchers für die Atmosphäre im „Gefühlsraum“ – je nach Aktion und Anschauung. Jeder Betrachter hat das Recht, seiner Emotionalität in Form von Bestätigung oder Kritik Ausdruck 19 Vgl. Emmert, Claudia/Zybok, Oliver (Hg.): Peter Land. Absolute Perfection, Ausst.Kat. Kunstpalais Erlangen; Galerie der Stadt Remscheid, Ostfildern 2014.

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zu verleihen – dieser Fakt ist in der Kunstbetrachtung sogar dringend erforderlich beziehungsweise erwünscht, und bestimmt im phänomenologischen Sinne den wandelbaren Charakter eines Raumes. Alle Äußerungen müssen jedoch genau reflektiert sein, und dürfen gerade bei Kritik nicht in Pauschalverurteilungen des Dargestellten oder des jeweiligen Künstlers münden. Derartige Entgleisungen neigen aufgrund ihrer oberflächlichen Argumentation dazu, Vokabular eines populistischen Autoritarismus anzunehmen, und bereiten denjenigen das Feld, die im Sinne ihrer Machterhaltung an jeglichen kommunikativen Austausch desinteressiert sind: „Die populistischen Führer und autoritären Demagogen stehen […] in den Starlöchern“, schreibt der Kulturwissenschaftler Arjun Appadurai (geb. 1949). Sie operieren in einer „Mischung aus Neoliberalismus, Kulturchauvinismus […] und dem rasenden Zorn der Mehrheit auf […] Minderheit[en]“.20 Künstler halten uns als Betrachter einen Spiegel vor Augen, indem sie aufzeigen, wie durch Bilder manipuliert wird. Wir sehen etwas, orientieren uns aber nicht wirklich an dem, was tatsächlich abgebildet ist, sondern fangen oftmals sogleich an, spekulativ zu interpretieren, wie in der Ausstellung mit Werken von Peter Land und Hans Petri geschehen. Wir glauben etwas zu sehen, was aber nicht zwangsläufig abgebildet ist. Oft sind diese Interpretationen massenmedial und soziologisch determiniert. Oder wir möchten die Bilder gar nicht sehen, wie im Fall der Auseinandersetzung von Andrew Gilbert mit dem Kolonialismus, weil sie uns Dinge zeigen, die wir aus Ignoranz oder Schamgefühl lieber verdrängen möchten, anstatt uns der Verantwortung für begangene Taten zu stellen. Ebenso verknüpfen wir mit Bildern eine Erwartungshaltung, die, wie bei der Installation von Sophie Schweighart, an Empfindungen gebunden ist. Wir müssen hier aber auch mit Enttäuschungen rechnen, die dann bestenfalls für ein Umdenken sorgen können. In der Realisierung von Ausstellungen in sakralen Räumen wie Kirchen dürfen im Umgang mit Bildern keine Grenzen gesetzt werden, die an überholte liturgische Vorstellungen gebunden sind. Diese haben bei der breiten Masse der Bevölkerung ohnehin an Glaubwürdigkeit verloren, weil die Verantwortlichen des Christentums nur allzu häufig zeigen, dass es auch ihnen nur um ihre eigene Machterhaltung geht, anstatt sich um die Bedürfnisse und Sorgen der Menschen zu kümmern. Man muss bei kuratorischen Vorhaben in Kirchen wieder an einem „Nullpunkt der Religion“ ansetzen, wie es der programmatisch verantwortliche Pastor für St. Petri zu Lübeck, Bernd Schwarze, formuliert hat: „Wir kennen unsere Tradition. Aber wir wissen auch, wie sich der Glaube verändert hat. Wie seine Inhalte kritisiert und transformiert wurden und werden in Gesellschaft und Kultur. 20 Appadurai, Arjun: „Demokratiemüdigkeit“, in: Geiselberger, Heinrich (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017, S. 25.

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Wie der Einfluss und die Bedeutung der Kirchen schwinden. Und wir sind mittendrin. Darum beginnen wir in St. Petri unsere Arbeit stets so, als würden wir zum ersten Mal über das Leben und den Sinn nachdenken. In einem faszinierend leeren Raum. Am Nullpunkt der Religion, eben.“21 Um Bilder verstehen zu können, müssen Kenntnisse um gesellschaftliche und geschichtliche Zusammenhänge erworben werden. Es bedarf einer genauen Analyse von Bildern im Hinblick auf den Zeitpunkt und die Bedingungen ihrer Entstehung. Wie, wo, wann und durch wen wurden sie eingesetzt? Welchen Konstruktionsbedingungen, Möglichkeiten und Zwängen unterlagen beziehungsweise unterliegen sie? Ein Wissen um diese Voraussetzungen verlangt vom Betrachter ein hohes Maß an Bereitschaft, sich intensiver mit Bildern auseinanderzusetzen. Sie geht weit über den raschen Bildkonsum hinaus und benötigt vor allem Zeit. Erst dann kann ein jeder sich ein detailliertes Bild vom Gesehenen machen, und sich den Folgen einer pauschalen Verurteilung von Bildern sowie einer beliebigen und vielleicht sogar repressiven Lesart von Bildern bewusst werden. Nur so lernt man, das, was man sieht, sinnvoll und sachlich, und damit wirkungsmächtig einzuordnen.22

21 Schwarze, Bernd: „St. Petri zu Lübeck ist die Kirche am Nullpunkt der Religion“, www.st-petri-luebeck.de/index.php/home/konzept [letzter Zugriff: 07.05.2018]. 22 Vgl. Zybok. Oliver: „Public Image. Über Bilder in der Öffentlichkeit“, in: ders. (Hg.), Public Image. Unbedingte Aufmerksamkeit, (Kunstforum International, Band 246, Mai-Juni 2017), S. 46-73.

Bilder des Zen – Möglichkeitsräume1 Hans-Georg Soeffner

1.  DIE SPRACHE DER SINNE Menschliche Wahrnehmung ist ‚leibgebunden‘ und damit ‚primordial‘ synästhetisch verfasst. Sie beruht auf einem Zusammenspiel der Sinne, die uns ihrerseits unterschiedliche Zugangsformen zu uns selbst und zu unserer Welt vermitteln. Damit steht Synästhesie sowohl für die Multioptionalität menschlicher Wahrnehmung als auch für die Differenz der Sinne als ‚Wahrnehmungsquellen‘. Aus dieser – durch Differenz gekennzeichneten – Kooperation der Sinne ergibt sich für Plessner die Frage nach dem „Sinn der Sinne“2. Wenn, so Plessner, „jeder Sinn seinen Grund [hat] in dem, was er und nur er herausbringt“ und wenn daraus folgt: „Soviel Seiten, soviel Sinne. Aber auch: soviel Sinne, soviel Seiten“, dann ist zu klären, wie es dazu kommt, dass dennoch alle Sinne „zusammen [sowohl, H-G.S.] die Vielfalt im Ganzen [Hervorhebung H-G.S.] hervorbringen“ als auch die Einheit der Wahrnehmung suggerieren.3 Plessners Antwort lautet: Im konkreten Handeln und unter Handlungsdruck koordinieren sich die Sinne durch ihre „Aktionsrelativität“4: Sinnliche Wahrnehmung existiert nicht ‚an sich‘, sondern ‚für/zu etwas‘ – zur Orientierung, Handlungskoordination und (wechselseitigen ‚sozialen‘) Steuerung der Individuen.

1 Der folgende Essay verbindet zwei frühere Artikel, in denen ich mich – wie auch in weiteren, darauf folgenden Arbeiten – um die Grundlegung einer soziologischen Hermeneutik des Sehens bemühe. 2 Plessner, Helmuth: „Anthropologie der Sinne“, in: Ders., Philosophische Anthropologie. Lachen und Weinen. Das Lächeln. Anthropologie der Sinne, Frankfurt a.M. 1970, S. 187-251, hier S.199. Vgl. Straus, Erwin: Vom Sinn der Sinne, Berlin 1935. 3 A.a.O., S. 232. 4 A.a.O., S. 238.

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Dennoch hält Plessner an der kantischen Einsicht fest, dass die Sinne sich nicht irren können. Jeder einzelne Sinn steht unmittelbar für das, was er wahrnimmt. Irrtümer und Fehlschlüsse sind, so Kant, nicht den Sinnen, sondern der Übersetzung von Sinneswahrnehmungen in Sprache – in Verstandes- und Vernunftbegriffe – zu ‚verdanken‘. Ebenso verhält es sich mit ‚Sinnestäuschungen‘. Diese ergeben sich aus sprachlich verfassten Schlüssen, die man auf der Grundlage von Wahrnehmungen über das Wahrgenommene zieht.5 Gerade durch die Differenz der Sinne und durch das, was sie je für sich „in unmittelbarer Intuition“ (s.o.) vermitteln, ergibt sich – aus meiner Sicht – die Chance, die „anthropologischen Grundgesetze“ der „natürlichen Künstlichkeit“ und der „vermittelten Unmittelbarkeit“6 für solche – ‚künstlich‘ zu schaffenden – Situationen zu nutzen, in denen die Sinne in ihrer Differenz wahrgenommen werden, weil sie aus der ‚Aktionsrelativität‘ befreit und die Wahrnehmungen vom Handlungsdruck entlastet werden. In solchen Situationen und im Zeichen einer spezifischen ‚Bewusstseinsspannung‘ (s.o.) – sei es in wissenschaftlicher, künstlerischer oder meditativer ‚Einstellung‘ – wird die Welt im Modus des ‚als ob‘ wahrnehmbar. Hier gilt der ‚kategorische Konjunktiv‘: „Während der Indikativ zur Feststellung des Wirklichen und des Möglichen dient, schafft der Konjunktiv einen Spielraum innerhalb des Möglichen. Das Unmögliche prägt sich wieder indikativisch aus“7. Anders ausgedrückt: Im Modus des ‚kategorischen Konjunktivs‘ geht es um die Entdeckung der Realität der Imagination – im doppelten Sinne dieser Genitivkonstruktion: (1) Imagination ist ein reales menschliches Vermögen; (2) Imagination entwirft eigene ‚Realitäten‘, die ihrerseits reale Wirkungen entfalten. Imagination schafft also jene Öffnung der Wahrnehmung, in der die Sinne in ‚vermittelter Unmittelbarkeit‘ ihre jeweiligen Realitätsakzente in Realitätsoptionen transformieren können.

5 Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden, Bd. 8, Darmstadt 1968 (1790-1799), §57f. 6 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1975 (1929), S. 309ff. 7 Plessner, Helmuth: „Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Frankfurt a.M. 1983 (1968), S. 338-352, hier S. 347.

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2.  M ETAMORPHOSEN DER APPRÄSENTATION, WAHRNEHMUNG UND ERKENNTNIS Obwohl auch unsere westliche, ‚okzidentale‘ Tradition sowohl in der Mystik (u.a. bei Meister Eckhart, J. Böhme, H. Seuse, J. Tauler, Thomas von Kempen, Hildegard von Bingen oder Katharina von Siena) als auch in den klösterlichen Ordensregeln unterschiedliche Formen der Meditation kennt, so ist doch unsere Verankerung in der sozialen, religiösen, wissenschaftlichen und politischen Welt ausgesprochen ‚textlastig‘. Nicht nur die religiöse Sozialisation durch den ‚Heiligen Text‘, Predigt und Textrepetition, sondern auch die daran zunächst anschließenden Wissenschaften, Gesetzes- und Vertragstexte sowie die seit der Erfindung des Buchdruckes sich selbst ständig überbietende literarische und mediale Produktion arbeiten an einer unentwegten Versprachlichung der Welt. Unsere tiefsitzende Überzeugung, nur das als analytisch und rational erfasst anzusehen, was in sprachliche – begriffliche – Repräsentation übertragen wurde, ist hier ebenso verwurzelt wie der Glaube, ‚psychische Probleme‘ und soziale Konflikte ließen sich im Wesentlichen schon durch ihre Versprachlichung – so etwa in der traditionellen Psychoanalyse und Gruppentherapie – darstellen und lösen. Vor allem die bis in den Alltag hinein geltende Vulgärmaxime der Kommunikation, es sei unerlässlich, über alles ‚sprechen zu können‘ bzw. ‚darüber gesprochen zu haben‘, verteidigt durch diesen Glauben ihren Sitz im ‚westlichen‘ Leben. In der japanischen Tradition – denn im Folgenden soll es um die Deutung einiger Beispiele japanischer Bildtradition gehen – ist, idealtypisch gesprochen, eine solch einseitige Textlastigkeit nicht festzustellen. Das Gegengewicht zur Dominanz der Versprachlichung der Welt verdankt sich – nicht ausschließlich, aber wesentlich – dem Einfluss des Zen-Buddhismus und seiner Verbindung mit Konfuzianismus und Shintoismus.8 Seit dem 13. Jahrhundert, in dem er in Japan Fuß fasste, prägt der durch den Taoismus beeinflusste Zen-Buddhismus einen bedeutenden Teil sowohl der japanischen Ästhetik – Kalligraphie, Bildende Künste und Literatur (Haiku-Lyrik) – als auch der ‚Alltagskultur‘: von der monochromen Tuschemalerei über die Landschaftsgärten, die Kunst des Blumensteckens (Ikebana) und die Teezeremonie bis hin zu den ‚verschiedenen‘ Wegen praktischer Zen-Übungen wie Schwertfechten (Kendō) oder Bogenschießen (Kyudō). All diese ‚Wege‘ basieren auf der Meditation. Sie steht für eine ‚Religion der Stille‘. In ihr soll eine Leere gefunden werden, in der praktisches, zielgerichtetes, 8 Die nun folgende skizzenhafte Charakterisierung des japanischen Zen-Buddhismus steht nicht im Mittelpunkt meiner Argumentation, wohl aber dessen sozialisatorischer Einfluss auf eine nicht sprachgebundene ‚Erfahrungspraxis‘.

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funktionales Denken ebenso wie diskursives, logisches Schlussfolgern in unmittelbare Wahrnehmung und Verschmelzung mit der Umwelt transformiert werden kann. Allerdings stellt sich diese Leere nicht von selbst ein. Die Ausklammerung sowohl der Logik als auch der Pragmatik – eine Art Zen-Epoché – wird vorbereitet durch strenge (Selbst)Schulung, so etwa in der sitzenden Kontemplation (Zazen) unter der Anleitung eines Meisters (rōshi). Dezentrierte, das konkrete Ich ausklammernde Meditation und die sich in ihr ausdrückende Haltung verdanken sich also der Rahmung und der methodischen Erzeugung einer außeralltäglichen ‚Bewusstseinsspannung‘, in der sich eine ‚umfassende‘, alle Sinne freisetzende Wahrnehmung entfalten kann. Die in der Tradition des Zen-Buddhismus stehende Ästhetik hat somit zwei einander ergänzende Aufgaben: • Zum einen muss sich der ‚Künstler‘ in eine meditativ fundierte, außeralltägliche ‚Bewusstseinsspannung‘ versetzen, um ‚frei‘ in sich Bildwelten entstehen zu lassen und ihnen ‚material‘ Ausdruck zu verleihen. Letzteres verlangt eine ausgefeilte, diszipliniert erworbene Kunstfertigkeit, die sich aber im Bild unsichtbar zu machen versucht. • Zum anderen muss die nun material sichtbar werdende Bildwelt selbst Dimensionen einer Leere andeuten, die es dem Betrachter ermöglichen, die eigene Wahrnehmung freizusetzen, also, phänomenologisch gesprochen, einen offenen Appräsentationshorizont aufzuspannen, in dem die sich einstellenden Appräsentationen in einem Prozess unvorhersehbarer Metamorphosen verschmelzen. Meine defizitären Bemühungen, solche Prozesse sprachlich darzustellen, zwingen mich – spätestens an dieser Stelle – erste Bildbeispiele, zunächst monochromer Tuschemalerei zu zeigen (Abb. 1). 1.  Der Katalog gibt an, dass beide Bilder (Datierung 1826) „are based on the classic story ‚Ise Monogatari‘ (The Tales of Ise)“. Auf dem einen Bild sei der Mt. Utsu zu sehen (links); auf dem anderen „a view of sumidagawa river“. Diese Angaben engen den Appräsentationshorizont ein, indem sie (1) topographische Angaben machen und auf einen heiligen Berg bzw. auf die „Tales of Ise“ verweisen. Zugleich öffnen sie ihn, indem sie (2) den Betrachter auffordern, die ihm bekannten Bildgeschichten über den Mt. Utsu und zu den „Tales of Ise“ in die Leerstellen der Bilder zu projizieren. Schließlich (3) irritieren die Bilder selbst

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den Betrachter: Sie suggerieren eine gegliederte räumliche Tiefe,9 die sich jedoch bei genauerer Betrachtung dadurch auflöst, dass die bildlichen Vordergrund-/Hintergrundverweise gezielt ‚unstimmig‘ komponiert sind und die Bilder (Bildrollen) sich sowohl perspektivisch nach oben als auch nach unten öffnen: Der zunächst eingeengte Appräsentationshorizont und mit ihm unsere Wahrnehmung der Leerstellen öffnen sich zunehmend und immer weniger vorhersagbar – trotz oder gerade wegen der sprachlichen Angaben. Zugleich werden die einzelnen ‚gegenständAbbildung 1: Sumidagawa, The beloved lichen‘ Bildelemente – BergsilhouRiver of Edo, Katalog, Tokyo Metropolitan etten, Schilfgras, fliegende Vögel, Edo-Mu-seum, ohne Jahrgang Blumen – so vage und beweglich im Bildraum positioniert, dass uns die scheinbar gegenständlich fundierte Gesamtkonstellation der Bildwelt von einer – zunächst – statischen Anordnung in ein Konstellationsmobile führt. Während die soeben gezeigten Bilder (Bildrollen) die Perspektive vorwiegend vertikal organisieren, indem sie Vorder- und Hintergrund, untere und obere Bildbegrenzung öffnen und tendenziell aufheben, ‚steuert‘ das zweite von mir gewählte Bildbeispiel (Abb. 2) – ebenfalls eine Bildrolle – die Perspektive des Betrachters horizontal von einer gegenständlich verhältnismäßig reich ausgestalteten, allerdings auch schon in Leerstellen eingebetteten Landschaft von rechts nach links in eine zunehmende ‚Leere‘, aus der sich indes Silhouettenfragmente des Fuji-San abheben. Die Bildunterschrift lautet: „A bird’s-eye view of the mouth of Sumigadawa River, seen from its eastern side“ (Datierung 1830-1843). Die sich im Bild von rechts nach links auflösende Gegenständlichkeit, das zunehmende Verschwinden der Konturen im hell ockerfarbenen Dunst einer sich verselbständigenden Atmosphäre endet mit einem pointierten Spiel von Verhüllung und Enthüllung: Die bekannte, nahezu symmetrische Kontur des Heiligen Berges Fuji-San löst 9 Zur ‚Monochromie‘, also zur Farbgebung und zu den stilisierten Einzelmotiven, die ihrerseits wiederum einen neuen, symbolischen Verweisungszusammenhang aufspannen, wären noch weitere offene Horizonte zu benennen.

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Abbildung 2: Sumidagawa, The beloved River of Edo, Katalog, Tokyo Metropolitan EdoMuseum, ohne Jahrgang.

sich fast vollständig in der Atmosphäre auf, sichtbar bleiben lediglich Fragmente der Silhouette des Berges und seines schneebedeckten Gipfels. Aber gerade durch dieses Spiel und die minimalistische Hervorhebung seiner Restkontur wird der Fuji-San, obwohl er aus der Mitte des Bildes an den Rand, in das linke Drittel der Rolle, gerückt wird, in verschatteter Epiphanie zum ideellen und appräsentativen Zentrum des Bildes. In beiden Bildbeispielen findet sich die dreistellige Konstellationskomposition von Verhüllung/Enthüllung, Natur und Heiligem: Mit den Namen Ise, Utsu und Fuji-San verbinden sich in der japanischen Tradition Ursprungsmythen und Legenden einer Naturreligion, die sich in der – von Menschen verehrten (und gepflegten) – Natur selbst manifestiert. Den Heiligen Bergen und Wäldern werden Schreine als Erinnerungsmarken gewidmet, die – durch die Natur und in ihr – eine umfassende Hintergrundkosmologie wachrufen: Der heiligste der Sengen-Schreine, die den Heiligen Berg umgeben, liegt nahe am Gipfel, am Kraterrand des Fuji-San; der Schrein von Ise (gegründet im 3. Jh. v. Chr.), eine der herausragenden Kultstätten der ältesten Religion Japans, Shintô, ist der Ahnherrin des Japanischen Kaiserhauses, der Sonnengöttin (s. die Nationalfahne Japans) Amaterasu-Ômikani, geweiht. Das Zusammenspiel von Zeitlosigkeit und – beziehungsweise durch – Veränderung gestaltet der Kult um den Ise-Schrein durch eine seit der Regierungszeit des Kaisers Temmu (673-686) bestehende Tradition: Alle zwanzig Jahre wird der Schrein abgerissen und exakt in seiner früheren Form wieder aufgebaut. Die ‚ursprüngliche‘ Form wird dadurch nicht nur erhalten, sondern auch vor dem Verfall gerettet und widerstandsfähig gemacht. Der Innere Schrein steht, zusammen mit anderen Gebäuden der Kultstätte, klein und beinahe unauffällig zwischen mächtigen, immergrünen Bäumen nahe am Isuzu-Fluss. Angeblich wird im Inneren Schrein der Spiegel der Göttin auf-

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bewahrt: Allen (auch dem Tenno) – außer den höchsten Shintô-Priestern – ist der Zutritt zum innersten Teil des heiligen Schreins versagt. Was sich im Spiegel der Göttin zeigt und im Innersten des Schreins verborgen ist, wird dem Spiel der Appräsentationsmetamorphosen der Verehrer des Schreins überlassen. „The Tales of Ise“ (1. Bildbeispiel) stoßen den Assoziationsvorgang lediglich an. Das tragende Stilmittel der monochromen, auf die Suggestivkraft scheinbarer ‚Einfarbigkeit‘ setzenden Tuschemalerei besteht im Spiel atmosphärischer Verhüllung und Enthüllung einer durch monochromen Nebel verschleierten Welt. Diese Monochromie irritiert die genaue perspektivische Verortung von Silhouetten und Einzelelementen der Gemälde. Weder rein sichtbar noch gar unsichtbar stößt dieser ‚Nebel‘ die Imagination an. In ihrer gestaltlosen Indifferenz scheint die Monochromie ‚nichts‘ zu vermitteln. Aber gerade diese Vermittlungsverweigerung durch Verschleierung öffnet den wenigen entschleierten Silhouetten und durch das Auge fixierbaren Gestaltfragmenten eine Vielzahl ineinander übergehender Bild- und Wahrnehmungshorizonte: einen Kosmos der Imagination im Zeichen des kategorischen Konjunktivs. 2.  Die kollektive, weitgehend sprachentlastete Einschulung in das Wahrnehmungspotential einer solchen vorwiegend in Bild- und Naturgestaltung verankerten Kosmologie bedient sich – wie schon gesagt – unterschiedlicher Medien. Die Verankerung dieser Kosmologie in Ritualen, der Handlungsform von Symbolen,10 findet ihre Entsprechung in den ausgestalteten Symbolwelten der Tempelanlagen, Parks, Landschafts- und Meditationsgärten. Mit dem weltberühmten Steingarten des Ryôan-ji-Tempels (gegründet 1473, verlagert 1606) schuf sich der Zen-Buddhismus bei Kyoto eine Ausdrucksgestalt, die in der Vereinigung von räumlicher Geschlossenheit und meditativer Offenheit das Paradox der innerweltlichen Gestaltung von Außeralltäglichem perfekt repräsentiert. Die symbolische Form des Gartens und der in ihr verwirklichte, strenge Symbolismus sind dabei ebenso unverkennbar wie die Unmöglichkeit, diese Symbolgestalt diskursiv zu erschließen. – Der gras- und baumlose Garten befindet sich an der Südseite einer Abtresidenz. Er wird in ostwestlicher Richtung von einer 10 Meter langen und in nordsüdlicher Richtung von einer 30 Meter langen Lehmmauer mit Schindeldach eingerahmt. Von Ost nach West sind insgesamt 15 Steine in Gruppen von je 5, 2, 3, 2 und 3 Steinen einerseits äußerst raffiniert und in dezenter Eleganz, andererseits jenseits einer eindeutig erkennbaren Ordnung positioniert (Abb. 3). 10 Zur Ambivalenz, Offenheit und‚Diskursverweigerung‘ der Symbole vgl. Soeffner, Hans-Georg: „Vom Sinn der Ästhetik. Funktionale Zweckfreiheit“, in: Ders., Symbolische Formungen. Eine Soziologie des Symbols und des Rituals, Weilerswist 2010, S. 209-224.

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Abbildung 3: Schematische Darstellung des Ryônan-ji; eigenes Archiv

Grau-weißer, täglich geharkter Kies bildet die Umgebung der Steingruppen. Jede einzelne dieser Gruppen hat einen eigenen, sie umhüllenden, geharkten Kiesrahmen. Der Betrachter sitzt der Lehmmauer gegenüber und hätte, wenn er nicht unaufhörlich von Touristen gestört würde, Zeit, sich in der Betrachtung des Gartens zu verlieren – oder zu finden. Versucht er dadurch, dass er auf der Betrachterseite seinen Standort verändert, einen Gesamtüberblick über alle Gruppen und ihre Steine zu gewinnen, so stellt er fest, dass – wo immer er sich aufhält – mindestens einer der Steine unsichtbar geworden ist: Die Statik der Gesamtkonstellation antwortet auf die Bewegung und die damit jeweils veränderte Perspektive des Betrachters nicht nur mit einer jeweils neuen Dimensionierung der Konstellation, sondern auch mit einem ähnlichen Gestaltungsmittel wie die monochrome Tuschemalerei: mit dem Zusammenspiel von variiertem Sichtbar-Werden und Verbergen (Abb. 4–6). Der Sinn der Symbolgestalt des Ryôan-ji ist offenkundig so vorstrukturiert, dass er den Sinnen durch die Sparsamkeit der Gestaltungselemente und die Einbettung der Steingruppen in eine – wiederum – monochrome Umgebung so viele Appräsentationshorizonte öffnet, dass weder ein eingrenzbarer noch gar ein eindeutiger Sinn deutlich wird: Es gibt hier nichts, was alltagspraktisch, wissenschaftlich, zeichentheoretisch und diskursiv ‚verstanden‘ werden könnte. – Alle meine gelehrten japanischen Freunde – darunter ein ehemaliger Zen-Mönch – beteuern, dass sie den Garten nicht ‚verstünden‘, sich jedoch seiner Kosmologie (‚Welt‘) verpflichtet fühlten und sich in ihr wiederfinden könnten: Das diskursiv Unausdrückbare sucht sich hier nicht nur signifikante symbolische Ausdrucksgestalten, sondern vermittelt sich auch – subjektübergreifend – in kollektivierbaren Wahrnehmungsstilen und Haltungen gegenüber der Welt.

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Abbildung 4: Unterschiedliche Perspektiven des Ryônan-ji; eigene Aufnahme

Abbildung 5: Unterschiedliche Perspektiven des Ryônan-ji; eigene Aufnahme

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Abbildung 6: Unterschiedliche Perspektiven des Ryônan-ji; eigene Aufnahme

3.  Durch meine bisherige Argumentation mag sich allmählich der Eindruck verfestigt haben, es gehe mir in erster Linie darum, eine spezifische, kulturell geprägte, durch den Zen-Buddhismus maßgeblich beeinflusste, ‚japanische‘ Form der Wahrnehmung und der mit ihr verbundenen Kosmologie zu rekonstruieren – oder sollte ich, vorsichtiger formulierend, sagen zu entwerfen? Sollte dieser Eindruck entstanden sein, so gilt es nun, ihn zu korrigieren: Festzuhalten ist bisher, dass – aus phänomenologischer Sicht – ein Teil der in den Zen-buddhistischen Traditionen verankerten, weitgehend sprachfreien Wahrnehmungsschulung sich allgemeine, primordial verfasste Appräsentationsvorgänge nutzbar macht, um eine außeralltägliche, im weitesten Sinne ‚ästhetische‘ Bewusstseinsspannung und eine mit ihr verbundene Haltung zu ermöglichen. Wie diese Traditionen aufgegriffen und zugleich so perspektiviert werden können, dass die übergreifende Maxime einer Ästhetik im Zeichen des ‚kategorischen Konjunktivs‘ als solche konkret umgesetzt wird, versuche ich im Folgenden an einem Ausschnitt der photographischen Kunstlehre Hiroshi Sugimotos zu zeigen. Es ist kein Zufall, dass diese Kunstlehre von einem Japaner, 1948 in Tokyo geboren, aber seit langem ‚im Westen‘, vor allem in den USA (New York, Los Angeles) lebend, entwickelt wurde. Wie er selbst schildert, hat er eine ‚synkretistische‘ Sozialisation hinter sich gebracht: protestantischer Kindergarten, episkopale Grundschule, christliche Universität (Rikkyo Universität), dort als Intellektueller „mit

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dem Marxismus und Existentialismus getauft“11 aber dennoch immer eingebettet in die buddhistische Tradition Japans (Theater, Literatur, Papierschneidekunst, Raguko-Klassiker) – mit der Folge, dass sein „junges Bewusstsein West und Ost [immer wieder] durcheinander“12 brachte. Der implizite Einfluss sowohl der japanischen Naturreligion (Shintō) als auch Zen-buddhistischer Reflexion wird gut an einer autobiographischen Episode erkennbar. In ihr schildert Sugimoto, wie er sich während einer „inneren FrageAntwort-Sitzung“ (!) fragt, ob „jemand heute einen Schauplatz genauso sehen [könne], wie ein urzeitlicher Mensch ihn gesehen haben mag“13. Da der Fragende weiß, dass selbst der Fuji-San und seine Umgebung vor „hunderttausend oder einer Million Jahren völlig anders ausgesehen“ haben könnte, hält er sich bei der Antwort an einen Schauplatz, der sich mutmaßlich nicht geändert hat: „Obwohl das Land ständig seine Form ändert, ist das Meer unveränderlich, dachte ich. So begannen meine Reisen zurück durch die Zeit zu den antiken Meeren der Welt“14. Es folgt eine Serie von großformatigen „Seascapes“ (1980-2003) (Abb. 7–8).15

Abbildung 7: Hiroshi Sugimoto „Lake Superior. Cascade River“, 1995, Silbergelatine 119,4 × 149,2 cm 11 Sugimoto, Hiroshi: „Meine Jugendzeit. Bilder der Erinnerung“, in: Ders., Katalog anlässlich der Ausstellung ‚Hiroshi Sugimoto‘, K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfahlen, Düsseldorf, 14. Juli 2007-6. Januar 2008, Ostfildern 2007, S. 11-19, hier S. 19. 12 A.a.O., S. 13. 13 H. Sugimoto: Katalog, S. 102. 14 A.a.O., S. 109. 15 Abb. 7: „Lake Superior. Cascade River“, 1995, Silbergelatine 119,4 × 149,2 cm; Abb. 8: „Lake Superior. Cascade River“, 1995, Silbergelatine 119,4 × 149,2 cm. Bei beiden

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Abbildung 8: Hiroshi Sugimoto „Lake Superior. Cascade River“, 1995, Silbergelatine 119,4 × 149,2 cm. Bei beiden Aufnahmen handelt es sich nicht um ‚Meeresbilder‘, sondern um Bilder eines Sees

Bei allen Aufnahmen – sie sind grundsätzlich in der Abtönung Schwarz/Grau (Weiß) gehalten – achtet Sugimoto darauf, dass durch die Positionierung der Kamera und die Einstellung der Blende weder das Ufer noch die Brandung sichtbar werden können. Sichtbar dagegen ist meist der Horizont – entweder als scharfe Grenzlinie zwischen Himmel und Meer oder als erahnbare ‚Schattenlinie‘ (ich erinnere an Joseph Conrads Erzählung ‚The Shadow Line‘, dt. ‚Schattenlinie‘). Da die Aufnahmen in immer gleicher Größe als Serie konzipiert sind und in den Ausstellungen ‚seriell‘ präsentiert werden, ‚spielt‘ die Bildanordnung auch mit solchen ‚Seascapes‘ in denen der Horizont vollständig zu verschwimmen scheint: Wir appräsentieren ihn – wegen der seriellen Suggestion – dennoch. Der Horizont als – ‚Halt des Auges‘ – ist selbst, wie wir wissen, beweglich: Er steht in Relation zu unserem Standort sowie unserer Bewegung in Raum und Zeit; er reizt unsere Einbildungskraft mit etwas, das ‚hinter ihm‘ liegen könnte. Gemeinsam mit den Grautönen, ihrer dualen Monochromie (oder Duochromie) und der Suggestion des leeren Raumes spannen die ‚Seascapes‘ einen nahezu unendlichen Appräsentations- und Verweisungszusammenhang für jene Betrachter auf, die sich durch die ‚Scapes‘ in die ästhetische ‚Bewusstseinsspannung‘ offener Appräsentationen ‚steuern‘ lassen.

Aufnahmen handelt es sich nicht um ‚Meeresbilder‘, sondern um Bilder eines Sees. Wir appräsentieren wiederum – hier seriell – gesteuert ‚das‘ Meer.

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Darin öffnen sich nicht nur die Räume, sondern auch die Zeit. Schon der Einsatz eines ‚modernen‘ Mediums, der Photographie, im Dienst der Mediation zwischen ‚alter Naturreligion‘ und dem „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Walter Benjamin) verweist darauf, dass Sugimoto sein Werk bewusst auch als Wahrnehmungsschulung begreift. Wer diese Schulung durchläuft, kann erfahren, dass ein Wahrnehmen in der ästhetischen Bewusstseinsspannung jeden ‚Gegenstand‘ tatsächlich immer auch so ‚erfahren‘ kann, dass uns „ein ursprüngliches Erleben eines Kontrastes […] zwischen dem schlichten Akt der Empfindung sinnlich-stofflicher Daten und dem Akt eines in gewisser Weise unstofflichen Verstehens“16 zuteil wird. Die Irritation der Wahrnehmung durch den im Wahrnehmen dynamisierten Kontrast zwischen den – in unserer ‚Innenwelt‘ – bebilderten Äppräsentationen, die im wahrnehmbaren ‚Gegenstand‘ selbst unsichtbar bleiben, einerseits und dem materialisierten Bild anderseits schult uns ein in das meditativ reflexive Gewahrwerden der ‚Arbeitsweise‘ unserer Wahrnehmungen.

3.  F OTOGRAFISCHER RAUM – FOTOGRAFISCHE RÄUME „Im späten Frühjahr 1982 sah ich von einer Klippe in Neufundland aus einen wunderschönen Sonnenuntergang, gleichzeitig ging im Osten der Vollmond auf. Und so, wie ich dort in der frischen Luft stand, kam ich mir vor wie eine Gestalt auf einem Gemälde Caspar David Friedrichs. Zum ersten Mail seit vielen Jahren hatte ich das Gefühl, ich würde meinen Körper verlassen. Ich schwebte hoch über der Erde und betrachtete den Mond über dem Meer, während ein anderes Ich – ein Pünktchen – gebannt auf dem Erdboden stand.“17 Immer wieder zeigt Caspar David Friedrich auf seinen Gemälden ‚Gestalten‘ – meist als Silhouetten – die der Natur, vor allem dem Meer, als ‚Betrachter‘ gegenüberstehen. Wir sehen, welchen Standpunkt sie für ihre Betrachtung gewählt haben und wie sie der Maler positioniert. Vor allem aber zeigt er uns, ohne uns das ‚Gesicht‘ seiner Gestalten sehen zu lassen, was und wie sie sehen. Der Maler verdoppelt den Standpunkt dessen, der das Gemälde betrachtet: Dieser tritt aus 16 Plessner, Helmuth: Über die Möglichkeit einer Ästhetik, in: Ders., Gesammelte Schriften VII., Frankfurt a.M. 1982 (1925), S. 51–57, hier S. 54. 17 Sugimoto, Hiroshi: Revolution. Katalog, Museum Brandhorst (Hg.), München/Ostfildern 2012, S. 38. Der Versuchung, dieses Selbstzeugnis Sugimotos zu interpretieren, statt den durch Bildsequenzen angeregten Appräsentationsmetamorphosen weiter zu folgen (s.o.) habe ich nur mit Mühe widerstanden.

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Abbildung 9: Caspar David Friedrich: „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ 1818, Öl auf Leinwand, 90 x 70 cm Kunsthalle Hamburg

Abbildung 10: Caspar David Friedrich „Kreidefelsen auf Rügen“ 1818/1819, Öl auf Leinwand. 90,5 x 71 cm Stiftung Oskar Reinhart, Winterthur

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Abbildung 11: Caspar David Friedrich „Mondaufgang am Meer (Sonnenuntergang über dem Meer)“ Um 1835, Pinsel in Braun, Bleistift, schwarz umrandet auf Velin 25,6 x 38,5 cm. Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett

sich heraus, sieht die (im Bild) die Natur/das Meer betrachtenden Gestalten und zugleich mit ihnen. In diesem irritierten Raumarrangement verliert er den eigenen ‚festen‘ Standpunkt. Die Wahrnehmungen sowohl des bildinternen als auch des bildexternen Betrachters werden perspektivisch erweitert durch einen Mitwahrnehmenden. So entsteht für den Bildbetrachter die Empfindung, er habe den eigenen Körper verlassen und könne in dieser Ortlosigkeit mithilfe seines Doppelgängers sich und seine Wahrnehmungsräume vervielfältigen. Damit geraten auch die Horizontlinien in Bewegung. Offensichtlich ist Sugimoto mit dem Werk Caspar David Friedrichs so eng vertraut, dass sich in seinen Bilderinnerungen mehrere Gemälde miteinander verbinden und einander überlagern. Die Interferenzen zwischen (1) dem Raum des Bildbetrachters, (2) dem Bildraum und (3) dem abgebildeten Raum, die damit verbundene Perspektivenbrechung und Perspektivenerweiterung, vor allem aber die sich hieraus eröffnende Möglichkeit, in ästhetischer Einstellung und Bewusstseinsspannung in die Räume und Bildwelten von ‚multiple realities‘ (William James) einzutreten, haben ihn und seine Bildwahrnehmung, wie das Zitat zeigt, nachhaltig beeinflusst. Aber sowohl für Sugimotos als auch für unsere eigenen Verweisungs- und Appräsentationshorizonte ist durch den Verbund der miteinander konkurrierenden und der zugleich einander zitierenden Medien – anders als in der Zeit Caspar David Friedrichs – eine Situation eingetreten, in der die schiere Menge neuer Wahrnehmungsgegenstände und Eindrücke das ‚Was‘ der Wahrnehmungen, die Reflexion über das ‚Wie‘ des Wahrnehmens in den Hintergrund zu drängen scheint.

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Wieder entsteht zugleich auch die Faszination an der Produktion immer neuer Bilder durch die Struktur und Möglichkeiten einer freigesetzten Ästhetik: im Vorerinnern, Miterinnern und Mitvergegenwärtigen von Wahrnehmungsoptionen und Gestaltungsvariationen, die wir in einer langen Kette vorangegangener Bildbetrachtungen entwickelt haben. Schon bei Caspar David Friedrich ist die Faszination erkennbar, die von der Wahrnehmung und Gestaltung des Horizontes ausgeht. Er ist das als unbeweglich erscheinende Bewegliche. Er verschiebt sich mit unserer Bewegung. Wir verschieben ihn, wenn wir uns bewegen. Er ist die Grenze, die wir uns selbst durch unser Sehen und unsere Wahrnehmung setzen. Er umschließt uns, weil wir uns in ihm einschließen. Für unsere Weltwahrnehmung ist er eine ständige Herausforderung: Wir wissen, dass er uns täuscht, weil wir uns in ihm täuschen. Er verbirgt nicht nur, was hinter ihm liegt, sondern auch – im ‚modernen Weltbild‘ – dass er sich doppelt krümmt. Die sichtbare, gerade Linie des Meereshorizontes ist Teil eines Kreises und der Weg von unserem Standpunkt zum Horizont ist ebenso gekrümmt wie der Weg über die Horizontlinie hinaus. So schickt uns der Horizont auf reale und imaginäre Entdeckungsreisen, weil wir wissen, dass er uns etwas verbirgt und weil wir wissen wollen, was er verbirgt. Seine Verhüllungsstruktur macht ihn zum ebenso beständigen wie verführerischen Appräsentationsprovokateur. Auf eben dieser unwiderstehlichen Widerständigkeit beruht sein ästhetischer Reiz.

Abbildung 1218: Gustave le Gray, Brigg im Mondschein, Brigg in the moonlight, 1856. Albumen print from collodium – on glass negative, 32 x 42 cm, Musée d’ Orsay, Paris 18 A.a.O. Gustave le Gray war nicht nur professioneller Photograph, sondern verbesserte auch das von William Fox Talbot erfundene Negativ-Positiv-Verfahren durch den Einsatz von Collodium: ein zusätzlicher Anreiz für den Photographie-Historiker Sugimoto.

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Unverkennbar nimmt Le Gray, Zeitgenosse Caspar David Friedrichs, mit dem neuen Medium Photographie die Sehgewohnheiten (romantischer) Malerei auf: Wolken-, Licht-, See-Himmel-Kontraste, überwältigende räumliche Dehnung der ‚Natur‘ und Miniaturisierung menschlicher Technik. Zugleich ersetzt er den bildinternen Betrachter Caspar David Friedrichs durch das ‚Objektiv‘, durch die Perspektive des ‚einäugigen‘ Sehens der Kamera, das seinerseits vom räumlichen Sehen des menschlichen Betrachters korrigiert werden muss. Dieser wiederum ist ‚bildintern‘, jenseits seines realen, bildexternen Standortes, standortlos – es sei denn, er imaginiere sich als jemand, der über das Meer geht oder fliegt. Kurz, es ist nicht rekonstruierbar, wo der Photograph positioniert war.

Abbildung 1319 (li.): Gerhard Richter, Seestück, 1970 Oil on Canvas. 200 x 200 cm, Staatliches Museum zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie Berlin Abbildung 14 (re.): Gerhard Richter, Seestücke (Foto-Collagen). 1970. Aus Gerhard Richter, Atlas. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

Diese ‚bildinterne Standortlosigkeit‘ des Betrachters nimmt Gerhard Richter in seinen Seestücken wieder auf, ergänzt sie aber nicht nur um ein Spiel mit den unterschiedlichen, einander zitierenden Medien Malerei und Photographie, sondern auch dadurch, dass er das Täuschungspotenzial des Horizontes gezielt nutzt. Der von der See getrennte Himmel besteht ‚vordergründig‘ aus nichts anderem als aus der an den Himmel projizierten See. Als Betrachter befinden wir uns zwischen zwei Meeren – einem über uns und einem unter uns. Damit verweisen die Seestücke – hintergründig – auf ein mythisches Appräsentationspotenzial: auf den Mythos von der Flucht des Volkes Israel durch das Rote Meer. Zugleich variieren sie den Mythos, indem sie dessen die horizontale Teilung des sich nach zwei Seiten 19 A.a.O., S. 37.

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öffnenden Meeres in eine vertikale Spiegelung transformieren und den Betrachter in eine Luftschicht zwischen zwei Meere versetzen. Das sich unter einem unantastbaren, kosmischen Himmel teilende Meer des Mythos verheißt Befreiung. Das Verschwinden des kosmischen Himmels und das Eingesperrt-Sein in einen Luftkorridor zwischen zwei Meeren, von denen eines die Projektion des ‚irdischen‘ Meeres an den Himmel repräsentiert, verweist dagegen sowohl auf den Verlust einer ‚außerweltlichen‘ Transzendenz als auch auf das Eingeschlossen-Sein in eine ausweglose, sich lediglich selbst widerspiegelnde Immanenz.

4.  DER UTOPISCHE STANDORT DER HERMENEUTIK Sugimotos Kunstlehre der photographischen Wahrnehmung und Imagination verdanken sich dem Wahrnehmungshorizont des Kultur-, Narrationen-, Wissens- und Technikaustausches der pluralistisch verfassten Welt des zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts: einer Welt der ‚multiple modernities and globalizations‘.20 In dieser Welt ‚verschränken‘21 sich Weltanschauungen, Religionen, Wertvorstellungen, Traditionen, nationale oder ‚ethnische‘ Herkunft nicht nur innerhalb einer Gesellschaft oder eines Gemeinwesens, sondern auch innerhalb eines Individuums. Sugimoto, steht exemplarisch für eine solche Kulturverschränkung. Diese revolutionierte nicht nur die Raum- und Zeitimaginationen Sugimotos (s.o.), sondern fügte sie auch ein in einen dynamischen Prozess symbolischer Formung. Während sich zeitliche Zuordnung und räumliche Perspektivierung zugunsten eines utopischen Standortes, des Schwebens im ‚kategorischen Konjunktiv‘, auflösen, setzt als Gegenbewegung das Bemühen ein, den internen Regeln der scheinbar ungesteuerten und zufälligen Metamorphosenbildung in ästhetischer Einstellung so auf die Spur zu kommen, wie die Naturwissenschaften dies mit Hilfe von Quantenphysik, Relativitätstheorie und mehrwertigen Logiken gegenüber der ‚randlosen Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit‘ eines expandierenden Universums versuchen.

20 Vgl. Soeffner, Hans-Georg: „Fragiler Pluralismus“, in: Ders./Thea D. Boldt (Hg.), Fragiler Pluralismus, Wiesbaden 2014, S. 207-224. 21 Vgl. Berger, Peter L./Huntington, Samuel (Hg.): Many Globalizations. Cultural Diversity in the Contemporary World, Oxford 2002.

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Abbildung 1522: Hiroshi Sugimoto: Time Exposed. Adriatic Sea, 1990 bis heute. Silbergelatineabzug 67 x 85 cm

Die Abbildung demonstriert für den, der sie in seinem jeweiligen Hier und Jetzt wahrnimmt, ein Standbild des fortschreitenden Selbstzersetzungsprozesses einer Photographie. Durch den Untertitel der Abbildung schlägt Sugimoto dem Betrachter vor, sie als Teil der ‚Seascape‘-Serie, also als ursprüngliches SchwarzWeiß-Photo zu verstehen. Weil es musealen (oder anderen) Schutzräumen entzogen und stattdessen – seit 1990 – Licht- und Temperaturschwankungen, Trockenheit, Feuchtigkeit und Luftverschmutzung ausgesetzt wurde, inszeniert es die Selbstauflösung in variablen Umgestaltungsmetamorphosen, die es – nun autopoietisch – ‚ins Bild setzt‘. Dabei transformiert der photochemisch unterstützte Zerfallsprozess das Schwarz-Weiß-Photo in ein Farbbild und die ursprünglich glatte Bildoberfläche in ein Relief, das Photographie und Passepartout zu einem neuen Gesamtbild komponiert. Während einerseits das ungeschützte, ‚exponierte‘ Original weiterhin einem verhältnismäßig progressivem Verfall ausgeliefert wird, ‚rettet‘ Sugimoto andererseits ein Standbild des Verfalls, indem er es zum Frontispiz seines bisher umfangreichsten Katalogs befördert. Sicherlich, auch dieser Katalog wird ‚mit der Zeit‘ vergehen, aber zunächst entsteht ein Dorian-Gray-Effekt: die doppelte Spiegelung des Verfalls – ‚Seascape‘-Struktur, Standbild auf der einen – fortschreitender, sichtbarer Verfall auf der anderen Seite. Die in einem solchen reflexiven Rezeptionsprozess erzeugte, wechselseitige Irritation der unterschiedlichen Wahrnehmungs-, Interpretations- und Dekonstruktionsdimensionen prägt jedoch Sugimotos künstlerisches Gestaltungsprinzip 22 H. Sugimoto: Katalog, Frontispiz.

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nicht nur, sondern sie fordert dieses auch heraus. Denn eine lediglich sich selbst richtungslos fortspinnende Dauerirritation ließe jeden Gestaltungswillen ins Leere laufen. Damit stünde die „fotochemische Ruine“23 der Frontispiz-Abbildung tatsächlich sowohl für den Prozess der allmählichen, in völliger Auflösung endenden „Zersetzung“ des Bildes, als auch für das Scheitern aller hermeneutischen Interpretationsversuche und kulturellen Codes gegenüber dieser sinnbildlichen – und damit paradoxal vorgeführten – totalen Selbstdekonstruktion. Nicht zuletzt wegen Hans Ulrich Gumbrechts ebenso gescheiter wie suggestiver Argumentation24 wird gegenwärtig immer dann gerne vom ‚Scheitern der Hermeneutik‘ gesprochen, wenn man auf scheinbar unmittelbar – ‚präsentisch‘ – Gegebenes stößt, das sich angeblich jeder Zeichenhaftigkeit oder Verweisstruktur entzieht. Eine solche Argumentation ist weder neu noch so schlüssig, wie es auf den ersten Blick scheint. Auch hier gilt die Einsicht, dass die Kenntnis – auch ‚älterer‘ – Grundlagentheorien vor der unentwegten Entdeckung völlig neuer Einsichten schützt. So verweist bereits Henri Bergson darauf, dass jede sinnlich präsentische Wahrnehmung nicht in reiner Unmittelbarkeit aufgeht, sondern immer auch ‚produktiv‘ unterschiedliche, ‚primordiale’ Wahrnehmungsmodi miteinander verknüpft: Innerhalb einer scheinbar unmittelbaren Wahrnehmung ist „der Bestand an wirklicher, sozusagen momentaner Anschauung […] sehr klein im Vergleich zu dem, was unser Gedächtnis [sogleich] hinzufügt […]. Wahrnehmung und Erinnerung durchdringen sich fortwährend.“ Wer diese primordialen Prozesse nicht berücksichtige – so Bergson – „verzichte[t] darauf, die Phänomene des Wiedererkennens und den Mechanismus des Unbewussten überhaupt zu verstehen.“25 Kurz, eine rein präsentische Wahrnehmung ist nicht so rein präsentisch, wie sie uns erscheint. Genau dies zeigen Sugimotos Irritationsexperimente. Sie verweisen daher nicht auf ein Scheitern der Hermeneutik, sondern auf deren Ursprung: auf das ‚anthropologische Grundgesetz‘ der „vermittelten Unmittelbarkeit“.26 Unsere von Erinnerungen durchsetzten Wahrnehmungen fügen den Augenblick, die scheinbar unmittelbar gegebene, momentane Anschauung, nicht nur ein in den Bewusstseinsstrom und das Erleben unterschiedlicher Zeitdimensionen, sondern auch in jene Prozesse, durch die unsere Erinnerungen sinnliche Gestalt gewinnen: in die 23 Tamm, Pia: „Double Infinity. Über Anfang und Ende in Sugimotos neuesten Werken“, in: Hiroshi Sugimoto (Hg.), Katalog, Ostfildern 2007, S.33-43, hier S. 34. 24 Gumbrecht, Hans U.: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004. 25 Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1982, S. 54. 26 H. Plessner: Die Stufen des Organischen, S. 321ff.

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symbolische Formung der Bilder und Eindrücke unserer Erscheinungswelten. In ihr finden sowohl die scheinbar ungesteuerten, richtungslosen und zufälligen Metamorphosenbildungen als auch unsere Existenz in den Raum-Zeit-Mannigfaltigkeiten menschlichen Lebens einen Halt: durch die symbolische Formung sinnhafter Inseln innerhalb der ‚sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens‘27 und der zweifelhaften Logiken konkurrierender Kosmologien. Im Jahr 2008 publiziert Sugimoto (in zweiter, erweiterter Auflage) eine Bildsammlung mit dem Titel „History of History“. Armin Zweite weist in einem beeindruckenden Essay darauf hin, dass bereits der Schutzumschlag der Publikation – eine Collage – Elemente einer Geschichte der Photographie, verbunden mit japanischer Malerei des 13. Jahrhunderts und kleinen Medaillons von historischen Gestalten des 19. und 20. Jahrhunderts zeigt. Neben Politikern sieht man auf diesen Medaillons als einzigen Künstler Marcel Duchamp – jenen außergewöhnlichen Wahrnehmungs- und Gestaltungsirritator, dem sich Sugimoto besonders eng verbunden fühlt.28 Die ‚Geschichte der Geschichte‘ wird bewusst als Collage komponiert und in Bildgeschichten erzählt – als ,history of many histories‘ und als Arbeit an Mythen und Symbolen.29 Oberhalb all der bisher genannten Bildelemente – und sie überhöhend – findet sich das kleinste, zugleich aber äußerst verdichtete Bauelement der Collage. Tatsächlich hat das oberste der kranzförmig, leicht elliptisch angeordneten Ornamente des Reliquiars die Form einer geschwungenen Pfeilspitze: Der Richtungspfeil des sich von einem schwarzen Hintergrund abhebenden Reliquiars weist in einem leeren Raum nach oben. Das ‚Seascape‘, 1980, ist so in das Reliquiar eingepasst, dass der Eindruck entsteht, das Reliquiar aus dem 13. Jahrhundert (Kamakura-Epoche) und Sugimotos Photographie aus dem 20. Jahrhundert bildeten gemeinsam die Miniatur eines Altars, wobei der nach oben weisende Strahlenkranz des Reliquiars aus einem horizontal angeordneten Kranz von Lotosblütenblättern und aus dem angedeuteten Fruchtstand der Blume herauswächst.

27 Weber, Max: „Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, in: Johannes Winkelmann (Hg.), Gesammelte Aufsätze zur Wissensschaftslehre, Tübingen 1973, S. 180; Zweite, Armin: „Fotografie, um Fotografie zu verlassen“, in: Museum Brandhorst (Hg.), Hiroshi Sugimoto. Revolution, Katalog, Münschen/Ostfildern 2012, S. 12-41, hier S. 25. 28 A.a.O. 29 Unter diesem Blickwinkel lassen sich Sugimotos Bild- und Geschichtsnarration lesen in Analogie zu Hans Blumenberg (Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979).

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Abbildung 1630: Hiroshi Sugimoto, Time’s Arrow, 1987 Seascape, 1980/reliquiary fragment, 13th century, Gelatin silver print, gilt bronze, height 8,4 cm

Wie schon in der altägyptischen Religion und Kunst so gilt auch bis heute im Buddhismus und Hinduismus die Lotusblume als Keimzelle der aus Urwassern hervorgegangenen Schöpfung. Dabei steht die weiße Blüte der sich aus schlammigen Gewässern speisenden Pflanze für den Triumph des reinen, ‚erhabenen‘ Geistes über die Täuschungen und Verführungen der Sinnenwelt. Dementsprechend dient der Blütenkranz der Blume bei unzähligen Skulpturen und Bildern als Podest für Götter und Bodhisattvas. Bei Sugimoto wird der Lotus-Blütenkranz beides – Podest und Mandala/Aura – der auf den Schwarz-Weiß-Kontrast reduzierten, photographischen Abbildung eines dunklen Meeres und eines leeren Himmels: Raum für Bilder des im Bild Unsichtbaren, überhöht durch die Aura eines Strahlenkranzes. Dessen Strahlen speisen sich aus alten Mythen und Mythologien, die ihrerseits wiederum auf wenige, aber zentrale symbolische Grundelemente reduziert sind. Gerade aus dieser Reduktion des Symbolischen auf seine ‚reine‘ Verweisungs- und Appellstruktur entsteht dessen Wirkung: Es geht auch darum, neu sehen zu lernen, statt immer neue Bilder zu suchen.

30 H. Sugimoto: Revolution, S. 27.

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Time’s Arrow ist eine streng und sparsam komponierte, symbolische Form, deren Verweise, Appelle und Richtungsangabe innerhalb eines leeren Raumes formuliert werden. Sie ist der Versuch, dem utopischen Standort, dem Stehen im Nirgendwo, einen Halt zu geben – in den sich durch Raum und Zeit bewegenden Imaginationen und Konstruktionen sinnhafter Inseln. Dieser kulturstiftende Versuch basiert auf der Urform des hermeneutischen Zirkels: Der Sinn der Imagination besteht in der Imagination von Sinn.

III. Kunstpraxis in der Region

Kunstvermittlung in Mecklenburg-Vorpommern Ein Bericht aus der Praxis Susanne Burmester

1.  EIN ÜBERBLICK ÜBER DIE AUSGANGSSITUATION Die Kunstvermittlung in Mecklenburg-Vorpommern ist mit anderen Aufgaben und Schwierigkeiten konfrontiert, als die in Metropolen oder auch im Westen der Bundesrepublik. Galerien, Kunstvereine und Museen können dort in der Regel mit einem sachkundigen Publikum rechnen, das auch mit ungewohnten Positionen und Medien vertraut ist. In Westdeutschland wurde die Tradition der bürgerlichen Kunstvereine, die im 19. Jahrhundert entstanden sind, nach 1945 wiederbelebt. Diese sind heute, auch in der Provinz, vielfach sehr aktiv. Indem sie zeitgenössische Kunst über soziale Aktivitäten an das Publikum vermitteln, machen sie dieses zu „Kennern“. Im Osten der Republik waren Kunstvereine als bürgerliche Privatvereinigung nicht erlaubt. Die Galerien des Kulturbundes haben diesen Mangel zum Teil ausgeglichen, waren aber in ihrer Ausstellungsarbeit durch staatliche Verordnung beschränkt. Begrenzten Freiraum stellten allein die Künstlervereinigungen dar, wie die Erfurter Ateliergemeinschaft in den 1960er Jahren, später die CLARA MOSCH in Chemnitz mit der „Galerie oben“ und wenige andere alternative Kunstorte, wie Ateliers und Wohnzimmergalerien. Trotz des großen Engagements von Einzelpersonen gab es in öffentlichen Ausstellungen wenige Möglichkeiten, die internationale Entwicklung der Kunst nachzuvollziehen. Nach dem zweiten Weltkrieg hatte die staatlich gelenkte Kunst der DDR sich weiterhin am Menschenbild orientiert. Während die Kunst im Westen weitestgehend entweder an die Moderne vor 1930 angeknüpfte oder sich informellen und konzeptuellen Kunstrichtungen zugewandt hat, wurde in der offiziellen Kunst der DDR formal die Bildsprache der NS-Zeit fortgeführt. Es gab Bilder- und Denkverbote und im Ergebnis verlor die Kunstszene auf der Ebene der Produzenten

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wie der Rezipienten den Anschluss an die internationale Entwicklung. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Erst jetzt beginnt eine differenzierte Aufarbeitung alternativer Kunstpraktiken sowie die Forderung nach einer ideologiefreien Neubetrachtung ostdeutscher Kunst. Diese wird ein anderes und genaueres Bild der Kunst im Osten Deutschlands liefern und viele spannende Künstlerinnen und Künstler neu ins Bewusstsein rücken. Handwerkliche Qualität, gelungene Figuration und andere „nachprüfbare“ Fakten prägten und prägen jedoch bis heute den allgemeinen Kunstbegriff. Die Erkenntnis, dass Kunst seit dem Wirken von Marcel Duchamp, nicht mehr von „Können“ hergeleitet werden kann, hat sich vielfach noch nicht durchgesetzt. Auch die Vervielfältigung der künstlerischen Medien und Materialien war nicht Teil der Kunstauffassung geworden. Die Krise des Autors, feministisches Denken, die Ideen zur Dekonstruktion und viele andere theoretische Ansätze, die für die Entwicklung der Kunst nach 1960 im Westen wichtig waren, waren lange unbekannt.

2.  K UNSTVERMITTLUNG NACH 1990 AUF DER INSEL RÜGEN Da Mecklenburg-Vorpommern auch ein Rückzugsgebiet für Menschen war, die Staatsferne und ein alternatives Leben suchten, entstanden hier, wie anderswo im östlichen Hinterland, verhältnismäßig viele alternative Projekte im geschützten Raum der ‚Nische‘. Auch auf Rügen gab es schon vor der Wende eine mutige und engagierte Szene. Das „Künstlerische Ausstellungszentrum der Insel Rügen“ in der Orangerie Putbus und Galerien des Kulturbundes haben die Kunstvermittlung vor 1990 aktiv betrieben und mutig versucht, die Grenzen des politisch Möglichen zu erweitern. 1993 gründete sich der „Erste Rügensche Kunstverein“, der sich später in „Kunstverein Rügen“ umbenannte. Kunstauktionen unter dem Titel „Kunst & Kuriosa“ dienten nicht nur kommerziellen Zwecken, sondern waren auch in den 1990er Jahren wichtige Foren, auf denen sich Kunstinteressierte aus Ost und West trafen. Nebenbei ergab sich dabei ein praktischer Umgang mit Kunst, der Kennerschaft herausgebildet und Prozesse der Meinungsbildung über Kunst gefördert hat. Die Tatsache, dass die Insel Rügen mit ihren Ostseebädern ein begehrtes Reiseziel war, unterstützte den Austausch zwischen Ost und West und brachte auch eine Erweiterung des künstlerischen Sachverstandes auf beiden Seiten mit sich. Die besonderen Herausforderungen der Kunstvermittlung auf Rügen bestehen vor allem in drei Aspekten. Die Entwicklungen der zeitgenössischen Kunst im 20. Jahrhundert kommen im Bildungshorizont besonders der älteren Generation kaum vor. Zudem überkreuzen sich im öffentlichen Raum der Galerie unterschiedliche

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Interessen. Die Sehnsucht der Feriengäste nach einem authentischen Erlebnis muss mit dem Wunsch der einheimischen Bevölkerung nach kulturell vermitteltem sozialem Austausch in Einklang gebracht werden. Ein historisch bedingter Anspruch, das künstlerische Erbe der DDR-Zeit zu bewahren und sichtbar zu machen, ist mit einem Kunstbetrieb konfrontiert, der dies latent als minderwertig negiert. Im symbolischen Raum von öffentlichen und privaten Galerien wird auch auf Rügen um die Deutungshoheit dessen, was „gute Kunst“ sei, gerungen. Dabei wird die eigentlich richtige Praxis der konventionellen Verhandlung dieser Frage, oft entlang der Linien von Ost- und Westkunst geführt. Die großen Entfernungen im Flächenland Mecklenburg-Vorpommern behindern zudem Austausch und dynamische Fortentwicklung. Weil eine Kunstakademie fehlt und die Infrastruktur des Kunstbetriebes insgesamt zu wenige Ankerpunkte besitzt, sind die Bedingungen für einen vielschichtigen Kunstbetrieb ungünstig. Die Wirtschaftskraft des Flächenlandes hat sich zwar in den vergangenen Jahrzehnten verbessert. Doch insgesamt ist es für kommerzielle Galerien schwierig, in der Region Käufer zu finden, noch dazu für Kunst, die nicht in der gewohnten Formensprache und in den bekannten Medien auftritt. Für Kunstvereine ist es zudem fast unmöglich, Sponsoren zu binden. Bisher wurde in Mecklenburg-Vorpommern, außerhalb der Museen, kein größeres Kunstprojekt realisiert, das auch landesweite oder internationale Aufmerksamkeit erregen konnte. Die Ostsee-Biennale der DDR-Zeit, die von der damaligen Direktorin der Kunsthalle Rostock in den 1990er Jahren innovativ neu belebt wurde, war mit massiver Kritik durch die Bevölkerung konfrontiert.

3.  Z  EITGENÖSSISCHE KUNST AUF RÜGEN – PERSÖNLICHE ERFAHRUNGEN Als ich 1991 von Worpswede bei Bremen auf die Insel Rügen gezogen bin, fand ich bald Anschluss an die lokale Kunstszene, in der eine große Offenheit gegenüber neuen Ideen und Akteuren bestand. Ab 1994 war ich Vorstandsmitglied im „1. Rügenschen Kunstverein e. V.“ und ab 1999 dessen Vorsitzende. Mit Unterbrechungen leitete ich den Verein, der später Kunstverein Rügen e. V. hieß, bis 2010, zum Ende dieses Jahres hat er sich aufgelöst. Vor allem das mangelnde Interesse an den Ausstellungen, zu wenige aktive Mitglieder und deren fehlende Identifizierung mit dem Programm, führten zu seinem Ende. Im Rückblick muss auch kritisch gefragt werden, ob die Vermittlungsarbeit zu den oft ungewohnten künstlerischen Ansätzen ausreichend war. Der Verein war in den ersten Jahren nach der Wende ein Sammelbecken unterschiedlicher kultureller Aktivitäten. Neben Ausstellungen bildender Kunst wurden Auktionen, Keramikausstellungen

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und Konzerte, Kinderaktionen und Lesungen am ersten Domizil des Vereins, der Klosterkapelle Rambin, durchgeführt. Dazu wurden vorwiegend Künstlerinnen und Künstler aus dem Osten Deutschlands präsentiert. Ab 1999 konzentrierte sich der Verein auf die reine Ausstellungstätigkeit. Ziel war es, überregional relevante Positionen und Themen der zeitgenössischen Kunst unabhängig von Herkunft der Künstlerinnen und Künstler vorzustellen. Wenngleich der Kunstverein Rügen mit rund 45 Mitgliedern ein kleiner Verein war, spielte er doch in den 1990er Jahren eine wichtige Rolle im Kulturleben der Insel Rügen. Später entstanden weitere Initiativen und Vereine, die das Engagement der Kulturinteressierten neu organisierten. Wenngleich der Kunstverein Publikum abgeben musste, war diese Diversifizierung eine positive Entwicklung, sorgte sie doch dafür, dass eine bis heute vielgestaltige Kulturszene zwischen Theater, Kulturgeschichte, klassischer Musik, Literatur und Naturschutz auf Rügen entstand. Von 2006 bis 2013 führte ich eine kommerzielle Galerie in einem ehemaligen Ladengeschäft in Bergen auf Rügen. Seit 2014 arbeite ich als Geschäftsführerin im Ehrenamt für Kunstfest Rügen e. V., der den Ausstellungsort CIRCUS EINS im Kronprinzenpalais Putbus betreibt. Ebenfalls seit 2014 nutzt der Verein zusätzlich ein teilsaniertes Haus am Rondellplatz Circus und realisiert ortsspezifische Projekte in der historischen Schmiede eines Stahlbauunternehmens in Lauterbach. Durch die Zusammenarbeit mit dem subkulturellen Veranstaltungsort „La Grange“ in Bergen auf Rügen sollte ein jüngeres Publikum für die Ausstellungen angesprochen werden. Wenngleich die Bekanntheit bei der jungen Szene durch die Aktivitäten angestiegen ist, konnte diese als Publikum nur zu geringem Maße erreicht werden. Die Vermittlung zeitgenössischer Positionen stand von Beginn an großen Schwierigkeiten gegenüber. Fehlende Vorbildung, auch der veraltete Kunst- und Kulturbegriff, gepaart mit der üblichen Resilienz der Provinz und wachsenden Verlustängsten, machten es nahezu unmöglich, die Menschen für Kunst zu begeistern, die sie nicht verstanden. Die spezifische Qualität von bildender Kunst, zu zeigen, was es noch nicht gibt, aufzugreifen, was unverständlich bleibt, ins Ungefähre zu weisen und Fragen zu erörtern, die vielleicht noch gar nicht gestellt worden waren – all dies macht vielen Menschen Angst. Die fehlende Neugierde auf Kunst von Künstlerinnen und Künstlern, die nicht-gegenständlich, medial oder konzeptuell arbeiten, hat nicht nur mit dem Nachwirken des DDR-Kulturbegriffs zu tun, sondern auch mit der allgemeinen Furcht vor einer ungewissen Zukunft, die sich – nicht grundlos – zunehmend nach 1990 auch auf Rügen ausbreitete. Im Zentrum des Kunstunterrichts an Schulen und Jugendkunstschulen stand häufig das Erlernen eines Handwerks oder einer Technik, statt konzeptuelles und experimentelles Denken zu vermitteln, hier zeichnet sich jedoch in letzter Zeit ein Umdenken ab.

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4.  B EDINGUNGEN DES „KUNSTBETRIEBS“ IN MECKLENBURG-VORPOMMERN Grundlage jeder erfolgreichen Arbeit im Feld Kunst ist ein solide und vielseitig aufgestellter „Kunstbetrieb“. Am Beginn steht die Kunstakademie, die nicht nur ausbildet, sondern auch erste Ausstellungsmöglichkeiten bietet und an der die Studierenden sich zu selbst organisierten Auftritten in so genannten „Off-Räumen“ zusammenfinden können. Weiterhin sind es die Kunstvereine, die noch unbekannte Künstlerinnen und Künstler in ihrem Programm vorstellen und durch Kataloge und Projekte fördern. Professionelle Galerien vertreten einen Künstlerstamm, stellen aber auch externe Positionen vor, die sich der Programmatik zuordnen lassen. Museen schließlich sammeln im Idealfall die Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die sich international etabliert haben und organisieren Retrospektiven und thematische Gruppenschauen. Insgesamt entsteht ein Netzwerk unterschiedlicher Kunstvermittler, ergänzt durch subkulturelle Off-Räume, Künstlerhäuser, private Sammlungen, freie Kuratoren und öffentliche und private Kunst- und Förderprogramme. In Mecklenburg-Vorpommern wird dieser Kunstbetrieb von wenigen Institutionen und Einzelpersonen getragen. Das Fehlen einer Kunstakademie hat massive Auswirkungen für die Kunstvermittlung. Obwohl das Caspar-David-Friedrich-Institut der Universität Greifswald auch den Studiengang „Bildende Kunst“ anbietet und die Hochschule Wismar in verschiedenen Studiengängen freies Arbeiten ermutigt, fehlt dem Land die Strahlkraft einer Kunsthochschule. Denn dazu gehören auch die Professorinnen und Professoren, die Teil der Kunstszene sind sowie Projekte, die von diesem Ort ausgehen. Die oben genannten Institutionen arbeiten sehr engagiert daran, den Mangel auszugleichen. Sie stärken die Nachwuchskunstszene und verankern diese im öffentlichen Bewusstsein. Auch werden einige Künstlerinnen und Künstler, die dort studiert haben, von Galerien im Bundesland vertreten. Hochschulen und Akademien sind nicht nur für die praktische und theoretische Ausbildung der Studierenden bedeutsam. Dort werden auch sekundäre Fähigkeiten vermittelt, wie die Chance das eigene Handeln in der Auseinandersetzung mit Kommilitonen und Professoren prüfen zu können, Kritikfähigkeit zu erlangen und die Härte des Kunstbetriebs im geschützten Raum erproben zu können. Ausstellungen sind unabdingbar, um eine Außenperspektive auf das eigene Werk zu erhalten und es kritisch im Licht der Öffentlichkeit zu betrachten.

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5.  ÜBERSCHAUBARES ARBEITSFELD DER AKTEURE Insgesamt gibt es in Mecklenburg-Vorpommern zu wenige Galerien und Kunstvereine, um die Absolventen ausreichend fördern zu können. Im Verband der Kunstmuseen, Galerien und Kunstverein Mecklenburg-Vorpommern e. V. sind im Jahr 2017 insgesamt 11 Kunstmuseen und 17 Kunstvereine bzw. wie Kunstvereine agierende städtische Kunsteinrichtungen organisiert. Zusätzlich gibt es drei Künstlerhäuser in Plüschow, Ahrenshoop und Bröllin, 16 Galerien, von denen fünf als Produzentengalerie tätig sind, und zwei Privatsammlungen. Die wirtschaftliche Situation im Land erzeugt bei allen Beteiligten einen hohen Erfolgsdruck, der sie zu Konkurrenten macht und zu Partnerschaften mit bekannten Namen und Einrichtungen außerhalb des Bundeslandes zwingt. Vereine haben häufig nur wenige Mitglieder und für professionelles Fachpersonal sowie Transport, Produktion, Werbung und Kataloge sind keine oder nur geringe finanzielle Mittel vorhanden. Häufig organisieren sie ihr Ausstellungsprogramm im Ehrenamt und mit kleinem Budget. Im Ergebnis ist das Spektrum der vorgestellten Künstlerinnen und Künstler eher klein, oft regional ausgerichtet und inhaltlich bestimmte Positionen wiederholend. Ergänzt werden öffentlich geförderte Projekte durch informelle Angebote, die von Privatpersonen, oft in früheren Herrenhäusern getragen werden. Diese sind meist im Hinterland verborgen und schließen die Lücken im Netzwerk von Ausstellungs- und Vermittlungsorten im Flächenland. Manche öffnen nur zu besonderen Gelegenheiten ihre Häuser und orientieren sich dabei an der früheren Salonkultur, andere machen regelmäßig Programm. Der Symbolwert historischer Gebäude für die Vermittlung zeitgenössischer Kunst darf nicht unterschätzt werden. Bilden sie doch eine Folie, auf der sich unterschiedliche Interessen besonders im Osten Deutschlands begegnen können.

6.  S ONDERFALL PUTBUS: TOURISMUS UND KULTURANSPRUCH Wie im öffentlichen Raum der Städte überschneiden sich auch im quasi-öffentlichen Raum von Galerien, Kunstmuseen und Kunstvereinen verschiedene Nutzungsansprüche und Interessen. In der fürstlichen Residenzstadt Putbus ist die Situation besonders komplex. Denn die unter Denkmalschutz stehenden Gebäude, der Schlosspark und das architektonische Gesamtensemble der, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbauten klassizistischen Stadt und die touristische Nutzung stehen in einem Spannungsverhältnis. Geschichte und Gegenwart begegnen

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sich im CIRCUS EINS, der seine Ausstellungen im klassizistischen Eckgebäude am Rondellplatz Circus durchführt. Bei freiem Eintritt erlaubt die Galerie den Zutritt zu einem repräsentativen historischen Haus, während die meisten anderen Häuser der Stadt als Privathäuser verschlossen bleiben. Daher sind unter den Besuchern auch Gäste, die sich nicht für Kunst interessieren, doch diese ästhetische Erfahrung quasi im Vorübergehen mitnehmen. Rügener und Putbuser identifizieren sich zunehmend mit dem Image ihrer Stadt als „Kulturhauptstadt“. Neben dem Theater und den Konzerten des Festspielfrühlings sind es vor allem die Kunstorte in Putbus und Umgebung, die diese Vision mit praktischen Angeboten in die Wirklichkeit umsetzen. Gemeinsam organisieren sie mehr als 20 Ausstellungen im Jahr und schaffen zu jeder Eröffnung ein Forum für die Begegnung von Künstlerinnen und Künstlern, einheimischem Publikum und Gästen. Daher ist auch CIRCUS EINS ein sozialer Raum, der Begegnung, Interaktion und Meinungsbildung ermöglicht. Das sozial hybride Feld der Galerie erfordert eine hohe Aufmerksamkeit und Flexibilität der Kunstvermittlung. Die persönliche Betreuung ist grundlegend, denn nur so kann auf die unterschiedliche Herkunft, den variierenden Bildungsstand zur Kunst der Gegenwart und die diversen Erwartungen reagiert werden. Die Anpassungsfähigkeit ist notwendig, da das Publikum insgesamt klein ist. Fast jeder Besucher erhält eine persönliche Einführung, ergänzt durch Informationsmaterial, das in gedruckter Form vorliegt. Während in den Großstädten kaum noch Eröffnungsreden gehalten werden, ist dies auf Rügen immer noch ein wichtiges Mittel, die Neugierde zum besseren Verständnis gezeigter Werke, zu befriedigen. Das Programm ist von einer großen inhaltlichen Breite getragen, wobei es stets darum geht, höchstmögliche Qualität und Professionalität zu erreichen. Hinzu kommen Partnerschaften mit anderen Galerien, Kunstinstitutionen und Hochschulen aber auch mit lokalen Unternehmen. Es wurden schon gemeinsame Ausstellungen mit der Hochschule Wismar, dem Caspar-David-Friedrich-Institut der Universität Greifswald und der Jugendkunstschule FRIEDA23 realisiert. 2017 erhielten drei engagierte Laienkünstler von der Insel Rügen die Gelegenheit, ihre in Werke zu präsentieren. Zu ihrem ungewöhnlichen Vermittlungsangebot gehörte die Aufforderung an Besucher, eigene Titel und Assoziationen zu den mehrheitlich nicht-gegenständlichen Arbeiten auf den Ausstellungswänden zu notieren. Besucher konnten sich zudem die gezeigten Werke für einen gewissen Zeitraum kostenlos nach Hause bestellen. Auch Musik, Sitzmöglichkeiten und ein gemeinsames Mittagessen in der Ausstellungen, gehören nicht zum klassischen Ambiente einer Kunstausstellung, waren aber interessante Ansätze, Kunstvermittlung anders zu begreifen. Seit 2014 ist die FLZ Stahl- und Metallbau Lauterbach GmbH Partner von CIRCUS EINS. Das Unternehmen stellt seine historische Schmiede zur Verfügung und fördert die Arbeit des jeweiligen Gastkünstlers auch finanziell.

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Ebenfalls seit 2014 nutzt CIRCUS EINS, zusätzlich zu den Räumen im Kronprinzenpalais, ein teilsaniertes Haus am Circus 11, das der Eigentümer zur Zwischennutzung kostenlos zur Verfügung stellt.

7.  GRABENKÄMPFE, NETZWERK UND TEILHABE Neben der Ausstellungs- und Vermittlungsarbeit ist die Pflege des Netzwerkes eine wichtige Herausforderung der Galerietätigkeit. Auf den gemeinsamen Aufbruch in den ersten Jahren nach der politischen Wende folgten Grabenkämpfe um Konkurrenz und Deutungshoheit zwischen Künstlerinnen und Künstlern wie zwischen Ausstellungsmachern. Wer mit wem gemeinsam ausstellt, wurde zunehmend ein Problem, nachdem noch in den ersten Jahren nach 1990 alle gemeinsam zur Gruppenschau ins Ausland gereist waren. Erst um 2015 herum erkannten die Galerien in Putbus, die hohe Bedeutung der Zusammenarbeit für den Erfolg – auch wenn die Inhalte divers waren. Gemeinsame Eröffnungstermine konnten aus organisatorischen Gründen nicht fortgeführt werden, doch zu KUNST HEUTE – den Tagen der zeitgenössischen Kunst in Mecklenburg-Vorpommern 2017 haben sich auf Einladung von CIRCUS EINS sieben Kunstorte aus Putbus und Umgebung erstmals zusammengeschlossen und machen mit einem gemeinsamen Faltblatt und kleinem Veranstaltungsprogramm auf sich aufmerksam. Dabei zeigte sich, dass die Drucksache nicht nur ein Medium der Werbung nach außen sein kann, sondern auch nach innen wirkt und die Partner sozusagen auf dem Papier zusammenführt. Seit vielen Jahren wird in der Kunstszene darüber diskutiert, wie die Teilhabe, besonders – aber nicht nur – so genannter „bildungsferner Schichten“ an Kunst und Kultur ermöglicht werden kann. In anderen europäischen Ländern, wie Großbritannien und Schweden, ist der Eintritt zu vielen Kunstinstitutionen kostenlos. Das erfolgreiche Modell sorgt dafür, dass die Museen voll sind und Familien mit ihren Kindern auch in anspruchsvollen Schauen zeitgenössischer Kunst anzutreffen sind. Ein wichtiger Faktor dabei ist auch eine „Willkommenskultur“, die Schwellen abbaut und Zugänge eröffnet. Es geht darum, den Besucherinnen und Besuchern alle Informationen zu geben, die nötig sind, um sich souverän durch die Räume bewegen zu können. Informationen über die gezeigten Werke durch Beschilderung und Saalzettel mit vertiefenden Informationen sind ebenso wichtig, wie ein Leitsystem, wo sich Toiletten und Garderoben befinden. Für die Vermittlung ist auch wichtig, in welcher „Sprache“ die Besucher angesprochen werden. Oft gibt es zwischen denjenigen, die eine Ausstellung kuratieren und denjenigen, für die sie gemacht werden, Kommunikationsprobleme. Aktuelle Kunst betritt oft ungesichertes Terrain – entsprechend suchen auch Texte

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darüber nach den passenden philosophisch-kunstwissenschaftlichen Begriffen. Im Ergebnis dient ein szeneeigener Jargon oft dazu, Ausschluss, statt Einschluss zu sichern. Die Erfahrung zeigt, dass Informationstexte für Laien und auch Einführungsreden eine einfache Sprache und die klare Benennung der darzustellenden Aspekte anstreben sollten. Ziel jeder Vermittlung muss sein, Kennerschaft zu erhöhen und die Urteilskraft der Betrachter zu verbessern.

FAZIT Aus meiner Sicht kann die Vermittlung zeitgenössischer Kunst in Mecklenburg-Vorpommern nur erfolgreich sein, wenn sie eine inhaltlich nach allen Seiten offene Ausstellungspolitik betreibt. Zum einen sollte sie den Erwartungshorizont des Publikums immer wieder reflektieren und in die Programmplanung einbeziehen. Das muss nicht bedeuten, dass der Publikumsgeschmack „bedient“ wird. Vielmehr geht es darum, den Horizont immer wieder zu verschieben und das Publikum dabei mitzunehmen. Insgesamt sollte stärker, danach gefragt werden, welche Kunst die Gesellschaft braucht. Das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Projekt „Neue Auftraggeber“ liefert einen spannenden neuen Denkansatz zu dieser Problematik. Mecklenburg-Vorpommern ist zu einer Modelregion geworden und in den kommenden Jahren sind diverse Projekte geplant, in denen Bürger in einem moderierten Prozess darüber entscheiden, welche Kunst von öffentlichem Interesse ist. In den vergangenen Jahren hat die Kunstwelt sich stark auf handelbare Objekte, bekannte Namen und eine wiedererkennbare Bildsprache orientiert, doch dieses kommerzielle Denken ist in der Krise. Verstärkt suchen jüngere Künstlerinnen und Künstler nach neuen Formen der Produktion und Präsentation von Kunst. Es wird wieder im Kollektiv gearbeitet, Ausstellungen finden an kunstfernen Orten statt, die Bevölkerung wird in die kreativen Prozesse einbezogen. Die massive Kritik an der documenta 14 in 2017 hat gezeigt, dass die Kunstwelt, die immer noch maßgeblich von Westeuropa und USA dominiert wird, umdenken muss. Sie muss akzeptieren, dass Kunst aus anderen Regionen der Welt nicht mehr automatisch mit den über die Jahrzehnte etablierten Vorstellungen von Schönheit und Hässlichkeit, von „guter“ und „schlechter“ Kunst kompatibel ist. Die Erkenntnis einer globalen Verschiebung der Deutungsmacht wird sicherlich in Mecklenburg-Vorpommern in naher Zukunft noch kein Thema werden. Doch dieses Umdenken birgt zusammen mit der sich verändernden Kunstpraxis der Künstlerinnen und Künstler, große Chancen, die bestehenden Konflikte zwischen Ost und West, urbanem Raum und Provinz sowie Jung und Alt durch eine neue Vermittlungsarbeit zu bearbeiten.

Das Modell Künstlerhaus – Über die Freiheit fremd zu sein und fremd zu bleiben Miro Zahra

„Das Exil, wie immer es auch geartet sein möge, ist eine Brutstätte für schöpferische Taten, für das Neue.“1

Eine junge Frau geht die Straße des kleinen Dorfes entlang. Es regnet und der Weg vom Schloss ins Dorf ist voller Schlamm und Schlaglöcher. Sie geht von Haus zu Haus, von Tür zu Tür und bittet in gebrochenem Deutsch mit einem unüberhörbar polnischen Akzent um Decken. Die Menschen, typisch mecklenburgisch stumm und verschlossen, sind ein wenig verunsichert, doch bringen letztendlich, was sie braucht. Die junge Frau ist Künstlerin und Stipendiatin des Mecklenburgischen Künstlerhauses. Einige Tage später wird eine Ausstellung, in der auch ihre Installation mit den Leihgaben der Dorfbewohner präsentiert wird, im Schloss eröffnet. (Abb. 1) Vilem Flusser beschreibt die Migranten als Fenster, durch die die Einheimischen die Welt sehen, und zugleich als Spiegel, in dem sie sich, wenn auch verzerrt, selbst sehen können. Dies ist eine Chance sich selbst neu und anders zu erfahren. Diese oft schmerzhafte Auseinandersetzung ist nicht frei von Ängsten, Vorurteilen und sich daraus ergebender Konflikte. Das Unheimliche an einem Migranten ist die aus seiner Evidenz des Heimatlosen sich ergebende Geheimnislosigkeit. „In diesem Sinn ist jeder Heimatlose, zumindest potenziell, das wache Bewusstsein aller Beheimateten und ein Vorbote der Zukunft.“2 1 Flusser, Vilem: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalsozialismus, Bensheim 1994, S. 109. 2 A.a.O., S. 30.

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Abbildung 1: Katarzyna Podgórska-Glonti: Wartetraum, 2000, Decken, Metallstange; Foto (alle Fotos [1-4] in diesem Artikel): Mecklenburgisches Künstlerhaus Schloss Plüschow

Schloss Plüschow wurde zum Mecklenburgischen Künstlerhaus in der Zeit der politischen Wende, in einer fruchtbaren wie seltenen Zeit des Dazwischen, die trotz großer Ungewissheit eine unerwartete Chance zur Umsetzung von Utopien und Träumen bot. Doch schon zu Beginn der achtziger Jahre, in Zeiten der DDR, haben sich Künstler in dem damals maroden Gebäude, in baufälligen Räumlichkeiten und unter abenteuerlichsten Bedingungen, erste Ateliers eingerichtet. Durch ihre Anwesenheit und Aktivität wurde das Gebäude vor Plünderungen und weiterem Verfall vorerst geschützt. Die Idee, eine Künstlerstätte für zeitgenössische Kunst und Künstler hier im Jahr 1990 einzurichten, war eine logische Fortsetzung der halböffentlichen Aktivitäten und Aktionen, wie Plenairs und Ausstellungen, die zwischen 1983 und 1989 im Schloss Plüschow stattgefunden haben. Das Projekt Mecklenburgisches Künstlerhaus Schloss Plüschow war ein Ergebnis künstlerischer Intuition und wurde durch öffentliche und private Förderung ermöglicht. Trotz umfassender jahrelanger Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten wurde konsequent ein künstlerisches Konzept mit anspruchsvollem internationalen Programm, das inhaltlich auf experimentelle und ortsbezogene Projekte ausgerichtet war, umgesetzt. 1994 wurden erste Aufenthaltsstipendien für bildende Künstler

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vergeben. Die Vernetzung und der projektbezogene Erfahrungsaustausch mit anderen Künstlerhäusern und Stätten der zeitgenössischen Kunstförderung gehörten vom Anfang an zum Programm des Künstlerhauses. Bis heute haben mehrere Hundert internationale Künstler als Stipendiaten und Gäste im Schloss Plüschow ihre Projekte verwirklichen können oder als Künstler aus Mecklenburg-Vorpommern Stipendienaufenthalte in Partnerkünstlerhäusern in Finnland, Österreich, Indien, USA oder Schottland absolviert. Dies dokumentieren zahlreiche Publikationen der letzten Jahre. Der Kürbis ist über die Sommermonate auf dem Komposthaufen hinter dem Wirtschaftsgebäude neben dem Schloss üppig gewachsen. Er treibt unzählige Blüten und trägt pralle Früchte. Die Pflanze ist keine Kunst. Sie wurde als Zugabe einer Arbeit gepflanzt, die der aus Island stammende Künstler nicht ohne Grund über dem Komposthaufen, wo sich fast symbolträchtig organische Abfälle aus den Ateliers der Künstler und der Dorfbewohner aus den umliegenden Häusern zum künftigen Humus vereinen, installierte. Aus dem an der Ecke des Gebäudes angebrachten Lautsprecher vernimmt man das Hörspiel, komponiert aus Interviews mit zwei Nachbarn des Schlosses. Hierbei geht es um Kunst und darüber, wie das Wirken des Künstlerhauses von den Bewohnern des Ortes wahrgenommen wird. (Abb. 2) Die zeitgenössische Kunstpraxis hat mit offenkundigen Veränderungen in unserer gegenwärtigen Welt und Zeit, die durch Paradigmenwechsel und dessen Auswirkungen geprägt ist, zu tun. Im kulturellen Bereich schlägt sich dies einerseits in Identitätsproblemen der staatlichen Einrichtungen und Institutionen wie Museen oder staatlichen Bühnen nieder, andererseits im Aufschwung alternativer kultureller Ausdrucksformen wie im nicht-institutionellen künstlerischen Schaffen, in unabhängigen Galerien, in spontanen künstlerischen und kulturellen Projekten, in multikulturellen und multimedialen Instituten und, nicht zuletzt, in Künstlerhäusern. In diesem Zusammenhang ist die Rede von Künstlern als den „Wanderern zwischen den Kulturen, den transkulturellen Migranten, den postmodernen Nomaden“3. Zahlreiche internationale Studien belegen, dass Künstler, obwohl sie heute meist in Metropolen leben und arbeiten, selten in lokalen Gemeinschaften eingebunden sind. Das Reisen im Kontext von Projekten und Ausstellungen gehört ganz selbstverständlich zu ihrer Arbeitsweise ebenso wie die Einbindung in thematische Projekte, Arbeitsaufenthalte und Stipendien, wodurch sie einen nicht un3 Dr. Michael Haerdter, ehem. Direktor des Künstlerhauses Bethanien in Berlin, Text „Postmoderne Nomaden“ 1996.

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Abbildung 2: Olafur Gislason: Vision und Erbe, 2005, Lautsprecher, Kürbisse, Komposthaufen, Zeichnungen

erheblichen Teil ihrer Existenz sichern. Der Künstler als ein rastloser Netzwerkarbeiter ist nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden. „[…] postmoderne Künstler sind aus ihren einsamen Studios ausgezogen und auf die Marktplätze der Welt zurückgekehrt. In dieser Sphäre des Hier und Jetzt haben viele Künstler den bestimmenden Einfluss gesellschaftlicher und politischer Faktoren, menschlicher Wechselbeziehungen und Interaktionen auf die Kunst wiederentdeckt. Statt ewige Werte für den Weg ins Museum zu schaffen, praktizieren postmoderne Künstler die Kunst des Kommunizierens von Ideen und Gefühlen, nicht selten mittels provokanter Konzepte oder irritierender Installationen und Objekte.[…] Das neue Modell ist ein Künstler, der jederzeit fähig ist, eine existenzielle Botschaft oder Situation formal zu meistern. Eben deshalb hat

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Kunst heute hauptsächlich einen interventionistischen und vorläufigen Charakter. Und sie kann sich in der Tat überall ereignen: das Atelier des postmodernen Künstlers ist die Welt.“4

Die neue Autobahn ist genau 700 m vom Schloss entfernt, das Getöse des Verkehrs breitet sich erbarmungslos über die lieblich anmutende mecklenburgische Landschaft. Die über das Tal langgezogene Brücke zerschneidet die Landschaft an ihrer empfindlichsten Stelle. Unter der Autobahn, zwischen den Betonpfeilern der Brücke, ist ein großformatiges Transparent gespannt. „Verpiss dich aus diesem Dorf, für immer!“ ist darauf zu lesen. Der Schriftzug stammt von einem kleinen Graffiti, das unweit von hier in der Bushaltestelle des Dorfes von dem Künstler gefunden und als Vorlage für seine Installation benutzt wurde. Der Inhalt drückt auf direkte Art und Weise Wut und Enttäuschung eines – wahrscheinlich – jugendlichen Bewohner des Ortes aus. Später wird das Transparent in gleichförmige Stücke geschnitten und zu Tragetaschen verarbeitet. (Abb. 3) Das Künstlerhaus als eine utopische und ins Offene gerichtete Konstruktion ist eine Möglichkeit, einen Ort der frei fließenden Kommunikation, in einer Falte in der Zeit, irgendwo zwischen Gegenwart und Zukunft eingesiedelt, zu schaffen.

Abbildung 3: Christian Hasucha: Hier und dort III (Die Untertitelung), 2005

4 A.a.O.

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Künstlerische Freiheit und inhaltliche Unabhängigkeit zu schützen, bedeutet eine tägliche Auseinandersetzung mit den sich stets ändernden gesellschaftlichen Bedingungen. Nur in seiner Offenheit, Durchlässigkeit und Transparenz und mit dem Mut zur Verwandlung hat diese ideelle Konstruktion eine Chance, sich auf längere Sicht als offener und kreativer Ort für Kunst und Künstler zu behaupten. Der junge Künstler aus Hamburg hat sich für die einmonatige Dauer der Ausstellung mit dem provokativen Titel „Zukunft ohne Kunst“ in einem der Präsentationsräume eingerichtet. Der Raum, vor kurzer Zeit noch ein vornehmer „White cube“, verwandelt sich innerhalb der nächsten Tage in ein lebendiges Laboratorium, in eine Höhle des kreativen Einsiedlers. Der Künstler als ein von unbändiger Kreativität besessener Eremit. Die Wände sind mit Farbe besudelt, Abfall, Farben und Pinsel, Kleidung, verschmelzen zu einem opulenten dreidimensionalen Ereignis, durch das sich der Besucher nur mühsam den Weg bahnen muss. (Abb. 4) Mit jedem Stipendiatenwechsel regeneriert sich der Ort immer wieder neu und präsentiert sich für die Neuankommenden als ein unentdecktes Land. Die Fäden der inneren und äußeren Kommunikation müssen immer wieder neu aufgenommen und geknüpft werden, das Terrain wird immer wieder neu erforscht und erobert, neue Sichtweisen werden erschlossen. Alle sind gleichermaßen an diesem interaktiven Netzwerk beteiligt – die Dorfbewohner, das Publikum, die Künstler. Im Wechsel der Jahreszeiten werden Ausstellungen installiert und abgebaut, Aktionen, Projekte und Performances füllen das Haus, um es wieder leer zurückzulassen, offen für Neues. Alles wird dokumentiert und existiert weiter in Archiven und Bibliotheken sowie im Gedächtnis des Ortes und im Geist und Herz der Menschen. Der Künstler als ein intellektueller Fremdling wird von den Einheimischen inzwischen nicht nur neugierig beäugt, sondern als gesellschaftlicher Katalysator respektiert. Das Fremdsein wird in diesem mecklenburgischen Dorf, das mit seinem dichten Geflecht sozialer und gesellschaftlicher Probleme und der sich daraus ergebenden Spannungen typisch und stellvertretend für ganz Mecklenburg-Vorpommern ist, als eine natürliche positive Beziehung, als eine besondere Wechselwirkungsform akzeptiert. Wir befinden uns in einer Zeit des Nicht-Mehr und Noch-Nicht,5 die von Perspektivlosigkeit und existenzieller Unsicherheit geprägt ist. Warum denn nicht das vorhandene kreative Potenzial der Künstlerinnen und Künstler für die Gestaltung der Gesellschaft von morgen bewusster nutzen? 5 Vgl. Goehler, Adrienne: Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft, Frankfurt u.a. 2006, S. 11.

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Abbildung 4: Oliver Ross: Existenzialien-Trash, 1996, Installation, solipsistische Mischtechnik

Bisher wurden Kunst und Kultur nur als Problemfelder behandelt, aber kaum als Teil der Lösung begriffen. Inwieweit Kultur und Kunst und das kreative Potenzial ihrer Akteure bei der Umgestaltung der Gesellschaft mit einbezogen werden können, ist keine Frage mehr, sondern ein Thema, das offen diskutiert und ins öffentliche Bewusstsein eingeführt werden sollte. Hierzu bietet das Modell Künstlerhaus als offener Ort einer grenzüberschreitenden Kommunikation und temporärer Aufenthaltsort für den Fremden anderen eine geeignete Plattform. „So stellt sich die Frage nach der Freiheit nicht als Frage, zu gehen und zu kommen, sondern fremd zu bleiben. Anders als die anderen.“6

6 V. Flusser: Freiheit des Migranten, S. 108.

Kunst und Kirche im Lassaner Winkel Galerie in der Kirche St. Johannis zu Lassan Ulrike Seidenschnur

Es ist heute ein weit verbreitetes Phänomen, dass Kirchen Kulturveranstaltungen anbieten. Im Lassaner Winkel (bei Greifswald) begann eine solche Praxis allerdings erst vor 20 Jahren, als hier auf meine Initiative hin in der Kirche St. Johannis die erste Kunstausstellung ermöglicht wurde, die seitdem durchgängig jedes Jahr stattfindet. Mein Beitrag schildert die Anfänge der „Galerie in der Kirche“ im kleinen Ackerbürgerstädtchen Lassan an der vorpommerschen Boddenküste, welche Hürden genommen werden mussten und welche Fortschritt das Projekt durchlief.

1.  V  ON DER IDEE UND MOTIVATION BIS ZUR ENTSTEHUNG EINER KIRCHEN-GALERIE Ich selbst bin gebürtige Berlinerin, verheiratet und habe eine Tochter. Nach meinem Studium der Kunstpädagogik und Kunsttherapie sehnte ich mich nach einem Gegenpol zum Großstadtleben. Mein Mann und ich begaben uns auf die Suche. Die abgeschiedene Gegend vis à vis der Insel Usedom gefiel uns so gut, dass wir 1991 ein denkmalgeschütztes Haus in Lassan am Peenestrom erwarben, vorerst als Sommersitz. Der Ort bot eine ausreichende Infrastruktur, freundliche Menschen und eine inspirierende Landschaft: alles bestens geeignet für meine Malreisen mit Berliner Malschülern. Der erste Malkurs im Jahre 1998 fand vor Ort viele reizvolle Motive: neben Wasser und Landschaftsmotiven sehr oft die kleine Stadt selbst mit der über allem thronenden, altehrwürdigen gotischen Kirche aus rotem Backstein. Im Rahmen dieses Workshops hatten wir über die Pfingsttage auf einer überraschenden Rundtour die Veranstaltung Kunst:Offen mit den vielen Ausstellungsorten und offenen Ateliers in der Region kennengelernt und besucht. (Kunst:Offen ist eine Aktion,

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Abbildung 1: St. Johannis zwischen den Stadthäusern und Gärten Foto (alle Fotos [1–19] in diesem Artikel): Bernd Riehm

die 1994 in Vorpommern zum ersten Mal stattfand und die jetzt im ganzen Bundesland veranstaltet wird. Mehr als 800 Künstler an über 500 Orten beteiligen sich.) So entstand der Wunsch, mit meinen Malkursen auch einmal an dieser Aktion teilzunehmen. Beim Sichten der entstandenen Werke stellte ich fest, dass sehr häufig St. Johannis selbst Motiv war und mir kam der Gedanke, ob es möglich wäre, an diesem zentralen Ort eine Ausstellung zu organisieren. Für mich erstaunlich offen reagierte der damalige Pastor Phillip Graffam auf meine Anfrage. Mit meiner Idee, eine Ausstellung in St. Johannis zu initiieren, rannte ich bei ihm quasi offene (Kirchen-) Türen ein. Einige Jahre nach der Wende befand sich die Lassaner Kirche in einem unrenovierten, aber einigermaßen soliden Zustand. Sie wurde neben den Gottesdiensten auch für Theaterveranstaltungen der von Pfarrer Graffam neu gegründeten Laientheatergruppe sowie für Konzerte genutzt. Wie aber war die in Aussicht genommene Kooperation ohne Finanzmittel und Mitarbeiter umsetzbar? Die gesamte Organisation blieb zunächst meine Aufgabe. Bald war klar, dass Gelder durch „Klinkenputzen“ beschafft werden mussten. Als Galerieausstattung gebrauchten wir zunächst die vorhandenen „Bordmittel“. Es gab gezimmerte Stellwände, die wir für die erste Ausstellung mit weißen Leinentüchern abhingen, damit ein optisch ruhiger Hintergrund für die Bilder entstehen konnte. Auch nutzten wir vorhandene Nägel Abbildung 2: Malschülerin am Fiund Haken in den Wänden sowie die Seile schereihafen der Fensterlüftung. Die Lampen in den Sei-

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Abbildung 3: Die kleine Ackerbürgerstadt am Peenestrom vor Usedom

tenschiffen waren noch aus den 1950er Jahren und boten wenig Licht; aber gemeinsam mit den prächtigen Kandelabern ergaben sie eine leidlich ausreichende Beleuchtung. Unter diesen einfachen Bedingungen veranstaltete ich gemeinsam mit der Gemeinde St. Johannis und meinem Malzirkel Pfingsten 1999 eine erste kurze Ausstellung im Rahmen von Kunst:Offen. Diese kleine Präsentation hatte eine so positive Resonanz, dass gleich für die kommende Saison eine weitere Ausstellung mit Arbeiten von FreizeitkünstlerInnen aus Lassan bzw. aus meiner Berliner Malgruppe und befreundeten bildenden Künstlern geplant wurde – diesmal über die Sommermonate. Die Galerie-Anfänge waren noch relativ schlicht. Eine kleine Begrüßung zur Ausstellungseröffnung, privat organisierte Musik, ein Stück Kuchen, ein Glas Wein. Zur Vernissage gesellte sich schnell der Wunsch nach einer Finissage mit Konzert. Schließlich kam auch noch die Midissage dazu. Im Laufe der Jahre sind die Ausstellungsprojekte größer geworden, auch die musikalischen Beiträge wurden immer umfassender. Und ich konnte Experten, u. a. Christoph Tannert vom Künstlerhaus Bethanien, Dr. Gerd Albrecht vom Barther Vineta-Museum und Pfarrer Dr. Reinhard Kuhl, für die künstlerischen Einführungen gewinnen. Für die Präsentation der Kunst konnten wir die Rahmenbedingungen verbessern und mit Spenden ein professionelles Galeriesystem und später auch Leuchten mit integrierten Galeriespots anschaffen (u.a. dadurch, dass zwei Folgen der TV-Serie „Pater Braun“ in der Lassaner Kirche gedreht wurden). Aus einer spontanen Aktion wurde im Laufe der Zeit eine etablierte Veranstaltungsreihe. Die Galerie-Saison reicht heute von Himmelfahrt bis Oktober, und die Kirche kann um die 4.000 Gäste begrüßen.

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Vernetzung Ein vorrangiges Ziel war es von Anfang an, mehr Bekanntheit zu erreichen. Im Schatten der Insel Usedom hatte der Lassaner Winkel keine große Bedeutung, und selbst bei Menschen aus den Nachbarregionen wie Wolgast oder Anklam war er noch wenig bekannt. Professionell gestaltete Einladungskarten und Plakate wurden konzipiert und eine eigene Webseite (www.galerie-in-der-kirche.de) entstand. Schnell zeigte sich, dass ich als Einzelkämpferin nicht viel erreichen würde, doch zu meiner Erleichterung sah ich, dass es anderen im Umfeld ebenso ging. Aus informellen Treffen Gleichgesinnter entstand das Netzwerk „Kräuter-Kunst und Himmelsaugen“ (KKH) und damit auch ein Flyer, mit dem sich die Akteure und mit ihren Angeboten präsentieren konnten. Die Kirchengemeinde und die Galerie veröffentlichen auch heute noch ihre Termine neben dem Gemeindeblatt im KKH-Flyer. Der Flyer hat aktuell eine Auflage von 20.000 Stück und wird regional über das Netzwerk sowie im gesamten Bundesgebiet (z.B. über „Pommerlandtee“ in Bioläden) verteilt. Unser Netzwerk wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. So konnten wir uns über die Preisverleihung durch den Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern e. V. beim Projekt „LandArt“ freuen und haben den Zukunftspreis 2012 der Akademie für nachhaltige Entwicklung Mecklenburg-Vorpommern erhalten. Dadurch konnte eine gemeinsame Netzwerkwebseite erstellt werden, in der auch die Kirchen und die Galerie vertreten sind. Musiker aus dem Netzwerk spielen regelmäßig auf einer der Eröffnungs- oder Abschlussveranstaltungen der Galerie und regionale Künstler sind in der Galerie in den Ausstellungen vertreten (www.lassaner-winkel.de).

2.  AUSSTELLUNGSTHEMEN Die Ideen und Inspirationen zu den Ausstellungsthemen erwachsen aus dem direkten Umfeld und dem unmittelbaren Erleben. Wesentlich ist für mich, dass die Themen einer Ausstellung für die Besucherinnen und Besucher leicht zugänglich sind, also weniger Konzeptkunst und Virtual Reality, dafür greifbare, lebensnahe Themen, die aber durchaus kontroverse oder auch spirituelle Dimensionen aufweisen. So finden sich mehrheitlich in den Ausstellungen die klassischen Spielarten der bildenden Kunst, also Malerei, Fotografie, Grafik sowie Skulpturen, aber auch Installationen. Im Laufe von 20 Jahren Galeriearbeit sind die im Folgenden dargestellten Themen-Schwerpunkte entstanden.

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2.1  Die Kirche selbst, die Stadt und die Landschaft „Lassaner Ansichtssachen“ (2001) Die erste thematisch konzipierte Ausstellung befasste sich mit der Stadt Lassan selbst. Persönliche Kontakte ermöglichten es mir, die Bewohner des Ortes in ein Ausstellungsprojekt mit einzubeziehen. In vielen Haushalten hängen (oft historische) Gemälde, Aquarelle und Fotografien renommierter Künstler, die die kleine Stadt selbst als Motiv haben. Viele Bürger sind dem Aufruf nachgekommen (u.a. über den Gemeindebrief und über die Zeitung) und haben ihre privaten Schätze aus ihrem Wohnzimmer oder ihrer Schlafstube der Galerie für einen Sommer zur Verfügung gestellt. Sehr gern wurde dann bei einem Sonntagsspaziergang in die Galerie mal geguckt, was sonst beim Nachbarn hängt. Kombiniert wurde diese Ausstellung mit aktuellen Lassaner Motiven von örtlichen und befreundeten Künstlerinnen und Künstlern sowie aus den Malkursen. „Innerer Raum“ (2010) Dieses Ausstellungsmotto zeigte minimalistische, sehr konzentrierte Arbeiten der Berliner Künstler Bernd Riehm und Karen Bartram. „Verschobene Tafeln“ war eine Installation von Bernd Riehm auf der Gesangbuchablage der Kirchenbänke. Dafür fotografierte er die GeAbbildung 4: Bernd Riehms Installation „Versangbuchablage der Kirchenbänke, schobene Tafeln“ reproduzierte die Fotos in der selben Größe auf Tafeln, platzierte diese wieder auf der Ablage und verschob den Ausschnitt um exakt 16 cm – eine Gesangbuchbreite – nach rechts. Bartram zeigte Arbeiten, die einer Verbindung zwischen persönlichem und äußerem Raum nachgehen. Die optische Installation „Getragen“, ein riesiges Kreuz aus Klebestreifen, erstreckte sich über eine Kirchenwand und den Fußboden. Von allen Blickrichtungen war erkennbar, dass die vertikale Kreuzachse am Übergang von Wand und Boden durch einen Knick verzerrt wurde und der Bodenteil betretbar war. Die Besucher mussten ihren persönlichen Standort finden, der auch abhängig von der eigenen Körpergröße war. Erst dann schien das Kreuz im Raum zu schweben, wenn der Betrachter den richtigen Standort gefunden hatte. Er konnte dann gleichsam einen weiteren Gast das Kreuz (wenn auch nur optisch) schultern lassen. Hierüber wurden die Besucher Teil der Installation.

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Abbildung 5: Karen Bartrams schwebendes Kreuz „Getragen“

Die stärkste Wirkung eines Sakralraumes besteht darin, dass sich Besucher auf sich selbst und den eignen Innenraum besinnen kann. Die oben angeführten Installationen zielten darauf ab, diese Wirkung bewusst anzusteuern. Es wurden Elemente der Lassaner Kirche und traditionelle kirchliche Zeichen, wie das Kreuz bei Bartram, an anderer Stelle aufgegriffen und wiederholt. Damit provozierten die Künstler neues Sehen und sorgten so für neue Ansichten. Riehms Installation regte zu einem anderen, „verschobenen“ Blick und kontemplativen Erleben innerhalb des Kirchenraums an.

„Brüche, Risse, Narben, Schönheit“ (2013) Werke des Barockbildhauers Elias Kessler (fotografiert von Detlef Witt) und Skulpturen des gebürtigen Lassaners Franz Albert Tröster bildeten eine Ausstellung, die sich mit der historischen Ausstattung von St. Johannis beschäftigte. Unsere Kirche birgt einen barocken Schatz: die originale Ausstattung des Stralsunder Bildhauers Elias Kessler. Altar, Kanzel und Lesepult in St. Johannis sind von ihm geschaffen worden. Sie wurden in dieser Exposition zum wichtigsten Objekt.

Abbildung 6: Skulpturen von Franz Albert Tröster gemeinsam mit barocker Kesslerfigur Kesslerfigur (Pultengel aus Altenkirchen)

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Kessler hatte Anfang des 17. Jh. viele weitere Kirchen in Vorpommern ausgestattet (z. B. St. Nikolai in Stralsund, die Kirche in Görmin). Der Kirchenbauforscher Detlef Witt hat alle Werke von Elias Kessler fotografisch dokumentiert, und so entstand eine wunderbare Fotoausstellung zu Kesslers Gesamtwerk. Die Ausstellung wurde ergänzt durch eine Leihgabe der Gemeinde Altenkirchen auf Rügen: ein Pultengel von Kessler. Ein moderner Kontrapunkt fand sich in den Holz- und Findlings-Skulpturen von Dr. Franz Albert Tröster, einem gebürtigen Lassaner, der neben seinem Beruf als Arzt auch Künstler und Mitglied des Pommerschen Künstlerbundes ist. Die Fotografien über Kesslers Werk werden noch immer als Wanderausstellung in den entsprechenden Kirchen gezeigt. Derzeit wird angeregt durch diese Exposition ein Buch über sein Werk verfasst.

Abbildung 7: Rehfeld-Eröffnung: Immer auch ein Treffpunkt

2.2  A usstellungen besonderer Künstler und Künstlerinnen sowie zu besonderen Themen Siegfried Rehfeld: „Vorpommern und die Uckermark“ (2008) Den aus Straßburg in der Uckermark stammenden Künstler hatte ich mehrfach nach Lassan zum Malen eingeladen. Er liebte die keine Stadt, weil die Atmosphäre ihn an seine Kindheit erinnerte. Auch gefiel ihm der künstlerische Austausch mit Gleichgesinnten. Das Motto zur Region lockte mit rund hundert Gemälden in Öl und Aquarell mehr als 2.500 Besucher in die Kirche. Ein umfangreicher Katalog und Reproduktionen im Postkartenformat konnten erstmals für diese Ausstellung erstellt werden und würdigten Rehfelds Gesamtwerk. Minka Zimmermann: „Hundert Jahre Leben!“ (2014) Eine Künstlerin mit internationalem Erfolg ausstellen zu dürfen, war eine besondere Freude. Arbeiten von Minka Zimmermann wurden bereits in internationalen Ausstellungen – u. a. auch im Weißen Haus/Washington – gezeigt und kamen zu der ersten umfassenden Personalausstellung über ihr Lebenswerk in unsere Kir-

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Abbildung 8: Die hundertjährige Künstlerin Minka Zimmermann vor ihrem plastischen Wandteppich „Der Wald“

che. Die Gäste der Galerie und Kirche waren sehr berührt, zeigte doch diese Ausstellung, dass es auch im hohen Alter möglich ist, als Künstlerin neu durchzustarten, Interesse zu wecken und erfolgreich zu sein. Die 100jährige Künstlerin ließ es sich nicht nehmen, zur Vernissage mit familiären Gefolge für die Eröffnung nach Lassan zu reisen.

„Traum und Trauma“ mit Peter Glas und Harald Herzel (2016) Innere, sehr persönliche Themen in Kunst zu verwandeln, vereint diese beiden Künstler. Viele der Arbeiten erzählen von universellen menschlichen Grunderfahrungen: Liebe, Tod, Vertrauen, Hoffnung, Abschied, Schuld, Krise und Wandlung. Der Potsdamer Herzel visualisierte seinen Traum in Form von Landschaftsmotiven vom Achterwasser und Peenestrom, die für ihn eine ideale Landschaft abgeben. Die bunten, großformatigen Collagen ließen den Betrachtern viel Spielraum für eigene InterpretatioAbbildung 9: Harald Herzel in Aktion nen. Seine traumatischen Erfahrungen der Wendezeit teilte er uns in lebensgroßen Selbstportraits mit – kopfüber, im freien Fall, stellte er sich selbst dar. Der Physiker und Autodidakt Glas verarbeitete seine Erlebnisse und Fragen an die Welt in meist schweren, aber handlichen Eisenskulpturen. Der sich selbst als Atheist bezeichnende Künstler behandelt im großen Maße weltanschauliche, aber auch religiöse Themen. „Wer von Euch ohne Sünde ist ...“ veranschaulicht Glas in Form einer achtteiligen Figurengruppe aus Eisen und Beton. Der Figuren „Engel von Fukoschima“ oder die „Rettung des Flüchtlings“ weisen direkt Abbildung 10: Eisenskulpturen von Peter auf aktuelle Geschehnisse hin. Den Glas bewusst im Altar plaziert Kontrast – das Träumerische – stellt

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Glas in den Skulpturen „Paar im Wind“, „Sternentaler“ oder in einer kleinen Ballerina dar. Oftmals findet sich ein Augenzwinkern in diesen Werken, z. B. bei der quietschenden „Zwitschermaschine“. Diese Ausstellung zeigte besonders, dass die Kombination von Kunst und Kirche eine eigene Dynamik entwickeln kann. Zu „Traum und Trauma“ fand erstmals ein besonderer Gottesdienst statt. Diesen gestaltete der in dieser Zeit zuständige Pfarrer Dr. Reinhard Kuhl. Er ist nicht nur Theologe, sondern auch als Kunsthistoriker sehr am Kontext Kunst und Kirche interessiert. Einige Jahre kuratierte Pfarrer Kuhl selbst Abbildung 11: Pastor Dr. Reinhard Kuhl hält in seiner Kartlower Kirche wechdie Laudatio selnde Ausstellungen. Die Zusammenarbeit mit ihm war für mich ein beglückendes Geschenk. Sein Gottesdienst zu ausgesuchten Werken der beiden Künstler wurde für sie selbst zu einem Erlebnis, das auch der Gemeinde in guter Erinnerung blieb. Darüber hinaus ermöglichte er, dass die Kunst auch im Umfeld des Altars präsentiert werden durfte. Als er in der Aufbauphase die Werke zum ersten Mal vor Ort sah, begeisterte er sich dafür und brachte im Dialog mit den Künstlern sein Fachwissen während der Platzierung mit ein. 2.3  Gemeinschaftsausstellungen und zusätzliches Programm An den Gemeinschaftsausstellungen beteiligen sich bis zu 30 regionale und überregionale Künstlerinnen und Künstler. Es gibt hierbei immer einen „roten Faden“, ein gemeinsames Thema. Thematisch angepasst ist dann auch das Rahmenprogramm und die Musik, seit einigen Jahren auch ein „Außenprogramm“. „Paradiesgarten“ (2012) Mit der Planung zu dieser Gruppen-Ausstellung hat es eine besondere Bewandtnis, denn sie inspirierte mich zu einem umfassenden Projekt als Hinweis auf die kommende Ausstellungssaison. Die erste Idee war, dass zur Ausstellungseröffnung ein optischer Hinweis in allen Farben in Gestalt von fröhlichen Frühlingsblühern rund

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Abbildung 12: Blick durch das südliche Seitenschiff mit Bildern und Skulpturen zum „Paradiesgarten“ in 2012

um die Kirche entstehen sollte. Dafür sammelte ich Spenden, auch direkt in Form von Blumenzwiebeln aus dem Garten der Nachbarn. Sogar Päckchen mit Tulpen wurden uns von begeisterten Gästen aus Leipzig und anders woher zugesandt. Diese erste Blumenzwiebelpflanzaktion an Erntedank (Oktober 2011) wurde seitdem zum festen Bestandteil, auch bei den Kleinsten der Gemeinde. Mit Grundschülern und Erwachsenen setzen wir regelmäßig im Herbst auf dem Schulgelände Blumenzwiebeln. Abbildung 13: Blumenzwiebelpflanzung zu Die zweite Idee kam hinzu: Auf Erntedank vor der Kirche einem isolierten Stück des Schulgeländes befand sich ein brachliegender Schulgarten. Im Rahmen der Ausstellung „Paradiesgarten« wurde er als Schulprojekt mit den Grundschülern und mit der tatkräftigen Unterstützung eines Gartenmeisters in ein kleines blühendes Paradies verwandelt. Zum „Paradiesgarten« wurde als Abbildung 14: Kleines Gartenkonzert im externes Zusatzprogramm eine VerRahmen von „Gartenlust und Kunstgenuss“ anstaltungsreihe ins Leben gerufen. – Trio viel-saitig in Lassan

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Ich dachte dabei zunächst an eine Bürgerbeteiligung. Die Idee dahinter war, dass Menschen, die ihren Garten liebevoll bewirtschaften, sich ein kleines Stück vom Paradies bewahrt haben. Doch der Garten kann durchaus auch für einige eine „grüne Hölle“ werden (Thema der Gruppenausstellung 2015: „Der Garten – Grüne Hölle oder Paradies“). Gartenfreunde im Lassaner Winkel konnten sich einbringen, indem sie ihr Refugium an einem bestimmten Tag für Besucher öffneten. Manchmal fand darüber hinaus ein kleiner kultureller Beitrag im Rahmen des Offenen Gartens statt (Lesung, Konzert, temporäre Ausstellung). Dass hierbei der Privatraum einbezogen wurde, stellt eine konsequente Fortschreibung der wechselseitigen Verknüpfung zwischen dem Alltagsleben von Gemeindemitgliedern und den Kunstimpulsen dar, die mit jeder Ausstellung organisch fortschritt. Diese Veranstaltungsreihe etablierte sich unter dem Namen „Gartenlust und Kunstgenuss im Lassaner Winkel“ und besteht nunmehr seit sechs Jahren. „Zwischen Bäumen der Wald“ (2017) Zu dieser Ausstellung konnte ich die Aktivitäten auf die umliegenden Waldgebiete ausdehnen. So hatten wir u.a. im nahen Murchiner Seeholz eine Führung mit einem Förster a. D. durch das Arboretum und eine Märchenwanderung mit Picknick und Harfenmusik. Der Privatwaldbesitzer Eckhard Wenzlaff veranstaltete mehrere Führungen durch seinen Spechtwald unter verschiedenen Aspekten. Einmal ging es um Spiritualität im Wald, ein anderes Mal um alternative Forstwirtschaft. Als Kunstprojekt entstand im Spechtwald der „Baum der GeneratiAbbildung 15: Monika Ortmanns Strumpfhoonen“, eine erweiterbare Installation sen-Installation „Ich steh im Wald“ von Holger Benthien.

3.  S  YNERGIEN: GALERIE UND OFFENE KIRCHE SEIT 20 JAHREN Im Rückblick sehe ich als Hauptgrund für die Kontinuität der Ausstellungen in Lassan die Tatsache, dass sie für alle Beteiligten Vorteile bringen: Die Kirche gewinnt für ihr Gemeindeleben mehr Bekanntheit und potentielle neue Kirchenbesucher. Ein bis dahin mit Ausnahme von Gottesdienstzeiten und einigen Veranstaltungen verschlossenes Gotteshaus verwandelte sich in eine offene Kirche. Davon profitierten z. B. auch der vorhandene Bücher-und Handarbeiten-Tisch der

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Gemeindedamen, die liebevoll mit fröhlichen und nützlichen Produkten ausgestattet werden. Während der Öffnungszeiten der Kirche erfreut sich dieses Angebot vieler kauffreudiger Interessenten. Den Verkauf regeln die freundlichen MAE-Kräfte, die auch für die offene Kirche und die Galeriebetreuung zuständig sind. Abbildung 16: Lauter kleine GebrauchskunstDieser Tisch ist ein wichtiger Beiwerke trag aus der aktiven Gemeindearbeit. Die Kirche mit der Galerie stellt auch für die Stadt einen Imagegewinn dar. Für die Lassaner Bürger und die Gäste gibt es mitten im Ort ein attraktives Kulturangebot, das gut zugänglich ist, und das nicht nur durch den kurzen Weg, sondern – gerade in dieser strukturschwachen Region – auch wegen des kostenfreien Besuchs. Im Lassaner Winkel bedeutet dies viel. Spenden für die Veranstaltungen sind allerdings willkommen. Für die Künstler bringen die Ausstellungen ebenso Vorteile: anders als in herkömmlichen Galerien brauchen sie sich nicht finanziell einzubringen und müssen sich nicht um Werbung und Pressearbeit kümmern. Die Nähe zur Insel Usedom beschert den Ausstellungen und der Kirche weitere, kunstinteressierte und kaufund spendenfreudige Besucherinnen und Besucher. Und die Künstler erleben ihre Kunst in einem besonderen Kontext mit anderem Publikum, was sie so nicht in klassischen Galerien oder Museen erleben können. Somit ist für heimische wie überregional arbeitende Künstler die Galerie eine interessante Plattform geworden. Das zeigen die zahlreichen Nachfragen und die Bereitschaft hier die Abbildung 17: Regina Dützmann bei den Voreigenen Werke zu präsentieren. Ein bereitungen Teil des Erlöses aus den Kunstverkäufen spenden die Künstler für das nächste Projekt der Galerie. Jedoch kann nicht jede Saison Spenden aus Kunstverkäufen verbuchen. Dabei ist interessant zu beobachten, dass nicht nur klassische Malerei, sondern auch abstrakter gefasste Werke ihre Liebhaber finden. Für die Lassaner kommt allerdings meist nur Kleinformatiges in Frage – der Platz an der Wand ist in den kleinen Häusern einfach begrenzt.

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Abbildung 18: Eindruck von der Eröffnungsfeier zu Minka Zimmermanns Ausstellung „Hundert Jahre Leben“ 2014

Eine intensive und enge Zusammenarbeit habe ich mit Regina Dützmann vom Gemeindekirchenrat. Sie hat sich des Projekts „Offene Kirche“ angenommen. In Kombination mit „offener Kirche“ hat sich die Ausstellung zu einem Ort der Begegnung zwischen den Gemeindemitgliedern, Bürgern und internationalen Gästen entwickelt. Die meisten Lassaner nehmen die Ausstellungsaktivitäten mit einem gewissen norddeutschen Gleichmut hin. Es ist aber auch mit kontroversen Diskussionen zu rechnen. In jedem Fall sind die Sommerausstellungen ein besonderes Ereignis im Gemeindeleben. Die Eintragungen im Gästebuch zeugen von einer großen Akzeptanz und Freude über die Galerie. Seit Gründung der Galerie hat sich das Projekt zu einem Publikumsmagneten entwickelt, dessen Strahlkraft über die Region hinausreicht. Für manche Gemeindemitglieder hat die Galerie bzw. die Offene Kirche die erfreuliche Wirkung, dass sie ihnen eine kleine Erwerbsmöglichkeit bietet, sei es als Bundesfreiwilliger oder MAE-Kraft. Sie sind zuständig für die Aufsicht während der Öffnungszeiten der Kirche und somit auch der Galerie, für die Pflege der Abbildung 19: Einige der Kirchenhüter Kirche und den Verkauf. Ohne diese Mitarbeiter könnte die Kirche als „Offene Kirche“ nicht die gesamte Saison von Ostern bis Ende Oktober ihre Türen geöffnet halten. Zusätzlich helfen fleißige ehrenamtliche Gemeindemitglieder.

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4.  AUSBLICK Im Ausstellungsjahr 2018 richtet sich der Blick auf das nahe Nachbarland Polen. Unter dem Motto „Von Wegen“ kommen deutsche und polnische Künstler zusammen. Deutsche Künstler stellen im polnischen Marianowo (ehemals Marienfließ bei Stettin) aus, polnische Kunstschaffende präsentieren sich gemeinsam mit deutschen Künstlern in St. Johannis mit einem 15-teiligen Kreuzweg sowie in St. Nikolai zu Bauer mit fröhlich-nachdenklicher Malerei: Christus in allen Lebenslagen. Die Zusammenarbeit mit der neuen Pastorin Anne Plagens, die Juli 2017 unseren Pfarrsprengel betreut, ist erfüllend und inspirierend. Mit Spannung erwartet wird der interkonfessionelle Austausch zwischen überwiegend evangelischen deutschen Künstlern und den katholischen Kollegen. Zu diesem Anlass wurde zur Eröffnung Ende Juni 2018 eine spannende geschichtliche wie auch liturgisch-künstlerische Einführung in die Thematik des Kreuzweges von Pfarrer Dr. Reinhard Kuhl dem interessierten Publikum geboten. Den Abschluss bildet ein ökumenischer Gottesdienst zur Finissage. Ein deutsch-polnisches Künstler-Pleinair ist geplant, bei dem das Thema „Kreuzweg“ künstlerisch behandelt werden soll. Mit von der Partie ist die Stadt Lassan, die ihre Unterstützung für einen geplanten Meditationsweg mit 15 Stationen zwischen den Kirchen im Pfarrsprengel Lassan zugesagt hat. Man kann gespannt sein.

Abbildung 20: Ulrike Seidenschnur und Figuren von Minka Zimmermann

Eine Synthese aus angewandter Kunst und Trauerarbeit Fallanalyse Antje Mickan/Thomas Klie

Das im Folgenden dargestellte Interview1 mit einer 50-jährigen Keramikerin und Trauerbegleiterin thematisiert eine Sozialpraxis im Überschneidungsbereich von Kunst(handwerk) und Heilung, der dem von Pierre Bourdieu konstatierten erweiterten religiösen Feld2 zugeordnet werden kann. Impulse für spirituelle Suchbewegungen und rituelles Handeln zu geben und dabei die transzendente Bedeutungsebene zu integrieren, bilden charakteristische Elemente des beruflichen Selbstkonzepts, über das die Akteurin in den von uns hier ausgewählten und kommentierten Sequenzen Auskunft gibt. Darüber hinaus wird die Analyse Aussagen zu ökonomischen Strategien und Einbindung der Probandin in konkrete Netzwerke einbeziehen, um dann in einem abschließenden Fazit den Ertrag der qualitativen Fallbetrachtung für das DFG-Forschungsprojekt „Märkte des Besonderen – Religionshybride Netzwerke in Mecklenburg Vorpommern“,3 in dessen Forschungszusammenhang der vorliegende Band entstanden ist, zu bündeln und zu reflektieren.

1 Das Interview hat Antje Mickan im Dezember 2016 geführt. Es hat eine Gesamtlänge von knapp zwei Stunden. 2 Vgl. Bourdieu, Pierre: „Die Auflösung des Religiösen“, in: Ders., Religion, Schriften Bd. 13, Frankfurt am Main 2011, S. 243-249. 3 Vgl. Mickan, Antje/Klie, Thomas/Berger, Peter A.: „Einleitung: Kunsträume“, im vorliegenden Band, S. 9ff.

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Frau Schmidt4 stammt aus Sachsen. Sie hat dort eine Töpferlehre gemacht und ist dann zum Studium der angewandten Kunst nach Mecklenburg-Vorpommern gekommen. Ihr DDR-Abschluss als Designerin wurde nach 1990 allerdings nicht anerkannt,5 so dass sie „mit viel Kampf ein Zusatzstudium“ absolvierte und schließlich die „bundesgerechte[]“ Qualifikation als Diplom-Designerin erreichte. Nach einiger Zeit in Berlin kehrte sie nach Mecklenburg-Vorpommern zurück, erst aufs Dorf, dann in eine größere Stadt, wo sie heute in ihrer „Traumwerkstatt“ arbeitet. Das Land ist mittlerweile zu ihrer Wahlheimat geworden. Frau Schmidt liebt hier „das Meer und die Weite und die Inspiration der vielen Natur.“

1.  EINGEBUNG IM WORK-FLOW Und [ich habe hier] einen Raum, wo ich meinen Ofen gut aufstellen kann. […] Und ich bin am Wasser hier. […] Also das liebe ich schon auch sehr, ä:h, weil ich das Gefühl habe, in meiner Arbeit geht es auch viel ums Fließen. Die Dinge fließen aus den Händen in den Ton. Oder, sagen wir mal: aus dem Geist, durch die Hände in den Ton. Und zwischendurch, wenn ich Pausen mache, geh’ ich, ja, hier in’n Garten und schau auf [das Wasser]6 und lass einfach auch meine Gedanken fließen.

Frau Schmidt hat offenbar ihren idealen Arbeitsort gefunden, der sie inspiriert und der ihren Ansprüchen an das Umfeld voll entspricht. Sie lebt am Rande einer Stadt und hat dennoch die Natur (Wasser, Garten) in unmittelbarer Umgebung. Der Ort, wo der Brennofen als unverzichtbares und zugleich symbolisches Zentrum ihrer keramischen Arbeit „gut“ aufgestellt ist, und der Ort, wo sie Pause machen kann, ermöglichen einen kreativen und ausgewogenen Prozess. In dieser Arbeitsbeschreibung scheint alles Notwendige – Gedanken, Kraft, eigener Körper, Ton und Umwelt einerseits, stabiles Dasein und neues Gestalt-Werden andererseits – in einer positiven Beziehung zu stehen.

4 Namen und biographische Daten wurden anonymisiert. Wortsprachliche Betonungen sind durch Unterstreichungen, Dehnungen durch Doppelpunkt (:), Sprechpausen durch langen Gedankenstrich (—) und Konjekturen mit in Klammern gesetzten Auslassungspunkten ([…]) gekennzeichnet. Der wortsprachliche Duktus ist mit wenigen Ausnahmen beibehalten worden. 5 Diesen Umstand kommentiert die Probandin folgendermaßen: „das war für uns ’ne riesengroße Ohrfeige. Weil, das war ’n sehr hochwertiges Studium. Und das zählte zu DDRZeiten auch als Studienabschluss — mit sehr ausgewählten Studenten“. 6 Interviewte nennt konkretes Gewässer.

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2.  DIE BO(O)TSCHAFTEN DER ARTEFAKTE Auf die Frage nach unterschiedlichen Bereichen ihrer Arbeit bestätigt die Interviewte die Verschiedenartigkeit ihrer Tätigkeiten, spricht bei der anschließenden Beschreibung aber nur von ihrer keramischen Arbeit, noch nicht von der als Trauerbegleiterin. In den Blick kommt zuerst das Gefäß-Drehen, was sie „von der Pike auf gelernt“ hat. [Ich drehe aber] keine Serienproduktionen oder sowas, sondern ganz konkrete Dinge, die oft mit Schrift versehen sind. Also ich liebe es, ich sage immer so, Bo:tschaften zu versenden. […] das ist ein kleiner Teil. Ein größerer ist, äh, sind freie Objekte aus Ton, die ich sehr, sehr liebe. Wo ich themenbezogen arbeite […] ich habe Räume gestaltet, zu unterschiedlichen Themen. Ähm, ich sag jetzt so: Meditationsraum oder religiöser Raum. Oder ein eingeschlossener Raum oder verschlossener. Also das Thema Räume hab‘ ich mal bearbeitet. Und das Thema Boote bearbeite ich sehr gerne. Und da schließe ich mich sehr an, an die Sonnenbarken aus dem alten Ägypten oder auch an die Wikingerboote, womit zum Beispiel die Toten auch aufs Meer geschickt wurden. Es sind nicht unbedingt Totenboote, ich nenne es Seelenboote. Es sind, Boote sind für mich Transportmittel, sozusagen, die eben auch Bo:tschaften [transportieren]. Und ich liebe dieses Wortspiel: Bootschaften mit zwei „o“.

Selbst bei der Herstellung von Geschirr und anderer Gebrauchskeramik legt Frau Schmidt Wert darauf, dass die Werke nicht einfach einem formalen Zweck dienen, sondern einen deutlichen Eigenwert haben und – häufig sogar in lesbarer Form – eine Mitteilung enthalten. Bezüglich der Sujets ihrer freien, künstlerischen Arbeit nennt sie u.a. zwei thematische Cluster, die auch religiös konnotiert sind: „Räume“ und „Boote“. Bei den Räumen handelt es sich um Ton-Installationen von tragbarem Ausmaß, die durch Titel und Gestalt zur Reflexion einladen. Betrachtende können sich gedanklich in diese Räume hineinversetzen oder auch über Analogien zu diesen Räumen in ihrem Leben nachsinnen. Ihre Boote wiederum versinnbildlichen einen Transfer zwischen einer diesseitigen und jenseitigen Sphäre.7 Sie liebt es, „Fundstücke aus aller Welt“ mit den Werken zu verbinden. „Und die kriegen für mich dann einen neuen Rahmen, indem ich sie so in so ein Boot einarbeite oder in einen kleinen Hausaltar einarbeite.“ Alltägliches Kleinzeug wird also in Außeralltägliches integriert und umgedeutet. Im Gespräch stellt 7 Bemerkenswert ist die Konvergenz der Bedeutung dieser künstlerischen Objekte in dem, was Foucault als „Andere Räume“ bezeichnet, was im Übrigen auch auf Friedhöfe zutrifft. „Das Schiff, das ist die Heterotopie schlechthin.“ Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34-46, hier S. 46.

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sich später noch heraus, dass die Probandin Boote oft für und mit Trauernden anfertigt. Diese Objekte werden dann zum Mittelpunkt von Abschiedsriten, deren Gestaltung Frau Schmidt kreativ leitet. Der Kontakt mit Hinterbliebenen ergibt sich für sie schon durch ihr drittes keramisches Arbeitsfeld, auf das sie fast unmittelbar nach dem obigen Interviewabschnitt zu sprechen kommt.

3.  D  AS LEBENS- UND ARBEITSTHEMA: DER TOD STEHT IM RAUM Und der größte Teil ist, nicht durch die Finanzen nur, aber damit überlebe ich halt finanziell auch, sind Urnen und Grabzeichen aus Ton. Und da, muss ich sagen, war meine erste Kellerwerkstatt sehr hilfreich, weil, da hatte ich in der Nachbarschaft ein Bestattungsinstitut, an dem ich jeden Tag vorbeigelaufen bin. Und dann habe ich gesehen, was für – ich muss wirklich sagen, oft hässliche Urnen da in den Fenstern stehen. Wo ich gedacht habe: Also da möchte ich keinen drin bestatten müssen. Und da muss man doch auch schönere Dinge tun können. – Und parallel hatte ich in der Zeit ’n schwerstbehinderten Sohn, der also vier Jahre lang immer ganz dicht am Tod war und wir damit auch, als ganze Familie […] Und das Thema Tod stand im Raum. Und es stand im Raum, dass ich ein Thema für meine Diplomarbeit finden muss. Und dann hab’ ich gedacht: Ich kann nix, äh, Banales machen. Ich kann keinen Schüsselsatz oder keine Teekanne jetzt entwerfen. Ich muss was machen, was mich selber gerade beschäftigt und fordert und fördert. – Und dann habe ich mich mit Urnen beschäftigt und hab’ erfahren, dass also früher ganz oft die Urnen aus Ton waren. […] die ganzen alten slawischen Urnengräber und Urnenfelder, das sind alles Tonurnen.

Eine Diplomarbeit in Design erfordert es, den Bedarf der Menschen mit der Funktionalität von Objekten zusammenzudenken und dieser Synthese gelingend Gestalt zu geben.8 In einer solchen Prüfungs- und Lebenssituation, in der Frau Schmidt sich zugleich unausweichlich mit dem Thema Tod konfrontiert sieht, sich selbst vermutlich als potentielle Kundin einer Urne antizipiert, scheint ihre Sensibilität für das äußerst mangelhafte Urnendesign im Angebot des nahen Bestattungsinstituts unausweichlich. Ihre Formulierungen zum Nicht-Können („kann nix“) und Müssen („muss was machen“) unterstreichen die existentielle Herausforderung zu dieser Zeit, der sie meint nur konstruktiv, indem sie für sich selbst sorgt, begegnen zu können.9 Als sie dann bei der theoretischen Recherche die historische Anknüp8 Vgl. den instruktiven Überblick: Scheppenhäuser, Gerhard: Designtheorie, Wiesbaden 2016, bes. S. 10f. 9 In der zweiten Interviewhälfte berichtet die Probandin von ihrer Erfahrung aus der Trauerbegleitung, dass bei der Auseinandersetzung mit dem Tod, oft das Leben das

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fungsmöglichkeit entdeckt, hat Frau Schmidt ihr „Lebensthema“ gefunden. Oder besser: Das Thema hat sie gefunden, es „stand im Raum“: künstlerisch, berufsbiographisch, existenziell und materiell (Ton).

4.  URNEN PLUS ALLTAGSPHILOSOPHIE Und so habe [ich] neue keramische Urnen aus Ton gestaltet, individuelle. Und eine Philosophie dabei von mir ist – bei den Urnen wie bei den Grabzeichen auch: Jeder Mensch war individuell. Und für mich soll jeder Mensch auch einen individuellen Abschied kriegen. Und deshalb find’ ich’s schön, wenn es auch ein individuelles Abschiedsgefäß sein kann. Und es gibt ein tolles altes Ritual aus dem alten Griechenland oder dem alten Rom – ich weiß es gerade nicht ganz genau – wo die Menschen in ihren Lieblingsalltagsgefäßen bestattet wurden. Also, die wurden in einem ihrer Gefäße bestattet, mit dem sie gelebt haben und wo sie ihre Vorräte drin hatten, ihre Lebens-Mittel, sozusagen, die sie zum Leben brauchten. […] Und diese Idee finde ich so schön: Ein Gefäß, mit dem man schon zu Lebzeiten vertraut ist, und in dem man dann die letzte Reise antritt.

Bei der Gestaltung der Urnen steht für Frau Schmidt das Individualitätsprinzip „philosophisch“ im Vordergrund. Sie will individuelle Urnen anfertigen, die dem singulären Leben der Verstorbenen, in ihrer unikaten Formgebung entsprechen. Adressaten des Abschieds sind die Verstorben. Damit ist die vorgestellte Präsenz der Toten beim Bestattungsritus – so wie sie im Alltag zu erleben waren – hervorgehoben.10 Die Lebenden können für sie noch etwas tun, und zwar ihr alltägliches Dasein über einen außeralltäglichen Ritus in einen neuen anderen Status, an einen

eigentliche zentrale Thema sei. Und sie fasst in einer anderen Passage ihren eigen Weg von der Trauerbewältigung hin zur Trauerbegleitung in die folgenden Worte: „Das ist jetzt alles 20 Jahre her, aber aus dieser Erst-Ohnmacht heraus, dann aus einer Wut heraus und dann aus einem, aus einer konstruktiven Transformation dieser Wut in eine Kraft hab ich meine Erfahrung gebündelt“. 10 Vgl. zur (symbolischen) Präsenz der Toten auch ihre folgende Aussage im zweiten Interviewteil: „Und ich hab ganz symbol-, also oft symbolisch die ganzen Toten neben mir stehen, die sagen: (nachdrücklich) ‚Lebe jeden Tag, was du leben kannst. Wir können es nicht mehr‘.“ – Als theoretisch instruktiv dazu vgl. z.B. Benkel, Thorsten: „Symbolische Präsenz. Zum Status der Identität nach dem Ende der Identität“, in: Ders. (Hg.), Die Zukunft des Todes. Heterotopien des Lebensendes, Bielefeld 2016, S. 11-40, hier bes. 23f.34.

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transzendenten Ort transformieren bzw. transferieren.11 Auch hier in dieser Gesprächssequenz ist die Argumentation von divers verbunden religionskulturellen Anknüpfungen bestimmt. Wie eingangs schon ihre Seelenboote von den ägyptischen Sonnenbarken und Schiffsgräbern der Wikinger inspiriert waren, sind es hier ihre Urnen von (vermeintlich) antiken Begräbnisriten.12 Und wie die erstgenannten Kunstobjekte durch das Einarbeiten von alltäglichem Zeug einerseits eine individuelle Gestalt erhielten, andererseits das Zeug zu neuer Würde kam, kommuniziert sie im Zusammenhang mit ihren Urnen die Idee einer rituellen Verwendung alltäglicher Dinge.13 So ist die Korrespondenz ihrer Bestattungsgefäße mit den zeichenhaft Botschaften zwischen Hier und Dort transportierenden Seelenbooten signifikant. Die Interviewte sucht in ihrer Arbeit immer wieder nach individuell sinnhaften, schönen und kreativen Anschlüssen ans Kulturelle mit wenig Rücksichtnahme auf so etwas wie dogmatische Richtigkeit, institutionelle Grenzen oder übliche Strukturen.

5.  K  UNDEN UND KONKURRENZ AUF DEM MARKT DES BESONDEREN Viele „Kunden“ kontaktieren Frau Schmidt schon zu Lebzeiten. Man wünscht sich ein individuell adaptiertes und ästhetisch befriedigendes letztes Behältnis. Die Kinder hätten damit „was Vertrautes, wo sie sagen: ‚Das haben meine Eltern selber sich mit ausgesucht oder selbst gestaltet oder gestalten lassen‘“. Die persönliche Beziehung zum Objekt beginnt also bei ihren Auftraggeberinnen und -gebern schon vor seiner materiellen Herstellung.14

11 Als stellvertretend für weitere Aussagen im Interview, welche diese Raum-Deutung stützen, sei auf folgende Aussage zur Bedeutung des durch Lesen Erfahrenen für ihre eigene Trauerbewältigung hingewiesen: „Ja. Ich hab damals sehr viel Heilung empfunden zum Beispiel durch das Lesen vom „Kleinen Prinzen“, von dem Buch des Kleinen Prinzen.“ Der Protagonist dieses Werkes von Saint-Exupéry lässt am Ende der Erzählung seinen Körper auf der Erde zurück, um – so die implizierte Bedeutung – zu seiner Rose auf seinem Stern zurückzukehren. 12 In der griechischen Antike finden sich in den Urnengräbern viele Alltagsgefäße mit Grabbeigaben (Speisen, Opfer etc.). Die Kremierungsasche wurde jedoch keinesfalls in „Lieblingsalltagsgefäße“ verfüllt; vgl. Graen, Dennis: Tod und Sterben in der Antike. Grab und Bestattung bei Ägyptern, Griechen, Etruskern und Römern, Stuttgart 2011. 13 Vgl. Bosch, Aida: „Objekte zwischen Kunst und Ritual“, im vorliegenden Band, S. 69ff. 14 Vgl. zur Rolle der Dinge für die Identität A. Bosch: „Objekte“, S. 69ff.

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Die [Kunden] kommen meistens direkt zu mir. Ich arbeite aber auch bundesweit, sogar auch über Telefon und Mail und dass ich Skizzen mache und die verschicke. Und wir diskutieren am Telefon über Skizzen zum Beispiel oder so.

Anders als beim Urnenkauf üblich werden diese von Frau Schmidts Kundinnen und Kunden aufgrund des direkten Kontakts quasi mit zum Bestatter bzw. Bestattungsinstitut gebracht, was anscheinend von letzteren weniger gern gesehen, sondern eher als ein Erwerbsverlust gedeutet wird. Die Bestattungsinstitute wollen nur ihre eigenen Sachen verkaufen. Und ich finde es sehr, sehr traurig. Ich habe immer wieder Anläufe unternommen und es haben inzwischen bestimmt, ich würde sagen, 60 Bestatter Urnen von mir bestattet. Und trotzdem gibt es nur zwei, drei, die mit mir zusammenarbeiten.

Mit Blick auf Akteure aus der funeralen Branche sieht Frau Schmidt sich in die Rolle einer Konkurrentin im Verkaufssegment gedrängt, mit sehr vereinzeltem Erfolg ihrer Versuche, in Kooperation zu treten. Doch erkämpft sie sich über Grenzen der traditionellen Gewerbe hinweg immer wieder neu eine bundesweite Marktpräsenz mit ihrem Nischen-Angebot. Und mit den Grabsteinen is’ es ähnlich. Da is’ es auch schwierig, weil die Steinmetze mich als Konkurrenz sehen. Obwohl ich verschwindend wenig Grabzeichen gestalte, gegenüber denen, die die Steinmetze gestalten, aber – ich bin auf den Bundesgartenschauen vertreten mit meinen Grabzeichen. Und da habe ich jedes Mal großen Stress mit den Steinmetzen, die sagen: Sie gehören eigentlich gar nicht in unsere Liga. Sie sind keine Steinmetzin und Sie dürfen hier eigentlich gar nicht ausstellen.

Aus Ton gefertigte Grabzeichen bilden heute noch – obwohl seit längerem eine fortschreitende Lockerung von Friedhofssatzungen zu beobachten ist – innerhalb der Bestattungskultur eine Besonderheit.15 Sie sind auffällig für diejenigen, die in dieser Verkaufssparte auf der Suche nach dem Anderen, Individuellen, nicht dem Mainstream Entsprechenden sind. Hierdurch ist potentiell eine ökonomisch höhere Bewertung ermöglicht, was die Ausgrenzungsversuche durch die Steinmetze befördern mag.16 Dass ein schlicht am lukrativen Warentausch ausgerichtetes 15 Vgl. z.B. Sörries, Reiner: Ruhe sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs, Kevelaer 22011. 16 In diesem Kontext sei angemerkt, dass allein durch Seltenheit eines Angebots die Singularität im Sinne L. Karpiks, auf dessen sozialökonomisches Konzept wir uns hier stützen, noch nicht gegeben ist. Diese liegt insbesondere in der Komplexität und der Unvergleichbarkeit bedingenden Ausrichtung von Produkt und Dienstleistung begrün-

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Interesse aber gerade nicht den Antrieb für die eigene Tätigkeit bildet, sondern diese durch ideelle Sinnkonzepte motiviert ist, lässt die Probandin im Interview klar deutlich werden. Und gerade über Narrationen zu Akteuren, die sich selbst gegen die Keramikerin abgrenzen, kann sie das eigene alternative Profil herauszustreichen.17

6.  E  IN GUTES NETZWERK UND EINE GUTE AUSBILDUNG Frau Schmidts Angebotspalette beruht auf miteinander verbundenen, unterschiedlichen professionellen Kompetenzen in einer insgesamt recht singulären Weise,18 so dass eine berufliche Organisation zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der gleichen Sparte – wie sie die Institution einer Steinmetzinnung bietet – kaum möglich ist. Ihre Markt-Identität und ihre beruflichen Beziehungen konstituieren sich für Frau Schmidt stattdessen wesentlich durch die Teilhabe an Netzwerken.19 Die Leute [Kundschaft], die mich finden wollen, die finden mich. Und durch die lange Selbständigkeit hab’ ich inzwischen so’n gutes Netzwerk, dass die Leute das privat weitererzählen. […] Ich bin im Künstlerbund sozusagen als freischaffende Künstlerin. Und, äh, ich, ich bin in ’n Trauernetzwerk, was ich selber mit aktiv gestalte in [der Stadt] und Umgebung. det. Vgl. Karpik, Lucien: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt a.M. 2011, S. 20-24. 17 Abgrenzungen und wertende Äußerungen zu bestimmten Gruppen wiederholen sich im Interview. – Da diese Abgrenzung zum Fremden sowohl netzwerk- als auch kulturtheoretisch auffällig ist, sei hier auf einen beides verbindenden Aufsatz hingewiesen: Fuchs, Stephan: „Kulturelle Netzwerke. Zur relationalen Soziologie symbolischer Formen“, in: Jan Fuhse/Sophie Mützel (Hg.), Relationale Soziologie: Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 49-68, hier bes. S. 53-57.61-63. 18 Laut Aussage der Probandin gebe es zwar weitere Keramiker(innen), die Urnen gestalten, doch beschreibt sie deutliche Unterschiede des (kleineren) Angebotsformats dieser Anderen gegenüber ihrer ganzheitlichen Arbeit. 19 Vgl. zu (größeren) Spielräumen, die einerseits – aus Sicht der Theorie – der Netzwerkbegriff ermöglicht und andererseits Netzwerke als soziale Strukturen Menschen bei der Konstruktion ihrer Identitäten ermöglichen Fuhse, Jan: „Menschen in Netzwerken“, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2008, S. 29332943, ferner mit Blick auf die Bedeutung von Kommunikationen für spezifische Netzwerkbeziehungen und -identitäten Fuhse, Jan: „Die kommunikative Konstruktion von Akteuren in Netzwerken“, in: Soziale Systeme 15 (2009), H. 2, S. 288-316.

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Und das ist, das ist ’n gutes Netzwerk. Da sind eben Seelsorger, Pastoren, Bestatter, äh, Trauerbegleiter, äh, Psychologen, Palliativ-, Hospizleute drin. Und das ist so’n Netzwerk, wo ich merke, da können wir den Leuten ’n gutes Geländer geben und ’n guter Begleiter sein. Wir empfehlen uns gegenseitig weiter. Und das funktioniert wunderbar. Und die Leute fühlen sich gut aufgehoben.

Die Keramikerin wirbt offenbar nicht um jederlei Kunden, sondern vertraut darauf, dass es Trauernde gibt, die genau ihr Marktnischen-Angebot brauchen, suchen und ihrerseits Vertrauen in die positiven Qualitätsurteile setzen, die im Trauernetzwerk in persönlichen Kontakten kommuniziert werden.20 Ihre künstlerische Kompetenz erhält durch die Mitgliedschaft im Künstlerbund Mecklenburg-Vorpommern eine Art Zertifizierung, da diese nur über ein positiv verlaufendes Auswahlverfahren erreicht werden kann.21 Aus zeitlichen Gründen ist Frau Schmidt im Künstlerbund aktuell allerdings wenig aktiv. Weit mehr fließen ihre Energien in das Trauernetzwerk. Dieses ist für die Probandin durch gemeinsame – an den Bedürfnissen von Menschen orientierte – Ziele ausgezeichnet. Man will in spezifisch krisenhaften Situationen Beistand leisten und ebenfalls sich untereinander unterstützen. Als Mitglieder werden Personen unterschiedlicher, sich mit Tod und Trauer befassender Professionen sowohl aus dem kirchlichen Kontext als auch aus säkularen Bereichen genannt. Wie Frau Schmidt berichtet, habe man in dem ursprünglich kircheninternen Netzwerk vor einiger Zeit eine – aus ihrer Sicht begrüßenswerte – Öffnung beschlossen. Das „Geländer“, das die Interviewte Trauernden bieten kann, besteht nun nicht allein in der Gestaltung individueller Abschiedsgefäße oder Grabzeichen. Ja, also ich bin auch ausgebildete Trauerbegleiterin, bei, äh, [der Trauerarbeitseinrichtung]22. Habe ich ’ne zweijährige sehr intensive Ausbildung gemacht, die gut war — oder sehr gut war, muss ich sagen, mit tollen Dozenten. Und da: biete ich vorwiegend Einzelbegleitung auch an. Und die kann also nur als Gesprächsangebot sein oder auch in der, in der kreativen Arbeit mit Materialien in der Gestaltung, ob mit Ton oder mit Papier, wie auch immer.

In idealer Weise trägt die „intensive Ausbildung“ in einer deutschen Großstadt zur Herausbildung ihres professionellen Profils bei und befähigt die Keramikerin nicht nur zu einer Arbeitsweise, die mit kunst- bzw. gestalttherapeutischen Metho-

20 Zur Urteils- und Vertrauensbildung vgl. L. Karpik: Mehr Wert, S. 61-87.218-223. 21 Vgl. a.a.O., 208f. 22 Probandin nennt konkrete Ausbildungsstätte.

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den vergleichbar ist,23 sondern auch zum „Gesprächsangebot“. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sie im Rahmen der Weiterbildung – damals sich noch als „Atheistin“ verstehend – das Bibliodrama24 kennenlernte.25 Frau Schmidt beschreibt dies als eine sehr intensive Erfahrung, die ihr einen neuen Zugang zum christlichen Text- und Kulturgut, aber auch zu ihrer eigenen Spiritualität ermöglichte. Im Anschluss an ihre Ausbildung habe sie sich taufen lassen. Der für das Bibliodrama charakteristische kreative, handelnd-inszenierende Umgang mit (biblischen) Texten, der zugleich zur Reflexion von Lebenssinnfragen und Selbsterfahrung Impulse geben kann,26 hat wahrscheinlich Anteil an der Herausbildung ihres künstlerischen und kunsthandwerklichen Stils, der immer wieder Textliches integriert. Ihre „Objekte haben alle Themen, also selbst die Urnen haben ’n Thema wie ‚Himmel und Erde‘ oder ‚Paradiesgarten‘. Die richten sich nach den Texten“, die sie direkt auf die Artefakte überträgt. Diese Texte können dann von den Kundinnen und Kunden individuell konnotiert werden. So werden durch sie Impulse zur Deutungsarbeit gegeben.

7.  DER GELDWERT Die Resonanz auf ihr Angebot der Einzelbegleitung für Trauernde schildert Frau Schmidt als eher verhalten. Den Grund sieht sie bei der fehlenden Anerkennung dieses Formats durch die Krankenkassen. 23 Vgl. von Spreti, Flora/Marten, Diana: „Handwerk Kunsttherapie“, in: Flora von Spreti,/Philipp Martius/Florian Steger (Hg.), Kunsttherapie. Wirkung – Handwerk – Praxis, Stuttgart 2018, S. 527-578, hier S. 557-570, ferner im selben Band Vogel, Ralf T.: (Todeskünste. Tod und Sterben in der Kunst(therapie), in: F. von Spreti/Ph. Martius/F. Steger (Hg.), Kunsttherapie (2018), S. 291-300. 24 Vgl. Martin, Gerhard Marcel: Sachbuch Bibliodrama. Praxis und Theorie, Berlin 32011. 25 Im Interview berichtet sie dazu folgende Anekdote: „Und es war sehr spannend für mich. Weil, zum Anfang fragte der Theologe: ,Wieviel hier in der Gruppe, äh, sind spirituell oder gläubig?‘ Und dann haben sich zwei Teilnehmer aus dem Osten gemeldet, eine war ich, und wir haben gesagt: ‚Wir sind Atheisten.‘ Und dann sagte er: ‚Ihr seid mir die Liebsten. Ihr seid noch nicht vorgeformt.‘ (Auflachen) He. ‚Dann seid mal ganz offen.‘ Und die Dinge, die ich da im Bibliodrama erlebt hab, die haben mich so — stark — beeindruckt.“ 26 Zur durchaus kontrovers diskutierten Selbsterfahrungsdimension des Bibliodramas vgl. Aigner, Maria Elisabeth: „Inszenierte Entdeckungspraktiken. Bibliodrama und Bibliolog an der Bruchstelle von Kultur und Religion“, in: Herder-Korrespondenz. Monatshefte für Gesellschaft und Religion 67 (2013), H. 10, S. 525-528.

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Also die Menschen müssen selber bezahlen und, äh, dann gehen Leute oft lieber zu einem, ich sag’s jetzt mal ganz krass, lieber zu einem schlechten Psychologen, der von der Krankenkasse bezahlt wird, als dass sie in ihrer Trauer, äh, zu ’ner Trauerbegleitung gehen, die sie selber zahlen müssen.

Als weiteres Problem kommt für die Probandin bei Einzelbegleitungen die Preisgestaltung hinzu. Das sei ein „sehr schwieriges Thema“. Sie orientiert sich einerseits an dem, was bei den Kollegen üblich ist, andererseits aber auch etwas am Einkommen der Klientinnen und Klienten. Als aktuellen Stundensatz nennt Frau Schmidt eine Spanne zwischen 50 und 70 Euro und begründet diese Höhe damit, dass es sich um „hochkonzentrierte energetische Arbeit“ handle, die sowohl vor als auch nach der Sitzung Zeit erfordere – zur Erdung und um sich „wieder aus dem Prozess rauszunehmen“. Deutlich einfacher scheint sich der Umgang mit Preisen für den Verkauf von Keramik zu gestalten. Ähm, da is’ es so, dass die Urnen bei mir, äh, zwischen 350 und 400 Euro kosten. Das ist etwas hochpreisiger als eine, sag’ ich mal, ’ne Billigurne beim Bestatter. Aber das muss auch so sein […] Und das is’, is’ so, dass die Leute wissen, dass sie kein Schnäppchen sozusagen bei mir machen. Aber die Menschen kommen auch gezielt hierher, weil sie was anderes wollen. Ja, und sie sind eigentlich immer einverstanden mit den Preisen. Ich hab das ganz selten, dass Leute diskutieren.

Das Besondere der Objekte von Frau Schmidt liegt nicht allein in der (teils religionsästhetischen) Sinngebung, sondern mehr noch darin, dass sie „wirklich ganzheitlich arbeite“.27 Bei Aufträgen für Urnen und Grabzeichen benötige die rein gestalterische Arbeit lediglich die Hälfte der Zeit, alles andere sei „Begleitarbeit“. Die ist „oft mit Gespräch verbunden“, kann sich aber auch in der Mitgestaltung äußern, beispielsweise indem Kundinnen und Kunden „Blumen aus dem Garten“ mitbringen, „die sie mit reindrücken in die Urne“. Frau Schmidt verbindet bewusst ihr „Potential als Trauerbegleiterin mit dieser gestalterischen Arbeit“, und das auch bei ihren Töpferkursen.

27 Zur Mehrdimensionalität als Begründung von Singularität eines Marktangebots vgl. L. Karpik: Mehr Wert, S. 21.

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8.  T  ÖPFERKURSE MIT TRAUERNDEN – GANZHEITLICHES HEILEN Also einmal in der Woche biete ich auch einen Töpferkurs an. Das Spannende dabei ist, dass oft sogar Leute in den Töpferkurs kommen, die vorher in der Trauerbegleitung bei mir waren. Oder für die ich ’ne Urne gestaltet hab‘. Weil sie gemerkt haben, dass ihnen die Arbeit mit den Händen so viel Spaß macht, und was zu gestalten, dass ihnen das Freude macht. Ich habe gerade wieder ’ne, ’ne jüngere Frau, äh, mit der ich die Urne für ihre Mutter gestaltet hab’, und die jetzt gemerkt hat: Oh, das tut mir so gut. Kann ich in den wöchentlichen Töpferkurs kommen? Und die wirklich hier auch Heilung findet.

Die wöchentlichen Töpferkurse im gestaffelten Programm von Frau Schmidt vermitteln intentional deutlich mehr als nur handwerkliche Fertigkeiten. Sie kann es durchaus auch mit „Heilung“ umschreiben, was Teilnehmende dort erleben. Wenn diese bei ihr beispielsweise Seelenhäuser oder Lebenstürme gestalten, mag sich dabei ein ähnliches Fließen „aus dem Geist, durch die Hände in den Ton“ ereignen, wie die Probandin es eingangs als positiv erlebten Prozess benennt, und gleichzeitig sich etwas an individuellem Lebenssinn materialisieren. Eine Verbindung ihrer kunsthandwerklichen und seelsorgerlichen Kompetenzen äußert sich zudem in ihrer Arbeit mit Multiplikatoren (ehrenamtlich Mitarbeitende in der Hospiz- und Palliativausbildung, Krankenschwestern und Pflegepersonal). Für die „Helfenden“ bietet sie u.a. Fortbildungen „zum Thema Trauerrituale: ‚Wie kreativ kann man da Dinge gestalten?’“ an.

9.  BERUF – BERUFUNG – LEIDENSCHAFT Mein Beruf ist meine Berufung und meine Leidenschaft. […] Ich möchte also nichts Anderes machen. Und ich habe das Gefühl, ich bin einfach meinem Sohn, meinem gestorbenen Sohn sehr, sehr dankbar, weil: der war so’n Botschafter für mich. Ich habe durch ihn, durch sein Leben und sein’n Tod habe ich mein’n ganz konkreten Weg gefunden. Und er hat mir die Steine dafür, die Wegsteine gelegt. Und die Botschaft an sich oder meine – Berufung, Idee ist wirklich, das Thema Tod wieder zu integrieren, noch mehr, sichtbar zu machen, es nicht auszuklammern, weil ich am eigenen Leib erfahren habe, wie es ist, wenn man überrollt wird und überrascht wird, mit dieser Thematik.

In dieser Passage verdichten sich zentrale Inhalte des Interviews derart, dass sie als Quintessenz zu verstehen ist. Frau Schmidt beschreibt hier ihren Beruf als etwas, das ihre ganze Person angeht und von dieser angetrieben wird. Der Begriff

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„Leidenschaft“ impliziert nicht nur ein erfülltes oder erfüllendes Streben nach etwas, sondern auch, dass die damit verbundenen Emotionen durchaus leidvoll sein können, ohne dadurch als negativ bewertet zu werden. Wie im Interviewgespräch schon mehrfach zuvor markieren inhaltlich das Setzten von Zeichen zur Orientierung der Einen – hier durch den Sohn gelegte Wegsteine – und ein Suchen und Finden der Anderen den Mittelpunkt der Aussage. Und Frau Schmidt korreliert dann dieses wechselseitige Handeln mit ihrem Begriff „Botschaft“. Ihre keramischen Objekte sind demnach nicht nur Botschaften, sondern gleichzeitig zeichenhafte Umsetzung dessen, was von ihr auf ihrer eigenen Suche gefunden wurde. Gesendet wird die Botschaft aus einer graduell unterschiedlich transzendenten Sphäre (z.B. die Andere, der Geist, der Verstorbene).28 Den kontingenten Prozess des Erfahrens, wenn eine Botschaft sich zu existentiellem Sinn verdichtet, versteht Frau Schmidt als „was großes Spirituelles“, was kaum in Worte zu fassen sei. Überhaupt habe sie ihre eigene Spiritualität erst durch den Tod des Sohnes entdeckt. Der eigene Lebens- und Trauerweg und das Anliegen der Arbeit sind für sie untrennbar. Zumal es sich bei akuter Trauer um eine Lebenssituation handelt, die emotional nur auf der Basis selbst erlebter Trauer nachvollzogen werden kann,29 weiß Frau Schmidt, dass ihr Verlust quasi einen hermeneutischen Schlüssel für das Verstehen der trauernden Kundinnen und Klienten darstellt. Sie kommuniziert daher diese Erfahrung auch öffentlich. Das interpersonale Geschehen, das über die Herstellung, aber auch gemeinsame Betrachtung der Keramiken mit in Gang gesetzt wird, ist ihr ein zentrales Anliegen. Und das ist was, was ich vorhin noch sagen wollte: Mir ist wichtig, dass ich berühre, mit meinen Dingen, die ich tue. Dass ich Menschen berühre und dass ich in Kommunikation komme, mit ihnen ins Erzählen komme. Und das passiert mit den Dingen.

28 Zur Unterscheidung von kleiner, mittlerer und großer Transzendenz sowie zu Modi der Überschreitung dieser lebensweltlichen Grenzen vgl. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Stuttgart 2003, S. 598-658. 29 Zum selten gewordenen Erleben von Sterben, Tod und Trauer, zur oft fehlenden Einübung einer Bewältigung und zu Trauerreaktionen vgl. Lammer, Kerstin: Trauer verstehen. Formen, Erklärungen, Hilfen, Berlin, Heidelberg 42014, S. 2-30.

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10.  RESÜMEE Frau Schmidt bewegt sich beruflich in mehreren sozialen Feldern.30 Sie versteht sich als professionelle Künstlerin im Fach Keramik mit offizieller Bestätigung ihrer Kompetenz durch Aufnahme in den Künstlerbund. Aufgrund ihrer Ausbildung als Töpferin und als Diplom-Designerin bestehen in ihrer Arbeit fließende Übergänge zwischen freier künstlerischer und eher kunsthandwerklicher, zweckorientierter Produktion. Insgesamt tritt der Gebrauchswert ihrer Objekte hinter den künstlerischen oder – und hier beginnen die Überschneidungen – den psychosozialen bzw. spirituell-religiösen oder rituellen Wert zurück. Während die Sphäre der Produktion also bei dieser Keramikerin einer für bildende Kunst typischen entspricht, trifft das auf die Sphären der Distribution und Rezeption überwiegend nicht zu. Ihre Urnen und Grabzeichen werden nicht auf einem Kunstmarkt, sondern auf einem Markt für Trauer- und Bestattungsprodukte gehandelt. Die Beurteilung der Qualität ihrer Objekte erfolgt wesentlich innerhalb eines Trauernetzwerkes und als Rezipierende kommen sowohl Kundinnen und Kunden, Netzwerkmitglieder wie auch Teilnehmende ihrer Kursangebote in Frage. Zudem hat ihre Weiterbildung zur Trauerbegleiterin entscheidenden Anteil am feldübergreifenden Arbeiten von Frau Schmidt. Es zeigt eine starke thematische Fokussierung und gleichzeitig den Anspruch eines ganzheitlichen Formats. Zum Menschenbild dieser Probandin gehört eine spirituell-religiöse Dimension sicher hinzu und wird in den durch ihre Werke angestoßenen Kommunikationen und Reflexionen mit angesprochen. Religionskulturelle Traditionen nimmt sie allerdings in eher freien Mischungen und Anknüpfungsangeboten auf, ‚verarbeitet‘ sie und bietet sie dann der ebenso relativ freien Rezeption an. Diesem Umgang mit Sinnkonzepten und Glaubensinhalten entspricht eine Öffnung des Trauernetzwerkes – das die tragende berufliche Vergemeinschaftungsform der Probandin darstellt – für Akteure, die weder Kirchenmitglieder sind, noch sich selbst als religiös verstehen. Von gänzlicher Freiheit sprechen wir in diesem Zusammenhang nicht, und zwar aufgrund des deutlichen Werterahmens, den die Probandin für ihre eigene Tätigkeit wie ebenso die der Netzwerkmitglieder im Interview mitteilt, und der sich in der explizierten, an den Bedürfnissen Trauernder orientierten Zielsetzung spiegelt. Es kann vermutet werden, dass die Urnen und Grabzeichen von Frau Schmidt für das Netzwerk selbst eine sinnbildliche Funktion erfüllen. Auch andere Mitglieder können auf sie als 30 Vgl. zu sozialen Feldern bei Bourdieu die Zusammenfassung bei Miebach, Bernhard: Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung, Wiesbaden 42014, S. 453-470 sowie zur Kunst als sozialem System Held, Jutta/Schneider, Norbert: Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder, Köln 2007, S. 165249.

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Beispiele für die Idee der individuellen Begleitung verweisen. Religiös-spirituelle Kommunikationen gelten innerhalb des Netzwerkes offensichtlich als normal. Sie werden aber weder auf dogmatische Richtigkeit hin befragt, noch eingefordert. Dass überwiegend spirituelle oder religiöse Personen das Angebot der Probandin suchen, ist anzunehmen. Versucht man die Art und Weise, wie hier Spirituelles und Religiöses zum Ausdruck kommt, einzuordnen, so ist ein Vergleich mit dem idealtypischen Konzept, das Wolfgang Eßbach für die im 18./19. Jahrhundert sich herausbildende Form des Kunstreligiösen beschreibt, weiterführend.31 Als zentrale funktionale Eigenschaft arbeitet er – unter heuristischer Zuhilfenahme der antiken varronischen Theorie32 zur theologia fabulosa bzw. mythica – das ansteckend Emphatische, Begeisternde heraus. Im Sinn für die Unendlichkeit,33 der in sinnlich Wahrnehmbares, in eine kunstvolle Form, in Mythen und (andere) Dichtung mündet, die eine starke emotionale Reaktion bei Rezipierenden hervorrufen können, liegt dieser Religionstypus begründet. Daran erinnert insbesondere die Intention von Frau Schmidt, mit der eigenen Kunst zu berühren und auch zu heilen. Hier wie dort gibt es keine dogmatischen Lehrsätze zu vermitteln und das individuelle Potential zu Transzendenzerfahrung steht stattdessen im Vordergrund. Kunstreligiöse Praxis tendiert kaum zur Ausbildung stärker ausstrukturierter Sinnkonzepte, dies geschieht aber zumindest tendenziell innerhalb des Trauernetzwerkes – mit der angesprochenen, bleibenden Offenheit. Und auch das, was Frau Schmidt zu ihrem Verständnis von B(o)otschaft verdichtet, stellt mithin ein funktionales Konzept dar. Damit ist die Praxis von Frau Schmidt im Überschneidungsbereich von Kunst, Heilung und Religion als exemplarisch für das Konzept der Religionshybride34 zu verstehen.

31 Vgl. Eßbach, Wolfgang: Religionssoziologie. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, Paderborn 2014, S. 432-498. Zur Entstehung der Kunstreligion und deren religionskritischer Ausgangslage vgl. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 22009; ferner Mickan, Antje: „Kunst-Religion. An den Grenzen des Unterscheidbaren“, im vorliegenden Band, S. 207ff. 32 Vgl. W. Eßbach: Religionssoziologie, 379-451, bes. 402-408. 33 Vgl. beim ‚Erfinder‘ des Begriffs „Kunstreligion“ Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern [1799], Göttingen 82002, S. 51. 34 Vgl. u.a. Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas: „Religionshybride – Zur Einführung“, in: Dies. (Hg), Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden 2013, S. 7-45 sowie A. Mickan/Th. Klie/P.A. Berger: „Einleitung“, S. 9ff.

IV. Kultur zwischen Kunst und Religion

Kunst-Religion. An den Grenzen des Unterscheidbaren Antje Mickan

1.  EINLEITUNG Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist auch in Deutschland eine Dynamisierung der Diffusionsprozesse an den Grenzen des religiösen Feldes zu beobachten, wie sie Pierre Bourdieu mit seinem praxeologisch auf Frankreich konzentrierten Blick beschrieben hat.1 Funktional gesehen nicht Religiöses wird importiert und genuin – oder zumindest traditionell Religiöses exportiert, so dass in einem diversifizierten Randbereich neu auszuhandeln ist, um welches ‚Kerngeschäft‘ es bei den jeweiligen Praktiken geht und nach welchen Regeln hier ‚gespielt‘ wird.2 Zwischen dem Künstlerischen und Religiösen sich vollziehende Neujustierungen, die in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen werden, sind nun kein neuer oder einseitig bedingter Umstand. Die Entwicklung von Kunst3 in der 1 Vgl. Bourdieu, Pierre: „Die Auflösung des Religiösen“, in: Ders., Religion, Schriften Bd. 13, Frankfurt a.M. 2011, S. 243-249 sowie dazu mit einer besonderen Beachtung der Prozesse an den Grenzen zu anderen sozialen Feldern vgl., Reuter, Astrid: „Praxeologie: Struktur und Handeln (Pierre Bourdieu)“, in: Detlef Pollack/Volkhard Krech/ Olaf Müller/Markus Hero (Hg.), Handbuch Religionssoziologie, Wiesbaden 2018, S. 171-202. 2 Zu Bourdieus Konzept der Illusio als einem handlungsleitenden Praxis-Sinn, der die Funktion eines sozialen Feldes bestimmt, vgl. Miebach, Bernhard: Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung, Wiesbaden 42014, S. 455-458. 3 Einen instruktiven Überblick zu dieser Entwicklung für bildende Kunst (Kunstbegriff und soziales System Kunst) geben Held, Jutta/Schneider, Norbert: Grundzüge der Kunstwissenschaft, Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder, Köln 2007, S. 21-60.165-249. – An dieser Stelle wurde aus pragmatischen Gründen keine Diffe-

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europäischen Neuzeit bis hin zu einem eigenständigen sozialen System hat sich immer wieder unter Bezugnahme auf und in Auseinandersetzung mit (christlicher) Religion gestaltet.4 Andererseits, wie Wolfgang Eßbach es für historische Intellektuellendiskurse seit der frühen Aufklärung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts herausarbeitete, bot Kunst nicht allein ein Feld, in dem Häresien ausgelebt, religionskritische Vorstellung zur Anschauung gebracht, sondern auch enttäuschte politische Hoffnungen kompensiert und bessere Welten entworfen werden konnten.5 Vor- und frühmoderne6 kunstreligiöse Bewältigungsstrategien für virulente Zeiterfahrungen haben sich zu einem Typus manifestiert, der in der Gegenwart (re)aktiviert und transformiert werden kann.7 Und wieder eine andere, belangvolle Entwicklungslinie bedeutet die Erweiterung des Kunstbegriffs und Entgrenzung des Kunstwerks durch den Einfluss der avantgardistische Theorie seit 1945, die dem bürgerlich-idealistischen Kunstbegriff zuwiderlief und sich in kritische Relation zu einer „Vergesellschaftung von oben“8 setzte, also ebenfalls zu einer kirchlich verwalteten, dogmatisch verfassten Religion.9 Wie gemeinschaftlich ge-

renzierung zwischen bildender Kunst und anderen Kunstsparten vorgenommen. Zwar konzentriert sich dieser Beitrag auf bildende Kunst, aber – um ein weites Thema bruchstückhaft anzureißen: – gerade die Literatur hat eine hohe Bedeutung für die Entstehung der Kunstreligion (vgl. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2009), in der Musik findet wissenschaftlich ihre spirituelle Dimension zu Recht Beach-

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tung (vgl. Lampe, Luise: „Unendlich viel Spiritualität“. Religiöse Musikdeutungen in der gegenwärtigen Klassikszene, Hochschulschrift, Heidelberg 2016 [2015]), als performative Disziplin hat das Theater ohnehin eine große Nähe zu Religionspraxis (vgl. Knapp, Lore: Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke – Christoph Schlingensief, Paderborn 2015) und auch im Tanz kommt bspw. eine beachtenswerte kunstreligiöse Dimension zum Ausdruck, wenn John Neumeier in Hamburg Gustav Mahlers „Lied der Erde“ als Ballett erarbeitet und zeigt (siehe https://www.hamburgballett.de/de/spielplan/stueck.php?AuffNr=146976 [letzter Zugriff 31.05.2018]). 4 In der Darstellung von Hans Belting (ders.: Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden, München 22013, bes. S. 105-124) scheint der historische ‚Moment‘ einer Emanzipation künstlerischen Schaffens von kirchlich bestimmter Religionskultur greifbar zu werden. 5 Vgl. Eßbach, Wolfgang: Religionssoziologie 1. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, Paderborn 2014, S. 349-560. 6 Zeitliche Verortung hier nach J. Held/N. Schneider, Kunstwissenschaft. 7 Vgl. W. Eßbach, Religionssoziologie, S.18-27. 8 J. Held/N. Schneider: Kunstwissenschaft, S. 56. 9 Vgl. a.a.O., S. 44-60.

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tragene Veranstaltungen – etwa die Kunstschau „formare“10 des Künstlerbundes Mecklenburg und Vorpommern im Rahmen der Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum 2017 oder die von Oliver Zybok kuratierten Kunstausstellungen in St. Petri zu Lübeck11 – zeigen, ist es im 21. Jahrhundert möglich, dass institutionelle Kunst und institutionelle Religion als Interaktionspartner in eine mehr oder weniger symmetrische Beziehung treten. Wie im Weiteren noch beispielhaft dargestellt wird, finden daneben allerdings an den Feldgrenzen Annäherungen bis hin zur Ununterscheidbarkeit des spezifisch Künstlerischen und spezifisch Religiösen statt.12 Und selbst in zeitgenössischer Kunsttheorie ist teils ein Rückgriff auf ein der Theologie entlehntes Vokabular zur Beschreibung ästhetischer Erfahrung zu beobachten,13 der eine Äquivalenz zu Transzendenzvorstellungen,14 wie sie für Religion charakteristisch sind, deutlich macht, weshalb ihn Lore Knapp in die Kategorie kunstreligiöser Formen mit einbezieht – trotz einer von Knapp beachteten Selbstverortung der betreffenden Wissenschaftler jenseits von Religion.15 Zu

10 Vgl. Künstlerbund Mecklenburg und Vorpommern e.V. im BBK (Hg.): formare. 27. Kunstschau des Künstlerbundes Mecklenburg und Vorpommern e.V. im BBK, 5. August bis 3. September 2017, Ausst. Kat. Kunstverein zu Rostock, Nikolaikirche, Petrikirche, Zentrum kirchlicher Dienste, Rostock 2017. 11 Vgl. Zybok, Oliver: „‚Am Nullpunkt der Religion‘. Kunst in der Kirche“, im vorliegenden Band, S. 113ff. 12 Vgl. zum Verhältnis von Religion und Kunst aus differenzierungstheoretischer Perspektive Krech, Volkhard: Kunst und Religion, in: D. Pollack/V. Krech/O. Müller/M. Hero (Hg.), Religionssoziologie (2018), S. 783-807. 13 Vgl. L. Knapp: Formen, 291-313.333f. „Theorien ästhetischer und religiöser Erfahrung ähneln sich vor allem dann, wenn sie liminale, transzendente oder transformative Vorgänge beschreiben.“ A.a.O., S. 15f. – Ein Gegenbeispiel zu kunstreligiöser (philosophischer) Theorie bietet für Knapp das zeichentheoretisch gelenkte Verständnis performativer „Wiederverzauberung“ bei Erika Fischer-Lichte. Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 313-333. 14 Vgl. L. Knapp: Formen, S. 16-21. 15 Kunstreligiöses definiert L. Knapp (dies.: Formen, S. 9) folgendermaßen: „Kunstreligiöse Kunst zeichnet sich im Gegensatz zu religiöser Kunst dadurch aus, dass sie nicht im Dienst einer Religion steht, sondern sich vielmehr Charakteristika und Funktionen des Religiösen zu eigen macht. Vom Kunstreligiösen einer Ästhetik lässt sich dann sprechen, wenn erstens ein Bezug zu einer bestehenden Religion nachweisbar ist, zweitens die ästhetische Form nachweislich daran orientiert ist und drittens eine selbstreflexive Tendenz vorhanden ist, durch die das Religiöse in den Dienst der ästhetischen Wirkung oder der ästhetischen Form gestellt wird.“

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unterscheiden ist eine solche Kategorisierung von der Annahme, dass Kunst selbst zu Religion, mithin zu Kunstreligion wird.16 Als Begleitursache für das Verwischen oder auch Neuaushandeln der Systemgrenzen rücken hypothetisch verschiedene soziokulturelle Phänomene der Gegenwart in Betracht. Es kann durch typisch spätmoderne Entwicklungen wie die der Pluralisierung und Individualisierung mit bedingt sein,17 kann auf einer aktiven Suche religiöser und künstlerischer Institutionen, aber auch einzelner Akteure nach neuen erfolgreichen Wegen beruhen (besonders zur Steigerung der Attraktivität des Angebots).18 Da das Verstehen von Kunst und Religion sowie das Anerkennen von Regeln und Werten dieser beiden Systeme gleichermaßen von Bildungsprozessen abhängig ist,19 könnte auch Indifferenz und geringes Bildungsinteresse in Bezug auf Religion wie auf Kunst eine Hybridisierung dieser beiden Formen befördern.

16 Als weitere Literatur zu Kunstreligion sei hier bes. hingewiesen auf Müller, Ernst: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004; Detering, Heinrich: „Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen“, in: Albert Meier/ Alessandro Costazza/Gérard Laudin (Hg.), Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept in seiner Entfaltung, Bd. 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800, Berlin 20011, S. 11-27 – und für die Gegenwart vgl. Ullrich, Wolfgang: An die Kunst glauben, Berlin 2011. 17 Vgl. z.B. zur Hybridität innerhalb des Kunstfeldes durch diverse Genreüberschreitungen nach der Entgrenzung des Kunstbegriffs J.Held/N. Schneider: Kunstwissenschaft, S. 54-59. – Ein bezeichnendes Beispiel aus dem Forschungsfeld zu diesem Beitrag ist die Veranstaltung Kunst:Offen, die seit 1994 an den Pfingstfeiertagen in ganz Mecklenburg-Vorpommern stattfindet und bei der von Hobbymalern bis zur professionellen Künstlerinnen Kreative ihre Werkstätten öffnen. „Unmittelbar aus ‚Kunst:Offen‘ hat sich ‚Kunst Heute‘ entwickelt. Eine Gruppe von Künstlern um den Künstlerbund Mecklenburg-Vorpommern war unzufrieden mit dem Profil von ‚Kunst:Offen‘. Aus ihrer Sicht war die Grenze zu Kunstgewerbe und Hobbykünstlern zu durchlässig. Deshalb wurde 2008 ein Alternativ-Angebot gestartet.“ Schmidt, Wolf: Die Kunst des Bleibens. Wie Mecklenburg-Vorpommern mit Kultur gewinnt. Mit Reportagen von Moritz Baumstieger, Bad Homburg 2012, S. 20, vgl. auch a.a.O., S. 16-32; ferner https://www. kunstheute-mv.de (letzter Zugriff 31.05.2018). 18 Als exemplarisch aus einer Vielzahl von Beispielen sei hier auf die Vernetzungsbestrebungen der Nordkirche mit den Kunstschaffenden der Region hingewiesen, vgl. u.v.a. http://www.kirche-mv.de/Aller-Anfang-ist-KUNST.6912.0.html (letzter Zugriff 31.05.2018). 19 Vgl. Burmester, Susanne: „Kunstvermittlung in Mecklenburg-Vorpommern. Ein Bericht aus der Praxis“, im vorliegenden Band, S. 157ff.

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Und nicht zuletzt mag ein Interesse an „Ganzheitlichkeit“20 ein bewusst feldübergreifendes Handeln von einzelnen Akteuren und Netzwerken motivieren.

Was Religion, was Kunst und was Kunsthandwerk ist, lässt sich für die Gegenwart ohnehin nicht definitorisch exakt und allgemeingültig bestimmen.21 So gehört etwa – wie Georg W. Bertram betont – die Frage „Was ist Kunst?“ zum Nachdenken über Kunst quasi kennzeichnend hinzu,22 ist also theoretisch immer nur für die Praxis und Werke einer konkreten, vergangenen Epoche einigermaßen stichhaltig zu klären. Und auch bei „Religion“ handelt es sich mehr um ein Kommunikationskonzept mit unterschiedlicher Ausgestaltung im gesellschaftlichen und im wissenschaftlichen Diskurs als um ein anthropologisches Grundphänomen, das in vergleichbarer Weise in allen Kulturen vorzufinden ist.23 Hinzu kommt, dass eine Trennung zwischen freier Kunst und zweckgebundenem Kunsthandwerk bei zahlreichen Arbeiten der Gegenwart verwischt, je mehr die Autonomie24 zeitgenössischer Kunst infrage gestellt wird und umso mehr in Sparten wie die Keramik (ohnehin eine Kunst- und Kunsthandwerks-Fachrichtung) Techniken und Formen aus dem asiatischen Raum einwandern, wo Kulturelles nicht in gleicher Weise wie in Europa differenziert wird.25 20 Als instruktiv zu diesem schillernden Konzept der Gegenwart vgl. Höllinger, Franz/ Tripold, Thomas: Ganzheitliches Leben. Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur, Bielefeld 2012. – Zur Bedeutung von Semantiken der Ganzheit und Allverbundenheit im Kontext der Entstehung der Kunstreligion in der Frühromantik (18.Jh.) vgl. B. Auerochs, Kunstreligion, S. 91; W. Eßbach, Religionssoziologie, S. 461. 21 Vgl. zur Religionsbestimmung u.a. Bergunder, Michael: „Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft“, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 19, H. 1/2 (2011), S. 3-55; zum Kunstbegriff vgl. u.a. J. Held/N. Schneider: Kunstwissenschaft, S. 21-60. 22 Vgl. Bertram, Georg W.: Kunst. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2016, u.a. S. 20f. 23 Vgl. Neubert, Frank: Die diskursive Konstitution von Religion, Wiesbaden 2016; M. Bergunder; „Was ist Religion?“, S. 6-17. 24 Vgl. Karstein, Uta/Zahner, Nina Tessa: „Autonomie der Kunst? Dimensionen eines kunstsoziologischen Problemfeldes“, in: Dies. (Hg.), Autonomie der Kunst? Zur Aktualität eines gesellschaftlichen Leitbildes, Wiesbaden 2017, S. 9-48. 25 So teilt eine Raku-Keramikerin, die auch eine längere Zeit in Japan arbeitete, im Interview (geführt am 26.04.2017) mit: „In Deutschland weiß ich darum, […] was in den Einteilungen läuft. Ja, aber zum Beispiel in Japan, das habe ich ja schon mal angesprochen, isˈ, isˈ es so, dass es fließt. Ich bin eher fürˈs Fließen — aus meiner

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Zum heuristischen Zweck aber, um Prozesse der Erweiterung, eventuell auch Auflösung des religiösen Feldes an der Grenze zum künstlerischen Feld (ein Stück weit) zu verstehen, kann hier auf das Operieren mit nominalistischen, typologisierenden Bestimmungen von Religion und dem Religiösen nicht verzichtet werden. Als pragmatisch weiterführend erwies sich Volkhard Krechs Konzept zur Identifikation religiöser Kommunikation.26 Es geht von dafür kennzeichnenden Realitätsverdopplungen durch Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz aus. Das Unbekannte wird in der Kommunikation in Bekanntes transformiert, wodurch Sinnüberschüsse erzeugt werden.27 Diese sehr weite Bestimmung, die so eine Abgrenzung zu Kunst und dem Künstlerischen nicht möglich macht, wird von Krech in spezifischer Weise verengt. Er nimmt für religiöse Kommunikation an, dass hier typischerweise Einschränkungen des Sinnüberschusses erfolgen über Divinationspraktiken im Sinne von Qualifizierungen von etwas als „heilig“, über Kanonisierungen bestimmter Zeichen und deren Gebrauch, über „die Ausbildung von festen Sprachmustern […] von Mythen, Texten und deren Kompilierung (z.B. Talmud, Bibel oder Koran), von rituellen Handlungen und religiösen Ethiken“28 und darüber hinaus durch „die Verarbeitung von Themen der Alltagskommunikation“29 mit einer existentiellen Dimension. So ist religiöse Kommunikation häufig verbunden mit starken Stimmungen, Erfahrungen, Motivationen und Präferenzen sowie mit Auratisierungen30 von Objekten materieller, räumlicher und zeitlich-erinneren Seele heraus.“ Neben Raku-Keramik ist bspw. auch der Holzbrand japanisch beeinflusst und es existieren Beziehungen von dort nach Mecklenburg-Vorpommern, vgl. Kaden, Antje: „Anagama Adé? Ein Symposion und ein Ausstellungsprojekt“, in: Landesverband Kunsthandwerk Mecklenburg-Vorpommern (Hg.), Holzbrandkeramik in Mecklenburg-Vorpommern. Aktionen, Technik und Akteure – eine Bestandsaufnahme, Rostock 22010, S. 15. Zur momentan in Deutschland an Popularität gewinnenden Wabi-Sabi-Ästhetik vgl. A. Bosch: „Objekte“. 26 Vgl. Krech, Volkhard: Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft, Bielefeld 2011, S. 40-43. 27 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 58-64. – Mit W. Eßbach (ders.: Religionssoziologie, u.a. S. 17) merken wir hier eine gewisse Zurückhaltung der Systemtheorie gegenüber an, da sie das Potential birgt, nicht nur Gesellschaft zu beschreiben, sondern auch zu steuern. Eine allein differenztheoretische Herangehensweise passt weniger zur Frage nach Grenzverschiebungen und der Konstitution von hybriden Feldzonen, als zur Beschreibung von stabilen Kernfeldern. 28 Krech, a.a.O., S. 42. 29 Ebd. 30 Krech (a.a.O., 43) verwendet diesen Begriff, ohne die damit verbundene Vagheit zu thematisieren. Zur Aura vgl. den auch begriffsgeschichtlich instruktiven Artikel von

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eignishafter Art.31 Diese Begrenzungen ermöglichen die Ausbildung von Traditionen und stellen eine Art Institutionalisierung dar. Auf den „Märkten des Besonderen“,32 die den Rahmen der für diesen Artikel grundlegenden empirischen Untersuchung markieren, sind Bezeichnungen als Künstlerin oder Kunsthandwerker selbst schon ein fester Bestandteil dessen, was die Qualität des Angebots zeigt und erschafft.33 So ist in dieser Hinsicht eine Orientierung des Samplings gegeben. Doch ist es nicht möglich, allein aufgrund vom kommunizierten Selbstverständnis als religiös oder aufgrund expliziter Bezüge auf Religion und Religiosität das erweiterte religiöse Feld im Nordosten Deutschlands zu sondieren, da „Religion“ auch mit negativen Konnotationen verbunden ist,34 daher teils vermieden wird oder schlicht nicht zur Deutung zur Verfügung steht.35 Dass die untersuchte Kommunikation sich zugleich als selbstreferenziell Rüth, Uwe: „Die Aura“, in: Rolf Wedewer (Hg.), Aspekte künstlerischen Denkens heute. Standpunkt Plastik, Ostfilden-Ruit 1999, S. 111-165. 31 Vgl. als explizite Anknüpfungen von Krech (a.a.O.): Geertz, Clifford: „Religion as a Cultur System“, in: Michael Banton (Hg.): Anthropological Approaches to the Study of Religion, London 1966, S. 1-46, hier S. 8; Taylor, Charles: Sources oft the Self: The Making oft the Modern Identity. Cambridge, Ma. 1989, S. 4. 32 Vgl. Karpik, Lucien: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt a.M. 2011 sowie zum DFG Projekt „Märkte des Besonderen“ Mickan, Antje/Klie, Thomas/Berger, Peter A.: „Einleitung: Kunsträume“, im vorliegenden Band, S. 9ff. 33 Zur Qualifizierung von Produkten vgl. L. Karpik, Mehr Wert, S. 112-120. 34 Zur Bedeutung des ostdeutschen Kontextes vgl. u.a. Karstein, Uta: Konflikt um die symbolische Ordnung. Genese, Struktur und Eigensinn des weltanschaulich-religiösen Feldes in der DDR, Würzburg 2013; Wohlrab-Sahr, Monika/Karstein, Uta/SchmidtLux, Thomas: Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands, Frankfurt a.M. 2009. – Als zur Entstehung von Kunstreligion seit 1800 von Relevanz weist B. Auerochs (ders.: Kunstreligion, S. 12f.) darauf hin, dass Religionskritik in den Intellektuellendiskursen fast ausschließlich in einem ablehnenden, skeptischen Sinn betrieben wurde, während Kunstkritik an der Förderung des Prinzips Kunst teilhat. Seine eigenen Reflexionen der jeweiligen Vor- und Nachteile von Kunst gegenüber Religion münden (a.a.O., S. 71) in die These: „Zweifelsfrei paßt die Kunst besser zur modernen Gesellschaft als die Religion. Der Verweis der künstlerischen Darstellung auf die Weltsicht eines Individuums paßt zur individuellen Selbstbestimmung und Selbstergründung. Der sachte sokratische Anstoß paßt zum Selbstdenken und zur Neigung, Wahrheit herauszufinden; nicht: sie sich gesagt sein zu lassen.“ 35 Vgl. Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas/Liszka, Arnaud: „Fazit – Ergebnisse des Forschungsprojekts“, in: Peter A. Berger/Klaus Hock/Thomas Klie (Hg.), Hybride Religiosität – posttraditionale Gemeinschaft. Kirchbauvereine, Gutshausvereine und

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bzw. rekursiv erweist, stellt nach Krech das zentrale Merkmal für religiöse und auf Religion bezogene Kommunikation dar, gegenüber nicht-selbstreferentieller religioider Kommunikation.36 Und auf diese letztere Form der Kommunikation, die hier unter das Konzept des Religionshybriden gefasst wird,37 konzentriert sich die Darstellung und Diskussion im Anschluss an eine analytisch relevante Theorieskizze.

2.  S  KIZZE EINES RAUM- UND PERFORMANZTHEORETISCH GELEITETEN ANALYTISCHEN ZUGANGS Die Analyse stützt sich auf raumtheoretische und performanztheoretische Annahmen, die noch vorausgehend skizzenhaft verkürzt umrissen werden sollen. Im hier angenommenen – mit von Ernst Cassirer38 ausgehenden Impulsen, vorwiegend an Martina Löw39 und Matthias Wüthrich40 anschließenden – relationalen Raumkonzept41 ergibt sich eine Raumstruktur dadurch, dass Objekte durch Positionierung eine spezifische Beziehungsstruktur einer grundlegenden Ebene ergeben. Diese alternative Gemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin 2014. S. 155-166, hier S. 158. 36 Vgl. V. Krech: Religion, S. 242-260; zu religioid vgl. Simmel, Georg: Philosophie der Mode (1905). Die Religion (196/1912). Kant und Goethe (1906/1916). Schopenhauer und Nietzsche, Frankfurt a.M. 1995, S. 61f. 37 Vgl. Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas: „Religionshybride – Zur Einführung“, in: Dies. (Hg), Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden 2013, S. 7-45 sowie Käckenmeister, Thomas/Liszka, Arnaud: „Theoretische Grundlagen“, in: P. A. Berger/K. Hock/Th. Klie (Hg.): Hybride Religiosität (2014), S. 15-26. 38 Als Auswahl sei hier zum Raum bes. hingewiesen auf Cassirer, Ernst: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagen aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 485-500; und zur symbolischen Prägnanz vgl. ders.: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Hamburg 2002, S. 222-237. 39 Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001. 40 Vgl. Wüthrich, Matthias: Raum Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch, Raum zu denken, Göttingen 2015 und hier bes. S. 27-89 zu Wüthrichs systematisierenden raumtheoretischen Überlegungen, die in ein analytisches Konzept münden, das mit der Differenzierung von Raumebenen arbeitet. 41 Als ausgesprochen weiterführenden Band vgl. Alpsancar, Suzana/Gehring, Petra/Rölli, Marc (Hg.): Raumprobleme. Philosophische Perspektiven, München 2011.

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bietet für eine darauf bezogene soziale bzw. soziokulturelle Praxis eine mehr oder weniger geeignete Basis, ermöglicht oder verunmöglicht also gewisse Handlungen und Kommunikationen, die selbst bestimmten Regeln folgen, mit (sinnhaften) Bedeutungen verbunden sind und damit die Struktur der Objektrelationen beeinflussen. Diese komplexe Raumerscheinung – aus mehreren miteinander in Wechselwirkung stehenden Ebenen – an bestimmten Orten, die durch die gegebenen signifikanten Sinnzusammenhänge abgrenzbar sind, werden in Subjektperspektiven zu spezifischen Räumen42 synthetisiert. Raumsynthesen43 sind damit wiederum von individuellen Möglichkeiten der Subjekte abhängig, aber keinesfalls beliebig, sondern durch kulturelle Codes gelenkt,44 welche zur Entschlüsselungen der Bedeutung der wahrgenommenen Formen bereitstehen. Vorzugsweise in künstlerischen und in religiösen Räumen ist damit zu rechnen, dass über sprachliches Handeln – zumindest für einen bestimmten Zeitraum erfahrbar – konkrete Wirklichkeiten geschaffen werden. Dabei hat außer der performativen Handlung (bspw. ein Ritus, ein Theaterstück, eine Performance) das gesamte wahrgenommene Raumensemble deutungsleitende Funktion. Erika Fischer-Lichte hat diese Zusammenhänge (u.a.) in ihrer Ästhetik des Performativen differenziert und ausführlich dargestellt.45 Aber auch bei Abwesenheit von Handlungspersonen können Objektrelationen durch Aktivierungen hervorgehoben und so in einer performativen Wiese Wirklichkeiten geschaffen und Deutungen gelenkt werden. Erkenntnisse aus der Bildanalyse führen hier weiter. So zeigt Nelson Goodman mit seiner These von der Notwendigkeit der Aktivierung von Kunst einen für die Raumanalyse relevanten wahrnehmungstheoretischen (performativen) Aspekt auf.46 Laut 42 Funktional und Sinnordnungen betreffend, im Detail aber auch auf bestimmte Praktiken (z.B. Sport, Lernen, Gottesdienst), bestimmte Identitäten oder auch bestimmte Weltanschauungen usw. bezogen; vgl. die soziologische Rahmentheorie von Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M. 1996. 43 Vgl. M. Löw: Raumsoziologie, S. 158-161. 44 Zum hier angenommenen semiotischen Kulturverständnis als „Bedeutungsgewebe“ (Geertz, Clifford: „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“, in: Ders. Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1987, S. 7-43, hier S. 9) vgl. Lotmann, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, Berlin 2010; ferner Eco, Umberto: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a.M. 1977, S. 185f. 45 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik. 46 Vgl. Goodman, Nelson: „Kunst in Aktion“, in: Jakob Steinbrenner/Oliver R. Scholz/ Gerhard Ernst (Hg.): Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans, Heidelberg 2005, S. 33-42, vgl. ferner ders.: Sprachen der Kunst. Entwurf einer

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Goodman bezieht sich Kunst auf Kunst, Kunst bringt Kunst hervor, so dass Kunstrezipierende die Bedeutung des einen Werkes auf ein anderes beziehen (können).47 Die Wahrnehmung eines Artefakts lenkt den Blick also auf weitere raumkonstitutive Zeichen, die damit in Verbindung zu bringen sind. Entsprechend betont Goodman: „Kunstwerke müssen ebenso wie Maschinen oder Personen eher als dynamische Entitäten angesehen werden, die oft in Gang gebracht, wieder neu in Gang gebracht und in Gang gehalten werden müssen“48. Nach dem gleichen Prinzip erfolgt im Forschungsfeld die Ausstattung (Spacing)49 von Räumen mit aktivierten Elementen, die so bestimmte Bedeutungen zeigen und aufeinander bezogen erscheinen. Im Modus der Aktiviertheit verweisen Objekte auf sich selbst. Mit Goodman gilt es nun weiter zu fragen, ob das, was an Bedeutung gezeigt wird, ein Ganzes darstellt, so dass eine Denotation50 vorliegt: etwas verweist auf etwas anderes und beide Zeichen können wechselseitig füreinander verwendet werden. Oder führt das Gezeigte einen Aspekt von einem bedeuteten Thema aus. Goodman spricht in diesem Fall von Exemplifikation,51 was die wechselseitige Übersetzung der Zeichen ineinander nicht zulässt, sondern nur einen Aspekt eines Ganzen hervorhebt. Es ist folglich bei der Analyse stets zu fragen, ob mehrere aktivierte Objekte ein gemeinsames Thema exemplifizieren und wie Beziehungen konstruiert bzw. inszeniert sind. Konkret kann das im Untersuchungsfeld heißen, dass durch einen Ausstellungstitel oder durch die soziokulturelle Bedeutung eines Ausstellungsortes die gezeigten Objekte als Exemplifikationen eines Themas bzw. Zusammenhangs gedeutet werden und so etwa auch Werke zu einem sozialpsychologischen Thema (z.B. Gewalt, Schuld) durch den Ort „Kirche“ und das be-

Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1995 sowie ders.: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 31995. 47 Vgl. ähnlich zu einer Hermeneutik des Sehens Soeffner, Hans Georg: „Bilder des Zen – Möglichkeitsräume“, im vorliegenden Band, S. 131ff. 48 N. Goodman: „Kunst in Aktion“, S. 34. – Mit dieser Theorie in Verbindung steht Goodmans These, dass nicht „Was ist Kunst?“ zu fragen sei, sondern „Wann ist Kunst?“ Vgl. ders.: Weisen, S. 76-91. 49 Vgl. M. Löw, Raumsoziologie, S. 158-161. 50 Vgl. N. Goodman: Sprachen, S. 15-17. – Die bei Eco übliche Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation findet sich bei Goodman selbst nicht, vgl. dazu den produktiven Anschluss von Esser, Andrea: „Kunst als Symbolsystem“, in: J. Steinbrenner/O. R. Scholz/G. Ernst, Symbole (2005), S. 61-73. 51 Vgl. N. Goodman: Sprachen, S. 59-63.

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nachbarte Objekt „Altar“ eine von der Künstlerin nicht intendierte religiöse Deutung anstoßen.52 Die Aktivierung eines Objekts kann auf diverse Arten erfolgen, welche auf die Wahrnehmung lenkend Einfluss nehmen. Die Spanne der Möglichkeiten reicht von beschrifteten Hinweisschildern über spezielle Beleuchtungen bis zu einer Hervorhebung durch Kontraste. Objekte können in Praktiken53 verwendet und auf diese Weise betont oder exponiert (quasi unübersehbar) in einem Ensemble platziert werden.54 Eine eher subtile Form der Aktivierung ist ein auffälliges Nicht-Vorkommen, wo das betreffende Objekt zu erwarten wäre. Überhaupt wird bei der Konstitution von Bedeutung indirekt oft auch das Nicht-Bedeutete, das Antonymische mit aktiviert und die unterschiedliche Art der Aktivierung ist bedeutungstragend. Dass Ausstellungsgegenstände oder Produkte für den Verkauf in einer anderen Weise gezeigt werden als sonstige (bleibende) Einrichtungen, ermöglicht wiederum eine spezifische Form der Auratisierung der Ware.55 Im Bereich von Kunsthandwerk ist zu vermuten, dass über eine als Rahmen fungierende inszenierte Kultur, Geschichte oder durch einen inszenierten Mythos das Künstlerische und Besondere der Produkte erst sichtbar erzeugt, dieser Kontext gewissermaßen mit verkauft wird.56 Damit wäre eine auch für religiöse Kommunikation typische Charakteristik auffällig, die im Zusammenhang der gegebenen Praxis zu diskutieren ist.

52 Vgl. exemplarisch zur Ausstellung „Traum und Trauma“ in St. Johannis zu Lassan Seidenschnur, Ulrike: „Kunst und Kirche im Lassaner Winkel. Galerie in der Kirche St. Johannis zu Lassan“, im vorliegenden Band, S. 175ff. 53 Das Einbeziehen von Praktiken bedeutet dann aber das Wechseln auf eine komplexere Raumebene. 54 Vgl. zu den komplexen Bedeutungsbeziehungen als grundlegend E. Fischer-Lichte: Ästhetik. 55 Dieser Sinnüberschuss ist freilich auch in seiner Qualität divers. N. Goodman (ders.: „Kunst in Aktion“, S. 41) versteht darunter Folgendes: „Die Aura muss eher als ein Komplex aus der Geschichte des Werkes zusammen mit seinen Assoziationen, Anspielungen und anderen referentiellen Beziehungen gedeutet werden.“ 56 Das gilt nicht allein für Keramik, vgl. dazu die folgende exemplarische Interviewaussage (vom 20.06.2017): „Also, ich glaube, dass mein Schmuck sehr erzählerisch ist und […] viele Möglichkeiten für Interpretationen bietet dadurch und deswegen auch sehr persönlich für die Menschen wird. Also es geht zu ihnen über sozusagen und sie nehmen es für sich in Besitz. Es ist nichts, womit sie sich einfach nur schmücken, weil sie einfach noch’n Punkt setzen wollen im Farbigen auf ihr Dekolleté oder so, sondern es ist ne Erzählung, die sie tragen“.

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3.  Z  EICHEN DES HEILIGEN UND DIE (SÄKULARE) SAKRALISIERUNG 57 VON RAUM Das 1870 fertiggestellte Universitätshauptgebäude in Rostock wurde in den Jahren von 2009 bis 2013 umfassend renoviert.58 Für die Gestaltung des Vestibüls der Eingangshalle lobte man einen Wettbewerb „Kunst am Bau“ aus. Erwünscht war von den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern ein Werk, das an diesem Ort eine einladende Wirkung habe und eine Beziehung zum Leitspruch der Universität Rostock „Traditio et Innovatio“ zeige.59 Als Ergebnis ‚schwebt‘ nun eine Bronzeskulptur des ortsansässigen Künstlers Wolfgang Friedrich quasi im symbolischen Zentrum der Universität. Sie verkörpert die eher wenig bekannte Göttin Metis der griechischen Mythologie, nach Hesiod die überaus kluge Mutter der Athene. „Eine“, wie der Universitätsrektor Prof. Dr. Wolfgang Schareck deutet, „virtuelle Göttin der Weisheit, des Wissens, auch des impliziten Wissens, ohne Bezug zu Krieg, wie bei ihrer Tochter Athene, mit dieser Leichtigkeit und Anmut, auch aus den Seitentrakten sichtbar und vor einer Wandbemalung des Kosmos, der wissenschaftlichen Unendlichkeit ist die beste Begrüßung für jeden, der unser Hauptgebäude betritt.“60 Während diese Worte von der „virtuellen Göttin“ die zeichenhafte Bedeutung der Plastik für das, was an diesem Ort gelten und von Wert sein solle, hervorheben, spricht Dr. phil. Dirko Thomsen im Rahmen seines Beitrags zum neuen Werk im Hauptgebäude von der Metis als genau der richtigen „Schutzheiligen“ für die Universität.61 Als Inspiration für religiöse Interpretationen des Werkes in seinem Kontext ist ein vorausgehender Besuch der benachbarten Universitätskirche mit ihrem vergleichbaren Ensemble denkbar. In dieser 57 Vgl. Schlette, Magnus/Krech, Volkhard: „Sakralisierung“, in: D. Pollack/V. Krech, O. Müller/M. Hero (Hg.): Religionssoziologie (2018), S. 437-463. Der von den Autoren gesehene Zusammenhang von Säkularisierung und Sakralisierung, setzt eine Zustimmung zur sog. Säkularisierungsthese voraus, dem hier so nicht gefolgt wird. Wenngleich er in konkreten Details sich bestätigen lässt, reduziert er komplexe und vielfältige Wirklichkeit doch über ein hier als angemessen angesehenes Maß hinaus. 58 Vgl. Krüger, Kersten/Münch, Ernst: „Vorwort der Herausgeber“, in: Dies., Das Hauptgebäude der Universität Rostock 1870-2016. Teilband 1. Aufsätze, Rostock 2016, S. 7-10. 59 Vgl. Schareck, Wolfgang: „Zwei Höhepunkte moderner Gestaltung. Das Aulafenster und die Göttin Metis“, in: K. Krüger/E. Münch, Das Hauptgebäude (2016), S. 245-247. 60 W. Schareck: „Höhepunkte“, S. 246 [Zeichensetzung wie im Original; Kursivierung A.M.]. 61 Vgl. Flyer: Metis für die Universität Rostock, S. 2 (https://www.bildhauer-friedrich.de/ files/arbeiten/Metis_K.pdf [letzter Zugriff 01.06.2018]).

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Abbildung 1 und 2: Triumphkreuzgruppe, Klosterkirche „Zum heiligen Kreuz“; „Metis“ im Foyer des Uni-Hauptgebäudes; Fotos: eigene Aufnahmen

ehemaligen Zisterzienserinnenkirche „Zum Heiligen Kreuz“ steht eine gotische Triumphkreuzgruppe auf einem Balken aus dem 15. Jahrhundert.62 Der dargestellte gekreuzigte Jesus mit den beiden Assistenzfiguren Maria und Johannes unterstreicht hier die Sakralität des Kirchenraumes. Die Ähnlichkeit beider Werke und ihrer Wirkung im sie umgebenden Gebäude ist augenfällig. Es sind jeweils lebensgroße Skulpturen63 menschlicher Körper in überhöhter Position mit ausgebreiteten Armen zu sehen.64 Zu beiden Figuren sind – wenn auch mit sehr unterschiedlicher Stärke der Ausgestaltung und Wirkungsgeschichte – Erzählungen verfügbar und durch Texte (ausliegende Bibel bzw. Informationsbildschirm) explizit mit den Skulpturen verbunden, so dass diese als Verkörperungen kultureller Traditionen ‚erscheinen‘, die von der göttli62 „Der Heiland [der Triumphkreuzgruppe] trägt auf der Brust eine Kapsel aus Bergkristall, in welcher sich Splitter von seinem Kreuz befinden, den die Königin Margarete [zu Dänemark] vom Papst als Geschenk erhielt.“ Nizze, Adorf: Das Kloster zum Heiligen Kreuz zu Rostock. Reprint der Originalausgabe, Rostock ca. 1920, BörgerendeRethwisch 2005, S. 21; vgl. auch a.a.O., S. 16. 63 „Skulptur ist, sie scheint nicht. Als wirklicher Körper gibt sie dem Betrachter einen Teil seiner eigenen Wirklichkeit zurück, und als übersteigerte Wirklichkeit wird sie spirituell und formt zwischen sich und dem Betrachter das, was ich eine Aura nenne.“ Prager, Heinz-Günter: Von der Ökonomie zur Aura. Die Bedeutung der afrikanischen Skulptur für die Skulptur des 20. Jahrhunderts, Bonn 2004, S. 7; hier zitiert nach U. Rüth: „Aura“, S. 144. 64 Für religiöse Subjekte ist eine Interpretation als zeichenhafte Segenshaltung nicht abwegig. Dieser Eindruck verliert sich allerdings aus der Seitenperspektive, welche die springende Haltung der Figur sehen lässt.

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chen Herkunft der dargestellten Charaktere handeln. Was hier im Zusammenspiel der genannten kulturellen Zeichen kommuniziert wird, weist also insgesamt auf Charakteristika des Religiösen hin. Trotzdem gibt es gute Gründe nicht in beiden Fällen von Religionsästhetik zu sprechen, und zwar nicht allein aus einer individuellen, durch bestimmte Weltvorstellungen gelenkten Perspektive, sondern aufgrund von weitgehend objektiven Anhaltspunkten. Während die Triumphkreuzgruppe zu einer Zeit für die Klosterkirche geschaffen wurde, als die Produzenten solcher Werke als Handwerker in Zünften organisiert waren und einen konkreten Auftrag umsetzten,65 handelt es sich bei Wolfgang Friedrich um ein Mitglied des Künstlerbundes mit Bildhauereistudium, der mit seinem eigenen Entwurf einen Kunst-Wettbewerb für die Ausgestaltung eines Gebäudes einer säkularen Institution gewonnen hat. Damit ist das Werk „Metis“ signifikant nicht dem Religionssystem, sondern dem Kunstsystem – das es zur Zeit der Erschaffung des Schnitzwerkes so freilich noch gar nicht gab66 – zuzuordnen. 65 Vgl. J. Held/N. Schneider: Kunstwissenschaft, S. 171-176. 66 Wie J. Held und N. Schneider (Kunstwissenschaft, S. 21-43) es anhand historischer Quellen belegen, gehörten Malerei und Bildhauerei im Mittelalter zu den weniger geachteten artes mechanicae oder atres vulgares, da sie lediglich nachbildeten und, wie schon Platon sie einschätzte, eben nicht schöpferisch seien. Zwar gab es mit der humanistischen Bildungsbewegung seit dem 14. Jahrhundert erste Ansätze einer steigenden Wertschätzung dieser Kunst, die auch durch die beginnende Kapitalisierung und Merkantilisierung von Gebrauchsgütern befördert wurde, doch ergab sich erst im Anschluss an die Eingliederung der Dichtkunst in das System der freien Künste auch für die bildenden Techniken ein Gewinn an Ansehen. Maler und Bildhauer reklamierten dichterische Qualitäten für sich und ihre Werke und sie beriefen sich dabei nun auf Aussagen der Platonischen Tradition zur mania, bzw. zum furor der Dichter. Diese göttliche Raserei bzw. das seherhafte Entzücken im Zustand des Enthusiasmus würde auch sie auszeichnen, was einer Teilhabe an den göttlichen Ideen gleichkäme. Bahnbrechend für die Entwicklung und steigende Anerkennung bildender Kunst war die von Loene Battista Albertis verfasste, 1436 auf Italienisch erscheinende Schrift „Della pittura“, in der er die außergewöhnliche visuelle Kompetenz der Maler herausstich und die Malerei zudem als scientia, eine Wissenschaft, die aus der Empirie und genauen Beobachtung erwächst, bezeichnet. Das entspricht zwar schon der Zeit, in welcher das Rostocker Schnitzwerk erschaffen wurde, doch handelt es sich eben erst um den Beginn einer langen Entwicklung bis zu einem System bildender Kunst ab dem 19. Jahrhundert und einem Gebrauch von Kunst im Kollektivsingular bei Hegel. W. Friedrich allerdings steht es heute frei, beim Anspruch seiner Kunst als scientia anzuknüpfen. Er ist für sein ausgezeichnetes Auge für den Raum bekannt. Siehe https://www.bildhauer-friedrich. de/files/anmerkung.htm (letzter Zugriff 04.06.2018).

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Es bleibt allerdings zur klären, ob und – gegebenenfalls – in wie weit hier ein Fall von religiöser Kunst vorliegt. In die informierte Rezeption beider Werke fließt ein Wissen darum ein, dass im christlichen Gottesdienst, der in der Universitätskirche trotz ihrer gleichzeitig musealen Nutzung weiterhin gefeiert wird, der abgebildete Gekreuzigte heute ‚ernsthaft‘ als Christus und Erlöser verkündigt wird, wohingegen die „Schutzheilige“ Metis mehr zum Zweck ansprechender Gestaltung gefunden und erfunden wurde und so ‚spielerisch‘ eine personale Göttin repräsentiert.67 Die Bronze ergibt zusammen mit dem von Friedrich gestalteten Hintergrund eine Rauminstallation. In diesem „Universum“ sind einzelne Objekte eingezeichnet, die laut Aussage des Künstlers für das bereits Vorhandene, menschlich (naturwissenschaftlich) noch zu Entdeckende stehen.68 Sie vergegenwärtigen also eine zukünftig als überwindbar gedachte, nicht eine absolut unverfügbare transzendente Größe. Vom Künstler her liegt demnach keine religiöse Intension vor. Indem aber von Seiten der Universität im Rahmen eines festlichen Ritus und darüber hinaus über öffentlich zugängige Informationsmedien eine Deutung der Foyer-Gestaltung als Verkörperung von spezifischen Werten und damit verbundenen Normvorstellungen kommuniziert wird, die mit einem traditionsfähigen Mythos verbunden sind und (wenigstens implizit) als nicht antastbar gelten sollen, findet eine Institutionalisierung statt, die das freie künstlerische Deutungsspiel anhält und den Sinnüberschuss in einer Weise eingrenzt, die als charakteristisch für religiöse Kommunikation angenommen werden kann. Die Göttin des impliziten Wissens in der Eingangshalle der Universität: Kunst, die ein traditionell religiöses und ein wissenschaftliches Thema gemeinsam bespielt, was von den Rezipientinnen und Rezipienten ebenso als guter Wunsch für das Treiben an der Universität Rostock wie auch im Sinne eines Gebets gedeutet werden kann, ermöglicht religiöse Kommunikation im säkularen Setting, ohne dass dies hier anstoßerregend oder besonders auffällig oder auch von der Produzentenseite so vorgesehen wäre.

67 Vgl. zur Differenz kunst-ästhetischer und religiöser Erfahrung Mertin, Andreas: „Die Erfahrungsräume Kunst und Religion. Überlegungen zu ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen“, im vorliegenden Band, S. 97ff. 68 „… Und dann hab’ ich mich dazu entschlossen, zu Gebilden, die im Raum schweben, die ich als anregend empfand oder immer noch empfinde, mit der Hoffnung, dass ein Gebilde mal-, dass jemand vorbei kommt und sagt: ‚Ja das haben wir doch gerade erst entdeckt.‘ (amüsiert) Das is’ ja schon, schon n paar Jahre an der Wand, nich’? Irgendein Elementarteilchen oder eine Amöbe […] dass etwas vorweggenommen ist, was passieren kann.“ Wolfgang Friedrich im Interview mit Antje Mickan am 28.06.2017.

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4.  KUNST UND NICHT-RELIGION Mestlin wurde als einziger von 180 ausgewählten Orten ab Mitte der 1950er Jahre zum sozialistischen Musterdorf der DDR ausgebaut. Dazu gehört auch der große Marx-Engels-Platz mit dem Kulturhaus, das seit 2007/8 durch den Verein Denkmal Kultur Mestlin saniert, unterhalten und mit kulturellen Veranstaltungen bespielt wird, die in die Region hineinwirken.69 Es handelt sich beim Kulturhaus Mestlin daher um einen Ort, der über seine Geschichte, seine zeichenhafte Architektur wie auch Adresse und seine aktuelle Nutzergemeinschaft, d.h. den Verein mit seinen Leitwerten, in ähnlicher Stärke mit Bedeutung aufgeladen ist, wie dies üblicherweise bei Sakralbauten der Fall ist.70 Vom 25. März bis 18. Juni 2017 fand nun bereits zum siebten Mal die durch Andre van Uehm71 kuratierte Ausstellung

Abbildung 3: Das Kulturhaus Mestlin; Foto: eigene Aufnahme 69 Siehe https://www.denkmal-kultur-mestlin.de/seite/20058/mestlin.html (letzter Zugriff 04.06.2018); Baumstieger, Moritz: „Auferstanden aus Ruinen“, in: W. Schmidt: Kunst (2012), S. 64-69, hier S. 65. 70 Vgl. Fischer, Joachim: „Gebaute Welt als schweres Kommunikationsmedium der Gesellschaft. Architektur und Religion aus architektursoziologischer Perspektive“, in: Uta Karstein/Thomas Schmidt-Lux (Hg.), Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen, Wiesbaden 2017, S.49-69, hier bes. S. 64-67. 71 Siehe http://www.vanuehm.de/ (letzter Zugriff 04.06.2018).

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„Kunstlandschaft“ mit Werken von Kunstschaffenden aus Norddeutschland statt. Auffällig war das starke Zusammenspiel der Exponate mit der von einer vergangenen Zeit zeugenden Gebäudeästhetik. Nicht nur die äußere sondern auch die innere Architektur stellen ein – wie Joachim Fischer es nennt – „schweres Kommunikationsmedium“72 dar, das die Raumsynthese lenkt. Erfahren wurde ein allmählich faszinierendes Arragenment der Objekte und der leeren, ‚gammeligen‘ Zimmer und Flure im kühlen (Neon)Licht: Man kann von Zimmer zu Zimmer gehen und weiß vorher nicht, was dort für eine Überraschung wartet. Eine bezeichnend stillstehende Uhr fällt auf und deutet darauf hin, dass hier einmal gearbeitet oder nach ‚Stundenplan‘ auch Feste gefeiert wurden. Vereinzelt sind alte Schulstühle und Tische zu sehen. Sonst gibt es keine Möbel. Die unterschiedlichen Lampen, hier und da kaum noch funktionstüchtige Schaltkästen an den Wänden und der unterschiedliche Zustand der Wände geben den Ausstellungsräumen ihre Charakteristik. Im saalförmigen Bereich, in dem man über die Haupttreppe gelangt, dominiert an den hier ‚ordentlich‘ weiß gestrichenen Wänden das Thema „Landschaft“ im üblichen Sinne von Landschaftsmalerei oder -fotografie. Die Bilder haben auf den ersten Blick noch keine kritischen Konnotationen. Auf dem Fußboden jedoch liegt eine Installation mit dem Titel „Vegetation 2017“ von Angela Preusz. Es handelt sich um ein ca. drei mal drei Meter großes Quadrat schwarzer Folie mit neun – gegenüber der Folienfläche zusammengenommen allenfalls ebenso großen – quadratischen, farblich gestalteten Feldern darinnen. Die Künstlerin gibt in einem ausgelegten Text Informationen zum im Hintergrund stehenden Projekt „Das ist ein Kraut, das muss weg“73, bei dem seit 1995 Versuche mit auf Bioäckern ausgelegter Pflanzfolie gemacht wurde. Der zunehmende Verlust an Boden und dessen Auswirkung einer Verinselung wird hier sinnlich erfahrbar gemacht. Ebenfalls eindrücklich ist eine weitere Installation zum Thema des landwirtschaftlichen Anbaus. In einem ehemals hellgrün gestrichenen Zimmer eröffnen eine Fotostrecke (blauer Himmel, strahlend gelb blühender Raps), eine verdorrte Rapspflanze an roten Fäden aufgespannt und mit Fadenverbindung zu einem kaum befüllten Wasserglas sowie ein Gedicht mit der Überschrift „Perspektivwechsel“ neue, kritische Sichtweisen auf das augenfällig Schöne, das doch schwer nicht zu wollen ist. Besonders auffällig ist zudem eine Installation in einem Seitenfoyer, die sozialpolitisches und ökonomisches Denken und Handeln kritisch hinterfragen lässt. Auf einem Tisch stehen fünf Einweckgläser unterschiedlicher Größe mit einer mehr oder weniger bläulich schimmernden klaren Flüssigkeit. Ein großes Plakat, auf dem noch einmal Gläser wie die ausgestellten abgebildet sind, gibt an, dass man hier für 99 € als Set Wasser aus allen fünf Weltmeeren kaufen könne. Zweifel an der Authentizität des Wassers bestätigen sich beim 72 J. Fischer: „Gebaute Welt“. 73 Vgl. den Film „Das Unkraut“ (1960) von Wolfgang Urchs, in dem der Projekttitel einen Leitsatz bildet.

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Lesen des Informationsblattes zur Ausstellung. Die Forschungsgruppe Kunst bezeichnet ihr Exponat hier als „nicht ganz echte[] Devotionalie“.

In der Ausstellung aufgeworfene Fragen sind überwiegend sozial-ökologisch und -ökonomisch ausgerichtet, etwa: Was ist Natur? Wie wollen wir miteinander leben? Woher kommt meine Perspektive? Was hat welchen (ökonomischen) Wert? Die Freiheit der Kunst erscheint also nicht als unendlich, sondern es wurden durchaus bestimmte Erkenntnisse als Ziel gesetzt. Die Adresse des Kulturhauses und durch den Verein betriebene Erinnerungskultur aktiviert auch Reflexionen zur radikalen Religionskritik (u.a.) von Karl Marx und ihrer Umsetzung in der sozialistisch orientierten DDR. Wie Wolfgang Eßbach zur Theorie von Marx schreibt, sei diese eigentlich nur im Zusammenhang mit christlicher Theologie zu verstehen.74 So scheint auch bei dieser Ausstellung eine kritische Relation zu Religion wenigstens mitzuschwingen, die eine Deutung der Ausstellung als ein Ausdruck von Nicht-Religion75 nicht erzwingt, aber ermöglicht. Man kann die Veranstaltung als Beteiligung am Aushandlungsprozess zu dem, was im Land als ‚heilig‘ oder zumindest wertvoll gelten sollte, auffassen, womit eine funktionale Analogie von Kunst und Religion in den Blick gerät. Allerdings steht bei den „Kunstlandschaften“ durchgängig der Mensch als Betrachter und Gestalter von Landschaft und von Sozialität im Mittelpunkt, verantwortlich gegenüber der Gemeinschaft in Gegenwart und Zukunft. Das markiert deutlich einen Gegensatz zum Aufrufen einer transzendenten Größe wie der „Natur“ oder gar „Schöpfung“. Wenn bei einem Werk die vorliegende Täuschung des Angebots vom Wasser aller Weltmeere für 99 € unter Verwendung eines Begriffs der katholischen Religionskultur, der „Devotionalie“, offengelegt wird, so ist damit durchaus religionskritisch auf Strategien der Gewissensberuhigung hingewiesen. Bei dieser Veranstaltung in Mestlin scheint es nicht um eine Wiederverzauberung von Welt zu gehen. Das entspricht einer Theorie, die seit den 1960er Jahren die Politisierung von Kunst vorangetrieben hat: Das Werk habe keine Aura, sondern solle „in den Alltag der Menschen hinein wirken und die Lebensbedin-

74 Vgl. W. Eßbach, Religionssoziologie, S. 701. 75 Vgl. Quack, Johannes: „Was ist ‚Nichtreligion‘? Feldtheoretische Überlegungen zu einem relationalen Verständnis eines eigenständigen Forschungsgebietes“, in: Steffen Führding, Peter Antes (Hg.), Säkularität in Religionswissenschaftlicher Perspektive, Göttingen 2013, S. 87-107; Wohlrab-Sahr, Monika/Kaden, Tom: „Struktur und Identität des Nicht-Religiösen. Relationen und soziale Normierungen“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 65 (2013), S. 183-209.

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gungen und die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse hinterfragen, offenlegen und möglichst auch verändern.“76 Aber gerade das Hinwirken auf einen auratischen Sinnüberschuss der Dinge, stellt in der künstlerischen Praxis Mecklenburg-Vorpommerns sich dann doch nicht als Seltenheit dar.

5.  K  UNST-HANDWERK UND DIE EINRICHTUNG VON LEBENSRAUM Jenseits der touristisch dicht erschlossenen Ostseeküste hat Mecklenburg-Vorpommern weite, wenig besiedelte Landschaften, positiv ausgedrückt: einen „Luxus der Leere“77 zu bieten, dessen Schattenseite u.a. ein niedriges mittleres Bruttoeinkommen und ein hoher Altersquotient der Bevölkerung markieren.78 Die Ansiedlung von Künstlern und Kunsthandwerkerinnen überwiegend in alten, in Eigenengagement sanierten Gutshöfen schafft hier neu belebte Orte, die zur „Gentrifizierung“79 des Landes beitragen. Etwas nördlich von Mestlin beispielsweise, im Gebiet der Sternberger Seenplatte, einer kleinteiligen, leicht hügeligen Bilderbuchlandschaft, die schon allein durch ihre Kopfsteinpflasterstraßen für Entschleunigung sorgt, liegen die drei Dörfer Lenzen, Woserin und Rothen. Hier hat sich in den letzten zwei Jahrzenten eine künstlerisch-handwerkliche Szene entwickelt, die über den Verkauf ihrer Produkte hinaus mit kulturellen Veranstaltungen das Gemeinschaftsleben der näheren Region aktiviert und auch eine Anziehungskraft für Ausflügler aus den Metropolen Hamburg und Berlin ausübt. Diese Angebote zeigen verschiedentlich eine Nähe zum Religiösen. Am deutlichsten stellt sich diese Relation bei Ulrike Steinhöfel (Holzgestalterin des Rothener Hofs) dar, indem sie auch u.a. Tischaltare herstellt.80 Für Besucherinnen und Kunden des – über einen kulturell wie sozial-politisch ausgerichteten Verein organisierten –

76 U. Rüth: „Aura“, S. 139f. 77 W. Schmidt: Kunst, S. 15. 78 Vgl. zu Bruttolöhnen und Gehältern, die in keinem deutschen Bundesland 2017 niedriger waren, https://www.statistik-bw.de/VGRdL/tbls/tab.jsp?rev=RV2014&tbl=tab11 &lang=de-DE (letzter Zugriff 04.06.2018), von 1991 bis 2015 verdoppelte sich in Mecklenburg-Vorpommern der Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen auf 23%. Siehe https://www.regierung-mv.de/Landesregierung/stk/Themen/Demografischer-Wandel/ Daten-und-Fakten/ (letzter Zugriff 04.06.2018). 79 W. Schmidt: Kunst, S. 9 u.ö., vgl. bes. a.a.O., 45-49. 80 Siehe https://www.holzkunstwohnen.de/index.htm (letzter Zugriff am 04.06.2018).

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Rothener Hofs81 besteht also ein unverbindliches Angebot zum Kauf spirituell bedeutsamer Möbel und damit zugleich Gelegenheit zu einem solchermaßen ausgerichteten Gespräch.82 Sehr viel dominanter wird an diesen Orten allerdings eine Dimension mittlerer Transzendenz angesprochen, wenn etwa Geschichte greifbar wird – durch die Wiederherstellung alter Gebäude und die Pflege handwerklicher Traditionen (Rothen ist Sitz des Landesverbandes Kunsthandwerk MV)83, meist mit einem höheren künstlerischen Anspruch, sodass die Werke oft zum Nachdenken über Schönheit und Sinn Anreiz geben oder als Objekte dienen, welche als Zeichen für die eigene Identität entdeckt werden und Bedeutung erhalten können. Wenn es um die Erschaffung von auratischen84 Orten geht, fallen insbesondere Personen aus der Sparte der Holzbrandkeramik mit den von ihnen eingerichteten Arbeits- und Lebensräumen auf, die mehrfach mit einer artgerechten und traditionellen Form der Tierhaltung verbunden ist,85 so etwa der schon seit 1987 in Lenzen ansässige Jens-Peter Planke86. Er züchtet auf seinem alten Gutshof nahe dem Landschaftsschutzgebiet Lenzener See Gotland-Pelzschafe. Zu seiner Brauntöpferei kann er von einer 300-jährigen Tradition erzählen. Planke ist ein besonderer Kenner des Baus von Holzbrandöfen87 und bietet – teils in Kooperation mit seinen Nachbarn, Birgit Hasse (Holzbrandkeramik und Porzellan) und Hanno Leischke 81 Siehe https://www.rothenerhof.de/index.htm (letzter Zugriff 04.06.2018). 82 Über das Verkaufsgespräch hinaus bieten Veranstaltungen wie Kunst:Offen hierzu Gelegenheit. 83 Siehe https://www.kunsthandwerk-mv.de/ (letzter Zugriff 04.06.2018). 2017 fand in Rothen vom 03. Juni bis 03. Juni die 1. Biennale des Kunsthandwerks statt, zu der ein instruktiver Katalog mit Porträts der Ausstellenden erschien, siehe https://www.vonstenglin.de/index_htm_files/Karte%20Biennale_web.pdf (letzter Zugriff 04.06.2018). 84 Zur „Aura“ mit ihrer begrifflichen Geschichte von der Antike, dem Gebrauch bei Goethe, in Kreisen der Theosophie (Okkultismus und Avantgarde; Rudolf Steiner) bis hin zu Walter Benjamin, Adorno vgl. U. Rüth: „Aura“. 85 Als bes. auffällig sei hier auf Angelika und Jürgen Reich aus Bartenshagen hingewiesen, die neben Holzbrandkeramik und Tierhaltung auch einen Bauerngarten nach Vorbildern aus dem 19. Jh. angelegt haben, siehe https://www.keramik-reich.de/ (letzter Zugriff 04.06.2018), ferner Jakobson, Hans-Peter: „Faszination Feuer. Holzbrand in Mecklenburg-Vorpommern heute – Eine Skizze“, in: Landesverband Kunsthandwerk MV (Hg.), Holzbrandkeramik (22010), S. 20-37, hier S. 33f. 86 Vgl. Landesverband Kunsthandwerk MV: „Jens-Peter Planke“, in: Ders. (Hg.) Holzbrandkeramik (22010), S. 124-127; ferner https://www.brauntoepferei.de/ (letzter Zugriff 04.06.2018). 87 Vgl. Planke, Jens-Peter: „Ofenbau“, in: Landesverband Kunsthandwerk MV (Hg.), Holzbrandkeramik (22010), S. 38-67.

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(Holzbrandkeramik und keramische Waschbecken) – mehrmals im Jahr kulturelle Veranstaltungen an, wozu auch besondere Kino-Abende („Landfilm-Lenzen“), inzwischen mit einem gewissen Kultstatus in eigener Szene, gehören.88 (Und an dieser Stelle anmerkenswert erscheint auch die Einladung einer Akteurin mit ihrem Angebot „Yoga unter der alten Linde“ im Rahmen des Lenzener Pflanz und Topftages.)89 Holzbrandkeramiker und -keramikerinnen sind über Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland hinaus weltweit miteinander vernetzt.90 Ihre Öfen, die besonders hohe Temperaturen (1350°C) erreichen und so die Herstellung von Steingut mit einer sehr dichten Struktur ermöglichen, werden in der Regel nur etwa zweimal im Jahr betrieben.91 Dadurch, dass die Tonware direkt mit dem Feuer in Kontakt steht, ergeben sich einmalige Zeichnungen auf den Produkten. Was beim Öffnen des Ofens nach einem zwei- bis dreitägigen Brand zu erwarten ist, kann nie sicher vorhergesagt werden. Über die Anknüpfung an eine asiatische Keramik- und Ofenbautradition (Anagama), die von Religionskultur nicht ganz unabhängig ist,92 besteht zumindest die Möglichkeit von Anschlüssen an religiös-spirituelle Bedeutungen. Aber auch der Kenner der Holzbrandgeschichte in Mecklenburg-Vorpommern Hans-Peter Jakobson spricht von einer „fast kultisch anmutende[n] gegenwärtige[n] Verehrung eines an sich uralten Herstellungsverfahrens.“93 Und während in der Kunstreligion, besonders des 19. Jahrhunderts, 88 Vgl. Fuch, Jörg: „20 Jahre Landfilm Lenzen“, in: Rothener Hof Kurier, Pfingsten 2013, S. 4, https://www.rothenerhof.de/index_htm_files/R.Hofkurier2013_Ansichts.pdf (letzter Zugriff 04.06.2018). 89 Siehe

www.brauntoepferei.de/lenzener_pflanz_und_top_tag.html

(letzter

Zugriff

04.06.2018). 90 „… also gerade die Holzbrenner, die sind weltweit [vernetzt], also wenn irgendwo auf der Welt n Ofen brennt, sieht man das“ (Interview vom 18.05.2017). Siehe https://www. thelogbook.net/index.html (letzter Zugriff 04.06.2018), ferner https://www.woodfire. net (letzter Zugriff 04.06.2018). 91 Teils wird auch nur einmal im Jahr gebrannt: „… also es is‘ eigentlich immer so, man arbeitet den ganzen Winter, dann werden, wird gebrannt, dann geht die Marktsaison los und man kommt zu nischt mehr“ (Interview vom 18.05.2018). Vgl. Matthes, Wolf: „Zur Technik des Holzbrandes“, in: Landesverband Kunsthandwerk MV (Hg.), Holzbrandkeramik (22010), S. 16-19. 92 Der Anagama-Ofen-Bau steht im Zusammenhang mit der japanischen Tradition der Teezeremonie und diese wiederum mit dem Zen-Buddhismus und Shintoismus, siehe https://www.jankollwitz.de/deutsch/f_presse/f_4.html (letzter Zugriff 04.06.2018). Zur Holzbrandkeramik in Mecklenburg-Vorpommern vgl. H.-P. Jakobson: „Faszination Feuer“. 93 H.-P. Jakobson: „Faszination Feuer“, S. 20.

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ein durch den Genius der Künstlerinnen gelungenes Abbild der Unendlichkeit verehrt oder zumindest hoch geschätzt wurde, werden hier Werke in einem Prozess geschaffen, der von den Keramikern selbst als „Bändigen der Urelemente“94 erlebt und beschrieben wird. So ist der Offenbarungscharakter im zweiten Fall zwar weniger betont (Kunst bedeutet eher Können als Genialität), aber auch hier zeigt sich an den Werken etwas aus einer transzendenten, archaischen Dimension, das es zu entdecken gelte. So können die alltäglichen Dinge, wie etwa eine Teeschale oder ein Krug quasi in außeralltäglichen Momenten des Alltags die Sinne schärfen und das Besondere des Lebens entdecken lassen.95 Es handelt sich bei diesen konzeptionell verdichteten und auch im Rahmen von Fachliteratur oder Kundengesprächen kommunizierten Vorstellungen um eine Form der Spiritualität, die gleichermaßen religiös wie nicht-religiös (atheistisch oder auch agnostisch) ausgeformt werden kann. Das wurde über Interviewgespräche mit Produzierenden bestätigt. Während die (Nicht-)Zugehörigkeit dieser Akteurinnen und Akteure zu einer Religionsgemeinschaft für die Tätigkeit und ihren (ökonomischen) Erfolg kaum mehr marginal von Bedeutung zu sein scheint, steht doch ihre authentische Lebensweise, bei der Grenzen zwischen dem Beruflichen und Privaten weitgehend aufgehoben erscheinen, im Vordergrund. Als wesentliches Element fließt die Person des Künstlers oder der Kunsthandwerkerin zeichenhaft in die Erschaffung der Produkte auf dem Markt mit der ihr zugesprochenen einmaligen Qualität ein. Das hat etwa zur Folge, dass die Präsenz der Produzierenden beim Verkauf, der direkte Kundenkontakt für den Verkaufserfolg nicht fehlen darf. Nicht unbedingt weit stärker, aber weit deutlicher ist dieser personale und intersubjektive Aspekt, wenn künstlerisch-kunsthandwerkliche Praktiken mit einer Heilungs- bzw. gesundheitlichen Intension verbunden sind.

94 A. Kaden: „Anagama Adé?“, S. 15. 95 „… also ich möchte schon, dass die Leute das berührt, das is‘ mir schon wichtig, ne, dass die also so’n Topf auch, dass sie sozusagen die Sinne schärfen und so nich‘: „Ach, das is ja nur n brauner Topf“, sondern, dass sie die Sinne schärfen und den sich angucken und denn, wie gesagt, die kleinen Sachen entdecken und sagen: „Ach ja und!“. Also das […] macht auch Spaß“ (Interview vom 18.05.2017).

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6.  KUNST(HANDWERK) UND HEILUNG Eine Verbindung von Holzbrandkeramik, Bezugnahme auf Archaisches und Heilwissen hat der Töpfermeister Joachim Jung zusammen mit seiner Frau Vivian Jung zu einem komplexen Konzept („Jungbrunnen“)96 mit einer explizit (natur-) religiösen Dimension verbunden.97 Beide verfügen über eine heilpraktische Ausbildung, Joachim Jung ist zudem Mitglied im Künstlerbund Mecklenburg-Vorpommern.98 Als Wirkungsstätte bauten sie einen Fachwerkgebäudekomplex zu einer Atelierwerkstatt, einem Teehaus mit Pension und Haus zum Angebot für Pranaheilung und astrologische Beratung aus. Der Ort, an dem sich das Paar niedergelassen hat, stellt durch seine natürlichen und landschaftlichen Eigenschaften (nahe gelegener Quellgrund, Laubwald, Endmoränenlandschaft, Hügel) sowie seine Frühgeschichte (Hügelgräber, Opferstein vor ca. 3500 Jahren)99 – zeichenhafte Bedeutungen für Ursprüngliches und Gesund-Ausgewogenes zur Verfügung, die von den Jungs aktiviert und ausgestaltet werden. Dies geschieht über die Produktion von Steingutkeramik, bioenergetische Heilungsangebote und Astrologie hinaus insbesondere durch die Errichtung eines Steinkreises, der u.a. für „Heilzwecke, Regenerierung, Meditation, Jahreskreisfeste“100 genutzt wird sowie durch Vorträge und Seminare über Ernährung und gesunde Lebensweise, wozu auch die Verwendung von qualitativ hochwertiger Keramik gehört.101 Außerdem ist bei den Jungs ein Bio-Garten und ein Skulpturenpark zu besichtigten. Und beim Body-Painting kann man seinen eigenen Körper zum Kunstwerk werden lassen. Ferner zeigen sich Bezüge zu großer Transzendenz (Religionskultur) beim Internetauftritt „Jungbrunnen“, wo auf der Startseite ein Irischer Segen (Überlieferung von 1692) per Klick auf ein Bild ge96 Siehe https://www.jungbrunnen.biz/ (letzter Zugriff am 04.06.2018). 97 Jung gehört zu den ersten Holzbrandkeramikern in Mecklenburg-Vorpommern, vgl. H.‑P. Jakobson: „Faszination Feuer“, S. 26. 98 Siehe https://www.kuenstlerbund-mv.org/jung-joachim.html (letzter Zugriff 04.06.2018). 99 Siehe https://www.retschow.de/seite/275022/geschichte.html (letzter Zugriff 04.06.2018). Glashagen ist Ortsteil der Gemeinde Retschow. 100 Zitat von der Website (https://www.jungbrunnen.biz/ [letzter Zugriff 04.06.2018]) unter Skulpturenpark/Steinkreis. 101 Ausführliche Informationen erteilt J. Jung auch bei öffentlichen Veranstaltung wie dem Tag der offenen Töpferei oder Kunst:Offen. Zu den aktuellen Seminaren gehören u.a. „Eine komplexe Handlungsanleitung für Prävention und Reorganisation unserer körperlichen und geistigen Gesundheit“ und von V. Jung angebotene „Grundkurs[e] Astrologie“, siehe https://www.jungbrunnen.biz/ (letzter Zugriff 04.06.2018), dort unter „Termine“.

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öffnet werden kann. Hier fehlt auch nicht eine kunstreligiöse Nuance, denn gleich unter dem Willkommensgruß lädt Poetisches zum Nachdenken ein: „Wie süß ist alles erste Kennenlernen! Du lebst solange nur, als du entdeckst. Doch sei getrost: Unendlich ist der Text und seine Melodie gesetzt aus Sternen.“102

Was Joachim Jung als Akteur an der Grenze von Kunst(handwerk) und Religion so bedeutsam macht, ist nicht allein die dichte Verknüpfung von künstlerischer, religiös-spiritueller und auf Heilung ausgerichteter Arbeit, sondern dass er dieses Konzept quasi in der Rolle eines Propheten und Lehrers als eine Einheit von Weltanschauung und Lebensweise kommuniziert. Hier scheinen Wissen und Kunst der Person zu einer besseren Religion zu führen, die den Menschen gesund erhält. Die Mitgliedschaft im Künstlerbund, der Meisterbrief und die Heilpraktikerausbildung ergänzen in ihrer Bedeutung als Qualitätszeichen allenfalls die sich in der Begegnung zeigende Kompetenz des Paares. Und für diejenigen, die sich mit energetischer Arbeit auskennen, mag die Angabe, dass im Zentrum des selbst errichteten Steinkreises 160.000 Bovis-Einheiten zu messen seien,103 größere Überzeugungskraft besitzen. Im künstlerischen Feld von Mecklenburg-Vorpommern sind es überwiegend Angebote mit einer Heilungsdimension, bei denen für religiöse Kommunikation Typisches sich verdichtet. Als einer der in dieser Richtung bedeutendsten Akteure des Landes ist die Europäische Akademie für heilende Künste (EAHA) in Klein Jasedow zu nennen.104 Es sind hier weniger Einzelstunden als auf Gruppen ausgerichtete Veranstaltungen, die oft auch rituelle Elemente einbinden, im Jahresplan beschrieben. Und, wie es im Untersuchungsfeld des Moduls Kunsthandwerk und spirituelle Kunst auch ansonsten als eine Verstärkung der wahrnehmbaren religionshybriden Kommunikation auffiel, liegt auch hier eine Verbindung mit Konzepten von Ökologie und Spiritualität vor. Das kommunizierte Ziel der intensionalen Lebensgemeinschaft, welche die EAHA gründete und trägt, ist die Schaffung und Wahrung einer enkeltauglichen Welt.105 Das von ihnen errichtete Klanghaus kann als ein Medium gedeutet werden, das die Verbindung mit dieser transzendenten 102 https://www.jungbrunnen.biz/ (letzter Zugriff 04.06.2018), Startseite. 103 Siehe https://www.jungbrunnen.biz/ (letzter Zugriff 04.06.2018) unter Skulpturenpark/ Steinkreis. 104 Siehe https://www.eaha.org/de/index.html (letzter Zugriff 04.06.2018). 105 Siehe https://www.stiftung-zukunftswerk.de/ (letzter Zugriff 04.06.2018).

Kunst-Religion. An den Grenzen des Unterscheidbaren | 231

Dimension ermöglicht, indem beispielsweise bei den Gongmeditationen zur Sonnenwende der Klang nicht nur die Körper der Anwesenden bewegt, sondern ins Universum und in eine andere Zeit hinaus reicht. Der Mensch ist hier nicht nur, aber auch Schöpfer seiner Welt. Die Akademie verspricht sinngemäß Folgendes: über heilende Kunst, einen Kontakt zu Sphären des Unbewussten, teils auch des Zukünftigen herzustellen und dadurch in gelingender Weise die Kontingenzen des Lebens zu reduzieren, aber auch dem Selbst neue heilsame Lebensmöglichkeiten zu eröffnen. Damit liegen Deutungen dieses Konzeptes als dem Typ Kunstreligion zugehörig nahe.

Kunst, Raum und Religion – Ein Fazit Norbert Fischer

„Rapid ist Religion“ – so lautet ein Slogan, der im Stadion-Inneren des österreichischen Fußballvereins Rapid Wien an der Wand zu lesen ist. Zu sehen sind in diesem der Vereinsgeschichte gewidmeten „Andachtsraum“ auch Glasbilder mit Fußballspielern, die wie Ikonen inszeniert werden. Sie sind Element der popularen, quasi-religiösen Fankultur des traditionsreichen Wiener Vereines. Vor dem Stadion steht ein Denkmal, das einen legendären Rapid-Spieler verkörpert. Populare Religiosität und Kunsthandwerk gehen hier eine identitätsstiftende Symbiose ein. Zugleich werden sie kommerzialisiert: der Raum kann inklusive Catering für Feiern angemietet werden, die kunsthandwerklichen Produkte sind im benachbarten Fan-Shop käuflich zu erwerben. Populare Fankultur, religiöse Kunst und Kultur, profane Denkmäler: Kultur heißt, die Welt um uns symbolisch aufzuladen, sie mit Bedeutung und Sinn zu versehen. Dies geschieht in differenzierten Repräsentationen, Praktiken und hat – historisch gesehen – unterschiedlich verdichtete Ausdrucksformen hervorgebracht. Von besonders hoher symbolischer Verdichtung zeigen sich künstlerische Objekte. Dies gilt in einem weiteren Sinn auch für die Räume, die sie besetzen. In den Sozial- und Kulturwissenschaften hat sich das Raumkonzept des französischen Soziologen Henri Lefebvre als hilfreicher analytischer Schlüssel erwiesen. Lefebvre setzt voraus, dass Denken, Empfinden und Handeln von Räumen geprägt ist. Der Raum wird bei ihm sowohl zur Voraussetzung als auch zum Resultat von Kultur. Sein Konzept bezieht Akteure, Repräsentationen und Performanzen ein, wenn es von einem gesellschaftlich produzierten, also „gemachten“ Raum ausgeht. Henri Lefebvres triadische Konzeption des sozialen Raumes unterscheidet auf drei Ebenen zwischen dem gebauten Raum (Architektur), dem Repräsentationsraum (gesellschaftlich-historische Zuschreibungen) und dem erlebten Raum der Alltagspraktiken. Die drei Raumdimensionen werden nicht getrennt voneinander

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gesehen, sondern dynamisch und prozesshaft im übergeordneten sozialen Raum aufeinander bezogen. Physische und mentale Prozesse durchdringen einander.1 So zeigt sich die Produktion von religiösen oder profanen Räumen als kulturelle Praxis und beruht auf zwischenmenschlicher Kommunikation. Die Akteure sind handelnde Individuen, die jedoch in ihrer sozialen Praxis von historisch unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Mustern geprägt sind. Dies ist auch für das Verhältnis von Kunst, Raum und Religion von Bedeutung. Der Erfahrungsraum „Kunst und Religion“ differenziert sich in die Praktiken von Kunst, Kunsthandwerk und (in industrialisierter Form) Kunstgewerbe. Im Mittelalter wurde die Bernwards-Tür im Hildesheimer Dom zu einem frühen Beispiel öffentlicher Theologie für das Volk. Religion und Kunst fallen – wie sich an zahlreichen weiteren Beispielen in und an Kirchenbauten zeigen ließe – zusammen. Die religiöse Erfahrung bot ein allumfassendes Identifikationssystem. Diese Symbiose endet mit der Renaissance. Im Verlauf der Neuzeit wurde dieser Erfahrungsraum zusehends aufgebrochen und ab etwa 1800 schließlich voneinander getrennt. Nun wurde Kunst zum Raum der Freiheit, die sich von engeren religiösen Bezügen gelöst hatte. Kunst wird kontingent, in ihrer Prozesshaftigkeit unendlich. Sie versteht sich als autonom und schafft sich eigene Schauplätze. Akteure, Repräsentationen und Performanzen wandeln sich. Beispielhaft lässt sich dieser Prozess am Verhältnis von Mensch und Tod als Grundthema der Kunst zeigen. Über Jahrhunderte hinweg religiös geprägt – in der Kunst wie auf den Grabsteinen der Friedhöfe – gestalten Künstler nun subjektiv erfahrene Einsichten in die Vergänglichkeit des Lebens. Heute findet Kunst in ganz unterschiedlichen Räumen statt. Der offizielle Kunstbetrieb ist in Galerien, Kunsthäusern und Museen verortet. Als eine Art von größeren Freiräumen geprägtes Gegensystem gilt beispielsweise die in den späten 1970er Jahren in den USA aufgekommene Street Art. Auch als Urban Art bekannt, ist als „öffentliche Wandmalerei“ eine Unterkategorie der so genannten Public Art, also profanen Kunstwerken im öffentlichen, zumeist urbanen Raum. Aber auch die vermeintliche künstlerische Freiheit auf der Straße unterliegt immer wieder neuen Aushandlungsprozessen und Zwängen – etwa, wenn die Wünsche von Auftraggebern berücksichtigt werden müssen. Zum Bindeglied zwischen Galerie und Straße wird der digitale Raum, der als repräsentative Plattform der Selbstdarstellung und Vermittlung genutzt wird. Alltagspraktiken im erlebten Raum verändern und verbinden diese Ebenen: Sie werden deutlich im Verfallenlassen und Zerstören, aber auch in der Implantation von Objekten und Kunstgegenständen in 1 Lefebvre, Henri: „Die Produktion des Raums“, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus der Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 330-342.

Kunst, Raum und Religion – Ein Fazit | 235

den öffentlichen Raum. So steht nicht allein die Kunst, sondern auch die Akteure, ihre gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen und nicht zuletzt ihre Kreativität im Mittelpunkt der Raumproduktion. Dies zeigt sich in Mecklenburg beispielhaft im Kunsthaus Plüschow. Hier im ländlichen Raum, in einem eigentlich nicht-künstlerischen soziokulturellen Kontext, kreieren die Akteure künstlerische Objekte, die der Erfahrung eines „autonomen Raumes“ entspringen. Sie erfahren die Umgebung durch Spaziergänge, sammeln Dinge, die den eigentlichen Schauplatz transzendieren, um sie in eben diesen wieder einfließen zu lassen. Der Kunstraum wird zum hybriden Raum. Die Dinge werden mit Botschaften versehen und können so – als Kunst-, Alltags- oder Ritual-Objekte – Erfahrungen verändern und Sinn stiften. Im biografischen Kontext können sie eine – ohne dies immer streng religiös zu verstehen – „heilige“ Funktion haben. Das eingangs erwähnte Beispiel der Rapid-Wien-Fanobjekte verweist darauf. Solche und andere Dinge ermöglichen Selbstvergewisserungen und erlauben gesellschaftliche Positionierungen. Im weiteren Sinn repräsentiert ihr symbolischer Wert eigene Lebensstile. In je eigenen Kontexten oder auch Biografien entwickelt sich ihr prozessualer Charakter: Dinge altern, zerbrechen und werden gegebenenfalls repariert. In dieser prozesshaften Ästhetik gewinnen sie an Patina bzw. Aura. Nicht zuletzt zeigen sich solche (Kunst-) Objekte als widerborstig gegenüber einem als „Fortschritt“ verstandenen gesellschaftlichen Wandel, der dazu neigt, das Vergangene vergessen zu lassen. Dies gilt ebenso für nicht-intentionale, sich selbst überlassene oder gleichsam musealisierte Relikte der Vergangenheit. Sie sind nicht selten religiös konnotiert: Ruinen von Sakralbauten, Kreuzwegstationen, Marterl und ähnliches. Im öffentlichen Raum finden sich diese Objekte der Erinnerung in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten. Der französische Soziologe und Gedächtnisforscher Maurice Halbwachs spricht vom „Widerstand der Dinge“ durch „alte Traditionen des Gedenkens, festgehalten in Stein, in Kirchen und Denkmälern, in denen die Glaubensvorstellungen und Zeugnisse früherer Zeiten die Gestalt greifbarer und dauerhafter Gegenstände angenommen haben.“2 Indem unterschiedliche Erfahrungen in Objekten der Erinnerung tradiert und materialisiert werden, gewinnen sie als öffentliche „Landmarken“ historische Bedeutung. Mit diesen Artefakten wird sowohl vergangenes Geschehen als auch dessen Reflektion in den öffentlichen Raum eingeschrieben. Dieser wird zum – häufig religiös geprägten – Kultur-Raum, weil ihm die Objekte seine Bedeutung und seinen Sinn verleihen.

2 Halbwachs, Maurice: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, hrsg. v. Stephan Egger, Konstanz 2003, S. 210-211.

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Solche Orte können auch, um einen Begriff des französischen Historikers Pierre Nora zu verwenden, als „Erinnerungsorte“ bezeichnet werden. Nora schrieb über ihre besondere Bedeutung: „Das Interesse an jenen Orten, an die sich das Gedächtnis lagert […], rührt von diesem besonderen Augenblick unserer Geschichte her. Wir erleben einen Augenblick des Übergangs, da das Bewußtsein eines Bruchs mit der Vergangenheit einhergeht mit dem Gefühl eines Abreißens des Gedächtnisses, zugleich aber ein Augenblick, da dies Abreißen noch soviel Gedächtnis freisetzt, daß sich die Frage nach dessen Verkörperung stellen läßt.“3 Erst diese reflektierte Distanz sorgt dafür, dass dem Gedächtnis nun besondere Orte, Räume, Landschaften gewidmet werden. Erst jetzt entfaltet sich Gedenkkultur im öffentlichen Raum, die sich bis heute in zahllosen Memorials, Relikten und Artefakten verkörpert. Hier gilt, was Friedrich Nietzsche über die Bedeutung der Geschichte im allgemeinen schrieb: „Daß ihr Werth gerade der ist, ein bekanntes, vielleicht gewöhnliches Thema, eine Alltagsmelodie geistreich zu umschreiben, zu erheben, zum umfassenden Symbol zu steigern und so in dem Original-Thema eine ganze Welt von Tiefsinn, Macht und Schönheit ahnen zu lassen.“4

3 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11. 4 Nietzsche, Friedrich: „Vom Nutzen und Nachtheile der Historie für das Leben“, in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Dritte Abteilung. Erster Band: Die Geburt der Tragödie – Unzeitgemäße Betrachtungen I-III, Berlin, New York 1972, S. 241-330, hier S. 288.

Autorinnen und Autoren

Peter A. Berger, Dr. rer. pol. habil., Professor für Allgemeine Soziologie – Makrosoziologie am Institut für Soziologie und Demographie der Universität Rostock Aida Bosch, Dr. phil. habil., Professorin für Soziologie an der Philosophischen Fakultät mit Fachbereich Theologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg Susanne Burmester, M. A., Künstlerische Leiterin von CIRCUS EINS, Putbus, Mediatorin für DIE GESELLSCHAFT NEUE AUFTRAGGEBER gGmbh Joachim Fischer, Dr. phil. habil., Honorarprofessor für Soziologie am Institut für Soziologie der Technischen Universität Dresden Norbert Fischer, Dr. phil. habil., Honorarprofessor am Institut für Volkskunde/ Kulturanthropologie sowie Privatdozent für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte am Historischen Seminar der Universität Hamburg Uta Karstein, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig Thomas Klie, Dr. theol. habil., Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Andreas Mertin, Dr. phil. h.c., Herausgeber des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik „Tà katoptrizómena“, Hagen

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Antje Mickan, Dr. theol., wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Märkte des Besonderen. Religionshybride Netzwerke in Mecklenburg-Vorpommern“ an der Universität Rostock Ulrike Seidenschnur, Bildende Künstlerin, Dipl. Kunstpädagogin und -therapeutin, Leiterin der Malschule im Gedenkatelier Otto Niemeyer-Holstein auf Usedom, Kuratorin der Galerie in der Kirche St. Johannis zu Lassan (www.galerie-in-der-kirche.de) Hans-Georg Soeffner, Dr. phil. habil., emeritierter Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Konstanz; Permanent Fellow und Vorstandsmitglied am KWI Essen; Permanent Visiting Fellow am FiW der Universität Bonn Miro Zahra, Künstlerin und Kuratorin, Plüschow Oliver Zybok, Dr. phil., Direktor der Overbeck-Gesellschaft, Lübeck, Gastprofessor für Kunst und kuratorische Praxis an der Kunstakademie Münster

Religionswissenschaft Frederik Elwert, Martin Radermacher, Jens Schlamelcher (Hg.)

Handbuch Evangelikalismus 2017, 452 S., Hardcover 39,99 € (DE), 978-3-8376-3201-9 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3201-3

Nicole Maria Bauer

Kabbala und religiöse Identität Eine religionswissenschaftliche Analyse des deutschsprachigen Kabbalah Centre 2017, 290 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3699-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3699-8

Serina Heinen

»Odin rules« Religion, Medien und Musik im Pagan Metal 2017, 244 S., kart., farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3431-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3431-4

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Religionswissenschaft Judith Könemann, Saskia Wendel (Hg.)

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Hanna Rettig

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Anna Daniel

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