Rudolf Virchow: Mediziner - Anthropologe - Politiker [3 ed.] 9783412521745, 9783412521721

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Rudolf Virchow: Mediziner - Anthropologe - Politiker [3 ed.]
 9783412521745, 9783412521721

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Constantin Goschler

RUDOLF VIRCHOW ME D I Z I NE R AN THROPOLOGE POL I T I KE R

Constantin Goschler

RUDOLF VIRCHOW Mediziner – Anthropologe – Politiker

3. überarbeitete und ergänzte Auflage

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

1. Auflage 2002 2. Auflage 2009

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Rudolf Virchow in älteren Jahren © Pommersches Landesmuseum Greifswald, Sammlung Rabl-Virchow, D I 20. Korrektorat  : Dore Wilken, Freiburg Einbandgestaltung  : Guido Klütsch, Köln Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52174-5

Inhalt



Vorwort zur Neuauflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4

Privates Leben und öffentliche Sphären.. . . . . . . . . . Bildung und Ausbildung im Biedermeier . . . . . . . . . . . Neuhumanismus in der Provinz . . . . . . . . . . . . . . . . Die »rationelle Generation«  ?. . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaftliche Krise und Karrierechancen . . . . . . . . . Der »ganze Mensch«  : Virchow in der Revolution von 1848 . Die oberschlesische Typhusepidemie . . . . . . . . . . . . . Die Organisation der politischen Öffentlichkeit.. . . . . . . Standespolitik und Gesellschaftsreform . . . . . . . . . . . . Politisches Engagement und wissenschaftliche Karriere . . . Identitätskrise und biographische Passage.. . . . . . . . . . Lebensführung im »naturwissenschaftlichen Zeitalter« . . . Vermögen, Prestige und sozialer Status . . . . . . . . . . . . Familie und Geschlechterrollen . . . . . . . . . . . . . . . . Geselligkeit und soziale Kreise. . . . . . . . . . . . . . . . . Wertorientierungen und Lebensziele . . . . . . . . . . . . .

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3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3

Wissenschaft und Politik zwischen »Beruf« und »Pflicht«.. . . Wissenschaftliche Karriere und disziplinäre Identitäten . . . . . Berufungen zwischen Markt und Modernisierung . . . . . . . . Die Institutionalisierung der pathologischen Anatomie . . . . . Anthropologie als »volkstümliche Wissenschaft«. . . . . . . . . Medizinische und anthropologische Publizistik.. . . . . . . . . Das Pathologische Institut als Schule des »Sehens«. . . . . . . . Naturwissenschaftliche Gelehrtenpolitik . . . . . . . . . . . . . Politik als »Nebenberuf« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Naturwissenschaftliche »Wahrheit« und Politik. . . . . . . . . . Vom deutschen Gelehrten zum europäischen Intellektuellen  ?. .

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197 197 200 212 235 242 265 275 277 311 338

4

Szientismus und liberale Utopie  : Naturwissenschaft als »magischer Speer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Pathologie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362

4.1

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5

Inhalt

4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3

Zellen, Bürger und Staat  : Politisch-biologische Analogien. . . . Krankheit und Epidemien  : Vom »Konsens« zum »Kampf« . . . Experiment, Statistik und Normalität . . . . . . . . . . . . . . . Fortschritt und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Spirale des Fortschritts und die Revolution. . . . . . . . . . Die Naturalisierung und Nationalisierung des Fortschritts.. . . Konservativer Fortschritt und Nostalgie.. . . . . . . . . . . . . Vererbung und Verbesserung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Naturwissenschaft, Anthropologie und Kulturgeschichte . . . . Ursprung und Entwicklung der Menschheit.. . . . . . . . . . . »Kulturkampf« oder »Rassenkampf«  ? . . . . . . . . . . . . . . . Blonde, Braune und Juden  : Die Schulkinderuntersuchung.. . . Die Fermente des Fortschritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissen und Bildung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Naturwissenschaft und liberale Wissensgesellschaft . . . . . . . »Humanistische« Ethik im »naturwissenschaftlichen Zeitalter« . Naturwissenschaftliche Bildung und das ›liberale Selbst‹.. . . .

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363 371 384 391 391 395 405 412 414 423 431 436 447 453 455 463 473

5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 6 Dank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

501

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 Quellen und Literatur . 8.1 Ungedruckte Quellen. . 8.2 Gedruckte Quellen . . . 8.3 Literatur . . . . . . . . .

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Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554

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Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort zur Neuauflage Dass ein Buch nach fast zwanzig Jahren neu aufgelegt wird, ist ein großes Privileg. Wie sehr diese Neuauflage zum rechten Zeitpunkt kommen mag, zeigte mir die heutige morgendliche Zeitungslektüre, bei der mir eine Überschrift entgegensprang  : »Mitglieder der Regierungspartei werfen Ärzten vor, ›Politik zu machen statt Medizin‹«1. Paradoxerweise ist also diese Biographie, in deren Zentrum das Verhältnis von Wissenschaft und Politik im Leben Rudolf Virchows steht, heute in mancherlei Hinsicht aktueller als bei ihrem ersten Erscheinen. Die erwähnte Meldung bezieht sich auf die Kritik aus den Reihen der französischen Regierungspartei La République en Marche  ! an den durch Präsident Emmanuel Macron verhängten drastischen Beschränkungen des öffentlichen Lebens zur Eindämmung der gegenwärtigen Corona-Pandemie. Die Frage, welche Rolle medizinische und andere wissenschaftliche Experten in Politik und Öffentlichkeit spielen sollen und welches Spannungsverhältnis sich daraus zur demokratischen Legitimation politischer Entscheidung ergibt, ist im Zeitalter einer globalen Pandemie allgegenwärtig. Virchow, im öffentlichen Gedächtnis oftmals auf seine während der Revolution von 1848 publizierte Sentenz »Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen« reduziert, markiert gewissermaßen den Anfangspunkt dieser Auseinandersetzung und hat sie maßgeblich geprägt. Sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik im Leben Virchows zu beschäftigen, kann dazu beitragen, unsere eigene Zeit besser zu verstehen. Es geht dabei nicht um ein Alles-schon-mal-dagewesen-Argument  : Indem wir die Wurzeln moderner Phänomene entdecken und Ähnlichkeiten mit heutigen Verhältnissen feststellen, sehen wir zugleich auch, dass vieles uns fremd geworden ist. Dies fängt etwa mit den Geschlechterverhältnissen an, die es erlauben oder erfordern, dieses Buch, das seinen Schauplatz im 19. Jahrhundert hat, auch heute noch über weite Strecken im generischen Maskulin zu formulieren, da Frauen zu dieser Zeit noch aus der Welt der Wissenschaft und Politik ausgeschlossen waren. Dass Letzteres auch damals schon ein Problem war, wird die heutige Leserschaft vielleicht überraschen. Fremd mag uns auch der seinerzeit emphatische Fortschrittsglaube erscheinen, der in den zweihundert Jahren seit Virchows Geburt mancherlei Verwandlungen erlebt hat und mittlerweile zumindest unter westlichen Intellektuellen kaum noch Anhänger*innen findet. Zudem fällt Virchows Lebensspanne in die Hochzeit des europäischen Imperialismus, der gegenwärtig zumeist als koloniale Herrschaft bezeichnet wird. Verantwortlich für die heutige Neubewertung ist vor allem 1 Nadia Pantel, Nicht weiter als zehn Kilometer, in  : Süddeutsche Zeitung vom 3./4./5. April 2021, S. 8.

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Vorwort zur Neuauflage

der postkoloniale Diskurs, dem es darum geht, die auch nach dem formellen Ende des Kolonialismus fortwirkenden kolonialen Strukturen herauszustellen. Muss also auch Virchow im Zeichen einer derartigen postkolonialen Perspektive neu bewertet werden  ? Diese Frage führt vor allem zu seinem zweiten zentralen wissenschaftlichen Tätigkeitsgebiet, der Anthropologie. Virchow war ein exzessiver Sammler, nicht zuletzt von menschlichen Überresten. War der Schädelsammler Virchow für seine Zeitgenossen allenfalls Gegenstand humoristischer Auslassungen, so wird heute eine scharfe Debatte über die Bestände von Völkerkundemuseen und medizinischen Sammlungen ausgetragen. Der aktuelle Streit über das Humboldt Forum im Berliner Schloss illustriert diese Debatte lebhaft. Fraglos partizipierte Virchow an jenem Bündnis aus Forschern und Eroberern, die unter dem Banner der europäischen Zivilisation und des Fortschritts große Teile der Welt in koloniale Abhängigkeit brachten. Und er gehörte zugleich zum Kreis jener Wissenschaftler, Politiker und Intellektuellen, die frühzeitig auch die gewaltsamen Folgen dieses Vorgangs reflektierten. Das vorliegende Buch trägt somit hoffentlich auch dazu bei, die umstrittene Rolle der deutschen Anthropologie in diesem Prozess besser beurteilen zu können. Erneute Aktualität gewinnt dieses Buch schließlich auch angesichts einer weiteren Debatte  : So wurde der Post-Cold-War-Optimism der 1990er Jahre – der zugleich das Hintergrundrauschen bei der Entstehung des ursprünglichen Buchmanuskripts bildete – seit einiger Zeit von einer gegenteiligen Krisenperspektive abgelöst. Es geht heute nicht mehr um den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg und die Ausbreitung der westlichen, parlamentarischen Demokratie, sondern um deren Fragilität. Eine Biographie Rudolf Virchows, die sich auf die von ihm angestrebte Synthese von Naturwissenschaft und Liberalismus konzentriert, liest diese Geschichte nicht von ihrem Ende her, sondern geht auf ihre Anfänge zurück und arbeitet langfristige Problemkonstellationen heraus  : Schon bei den Auseinandersetzungen um die Parlamentarisierung Deutschlands im 19.  Jahrhundert geht es um jene Spannungen von Eliten und Volk, von Gleichheit und Differenz, von staatsbürgerlicher Inklusion und Exklusion, aber auch von nationaler Konkurrenz und transnationaler Kommunikation, die seit dem Aufstieg eines »politischen Massenmarktes« (Hans Rosenberg) und der sie prägenden Massenmedien wichtige Bruchlinien der liberalen Demokratie bildeten. Dazu gehört schließlich auch die Frage nach der Begründung der Fakten, die alle akzeptieren können, und der Werte, um die gestritten wird. Für beides, Fakten und Werte, versuchte Virchow eine naturwissenschaftlich geprägte Antwort zu geben. Bis hin zur Rolle von Verschwörungstheorien wirken die daraus entstandenen Konflikte erstaunlich gegenwärtig. Wenn ein Buch nach fast zwanzig Jahren neu aufgelegt wird, birgt dies aber auch einige Schwierigkeiten für den Autor, dessen Lebensweg sich vor ebenso langer Zeit von seinem Manuskript getrennt hat. Ich habe mich natürlich gefragt, ob ich diesen Text als abgeschlossenes Ergebnis eines viele Jahre umfassenden Arbeitsprozesses behandeln solle, oder ob ich vielmehr versuchen könne, ihn auf den mittlerweile erreichten Stand 8

Vorwort zur Neuauflage

der Forschung und des eigenen Denkens hin umzuarbeiten. Letzteres hätte im Grunde genommen erfordert, ein neues Buch zu schreiben. Die Antwort auf dieses Dilemma habe ich gefunden, indem ich mir dieses Buch neu angeeignet habe, ähnlich wie man zuweilen mit einem alten Freund, den man viele Jahre lang nicht gesehen hat, die Vertrautheit durch nächtelanges Reden wieder herstellt. Ich habe das einstige Manuskript also nicht nur noch einmal neu gelesen, sondern beim Lesen die Gedanken erneut nachvollzogen. Dies führte dazu, dass ich vieles neu formuliert, manches gestrafft, einiges auch ergänzt habe, ohne jedoch die Grundstruktur des Textes zu verändern. Es ist also das alte Buch geblieben, aber nochmals neu gedacht worden. Constantin Goschler

Bochum, 5. April 2021

9

1 Einleitung Während der Arbeit an dieser Biographie plagte mich ein nächtlicher Alptraum  : Ich war mit Rudolf Virchow zu einem Interview verabredet und machte mich besorgt auf den Weg zu seiner Wohnung in der Georgenstraße in München-Schwabing. Was würde der als unduldsam bekannte Gelehrte zu meiner Interpretation seines Lebens sagen  ? Würde er meine Deutungen als Unsinn beiseitefegen  ? Würde er mich über meine Unkenntnis auslachen  ? Oder vielleicht nur spöttisch eine Augenbraue hochziehen und mich bei meinen Ausführungen ins Stottern bringen  ? Mit solch schweren Gedanken erreichte ich schließlich sein Haus, wo ich erfuhr, dass Virchow soeben verstorben war. So blieb der befürchtete vernichtende Widerspruch schließlich doch aus. Natürlich hatte Virchow niemals in München gelebt und tatsächlich war er schon seit fast hundert Jahren tot. Doch verweist dieser Traum auf die grundsätzliche Spannung zwischen dem Biographen und der von ihm biographierten Person, die aus dem Konflikt von Fremd- und Selbstdeutung resultiert. Will der Biograph sich also nicht damit begnügen, die eigene Geschichte des von ihm als Untersuchungsgegenstand ausgewählten Menschen nachzuerzählen, so muss er sorgfältig darlegen, was ihn an seinem Forschungsobjekt interessiert und welche Gesichtspunkte er seiner Deutung zugrunde legt. Diesem Zweck dienen die folgenden einleitenden Ausführungen, die in erster Linie für die an methodischen Fragen interessierten Leser und Leserinnen bestimmt sind. Wer sich also nicht mit der Erläuterung der Statik und der Baupläne des im Folgenden zu errichtenden Gedankengebäudes aufhalten will, der ist dazu eingeladen, gleich das Erdgeschoss zu betreten und seine Lektüre im ersten Kapitel fortzusetzen. *** Rudolf Virchow liegt in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts wie ein großer Felsbrocken, der ob seiner Masse und zahlreichen Kanten dem Biographen zunächst einmal gehörigen Respekt einjagt. Der 1821 geborene Mediziner, Anthropologe, linksliberale Politiker und Stadtreformer bewegte sich auf so verschiedenen Feldern und in so zahlreichen Debatten seiner Zeit, dass es schier unmöglich scheint, all diesen unterschiedlichen Aspekten gerecht zu werden. Nachdem der im hinterpommerschen Schivelbein geborene Virchow seit 1839 am Berliner Friedrich-Wilhelm-Institut Medizin studiert hatte, trat er bereits Mitte der vierziger Jahre als provokanter Vertreter einer neuen »naturwissenschaftlichen Medizin« auf. Er galt als Hoffnungsträger der preußischen Militärmedizin und wurde als solcher Anfang 1848 zu einer offiziellen Untersuchung nach Oberschlesien entsandt, wo der sogenannte »Hungertyphus« die Gesundheit 11

Einleitung

der Bevölkerung und den Ruf der preußischen Bürokratie ruinierte. Nach seiner Rückkehr aus Oberschlesien schloss er sich jedoch der mittlerweile in Berlin ausgebrochenen Revolution an und wurde zu einer Schlüsselfigur der entstehenden demokratischen Partei. Sein radikales politisches Engagement entfremdete ihn von seinen vormaligen Gönnern, so dass er 1849 fast seine Anstellung als Prosektor an der Charité verloren hätte. Der Konflikt wurde schließlich durch seine Ende 1849 erfolgte Berufung zum ordentlichen Professor in Würzburg entschärft, wo er die nächsten sieben Jahre wissenschaftlich hochproduktiv und politisch zurückgezogen verbrachte. In dieser Zeit entwarf er die Grundzüge der »Zellularpathologie«, mit der sein Andenken als Mediziner am stärksten verbunden ist. Nach seiner Rückberufung nach Berlin 1856, wo er zugleich Direktor des eigens für ihn gegründeten Pathologischen Instituts wurde, beförderte Virchow als Forscher, Wissenschaftsorganisator und Sammler nicht nur die disziplinäre Entwicklung der Pathologie, sondern auch der Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Seit Ende der fünfziger Jahre engagierte er sich zudem in den Reihen des preußischen Linksliberalismus auch wieder politisch. Seit 1859 war er durchgehend bis zu seinem Tode Angehöriger der Berliner Stadtverordnetenversammlung, wo er zugleich in zahlreichen Spezialdeputationen mitwirkte und auf diese Weise das Erscheinungsbild des modernen Berlin wesentlich mitprägte. Von 1862 an gehörte er gleichfalls bis zu seinem Lebensende dem Preußischen Abgeordnetenhaus an, und von 1880 bis 1893 war er auch noch linksliberaler Reichstagsabgeordneter. In diesen parlamentarischen Gremien wirkte er keinesfalls nur als Hinterbänkler, sondern spielte eine höchst aktive Rolle. So gehörte er nicht nur zu den Protagonisten des preußischen Verfassungskonflikts der sechziger Jahre und des Kulturkampfs in den siebziger Jahren, sondern nahm insbesondere als jahrzehntelanger Vorsitzender des Haushaltsausschusses des Preußischen Abgeordnetenhauses eine parlamentarische Schlüsselposition ein. Während bereits viele Zeitgenossen staunten, wie sich so unterschiedliche Tätigkeitsfelder in einer Person vereinigen ließen, betonten andere Beobachter (ebenso wie Virchow selbst) die seinen verschiedenen Tätigkeiten zugrunde liegende Einheit, worin sich zugleich das für das 19. Jahrhundert prägende Persönlichkeitsideal geltend machte. Zwar verfasste Virchow im Gegensatz zu vielen Angehörigen seiner Bildungsschicht keine Autobiographie, doch hinterließ er anlässlich der festspielwochenartigen Feierlichkeiten zu seinem 80.  Geburtstag 1901 einen ausführlichen Lebensrückblick. In diesem »Zur Erinnerung. Blätter des Dankes für meine Freunde«2 überschriebenen Artikel zog er eine Bilanz seiner umfangreichen wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten, die sich zugleich als aufschlussreiche Selbstdeutung lesen lässt. Welchen Sinn verlieh er also an dieser Stelle seinem eigenen Leben, und welche Dimensionen historischen Wandels werden dabei deutlich  ? 2 Rudolf Virchow, Zur Erinnerung. Blätter des Dankes für meine Freunde, in  : VA 167 (1902), S. 1–15.

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Einleitung

Virchow hob in diesem Text zunächst das weite Spektrum seiner Tätigkeiten hervor, ging dabei jedoch allenfalls indirekt auf sein viele Jahrzehnte andauerndes Wirken als fortschrittlicher und freisinniger Abgeordneter ein. Er betonte seine umfangreiche Lehrund Forschungstätigkeit in Berlin sowie große Reisen durch Europa, nach Afrika und Asien. Zudem habe er regelmäßig an nationalen und internationalen Wissenschaftskongressen teilgenommen und rege in wissenschaftlichen Vereinen mitgewirkt. Daraus hätten sich praktische Studien nicht nur auf dem Gebiet der Medizin und der Naturwissenschaften, sondern – vor allem seit den sechziger Jahren – der Anthropologie und Archäologie, aber auch die Beschäftigung mit Literatur, Philosophie, Politik und sozialen Zuständen ergeben. Ausdrücklich unterstrich Virchow  : »Diese Vermischung ist von mir nicht willkürlich oder gar tendenziös vorgenommen worden.«3 Als Schlüsselerlebnis benannte er hier die schon erwähnte Oberschlesien-Reise Anfang 1848. Bei der Erörterung der Ursachen der dort herrschenden Epidemie sei er zu der Überzeugung gekommen, »dass die schlimmsten derselben in socialen Missständen beruhten und dass der Kampf gegen diese Missstände nur auf dem Wege tiefgreifender socialer Reformen geführt werden könne«. Damit wollte Virchow in Erinnerung bringen, »wie unvermeidlich es ist, die praktische Medicin mit der politischen Gesetzgebung in unmittelbare Beziehung zu setzen«. Zufrieden stellte er fest  : »Seitdem die öffentliche Hygiene als integrierender Bestandteil der allgemeinen Fürsorge aufgestellt worden ist, hat der Vorwurf, dass ein Arzt auch Politiker sei, alle Bedeutung verloren.« Als Resultat der Durchdringung von Medizin und Politik hob er schließlich die Errichtung einer Kanalisation und Wasserversorgung in Berlin hervor. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt habe er die sanitäre Oberaufsicht über die Stadtreinigung behalten. »Diese halbpolitische Tätigkeit«, so Virchow, »beruht überall auf ernsthaften wissenschaftlichen Vorarbeiten.« Insbesondere die Organisation der Städtereinigung sei fast vollständig aus der kommunalen Initiative heraus verwirklicht worden. Als einen ähnlichen Erfolg verbuchte er auch die von ihm in Preußen durchgesetzte Fleischbeschau sowie die Errichtung städtischer Schlachthöfe in Berlin. Virchow bedauerte, dass es leider immer noch nicht möglich sei, die internationale Gesetzgebung in diesen Fragen »in vollen Einklang mit den Forderungen der Wissenschaft zu bringen«. So setze der »so oft hervortretende Gegensatz zwischen der Praxis und der forschenden (nicht theoretischen) Wissenschaft (…) große Kaltblütigkeit und Umsicht, aber auch große Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit voraus, wie sie ohne die Controle der Wissenschaft kaum jemals in die Gebräuche des täglichen Leben übergeführt werden«. Seine Ausführungen mündeten darin, den hohen Stellenwert der Volksbildung in seinem Lebenswerk hervorzuheben. So verwies er unter anderem auf seine regelmäßigen Vorträge vor dem von ihm mitbegründeten Berliner »Handwerkerverein«, der genossenschaftliche Organisationsformen in ganz Deutschland und auch in der Welt verbreitet habe. 3 Ebenda, S. 3.

13

Einleitung

Bedauernd fügte Virchow hinzu, dass der Sozialismus ein großes Stück dieser Schöpfung wieder vernichtet habe. In diesem Rückblick wird deutlich, wie dramatisch sich in der Lebensspanne Virchows die Differenz von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont4 gewandelt hatte  : Der für sein politisches und wissenschaftliches Denken entscheidende Erfahrungsraum war zunächst durch die Notlagen des Pauperismus in der Frühzeit der industriellen Revolution geprägt worden, und dies war eng mit der Erwartung verbunden, dass derartige Missstände künftig durch wissenschaftlich angeleitetes politisches Handeln abgeschafft würden. Am Ende seines Lebens waren dagegen nicht mehr länger frühindustrielle Verhältnisse, sondern der rapide wirtschaftliche, soziale und politische Wandel im Zuge der rasanten Industrialisierung des Deutschen Reichs prägend. Und in die Erwartung, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse durch wissenschaftlich fundierte sozialpolitische Arbeit weiter verbessern würden, hatte sich angesichts der erlebten Veränderungen ein melancholischer Zug gemischt  : »[V]ertraut dem Volke und arbeitet für dasselbe, dann wird euch der Lohn nicht fehlen, wenngleich der Abbruch zahlreicher Einrichtungen, das Verschwinden vieler Menschen, die völlige Umgestaltung des Lebens den Gedanken unserer Vergänglichkeit ganz nahe bringt.« So mündete diese Schrift schließlich in eine mythische Beschwörung der Versöhnung von Wissenschaft und Volk, indem Virchow schilderte, wie ihn Handwerker und Kinder anlässlich seines Geburtstags geehrt hätten.5 In seiner Selbstdeutung erscheint er als Reformer, der auf der Grundlage einer engen Verbindung von Wissenschaft und Politik den »Fortschritt« der Gesellschaft zu befördern suchte und am Ende seines langen Lebens mit einer Mischung aus Stolz und Melancholie auf die von ihm mitgeprägten Veränderungen zurückblickte. Virchow scheint damit ein besonders geeigneter Fall zu sein, um über die Rolle von Wissenschaft bei der Gestaltung des deutschen Wegs in die Moderne nachzudenken.6 Seine Biographie ist gleichermaßen eng mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert wie mit den Veränderungen der Rolle von »Gelehrten« in der deutschen Politik verbunden. Virchow steht damit insbesondere auch für eine enge Verbindung von Naturwissenschaft und Liberalismus. Mit Blick auf diese zeitweilig einflussreiche Wahlverwandtschaft lassen sich idealtypisch drei historiographische Konzeptionalisierungen unterscheiden, denen jeweils andere geschichtsphilosophische beziehungsweise normative Prämissen zugrunde liegen. Naturwissenschaften und Liberalismus erscheinen darin wahlweise als Instrumente der Befreiung und Emanzipation, als janusköpfige 4 Reinhart Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹  – zwei historische Kategorien, in  : ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 21992, S. 349–375, hier bes. S. 357. 5 Virchow, Zur Erinnerung, S. 15. 6 Vgl. dazu Arleen M. Tuchman, Institutions and Disciplines  : Recent Work in the History of German Science, in  : The Journal of Modern History 69 (1997), S. 298–319, hier  : S. 318.

14

Einleitung

Agenten eines ambivalenten Modernisierungsprozesses oder als Produzenten neuer, subtilerer Unterdrückungsmechanismen. Ein erstes Narrativ folgt dem Modell der Whig-History, die den Aufstieg der Naturwis­ senschaften wie des Liberalismus im 19. Jahrhundert als Fortschritts- und Emanzipationsbewegung interpretiert und die als zeitgenössische Selbstinterpretation eine große Rolle spielte. Eine verflachte Variante findet in populärer, medizingeschichtlicher Heldenliteratur noch ein Residuum. Größere Bedeutung besitzen dagegen verschiedene Spielarten der Modernisierungstheorie, die in nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA ausgehenden Varianten von einer fortschrittsoptimistischen Grundhaltung geprägt sind und die moderne Naturwissenschaft ebenso wie den Liberalismus als Motoren der Überwindung vormoderner, traditionaler Strukturen behandeln.7 In einem solchen heroischen Narrativ wäre Virchow der Prototyp eines Agenten der Aufklärung, d. h. eines »Entzauberers«, und so ähnlich sah er sich auch selbst. Die Fortschrittstrunkenheit solcher Formen der Modernisierungstheorie, die nach der Mitte des 19. wie des 20. Jahrhunderts ihre Höhepunkte erreichte, wurde jedoch seit den 1970er und 1980er Jahren vielfach in Frage gestellt. Vermehrt wurden die »Ambivalenzen« der Moderne betont und deshalb auch deren »dunkle Seiten« mit in die Untersuchungen einbezogen. Vor allem die Frage nach Modernisierungsgewinnern und -verlierern erhielt dabei mehr Bedeutung als zuvor.8 Auch die sogenannte »Bielefelder Schule« der Geschichtswissenschaften, für die ein soziologisch informierter Begriff von »Modernisierung« eine zentrale Rolle spielt, machte sich diese Kritik weitgehend zu eigen und vollzog schließlich den Übergang von Modernisierungstheorien zu einer Theorie der Moderne.9 Auf diese Weise wollen die Vertreter einer erneuerten historischen Sozialwissenschaft zugleich unter Beweis stellen, was sie als ein Hauptmerkmal der Moderne ansehen, nämlich Selbstreflexivität und Lernfähigkeit. Damit trifft sich diese Richtung insbesondere mit der Position von Jürgen Habermas, der gegenüber postmoderner Kri-

7 Als Einstieg in die aktuelle Auseinandersetzung um Probleme und Chancen der Modernisierungstheorie vgl. Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran  ? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in  : ders./Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 203–232  ; Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, in  : ders., Die Gegenwart als Geschichte. Essays, München 1995, S. 13–59  ; ders., Modernisierung und Modernisierungstheorien, in  : ders., Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20.  Jahrhundert, München 2000, S. 214–250  ; vgl. auch Hans van der Loo/Willem van Reijen, Modernisierung. Projekt und Paradox, 2., aktualisierte Aufl., München 1997. 8 Siehe z. B. Geoff Eley, German History and the Contradictions of Modernity  : The Bourgeoisie, the State, and the Mastery of Reform, in  : ders. (Hg.), Society, Culture, and the State in Germany, 1870–1930, Ann Arbor 1997, S. 67–103, hier v. a. S. 103  ; Detlev J. K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989  ; Frank Bajohr (Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Frankfurt a. M. 1991. 9 Siehe v. a. Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran  ?

15

Einleitung

tik die Moderne als ein noch unvollendetes Projekt verteidigte.10 Diese Position zeichnet sich eher durch eine naturwissenschaftsskeptische Grundhaltung aus. Zugleich hebt sie im Hinblick auf den Liberalismus vor allem auf den Widerspruch zwischen Universalität und Einschränkung des liberalen Freiheitsversprechens ab.11 Dies wird jedoch oft auch im Sinne eines historisch noch uneingelösten Potenzials interpretiert, das als Aufgabe für die Gegenwart bestehen bleibt, ob es nun – in ›sozialdemokratischer Perspektive‹ – stärker auf sozial unterprivilegierte Gruppen oder – in ›Gender-Perspektive‹ – auf Frauen bezogen wird.12 In einem solchen Narrativ ließe sich die Biographie Virchows somit vielleicht als die eines Exponenten der Zivilgesellschaft13 im 19. Jahrhundert erzählen, der zugleich alle ihre Ambivalenzen von Universalität und Einschränkung mitverkörperte. In einer dritten, sozusagen postmodernen Perspektive, erscheint hingegen eben ­jener Universalismus der modernen Naturwissenschaften wie des Liberalismus als das eigentliche Problem. Aus dem Gleichheitsversprechen moderner Gesellschaften wird dort die Drohung der »Gleichmachung«, die mit dem Ausschluss all dessen einhergehe, was sich nicht dem damit verbundenen homogenisierenden Zwang füge. In vielerlei Hinsicht schließt die postmoderne Kritik an Nietzsches Bestimmung des »Humanismus« und der kulturellen Rolle der modernen Naturwissenschaften an. Zugleich ergeben sich aber auch enge Berührungspunkte mit den Gründervätern der Frankfurter Schule und der von ihnen postulierten »Dialektik der Aufklärung«14. Meist dient jedoch Michel Foucaults Werk als Bezugspunkt für eine Kritik, die sowohl die emanzipierende Wirkung der modernen Wissenschaften als auch zentrale Werte des Liberalismus – darunter den

10 Siehe v. a. Jürgen Habermas, Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1992, Leipzig, 2. erweiterte Aufl. 1992. 11 James J. Sheehan, Wie bürgerlich war der deutsche Liberalismus  ?, in  : Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 28–44, hier  : S. 42 f. 12 Siehe etwa Jürgen Habermas, Concluding Remarks, in  : Craig Calhoun (Hg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge u. London 1992, S. 462–479, hier v. a. S. 466 f. Vgl. auch die Interpretation bei Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, die das historische Potenzial des Sozialliberalismus betont, ohne dieses zwangsläufig mit dem modernen parteipolitischen Liberalismus zu identifizieren. 13 Nachdem in den Interpretationen der »Bielefelder Schule« zunächst das Bürgertum die Arbeiterklasse als Agenten der gesellschaftlichen Emanzipation ablöste, ist mittlerweile die »civil society« in den Mittelpunkt einer nicht mehr länger an eine bestimmte soziale Formation, sondern an ein bürgerliches Wertemodell geknüpften Zielvision gerückt, die ein starkes normatives Element der hier charakterisierten Position bildet. Vgl. dazu bilanzierend Peter Lundgreen (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1987), Göttingen 2000  ; Manfred Hildermaier/Jürgen Kocka/ Christoph Conrad (Hg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt a. M. u. New York 2000. 14 Siehe v. a. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Begriff der Aufklärung, in  : dies., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a. M. 1988. Hier findet sich bereits die Kritik des Umkippens der Aufklärung in den Positivismus, welche die Naturwissenschaftsskepsis bei Habermas prägt, der ein zentraler Exponent der zweiten hier aufgeführten idealtypischen Position ist.

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universalistischen Anspruch des »Humanismus« – in Frage stellt.15 In einer solchen Perspektive wäre Virchow dann ein Paradefall für eine Geschichte der im 19. Jahrhundert unter maßgeblicher Beteiligung von Medizin und Hygiene entstehenden Techniken der Regulierung der Bevölkerung, d. h. einer Geschichte der »Biopolitik« beziehungsweise »Bio-Macht«16. Bei diesen drei etwas gewaltsam systematisierten Narrativen bildet der jeweils unterschiedliche Bezug auf ein westliches Projekt der Moderne den gemeinsamen argumentativen Fluchtpunkt. Dagegen wurden jedoch von verschiedener Seite gewichtige Einwände erhoben. Kritik übte etwa M. Rainer Lepsius, der selbst wesentlich zur Popularisierung eines vor allem auf Max Webers Modell der neuzeitlichen Rationalisierung gestützten modernisierungstheoretischen Ansatzes unter deutschen Historikern beigetragen hat. Er warnte vor einer begrifflich ungeklärten und damit nicht operationalisierbaren Verwendung des Begriffes der »Moderne«, der zu Beginn der 1990er Jahre in der historischen Diskussion vor allem der Genozide des 20.  Jahrhunderts in eine nahezu symbiotische Verbindung mit dem Begriff der »Barbarei« eingetreten war.17 Damit wies er bereits auf ein Problem hin, dass Charles S. Maier jüngst noch einmal deutlich benannte  : In einer Auseinandersetzung mit der Frage der Periodisierung der neuesten Geschichte kritisierte dieser, dass mit dem Konzept der »Moderne« wenigstens im Hinblick auf das 20. Jahrhundert die Vermischung von soziostruktureller Analyse und moralischem Narrativ einhergehe.18 Auch die neuere Wissenschaftsgeschichte formulierte gewichtige Einwände  : Sie kritisiert vor allem die Reifizierung und Ontologisierung der Begriffe »Natur« und »Gesellschaft«, wie sie dem Konzept der »Moderne« zugrunde liegen. Diese, so Lorraine Daston, 15 Einführend zu dieser Debatte vgl. etwa (mit positivem Tenor) Susanne Marchand, Foucault, die moderne Individualität und die Geschichte der humanistischen Bildung, in  : Mergel/Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, S. 323–348  ; Ulrich Brieler, Foucaults Geschichte, in  : Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 244–279  ; Martin Dinges, The Reception of Michel Foucault’s Ideas on Social Discipline, Mental Asylums, Hospitals and the Medical Profession in German Historiography, in  : Collin Jones/Roy Porter (Hg.), Reassessing Foucault. Power, Medicine and Body, London 1994, S. 181–212  ; kritisch dagegen Hans-Ulrich Wehler, Michel Foucault. Die »Disziplinargesellschaft« als Geschöpf der Diskurse, der Machttechniken und der »Bio-Politik«, in  : ders., Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S. 45– 95. 16 Siehe dazu Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1  : Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1983, S. 161–190  ; ders., In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76). Aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt a. M. 1999, S. 276–305. 17 M. Rainer Lepsius, Modernität und Barbarei. Schlußbemerkung, in  : Max Miller/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnosen am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996, S. 359–364. 18 Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History  : Alternative Narratives for the Modern Era, in  : American Historical Review 105 (2000), S. 807–831, hier  : S. 812. Maier schlägt als alternative Periodisierungskategorie »Territorialität« vor.

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hätten sich im 19. Jahrhundert vollzogen und verwiesen auf eine neuzeitliche westliche Metaphysik, »in der Natur und Kultur einander entgegengesetzt werden. In dieser metaphysischen Ordnung ist Natur das Universelle, Ewige und Unumstößliche  ; Kultur ist dagegen das Lokale, Variable, Formbare.«19 Von einem ähnlichen Ausgangspunkt ausgehend fordert Bruno Latour eine »symmetrische Anthropologie«, die jene »Dichotomie zwischen der Politik und der Erkenntnis von Fakten«, die er als eine Grundlage der »Verfassung der Moderne« ansieht, nicht einfach als gegeben ansieht, sondern die »nahtlos ineinander übergehende(n) Gewebe der ›Natur/Kultur‹« untersuchen solle. So habe aufgrund der für die Moderne konstitutionellen Trennung zwischen Natur und Gesellschaft bislang niemand Politiker und Wissenschaftler symmetrisch untersucht, da es anscheinend keine Achse in der Mitte gebe.20 Virchow scheint sich für eine solche von Latour vorgeschlagene symmetrische Untersuchung geradezu anzubieten  : Denn bei ihm vermischten sich Wissenschaft und Politik, und dabei stand er mitten im Prozess einer noch nicht abgeschlossenen Ausdifferenzierung von Natur und Gesellschaft. Daraus folgt zugleich das zentrale Thema dieser Studie  : Am Beispiel Virchows soll versucht werden, Probleme der Wissenschafts- und Liberalismusgeschichte mit solchen einer Sozialgeschichte der Gelehrten im 19. Jahrhundert zu bündeln und einige neue Perspektiven zu eröffnen. In seiner Person kreuzen sich eine Anzahl wichtiger Entwicklungen, die sich auf diese Weise thematisieren lassen. Es soll also darum gehen, eine Fallstudie zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert und damit zugleich des Verhältnisses von »Natur« und »Gesellschaft« und dessen Veränderungen in der Moderne zu unternehmen. Damit stellt sich zugleich die Frage nach den Wechselwirkungen von Naturwissenschaft und Liberalismus21 im 19 Lorraine Daston, Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in  : Otto Gerhard Oexle (Hg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft  : Einheit – Gegensatz – Komplementarität  ?, Göttingen 1998, S. 9–39, hier  : S. 38 f. 20 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 1998, hier  : S. 14, 22, 39. Die von Latour beschriebene sich gleichzeitig vollziehende Entstehung von Hybriden, d. h. Mischwesen zwischen Natur und Gesellschaft, (deren gleichzeitige Verdrängung ein Hauptkennzeichen der Moderne sei) hatte Dolf Sternberger bereits 1938 als ein wesentliches Charakteristikum des 19. Jahrhunderts erfasst und zum zentralen Gesichtspunkt seiner berühmten Panorama-Studie erhoben. Wie er etwa am Panorama und der Dampfmaschine zeigte, sei ebenjene »Zusammensetzung oder wechselseitige Verstrickung der doch zugleich auch unterschiedenen Bereiche, dies Natürlich-Künstliche und KünstlichNatürliche (…) ein Kennzeichen oder Gesichtszug der Epoche, der hier nachgeforscht wird«. Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert (1938), Frankfurt a. M. 1981, S. 41. 21 Dazu bereits in unübertroffener Deutlichkeit Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. II  : Monarchie und Volkssouveränität, Freiburg i. Br. 1933, v. a. Vorwort, S. VII sowie S. 94, 108. In den großen Synthesen Thomas Nipperdeys und Hans-Ulrich Wehlers tritt dieser Zusammenhang hingegen wieder stärker in den Hintergrund. (Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte, 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983  ; 1866–1918, Bd. 1  : Arbeitswelt und Bürgergeist  ; Bd. 2  : Machtstaat vor der Demokratie, München 1992 f.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte  ; Bd. 2  : Von der

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Rahmen einer »Kultur des Fortschritts«22, die im dritten Viertel des 19.  Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte. Dabei muss nicht nur dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich die Bedeutungen von »Naturwissenschaft« und »Liberalismus« im Untersuchungszeitraum veränderten, sondern auch die Rollen des Naturwissenschaftlers und des Politikers. Diese Prozesse sollen an Virchow exemplarisch untersucht werden. Es geht somit auch darum zu zeigen, in welcher Weise sich »Wissenschaft« und »Politik« als öffentliche Existenzweisen mit seiner privaten Existenz in einem Lebenslauf beziehungsweise der Vorstellung einer »Persönlichkeit« integrieren ließen. Indem auf diese Weise versucht wird, die oben beschriebenen, sozusagen kanonisierten Narrative zu durchbrechen, lässt sich am Ende vielleicht die eingangs gestellte Frage nach dem Beitrag der Naturwissenschaften und des Liberalismus zum deutschen Weg in die Moderne neu stellen. *** Spricht man mit einigem Recht von einer »Darwin-« oder auch einer »Humboldt-Industrie«, so rechtfertigt das Ausmaß der Literatur zu Virchow immerhin vielleicht die Rede von einer Virchow-Manufaktur. Die ersten knappen Biographien Rudolf Virchows erschienen schon 1891 anlässlich seines 70.  Geburtstags.23 In diesen zeitgenössischen Arbeiten waren die beiden Pole der künftigen Virchow-Literatur schon angelegt  : Auf der einen Seite der Politiker, der hier dezidiert aus der Perspektive des Berliner »Fortschritts« dargestellt wurde, auf der anderen Seite der »große Mediziner«. Zugleich entwickelten sich bereits zu seinen Lebzeiten die Anfänge einer Anti-Virchow-Tradition, oftmals mit antisemitischen Untertönen.24 Nach Virchows Tod 1902 erschienen weitere kurze biographische Darstellungen, zumeist von Schülern oder Autoren, die ihm persönlich nahe standen. Diese präsentierten in ehrfurchtsvollem Ton gehaltene knappe Würdigungen seines Lebenswerks unter Betonung seiner Rolle als Arzt.25 Im nationalsozialistischen Deutschland wurde dagegen Reformära bis zur industriellen und politischen »Deutschen Doppelrevolution« 1815–1845/49, München 1987  ; Bd. 3  : Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, 1849–1914, München 1995.). 22 Zu diesem Begriff siehe die Ausführungen über die »culture of progress« bei David Blackbourn, The Fontana History of Germany 1780–1918. The Long Nineteenth Century, London 1997, S. 270–283. 23 Heinrich Steinitz, Rudolf Virchow. Ein Lebensbild, Berlin 1891. Steinitz, der vor allem Virchows Bedeutung für den Linksliberalismus hervorhob, war ein ehemaliger Redakteur der »Volkszeitung« Aron Bernsteins und Verfasser einer erfolgreichen Biographie des preußischen Demokraten Benedikt Waldeck.– Paul Börner, Rudolf Virchow, bis zur Berufung nach Würzburg, in  : Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 21 (1882), S. 105–130, bietet lediglich eine knappe Skizze der frühen Jahre Virchows. Wolf Becher, Rudolf Virchow. Eine biographische Studie, Berlin 1891, legte die Betonung auf die medizinische Bedeutung Virchows. 24 Carl Paasch, Geheimes Judentum, Nebenregierungen und jüdische Weltherrschaft. Bd. 2  : Geheimrath Prof. Dr. Rudolf Virchow aus Schievelbein. Unser großer Gelehrter. Eine psychologische Skizze, Leipzig 1892. 25 Rudolf Pagel, Rudolf Virchow, Leipzig 1906  ; Carl Posner, Rudolf Virchow, Wien u. a. 1921  ; Karl Sudhoff, Ru-

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aus Ehrfurcht Ablehnung, und 1933 fühlte sich Virchows Sohn Hans sogar bemüßigt, rufschädigenden Gerüchten über jüdische Vorfahren in seiner Familie entgegenzutreten.26 Popularisiert wurde dieses negative Virchow-Bild in Hans Steinhoffs Film Robert Koch – der Bekämpfer des Todes von 1939, wo Virchow zum kleinmütigen Gegenspieler Bismarcks und Kochs gemacht wurde.27 Ludwig Aschoffs knappe Biographie versuchte demgegenüber 1940 eine Ehrenrettung vorzunehmen.28 Zu diesem Zweck distanzierte er sich allerdings nicht nur ausdrücklich von dem Politiker Virchow, sondern versuchte auch sein wissenschaftliches Werk in ein dem gerade herrschenden Zeitgeist angepasstes Licht zu tauchen. Die Tendenz, opportune und nicht-opportune Züge in der Biographie Virchows jeweils sorgfältig zu trennen, spielte auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle. Besonders eklatant trat dies in der Historiographie der frühen DDR hervor  : Hier wurde der »junge, revolutionäre Virchow« bevorzugt, der scharf von dem späteren »bürgerlichreaktionären« Politiker abgesetzt wurde. Virchow wurde so einerseits als Teil des humanistischen Erbes reklamiert und andererseits als »Reaktionär« scharf kritisiert. Kurt Winter ebenso wie die wenig später erschienene kommentierte Virchow-Briefedition Felix Boenheims bezogen dabei die politische und wissenschaftliche Entwicklung Virchows eng aufeinander, indem seine politische Entwicklung zum »Reaktionär« auf seinen »mechanischen Materialismus« zurückgeführt wurde.29 Die westliche historische Tradition reklamierte Virchow nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen vor allem als Repräsentanten eines anderen, liberalen Deutschlands und einer humanistischen Medizintradition.30 Maßgeblich dafür ist die erste fundierte Virchowdolf Virchow und die deutschen Naturforscher-Versammlungen, Leipzig 1922. Bei letzterem Werk handelt es sich um eine kommentierte Zusammenstellung der Reden Virchows auf den Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte. 26 Hans Virchow, Die Abstammung Rudolf Virchows, in  : Mitteilungen zur Geschichte der Medizin, der Naturwissenschaften und der Technik 32 (1933), S. 220 ff. 27 Vgl. dazu Ulrike Reim, Der »Robert-Koch«-Film (1939) von Hans Steinhoff. Kunst oder Propaganda  ?, in  : Udo Benzenhöfer/Wolfgang  U. Eckart (Hg.), Medizin im Spielfilm des Nationalsozialismus, Tecklenburg 1990, S. 22–33. 28 Ludwig Aschoff, Rudolf Virchow. Wissenschaft und Weltgeltung, Hamburg 1940. 29 Kurt Winter, Rudolf Virchow, Leipzig u. Jena 1956  ; Felix Boenheim, Virchow. Werk und Wirkung, Berlin 1957. Vgl. dazu auch Thomas Michael Ruprecht, Felix Boenheim. Arzt, Politiker, Historiker. Eine Biographie, Hildesheim u. a. 1992, S. 386–390. Boenheim war als wissenschaftlicher Berater für einen 1957/58 geplanten DEFA-Film über Rudolf Virchow vorgesehen, der aber schließlich nicht zustande kam. Ebenda, S. 388 f. 30 Siehe etwa Theodor Heuss, Rudolf Virchow, in  : ders., Deutsche Gestalten. Studien zum 19.  Jahrhundert, Stuttgart/Tübingen 1947, S. 104–111. Aufschlussreich für die Adaptionsfähigkeit von Virchow-Biographien ist ein Vergleich der erstmals 1937 und dann 1957 in überarbeiteter Form erschienenen Kurzbiographie von Paul Diepgen, Rudolf Virchow, 1821–1902, in  : Willy Andreas/Wilhelm von Scholz (Hg.), Die großen Deutschen. Neue deutsche Biographie, Bd. 5, Berlin 1937, S. 368–375  ; sowie ders., Rudolf Virchow, in  : Hermann Heimpel/Theodor Heuss/Benno Reifenberg (Hg.), Die großen Deutschen, Bd. 4, Berlin 1957, S. 28–36. Zu einer kritischen Bewertung des sich wandelnden Virchow-Bildes bei Paul Diepgen vgl. auch Cay-Rüdiger

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Biographie, die der nach 1933 über Frankreich in die USA emigrierte Medizinhistoriker Erwin Ackerknecht 1953 veröffentlichte. Seine Studie, deren Hauptgewicht auf der wissenschaftlichen Bedeutung Virchows lag, wurde zugleich zum Ausgangspunkt einer ›neoliberalen‹ Interpretation, die dessen Opposition gegen Bismarck positiv in den Vordergrund rückte.31 Ernst Meyer ging es hingegen in seiner 1956 vorgelegten kurzen Virchow-Biographie vor allem darum, diesen gegen Diffamierungen im nationalsozialistischen Deutschland und in der DDR zu verteidigen.32 Der erste, der in größerem Umfang unveröffentlichtes Material für seine Arbeit über Virchow heranziehen konnte, war Christian Andree. Sein 1976 veröffentlichtes dreibändiges Werk über Virchow als Prähistoriker rückte erstmals dessen Bedeutung für die Ur- und Frühgeschichte in den Mittelpunkt.33 Als eine weitere wichtige Spezialstudie verdient die 1967 erschienene Arbeit Wolfgang Jacobs über medizinische Anthropologie im 19. Jahrhundert hervorgehoben zu werden, die eine geistesgeschichtliche Einordnung der sozialen Medizin und allgemeinen Krankheitslehre Virchows unternimmt.34 Geht es Jacob um den inneren Zusammenhang einiger zentraler politischer und wissenschaftlicher Theorieelemente bei Virchow, interessiert sich die 1988 veröffentlichte Studie Renato G. Mazzolinis, in der die politisch-biologischen Analogien im Frühwerk Virchows untersucht werden, für den Einfluss politischer Modelle auf die wissenschaftliche Theoriebildung.35 Abgesehen von solchen Spezialuntersuchungen blieb Virchow weiter vor allem ein Gegenstand populärer Überblicksdarstellungen. Dies gilt gleichermaßen für den knap-

Prüll, Von »grossen Deutschen« und »stolzen Wipfeln« – Die Lehrbücher der deutschen Medizingeschichte und die Pathologie (1858 bis 1945), in  : Gesnerus 54 (1997), S. 194–218, hier  : S. 214. 31 Felix Boenheim kritisierte Ackerknecht dafür in seiner Rezension  : »Sein Buch ist trotz einiger leicht kritischer Bemerkungen nur eine Vergötzung seines Helden in der Art, wie Treitschke Hohenzollern-Geschichte schrieb.« Felix Boenheim, Virchow und wir, in  : Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig (Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe) 6 (1956/57) 1, S. 107 f., zit. nach Ruprecht, Felix Boenheim, S. 386. Boenheim und Ackerknecht waren beide Schüler des Leipziger Medizinhistorikers Henry E. Sigerist, arbeiteten in der Weimarer Republik im Verein Sozialistischer Ärzte zusammen und emigrierten nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten über Frankreich in die USA. Doch während sich Ackerknecht, der trotzkistische Verbindungen besaß, vom Marxismus abwandte und 1957 in die Schweiz ging, kehrte Boenheim 1949 nach Deutschland zurück und entschied sich dabei für die DDR, der seine politischen Hoffnungen galten. Siehe ebenda, v. a. S. 126 f., 215 u. 377 ff.; Wolfgang U. Eckart/Christoph Gradmann (Hg.), Ärztelexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 1995, s. v. a. Erwin Heinz Ackerknecht, S. 12 f. 32 Ernst Meyer, Rudolf Virchow, Wiesbaden 1956, S. 163. 33 Christian Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, 3 Bde., Köln u. Wien 1986. 34 Wolfgang Jacob, Medizinische Anthropologie im 19. Jahrhundert. Mensch – Natur – Gesellschaft. Beitrag zu einer theoretischen Pathologie. Zur Geistesgeschichte der sozialen Medizin und allgemeinen Krankheitslehre Virchows, Stuttgart 1967. 35 Renato G. Mazzolini, Politisch-biologische Analogien im Frühwerk Rudolf Virchows, Marburg 1988.

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pen Abriss Arnold Bauers36 sowie die 1988 veröffentlichte Biographie Manfred Vasolds37. Dagegen führte die 1991 veröffentlichte Dissertation Byron A. Boyds38, die den Politiker Virchow ins Zentrum rückt, über das bis dahin Bekannte hinaus. Dort wird vor allem die Entwicklung der politischen Schwerpunkte und Positionen Virchows untersucht. Dabei eint die Studien Boyds und Vasolds die geschichtspolitische Tendenz, vor allem auf das Moment der »Zivilcourage« bei Virchow abzuheben und damit gegen das Bild des Deutschen als des »ewigen Untertanen« anzuschreiben. Die beiden bislang neuesten Biographien schließen gewissermaßen den Bogen einer nach 1945 in Ost und West getrennt verlaufenen Traditionsbildung unter medizinhistorischen Vorzeichen  : Der ehemalige Direktor des Pathologischen Instituts der Berliner Charité Heinz David repräsentiert eine zuletzt weitgehend entideologisierte und dafür in perspektivlosen Positivismus abgetauchte DDR-Medizingeschichte  : Sein 1993 veröffentlichtes Werk über Rudolf Virchow39 bietet vor allem eine umfangreiche Sammlung ausführlicher Virchow-Zitate. Hingegen handelt es sich bei der 1994 erschienenen Virchow-Biographie von Heinrich Schipperges40 um einen weiteren knappen Überblick mit populärwissenschaftlichem Anspruch. Der Forschungsstand ist also trotz der reichen Fülle von Virchow-Biographien insgesamt sehr unbefriedigend  : Es dominieren populärwissenschaftliche Überblicksdarstellungen beziehungsweise Studien zu Spezialaspekten. Sie haben vor allem erreicht, Virchow als Bestandteil einer wahlweise medizinischen und – in geringerem Umfange – auch politischen Tradition zu etablieren und ihn damit als Teil eines jeweils spezifischen »Erbes« zu reklamieren. Als Grundtendenz lässt sich dabei beobachten, dass nach ersten Anfängen, in denen der Politiker und der Wissenschaftler gleichberechtigt nebeneinander standen, dem antiliberalen Zeitgeist der folgenden Generationen geschuldet, der »liberale Held« immer mehr hinter dem »großen Medizinmann« verschwand. In den letzten Jahren interessierte hingegen wieder zunehmend der Politiker Virchow. Gemeinsam ist beiden Richtungen, dass das Interesse an der »historischen Größe« Virchows im Vordergrund steht und damit einer Form der Biographik gehuldigt wird, die sich am Leitbild des großen autonomen Individuums orientiert. *** Die bislang vorliegenden Virchow-Biographien blieben somit gänzlich unberührt von den intensiven Bemühungen zur Erneuerung der Biographie, die mit ihrer in den letzten Jahren erfolgten Renaissance als (fach-)historisches Genre einhergingen. Trotz des 36 Arnold Bauer, Rudolf Virchow – der politische Arzt, Berlin 1982. 37 Manfred Vasold, Rudolf Virchow. Der große Arzt und Politiker, Stuttgart 1988. 38 Byron A. Boyd, Rudolf Virchow. The Scientist as Citizen, New York u. London 1991. 39 Heinz David, Rudolf Virchow und die Medizin des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. W. Selberg/H. Hamm, München 1993. 40 Heinrich Schipperges, Rudolf Virchow, Reinbek 1994.

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dort mittlerweile erreichten Niveaus der methodischen Selbstreflexion gilt die aktuelle biographische Konjunktur gelegentlich einfach als Ausdruck des Methodennihilismus mancher Historiker, die sich dieses beim nicht-fachhistorischen Publikum ohnehin stets favorisierten Genres aus purer Bequemlichkeit bedienen.41 Umstritten ist damit, ob die neue Biographik mehr als nur das Etikett gewechselt hat. Die intensive theoretische Diskussion der letzten Jahre zeigte jedoch, dass sich in diesem Genre gewissermaßen die historiographischen Grundprobleme überhaupt bündeln.42 Die Biographik sieht sich in dieser Auseinandersetzung einer doppelten Herausforderung gegenüber, und zwar einerseits durch die lange Zeit strukturfunktionalistisch imprägnierte historische Sozialwissenschaft und andererseits durch den Poststrukturalismus. Im Zuge ihres Angriffs auf die traditionelle deutsche Geschichtswissenschaft seit den 1970er Jahren hatte die historische Sozialwissenschaft die Biographie als eine letzte Bastion des Historismus attackiert.43 Die Mehrzahl der Biographien, so die vielfach variierte Kritik, tradiere ein Persönlichkeitsmodell, welches das große, historisch bedeutende, autonome Individuum ganz in den Mittelpunkt stelle und sich diesem hermeneutischverstehend, d. h. vor allem »einfühlend«, anzunähern suche. Zudem würden individuelle Akteure sowie Handlung und Erzählung bevorzugt, denen nunmehr Struktur und Analyse entgegengesetzt wurden.44 In der Auseinandersetzung mit der neuen »Kulturgeschichte« hat sich allerdings auch die historische Sozialwissenschaft gewandelt. So stellen sich die jüngeren Vertreter einer »Gesellschaftsgeschichte« unter Rückgriff auf die Kategorie der »agency« nicht nur wieder vermehrt die Frage nach der Rolle individuellen Handelns,45 sondern bemühen sich auch um die Integration eines Begriffs von »Kultur«, 41 Jacques LeGoff, Wie schreibt man eine Biographie  ?, in  : Fernand Braudel u.a., Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers, Berlin 1990, S. 103–125, hier  : S. 105. 42 Margit Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte  – Wissenschafts-Geschichte. Vom Nutzen der Biographie für Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte, in  : Berichte zur Wissenschaftsgeschichte  23 (2000), S. 17–35, hier  : S. 31. 43 Jürgen Oelkers, Biographik. Überlegungen zu einer unschuldigen Gattung, in  : Neue Politische Literatur 3 (1974), S. 296–309, hier  : S. 299. 44 Siehe etwa Jürgen Kocka, Struktur und Persönlichkeit als methodologisches Problem der Geschichtswissenschaft, in  : Michael Bosch (Hg.), Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte. Historische Bestandsaufnahmen und didaktische Implikationen, Düsseldorf 1977, S. 152–169. Vgl. dazu auch Andreas Gestrich, Einleitung  : Sozialhistorische Biographieforschung, in  : ders./Peter Knoch/Helga Merkel (Hg.), Biographie – sozialgeschichtlich. Sieben Beiträge, Göttingen 1988, S.  5–28, hier  : S.  6–9. Die Frage nach der Rolle der »Empathie« führte gelegentlich auch zu der Frage, wie die Person des Biographierten und die Person des Biographen zusammenhängen. Vgl. dazu Carol Gelderman, Ghostly Doubles  : Biographer and Biographee, in  : The Antioch Review 56 (1996), S. 328–335. Für ein empathisches Verhältnis des Biographen zum Biographierten plädiert Catherine Drinker Bowen, The Biographer’s Relationship with His Hero, in  : Biography as High Adventure. Life-Writers Speak on Their Art, edited with a prologue by Stephen B. Oates, Amherst 1986, S. 65–69  ; für ein distanziertes Verhältnis plädiert dagegen Barbara W. Tuchman, Biography as a Prism of History, in  : ebenda, S. 93–103, v. a. S. 101. 45 Vgl. etwa Thomas Welskopp, Der Mensch und die Verhältnisse. »Handeln« und »Struktur« bei Max Weber

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innerhalb dessen die Auffassung des Menschen als eines »Wesens (…), das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist«46, im Mittelpunkt steht und somit die alten Probleme einer historischen Hermeneutik wieder neu diskutiert werden. Damit werden zugleich die Dimensionen der »Erfahrung« sowie der Aneignungs- und Aushandlungsprozesse von Bedeutungen und Identitäten47 aufgewertet. In dieser Auseinandersetzung wurden zugleich Impulse verarbeitet, die eine vielleicht noch radikalere Infragestellung der traditionellen Biographie enthalten  : Von Siegfried Kracauer bis Pierre Bourdieu lautete die Kritik an der Biographie, dass mit Mitteln der historischen Erzählung die literarische Fiktion eines einheitlichen Individuums hergestellt werde, das letztlich mit dem bürgerlichen Individuum des 19. Jahrhunderts identisch sei.48 Dies gipfelte in poststrukturalistischen Positionen, die nicht allein die Relevanz, sondern sogar die Existenz des Untersuchungsgegenstands der Biographie in Frage stellen. So sprechen Autoren wie Roland Barthes und Michel Foucault dem Begriff des »Individuums« selbst seine Berechtigung ab. Damit wurde Biographie zur Konstruktion einer »biographischen Illusion« (Pierre Bourdieu), die lediglich ein narratives Konstrukt des Erzählers darstelle. Dem steht jedoch ein verbreitetes Bedürfnis nach einer »Rückkehr des wirklichen Menschen in der Geschichte«49 gegenüber, die sich vielleicht auch als Ausdruck eines umfassenderen Bedürfnisses nach »Authentizität« innerhalb einer zunehmend durch Virtualisierung geprägten Kultur deuten lässt und somit Teil einer auf vielen Ebenen nachvollziehbaren Gegenbewegung zur Postmoderne ist. So herrscht gleichermaßen Skepsis gegenüber menschenleeren strukturorientierten Untersuchungen, deren Resultat »Hamlet ohne den Prinzen von Dänemark« sei,50 wie gegen eine postmoderne und Anthony Giddens, in  : Mergel/Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, S. 39–70. 46 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1987, S. 9. 47 Vgl. dazu etwa Christoph Conrad/Martina Kessel, Blickwechsel  : Moderne, Kultur, Geschichte, in  : dies. (Hg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 9–40. 48 Siegfried Kracauer, Die Biographie als neubürgerliche Kunstform, in  : ders., Schriften, hrsg. v. Inka MülderBach, Bd. 5/2  : Aufsätze 1927–1931, Frankfurt a. M. 1990, S. 195–199  ; Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in  : BIOS 3 (1990), S. 75–81  ; siehe dazu Lutz Niethammer, Kommentar zu Pierre Bourdieu  : Die biographische Illusion, ebenda, S. 91–93. 49 Hans-Jörg von Berlepsch, Die Wiederentdeckung des »wirklichen Menschen« in der Geschichte. Neue biographische Literatur, in  : Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 488–510  ; vgl. auch Christoph Gradmann, Geschichte, Fiktion und Erfahrung – kritische Anmerkungen zur neuerlichen Aktualität der historischen Biographie, in  : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 17 (1992), S. 1–16  ; ders., Leben in der Medizin. Zur Aktualität von Biographie und Prosopographie in der Medizingeschichte, in  : Norbert Paul/Thomas Schlich (Hg.), Medizingeschichte. Aufgaben, Perspektiven, Frankfurt  a.  M. 1997, S. 243–265. 50 L. Pearce Williams, The Live of Science and Scientific Lives, in  : Physis 28 (1991), S. 199–213, hier  : S. 210  ; vgl. dazu auch Michael Shortland/Richard Yeo, Introduction, in  : dies. (Hg.), Telling Lives in Science. Essays on Scientific Biography, New York u. a. 1996, S. 1–44, hier  : S. 6.

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Dezentrierung des Ich, d. h. seine Auflösung in einen Zusammenhang schwebender Diskurse.51 Dabei sind sich aktuelle Überlegungen zu einer historischen Biographik darin einig, dass historische Persönlichkeiten weder als gänzlich strukturdeterminierte noch als gänzlich autonome, freie Individuen dargestellt werden sollten.52 In einer »erneuerten Biographik« stehe zwar, wie Andreas Gestrich bilanziert, »erneut das Individuum als Handlungsträger im Zentrum des Interesses, jedoch nicht als vereinzelter ›homo clausus‹, sondern in der Form einer konsequenten Analyse seiner Bezüge zur Umwelt«,53 womit dem Vorwurf des Rückfalls auf historistische Positionen vorgebeugt werden soll. Der hier mit seiner Kritik am cartesianischen Menschenbild des ›homo clausus‹ zitierte Norbert Elias zielt allerdings vor allem auf den Positivismus und namentlich auf eine strukturfunktionalistische soziologische Tradition der Bestimmung von Individuum und Gesellschaft, die ihm zufolge von Max Weber zu Talcott Parsons führt.54 Die »erneuerte Biographik«, wie sie von Gestrich charakterisiert wird, setzt jedoch, indem sie die Bezüge von Individuum und Gesellschaft bevorzugt untersuchen will, deren Unterscheidung in zwei unabhängig voneinander existierende Gegebenheiten gerade voraus. Letztere stellt Elias jedoch zwar nicht als Erfahrungstatsache, aber als soziologischhistorische Kategorien in Frage. Soweit sich die Forderung der »erneuerten Biographik« auf eine stärkere Berücksichtigung der Bezüge von Individuum und Umwelt bezieht, geht sie damit im Grunde genommen nicht über den oft als Hauptexponenten einer historistischen Biographiekonzeption angeführten Wilhelm Dilthey hinaus, für den die Frage nach den Wechselwirkungen von Individuum und seiner Umwelt gleichfalls eine zentrale Rolle spielte.55 Elias hebt demgegenüber auf die Historizität der einer solchen Betrachtungsweise zugrunde liegenden kategorialen Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft ab.56 51 Vgl. Carole J. Lambert, Postmodern Biography  : Lively Hypotheses and Dead Certainties, in  : Biography 18 (1995), S. 305–327  ; sowie auch William H. Epstein (Hg.), Contesting the Subject. Essays in the Postmodern Theory and Practice of Biography and Biographical Criticism, West Lafayette 1991  ; Simon Schama, Dead Certainties (Unwarranted Speculations), New York 1991. 52 Exemplarisch dazu Reinhard Sieder, Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft  ?, in  : Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 445–468, hier  : S. 448. 53 Gestrich, Einleitung  : Sozialhistorische Biographieforschung, S. 7. 54 Siehe Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1  : Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a. M. 8 1981, S. XLIV–IL. 55 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Mit einer Einleitung von Manfred Riedel, Frankfurt a. M. 51997, v. a. S. 303–310. Das eigentliche theoretische Problem, nämlich die dort als Prämisse enthaltene kategoriale Trennung von Individuum und Gesellschaft, lässt sich keineswegs auf ein Erbe des Historismus reduzieren, sondern besitzt zugleich konstitutive Bedeutung in den Theorien der soziologischen Überväter der sozialwissenschaftlichen Historik. Vgl. dazu Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 18 ff. 56 Elias, Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. XLIII–LXVIII.

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Deshalb sollte, so Jacques LeGoff, »jede Biographie (…) nach der Konzeption des Individuums fragen, die zur Zeit des Lebens ihres Helden existierte«57. Individuelle Lebensläufe stehen in Beziehung zu zeitbedingten und historisch veränderlichen Auffassungen des Individuums sowie Lebenslaufmustern, die von biographisch arbeitenden Historikern mitbedacht werden müssen. Andernfalls kann dies dazu führen, dass die den untersuchten Lebensläufen zugrunde liegenden biographischen Modelle und die Modelle der biographischen Interpretation in eins fallen und die Analyse somit zirkulär wird. Werden die untersuchten Individuen in denselben Erzählmodellen interpretiert, die möglicherweise bereits als literarische oder anderweitig kulturell vermittelte Vorlagen in einem Wirkungszusammenhang mit den zu untersuchenden historischen Biographien selbst standen, begünstigt dies eine stillschweigende »Komplizenschaft«58 zwischen dem Biographen und dem Gegenstand seiner Biographie. Aus diesem Zirkel auszubrechen ist umso schwieriger, als auch die Leseerwartungen des Publikums stark von bestimmten, vor allem literarisch beeinflussten Erwartungen an die Präsentation eines Lebenslaufs geprägt sind. Dem entspricht insbesondere die von Michael Shortland und Richard Yeo so bezeichnete »Stop-and-go-, Lumpensack-Biographie«, die sie als Wiederkehr eines »viktorianischen Gespenstes« bezeichnen  : Von den Vorfahren der Familie gelangen wir zur Geburt des Subjekts, gefolgt von einer kurzen Jugend und Adoleszenz, bevor der Biograph dann bei der ersten bemerkenswerten Tätigkeit angelangt. Dort halten wir an für eine Beschreibung und Bewertung, die ausgiebig durch Zeugnisse belegt wird, bevor wir dann wieder fortfahren. Das Subjekt durchlebt ein weiteres Jahr, ein weiteres Lustrum, dann eine weitere Atempause, bevor wir wieder fortfahren.59

Diese Beobachtung gilt besonders für die Darstellung bildungsbürgerlicher Lebensläufe des 19. Jahrhunderts, zu denen auch Rudolf Virchow zählt. Die besondere Vorliebe von Biographen für solche Beispiele beruht nicht zuletzt auf der privilegierten Quellensituation für diese Gruppe, bildete doch die schriftliche Selbstreflexion in Briefen, Tagebüchern usw. ein wichtiges Element des damit eng verbundenen Konzepts von »Persönlichkeit«. Dieses war in der bildungsbürgerlichen Tradition des 19.  Jahrhunderts in hohem Maße literarisch vorgeformt, wofür das Modell des »Bildungsromans« eine Schlüsselrolle spielte. Für den Zirkel zwischen literarisch vorformulierten Lebenslaufmodellen, gelebten Biographien und biographischer Selbstdeutung steht insbesondere die Autobiographie,60 als deren Autoren nicht zuletzt Ärzte des 19. und frühen 20. Jahr57 LeGoff, Wie schreibt man eine Biographie, S. 110. 58 Bourdieu, Die biographische Illusion, S. 76. 59 Yeo/Shortland, Introduction, S. 25. 60 Vgl. dazu etwa Peter Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre, München 1978.

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hunderts hervortraten. Der beschriebene biographische Zirkel lässt sich nur schwer durchbrechen, doch lässt sich die Aufmerksamkeit für die damit verbundenen Probleme schärfen. So stellt sich für das Genre der Biographie in besonderer Weise die Problematik der Tropologie des historischen Diskurses, d. h., der in historischen Erzählformen implizit enthaltenen Deutungsmuster.61 Indem in dieser Arbeit das Moment der »Persönlichkeit«, das in Virchows zeitgenössischem Horizont als Erfahrungstatsache enthalten war, ernst genommen wird, soll gleichwohl nicht der »Mythos der persönlichen Kohärenz«62 bestärkt werden. Vielmehr geht es darum, die soziale Konstitution seiner Ich-Identität als solche zu thematisieren und zu reflektieren, und nicht durch die narrative Form die Suggestion »eines seinem Handeln und Leben autonom einen unwandelbaren Sinn verleihenden Individuums«63 zu erzeugen. Es muss also untersucht werden, auf welche Weise sich diese Einheit seiner »Identität« beziehungsweise seiner »Persönlichkeit« konstituierte und wodurch sie gegebenenfalls gefährdet wurde. Doch reicht das Interesse dieser Arbeit in mehrfacher Hinsicht über Virchows »Persönlichkeit« hinaus  : Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit es überhaupt sinnvoll ist, Virchow ausschließlich als historisches Individuum zu begreifen. Verwandelte er sich nicht vielmehr im Verlauf seines Lebens und vor allem seines Nachlebens vom historischen Individuum in ein Symbol  ?64 Denn insbesondere im Hinblick auf seine späteren Jahre und sein Nachleben überlagerten zunehmend verschiedenartige Typisierungen seine Bedeutung als historische »Persönlichkeit«, wobei er von unterschiedlichen Gruppen zur symbolischen Repräsentation ihrer jeweiligen Interessen und Werte vereinnahmt wurde. Zudem soll hier die biographische Perspektive mit monographischen Sachgesichtspunkten verbunden werden. Eine derartige Vorgehensweise galt noch in den 1970er Jahren dem einen als erfolgversprechende Darstellungsform65, dem anderen dagegen als Indiz der Krise der Biographie66. Moshe Zimmermann argumentiert demgegenüber, dass die einer solchen Auffassung zugrunde liegende herkömmliche Unterscheidung von Monographie und Biographie ohnehin obsolet sei  : Die Biographie be61 Siehe dazu Hayden White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Aus dem Amerikanischen von Margit Smuda, Frankfurt a. M. 1990. 62 James Clifford, «Hanging Up Looking Glasses at Odd Corners”  : Ethnobiographical Prospects, in  : Daniel Aaron (Hg.), Studies in Biography, Cambridge, Mass., u. London 1978, S. 41–56, hier  : S. 44  ; Thomas Söderqvist, Existential Projects and Existential Choice in Science  : Science Biography as an Edifying Genre, in  : Shortland/Yeo (Hg.), Telling Lives in Science, S. 45–84, hier v. a. S. 55–59  ; Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte, S. 31. 63 Gestrich, Einleitung, S. 16. 64 LeGoff, Wie schreibt man eine Biographie  ?, S. 107. 65 Dieter Riesenberger, Biographie als historiographisches Problem, in  : Bosch (Hg.), Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte, S. 25–39, hier  : S. 38. 66 Hans-Ulrich Wehler, Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse, in  : ders. (Hg.), Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971, S. 9–30.

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fasse sich ebenso wie die Monographie mit einem spezifischen historischen Phänomen in einem historischen Kontext und könne zusätzlich auch noch in privilegierter Weise die psychologische Dimension kausaler Erklärungen sowie die sozialen Interaktionen historischer Individuen berücksichtigen.67 So ließe sich im Falle Virchows nach seinem »existentiellen Projekt« fragen, d. h. nach seiner Auffassung darüber, wie er seinem Leben Sinn, Einheit und Wert zu verleihen vermochte und in welcher Weise er dies in seiner Arbeit, d. h. in der sozialen Sphäre, zu realisieren suchte.68 Doch gehen die Bezüge zu historischen Phänomenen nicht in der Intentionalität der biographierten Person auf. Vielmehr gelangen aus der Perspektive des hier im Mittelpunkt stehenden Interesses am Verhältnis von Wissenschaft und Politik eine Vielzahl historischer Phänomene in den Blick, mit denen sich zahlreiche Fragestellungen und Methoden verbinden lassen. Am Beispiel Virchows erweist sich in ganz besonderem Maße der eklektische Charakter, der das Genre der Biographie generell prägt. Hierin liegt aber auch eine Chance, nämlich, eine integrierte Perspektive zu entwickeln, in der sich sozioökonomische Strukturen, Institutionen, Mentalitäten, Ideen, Lebensführung usw. gleichermaßen untersuchen lassen.69 Bei diesem Vorhaben kann man sich auf eine insgesamt günstige Quellenlage stützen, von der in der bisherigen Forschung bislang allenfalls bruchstückhaft Gebrauch gemacht worden ist. Um einen Maßstab für die Größenordnung der Aufgabe zu geben, sei nur darauf verwiesen, dass allein das von Julius Schwalbe 1901 veröffentlichte – unvollständige – Schriftenverzeichnis Virchows etwa 100 Druckseiten umfasst.70 Hinzu kommen umfangreiche unveröffentlichte Quellen. Der wichtigste Teil der Überlieferung befindet sich im Nachlass Virchows im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, in dem vor allem seine umfangreiche Korrespondenz von Bedeutung ist.71 Allerdings besteht diese, wie meist üblich, zum großen Teil nur aus den eingegangenen Schreiben, während die ausgehende Korrespondenz auf die Überlieferung der Korrespondenzpartner verstreut ist, von denen etwa 2500 bekannt sind. Weitere Korrespondenzteile finden sich in der Sammlung Darmstädter in der Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, Berlin, die vor allem zu Virchows wissenschaftlicher Tätigkeit wich67 Moshe Zimmermann, Biography as a Historical Monograph, in  : Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 20 (1991), S. 449–457. 68 Söderqvist, Existential Projects and Existential Choice, hier  : v. a. S. 66. Indem Söderqvist damit Sartres Gedanken des »projet original« aufgreift, ist dieser Ansatz Bourdieu diametral entgegengesetzt, dessen Kritik an der Biographie eben an diesem Punkt ansetzt. Siehe Bourdieu, Die biographische Illusion, S. 75 f. 69 Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte, S. 21. 70 Siehe Julius Schwalbe (Hg.), Virchow-Bibliographie, 1843–1901, Berlin 1901. 71 Siehe dazu auch Ch. Kirsten  : Quellen über Rudolf Virchow im Zentralarchiv der DAW und im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, in  : Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 18 (1972), S. 426–429.

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tige Auskünfte geben. Die im Pommerschen Landesmuseum, Greifswald, aufbewahrte Sammlung Rabl enthält hingegen wichtiges Material insbesondere familiären Charakters.72 Geben die bislang aufgeführten Quellen vor allem auch zu privaten Aspekten in erheblichem Umfang Auskünfte, die über den bisherigen Forschungsstand hinausführen, so bieten die Bestände des Universitätsarchivs der Humboldt-Universität zu Berlin73 sowie des Geheimen Staatsarchivs, Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, weiterführende Informationen über sein berufliches Wirkungsfeld sowie über sein Verhältnis zur preußischen Administration74. Wichtig sind in diesem Zusammenhang besonders die Akten des preußischen Kultusministeriums. Neben einigen kleineren Beständen im Landeshauptarchiv Potsdam, das vor allem die Dokumentation der zeitweiligen polizeilichen Überwachung Virchows aufbewahrt, wurde schließlich auch Material zu Virchows kommunalpolitischer Tätigkeit im Landesarchiv Berlin, Stadtarchiv, benutzt. Hindernisse für die Forschung ergaben sich bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor allem daraus, dass sich sowohl der Nachlass Virchows ebenso wie die heute in Dahlem befindlichen Überlieferungsteile aus der preußischen Ministerialbürokratie sowie die Überlieferung der Berliner Universität nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR befanden und somit nur unter sehr erschwerten Bedingungen zugänglich waren. Deshalb kam eine quellengestützte biographische Forschung zu Virchow auch erst spät in Gang. Neben solchen glücklicherweise überwundenen Hindernissen des materiellen Zugangs bleibt jedoch die Schwierigkeit der Entzifferung der Handschrift Virchows eine immer noch schwer zu überwindende Barriere, welche die Virchow-Forschung zu einem langwierigen und mühsam zu erlernenden Handwerk werden lässt. Mittlerweile verschafft hier allerdings die von Christian Andree herausgegebene monumentale Rudolf-Virchow-Gesamtausgabe, deren 71 Bände seit kurzem endlich vollständig vorliegen, beträchtliche Erleichterung.75 Der Verfasser der vorliegenden Studie konnte davon allerdings noch kaum profitieren und musste viele handschriftliche Aufzeichnungen noch mühsam selbst entziffern. Ein Briefeditions-Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften76 endete leider bereits nach dem Erscheinen des dritten Bands. 72 Siehe dazu Stiftung Pommern. Sammlung Rabl-Virchow. Bestandsverzeichnis, bearb. von Helga Wetzel, Kiel 1984. 73 Siehe Kirsten, Quellen über Rudolf Virchow im Zentralarchiv der DAW und im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin. 74 J. Weiser, Quellen über Rudolf Virchow in der Historischen Abteilung II des Deutschen Zentralarchivs, in  : Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 18 (1972), S. 418–425. (Diese Quellen befinden sich mittlerweile im Geheimen Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem.). 75 Rudolf Virchow, Sämtliche Werke, 71 Bände, hrsg. von Christian Andree, Hildesheim 1992–2019. 76 Anton Dohrn und Rudolf Virchow. Briefwechsel 1864–1902, bearb. und mit einer wissenschaftshistorischen Einleitung versehen von Christiane Groeben u. Klaus Wenig, Berlin 1992  ; Die Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow 1876–1890, bearb. u. hrsg. von Joachim Herrmann und Evelin Maaß in Zusammenarbeit mit Christian Andree und Luise Hallof, Berlin 1990  ; Rudolf Virchow und Emil du Bois-Reymond. Briefe 1864–1894, hrsg. v. Klaus Wenig, Marburg/Lahn 1995.

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*** In dieser Arbeit wird Virchow als historisches Individuum im Schnittpunkt dreier verschiedener Untersuchungsperspektiven interpretiert, wobei das zentrale Interesse nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik in unterschiedlicher Weise strukturierend wirkt. So geht es erstens um Virchows Lebenskonstruktion und Lebensführung, zweitens um seine wissenschaftliche und politische Karriere und die damit verbundenen Handlungsfelder sowie drittens um die Wechselwirkungen zwischen seinen wissenschaftlichen und politischen Ideen und die Frage nach einem beide verbindenden »Denkstil«. Dabei sollen diese Untersuchungsebenen, die auch den Aufbau dieser Arbeit in drei Hauptkapitel organisieren, nicht im Sinne einer Hierarchie verstanden werden. Vielmehr dienen sie den praktischen Erfordernissen der Analyse und auch der Ökonomie der Darstellung. Eine erste Untersuchungsebene, und damit zugleich das erste Hauptkapitel, beschäftigt sich mit Virchows Lebenskonstruktion und Lebensführung im Spannungsfeld von privater und öffentlicher Sphäre.77 Es geht damit zugleich um die Bedeutung der Naturwissenschaften für die Entwicklung kultureller Verhaltensnormen, die mit der Frage nach der Existenz einer spezifisch liberalen Prägung von Bürgerlichkeit78 verknüpft ist. Am Beispiel Virchows soll also auch der Einfluss der Naturwissenschaften auf den »bürgerlichen Wertehimmel«79 im 19. Jahrhundert diskutiert werden. Zu zeigen ist, inwieweit sich hier ein ›progressivistischer Lebensstil‹ findet, der die vielfältigsten Praktiken leitete und organisierte und der zugleich ein wichtiges Element einer »Kultur des Fortschritts« bildete. Dazu richtet sich der Blick zunächst auf das »tragende Regelgerüst« des individuellen Lebens Virchows und damit zugleich auf die Frage nach den konstitutiven Elementen seiner personalen und sozialen Identität. Es gilt dabei, die Spannung zwischen seinen subjektiven Intentionen und dem subjektiv nicht überschaubaren Sinn, d. h. der »verborgene(n) Gefügeordnung«80 seines individuellen Lebens, zu thematisieren. 77 Zum Begriff der »Lebenskonstruktion« siehe Heinz Bude, Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt a. M. 1987, S. 75–85. Vgl. dazu auch ders., Lebenskonstruktionen. Begriff und Methode interpretativer Sozialforschung, Frankfurt  a.  M. 2001. Als theoriegeschichtlichen Abriss des Begriffs der »Lebensführung« bzw. des »Lebensstils« von Max Weber bis Pierre Bourdieu siehe Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt a. M. 1993, hier S. 376 f. Vgl. dazu auch Alf Lüdtke, Lebenswelten und Alltagswissen, in  : Christa Berg (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV  : 1870–1918  : Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, S. 57–90, v. a. S. 57 f. 78 Siehe dazu Dieter Langewiesche, Liberalismus und Bürgertum in Europa, in  : Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. III  : Verbürgerlichung, Recht und Politik, Göttingen 1995, S. 243–277, hier  : S. 275. 79 Vgl. Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, in  : Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 333–359  ; dies., (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. 80 Bude, Deutsche Karrieren, S. 77  ; vgl. dazu auch Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankfurt a. M. 161997, S. 123–212  ; Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen

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Deshalb ist hier zunächst zu fragen, mit welchen zeitgenössischen Konzepten von Lebensführung und »Persönlichkeit« Virchow sich bei seiner Identitätskonstitution auseinandersetzte. Es geht also nicht darum, das Modell des bürgerlichen Individuums als Vorlage für die historische Biographie zu retten, sondern dessen Bedeutung für die bürgerliche Lebensführung des 19. Jahrhunderts zu problematisieren. Zu diesem Zweck werden zunächst Virchows Bildung und Sozialisation untersucht. Auszugehen ist dabei davon, dass ein spezifisches Modell der Bildung von »Persönlichkeit« im Zentrum bürgerlicher beziehungsweise neuhumanistischer Erziehung stand. Verließ also auch Virchow das Kösliner Gymnasium, wie sein langjähriger Gegenspieler Bismarck von sich selbst behauptete, »als normales Produkt unseres staatlichen Unterrichts«81  ? Und inwieweit existierten überhaupt Wahlmöglichkeiten unter alternativen Modellen der Lebenskonstruktion und -führung  ? Welchen Stellenwert besaß in diesem Zusammenhang die berufliche Entscheidung für die »Medizin« beziehungsweise für die »Wissenschaft«  ? Und was bedeutete Virchows politische Tätigkeit für seine Lebenskonstruktion  ? In diesem Zusammenhang interessieren besonders Brüche und Transformationen, und dies lenkt die Aufmerksamkeit vor allem auf biographische Statusübergänge sowie Krisensituationen in Virchows Lebenslauf und ihre Auswirkungen auf sein Selbstverständnis.82 Wie ging Virchow mit Kontingenzerfahrungen um, also etwa mit Krankheit, Tod, Unglücksfällen oder politischen Umbrüchen  ? Inwieweit stellte er in solchen Krisen seine eigene Identität in Frage  ? Welche höchsten Werte waren für einen Naturwissenschaftler und Arzt verbindlich, der selbst die Verbindlichkeit religiöser Weltinterpretation in Frage stellte und dabei zugleich öffentlich Naturwissenschaft als Fundament eines humanistisch geprägten Wertekosmos propagierte  ? Auch hier sind »Privates« und »Öffentliches« eng verknüpft, fragt man etwa nach der Rolle der privaten Religiosität im Haushalt des Vorkämpfers des Kulturkampfs, der Virchow zeitlebens war. Konnte also Naturwissenschaft der individuellen Kontingenzbewältigung dienen, und wenn ja, mit welchen Konsequenzen  ? Dies führt zu der Frage, welche Rolle die modernen Naturwissenschaften beziehungsweise der Liberalismus für ein individuelles »Lebensgerüst« entfalten konnten. Lässt sich an Virchow eine spezifische Relevanz von Wissenschaft beziehungsweise von Politik für das Problem bürgerlicher Identität und Lebensführung im »naturwissenschaftlichen Zeitalter« nachzeichnen  ? Dazu müssen insbesondere sein Umgang mit materiellem und symbolischem Kapital, Geselligkeitskreise, Familienleben und die dort praktizierten Geschlechterrollen sowie seine Wertorientierungen näher untersucht werden. Zu fragen ist Identität, Frankfurt a. M. 1996  ; Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt a. M. 1998. 81 Otto von Bismarck, Erinnerung und Gedanken, in  : ders., Die gesammelten Werke, Bd. 15, Kritische Neuausgabe auf Grund des gesamten schriftlichen Nachlasses von Gerhard Ritter u. Rudolf Stadelmann, Berlin 1932, S. 5. 82 Vgl. dazu Michael Mitterauer, Sozialgeschichte der Jugend, Frankfurt a. M. 1986, S. 93.

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also danach, in welcher Weise Virchow Wissenschaft und Politik in wechselnden Lebensphasen in seiner Lebenskonstruktion zueinander ins Verhältnis setzte und wie sich dies wiederum zu dem Spannungsverhältnis von privater und öffentlicher Sphäre verhielt, deren strikte Trennung im 19. Jahrhundert konstitutiv für das Modell von Bürgerlichkeit und bürgerlicher Gesellschaft war. In welchem Verhältnis stand also Virchows »öffentliche« Rolle als Wissenschaftler und Politiker zu seiner »privaten« Rolle als Familienvater  ? Bei all dem soll es nicht darum gehen, am Beispiel Virchows noch einmal die Ergebnisse der in den letzten Jahren zu einer ganzen Bibliothek angewachsenen Bürgertumsforschung nachzuvollziehen und ihn als eine weitere Exemplifikation eines »Bildungsbürgers« vorzustellen.83 Vielmehr lautet die Frage, inwieweit sich an seinem Beispiel auch Spannungen und Brüche in der Normalbiographie des »Bildungsbürgers« aufzeigen lassen. Bei Virchow findet sich bald nach dem Erreichen des ersten Ordinariats und seiner Eheschließung – beides kurz nach dem für ihn deprimierenden Ende der Revolution – ein auffälliger Abbruch der Selbstreflexion der eigenen Identität. Nachdem er während der Revolution vorübergehend weder zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ noch zwischen Wissenschaft und Politik unterschieden hatte und so in seinem eigenen Selbstverständnis zum »ganzen Menschen« geworden war, nahm er anschließend erneut eine Ausdifferenzierung dieser Bereiche in eigene Sphären vor. Doch blieb das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in seiner Biographie spannungsreich. Hier offenbart sich, wie gezeigt werden soll, auch ein Stück weit eine Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft, war doch eine Nebenfolge ihres säkularen Erfolgs im 19. Jahrhundert ein zunehmender Verlust der Autonomie der privaten Sphäre, aus der heraus ihr Aufstieg erfolgt war. Eine zweite Untersuchungsebene, und damit auch das zweite Hauptkapitel, wendet sich der »doppelten Karriere« Virchows in Wissenschaft und Politik zu. Daran soll gezeigt werden, wie sich die im 19. Jahrhundert entstandenen Rollen des Naturwissenschaftlers und des Gelehrtenpolitikers entwickelten und veränderten. Während Virchow Wissenschaft als seinen Beruf betrachtete, blieb er im politischen Feld ein Amateur in einem gleichermaßen von der Ausbreitung eines »politischen Massenmarktes« (Hans Rosenberg) und allmählich einsetzender Professionalisierung geprägten Umfeld. In Virchows Selbstwahrnehmung war politische Betätigung somit das Resultat einer bürgerlichen »Pflicht«. Bestand dabei – im Sinne Max Webers – ein unausweichlicher Konflikt zwischen Anforderungen unterschiedlicher Lebensordnungen und Wertsphären, d. h. den Eigengesetzlichkeiten des jeweiligen »Dämons«84  ? Vergrößerte sich gegebenenfalls die 83 Vgl. dazu als Überblick und Bilanz v. a. Utz Haltern, Die Gesellschaft der Bürger, in  : Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 100–134  ; Jonathan Sperber, Bürger, Bürgertum, Bürgerlichkeit, Bürgerliche Gesellschaft  : Studies of the German (Upper) Middle Class and its Sociocultural World, in  : Journal of Modern History 69 (1997), S. 271–297  ; Lundgreen (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. 84 Vgl. dazu Müller, Sozialstruktur und Lebensstile, S. 266 f.

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Kluft zwischen der wissenschaftlichen und politischen Wertsphäre im Verlauf seines Lebens  ? Virchows Beispiel demonstriert die aus solchen parallelen Karrieren resultierenden Konflikte ebenso wie die Möglichkeiten, die Erträge aus dem wissenschaftlichen und politischen Feld wechselseitig zu konvertieren. Dabei interessieren weniger die Inhalte der wissenschaftlichen und politischen Kontroversen, an denen Virchow beteiligt war, sondern in erster Linie die strukturierenden Faktoren der in beiden Feldern eingeschlagenen Karrieren. Mit Blick auf Virchows wissenschaftliche Laufbahn wird deshalb zunächst nach seiner Rolle in Institutionalisierungsprozessen der Pathologie und der Anthropologie gefragt. In welcher Weise war also seine wissenschaftliche Karriere mit der Entwicklung disziplinärer Identitäten85 verknüpft  ? Und mit welchen Mitteln erwarb und sicherte Virchow seine wissenschaftliche Autorität  ? Dies lenkt den Blick zugleich auf Prozesse der Vermittlung und Popularisierung von Wissenschaft, die gleichermaßen der Produktion ›gesicherten Wissens‹ sowie dem Ausbau seiner Stellung im wissenschaftlichen Feld wie auch gegenüber einer nicht-spezialisierten Öffentlichkeit dienten. Virchow erscheint dabei als Vertreter eines modernen Typus des Naturwissenschaftlers, der virtuos die Möglichkeiten des durch den Forschungsimperativ gesteuerten, marktförmig organisierten Wissenschaftsmodells nutzte, wie es sich seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Die Frage nach disziplinärer Identität und wissenschaftlicher Autorität legt es zudem nahe, den Blick auf Institutionen und Disziplinbildungsprozesse durch den Blick auf wissenschaftliche Praktiken und ihre Verankerung in lokalen Kontexten zu ergänzen,86 wofür sich insbesondere Virchows Pathologisches Institut in Berlin anbietet. Die an Virchows Pathologischem Institut in Berlin eingeübten Praktiken zielten darauf, ein auf die »naturwissenschaftliche Methode« gestütztes Wahrheitsregime zu habitualisieren. Von daher interessiert besonders die Rolle von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit für die politische Karriere Virchows. Wie bewegte sich also Virchow in jenem Spannungsverhältnis von »Wissenschaft als Beruf« und »Politik als Beruf« (Max Weber), das im Verlauf des späteren 19. Jahrhunderts durch einen allmählichen Auszug der Gebildeten aus der Politik87 gekennzeichnet war  ? Welche Rolle spielten die Natur85 Beispielhaft für ein solches Forschungsprogramm siehe Eric Engstrom, Zeitgeschichte as Disciplinary History – On Professional Identity, Self-Reflexive Narratives, and Discipline-Building in Contemporary German History, in  : Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 399–425. Zum institutionengeschichtlichen Ansatz in der Wissenschaftsgeschichte vgl. auch Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft im Gehäuse. Vom Nutzen und Nachteil institutionengeschichtlicher Perspektiven, in  : Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 37–49. 86 Vgl. dazu Mitchell G. Ash, Räume des Wissens – was und wo sind sie  ? Einleitung in das Thema, in  : Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 235–242. 87 Vgl. dazu James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18.  Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983  ; Geoff Eley, Reshaping the German Right. Radical Nationalism

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wissenschaften innerhalb der »Gelehrtenpolitik« des 19. Jahrhunderts sowie bei den Veränderungen des liberalen Modells der Honoratiorenpolitik  ? Wie reagierte Virchow auf die zunehmende Professionalisierung der Politik mit ihren gesteigerten zeitlichen Anforderungen  ? Inwieweit stützte er politische Positionen auf wissenschaftliche Wahrheitsansprüche  ? Und welchen Beitrag leistete er zu jener Form der »unpolitischen Politik«, welche die Grundlage des im Kaiserreich praktizierten Rückzugs des Liberalismus auf die Großstädte bildete  ? Damit geht es hier auch um die Untersuchung von Wirkungsfeldern und politischen Regenerierungspotenzialen des Liberalismus außerhalb der Formen traditioneller Parteipolitik. Hier stellt sich auch die Frage nach den gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten naturwissenschaftlicher Expertenautorität. In welcher Weise versuchte Virchow das mit seiner Stellung als berühmter Wissenschaftler verbundene kulturelle Kapital im politischen Feld zu nutzen  ? Dabei geht es vor allem um die Spezifik der von Virchow vertretenen naturwissenschaftlichen Gelehrtenpolitik im Spannungsfeld zweier wichtiger Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts  : einerseits das Modell der auf Expertenwissen gegründeten Technokratie, welche die Wertbezüge ihrer Entscheidungen verschleiert. Und andererseits die Entwicklung des modernen Intellektuellen, der Wertbezüge öffentlich thematisiert. Gezeigt werden soll, dass Virchow eine wichtige Rolle im Rahmen eines indirekten Verfassungswandels im Deutschen Reich spielte, bei dem politische Fragen in unpolitische ›Sachfragen‹ umdefiniert und somit entpolitisiert wurden. Am Ende des 19. Jahrhunderts nutzte er schließlich seine ihm zugewachsene internationale Berühmtheit, um seine Rolle vom deutschen Gelehrtenpolitiker zu einem europäischen Intellektuellen zu transformieren, der sich in öffentliche Streitfragen als »inkompetenter Kritiker«88 einschaltete. Virchow ist damit gleichermaßen ein wichtiger Indikator für den Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit als auch ein wichtiges Beispiel für die oft unterschätzten deutungskulturellen Dimensionen der Naturwissenschaften. Auf der dritten Untersuchungsebene, und somit auch im dritten Hauptkapitel, stehen schließlich die Beziehungen zwischen den wissenschaftlichen und politischen Ideen Virchows im Zentrum. Die damit verbundene Frage nach einem »Denkstil« zielt insbesondere auf das »charakteristische Einstellungsgefüge« Virchows, d. h. »die in bezeichnender Weise untereinander vernetzten Positionen über so unterschiedliche Sachbereiche wie Naturwissenschaft, Kultur und Politik«89. Zum 19. Jahrhundert gehören die vielfältigen and Political Change after Bismarck, London 1980, S. 19–40  ; Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 200–211  ; Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz, Göttingen 1999, S. 233–241  ; Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863–1941, München 1994, S. 154–162. 88 M. Rainer Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in  : ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 270–285. 89 Jonathan Harwood, ›Mandarine‹ oder ›Außenseiter‹  ? Selbstverständnis deutscher Naturwissenschaftler

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Berührungen, wechselseitigen Übertragungen und Verschmelzungen von wissenschaftlichem und politischem Denken, die auch bei der Entstehung der politischen Parteien eine wichtige Rolle spielten.90 Eine besonders enge intellektuelle und soziale Verbindung entwickelte sich für einige Jahrzehnte zwischen den modernen empirischen Naturwissenschaften und dem Liberalismus. Diese ›Wahlverwandtschaft‹, deren Höhepunkt in den beiden Jahrzehnten nach der Jahrhundertmitte lag, geriet jedoch nach der Reichsgründung in eine Krise. So verloren Naturwissenschaften und Biologie seit den 1870er Jahren in Deutschland – anders als etwa in England – zunehmend ihre zentrale Bedeutung als Begründungsinstanz für liberale Modelle von Gesellschaft und gesellschaftlichem Wandel. Virchow steht dabei im Zusammenhang eines (positivistischen) Szientismus, der sich als »ein durch Aufstieg von Medizin und Naturwissenschaften geprägtes Epochenbewußtsein« charakterisieren lässt.91 Darunter lassen sich jene Strömungen subsumieren, die von einem nomothetischen Wissenschaftsverständnis ausgingen und zugleich die Naturwissenschaften als »die Befriedigung aller philosophischen Bedürfnisse« ausgaben.92 Wichtige Hinweise zum Zusammenhang zwischen szientistischen Weltbildern und demokratisch-liberalen Utopien gab bereits Karl Mannheim in seiner Studie über Ideologie und Utopie. Für ihn lag der Charakter einer Utopie  – im Gegensatz zu einer Ideologie  – darin, dass es sich um »alle jene seinstranszendenten Vorstellungen (also nicht nur Wunschprojektionen)« handele, »die irgendwann transformierend auf das historisch-gesellschaftliche Sein wirken«93. Demgegenüber verzichtete Thomas Nipperdey bei seinem Versuch, »Utopie« zu definieren, auf die Frage, inwieweit tatsächliche (1900–1933), in  : Jürgen Schriewer/Edwin Keiner/Christophe Charle (Hg.), Sozialer Raum und akademische Kulturen. Studien zur europäischen Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 183–212, hier bes. S. 189. 90 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt a. M. 81995, S. 33. Vgl. dazu auch Gunter Mann/Rolf Winau (Hg.), Medizin, Naturwissenschaft, Technik und das Zweite Kaiserreich, Göttingen 1977  ; Gunter Mann (Hg.), Biologismus im 19. Jahrhundert. Vorträge eines Symposiums vom 30. bis 31. Oktober 1970 in Frankfurt a. M., Stuttgart 1973  ; ders., Medizinisch-biologische Ideen und Modelle in der Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts, in  : Medizinhistorisches Journal 4 (1969), S. 1–23  ; ders., Biologie und Geschichte. Ansätze und Versuche zur biologistischen Theorie der Geschichte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in  : Medizinhistorisches Journal 10 (1975), S. 281–306. 91 Heinrich Schipperges, Utopien der Medizin. Geschichte und Kritik der ärztlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts, Salzburg 1968, S. 209  ; Christoph Gradmann, Geschichte als Naturwissenschaft  : Ernst Hallier und Emil du Bois-Reymond als Kulturhistoriker, in  : Medizinhistorisches Journal 35 (2000), S. 31–54, hier  : S. 34. 92 Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M. 51994, S. 123  ; vgl. auch Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel u. Stuttgart 1963, S.  127–172  ; Eckhardt Fuchs, Positivistischer Szientismus in vergleichender Perspektive  : Zum nomothetischen Geschichtsverständnis in der englischen, amerikanischen und deutschen Geschichtsschreibung, in  : Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 3  : Die Epoche der Historisierung, Frankfurt a. M. 1997, S. 396–423, hier  : S. 400. 93 Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 171 u. 179. Diese Unterscheidung führte aber auch ihm zufolge dazu,

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Auswirkungen auf die jeweilige Gegenwart nachweisbar seien94. Er argumentiert, dass sich die Utopie, die ursprünglich ein Ideal gewesen sei, in der Aufklärung zum Leitbild des Handelns und im 19. Jahrhundert schließlich zur Prognose zukünftigen Geschehens gewandelt habe. Indem solche Zukunftsentwürfe durch Wissenschaft von der Theorie in die Praxis überführt worden seien, hätten sie ihren »die Wirklichkeit bewußt übersteigenden, (…) utopischen Charakter verloren. (…) Die Utopien des 19. Jahrhunderts halten zwar den Anspruch des Veränderungsdenkens und -handelns, des freien Herstellens einer Welt aufrecht, aber dieser Anspruch ist in der Wirklichkeit der Wissenschaft, der Technik, der Politik nunmehr viel vitaler gegenwärtig.«95 Legt man dieses eingeschränkte Verständnis zugrunde, lässt sich der Utopiebegriff sinnvoll auf Virchow beziehen  : Nicht die revolutionäre Verwirklichung eines Zukunftsentwurfs, der mit der Gegenwart radikal bricht, sondern die evolutionäre Verbesserung der bestehenden Verhältnisse mit Hilfe der Wissenschaft, die zugleich die Mittel bereitstellt, die Richtung und das Ziel dieser Entwicklung zu prognostizieren, zeichneten ihn aus. Dies entspricht auch dem Charakter des Liberalismus, der über keine »ekstatische Vision einer vollkommenen Gesellschaft« verfügte, sondern bestenfalls über das vage Ideal der Perfektibilität, wonach sich die menschliche Gesellschaft stufenweise der natürlichen Ordnung nähern würde.96 Das für Virchow grundlegende Modell des Fortschritts setzte dabei ein »utopisches Überschußpotential« (Reinhart Koselleck) frei, das in der Konvergenz von naturwissenschaftlichem Fortschritt einerseits und politischem, sozialem und kulturellem Fortschritt im Prinzip des »Humanismus« gipfelte, womit Virchow eine Tradition der Philosophie der Aufklärung fortsetzte. Damit begleitete ihn als zentrales Problem die Ungleichzeitigkeit der verschiedenen »Fortschritte«97. Somit geht es in diesem Kapitel wesentlich um die Probleme und Aporien aufklärerischen Denkens im Zuge der Entfaltung der Moderne. Dabei soll an diesem Fallbeispiel insbesondere dass es im konkreten Fall »unglaublich schwierig« sei, festzustellen, was nun im gegebenen Fall als Utopie und Ideologie anzusprechen sei (Ebenda, S. 173). 94 Thomas Nipperdey, Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit, in  : ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 74–88, hier  : S. 75. Vgl. auch Lucian Hölscher, Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich 1871–1914, Stuttgart 1989  ; ders., Utopie, in  : Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 733–788  ; ders., Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999, v. a. S. 85–126  ; Wolfgang Hardtwig, Von der Utopie zur Wirklichkeit der Naturbeherrschung, in  : Frank-Lothar Kroll (Hg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn u. a. 1996, S. 217–233. 95 Nipperdey, Die Funktion der Utopie, S. 81. 96 J. Salwyn Shapiro, Was ist Liberalismus  ? (1964), in  : Lothar Gall (Hg.), Liberalismus, 3. erweit. Aufl., Königstein i. Ts. 1985, S. 20–36, hier  : S. 26. 97 Vgl. dazu Ernst Bloch, Differenzierungen im Begriff Fortschritt, in  : ders., Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 1970, S. 118–147  ; Hardtwig, Von der Utopie zur Wirklichkeit der Naturbeherrschung.

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die seit den 1870er Jahren stattfindende Auflösung der ›Wahlverwandtschaft‹ zwischen Szientismus und Liberalismus genauer analysiert werden. Diese Veränderung zu untersuchen, stellt einen noch weitgehend ungelösten Teil der Aufgabe dar, die darin besteht, den Wechselwirkungen und Bedeutungsübertragungen zwischen wissenschaftlichen und politischen Konzepten bei Virchow, die mehrfach hinund hergehen können, nachzugehen.98 Damit sollen allerdings nicht inhärente Beziehungen zwischen bestimmten wissenschaftlichen und politischen Modellen behauptet werden. Zu Recht wurde vor Versuchen gewarnt, bestimmte wissenschaftliche Theorien als am meisten »natürliche« oder »offensichtliche« wissenschaftliche Untermauerung einer bestimmten Politik zu bezeichnen, wie es etwa häufig im Umfeld des sogenannten Sozialdarwinismus geschieht. Umgekehrt sind wissenschaftliche Theorien zwar von ihrer sozialen und kulturellen Umgebung beeinflusst, aber nicht determiniert.99 Dieser Vorbehalt gilt auch für die Beziehung zwischen Szientismus und Liberalismus. Diese Beziehung wird daher in vier Schritten untersucht werden  : Erstens geht es um die Bedeutung Virchows im Zusammenhang der Beziehungen zwischen biologischen und gesellschaftlichen Modellen, die in einer Physiologie der Gesellschaft gipfelten. Dazu konzentriert sich die Untersuchung auf die Rolle der Metaphernzirkulation für die wechselseitige Bedeutungsübertragung zwischen Wissenschaft und Politik. Insbesondere interessieren hierbei die Rolle von Konzepten des Körpers, von Krankheit und Seuchen und die damit verbundene Vorstellung des »Normalen« und des »Pathologischen« als Brücken zwischen Natur und Gesellschaft. Dies führt zu der Frage nach dem hier zugrunde liegenden Modell von historischer Veränderung. Deshalb wendet sich ein zweiter Schritt der Rolle von Konzepten der »Entwicklung« und des »Fortschritts« zu. Dort ging es um die Potentiale und die Richtung der Veränderung von Natur und Gesellschaft, weshalb diese Konzepte wichtige Brücken zwischen Szientismus und liberalen Utopien bildeten. Welche Wechselwirkungen bestehen also zwischen Veränderungen des wissenschaftlichen und des politischen Fortschrittsbegriffs und jener »Wahlverwandtschaft« – und ihrer Auflösung – zwischen Szientismus und Liberalismus  ? Daran schließt drittens die Frage nach der Auseinandersetzung Virchows mit den Folgen jener »doppelten Verzeitlichung« des Menschen an, die sich auch als Frage nach dem Verhältnis von kultureller und sozialer Evolution verstehen lässt.100 Diese vor allem auf dem Gebiet der Geschichte und der Anthropologie geführte Auseinandersetzung war eng verknüpft  98 Einen wichtigen Schritt in diese Richtung bildet vor allem die Arbeit von Mazzolini, Politisch-biologische Analogien im Frühwerk Rudolf Virchows.  99 Peter J. Bowler, Biology and Social Thought  : 1850–1914. Five Lectures at the International Summer School in History of Science Uppsala, July 1990, Berkeley 1993, S. 87–91  ; vgl. auch Theodore M. Porter, Natural Science and Social Theory, in  : R. C. Olby u. a. (Hg.), Companion to the History of Modern Science, London u. New York 1996, S. 1024–1043. 100 Werner Conze, Evolution und Geschichte. Die doppelte Verzeitlichung des Menschen, in  : Historische Zeitschrift 242 (1986), S. 1–30.

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mit Diskursen über nature und nurture, d. h. Vererbung und Verbesserung, die eine weitere zentrale Schnittstelle zwischen Szientismus und liberalen Utopien bildeten. Viertens und letztens wird schließlich die Bedeutung spezifischer Ordnungen des Wissens für diese Verbindung untersucht. Hierbei geht es zugleich um die Grundlagen einer naturwissenschaftlichen Variante der liberalen Bildungsidee. Finden sich also bei Virchow die Konturen des Konzepts einer ›naturwissenschaftlichen Wissensgesellschaft‹  ? Scheiterte dieses Modell schließlich an der Aufgabe, unter den Bedingungen des Deutschen Kaiserreichs plausible Antworten auf die Probleme des Liberalismus zu liefern, die vor allem aus der Pluralisierung und Differenzierung der modernen Gesellschaft resultierten  ? Damit geht es in diesem Kapitel nicht zuletzt um das Problem der Zeitgebundenheit beziehungsweise der Unzeitgemäßheit einer eng mit dem positivistischen Szientismus verbundenen Form des Liberalismus, wie sie Virchow vertrat, sowie um die Gründe dieser Veränderungen  – und damit auch um Erfolge und Grenzen des Liberalismus jenseits traditioneller Politikformen. Bestätigt der Blick auf Virchow also die verbreitete »Aufstieg-und-Niedergangs«-Interpretation des deutschen Liberalismus im 19.  Jahrhundert, die nach einer Phase der Erfolge in den sechziger und siebziger Jahre einen starken Rückgang seiner politischen Bedeutung sieht  ? Oder lassen sich bei Virchow auf Naturwissenschaft gestützte Ansätze zur Revitalisierung des Liberalismus finden, welche die Vermutung stützen, dass es liberale politische Visionen gab, die der oft behaupteten Schwächung des liberalen politischen Milieus und liberaler Politik seit der konservativen Wende 1878/79 entgegenstanden  ?101 Ohne damit eine Antwort im Hinblick auf den Liberalismus insgesamt vorwegnehmen zu wollen, wird hier die Hypothese vertreten, dass Virchow keinen Anschluss mehr an solche Bewegungen fand, wobei die Frage nach den Gründen dafür zunächst offen bleibt. Und so stützte sich der Liberalismus bei seinen Bemühungen um eine Revitalisierung um 1900 schließlich auch nicht mehr auf die Naturwissenschaften, sondern auf die Soziologie. Dem lag zugleich aber auch ein neues Verhältnis von »Natur« und »Gesellschaft« zugrunde, dessen Entwicklung einen wichtigen Aspekt dieser Untersuchung bildet. In der Person Rudolf Virchows verdichtet sich somit das Schicksal jener in einer »Kultur des Fortschritts« verankerten Vision des 19. Jahrhunderts, in der Naturwissenschaft und Liberalismus für einige Zeit eine intime Verbindung eingegangen waren. Die Begeisterung für die Verbindung von Wissenschaft und Politik, die im 20. Jahrhundert nicht in einer Verbindung mit dem Liberalismus, sondern mit dem Marxismus ihren Höhepunkt erreichte, ist mittlerweile weitgehend großer Skepsis gewichen – wobei es verfrüht wäre, hierin einen endgültigen Zustand zu sehen. Umso interessanter ist es, an einer historischen Fallstudie die Chancen und Probleme einer solchen Verbindung nachzuvollziehen, womit auch die Frage nach der Rolle des Naturwissenschaftlers in der Gesellschaft 101 Für die Diskussion dieser Fragen danke ich vor allem Jennifer Jenkins (St. Louis), Kevin Repp (Yale) und Gangolf Hübinger (Frankfurt/O.).

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verbunden ist. Auf diese Weise lässt sich Rudolf Virchow nicht nur – wie so oft geschehen – als Teil eines ›Erbes‹ vereinnahmen  ; vielmehr kann die Beschäftigung mit ihm zur Auseinandersetzung mit Fragen führen, die auch in unserer heutigen Welt von zentraler Bedeutung sind.

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2 Privates Leben und öffentliche Sphären

2.1 Bildung und Ausbildung im Biedermeier 2.1.1 Neuhumanismus in der Provinz

Anlässlich von Rudolf Virchows 80. Geburtstag im Jahre 1901 ersann der Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium Friedrich Althoff ein besonderes Geschenk für den Jubilar, der immer noch tagtäglich seiner Tätigkeit als Professor an der Berliner Universität und Direktor des Pathologischen Instituts nachging  : Unter dem Titel Der kleine Virchow veröffentlichte er dessen zu Ostern 1839 erfolgte Meldung zur Reifeprüfung am Gymnasium in Köslin sowie seinen deutschen Abituraufsatz zum Thema »Ein Leben voll Arbeit und Mühe ist keine Last, sondern eine Wohlthat«1. Letzteres lehnte sich an den 90. Psalm des Alten Testaments an, der programmatisch für die bürgerliche Lebensführung des 19. Jahrhunderts war.2 Damit feierte die Berliner Kultusbürokratie Virchow also nicht für seine öffentliche Rolle, wozu neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit auch seine in den Augen der preußischen Obrigkeit oftmals anstößige politische Tätigkeit gehörte. Vielmehr ehrte sie ihn, so scheint es, als Verkörperung der persönlichkeitsbildenden Ziele des preußischen Schulsystems. Erwies das Ministerium hier einem spezifischen Konzept bürgerlicher und männlicher Identität und Lebensführung seine Referenz  ? In jedem Fall beeinflusste das kleine Bändchen in erheblichem Maße die historische Interpretation Virchows, vor allem indem seine künftigen Biographen den Titel des deutschen Abituraufsatzes immer wieder als Ausdruck seiner eigenen Lebensmaxime beziehungsweise zur Charakterisierung seiner Lebensführung übernahmen. So spricht etwa Erwin Ackerknecht in seiner Virchow-Biographie von einem »schicksalhaften Titel«3. Häufig bildeten die beiden 1901 veröffentlichten Texte Virchows aus dem Jahre 1839 den Ausgangspunkt, um Virchows Lebenslauf im Schema eines klassischen Bildungsgangs zu interpretieren, so wie sein Schüler und Assistent am Berliner Pathologischen Institut Oscar Israel in einem Nachruf schrieb  : »Die Meldung lässt bereits im Seelenleben des Kindes mehrfach Züge hervortreten, die sich unverkennbar als die Keime für den Erfolg 1 Der kleine Virchow, Berlin 1901. 2 Dieser lautet  : »Unser Leben währet siebzig Jahre und wenn’s hochkommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen (…).« Werner von Siemens beschloss mit dem 90. Psalm seine Lebenserinnerungen. Siehe Werner v. Siemens, Lebenserinnerungen, Berlin 101916, S. 298. 3 Erwin Ackerknecht, Rudolf Virchow. Arzt, Politiker, Anthropologe, Stuttgart 1957, S. 2.

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Bildung und Ausbildung im Biedermeier

des Mannes darstellen.« Zugleich spreche daraus tiefe Dankbarkeit gegenüber der »liebenden Sorgfalt des Vaters«, der alle Schwierigkeiten überwand, »die sich der erstrebten humanistischen Bildung des Sohnes entgegenstellten«4. Der sich hier manifestierende bürgerliche Glaube an »Entwicklung« und »Bildung« ging zugleich einher mit der hohen Bedeutung der archivalischen Überlieferung persönlicher Nachlässe, womit die Illusion verbunden war, »man könne retrospektiv den Menschen aus den hinterlassenen Dingen rekapitulieren«5. Auch Virchows Nachlass enthält neben privater und beruflicher Korrespondenz sämtliche Schulhefte, die seinen Bildungsgang ausführlich dokumentieren. Damit lassen sich die neuhumanistische Erziehung in den 1830er Jahren in Hinterpommern genauer beschreiben und Spannungen im damaligen Konzept von »Bildung« untersuchen. Wichtig ist aber auch der sich dort ausbildende Erfahrungsraum Virchows, weshalb zunächst seine Heimatregion in den Blick genommen wird. In der 1815 zur preußischen Provinz erhobenen, an der Ostsee gelegenen Region Pommern spitzten sich die typischen strukturellen Merkmale der preußischen Ostprovinzen zu  : Dazu gehörte das schon im 18.  Jahrhundert einsetzende außerordentlich starke Bevölkerungswachstum, das auch in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts anhielt und hauptsächlich auf das Konto der Landarmen und Landlosen ging. Von 1816 bis 1848 nahm die Bevölkerung Pommerns von 0,683 auf 1,18 Millionen zu, was einer Steigerung um 73 Prozent entspricht.6 Zugleich handelte es sich um die, wiederum im preußischen Maßstab gesehen, am stärksten agrarische und am wenigsten industrialisierte Provinz. Die größte pommersche Stadt war 1816 Stettin mit 21.200 Einwohnern  ; insgesamt lebten drei Viertel der pommerschen Bevölkerung auf dem Land, woran sich auch im weiteren Verlauf des 19.  Jahrhunderts wenig änderte.7 Um 1815 lebten etwa drei Viertel der Bevölkerung von der Land- und Forstwirtschaft, daneben entstand in dieser Zeit an der Küste neben der traditionellen Fischerei der Ostseebad-Tourismus als zunehmend wichtiger Wirtschaftszweig.8 Auch im Hinblick auf die verkehrsmäßigen Verbindungen lag diese Region im preußischen Maßstab zurück. Immerhin aber besaß Pommern 1825 die größte Segelschiffflotte Preußens, und 1826 nahm auch das erste Oderdampfschiff regelmäßige Fährverbindun4 Oscar Israel, Rudolf Virchow. 1821–1902, in  : Deutsche Rundschau 29 (1902), H. 3, S. 361–379, hier  : S. 362. 5 Anke te Heesen, Das Archiv. Die Inventarisierung des Menschen, in  : Nicola Lepp/Martin Roth/Klaus Vogel (Hg.), Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum Dresden vom 22. April bis 8. August 1999, Cantz 1999, S. 114–141, hier  : S. 117. 6 Demgegenüber betrug die durchschnittliche Wachstumsrate auf dem gesamten preußischen Staatsgebiet in dieser Zeit 55 %. Siehe Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2  : Von der Reformära bis zur industriellen und politischen »Deutschen Doppelrevolution« 1815–1845/49, München 21989, S. 10 ff. 7 Dietmar Lucht, Pommern. Geschichte, Kultur und Wirtschaft bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, Köln 1996, S. 113. 8 Ebenda, S. 171 f.

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Privates Leben und öffentliche Sphären

gen von Stettin nach Swinemünde auf.9 1822 setzte auch der Chausseebau ein und 1843 wurde schließlich die erste pommersche Eisenbahnlinie von Stettin nach Berlin eröffnet.10 Im Gegensatz zu den ursprünglich weitergehenden Vorstellungen der preußischen Reformer erhielt Pommern aber keinen allgemeinen Landtag, sondern 1823 lediglich zwei Provinziallandtage für den altpreußischen und den neuvorpommerschen Teil. Bezeichnend für die dortige politische Grundstimmung ist, dass diese Provinz in der Revolution 1848 neben Brandenburg zu den ruhigsten Landesteilen Preußens gehörte. Pommern war in diesen Jahrzehnten nicht allein die am stärksten agrarische, sondern auch die am stärksten protestantische Provinz Preußens. 98  Prozent der Bevölkerung waren Protestanten, während Katholiken und Juden gleichermaßen exotische Minderheiten bildeten, mit einem Anteil von etwa 0,9 beziehungsweise 0,8  Prozent.11 Zwei Probleme beherrschten zu dieser Zeit das kirchliche Leben in Pommern  : Einmal waren es die Folgen der von Friedrich Wilhelm  III. 1817 proklamierten Union zwischen Lutheranern und Reformierten. In Pommern dauerte es etwa ein Jahrzehnt, bis das 1822 erschienene neue Kirchenbuch für Preußen, welches die gottesdienstliche Ordnung in den protestantischen Gemeinden vereinheitlichen sollte, überall eingeführt war. Zum anderen bildete Pommern einen Schwerpunkt der gegen Rationalismus und Aufklärung gerichteten Erweckungsbewegung, die an ältere pietistische Traditionen anknüpfte. Diese breitete sich vor allem in Hinterpommern aus und stieß dort zeitweilig nicht allein beim pommerschen Landadel, sondern auch bei Bauern und Geistlichen auf große Resonanz. Neben den in den 1820er Jahren von den Brüdern Below in Seehof veranstalteten Versammlungen und dem Gut Reinfeld der Puttkamers ragte insbesondere der Erweckungskreis um Adolf von Thadden heraus, dessen seit 1829 regelmäßig veranstaltete Trieglaffer Konferenzen zu einem Treffpunkt offenbarungsgläubiger Pastoren aus ganz Norddeutschland wurden.12 Das an der Rega gelegene Schivelbein, in dem Rudolf Virchow am 13. Oktober 1821 geboren wurde und seine ersten 14 Lebensjahre verbrachte, war nach den napoleonischen Kriegen wieder nach Hinterpommern eingegliedert worden. Das Ackerbürger 9 Martin Wehrmann, Geschichte von Pommern, Bd. 2  : Bis zur Gegenwart, Gotha 1906, S. 269 f. 10 Roderich Schmidt, Geschichtliche Einführung. Pommern, in  : Helge bei der Wieden/Roderich Schmidt (Hg.), Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, Bd. 12  : Mecklenburg-Pommern, Stuttgart 1996, S. XLVIII f. 11 Der Wert bezieht sich auf das Jahr 1849. Siehe Wolfram Fischer/Jochen Krengel/Jutta Wietog, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Band I  : Materialien zur Statistik des Deutschen Bundes 1815–1870, München 1982, S. 43. In absoluten Zahlen bedeutete dies, dass im Jahr 1843 lediglich 8400 Katholiken und 7500 Juden in Pommern lebten. Siehe Lucht, Pommern, S. 122. 12 Hellmuth Heyden, Kirchengeschichte von Pommern, Bd. 2  : Die evangelische Kirche Pommerns in der Zeit von der Annahme der Reformation bis zur Gegenwart, Stettin 1938, S. 272–296 (2. Aufl. Köln 1957)  ; vgl. auch Thomas Stamm-Kuhlmann, Pommern 1815 bis 1875, in  : Werner Buchholz (Hg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas. Pommern, Berlin 1999, S. 365–422, hier  : S. 383 f.

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Bildung und Ausbildung im Biedermeier

Städtchen lag an der Peripherie der hinterpommerschen Erweckungsbewegung, während es ansonsten in vielem typisch für das in Pommern in diesen Jahren herrschende Nebeneinander von starkem Bevölkerungswachstum, politisch wie ökonomisch traditionalen, überwiegend agrarisch geprägten Verhältnissen und allmählich zunehmender kommunikativer Verflechtung war. Die Zahl der meist von der Landwirtschaft lebenden Einwohner stieg – ohne die Soldaten der örtlichen Garnison – von 1607 im Jahre 1801 auf 4250 im Jahre 1852. Nach der seit 1800 erfolgten Entfestung dehnte sich Schivelbein räumlich aus. Die Jahrhundertmitte markierte eine deutliche Zäsur  : 1848 wurde die erste Chaussee gebaut, 1856 eine Kreiszeitung begründet, und 1859 erhielt das Städtchen einen Eisenbahnanschluss an die Strecke Stargard-Köslin, worauf auch ein bescheidener industrieller Aufschwung einsetzte. Seit der Reformation war Schivelbein protestantisch, doch gründete die dortige kleine jüdische Gemeinde im Geburtsjahr Virchows eine Synagoge, erst 1857 folgte auch eine katholische Kirche.13 Eine eher sagenhafte Erinnerung an den Katholizismus wurde hingegen durch ein vor der Stadt gelegenes ehemaliges Kartäuserkloster wach gehalten, dem Virchow 1843 eine ausführliche regionalgeschichtliche Studie widmete.14 Zugleich thematisierte er in diesem Artikel auch eine andere wichtige kulturelle und politische Dimension, die für Pommern insgesamt wie für Schivelbein speziell von besonderer Bedeutung war  : das Verhältnis zwischen slawischer und deutscher Bevölkerung. Virchow selbst erörterte dies später an der etymologischen Frage des deutschen oder slawischen Ursprungs des Namens »Schivelbein« und kam zu dem Schluss, dass sich diese nicht entscheiden lasse. Doch habe es sich ursprünglich um slawisches Siedlungsgebiet gehandelt, und erst als »die pommerschen Herzöge in selbstsüchtigem Streben der Germanisierung ihres Landes deutsche Ackerbauern gegen die südöstliche Grenze vorschoben«, sei der Streit erwacht, als die »polnischen Staatsmänner die langsam, aber sicher erobernde Politik ihres Gegners« erkannt hätten.15 Zugleich führte Virchow seinen eigenen Namen auf slawische Wurzeln zurück.16 Dies betrifft einen wesentlichen Aspekt seiner sozial konstituierten Individualität, für die der Eigenname »als sichtbare 13 Wilhelm Kortlepel, Schivelbein, in  : Erich Keyser (Hg.), Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte, Bd. I  : Nordostdeutschland, Stuttgart u. Berlin 1939, S. 224 f.; Ernst Bahr/Klaus Conrad, Schivelbein, in  : Wieden/Schmidt (Hg.), Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, Bd. 12, S. 269–271. 14 Rudolf Virchow, Das Karthaus vor Schivelbein (1843), Nachdruck  : Zur Erinnerung an Rudolf Virchow. Drei historische Arbeiten Virchows zur Geschichte seiner Vaterstadt Schivelbein. Von neuem herausgegeben von der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde, Berlin 1903, S. 1–38. 15 Rudolf Virchow  : Schivelbeiner Altertümer (1866), in  : Nachdruck  : Zur Erinnerung an Rudolf Virchow, S. 67– 83, v. a. S. 68 u. 74. 16 Rudolf Beneke, Rudolf Virchow, in  : Pommersche Lebensbilder, hrsg. von der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle (Historische Kommission für Pommern), Bd. 2  : Pommern des 19. und 20. Jahrhunderts, Stettin 1936, S. 199 f. Beneke versucht in allerdings lediglich impressionistischer Manier, die Persönlichkeitsentwicklung Virchows in Beziehung zu seinem elterlichen Erbgut zu setzen.

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Bestätigung der Identität seines Trägers durch die Zeit und die sozialen Räume«17 eine zentrale Rolle spielt. Der Widerspruch zwischen den durch seinen Namen bezeugten slawischen Wurzeln und seinem Selbstverständnis als Deutscher  – das sich allerdings mit einer stark ausgeprägten regionalen Identität als Pommer verband – führte bei ihm, wie spätere Äußerungen zeigen, zu einem bleibenden Interesse am Problem des Verhältnisses von nationaler und kultureller Identität. Die Familie Virchow war seit dem 18. Jahrhundert in Schivelbein ansässig.18 Rudolf Virchows Großeltern väterlicher- wie mütterlicherseits waren Fleischermeister gewesen. Sein Vater, Carl Christian Siegfried Virchow, war 1785 in Schivelbein geboren worden und hatte nach einer Ausbildung zum Kaufmann zunächst einige Jahre in diesem Beruf gearbeitet. 1810 wurde er aus dem Militärdienst entlassen, um das Wohnhaus seines Vaters und 1 ½ Hufen19 Land in Schivelbein zu übernehmen. 1811 wurde ihm der Bürgerbrief der Stadt Schivelbein ausgestellt, und im selben Jahr trat er dort auch das Amt des Stadtkämmerers an, das er vermutlich bis 1828 ausübte. Vor allem verbrachte er seine Zeit aber mit der Bewirtschaftung seines Landes. Getreide und Kartoffelanbau sowie Tierzucht betrieb er mit großer Begeisterung und Experimentierfreude, aber ohne rechten ökonomischen Erfolg. Dies kontrastierte auffällig mit dem allgemeinen Aufschwung der Agrarwirtschaft in Pommern im Gefolge der Stein-Hardenbergschen Reformen, der mit einem Strukturwandel von der adeligen Gutsherrschaft zur kapitalistischen Landwirtschaft einherging.20 Die Bemühungen Carl Virchows lassen einen Einfluss der von Albrecht Thaer in Preußen verbreiteten »Grundsätze der rationalen Landwirtschaft« vermuten, die eine auf Systematisierung, Experiment und »wissenschaftlichen Gesetzen« beruhende Landwirtschaft popularisierten.21 Ungewöhnlich für einen pommerschen Landwirt war jedenfalls, dass er eine Leihbibliothek hielt und ein Bücherzimmer besaß. Er hegte weitgespannte geistige Interessen, besonders für die Botanik und Pflanzenzucht, wobei er politisch konservativ-royalistischen Positionen zuneigte. Das Bild der Mutter Virchows, der 1785 in Belgart in Pommern geborenen Johanna Maria Hesse, bleibt da17 Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in  : BIOS 3 (1990), S. 75–81, hier  : S. 78. Vgl. auch Dietz Bering, Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933, Stuttgart 1987, v. a. S. 43. 18 Siehe zum Folgenden die wenigen Informationen im Vorwort Marie Rabls in Rudolf Virchow, Briefe an seine Eltern 1839–1864, hrsg. v. Marie Rabl, Leipzig 1906, S. VI f.; sowie bei Hans Virchow, Die Abstammung Rudolf Virchows, in  : Mitteilungen zur Geschichte der Medizin, der Naturwissenschaften und der Technik 32 (1933), S. 220–222. Hans Virchow reagierte dort auf Gerüchte, dass Rudolf Virchow Jude gewesen sei, die durch Rudolf Thiels 1931 erstmals erschienenes Buch »Männer gegen Tod und Teufel« verbreitet worden waren. Siehe zur Herkunft Virchows auch PLM, Slg. Rabl-Virchow, B I  : Beglaubigte Auszüge und Abschriften aus Geburts-, Tauf-, Heirats- und Totenregistern, B II  : Ausführungen zur Familiengeschichte Virchow. 19 Der Umfang einer Hufe schwankte lokal meist zwischen 8 bis 15 Hektar, so dass es sich hier um etwa 12 bis 22 Hektar handelte. 20 Stamm-Kuhlmann, Pommern 1815 bis 1875, S. 393–405. 21 Siehe dazu Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 147 f.

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gegen in allen überlieferten Schilderungen sehr blass. Virchows Eltern heirateten 1818 im Alter von 33 Jahren, der drei Jahre später geborene Rudolf blieb das einzige Kind. Gegenüber ihrem Mann war sie die »geistig und körperlich schwächere«22 und zudem sehr religiös, während sich ihr Mann von der Kirche fernhielt.23 Über die Lebenshaltung dieses ackerbürgerlichen Haushalts lässt sich nur wenig in Erfahrung bringen. Das Foto des Geburtshauses zeigt ein schlichtes gemauertes zweistöckiges Haus, zur Haushaltsführung gehörte auch ein Kindermädchen. Die spätere Schilderung seiner Kindheit durch Virchow zeichnet eine Atmosphäre der bürgerlichen Intimität, das landwirtschaftliche Element machte sich dabei weniger durch Kinderarbeit als durch belehrende Ausflüge in den Garten geltend. Diese biedermeierlich gefärbte Familiensituation schlug sich in der vertraulichen Anrede der Eltern mit dem »Du« ebenso nieder wie in der sentimentalisch gefärbten, nahezu abgöttischen Zuneigung der Mutter und der mit pädagogischen Ermahnungen gespickten und zugleich gefühlsbetonten und individualisierenden Umgangsweise des Vaters mit dem einzigen Kind. So schrieb er dem »lieben Söhnchen«, der im Alter von sieben Jahren für einige Tage mit einem Onkel nach Kolberg verreist war  : Sieh, nun haben wir uns schon seit drei Tagen weder gesehen noch miteinander plaudern können. Wie kommt Dir das vor  ? Verlangt Dich nicht schon nach Deinem Vater  ? Und denkst Du auch öfter an mich  ? Ich vermisse Dich oft, und wie ich heute nach dem Garten gehen wollte, da wollte ich Dich nach meiner Gewohnheit suchen, um Dich mitzunehmen, und dachte nicht sogleich daran, dass Du mehrere Meilen von mir entfernt warst.24

Der Vater besaß prägenden Einfluss auf die Bildung Rudolf Virchows. Er verwandte große Sorgfalt auf die Erziehung seines Sohnes und hielt ihn insbesondere dazu an, seine Umgebung genau zu beobachten, oft verknüpft mit moralischen Belehrungen. Sein liebster Aufenthaltsplatz, so Virchow später, sei das Arbeitszimmer seines Vaters gewesen, wo er dessen Bücher sehr aufmerksam durchgeblättert habe, besonders botanische und zoologische, und bei dieser Gelegenheit auch Lesen und Schreiben gelernt habe.25 Neben dem habitualisierenden Effekt des frühen Umgangs mit Büchern brachte dies auch wichtige Lektüreimpulse mit sich. Sein Vater war unter anderem Abonnent der von der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Alterthumskunde in Stettin herausgegebenen 22 Rudolf Virchow an Carl Virchow, 22.2.1842, Druck  : Rudolf Virchow. Sämtliche Werke (= RVSW), hrsg. v. Christian Andree, Bd. 59, Abt. IV  : Briefe. Der Briefwechsel mit den Eltern 1839–1864, Berlin u. a. 2001, S. 156–161, hier  : S. 160. 23 Bei dem Begräbnis Carl Virchows 1864 in Köslin wollte der Superintendent deshalb den Leichnam nicht zu Grabe geleiten und beugte sich schließlich erst dem Zuspruch des Bürgermeisters. Siehe dazu R. Virchow an Rose Virchow, 29.12.1864, Druck  : ders., Briefe an seine Eltern, S. 225. 24 Carl Virchow an R. Virchow, 8.8.1828, Druck  : Virchow, Briefe an seine Eltern, S. VIII. 25 Meldung Rudolph Virchow’s zur Reifeprüfung. Ostern 1839, in  : Der kleine Virchow, S. 3–6.

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Baltischen Studien, die sein Interesse für Geschichte und Urgeschichte weckten. Auch besaß sein Vater »die alten Haken’schen Provinzial-Blätter und manche Originalwerke von pommerschen Gelehrten der letzten Jahrhunderte«26. Zugleich kümmerte sich Carl Virchow um eine profunde Schulbildung seines Sohnes. Die ersten Schuljahre Rudolf Virchows an der Schivelbeiner Stadtschule, die er seit seinem siebten Lebensjahr besuchte, bestätigen in vielerlei Hinsicht das verbreitete ambivalente Bild der preußischen Volksschule in den Jahren der Restauration und des Vormärz als Ferment der gesellschaftlichen Modernisierung einerseits und Instrument rigoroser Sozialdisziplinierung im Dienste von Thron und Altar andererseits.27 Eine besondere Rolle spielten Schönschreibübungen, die großen Raum im Volksschulunterricht einnahmen. Sie boten die Möglichkeit, mit Hilfe einheitlicher Fibeln standardisierte Inhalte zu vermitteln.28 Zugleich bedeutete das vielfache mechanische Abschreiben von Texten  – abwechselnd ›sinnlose‹ Wortkombinationen und ›sinnhaltige‹ Sprüche und Geschichten  – eine Form geistigen Drills. Die kalligraphischen Übungen des sieben- bis zehnjährigen Virchow vermittelten die Verehrung des Herrscherhauses, Vaterlandsliebe und militärische Grundkenntnisse und übten gleichzeitig praktische Fertigkeiten wie das Ausstellen von Rechnungen ein. Solche vielfach zu wiederholenden Schreibübungen lauteten etwa  : Jüngling  ! der du freiwillig den Stand des Kriegers wählst, bereite dich frühzeitig dazu vor, stähle deinen Körper gegen Anfälle jeder Art, fülle dein Herz mit männlicher Tugend, und bereichere deinen Geist mit Kenntnissen, die dir nützlich sind  ; vor allen Dingen aber sey mit ganzer Seele, was du sein willst  ; dann kannst du einst im Angesicht der Welt sagen  : ich habe dem Staate und dem Vaterlande gedient.29

Den militärischen Charakter dieser Schreibübungen teilten auch kurze Texte über die Landschaften und Festungen der preußischen Monarchie sowie zu den Bestandteilen eines Gewehrs, Infanterietaktik und Artilleriemunition.30 Ergänzt wurde diese weltan26 Rudolf Virchow in der Fest-Sitzung zum 25-jährigen Jubiläum der BGAEU am 17.11.1894, in  : VBGAEU 26 (1894), S. 531. 27 Franzjörg Baumgart, Zwischen Reform und Reaktion. Preußische Schulpolitik 1806–1859, Darmstadt 1990, S. 106 f.; Frank-Michael Kuhlemann, Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 1794–1872, Göttingen 1992, S.  236  ; ähnlich ambivalent auch das Urteil etwa bei Peter Lundgreen, Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick. Teil I  : 1770–1918, Göttingen 1980, S. 93. 28 So beruhten die Schönschreibübungen Virchows unter anderem auf den »Calligraphischen Vorschriften zum Gebrauch für Militär-Schulen von I. Heinrigs, 2te Heft, englische Schrift, nebst 2 Bl. Deutscher Schrift«  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2777. 29 Schulheft Rudolf Virchows, 28.9.1829–1.11.1829  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2777. Vgl. dazu auch Byron A. Boyd, Rudolf Virchow. The Scientist as Citizen, New York u. London 1991, S. 3 f. 30 Derartige Texte mussten wieder und wieder abgeschrieben werden. Daneben enthalten die Schönschreibübungen aber auch etwa Rechnungen, z. T. auch in englischer Sprache.

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schauliche Einübung insbesondere durch den umfangreichen Religionsunterricht. Zusätzlich erhielt Rudolf Virchow beim Direktor dieser Schule Privatunterricht in Latein und Französisch.31 Carl Virchow investierte erheblich in die schulische Bildung seines einzigen Kindes. Da er mit dem Niveau der Schivelbeiner Stadtschule unzufrieden war, bewegte er den örtlichen Prediger Benekendorff dazu, eine Privatschule einzurichten, auf die er seinen mittlerweile achtjährigen Sohn schickte. Als sich diese Schule auflöste, kehrte Rudolf Virchow für einige Zeit wieder auf die Stadtschule zurück. Virchows Vater veranlasste nunmehr den Prediger Georg Ludwig Gantzkow zur Gründung einer Privatschule, die Rudolf von 1832 an besuchte. Als sich diese nach einem halben Jahr wiederum auflöste, erteilte nun Gantzkow zwei Jahre lang Privatunterricht. Dort lag der Schwerpunkt des Unterrichts neben Religion auf Latein und Französisch. Virchow hob später die Lektüre des Cäsar und Ovid, der Odyssee und des französischen Robinson hervor.32 Diese Angaben, die er in seiner Meldung zur Reifeprüfung machte, lassen sich als ein Programm interpretieren  : Auffällig ist insbesondere, dass zwei der vier genannten Titel einen Schiffbruch und die anschließende individuelle Bewährung des Helden thematisieren und damit eine zentrale Daseinsmetapher der bürgerlichen Welt aufgreifen.33 Vor allem der Robinson steht dabei für das Modell der Selbstbehauptung durch Arbeit.34 Bedeutsam war sein bis zum dreizehnten Lebensjahr genossener privater Sprachunterricht in Latein und Griechisch  – zuletzt beim zweiten Prediger von Schivelbein  – aber auch in methodischer Hinsicht  : In Abweichung von üblichen Gepflogenheiten lernte Virchow die alten Sprachen, ohne grammatische Regeln auswendig zu lernen. Dies förderte bei ihm nach eigener Aussage gleichermaßen Vergnügen und Lernerfolg – trug ihm allerdings in seiner späteren Gymnasialzeit den hartnäckigen Verdacht seines Griechischlehrers ein, mit Mitteln der Täuschung zu arbeiten. (Nach bestandener Abiturprüfung lernte er auf selbem Wege auch noch Italienisch).35 1835, im Alter von 13 Jahren, trat Virchow schließlich in die Tertia des »Königlichen und Stadtgymnasiums« in dem etwa 50 Kilometer von Schivelbein entfernten Köslin ein, 31 Meldung Rudolph Virchow’s zur Reifeprüfung, S. 4. 32 Ebenda. 33 Vgl. dazu Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, in  : Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 333–359, hier  : S. 334 f. 34 Die deutsche Bearbeitung der Robinsonade durch Joachim Heinrich Campe, die den Wert der individuellen Leistung zur Erringung eines Platzes im Bürgerleben pries, nahm auf der Bestsellerliste der Kinder- und Jugendbücher deutscher Bürgerkinder im 19.  Jahrhundert den ersten Platz ein. Siehe Gunilla-Friedericke Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994, S. 113 u. 129. 35 Virchow an Heinrich Schliemann, 27.10.1879, Druck  : Die Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow 1876–1890, bearb. u. hrsg. v. Joachim Herrmann und Evelin Maaß in Zusammenarbeit mit Christian Andree und Luise Hallof, Berlin 1990, S. 148 f.

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wo er zunächst den letzten Platz belegte. Diese Zäsur schilderte er später im Genre der Wanderjahre  : »Und der Wunsch des Vaters kam endlich dem meinigen entgegen, – ich sollte das Vaterhaus (…) verlassen, um auf einer höheren Lehranstalt meine Kenntnisse zu erweitern, und mich so auszubilden, dass ich (…) würdig meine Pflichten als Mensch und als Staatsbürger erfüllen könnte.«36 So war der junge Virchow dem Erfahrungsraum des aufgeklärten Absolutismus verhaftet, aus dem heraus jene Trennung des »Menschen« und des »Staatsbürgers« hervorgegangen war, die später zugleich den Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft aus der Sphäre des »Privaten« vorbereitete.37 Seitdem Köslin 1816 Sitz der Provinzialregierung geworden war, hatte ein schnelles Wachstum der Einwohnerzahl eingesetzt, die von 4500 im Jahr 1817 bis 1843 schon auf 8100 angestiegen war, wobei die Soldaten der örtlichen Garnison nicht mitgezählt sind.38 Zugleich setzten auch zunächst bescheidene Anfänge der Industrialisierung ein, die nach 1859, als Köslin einen Eisenbahnanschluss erhielt, mehr Schwung erlangten. Bereits seit 1825 erschien dort mit dem Allgemeinen pommerschen Volksblatt auch eine erste Zeitung. Im Zuge des allgemeinen Aufschwungs wurde 1821 die Kösliner Lateinschule zu einem vollständigen Gymnasium ausgebaut. Zunächst mit 74 Schülern in einem ursprünglich für ein Regimentskommando vorgesehenen Gebäude eröffnet, vergrößerte sie sich bald durch den Zuzug von auswärtigen Schülern, und zu Neujahr 1836 betrug ihre Zahl 184.39 Aus der Sicht des 13-jährigen Virchow bedeutete der Wechsel nach Köslin zunächst vor allem eine aufregende Erweiterung seines Gesichtskreises, und das überdeckte anfänglich auch das Heimweh nach Schivelbein, das er nur noch zu kurzen Besuchen wiedersah. Drei Jahre später schilderte der Primaner in einem Schulaufsatz die an ihm in dieser Zeit vorgegangenen Veränderungen  : Aber meine Ansicht von der Welt und den Menschen hat sich wesentlich verändert  : ernster und bedeutungsvoller erscheint mir jetzt das Leben, gleichsam eine Vorschule zu einem andern ewigen  ; größer und vielfacher meine Pflichten gegen meine Nächsten  ; aber die Menschen selbst betrachte ich nicht mehr so zutrauungsvoll, so treuherzig, wenngleich auch gerade nicht misstrauisch. Zu viele Beispiele von ihrer Schlechtheit sind mir vorgekommen  ; zu oft bin ich 36 Rudolf Virchow, Schulaufsatz am 7.5.1838  : »In meiner lieben Eltern Haus, War ich ein frohes Kind.« (Uhland)  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2778-2, Schulheft  : Deutsche Ausarbeitungen (Prima), 19.4.1838, Coeslin. 37 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), Frankfurt a. M. 81997. 38 Siehe zum Folgenden Fritz Treichel, Die Geschichte der Stadt Köslin, Köslin 1939, S. 48. O. Eggert, Köslin, in  : Deutsches Städtebuch, Bd. I, S. 187–190  ; Ernst Bahr/Klaus Conrad, Köslin, in  : Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, Mecklenburg Pommern, S. 216–219. 39 Jahres-Bericht des Königlichen und Stadt-Gymnasiums zu Cöslin für die Zeit von Michaelis 1835 bis zu Michaelis 1836, S. 11. Eine vollständige Sammlung dieser Jahresberichte für das 19. Jahrhundert existiert in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Berlin (BBF). Siehe auch Friedrich Hübener, Vom Schulwesen Köslins, in  : Unser Pommerland 16 (1931), H. 11/12, S. 463–470, hier v. a. S. 465.

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selbst von ihnen getäuscht worden, als dass ich so, wie ehemals, über sie urtheilen und denken könnte.40

Dieser Aufsatz des 16-jährigen Virchow, dem eine Auslegung der Verse »In meiner lieben Eltern Haus’ – War ich ein frohes Kind« des schwäbischen Romantikers Ludwig Uhland zugrunde lag, wurde mit »mangelhaft« bewertet, nicht zuletzt, weil der Korrektor einige stark bekenntnishafte, autobiographische Passagen wegen ihrer Subjektivität rügte und als Themaverfehlung ansah. Damit stellt sich die Frage nach Konzeptionen der Bildung und Persönlichkeit im Zeitalter der Restauration und ihrer besonderen Ausprägung am Königlichen und Stadtgymnasium Köslin. Die 1830er Jahre wurden im Hinblick auf das preußische Gymnasium, das seit dem vorangegangenen Jahrzehnt einen starken Ausbau erfahren hatte, als eine Zeit des Wandels »vom reformerischen Denken zum reaktionären Handeln«41 charakterisiert. Das Kösliner Gymnasium war durch das neuhumanistische Ideal einer am Griechentum geschulten allgemeinen Menschenbildung geprägt, allerdings mit allen inneren Widersprüchen, die sich aus der Bindung an den preußischen Staat, an den die Durchsetzung dieses Erziehungsideals gebunden war, ergaben.42 Die Auseinandersetzungen mit revolutionären Burschenschaften hatten auch hier zu staatlichen Anweisungen geführt, sich allen derartigen Umtrieben entgegenzustellen.43 Aber auch sonst wurde der neuhumanistische Impuls seit den Karlsbader Beschlüssen in vielfacher Weise verbogen. Dazu gehörte auch, dass das preußische Kultusministerium 1837, mitten in Virchows Gymnasialzeit, einen neuen Lehrplan verfügte, der den Gymnasialunterricht vereinheitlichen sollte und gleichzeitig die Lehrinhalte neu gewichtete.44 Offiziell wurde dies als Reaktion auf die bereits damals aufkommende Überbürdungsdiskussion begründet, die auch am Kösliner Gymnasium zu einer offiziellen Untersu40 Rudolf Virchow, Schulaufsatz am 7.5.1838  : »In meiner lieben Eltern Haus, War ich ein frohes Kind.« (Uhland)  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2778–2, Schulheft  : Deutsche Ausarbeitungen (Prima), 19.4.1838, Coeslin. 41 Margret Kraul, Das deutsche Gymnasium 1780–1980, Frankfurt a. M. 1984, S. 47  ; zum Folgenden vgl. auch ebenda, S. 47–58  ; dies., Gymnasium und Gesellschaft im Vormärz. Neuhumanistische Einheitsschule, ständische Gesellschaft und soziale Herkunft der Schüler, Göttingen 1980  ; Baumgart, Zwischen Reform und Reaktion, S. 124–132  ; Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Bd. II, Leipzig 1885, S. 566–670  ; Karl-Ernst Jeismann, Das höhere Knabenschulwesen, in  : ders./Peter Lundgreen (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. III  : 1800–1879. Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des deutschen Reiches, München 1987, S. 152–173. 42 Karl-Ernst Jeismann, »… der gelehrte Unterricht in den Händen des Staates«. Zum Bildungsbegriff in den preußischen Gymnasialprogrammen des Vormärz, in  : Reinhart Koselleck (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II  : Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 317–345, hier v. a. S. 325 f. 43 Siehe Jahresbericht des Königlichen und Stadt-Gymnasiums zu Cöslin für die Zeit von Michaelis 1835 bis zu Michaelis 1836, Schulnachrichten, S. 12. 44 Siehe Kraul, Das deutsche Gymnasium, S. 54  ; Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, S. 670.

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chung der Verhältnisse geführt hatte. So wurde dort die Zahl der Wochenstunden, die bislang von der Sexta bis zur Prima von 30 auf 36 angestiegen war, auf durchschnittlich 32 festgelegt, was zumindest für die höheren Klassen eine Senkung der Stundenzahl bedeutete. Am auffälligsten war, dass die schon zuvor dominierende Stellung des Lateins, des unbestrittenen Hauptfachs, weiter ausgebaut wurde  : Von acht bis neun Stunden in den oberen Klassen wurde die Stundenzahl auf bis zu zehn erhöht, womit der Lateinunterricht allein etwa ein Drittel aller Unterrichtsstunden einnahm. Der Anteil des Griechischunterrichts, als Einfallstor für die Infiltration mit republikanischem Gedankengut verdächtigt, ging demgegenüber leicht zurück und betrug nunmehr durchschnittlich sechs Wochenstunden. Doch sanken auch die Anteile des Deutschunterrichts (zwei bis drei Wochenstunden) sowie der Mathematik (vier Wochenstunden) geringfügig. Die Naturwissenschaften, die Virchow neben der Geschichte und der Geographie zu seinen Lieblingsfächern zählte,45 spielten mit ein bis zwei Wochenstunden sowohl im alten wie im neuen Curriculum ohnehin nur eine marginale Rolle. Auch Turnen kam im Unterricht des Kösliner Gymnasiums in den 1830er Jahren nicht vor.46 Die Schulstunden lagen in Köslin wie üblich montags bis samstags von acht bis zwölf Uhr vormittags sowie von zwei bis vier beziehungsweise fünf Uhr am Nachmittag.47 Nimmt man noch die vorgesehenen fünf Stunden häuslicher Arbeit hinzu, besaßen die Schüler kaum noch freie Zeit.48 Trotzdem sprach Virchow in seiner Meldung zum Abitur von allerlei privaten Zerstreuungen, die seinen Lerneifer gelegentlich behindert hätten. Dies führte dazu, dass er zu Weihnachten 1836 aufgrund schlechten Betragens vorübergehend vom zweiten Platz der Obersekunda auf den letzten Platz herabgestuft wurde49 – die Sitzordnung in den Klassen wurde üblicherweise nach der Rangfolge der Leistung vergeben. Seine schulischen Erfahrungen trugen vermutlich erheblich dazu bei, dass Virchow später nicht nur die drastische Reduzierung der Schulstunden an Gymnasien, sondern auch ein radikal anderes Fächerprofil forderte  : Naturwissenschaften und Turnen – beides zugleich wichtige Nationalisierungsinstanzen – sollten dabei im Gegensatz zu seiner eigenen Schulzeit im Mittelpunkt stehen.50 45 Meldung Rudolph Virchow’s zur Reifeprüfung, S. 4. 46 Siehe Jahres-Bericht des Königlichen und Stadt-Gymnasiums zu Cöslin für die Zeit von Michaelis 1835 bis Michaelis 1836, S. 14  ; sowie Jahres-Bericht des Königlichen und Stadt-Gymnasiums Cöslin für die Zeit von Michaelis 1837 bis Michaelis 1838, S. 25–28. 47 Siehe ebenda. Vgl. auch Hübener, Vom Schulwesen Köslins, S. 466. 48 Kraul, Das deutsche Gymnasium, S. 53. 49 Meldung Rudolph Virchow’s zur Reifeprüfung, S. 6. 50 Rudolf Virchow, Über den Einfluss des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf die Volksbildung. Rede auf der Naturforscher-Versammlung in Speyer 1861, zit. nach Karl Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, Leipzig 1922, S. 17–22, hier  : S. 21. Zur Überbürdungsdiskussion und der Rolle Virchows für eine »physiologische Schulreform« vgl. Jürgen Oelkers, Physiologie, Pädagogik und Schulreform im 19. Jahrhundert, in  : Philipp Sarasin/Jacob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft  :

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Die Schulberichte des Kösliner Gymnasiums, vor allem aber die Schulhefte Virchows vermitteln ein detailliertes Bild der Lehrinhalte sowie der vermittelten Lebensführungsnormen und sozialkulturellen Wertorientierungen.51 In der damaligen Gymnasialpädagogik mischten sich »christliche Tugendvorschriften, wissenschaftliches Ethos und die Arbeitsmoral der modernen, industriellen Welt«52. Aussagekräftig sind vor allem die Deutschaufsätze. Das Fach Deutsch spielte nach der im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts erfolgten Aufwertung eine zentrale Rolle im Gymnasialunterricht, die nicht so sehr auf der dort geleisteten sprachlichen und literarischen Schulung beruhte als vielmehr auf der angestrebten National- und Charakterbildung. Dabei nahm besonders der als Maßstab der »Gesamtbildung« dienende deutsche Aufsatz eine Schlüsselstellung ein,53 wo gleichermaßen literarische wie moralische und politische Themen an antiken wie zeitgenössischen Beispielen erörtert wurden. Ausdrücklich ausgeschlossen blieb dagegen, gegenwartsnahe Stoffe im Unterricht zu behandeln, wie der seit 1821 amtierende Kösliner Schuldirektor und Lehrer Virchows, Dr. Otto Moriz Müller, in wenngleich verklausulierter Form auch in einem offiziellen Schulprogramm kritisierte.54 Unter den behandelten Themen dominierte die Interpretation literarischer Texte und »Dichtersprüche«, wobei Friedrich Schiller an erster Stelle stand. In der seit den 1830er Jahren auftretenden Konkurrenz zwischen einem mehr klassischen und einem eher romantischen Literaturkanon55 lässt sich das Kösliner Gymnasium ersterem zuordnen. Schillersche Gedankenlyrik – nicht etwa seine republikanisch gefärbten frühen Stücke – führte dabei auch weit vor Goethe, der erst später zum ersten »Klassiker« aufstieg. Daneben fanden sich vielfach moralische oder philosophische Erörterungen56 sowie übungshalber geschriebene Reden wie etwa eine »Aufforderung zur thätigen Vaterlandsliebe«. Dass im Deutschunterricht der Prima 1837 das Nibelungenlied durchgenommen wurde, zeigt die allmähliche Aufwertung der deutschen Frühgeschichte gegenüber der bis dahin allein als vorbildlich geltenden römisch-griechischen Antike, und dies ist zugleich ein Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 245– 285. 51 Vgl. dazu auch Georg Jäger/Gert Schubring, Lehrplan und Fächerkanon der höheren Schulen, in  : Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. III, S. 191–221. 52 Jeismann, »… der gelehrte Unterricht in den Händen des Staates«, S. 330. 53 Georg Jäger, Schule und literarische Kultur. Bd. 1  : Sozialgeschichte des deutschen Unterrichts an höheren Schulen von der Spätaufklärung bis zum Vormärz, Stuttgart 1981, S. 39 u. 41. 54 Siehe auch Programm des Gymnasiums Cöslin, 1834  ; sowie O.  M. Müller, Über die Notwendigkeit, den richtigen Sinn für öffentliche Angelegenheiten der Jugend zu beleben und zu erhalten, zit. nach Jeismann, »… der gelehrte Unterricht in den Händen des Staates«, S. 333 f. 55 Jäger, Schule und literarische Kultur, S. 114. 56 Beispiele lauteten etwa  : »Worauf beruht die Überlegenheit des Menschen über die leblose und vernunftlose Natur  ?«, »Die Macht der Gewohnheit« oder das Zitat aus dem Prolog von Schillers Wallenstein »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst«, in  : Schulheft, Deutsche Aufsätze von R. Virchow, Prima, Coeslin, den 3. April 1837  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2778-1.

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Indiz für die allmähliche Ausbreitung des Historismus. Wie sehr Virchows Schulbildung jedoch noch von einer älteren Geschichtsauffassung geprägt war, erweist sich an einem Aufsatz über die Vorteile der Beschäftigung mit der Geschichte, in der noch ganz die traditionelle Auffassung der historia magistra vitae herrschte.57 Wichtige Hinweise auf das Virchow vermittelte Geschichtsbild liefert ein »Geschichtskalender auf jeden Tag des Jahres«58, in dem jedem Kalendertag ein oder mehrere historische Daten zugeordnet wurden. Das Schwergewicht lag auf dynastischen Ereignissen – Geburts- und Todestage beziehungsweise Herrschaftsantritte von Regenten  – sowie staatsgeschichtlichen Ereignissen und Schlachten, wobei die Spanne von Nero bis Napoleon, d. h. vom Altertum bis zur Zeitgeschichte, reichte und ganz Europa umfasste. In diesem Geschichtsbild begann die europäische Geschichte mit der griechischen und römischen Antike und schritt dann über die Kreuzzüge und die Reformation hin zur französischen Revolution und den Befreiungskriegen fort. Letzterem Ereignis galt dabei das überragende Interesse. Nur wenige der aufgeführten Personen bilden eine Ausnahme von der Regel, wonach vor allem Könige und Feldherren genannt wurden, unter ihnen vor allem solche brandenburgisch-preußischer Provenienz.59 Vor allem wird hier aber auch eine spezifische Auffassung des Verhältnisses von Persönlichkeit und Geschichte deutlich, die sich auf die Formel »Männer machen Geschichte« bringen lässt. Zu diesen bedeutenden Männern gehörte neben den brandenburgisch-preußischen Königen vor allem Luther. Der reformatorische, antipäpstliche und antikatholische Affekt bildete ein zentrales Element der hier vermittelten Erziehungsinhalte, und so wurde in Virchows Schulzeit die Grundlage für ein protestantisches Geschichtsbild gelegt, das sich bei ihm zeitlebens als erstaunlich stabil erwies. Das Programm dieser protestantischen Erziehung formulierte Virchows Geschichtslehrer August Leopold Bucher in einer Festrede zum Geburtstag des preußischen Königs am 3. August 1836. Vor den Schülern und Lehrern des Kösliner Gymnasiums, darunter auch der damals 14-jährige Virchow, sprach er in der Schulaula, in der die Gemälde des preußischen Königs, Luthers und Melanchtons als Bildprogramm aufgehängt waren, zum Thema »Friedrich Wilhelm der Dritte, als Beschützer der evangelisch-protestantischen Glaubensfreiheit«. Bucher zufolge bezog sich die protestantische Freiheit allein auf Denken und Glauben, nicht aber auf das Handeln, wobei er zugleich auf die schroffe Zurückweisung revolutionärer Be57 Rudolf Virchow, Welchen Vortheil gewährt das Geschichtsstudium  ? (29.6.1836)  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2778-2. Vgl. dazu Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in  : ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 21992, S. 38–66. 58 »Geschichtskalender auf jeden Tag des Jahres«, hs. von R. Virchow, o. Dat.: ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2777. 59 Bei diesen Ausnahmen handelte es sich um einige Künstler – Klopstock, Schiller, Shakespeare, Händel, v. Weber und M. Opitz, den Erfinder des Buchdrucks Gutenberg, Kant, den Historiker und Dichter K. L. von Woltmann und schließlich den Pädagogen Pestalozzi, womit auch in der Ära der Restauration die Tradition der aufklärerischen Reformpädagogik hochgehalten wurde. Siehe ebenda.

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strebungen durch Luther verwies. Dagegen befördere der Katholizismus die Auflehnung gegen die von Gott gegebene Obrigkeit. Mit scharfen Worten geißelte Bucher deshalb das Papsttum, das er mit der Pest verglich, und forderte die Anwesenden zu stetiger Wachsamkeit auf.60 Virchows Schulbildung erfolgte somit in einem Klima der Auseinandersetzung zwischen preußischem Staat und Katholizismus, das sich vor allem am Mischehenstreit aufheizte und das nach der in diesem Zusammenhang erfolgten Amtsenthebung des Kölner Erzbischofs durch die preußischen Behörden im November 1837 in den ersten preußischen Kulturkampf61 mündete. Die Früchte der am Kösliner Gymnasium betriebenen antikatholischen Indoktrina­ tion  – die vermutlich Rückschlüsse auf ähnliche Praktiken an anderen preußischen Schu­len zulässt  – zeigt die Skizze eines Deutschaufsatzes zum Thema der »Stellung, welche Christus seiner Kirche im Staat ertheilt«, die der Primaner Virchow im November 1838 verfasste. Dort gab er das kleine Einmaleins der preußisch-protestantischen Staatskirchenauffassung getreulich wieder  : Christus selbst habe das Verhältnis definiert, als er geschrieben habe  : »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist«. Demgegenüber könne Christus unmöglich »eine despotische Hierarchie« gewollt haben, wie er mit Bezug auf das Papsttum schrieb. Auch Zölibat, Mönchstum, Jesuitentum, Wallfahrten, Prozessionen usw. könne dieser unmöglich gewollt haben. Und so schloss Virchow seinen Angriff auf die katholische Kirche mit einem weiteren Bezug auf Christus  : Hätten seine Bischöfe und Priester stets diesen Zweck im Auge gehabt, so wären kein Reformator, keine Religions- und Bürgerkriege nöthig gewesen  ; so würde nicht noch jetzt die dreiköpfige Natter zischend ihre Giftzähne zeigen, und die Welt mit ihrem unheilbringenden Gift entzweien. Doch wir wollen deshalb unseren Muth nicht sinken lassen, sondern uns vielmehr der freudigen Hoffnung hingeben, dass es unserer Zeit vorbehalten sein möge, endlich der Kirche eine für die gesammte Menschheit Heil und Segen bringende Stellung anzuweisen  !62

All dies scheint außerordentlich wichtig im Hinblick auf die Beurteilung des preußischen Kulturkampfs der 1870er Jahre, bei dem Virchow eine zentrale Rolle spielte. Bereits im Rahmen der preußischen Gymnasialbildung der 1830er Jahre wurden wesentliche Grundlagen für diejenigen antikatholischen Dispositionen gelegt, die der späteren Auseinandersetzung ihre Richtung und Schärfe verliehen. Auch sein Konfirmationsunter60 August Leopold Bucher, Friedrich Wilhelm der Dritte, als Beschützer der evangelisch-protestantischen Glaubensfreiheit, Rede am 3.8.1836, in  : Jahresbericht des Königlichen und Stadt-Gymnasiums zu Cöslin, Cöslin 1841, S. 2–10. 61 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.  2, S.  472 f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 418 f. 62 Rudolf Virchow, Die Stellung, welche Christus seiner Kirche im Staat ertheilt (kurze Skizze.), 28.11.1838, in  : Schulhefte  : Deutsche Ausarbeitungen, Coeslin 1838, 1838 (Prima)  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2778-2.

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richt, den er von September 1836 an erhielt, fiel in diese Zeit. Am Palmsonntag 1837 sprach er als erster der Konfirmanden in der Kösliner Marienkirche das protestantische Glaubensbekenntnis63 – dies bleibt der einzige konkrete Hinweis auf seine Teilnahme an religiösen Praktiken, die aus seinem gesamten Lebenslauf überliefert ist. Neben solcher staatsbürgerlicher und religiöser Erziehung gehörte zu den neuhumanistisch geprägten Bildungszielen die allseitige und harmonische Entfaltung aller von Natur aus im Menschen angelegten individuellen Anlagen. Doch tritt hier ein zentraler Widerspruch der Realität des neuhumanistischen Bildungsideals zutage  : Dabei handelt es sich um die mit dem Modell der humanistischen Bildung verbundene Ambivalenz zwischen Individualisierung und Normierung,64 die eng mit der »spezifisch ›bürgerliche(n)‹ Balance einer Freisetzung von Emotionen und ihrer inneren und äußeren Kontrolle« verbunden ist.65 Besonders deutlich wird dies an den Deutschaufsätzen Virchows, wo eine konventionalisierte Form des Ausdrucks von individuellem Erleben trainiert wurde. Der Umschlag von Individualität in Subjektivität wurde negativ sanktioniert, wie die Lehrerkorrekturen zeigen. Hier wirkte die in den 1830er Jahren noch stark fortwirkende rhetorische Tradition des 18. Jahrhunderts nach, die erst allmählich aus der Mode kam. Für die fragliche Periode galt, dass sie »ihr sprachliches Kommunikationssystem noch zu wesentlichen Teilen in rhetorischen Texten und mit Hilfe der Schule« regulierte und normierte.66 So kehrten in einem von Virchow zum Thema »Der Morgen eines Sonntags im Mai«67 verfassten Schulaufsatz zahlreiche literarische Versatzstücke wieder, die zuvor im Deutschunterricht eingeübt worden waren. Gerade dort, wo die Subjektivität scheinbar am größten war, nämlich im einsamen Naturerleben,68 spielten literarisch vorgestanzte Ausdrucksformen eine hervorragende Rolle. So wurde etwa das Zimmer, das der Jüngling Virchow in seinem Aufsatz vor seiner Wanderung verlassen musste, – frei nach Schillers »Spaziergang«  – formelhaft zum »Kerker«. Auf diese Weise erfolgte die Einübung in einen Modus der unpersönlichen Subjektivität, wie ihn das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts ausbildete, indem es zur Beschreibung der bewegendsten Momente des Lebens idealerweise ein geeignetes Klassikerzitat parat hielt.69 63 Meldung Rudolph Virchow’s zur Reifeprüfung, S. 5 f. 64 Vgl. dazu auch Suzanne Marchand, Foucault, die moderne Individualität und die Geschichte der humanistischen Bildung, in  : Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 323–348, hier  : S. 339. 65 Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann, Zur Historisierung bürgerlicher Werte. Einleitung, in  : dies. (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 7–21, hier  : S. 12. 66 Jäger, Schule und literarische Kultur, S. 2 f.; siehe auch ebenda, S. 96 ff. 67 Rudolf Virchow, Der Morgen eines Sonntags im Mai (8.6.1836), Deutsche Ausarbeitungen, Coeslin, 12.3.1836  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2777. 68 Vgl. Peter Gay, Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich, München 1997, S. 101–110. 69 Dies konnte soweit gehen, dass Walter Robert Tornow mit den von ihm als Nachfolger Georg Büchmanns

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Im genannten Falle zitierte Virchow auf dem stimmungsmäßigen Höhepunkt seines Aufsatzes das Gedicht »Morgengedanken« des Botanikers, Physiologen, Arztes und Dichters Albrecht von Haller, dessen Werk Die Alpen erheblich zur Gebirgsbegeisterung des Bildungsbürgertums im 19.  Jahrhundert beitrug. An Aufsatzthemen wie »Empfindungen eines Jünglings beim Anblick eines grünen Saatfelds im December« lässt sich zudem zeigen, dass den Schülern stereotype Selbstinterpretationen und Stilisierungen ihrer jeweiligen Lebenssituation vorgegeben wurden, die wiederum als Teil eines idealen Bildungsgangs begriffen wurden.70 Überdies wird an den in den Aufsätzen verschiedentlich zur Aufgabe gestellten Naturbeschreibungen deutlich, dass hier keine pantheistische Einfühlung in eine Natur-Gottheit zugrunde lag. Vielmehr scheint eine Vorstellung des Menschen als Teil einer von einem allmächtigen Schöpfer-Gott in der Art eines Uhrmachers regelmäßig und sinnvoll eingerichteten, automatenhaften Welt auf. Das am Kösliner Gymnasium in den 1830er Jahren vermittelte Persönlichkeitskonzept blieb damit auffällig unberührt von modernen Entfremdungserfahrungen, wie sie in der Romantik ihren literarischen Ausdruck gefunden hatten, sondern wies weit zurück in das 18. Jahrhundert. Zu Ostern 1839 wurde, wie der Jahresbericht des Kösliner Gymnasiums verzeichnete, Rudolf Virchow im Alter von 17 ¼ Jahren mit dem Reifezeugnis zur Universität entlassen. Von seinen sechs Klassenkameraden, die mit ihm zusammen das Abitur erlangten, hatten sich einer für Jura und Kameralistik, zwei für die Theologie, zwei für die Medizin und einer für das Studium der Forstwissenschaften entschieden.71 Neben der »Überbürdung« der Schüler hatte auch die Angst vor der »Überfüllung« des Universitätsstudiums bereits in den 1830er Jahren Wellen geschlagen. So hatte das preußische Kultusministerium 1836 in einem Rundschreiben an die Gymnasien vor dieser drohenden Gefahr gewarnt und diese Schulen angewiesen, die Schüler nachdrücklich vor den Risiken eines Universitätsstudiums zu warnen.72 Solche Warnungen mögen dazu beigetragen haben, dass die Schüler die Gründe ihrer Studienwahl bereits zwei Jahre vor dem Abitur in einem Deutschaufsatz hatten erläutern müssen. Im April 1837 begründete der Primaner herausgegebenen »geliebten ›Geflügelten Worten‹«, d. h. der bekannten Sammlung der Klassikerzitate, »so innig (verwuchs), dass er in der Todesstunde nur in Citaten sprach«. Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des deutschen Volkes gesammelt und erläutert von Georg Büchmann, Fortgesetzt von Walter Robert Tornow. 21. vermehrte und verbesserte Auflage bearbeitet von Eduard Ippel, Berlin 1903, S. XX, zit. nach Wolfgang Frühwald, Büchmann und die Folgen. Zur sozialen Funktion des Bildungszitates in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, in  : Koselleck (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II, S. 207. 70 Rudolf Virchow, Schulheft  : Deutsche Ausarbeitungen, Coeslin, 19.4.1838 (Prima)  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2778-2. 71 Einladung zur öffentlichen Prüfung aller Klassen des Königlichen und Stadt-Gymnasiums zu Cöslin, Cöslin 1839, Jahresbericht, S. 17 f. 72 Jahres-Bericht des Königlichen und Stadt-Gymnasiums zu Cöslin für die Zeit von Michaelis 1835 bis Michaelis 1836, Schulnachrichten, S. 12.

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Virchow seine Entscheidung für ein Medizinstudium nicht mit pragmatischen oder finanziellen Gründen, sondern führte eine wissenschaftliche Berufung an. Daran wie an anderen Schulaufsätzen Virchows zeigt sich die Ausbreitung des antiutilitaristischen Konzeptes der Humboldtschen Universitätsreform mit ihrer Ablehnung des »Brotstudiums« über den Gymnasialunterricht. Geht man davon aus, dass diese Schulaufsätze in hohem Maße die herrschenden Sagbarkeitsregeln widerspiegeln, so hatte sich »Berufung« als gültiges Rollenmodell für einen Wissenschaftler durchgesetzt.73 Diesem Diskurs gehorchte auch Virchows Begründung seiner Studienfachwahl  : »Dem Wunsche meiner Eltern und der eigenen Neigung, die mich mit unwiderstehlicher Gewalt zu den Wissenschaften zog, folgend, hatte ich schon früh den Entschluss gefasst, mich den Studien zu widmen.« Doch habe er bei der Entscheidung für ein bestimmtes Fach lange geschwankt  : »Gar zu gern hätte ich die Theologie gewählt, um als Gottesdiener sein heilbringendes Evangelium zu verkünden und als ein guter Hirte über das Seelenheil der mir Anvertrauten zu wachen.« Was ihn davon abgehalten habe, sei jedoch sein »schlechtes Organ« gewesen  : »Wie konnte ich es hoffen, dass ich je von einer Gemeinde zu ihrem Seelsorger, zu ihrem Prediger erwählt werden würde, da meine schlechte Aussprache allen Eindruck, den meine Rede hervorgebracht hatte, vernichten müsste  !« So habe er sich stattdessen, wie es auch der Wunsch seines Vaters sei, für das Studium der Medizin entschieden  : »Stand sie doch am nächsten der erhabenen Theologie, und konnte sie mich also am ersten für den Verlust entschädigen, den ich erlitten, als ich jener entsagen musste.« Trost zu spenden und die Geheimnisse des menschlichen Körpers zu erforschen, jenes »wunderbaren, und doch von so vielen so wenig gekannten Meisterwerks der Schöpfung«, habe ihn dazu bestimmt, »das Studium der Medicin zu erwählen, als dasjenige, dem ich mein ganzes Leben weihen will«.74 Das angegebene Motiv der Selbstweihe auf dem Altar der Wissenschaft überhöhte die ausschlaggebenden finanziellen und sonstigen Erwägungen. Ein Medizinstudium ermöglichte es, naturwissenschaftliche Interessen mit einer gesicherten Existenz zu verbinden.75 Virchows Vater war zudem nicht in der Lage, die regulären Kosten eines Studiums 73 So schrieb Virchow in einem Deutschaufsatz zum Thema »Wie ist der wahre, wissenschaftliche Fleiß beschaffen  ?« (13.4.1836)  : »Der Fleiß kann aus verschiedenen Quellen entspringen, der wissenschaftliche aber nur aus einer, nämlich aus Liebe zur Wissenschaft  ; alle anderen sind verwerflich. Daher findet sich der wahre, wissenschaftliche Fleiß auch nicht bei gar vielen.« Siehe ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2777. Vgl. zu diesem Wandel des Verständnisses von »Wissenschaft« auch Charles E. McClelland, State, Society and University in Germany 1700–1914, Cambridge u. a. 1980. 74 Rudolf Virchow, »Kurze Angabe der äußern und innern Beweggründe, welche mich bestimmt haben, das Fach Medicin als meinen besonderen Lebensberuf zu erwählen«, (4.4.1837. In der Klasse gearbeitet in ¾ Stunden), Schulheft  : Deutsche Aufsätze von R. Virchow, Prima, Coeslin, den 3.4.1837  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2778-2. 75 David Cahan, Introduction, in  : ders. (Hg.), Letters of Hermann von Helmholtz to his Parents. The Medical Education of a German Scientist 1837–1846, Stuttgart 1993, S. 1–30, hier  : S. 9. Helmholtz, der ein Jahr vor Virchow am Friedrich-Wilhelms-Institut zu studieren begann, bildet einen interessanten Vergleichsfall.

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zu finanzieren, und selbst unter den Bedingungen eines kostenfreien Studiums in einer militärmedizinischen Bildungsanstalt, das Virchow später antrat, konnte er die damit verbundenen finanziellen Belastungen nur schwer tragen. Der Hinweis auf die Nötigung durch »Privatverhältnisse«, um die als früh empfundene Meldung zur Reifeprüfung zu erklären,76 spielte so zumindest indirekt auf die Rolle finanzieller Zwänge an. Vermutlich wurden also im Vorfeld der Entscheidung Virchows für ein Studienfach die familiären Beziehungen eingesetzt, um einen der begehrten Studienplätze am militärärztlichen Friedrich-Wilhelm-Institut in Berlin zu erhalten. Die 1795 gegründete Pépinière zielte darauf, unbemittelten begabten Schülern das Studium zu ermöglichen und gleichzeitig den Bedarf des preußischen Staates an Militärärzten zu befriedigen. Die Schüler mussten sich deshalb dazu verpflichten, im Gegenzug für die ihnen auf Staatskosten gewährte vierjährige Ausbildung wenigstens acht Jahre als Militärarzt an einem ihnen zugewiesenen Ort zu verbringen. In den späten dreißiger Jahren herrschte großer Andrang auf diese Plätze, die bereits auf Jahre im Voraus vergeben waren. Soziale Kontakte spielten bei der Aufnahme eine wesentliche Rolle, während die Aufnahmeprüfung nur die Rolle eines Eignungstests spielte.77 Vermutlich nutzte Major Johann Christoph Virchow, der Bruder seines Vaters, seinen Einfluss, damit Rudolf Virchow an diesem Institut angenommen wurde. Die Meriten des Onkels, der sich um die Modernisierung der preußischen Armeeausstattung verdient gemacht hatte,78 verschafften Virchow zudem ausgezeichnete Verbindungen zu den Spitzen der preußischen Militärmedizin, die für seine weitere Karriere wichtig wurden. Derartige nepotistische Aspekte widersprachen jedoch dem modernen Leitbild der professionellen »Berufung«, das zugleich mit dem neuen wissenschaftlichen Leistungsethos verbunden war, und wurden deshalb in der Begründung der Studienwahl nicht expliziert. 2.1.2 Die »rationelle Generation«  ?

Am 24.  Oktober 1839 erreichte Rudolf Virchow nach zweitägiger Fahrt mit der Pferdekutsche Berlin, wo er zwei Tage später sein Medizinstudium am Königlichen Friedrich-Wilhelm-Institut aufnahm. Diese Stadt, an deren Peripherie ein Gürtel rauchender Schornsteine das beginnende Industriezeitalter signalisierte, befand sich damals bereits auf dem Weg zu einer europäischen Metropole.79 Die Jahre von 1839 bis 1849, die Vir76 Meldung Rudolph Virchow’s zur Reifeprüfung, S. 6. 77 Cahan, Introduction, S. 10. Zur Auswahlprozedur siehe auch Otto Schickert, Die Militärärztlichen Bildungsanstalten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart. Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens des medizinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Instituts, Berlin 1895, S. 23 f. u. 138. 78 Marie Rabl, Vorwort, S. X. 79 Ilja Mieck, Von der Reformzeit zur Revolution (1806–1847), in  : Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins. Erster Band  : Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, München 1987, S. 478–602, hier  : S. 573. Zu den sozialen und ökonomischen Strukturen Berlins in den 1840er Jahren vgl. vor allem Rüdiger Hachtmann,

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chow dort verbrachte, stellten für ihn wie für Berlin gleichermaßen eine Zeit der Veränderung dar, auch wenn er sich selbst anders charakterisierte  : »[I]ch ändere mich schwer, und die Zeit und der Raum wandeln mich wenig um.«80 Die preußische Residenzstadt stand in diesen Jahren im Zeichen eines starken Bevölkerungswachstums, das in erster Linie die Unterschichten betraf  : Die zwischen 1800 und 1840 vor allem durch Zuwanderung von 172.000 auf 329.000 knapp verdoppelte Einwohnerzahl stieg bis 1848 weiter auf 411.000.81 Die Zahl der Studenten war hingegen seit den dreißiger Jahren von gut 1700 auf etwa 1400 in den vierziger Jahren gesunken, wovon etwa ein knappes Fünftel Medizinstudenten waren.82 Während in Berlin die Industrie stark wuchs, expandierte gleichzeitig auch die politische Öffentlichkeit. Vor allem seit dem 1840 erfolgten, anfänglich von großen Hoffnungen auf politische Liberalisierung begleiteten Thronwechsel zu Friedrich Wilhelm IV. artikulierten sich dort zunehmend soziale und politische Spannungen, die sich schließlich in der Revolution 1848 entluden. In diese Zeit fallen Virchows Medizinstudium an der Pépinière, Doktorprüfung, Staatsexamen und Habilitation sowie seine Tätigkeit als Prosektor am Leichenhaus der Charité, aber auch seine allmähliche Politisierung, die darin gipfelte, dass er sich aktiv an der medizinischen Reformbewegung und der Revolution in Berlin beteiligte. Virchow gab sich allerdings zunächst wenig beeindruckt von dem Wechsel aus der pommerschen Provinz in die biedermeierliche preußische Residenzstadt  : »Berlin selbst hat meine Erwartungen nicht übertroffen  ; da man fast alle merkwürdigen Plätze, Strassen, Gebäude etc. schon aus Abbildungen kennt, so ist man stets versucht zu glauben, man sähe nur schon einmal gesehenes vor sich.«83 Zugleich blieb seine heimatliche Lebenswelt zunächst in seinem Horizont weiter präsent  : Virchow blieb am Klima und seinen Auswirkungen auf die väterliche Landwirtschaft interessiert und damit auch einem agrarisch geprägten Erfahrungsraum verhaftet. Immer noch legte er der Abhängigkeit von naturalen Zyklen große Bedeutung bei, wie an der Art und Weise deutlich wird, in der er im Februar 1842 von Berlin aus an den ökonomischen Sorgen seines Vaters Anteil nahm  : »Jenes ist freilich sehr schlimm, da ich unsere Zukunft immer zweifelhafter Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997, S. 68–86  ; sowie Jochen Boberg/Tilman Fichter/Eckhart Gillen (Hg.), Exerzierfeld der Moderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert, Bd. I, München 1984. 80 R. Virchow an Carl Virchow, 21.12.1840, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 106. 81 Siehe Mieck, Von der Reformzeit bis zur Revolution, S. 480  ; Hachtmann, Berlin 1848, S. 69. Die Zahlen sind gerundet. 82 Zur Berliner Universität im Vormärz vgl. Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd.  2, T.  2  : Auf dem Wege zur deutschen Einheit im neuen Reich, Halle a.  d.  S.  1918, S. 3–185  ; Hachtmann, Berlin 1848, S. 89–94, hier  : S. 90. Eine anschauliche Schilderung des studentischen Lebens in Berlin in den 1830er/40er Jahren bietet Max Mechow, Berliner Studenten 1810–1914, Berlin 1975, S. 33–58. 83 R. Virchow an Carl Virchow, 18.11.1839, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 32.

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werden sehe, die nun beinahe von einem guten Winter oder guten Sommer, ja vielleicht von einem rechtzeitigen Regen abzuhängen scheint.«84 Und in der Tat ergab sich eine direkte Verbindung seines persönlichen Schicksals mit dem Wetter schon daraus, dass er bis zu seinem 27. Lebensjahr ganz von den väterlichen finanziellen Zuwendungen abhing. Umgekehrt unterstützte Virchow seither die marode Landwirtschaft seines Vaters regelmäßig mit zum Teil hohen Beträgen. Bis zu dessen Tod bildete dies den ständigen Bezugspunkt eines ausgeprägten Vater-Sohn-Konflikts. Während sich der erzieherische Einfluss Carl Virchows weitgehend auf briefliche Ermahnungen reduzierte, wurden die beiden in Berlin lebenden Onkel zeitweilig umso wichtiger. Sie vermittelten Rudolf Virchow gleichermaßen soziales wie kulturelles Kapital. Major Johann Christoph Virchow war politisch zwar königstreu, stand im Vormärz aber auf Seiten des gemäßigt liberalen Berliner Magistrats. Zudem hing er, so Virchow, »wie jeder Gebildete«, den »Lichtfreunden« an.85 Er führte den jungen Studenten, der ihn mindestens einmal in der Woche besuchte, nicht nur persönlich bei den Spitzen der preußischen Militärmedizin,86 sondern auch in die gutbürgerliche Berliner Gesellschaft ein und kümmerte sich zugleich darum, dass er die notwendigen gesellschaftlichen Umgangsformen erwarb.87 Ähnlich kümmerte sich auch sein Onkel mütterlicherseits, Ludwig Ferdinand Hesse, Architekt und seit 1832 preußischer Hofbaubeamter, um ihn. Zu dessen Arbeiten gehören neben der sogenannten neuen Charité die Tierarzneischule und das Elisabeth-Krankenhaus in Berlin sowie in Potsdam das Schloss auf dem Pfingstberg und die Orangeriegebäude. Auch er bemühte sich um Virchows gesellschaftlichen Schliff und verschaffte ihm den Zugang in verschiedene soziale Kreise, indem er ihm beispielsweise ein Billet für einen Maskenball beim preußischen König besorgte oder ihn in die Gesellschaft eines Gummifabrikanten einführte.88 Im Übrigen war Virchows Studienzeit am Friedrich-Wilhelm-Institut in keiner Weise von Burschenherrlichkeit geprägt. Der preußische Staat trug die Kosten der Ausbildung, 84 R. Virchow an Carl Virchow, 22.2.1842, Druck  : ebenda, S. 156. 85 R. Virchow an Carl Virchow, 15.10.1845, Druck  : ebenda, S. 273  ; Zur Verbindung zwischen »Lichtfreunden« und Liberalismus vgl. Hans Rosenberg, Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus, in  : Historische Zeitschrift 141 (1930), S. 497–541  ; Jörn Brederlow, »Lichtfreunde« und »Freie Gemeinden«. Religiöser Protest und Freiheitsbewegung im Vormärz und in der Revolution von 1848/49, München u. Wien 1976  ; Ludovica Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht. Honoratioren und Armenwesen in der Berliner Luisenstadt im 19. Jahrhundert, München 1995, S. 80 ff.; allgemein zur politischen Kultur Berlins im Vormärz vgl. v. a. Jonathan Knudsen, The Limits of Liberal Politics in Berlin, 1815–1848, in  : Konrad Jarausch/ Larry Eugene Jones (Hg.), In Search of a Liberal Germany. Studies in the History of German Liberalism from 1789 to the Present, New York u. a. 1990, S. 111–131  ; Hachtmann, Berlin 1848, S. 87–118. 86 Siehe dazu etwa R. Virchow an Carl Virchow, 26.10.1839 u. 18.11.1839, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 25–28 u. 28–35. 87 R. Virchow an Carl Virchow, 12.6.1841  : Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 131–134  ; R. Virchow an Carl Virchow, 26.1.1843, Druck  : ebenda, S. 207–211. 88 R. Virchow an Carl Virchow, 17.3.1843, Druck  : ebenda, S. 212 f.

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darüber hinaus erhielten die Eleven freie Wohnung und Heizung sowie eine monatliche Zuwendung von sechs Talern. Dies reichte allerdings für die Lebenshaltungskosten nicht aus, weshalb die Eltern zu weiteren monatlichen Zuschüssen verpflichtet wurden,89 wozu noch die Belastung durch die hohen Gebühren für die Studienabschlüsse kam. So erforderte ein vierjähriges Studium an der Pépinière, an das sich ein praktisches Jahr sowie die Vorbereitungszeit für das Staatsexamen anschloss, trotz der gewährten Unterstützung alles in allem einen Zuschuss von etwa 1000 Talern.90 Virchow litt während seines Studiums unter chronischer Geldknappheit, die ihn ständig dazu zwang, seinen Vater um Geld zu bitten. Wie die von ihm angefertigten peniblen Auflistungen seiner Ausgaben bezeugen, stießen seine finanziellen Mittel trotz der mit der Aufnahme an die Pépinière verbundenen Erleichterungen und eines jährlichen Stipendiums der Bezirksregierung von Stettin in Höhe von 45 Talern jährlich vor allem dann immer wieder an Grenzen, wenn es darum ging, die angemessene Ausstattung für eine standesgemäße Lebensführung zu erwerben.91 Während ihres Studiums wurden die Pépins auf dem Gelände des seit 1822 an der Friedrichstraße 139–141 gelegenen Instituts kasernenähnlich untergebracht (je vier teilten sich eine Stube und Kammer), trugen aber Zivilkleidung.92 Hieraus ergab sich ein nicht ganz geklärter Status der etwa 90 Pépins gegenüber den etwa 400 Medizinstudenten der Berliner Universität.93 Von ihren Vorgesetzten wurden sie daher abwechselnd wie Studenten und wie der militärischen Disziplin unterstehende Untergebene behandelt.94 Neben einem streng reglementierten Tagesablauf, der vom Aufstehen (im Sommer um fünf, im Winter um sechs Uhr) und dem gemeinsam eingenommenen Mittagsmahl bis zur Bettruhe um 22 Uhr reichte, gehörte dazu vor allem auch der Zwang zur strengen Buchführung über sämtliche Ausgaben. Dies sollte die Eleven daran gewöhnen, mit der 89 Schickert, Die militärärztlichen Bildungsanstalten, S. 25 f. 90 Cahan, Introduction, S. 14. 91 So kostete etwa das Kolleg über vergleichende Anatomie bei Johannes Müller 4 ½ Taler, wobei ihm dieser auf seine Bitte hin die Hälfte erlassen hatte, während ein neuer Frack, den er sich hatte schneidern lassen, gleich mit 16 Talern zu Buche schlug. Siehe R. Virchow an Carl Virchow, 15.4.1841, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 122 f. 92 R. Virchow an Carl Virchow, 5.–13.12.1839, Druck  : ebenda, S. 36 f. Vgl. auch Schickert, Die Militärärztlichen Bildungsanstalten, S. 26  ; Cahan, Introduction, S. 11–22. 93 Siehe Cahan, Introduction, S. 13  ; Tab. 1.2  : Die Einzelfachströme an der Universität Berlin nach Staatsangehörigkeit und Geschlecht 1817/18–1941/1, in  : Hartmut Titze, Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Band  I  : Hochschulen, 2.  Teil  : Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830–1945, Göttingen 1995, S. 84. Die Zahl der Studenten an der Berliner medizinischen Fakultät sank in den folgenden Jahren jedoch stark ab, nämlich auf 310 im Jahr 1845 und erreichte schließlich mit 212 einen säkularen Tiefstand, bis sie allmählich wieder anstieg. 94 R. Virchow an Carl Virchow, 5.–13.12.1839, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 37. Rolf Winau zufolge seien dagegen in den 1840er Jahren die »Differenzen zwischen den beiden Instituten (…) so gut wie verschwunden« gewesen. 1840 waren an der Berliner Universität insgesamt 1677 Studenten immatrikuliert, davon 408 in der medizinischen Fakultät. Siehe Rolf Winau, Medizin in Berlin, Berlin u. New York 1987, S. 154.

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äußerst knapp bemessenen Bezahlung beim Militär zurechtzukommen. Ebenso musste die »moralische Führung der Eleven eine tadelfreie sein, namentlich war ihnen jeder Verkehr mit Weibspersonen bei Strafe streng verboten«95. In der Praxis entzogen sich allerdings etliche Pépins der geforderten militärischen Disziplin, die als Strafmaximum Arrest in einer Militärarrestanstalt vorsah. Doch distanzierte sich Virchow ausdrücklich von der Kategorie der Bummelstudenten  : »Leider habe ich nun das Unglück, in eine Sektion hineingerathen zu sein, deren Mehrzahl aus schauerlichen Menschen besteht. Ihr größtes Vergnügen besteht darin, die Collegia zu versäumen, Karten zu spielen, Bier zu trinken pp.«96 Hatte er also in der oben zitierten Begründung seiner Studienwahl noch das Humboldtsche Modell der Bildung durch Wissenschaft zitiert, befand er sich nun in einer Institution, die ganz dem Prinzip des Brotstudiums verpflichtet war und eher den Charakter einer Fachhochschule trug.97 Virchow besuchte nicht nur regelmäßig die vorgeschriebenen Kollegs  – was allein schon nicht selbstverständlich war  –, sondern dehnte seine Studien auch noch in die karg bemessene freie Zeit aus. Auf dem Stundenplan, der wöchentlich 54 Stunden umfasste, standen täglich außer Sonntag bis zu zehn Stunden, wozu noch die eigenen Studien kamen. Das Medizinstudium basierte in dieser Zeit noch überwiegend auf dem Bücherstudium, und die von Virchow anschaulich beschriebenen Sektionen in der Anatomie, bei denen oftmals halbverfaulte, stinkende Leichenteile das Ausbildungsmaterial bildeten, waren dabei nahezu die einzige praktische Demonstrationsmethode.98 Zusätzliche Pflichtveranstaltung im Rahmen des Studium generale, die von der Mehrheit seiner Kommilitonen allerdings nicht wahrgenommen wurde, war die Vorlesung von Johann David Erdmann Preuss, dem königlich preußischen Hofhistoriker und Biographen Friedrichs des Großen, zur Geschichte des preußischen Staates. Virchow besuchte regelmäßig die in dessen Privatwohnung stattfindenden Vorlesungen, darunter auch eine zur Kulturgeschichte der europäischen Völker. Über den Lehrplan hinaus ging hingegen der Besuch einer Vorlesung bei Friedrich Rückert über arabische Dichter,99 was gleichfalls auf seinen den Kreis der Medizin zur Kulturgeschichte hin übersteigenden Interessenhorizont hindeutet. 1842 rückte Virchow dann in die klinischen Semester vor 95 Schickert, Die militärärztlichen Bildungsanstalten, S. 48. 96 R. Virchow an Carl Virchow, 5.–13.12.1839, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 37. 97 Arleen Marcia Tuchman, Ein verwirrendes Dreieck. Universität, Charité, Pépinière, in  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 3 (2000)  : Zwischen Wissens- und Verwaltungsökonomie. Zur Geschichte des Berliner Charité-Krankenhauses im 19. Jahrhundert, S. 36–48  ; Cahan, Introduction, S. 16. 98 R. Virchow an Carl Virchow, 18.–23.11.1839, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 33. Zu seinem Unterrichtsprogramm siehe ebenda, S. 33 f. Vgl. auch die Angaben zum Unterrichtsplan im Brief von Hermann Helmholtz an seine Eltern, 5.11.1838, in  : Cahan (Hg.), Letters of Hermann Helmholtz to his Parents, S. 49 ff.; sowie Klaus Wenig, R. Virchow (1821–1902) und Emil du Bois-Reymond (1818–1896). Werdegang und Lebensstationen, in  : ders., Rudolf Virchow und Emil du Bois-Reymond. Briefe 1864–1894, Marburg/Lahn 1995, S. 18 f. 99 Wolf Becher, Rudolf Virchow. Eine biographische Studie, Berlin 1891, S. 4.

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und wurde auch am Krankenbett ausgebildet. Die Tage und zum Teil auch noch die Abende waren nunmehr vor allem mit Krankenbettvisiten in verschiedenen Kliniken der Charité ausgefüllt.100 Seit der Medizinalreform von 1825 gab es in Preußen noch drei Kategorien von Ärzten  : erstens die akademisch gelehrten Ärzte mit einer vierjährigen Universitätsausbildung, zweitens Wundärzte 1. Klasse mit einem dreijährigen Studium an eigenen Lehranstalten sowie drittens die schlechter qualifizierten Wundärzte 2. Klasse. Erst seit der Reform von 1852 beherrschte der akademisch gebildete Arzt dann allein das Feld.101 Die medizinische Reformgesetzgebung von 1825 sowie weitere innere Veränderungen des Friedrich-Wilhelm-Instituts hatten den Abstand zwischen diesem und der Universität sowie deren Studenten weitgehend aufgehoben. Hauptunterschiede blieben jedoch zum einen die strenge curriculare Organisation des vierjährigen Studiums an der Pépinière sowie das weitgehende Privileg, die Assistentenstellen der Charité zu besetzen. Damit besaßen die Militärärzte anders als die Zivilärzte die Möglichkeit, ein einjähriges Praktikum zu absolvieren. Dies war der Hauptgrund dafür, »dass die medizinische Ausbildung an der Pépinière zum Teil für vorteilhafter angesehen wurde als die der Universität«102. Dem üblichen Ausbildungsgang folgend, zog Virchow am 1.  April 1843 von der Pépinière in die Charité um, die damals noch dem Kriegsministerium unterstand. Dort wurde er als Chirurg angestellt und teilte nunmehr ein Zimmer und eine Schlafkammer mit zwei Kollegen.103 Zugleich bemühte sich Virchow nun um den Abschluss seiner Promotion, die bis 1869 noch eine Art Vorprüfung zum Staatsexamen darstellte. Am 21. Oktober 1843 promovierte ihn Johannes Müller mit einer Dissertation De rheumate praesertim corneae, in der es um den Rheumatismus der Hornhaut des Auges ging,104 und so konnte Virchow seinem Vater und Geldgeber melden  : »Endlich ist der Schritt gethan, der an sich eine leere und nichtige Formalität, doch die größten Consequenzen für’s Leben nach sich zieht – ich bin Doktor der Medizin und Chirurgie geworden.«105 Virchow beschrieb die Promotion als »eine scharfe Grenze  ; hier beginnt das ernstere, freilich immer noch sprudelnde Mannesleben.«106 Um die Bedeutung dieser Passage zu 100 R. Virchow an Carl Virchow, 4./7.12.1842, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 199 f. 101 Kurt Finkenrath, Die Medizinalreform. Die Geschichte der ersten deutschen ärztlichen Standesbewegung von 1800–1850, Leipzig 1929, S. 4–7  ; Erwin Ackerknecht, Beiträge zur Geschichte der Medizinalreform von 1848, in  : Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin, Bd. 25 (1932), S. 61–109  ; 113–183  ; hier  : S. 116–120  ; Claudia Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten  : Das Beispiel Preußens, Göttingen 1985, S. 22–59. 102 Tuchman, Ein verwirrendes Dreieck, S. 45. 103 R. Virchow an Carl Virchow, 7./8.4.1843, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 214. 104 Rudolf Virchow, De rheumate praesertim corneae, Inauguraldissertation Universität Berlin 1843. 105 R. Virchow an Carl Virchow, 25.–27.10.1843, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 231 f. 106 Rudolf Virchow, Johannes Müller. Eine Gedächtnisrede, gehalten bei der Todtenfeier am 24. Juli 1858 in der Aula der Universität zu Berlin, Berlin 1858, S. 14.

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unterstreichen, hatte er sich für diese Gelegenheit »einen neuen Frack im PhantasieGeschmack machen lassen, über den Schivelbein gewiss ausser sich gerathen würde«, seine Tante befand dieses Kleidungsstück jedoch »ganz nach dem Modejournal«107. Biographische Zäsuren und Veränderungen seines Habitus fielen bei Virchow mehrfach auffällig zusammen. In seinen Berliner Jahren von 1839 bis 1849 zeigte er ein auffallendes Modebewusstsein. Er investierte trotz seiner stets knappen finanziellen Verhältnisse hohe Beträge in sein Äußeres, ob es nun Hosen, Hüte, Fräcke oder eine 17 ½ Taler teure Zylinderuhr mit Sekundenzeiger waren, wobei es ihm ausdrücklich darauf ankam, dass diese Gegenstände der aktuellen Mode entsprachen.108 Diese Selbstinszenierung, die seine Individualität ebenso wie seine soziale Stellung unterstreichen sollte, war in diesen Jahren von intensiver Selbstreflexion begleitet. Zunächst ging es dabei um das Verhältnis zu seinem Vater, der Rudolf Virchow mit seinem eigenen Ehrgeiz antrieb und dabei großen Wert darauf legte, dass sein Sohn sozialen Konventionen entsprach und ihm überdies Selbstüberschätzung und Gefühllosigkeit vorwarf. Der 20-jährige Medizinstudent beklagte sich demgegenüber bei seinem Vater  : »Du wolltest einen feinen Gesellschaftsmann aus mir machen  ; mir liegt noch heute sehr wenig daran.«109 Während seines Studiums gehörte Virchow, anders als noch sein Lehrer Johannes Müller, der aktiver Burschenschaftler gewesen war,110 keiner jener studentischen Korporationen an, die für die Erziehung der Studenten außerhalb des Hörsaals an deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts eine so wichtige Rolle spielten.111 Studenten der Berliner Universität mussten zu dieser Zeit bei ihrer Immatrikulation einen Revers unterzeichnen, wonach sie sich der Mitgliedschaft in unerlaubten Verbindungen enthalten würden.112 Der halbmilitärische Status der Pépinière verbot eine solche Betätigung erst recht. Überdies entsprach dies aber auch dem Gepräge der Berliner Universität als einer »Arbeitsuniversität«113. Virchows Versuche, sich während seines Studiums selbständig weitere Bildungsimpulse zu verschaffen, die über das an einer strengen medizinischen Fachausbildung orientierte Curriculum der Pépinière hinausgingen, lagen somit außer107 R. Virchow an Carl Virchow, 25.–27.10.1843, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 235. 108 Siehe dazu R. Virchow an Carl Virchow, 5.–13.12.1839 sowie 11.10.1844, Druck  : ebenda, S. 45 f.; sowie ebenda, S. 249. 109 R. Virchow an Carl Virchow, 22.2.1842, Druck  : ebenda, S. 158. 110 Virchow, Johannes Müller, S. 12. 111 Vgl. Konrad Jarausch, Deutsche Studenten 1800–1970, Frankfurt a. M. 1970  ; R. Steven Turner, Universitäten, in  : Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. III, S. 221–249, hier v. a. S. 242 ff.; Wolfgang Hardtwig, Auf dem Weg ins Bildungsbürgertum  : Die Lebensführungsart der jugendlichen Bildungsschicht 1750–1819, in  : M. Rainer Lepsius (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil III  : Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, Stuttgart 1992, S. 19–41. 112 Lenz, Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd. 2/2, S. 262. 113 Vgl. Charles E. McClelland, «To live for Science”. Ideals and Realities at the University of Berlin, in  : Thomas Bender (Hg.), The University and the City. From Medieval Origins to the Present, New York u. Oxford 1988, S. 181–197, hier  : S. 188.

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halb einer derartigen studentischen Subkultur. Neben dem Besuch historischer und kulturwissenschaftlicher Vorlesungen übte er sich in jenen Jahren ausgiebig im Tanzen. Für Belletristik interessierte er sich nach dem Ende seiner Schulzeit kaum noch. Dagegen ging er während seiner Studienzeit häufig ins Theater, das im biedermeierlichen Berlin eine große gesellschaftliche Rolle spielte,114 teilweise bis zu viermal im Monat, und strapazierte damit sein knappes studentisches Budget.115 Zu einem exemplarischen Bildungsgang gehörte auch das Reisen, und so unternahm Virchow während seines Studiums im Sommer 1842 eine fünfwöchige, größtenteils zu Fuß unternommene Rundreise von Berlin durch Sachsen, Böhmen, Bayern, Thüringen und zurück. Dienten spätere Reisen vor allem der Erholung oder der Pflege professioneller Netzwerke, so stand hier das Muster der Wanderschaft als Medium der Bildung als Selbsterziehung im Vordergrund. Als Vorbild dafür diente Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, und so berichtete Virchow seinem Vater  : Was ich aber am höchsten schätze, ist die Erfahrung, dass ich für keinen Theil des Lebens erstorben bin  ; dass jede Erscheinung der ewigen Natur und des menschlichen Geistes mich mit aller Ergriffenheit anspricht, und in mein Bewußtsein übergeht. Jede allgemeine Bedeutung, Alles Grosse und Universelle freilich hat mich besonders angezogen, und ich habe mehr als je erkannt, dass die kleinlichen Partikular-Interessen, welche zumal in Pommern jede größere Regung des Geistes ertödtet haben, mir in dem Grund zuwider sind.116

Virchow sprach weiter von seiner durch die Reise gewachsenen Vaterlandsliebe, die aber zugleich durch die dabei gemachten Erfahrungen geläutert sei  : »[S]ie hat Achtung vor fremder Nationalität, selbst vor Oesterreich gewonnen  ; der Drang nicht unthätig zu bleiben in den grossen Begebenheiten unserer Tage, ist stärker geworden, aber nicht so stark, dass er ein Verkennen unserer herrlichen, schon bestehenden Institutionen einschlösse.«117 Damit artikulierte Virchow eine doppelte Erfahrung  : die Vergewisserung seiner eigenen Identität durch die Begegnung mit dem Fremden sowie die Erweiterung seines geographischen Erfahrungsraumes. Darin, wie er dies beschrieb, zeigt sich zugleich, wie er sich unter dem Einfluss seines Medizinstudiums allmählich vom Tonfall seiner Schulaufsätze ablöste  : Dort hatte er seine Selbsterfahrung noch in der Begegnung mit dem eigenen Ich in der eine universale Ordnung widerspiegelnden »freien Natur« geschildert. An die Stelle der Erfahrung der »freien Natur« trat in Virchows Studienzeit die Schilderung von botanischen Gärten und Gewächshäusern, d. h. der künstlich hergestellten 114 115 116 117

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Konrad Mieck, Von der Reformzeit zur Revolution, S. 537. R. Virchow an Carl Virchow, 29.4.1841, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 125 f. R. Virchow an Carl Virchow, 24.9.1842, Druck  : ebenda, S. 182 f. Ebenda, S. 183.

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Natur, deren Geschichte ihn jetzt vor allem interessierte, aber auch das Studium des menschlichen Körpers im Seziersaal beziehungsweise des tierischen Körpers im Experiment.118 Damit entfiel auch der Gestus der Beschreibung von Kunst und Natur als Medium der Steigerung von Subjektivität. Nicht das innere Erfassen der Dinge, sondern die »rein äußerliche Anschauung der Natur als einer bloß beobachteten Ordnung«119, wie sie die Romantiker gerade kritisierten, rückten bei Virchow zunehmend in den Vordergrund. Das damit verbundene epistemologische Programm des Sensualismus bestimmte zunehmend auch seinen Habitus, für den das Sehen und Riechen als Medien der Beobachtung eine zentrale Rolle spielten. Virchow äußerte während seines Studiums harsche Kritik am »goldenen Kalb der Naturphilosophie«120, die 1841 mit der Berufung Schellings, der dort dem Einfluss des Linkshegelianismus entgegenwirken sollte, an der Berliner Universität demonstrativ installiert wurde. Er teilte die verbreiteten Zweifel, dass diesem sein Vorhaben gelingen würde, die »Philosophie mit den Lehren des Christentum zu verbinden« und dabei »die geoffenbarte Religion mit den Schlüssen des philosophischen Verstandes in Einklang« zu setzen. Bald nach Schellings Ankunft berichtete er seinem Vater  : »Jedenfalls hat er sich sehr dadurch geschadet, daß er seine Vorlesungen mit einem wunderlich hochtrabenden und dünkelvollen Schwall von Versprechungen begann.«121 Wie sehr Virchow in seiner Studienzeit gleichzeitig aber auch noch von Traditionen der Naturgeschichte geprägt war, kommt in einer Selbstbeschreibung seines Bildungsziels deutlich zum Ausdruck, die er 1842 in einem Brief an seinen Vater formulierte, wo er von »eine(r) allseitige(n) Kenntniß der Natur von der Gottheit bis zum Steine«122 sprach. Hier trat ein universalistischer Anspruch hervor, wie er in diesen Jahren in Alexander von Humboldts »Kosmos«-Projekt einen letzten Höhepunkt feierte und im Bildungsbegriff romantischer Naturforschung wurzelte.123 Auch wirkte hier noch die Vorstellung einer scala naturae nach, d. h. einer zusammenhängenden Kette der Wesen, die von sämtlichen Elementen der Natur gebildet werde.124 Das große Interesse des jungen Virchow an Versteinerungskunde (neben Geschichte und Politik)125 verweist zugleich aber auch auf die Verzeitlichungstendenzen, 118 R. Virchow an Carl Virchow, 5./13.7.1840, Druck  : ebenda, S. 95 ff. Vgl. dazu auch Christian Geulen, »Center Parcs«. Zur bürgerlichen Einrichtung natürlicher Räume im 19. Jahrhundert, in  : Hettling/Hoffmann (Hg.), Bürgerlicher Wertehimmel, S. 257–282. 119 Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1994, S. 644. 120 Virchow, Gedächtnisrede auf Schönlein, S. 11. 121 R. Virchow an Carl Virchow, 6.1.1842, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 155. 122 R. Virchow an Carl Virchow, 22.2.1842, ebenda, S. 159. 123 Vgl. dazu Dietrich von Engelhardt, Der Bildungsbegriff in der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, in  : Koselleck (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II, hier v. a. S. 109 f. 124 Arthur O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens (1933), Frankfurt a. M. 1993  ; Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München u. Wien 1976, S. 41–51. 125 R. Virchow an Carl Virchow, 4./7.12.1842  : Druck  : RVSW, Bd. 59  : Briefe, S. 200.

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von denen diese Vorstellung einer ursprünglich als ahistorisch gedachten Natur mittler­ weile erfasst worden war und die von der Naturgeschichte zur Geschichte der Natur führten.126 Virchows Studium fiel in jene als »Biedermeiermedizin« etikettierte Übergangsphase von 1830 bis 1850, die Karl E. Rothschuh zwischen der romantisch-idealistischen beziehungsweise naturphilosophischen und der späteren realistisch-naturalistisch-materialistischen Strömung verortete.127 Damit übertrug er einen vor allem in der Literaturwissenschaft verankerten kulturgeschichtlichen Epochenbegriff auf die Medizin. Kennzeichen der »Biedermeiermedizin« waren Rothschuh zufolge generalisierungs- und theoriefeindliche Erfahrungssucht und Sammelwut, die Abneigung vor Spekulation und ein betonter Empirismus.128 Dabei sollten allerdings die mit dem Begriff »Biedermeier« assoziierten idyllisch-quietistischen Implikationen nicht überbetont werden.129 Unter den Lehrern Virchows, die für seine wissenschaftliche Entwicklung von besonderer Bedeutung waren, befanden sich zwei Protagonisten der Durchsetzung der naturwissenschaftlichen, auf klinische Beobachtung und Experiment gestützten Medizin  : der Anatom und Physiologe Johannes Müller sowie der Kliniker Johannes Lucas Schönlein. Letzterer war 1832 in Würzburg als Demokrat seines Amtes enthoben und erst 1840 aus dem Schweizer Exil nach Berlin berufen worden. Müller war dagegen ein eifriger Konservativer, der für die Studenten in seinem Seminar alle Fehler des alten Regimes verkörperte.130 Den Haupteinfluss der beiden auf ihn sah Virchow nicht in der Übernahme ihrer medizinischen Dogmen, sondern in dem bei diesen erworbenen naturwissenschaftlichen Methodenverständnis der Medizin.131 In seiner Studienzeit entwickelte sich allerdings kein persönlicher Kontakt zu den beiden medizinischen Koryphäen, und besonders Schönlein verhielt sich Virchow gegenüber wegen seines militärärztlichen Stallgeruchs zeitweilig reserviert.132 Vor allem Müller trug durch die Einbeziehung physikalischer und chemischer Methoden erheblich dazu bei, die Medizin stärker an die exakten Wissenschaften heranzuführen. Neben Virchow gehörten auch Theodor Schwann, Hermann von Helmholtz, Emil du BoisReymond, Ernst Brücke und Jacob Henle zu seinen Schülern. Allerdings blieb für diese 126 Lepenies, Ende der Naturgeschichte, S.  52–77. Vgl. auch Rolf Peter Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt a. M. 1989, S. 45. 127 Siehe zum Folgenden die medizinhistorische Zusammenfassung bei Heinz-Peter Schmiedebach, Robert Remak (1815–1854). Ein jüdischer Arzt im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Stuttgart u. a. 1995, S. 71–77. 128 Karl E. Rothschuh, Deutsche Biedermeier-Medizin. Epoche zwischen Romantik und Naturalismus (1830– 1850), in  : Gesnerus 25 (1968), S. 166–187. 129 Johanna Bleker, Biedermeiermedizin  – Medizin der Biedermeier. Tendenzen, Probleme, Widersprüche. 1830–1850, in  : Medizinhistorisches Journal 23 (1988), S. 5–22. 130 Timothy Lenoir, The Politics of Vision. Optics, Painting, and Ideology in Germany, 1845–95, in  : ders.: Instituting Science. The Cultural Production of Scientific Disciplines, Stanford 1997, S. 131–178, hier  : S. 139. 131 Virchow, Gedächtnisrede auf Müller, S. 29  ; ders., Gedächtnisrede auf Schönlein, S. 19, 22. 132 Ders., Gedächtnisrede auf Schönlein, S. 91–93.

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das Experiment – das Signum dieser neuen »wissenschaftlichen« Auffassung – gegenüber der Beobachtung immer nur ein künstlicher Teil des Erkenntnisprozesses. In mancherlei Hinsicht vertrat Müller weiterhin naturphilosophische Auffassungen, insbesondere mit dem Konzept der »Lebenskraft«, die nach seiner Auffassung Ordnung und Richtung in die mechanischen und chemischen Kräfte des lebenden Körpers brachte. (Diese Lehre eignete sich auch, um die Vorstellung einer leitenden geistigen Elite bei der Organisation des Körpers zu rechtfertigen.133) Im Mittelpunkt standen bei Müller Beobachtungszusammenhänge und Analogieschlüsse, nicht, wie in der späteren naturwissenschaftlichen Medizin, Kausalzusammenhänge.134 Wie Müller stand auch Schönlein noch in der Tradition der »romantischen Medizin«, hatte sich dann aber den französischen Methoden der klinischen Untersuchung zugewandt und dabei die Klinik und das Laboratorium in der Tätigkeit des Mediziners zusammengebracht.135 Das Hauptanliegen der von ihm vertretenen naturhistorischen Schule war, »durch strikt empirische Beobachtungen am Krankenbett eine theoriefreie Krankheitslehre zu entwickeln«136. Dazu erweiterte er die Hilfsmittel der Krankenbeobachtung, aber noch ohne die messenden Verfahren der Naturwissenschaften anzuwenden, und blieb damit streng deskriptiv und empirisch orientiert.137 In den vierziger Jahren des 19.  Jahrhunderts begann eine um 1815 bis 1821 geborene neue Generation von Medizinern, sich mit dem Empirismus ihrer Lehrer kritisch auseinander zu setzen und sich verstärkt der von ihnen so genannten »naturwissenschaftlichen Methode« zuzuwenden, die vor allem auf dem Experiment und kausalanalytischer Vorgehensweise beruhte. So forderte die 1842 von Carl August Wunderlich, Wilhelm Griesinger und Wilhelm Roser programmatisch formulierte »Physiologische Heilkunde«, den Empirismus der naturhistorischen Schule durch die naturwissenschaftliche Methode zu überwinden.138 Virchow beteiligte sich daran, die Auseinandersetzung zwischen der »naturphilosophischen« und der »naturwissenschaftlichen« Richtung zu 133 Lenoir, Politics of Vision, S. 139. 134 Rothschuh, Deutsche Biedermeiermedizin, S. 175 ff.; Wenig, Einleitung, S. 17  ; W. F. Bynum, Science and the Practice of Medicine in the Nineteenth Century, Cambridge 1994, S. 97 f. 135 Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 3  ; Winau, Medizin in Berlin, S. 139 f. Siehe auch Rudolf Virchow, Gedächtnisrede auf Joh. Lucas Schönlein, gehalten am 23. Januar 1865, dem ersten Jahrestage seines Todes in der Aula der Berliner Universität, Berlin 1865, S. 19 ff. Zur Bedeutung des Übergangs von der »Klinik-Medizin« zur »Labor-Medizin« siehe Andrew Cunningham/Perry Williams, Introduction, in  : dies. (Hg.), The Laboratory Revolution in Medicine, Cambridge 1992, S. 1–13, hier v. a. S. 1 ff. Zur Problematik des Epochenbegriffs der »romantischen Medizin« siehe Ugo D’Orazio, ›Romantische Medizin‹  : Entstehung eines medizinhistorischen Epochenbegriffs, in  : Medizinhistorisches Journal 32 (1997), S. 179–217. 136 Bleker, Biedermeiermedizin, S. 12. 137 Rothschuh, Deutsche Biedermeiermedizin, S. 180. 138 Bleker, Biedermeiermedizin, S. 15 f. Ähnlich forderte Virchow 1846 die Überwindung des »rohen Empirismus«, siehe ders., Ueber die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin (1847), (Gelesen in der Jahressitzung der Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin zu Berlin am 5. December1846.), in  : VA 1 (1847), S. 3–19, hier  : S. 9.

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einem Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen zu stilisieren und zugleich die Abgrenzung von der Naturphilosophie zu dramatisieren. Solche Interpretationen müssen als Bestandteil des Unterfangens gelesen werden, die eigene professionelle Identität zu gestalten. Beispielhaft ist ein im Dezember 1846 gehaltener Vortrag vor der »Gesellschaft für wissenschaftliche Medizin« in Berlin über die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medizin. Dort beschrieb Virchow die Auseinandersetzung der naturwissenschaftlichen Medizin mit der naturhistorischen Schule zugleich als eine Abkehr von der idealistischen Philosophie und eine Rückkehr zur Natur, die in der Geschichte der Medizin in drei Stufen erfolgt sei  : (…) das Stadium der Naturphilosophie, der Naturgeschichte und der Naturwissenschaft. (…) Die naturphilosophische Schule baute bekanntlich ihr medicinisches System auf ihr philosophisches (…) Die kommende Schule, welche sich selbst sehr bezeichnend die naturhistorische genannt hat, nahm bei ihrer Entwickelung einen Theil dieser Ansicht in sich auf, bildete dann insbesondere den Analogien-Beweis zu einer unerhörten Wichtigkeit aus (…) Darnach ist die Medicin auf dem wissenschaftlichen Standpuncte angelangt zu einer Zeit, wo auch die Philosophie zur Natur und zum Leben sich gewandt hat, und wie die Philosophie den Sinnen ihr altes Recht vindiciert hat, so hat die Medicin den Glauben abgeworfen, die Autoritäten cassirt und die Hypothese in ein häusliches Stillleben verbannt.139

Was Virchow hier als lineare Fortschrittsgeschichte der Medizin von der romantischidealistischen Naturphilosophie über die empiristische Naturgeschichte hin zu der von ihm vertretenen naturwissenschaftlichen Medizin schilderte, erweist sich bei genauerem Hinsehen als weit weniger eindeutig,140 und dies gilt auch für ihn selbst. Mehrfach wurde die Ambivalenz seiner Position überzeugend herausgearbeitet,141 womit zugleich die vor allem in den 1930er Jahren existierenden Bemühungen, Virchow in die Tradition einer »romantischen« Medizin einzuordnen, zurückgewiesen wurden.142 Sieht man einmal 139 Virchow, Ueber die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin, S. 6. 140 Vgl. dazu Nicholas Jardine, Naturphilosophie and the Kingdoms of Nature, in  : ders./J. A. Secord/E. C. Spary (Hg.), Cultures of Natural History, Cambridge 1996, S. 230–245, hier v. a. S. 244 f.; Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M. 51994, S. 100–105. 141 Timothy Lenoir verortet Virchow zwischen idealistischem Vitalismus und mechanistischem Materialismus. (Lenoir, The Strategy of Life. Teleology and Mechanics in Nineteenth-Century German Biology, Chicago u. London 1982.) Auch Heinz-Peter Schmiedebach verwies auf die bei Virchow aufzufindenden Spuren naturphilosophischer Auffassungen, insbesondere vitalistische Prinzipien. (Schmiedebach, »Ist nicht diese ganze zersetzende Naturwissenschaft ein Irrweg  ?«. Virchow und die Zellularpathologie, in  : Medizinhistorisches Journal 27 (1992), S. 26–42.) Andrew Zimmerman hebt schließlich hervor, dass zwar Virchows Verständnis der Natur auf Kant zurückging, die praktizierte Methode der Naturerkenntnis aber charakteristisch für Schelling und die Naturphilosophie war. (Zimmerman, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago u. London 2001, S. 62 ff.). 142 Siehe D’Orazio, ›Romantische Medizin‹, S. 212–215.

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von der Frage ab, inwieweit bestimmte Elemente des Vitalismus zu verschiedenen Zeiten eine Rolle in seinen Theorien spielten, so scheint in diesem Zusammenhang besonders wichtig, dass die Selbstinszenierung als Genie, die mit seinem naturwissenschaftlichen Neuerergestus verbunden war, ebenso stark von romantischen Konzeptionen der Wissenschaft zehrte wie das moderne Konzept des Forschungsimperativs überhaupt.143 Die Abgrenzung der »naturwissenschaftlichen« von der »naturphilosophischen« Methode fand somit vor allem auf der Ebene der Theorien und Epistemologien statt, während im Bereich der Praktiken enge Beziehungen bestanden. Inwieweit kann man also davon sprechen, dass Virchow einen spezifischen »Generationsstil« (Karl Mannheim) zwischen Romantik und Positivismus beziehungsweise zwischen Biedermeier und Realismus verkörperte  ? Dabei lässt sich zunächst an seiner Selbstbeschreibung ansetzen  : Im Verlaufe seines Lebens thematisierte er sich selbst immer wieder als Angehöriger einer bestimmten Generation. So charakterisierte er 1853 den generationellen Erfahrungshintergrund der nach den napoleonischen Kriegen Geborenen, die sich für besser und moralischer als ihre Vorgänger gehalten und in den vierziger Jahren an die Macht der Ideen und der öffentlichen Meinung geglaubt hätten. Diese »Generation, welche sich für die eigentlich rationelle und vernünftige angesehen hatte«, musste dann allerdings, so Virchow, in der Revolution ihre größte Erniedrigung erleben.144 Wie aber verhalten sich derartige subjektive Erfahrungen und Selbsteinschätzungen zu historischen Generationenmodellen  ? Für die historische Generationsforschung hat sich vor allem die Prägungshypothese als methodisch praktikabel erwiesen. Ein gemeinsames prägendes Schlüsselerlebnis wird dabei als generationsbildend für eine bestimmte Alterskohorte angesehen.145 Die größte Überzeugungskraft entfalten diejenigen Generationseinteilungen  – zumindest im Hinblick auf die deutsche Geschichte –, welche die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert zur Grundlage der Zäsurenbildung wählten.146 Diese Kriege bedeuteten zweifellos einen au143 Vgl. Jardine, Naturphilosophie and the kingdoms of nature, S. 244. 144 Rudolf Virchow, Autoritäten und Schulen, in  : VA 5 (1853), S. 3–12, hier  : S. 4. 145 Wilhelm Dilthey, Über das Studium der Geschichte der Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875), in  : ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 37. Karl Mannheim, Das Problem der Generationen (1928), in  : ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingel. u. hrsg. v. Kurt H. Wolff, Berlin u. Neuwied 1964, S. 509–565. Siehe dazu zusammenfassend Hans Jaeger, Generationen in der Geschichte. Überlegungen zu einer umstrittenen Konzeption, in  : Geschichte und Gesellschaft 3 (1977), S. 429–452  ; Alan B. Spitzer, The Historical Problem of Generations, in  : American Historical Review 78 (1973), S. 1353– 1385. 146 Vgl. etwa Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 25–31, dort werden neben dem Ersten Weltkrieg auch die Reichsgründung als Messlatte gebraucht  ; Heinz Bude, Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfergeneration, Frankfurt a. M. 1987. Eine Ausnahme bildet etwa Alan B. Spitzer, The French Generation of 1820, Princeton 1987, der 183 zwischen 1792 und 1803 in Frankreich geborene Männer auf ihren generationellen Zusammenhang untersucht.

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ßerordentlich tiefen Einschnitt in der Erfahrung der Beteiligten. Hinzu kommt, dass vor allem für Männer die Militärpflicht diese Erfahrung bereits nach Jahrgängen vorstrukturierte und so die Zufälligkeit des Geburtsjahrs gleichsam für eine »Uniformierung« von Erfahrung sorgte. Generationenmodelle von ähnlicher Überzeugungskraft wurden für das 19. Jahrhun­ dert bislang noch nicht vorgelegt. Am wichtigsten sind dabei – im Hinblick auf Deutschland  – Versuche, die Revolution von 1848 beziehungsweise die Reichsgründung als derartige generationsbildende Erfahrungen zu bestimmen.147 Doch erreichen darauf basierende Generationstypisierungen aus verschiedenen Gründen nicht dieselbe Prägnanz  : Vor allem war die vergemeinschaftende Erfahrung dieser Ereignisse weniger stark an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Alterskohorte gebunden. Zudem lässt sich prinzipiell einwenden, ob nicht das Konzept der Generation die neue Erfahrung der »Jugend« voraussetzt, die erst um 1900 auftrat und damit für das 19. Jahrhundert von vornherein nur mit großer Zurückhaltung angewendet werden kann – zumindest fehlte damit noch die erst im 20. Jahrhundert auftretende Möglichkeit, sich einfach selbst zu einer »politischen Generation« zu erklären.148 Eine mögliche Alternative bildet deshalb, die Frage tiefer zu hängen und nach konkreten sozialen und intellektuellen Gruppenzusammenhängen zu fragen, innerhalb derer eine Alterskohorte solche gemeinsamen prägenden Erfahrungen machen konnte. So wird bei Virchow im Kontext wissenschaftlicher Schulenbildung ein Generationszusammenhang gerade dort deutlich, wo ihn Karl Mannheim, der die Geisteswissenschaften und die mit ihnen verbundenen Intellektuellen für die Zentren der Generationsbildung erachtete, für schwer auffindbar hielt  : nämlich im Bereich der exakten Naturwissenschaften.149 Dort bildete Virchow, wie gesagt, Teil eines von der Generation der um 1820 Geborenen maßgeblich mitgetragenen Paradigmenwechsels zur naturwissenschaftlichen Medizin, während er zugleich Reste naturhistorischen, romantischen Denkens aufwies. Eine übergreifende, sozusagen »zeitgeistverdächtige« Generationszuordnung, bleibt dagegen aus den genannten Gründen immer ein Stück weit methodisch schwer zu erhärtende Spekulation, so reizvoll es auch sein mag, sich daran zu versuchen.

147 So bereits bei Georg Brandes, Zwei Generationen. Gegensatz und Gemeinsamkeit, 18.3.1878, in  : ders., Berlin als deutsche Reichshauptstadt. Erinnerungen aus den Jahren 1877–1883, hrsg. v. Erik M. Christensen/ Hans-Dietrich Loock, Berlin 1989, S. 112–119. Vgl. auch Martin Doerry, Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreiches, 2 Bde., Weinheim 1986. 148 Paul Nolte, 1900  : Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 281–300, hier  : S. 287  ; Benjamin Möckel, Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die »Kriegsjugendgeneration« in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014. 149 Mannheim, Problem der Generationen, S. 561 u. 564.

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2.1.3 Gesellschaftliche Krise und Karrierechancen

Betrachtet man Virchow als Teil einer derartigen Kohorte, so stellt sich die Frage, wie es ihm gelang, aus dem Rudel der hochbegabten Müller-Schüler auszubrechen. Dies war ihm zunächst keinesfalls vorbestimmt  : Als Pépin war Virchow zunächst für die Laufbahn eines Militärarztes vorgesehen, deren Anteil an der preußischen Ärzteschaft Ende der vierziger Jahre etwa 15  Prozent betrug.150 Nach seiner Promotion 1843 folgte das vorgeschriebene Praxisjahr an der Charité, wo er alle Stationen durchwanderte. Noch im März 1844 bekannte er, dass er keinen besonderen Plan besaß, »als wo möglich zur Cavallerie zu gehen« und nach zwei- bis dreijährigem Garnisonsdienst eine ärztliche Zivilpraxis zu eröffnen.151 Bei dieser Schilderung handelte es sich um die damalige ärztliche Normallaufbahn eines Absolventen der Pépinière ohne besondere gesellschaftliche Beziehungen beziehungsweise großzügigen finanziellen Hintergrund. Zu einem Bruch mit seiner zunächst durchaus vorhandenen Neigung, »die lange Chaussee der militärärztlichen Heerstraße fortzuwandeln«, kam es erst, nachdem Virchow 1844 unter Anleitung des Prosektors Robert Froriep mit selbständiger wissenschaftlicher Arbeit begonnen hatte und das Leichenhaus der Charité verwaltete. Dort führte er auch die für die Krankenabteilung der Charité erforderlichen chemischen und mikroskopischen Untersuchungen durch.152 Es liegt nahe, dieser Erfahrung eine wichtige Rolle für seinen Sinneswandel zuzuschreiben. Durch das mit der Tätigkeit bei Froriep verbundene wissenschaftliche Training sowie die damit verbundene Integration in eine Forschergemeinschaft begann Virchow allmählich eine neue professionelle Identität zu entwickeln. Aber noch im Sommer 1845 erklärte er seinem Vater, dass er die militärische Laufbahn einer wissenschaftlichen Laufbahn an der Universität vorziehe.153 Doch bald darauf änderte er seine Meinung und äußerte den Wunsch, sich der militärischen Verpflichtungen zugunsten einer zivilen wissenschaftlichen Laufbahn zu entledigen. Damit folgte er einem relativ neuen Leitbild, begann doch wissenschaftliche Forschung erst seit Mitte der 1830er Jahre in Deutschland zu einer regulären Karriere zu werden,154 und erst 1833 hatte William Whewells History of the Inductive Sciences den Begriff »scientist« eingeführt.155 Sollte das Vorhaben einer Karriere als Wissenschaftler scheitern, so bliebe ihm, wie Virchow, der gerade sein Staatsexamen begann, seinem Vater im Oktober 1845 Ackerknecht, Beiträge zur Geschichte der Medizinalreform, S. 119. R. Virchow an Carl Virchow, 8./16.3.1844, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 242. Oscar Israel, Rudolf Virchow. 1821–1902, in  : Deutsche Rundschau 29 (1902), H. 3, S. 361–379, hier  : S. 365. R. Virchow an Carl Virchow, 24.7.1845, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 268. Joseph Ben-David, Scientific Productivity and Academic Organization in Nineteenth Century Medicine, in  : American Sociological Review 25 (1960), S. 828–843, S. 842. 155 William Whewell, History of the Inductive Sciences. From the Earliest to the Present Time, 2 Bde., 3., erweit. Aufl., New York 1866. Vgl. dazu auch Ulrike Felt/Helga Nowotny/Klaus Taschwer, Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt a. M. u. New York 1995, S. 39–43. 150 151 152 153 154

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schrieb, »nur das Verdienst, unter den möglichst ungünstigen Bedingungen mehr als das Gewöhnliche gewollt zu haben, u. mich von der Menge der Alltags-Menschen, wie Dein Bruder sie nennt, abgewendet zu haben«156. Mit diesen Anklängen an den romantischen Geniekult beteiligte er sich an der Stilisierung des Wissenschaftlers als eines vom Alltäglichen abgekehrten Charismatikers.157 Starke Ermutigung, sich einer wissenschaftlichen Karriere zuzuwenden, lieferte der Erfolg zweier Reden, die der damals 23-jährige Virchow 1845 am medizinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelm-Institut hielt und in denen er erstmals öffentlich den Anspruch als wissenschaftlicher Innovator erhob. Der Institutsdirektor, Generalarzt und Königlich Geheimer Medizinalrat Gottlieb Wilhelm Eck, hatte die erste Rede Virchows am 3. Mai 1845 zum Anlass des 95.  Geburtstags des Institutsstifters Johann Goercke durchgesehen und gebilligt, wenngleich er Ton und Haltung eher einem Mitglied der Akademie von Frankreich angemessen empfand. Virchow präsentierte hier sein wissenschaftliches Glaubensbekenntnis und zeichnete ein streng mechanisch konstruiertes Bild des menschlichen Organismus und der Medizin. Die praktische Medizin sollte demnach vor allem eine angewandte Naturwissenschaft sein. Dazu gehörte ihre Begründung auf Anatomie und Physiologie sowie »die Zurückführung ihrer Erfahrungen auf die Lehrsätze der Physik und Chemie«158. Mit aufklärerischem Pathos richtete Virchow das »Licht der Wissenschaft« gleichermaßen gegen medizinischen Aberglauben, den er in »Homöopathie und Hydropathie, Magnetismus und Exorcismus – Phantome(n) des Mittelalters« verkörpert sah, wie gegen die »Uebergläubigen in Theorie und Praxis, denen eine Autorität über alles geht«159. Damit stilisierte er sich selbst zum Bannerträger einer medizinischen Avantgarde. Die dergestalt rhetorisch als Hort des Alten traktierte preußische Militärmedizin behandelte Virchow jedoch nicht als Feind, sondern ganz im Gegenteil als Hoffnungsträger. So beauftragte ihn Eck bald erneut mit einer Rede, die er bei der Veranstaltung anlässlich des 50. Geburtstags des Friedrich-Wilhelm-Instituts am 2. August 1845 hielt. Vor einem großen und hochgestellten Publikum, darunter neben zahlreichen Militärs das medizinische Establishment Berlins, radikalisierte Virchow seine Thesen  : Die Medizin von 1795. existirt nicht mehr, es sei denn bei einer gewissen Klasse heilkünstlerischer Laien (…) Die Medizin von 1845. strebt dahin, sich als eine angewandte Naturwissenschaft wieder den Platz zu erringen, der ihr vermöge der Würde und der Bedeutung ihres 156 R. Virchow an Carl Virchow, 15.10.1845, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 272 f. 157 Lepenies, Ende der Naturgeschichte, S. 213  ; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51976, S. 140–142. 158 Rudolf Virchow, Vorrede, in  : Rudolf Virchow, Medizin und Naturwissenschaft. Zwei Reden 1845. Mit einer Einführung von Werner Scheler, Dokumente der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. Christa Kirsten/Kurt Zeisler, Berlin 1986, S. 59. 159 Ders., Rede am 3.5.1845, ebenda, S. 60.

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Objektes, des Menschen, wohl gebührt  ; die Einigung der Medizin mit den übrigen Naturwissenschaften ist die große Frage der ärztlichen Gegenwart.160

Auf diese Weise dramatisierte er den Gegensatz von alter und neuer Medizin und verteidigte zugleich die hier verkündete »mechanische Medizin«, welche die Lebensvorgänge auf physikalische oder chemische Vorgänge zurückzuführen suchte, gegen den Vorwurf des Materialismus, indem er den Menschen als ein »Zellensystem mit Seele« definierte.161 Mit diesen und anderen Erklärungen, die den vom preußischen König geförderten Tendenzen zur Rechristianisierung von Wissenschaft und Gesellschaft entgegengesetzt waren, erzielte Virchow die gewünschte Provokation  : »Die alten Militärärzte wollten aus der Haut fahren ob so neuer Weisheit  ; daß das Leben so ganz mechanisch construirt werden sollte, schien ihnen vollkommen umwälzerisch, wenigstens ganz unpreußisch«, schrieb Virchow seinem Vater. Dabei schien ihm dieser Tag doppelt wichtig  : »einmal der Anerkennung wegen, die immer schmeichelhaft, (…) und dann, weil ich die Leute nie für so dumm gehalten hätte, als mir das an diesem Tage klar geworden ist«162. Doch angesichts starker Kräfte im militärmedizinischen Establishment und preußischen Kultusministerium, die auf eine Reform der Medizin setzten und Virchow deshalb protegierten, handelte es sich bei diesen Reden um ein begrenztes, vielleicht auch kalkuliertes Risiko. Der Gestus der radikalen wissenschaftlichen Innovation schien in der politisch angespannten Situation des Vormärz auch verbunden mit einem gewissen Maß an politisch kritischen Untertönen eine erfolgversprechende Karrierestrategie. Dies steht vor dem Hintergrund der Krisensituation des Vormärz. Die Thronbesteigung durch Friedrich Wilhelm IV. 1840 und die nachfolgende vorübergehende Phase der Liberalisierung des öffentlichen Lebens hatten in Berlin zunächst große Hoffnungen geweckt. Die damit in Gang kommende Politisierung der Gesellschaft lässt sich auch an den Geschenken ablesen, die der 19-jährige Virchow in diesem Jahr seinen Eltern schickte  : Einerseits ein Bildnis des königlichen Herrscherpaares, dann aber auch eine Abschrift des Rheinliedes von Nikolas Becker (»Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein«) sowie ein weiteres politisches Spottlied desselben Autors. Dies kommentierte er mit dem Hinweis auf die zunehmende politische Gärung,163 wobei die nationalistische Aufwallung der Rheinkrise offensichtlich eine enge Verbindung mit der immer größer werdenden »Unzufriedenheit mit König und Aristokratie«164 einging. Auch die Pépinière bildete dabei keine Ausnahme, denn, wie Virchow im Januar 1841 an seinen Vater

160 161 162 163 164

Ders., Rede am 2.8.1845, ebenda, S. 67. Ebenda, S. 69. R. Virchow an Carl Virchow, 27.8.1845, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 269. R. Virchow an Carl Virchow, 21.12.1840, Druck  : ebenda, S. 107. R. Virchow an Carl Virchow, 23.2.1841, Druck  : ebenda, S. 114.

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schrieb, herrschte hier »jetzt ein sehr kräftiger, aber rebellischer Geist«, auch wenn sich dieser vorerst lediglich in einer gemeinsamen Beschwerde über das Essen übte.165 Virchow teilte die sich zur Mitte des Jahrzehnts hin unter den Studenten ausbreitende Begeisterung zur verbotenen Lektüre und las etwa die Deutschen Jahrbücher des Linkshegelianers Arnold Ruge.166 Die wachsende Politisierung griff bald auch auf seine wissenschaftlichen Aktivitäten über. So fügte er seiner 1843 gedruckten Doktorarbeit als erste These an  : »Nisi qui liberalibus rebus favent, veram medicinae indolem non cognoscunt« – sprich  : nur der liberal Gesinnte vermöge die Natur der Medizin zu erkennen –, was er noch ein halbes Jahrhundert später als Beleg für die Konstanz seiner Auffassung über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik zitierte.167 Und als es um die Jahreswende 1843/44 zu einer Anzahl, so Virchow, »großartiger Studenten-Versammlungen« kam, auf denen Vorträge über politische Zeitfragen gehalten, aber auch Vorschläge zur Universitätsreform entwickelt wurden, nahm er gleichfalls enthusiastisch teil.168 Gleichzeitig schwärmte er von den neuen Gedichten Ferdinand Freiligraths, die »durch ihren begeisternden Ton« das oppositionelle Feuer anfachten.169 Bereits Ende 1844 beschrieb Virchow das um sich greifende Krisengefühl  : »[D]ie Gesellschaft wird sich allmächlich der Schrecken bewußt, die gegen sie anrücken, und die Opfer, welche der Uebermuth der gewalthabenden Partei täglich fordern, machen die Gemüther nur verbissener.«170 Zunehmend stellte er auch naturale Zyklen mit politischen Ereignissen in Zusammenhang und kommentierte beispielsweise 1846 die gegenwärtigen Ernteaussichten seines Vaters  : »Man interessirt sich hier jetzt lebhaft für solche Dinge, denn seitdem die GeldCalamität immer grösser wird, u. die politisch-socialen Verhältnisse sich immer mehr verwickeln, die Aussichten in die Zukunft sich bedrohlicher gestalten, hat man begriffen, dass auch eine Erndte ein politisches Ereigniß sein kann.«171 Auch für die »soziale Frage« wurde er etwa seit 1844 immer aufmerksamer. Allerdings diente ihm diese vor allem als Bezugsrahmen, um seine eigene Lage zu interpretieren, denn auch auf seiner im April 1843 angetretenen Stelle als Assistenzarzt an der Charité empfand Virchow weiterhin drückende finanzielle Abhängigkeit. Von den 25 Talern, die 165 R. Virchow an Carl Virchow, 24.1.1841, Druck  : ebenda, S. 111. 166 R. Virchow an Carl Virchow, 26.1.1843, Druck  : ebenda, S. 208. 167 Rudolf Virchow, Ansprache zum 50-jährigen Doktor-Jubiläum, VBGAEU, 1893, S. 361. Die achte These dort lautete  : »Pomerianiae petrifacta glacie primordiali (Agassiz) disjecta.« Virchow, De rheumate praesertim corneae. 168 R. Virchow an Carl Virchow, 8./16.3.1844, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 243  ; sowie Hachtmann, Berlin 1848, S. 93 f. 169 R. Virchow an Carl Virchow, 11.10.1844, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 249 f. 170 R. Virchow an Carl Virchow, 15./17.12.1844, Druck  : ebenda, S. 258. 171 R. Virchow an Carl Virchow, 13.8.1846, in  : ebenda, S. 289 f. Vgl. dazu auch Ernst Wolfgang Becker, Zeit der Revolution  ! – Revolution der Zeit  ? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen 1789– 1848/49, Göttingen 1999.

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er monatlich erhielt, wurden ihm für Kost, Wohnung und anderes so viel abgezogen, dass ihm nur 5 Taler blieben.172 Zwar kam ein einmaliges Stipendium der Kösliner Regierung in Höhe von 20 Talern hinzu, doch betrugen allein die Gebühren für die Promotion 130 Taler, die durch weitere Kosten – vom Drucken der Dissertation bis zu den Ausgaben für einen Doktorschmaus – schließlich etwa 200 Taler verschlang.173 So beklagte sich der junge Assistenzarzt im Juli 1845 gegenüber seinem Vater, dass er noch immer auf dessen finanzielle Unterstützung angewiesen sei und führte dies auf die politischen Verhältnisse zurück  : »Nur Privatpersonen, Privatgesellschaften und Privatstaaten vermögen das Individuum nach seinem Verdienst d. h. nach seiner Arbeit zu belohnen  ; im Polizeistaat wird das immer eine Unmöglichkeit sein, da das Geld immer fehlen wird.« Bei der Eisenbahn verdienten junge Männer seines Alters an einem Tag so viel wie er in einem Monat. Virchow versuchte seinem Vater, einem grummelnden Konservativen in der pommerschen Provinz, den die allmähliche politische Radikalisierung seines Sohnes in der Hauptstadt zunehmend besorgte, verständlich zu machen, »daß dieß wirklich unerhörte Proletariat mich auf die Ursachen eines solchen Zustandes zurückblicken lässt. Ein Zimmergeselle verdient täglich 16 sgl. u. ich 5 sgl. Daß ich unter solchen Verhältnissen meine socialen Ansichten nicht ändern kann, liegt sehr nahe, wenn ich nicht außerdem durch Vernunftgründe zu demselben Endpunkt gelangte.«174 In diesen Ausführungen vermischten sich die relative Deprivation des schlechtbezahlten Jungarztes und herumschwirrende demokratische und liberale Ideen. Zudem macht diese Bemerkung deutlich, dass sich Virchow in seiner Zeit als Assistenzarzt in seiner sozialen Selbsteinschätzung als »Proletarier der Geistesarbeit« fühlte, um eine wenige Jahre später von Wilhelm Heinrich Riehl geprägte Formulierung aufzugreifen, der diese Gruppe, zu der er auch »verhungernde akademische Privatdocenten« zählte, unter anderem durch eine »Vermengung und Verwechselung der politischen mit der socialen Opposition« charakterisierte.175 Bereits im Gefolge der Julirevolution 1830 war es zur Spaltung im politisch aktiven Bürgertum zwischen den meist über Universitätsausbildung verfügendenden Bürgern im Staatsdienst und der freiberuflichen bürgerlichen Intelligenz gekommen. Dazu gehörten insbesondere Schriftsteller und Dichter, Anwälte, Ärzte, »ferner Apotheker, stellenlose und verhinderte Akademiker vom Studenten bis zum Privatdozenten«, von denen sich viele bereits im Vormärz der außerparlamentarischen Vereinsorganisation und der oppositionellen Publizistik widmeten.176

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R. Virchow an Carl Virchow, 14.5./3.6.1843, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 220 ff. R. Virchow an Carl Virchow, 30.7.1843, Druck  : ebenda, S. 225 f. R. Virchow an Carl Virchow, 24.7.1845, Druck  : ebenda, S. 265. Wilhelm Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart, 2., neu bearbeit. Aufl. 1854, S.  305–341, hier  : S. 305 u. 328. 176 Wolfram Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt a. M. 1985, S. 28 f. Vgl. auch Hans H. Geerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus, Göttingen 1976.

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Wegen der Unterdrückung politischer Vereine auf dem Gebiet des Deutschen Bundes seit den Karlsbadern Beschlüssen von 1819 sowie dem Bundesbeschluss von 1832 spielten für die sich im Vormärz formierende bürgerliche Öffentlichkeit nicht-politische Vereine, darunter insbesondere auch wissenschaftliche Vereine, eine wichtige Rolle. Virchow wurde unter anderem Mitglied der 1845 gegründeten »Berliner Physikalischen Gesellschaft«, deren Zusammensetzung gleichsam »einen Querschnitt durch die entstehende Fortschrittspartei in Berlin« legte.177 Das Ziel dieses Kreises war jedoch vor allem die disziplinäre Verselbständigung der organischen Physik, weshalb Virchow hier keine große Rolle spielte. Wichtiger war dagegen die Aufnahme in den Kreis um den bekannten Berliner Gynäkologen und Geheimen Sanitätsrat Carl Mayer. Dieser hatte 1844 die »Gesellschaft für Geburtshülfe« in Berlin gegründet und Anfang 1846 Rudolf Virchow und Benno Reinhardt zur Mitarbeit gewonnen und für diese eigens den Status eines »ausserordentlichen Mitglieds« geschaffen. Mayer als erstem Präsidenten stand Medizinalrat Josef Hermann Schmidt als Vizepräsident zur Seite, der zunächst Virchows einflussreicher Förderer war, aber 1848, vermutlich im Gefolge eines politischen Zerwürfnisses mit diesem, den Verein verließ.178 Dies war zugleich symptomatisch für die große Rolle derartiger Kontakte mit reformbereiten Beamten in der angespannten Situation des Vormärz. Der Kreis um Mayer und dessen Frau war für Virchow in wissenschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht außerordentlich wichtig. Die Gesellschaft für Geburtshülfe in Berlin spielte – neben dem Verein für wissenschaftliche Medizin, dem er gleichfalls angehörte – eine wichtige Rolle als Forum der jungen, naturwissenschaftlich orientierten Ärzte. Hinzu kam, dass Mayer in seinem Haus eine biedermeierliche Salonkultur kultivierte, die sich zugleich in ganz erheblichem Maße mit Heiratskreisen überschnitt. (Virchow heiratete 1850 eine Tochter der Mayers.) Zum geselligen Kreis der Mayers gehörten neben zahlreichen Ärzten auch hohe Beamte wie der mit ihm verschwägerte Henry Illaire und dessen Bruder Emile Illaire, der eine Geheimer Hofrat, der andere Geheimer Kabinettsrat und langjähriger Chef des Zivilkabinetts Friedrich Wilhelms IV. und Wilhelms I., sowie Künstler wie die gleichfalls mit ihm verschwägerten Eduard Daege und Eduard Steinbrück. Als Virchow in diesen illustren Kreis eintrat, war eine jüngere Generation in den Vordergrund gerückt, darunter der Arzt Ludwig Ruge 177 Timothy Lenoir, Soziale Interessen und die organische Physik von 1847, in  : ders., Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. u. New York 1992, S. 18–52, hier  : S. 33  ; ders., Laboratories, Medicine and Public Life in Germany, 1830–1849, in  : Cunningham/Williams (Hg.), The Laboratory Revolution in Medicine, S. 14–71, hier  : S. 62. 178 Hans H. Simmer, Zum Politiker Virchow und der Berliner Gesellschaft für Geburtshülfe im Jahre 1848, in  : Sudhoffs Archiv 76 (1992), S. 232–235, hier  : S. 235  ; ders., Der junge Rudolf Virchow und die Gesellschaft für Geburtshülfe in Berlin in den Jahren 1846 bis 1848, in  : Sudhoffs Archiv 77 (1993), S. 72–96, hier  : S. 75. Siehe dazu auch Rudolf Virchow, Gedächtnisrede auf Carl Mayer, gehalten am 25. Juni 1868 von Rudolf Virchow, Berlin 1869.

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(ein Bruder Arnold Ruges) sowie der spätere Berliner Oberbürgermeister Karl Theodor Seydel. Mit beiden war Virchow später auch verschwägert, da diese gleichfalls Töchter der Mayers heirateten. Weiter gehörten zu diesem Kreis liberale Ärzte wie Hans Wegscheider, Friedrich Körte und Paul Langerhans sen., aber auch bekannte Liberale und Demokraten wie Berthold Auerbach, Georg Fein, Franz Löher und Arnold Ruge, die sich bei ihren Besuchen in Berlin anschlossen. In den vierziger Jahren wurden dort politische Themen immer wichtiger, wobei Carl Mayer selbst liberale Grundauffassungen vertrat.179 Die immer weiter um sich greifende Politisierung erfasste alle gesellschaftlichen Schichten, und Forderungen nach einer Verfassung sowie nach Presse- und Religionsfreiheit ließen sich nicht mehr aus der immer stärker zum politischen Faktor werdenden öffentlichen Meinung verdrängen. Doch war die sich im Vormärz formierende »Partei des Fortschritts« noch recht diffus, und die Ausdifferenzierung der späteren Parteienlandschaft der Revolution in Liberale, Demokraten einerseits und Konservative andererseits konnte, nicht zuletzt aufgrund der staatlichen Restriktionen, noch nicht stattfinden.180 Zugleich war sich die Kritik darin einig, die romantizistisch-pietistisch gefärbten Versuche Friedrich Wilhelms  IV., politische Reformen abzuwenden und dagegen die Vision eines »christlich-germanischen Staates« zu setzen, zu verwerfen. Diese Auseinandersetzung wirkte auch in die unmittelbare Umgebung Virchows hinein, als 1843 auf königliche Initiative hin Diakonissen in die Charité einzogen, die dort nicht allein Krankenpflege betreiben, sondern zugleich eine moralische Mission erfüllen sollten. Allerdings mussten diese auf Druck der öffentlichen Meinung – dieses »Despoten, der sich gegen das Unternehmen erklärt hat«, bald wieder abberufen werden.181 Die protestantischen »Lichtfreunde«, die sich aus Opposition gegen die erzwungene »konservativ-theologische Rückbesinnung« gebildet hatten, fanden auch im Berliner Bürgertum und im Magistrat, der sich hier gegen den König stellte, breiten Rückhalt.182 Selbst der ansonsten durchaus monarchisch gesinnte Onkel, Major Virchow, hielt es in diesem Konflikt, »wie jeder Gebildete hier«, entschieden mit den ersteren und besaß eine große Sammlung von Broschüren zu diesen religiösen Streitigkeiten.183 All dies mündete aber »keineswegs generell in ein revolutionäres Bewusstsein«184. Auch Virchow regist179 Siehe dazu die Angaben bei Virchow, Gedächtnisrede auf Carl Mayer, S. 23 f.; Friedrich Seydel, Unsere Familie. Gesammeltes und Erlebtes, (als Manuskript gedruckt), Halle a. d. S., um 1907, S. 87–96  ; Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 8. 180 Hachtmann, Berlin 1848, S.  96 f. Siemann betont dagegen, dass sich bereits im Vormärz die Spannung zwischen dem demokratisch-revolutionären und dem liberal-konstitutionellen Weg entwickelt habe. Siehe Siemann, Die deutsche Revolution, S. 28 f. 181 R. Virchow an Carl Virchow, 14.5./3.6.1843, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 217–222  ; vgl. auch Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht, S. 123–141. 182 Hachtmann, Berlin 1848, S. 103 ff. 183 R. Virchow an Carl Virchow, 15.10.1845, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 273. 184 Hachtmann, Berlin 1848, S. 111.

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rierte zwar, dass die bestehenden politischen Verhältnisse schrittweise delegitimiert wurden, und sprach wiederholt aus, dass allgemeine tiefgreifende politische Veränderungen erwartet wurden. Der Ausbruch der Revolution, zumindest zu ihrem tatsächlichen Zeitpunkt, überraschte ihn trotzdem.185 Zugleich beeinflusste die politische und gesellschaftliche Krisensituation des Vormärz in mehrfacher Hinsicht seine Karriere. Teile des militärmedizinischen Establishments und der Kultusbürokratie versuchten, auch im Bereich der Wissenschaft eine Art von »defensiver Modernisierung« (Hans-Ulrich Wehler) durchzuführen, die neuartige Chancen für die Institutionalisierung von Disziplinen und Forscherkarrieren eröffnete. Damit wird zugleich die Zeit des Vormärz gegenüber einer Auffassung aufgewertet, wonach in Deutschland erst nach der Revolution staatliche Modernisierungsimpulse eine wesentliche Rolle für die Disziplinenbildung beziehungsweise Institutionalisierungsprozesse gespielt hätten.186 Die genannten Kräfte versuchten, die Modernisierung der Medizin als Reform von oben durchzuführen und dabei zugleich die unerwünschte soziale und politische Radikalisierung abzublocken und setzten dabei zeitweilig große Hoffnungen auf Virchow. Indem Militärmedizin und Kultusbürokratie dieses mitunter als »enfant terrible« auftretende Talent unter ihre Fittiche nahmen, hofften sie, den in ihrer Sicht bedrohlichen Entwicklungen die Spitze abzubrechen. Diese Koalition kam Virchow schließlich auch zu Hilfe, als ihm Robert Froriep Ende 1845 signalisierte, dass er sein Amt als Prosektor der Charité aufgeben wolle und ihn als Nachfolger wünsche.187 Eine derartige Ernennung kam ungewöhnlich früh. Virchow empfahl sich selbst bei Kultusminister Karl Friedrich Eichhorn und argumentierte vor allem mit wissenschaftlichen Erfordernissen  : Um die pathologischen Anatomie weiter zu entwickeln, sei es erforderlich, mikroskopische und chemische Untersuchungen mit klinischen Erfahrungen zu verbinden.188 In einer Bitte um eine persönliche Audienz bei Eichhorn setzte der 24-jährige Virchow unbescheiden hinzu  : »Die Bedeutung, welche diese Sache nicht blos für mich, sondern, wie es mir scheint, auch für unsere Wissenschaft hat, wird vielleicht auch in Ihren Augen einigermaßen meine Zudringlichkeit entschuldigen helfen.«189 185 Siehe etwa R. Virchow an Carl Virchow, 17.6.1847, 13.2.1848 u. 11.3.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 302– 304  ; ebenda, S. 311 f.; ebenda, S. 322 ff. 186 Vgl. dazu Gert Schubring/Erika Hültenschmidt, Vorwort, in  : Schubring (Hg.), ›Einsamkeit und Freiheit‹ neu besichtigt. Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S. 9–23  ; R. Steven Turner, German Science, German Universities  : Historiographical Perspectives from the 1980’s, in  : ebenda, S. 24–36. 187 R. Virchow an Carl Virchow, 14.12.1845, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 275  ; Manfred Stürzbecher, Die Prosektur der Berliner Charité im Briefwechsel zwischen Robert Froriep und Rudolf Virchow, in  : ders. (Hg.), Beiträge zur Berliner Medizingeschichte, Berlin 1966, S. 156–220. 188 Virchow an Karl Friedrich Eichhorn, 15.3.1846  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII D Kultusministerium, Nr. 77 (M), Bl. 223 f. 189 Virchow an Eichhorn, 15.4.1846  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII D Kultusministerium, Nr. 77 (M), Bl. 236.

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Sein selbst von guten Freunden gelegentlich als exzessiv kritisiertes Selbstbewusstsein190 stützte sich vor allem darauf, dass er sich selbst als wissenschaftlichen Innovator einschätzte. Doch nährte es sich auch aus der Protektion, die Virchow vor allem seitens der Spitzen der preußischen Militärmedizin erfuhr. Für die preußische Militärmedizin handelte es sich bei der Besetzung der Prosektur mit Virchow, den sie als einen der ihren ansah, um einen wichtigen »Schachzug (…) gegen ein Eindringen von Zivilärzten«191. Das Kultusministerium entschloss sich nach einigem Zögern dazu, Virchow im Mai 1846 die Prosektorenstelle an der Charité zunächst provisorisch192 und zum April des folgenden Jahres interimistisch zu übertragen, und somit leitete er nun als Nachfolger Frorieps das dortige Leichenhaus. Zugleich wurde er aus dem militärärztlichen Dienst entlassen.193 Anfang 1846 hatte Virchow auch sein Staatsexamen abgelegt, das zu dieser Zeit erst nach erfolgter Promotion angetreten werden konnte und gleichfalls mit hohen Kosten verbunden war. Allerdings handelte es sich um eine gute Investition, da Virchow anschließend berechtigt war, Privatkurse zu halten und damit über eine neue Einnahmequelle verfügte. Das Jahr 1847 bildete deshalb für Virchows finanzielle Situation eine wichtige Zäsur, weil er nach seiner im Vorjahr zunächst provisorisch erfolgten Anstellung als Prosektor der Charité diese Position auf Widerruf erteilt bekam. Er bezog nun eine größere Dienstwohnung, die ihm mit Heizung und Kost frei gestellt wurde und erhielt vom 1. Januar an 300 Taler jährlich als Vergütung. Im Februar 1847 genehmigte das preußische Kultusministerium auch Virchows Antrag auf vorzeitige Meldung zur Habilitation, die sonst erst drei Jahre nach erfolgter Approbation als praktischer Arzt hätte erfolgen können.194 Noch im selben Jahr wurde er unter dem Vorsitz des Dekans Johannes Müller an der Friedrich-Wilhelms-Universität zum Privatdozenten habilitiert. So bezog er nunmehr auch Einnahmen aus seiner im April 1847 erstmals gehaltenen pathologisch-anatomischen Vorlesung, die allerdings im Revolutionsjahr 1848 wieder rückläufig waren.195 Damit stand er erstmals finanziell auf eigenen Beinen. Nunmehr kehrte sich auch das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater um  : Seither schickte Virchow ihm bis zu 190 Alexander von Frantzius an Virchow, 14.1.1848, Druck  : Christian Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, Briefe Virchows und seiner Zeitgenossen, Berlin 1976, S. 97–101, hier  : S. 101. 191 Schmiedebach, Robert Remak, S. 275  ; vgl. auch Reiner Neuhaus, Militärassistenzärzte. Die Militärassistenzärzte der Berliner Charité (1727–1920), Diss. med. München 1971, S. 125. 192 Lohmeyer an Eichhorn, 6.4.1846  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII D Kultusministerium, Nr. 77 (M), Bl. 228– 233  ; Mitteilung des Kultusministeriums an Direktion der Charité, 11.5.1846  : ebenda, Bl. 237  ; Virchow an Froriep, 2.8.1846  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2424. 193 Charité-Direktion an Eichhorn, 1.3.1847  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII D Kultusministerium, Nr. 117 (M), Bl. 120–121  ; Eichhorn an Charité-Direktion, 27.3.1847  : ebenda, Bl. 136. 194 Eichhorn an die medicinische Fakultät der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität, 10.2.1847  : AHUB, Medizinische Fakultät, Nr. 1333, Bl. 3. 195 R. Virchow an Carl Virchow, 18.5.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 351.

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dessen Tod im Jahre 1864 regelmäßig Geld. Die ersten Jahre tat er dies mit einigem Stolz und freiwillig, doch begann er später immer lauter über dieses anscheinend bodenlose Fass zu murren, zumal sein Vater die Zuwendungen seines nach seiner Auffassung gut verdienenden Sohnes immer heftiger einforderte.196 Zu der ungewöhnlich schnellen Karriere Virchows bis zum Vorabend der Revolution hatte schließlich auch beigetragen, dass er im Kultusministerium gleichfalls wichtige Förderer besaß, namentlich den schon erwähnten vortragenden Rat und geheimen Medizinalrat Joseph Hermann Schmidt.197 Dieser hatte im Sommer des Jahres 1846 selbst eine pseudoradikale Schrift über die Medizinalreform verfasst198 und gehörte damit zu jenen Kräften in der preußischen Bürokratie, die auf begrenzte Reform zur Abwehr der politischen Krise setzten.199 Schmidt kritisierte unter anderem das bestehende System der Trennung in einen militärischen und zivilen Zweig der Medizin sowie das damit verbundene Modell der Rotation der Militärassistenzärzte an der Charité. In dieser auf Generalisten zielenden Ausbildung sah Schmidt die Wurzel der wissenschaftlichen Bedeutungslosigkeit der Charité, wovon etwa die Tatsache zeuge, dass dort trotz des reichlich vorhandenen klinischen Materials weder eine eigene wissenschaftliche Zeitschrift existiere noch wissenschaftliche Monographien hervorgebracht würden. Deshalb forderte er die Trennung in Militär- und Zivilmedizin aufzuheben, aber auch Wettbewerb um die Assistentenstellen und vor allem Spezialisierung, um mit dem Niveau der Wiener und Pariser medizinischen Schulen gleichziehen zu können. »Eine gründliche Radical-Cur«, so Schmidt, »ist nicht länger aufzuhalten. Die beiden größten Mächte unseres Staates, die Heeresmacht und die Macht der Wissenschaft, dürfen und können keinen Krieg gegeneinander führen. Ein erleuchteter hochherziger Monarch an der Spitze beider wird die Wahrheit ehren, den Irrthum sichten und verfügen, was zu beider Bestem ist.«200 Schmidt, der in seinen Überlegungen die Freiheit der Gelehrtenrepublik mühelos mit der monarchischen Prärogative vereinigte, betrachtete bei seinem Kampf um die Wettbewerbsfähigkeit der preußischen Medizin das aufstrebende Talent Virchow anfänglich als willkommenen Verbündeten. Der erstaunliche Langmut der preußischen Kultusbürokratie und Militärmedizin gegenüber dem gelegentlich bemerkenswert arrogant auftretenden Virchow resultierte also auch aus einer im Vormärz stark vorhandenen Bereitschaft, wissenschaftliche Innovation zu prämieren. 196 Siehe dazu die Korrespondenz Virchows mit seinem Vater, RVSW, Bd. 59. 197 Zu Schmidt (1804–1852) siehe Julius Pagel, in  : Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 31, München 1890, S. 748 f.; Gurlt, in  : Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte aller Zeiten und Völker, hrsg. v. A. Hirsch, 3. Aufl., Berlin u. Wien 1962, Bd. 5, S. 95–97. 198 Joseph Hermann Schmidt, Die Reform der Medicinal-Verfassung Preussens, Berlin 1846. Vgl. dazu Ackerknecht, Beiträge zur Geschichte der Medizinalreform, S. 113–115  ; Huerkamp, Aufstieg der Ärzte, S. 57 f. 199 Vgl. Hans Günter Wenig, Medizinische Ausbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1969 (zugl. Diss. med., Bonn 1969), S. 66 f. 200 Schmidt, Reform, S. 172.

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Im Herbst 1846 schickte Schmidt seinen Protegé auf eine Studienreise nach Prag und Wien, um sich dort über den Stand der pathologischen Anatomie und ihrer benachbarten Disziplinen zu informieren und ließ ihm dazu eine außerordentliche Zuwendung von 150 Talern zukommen.201 Zu dieser Zeit hoffte Virchow, mit Hilfe seines Gönners in wenigen Jahren eine außerordentliche Professur zu erlangen.202 In seinem im Dezember 1846 vorgelegten Reisebericht für Kultusminister Eichhorn formulierte er ein umfassendes disziplinäres Programm der pathologischen Anatomie und und erläuterte detailliert, wie dies umgesetzt werden sollte. Im Mai 1847 erhielt der 25-Jährige auch eine Audienz bei Kultusminister Eichhorn, der ihm »sehr bereitwillig (versprach), auch fernerhin für mich zu sorgen« und der, wie Virchow beschrieb, geduldig zuhörte, als er ihm erklärte, »warum unsere Medicin nicht vorwärts komme und wie ihr aufzuhelfen sei«203. Zwar glückte es Virchow nicht, sein disziplinäres Programm im ersten Anlauf durchzusetzen, denn das preußische Kultusministerium legte seinen Plan zunächst zu den Akten. Seine wissenschaftliche Karriere knüpfte jedoch langfristig daran an. Virchow stilisierte sich somit zum einen effektvoll als wissenschaftlicher Neuerer, indem er seinen Gegensatz zu älteren medizinischen Auffassungen dramatisierte. Zum anderen profilierte er sich auch dadurch, dass er anerkannte Autoritäten wissenschaftlich kritisierte, was sein Renommee in kurzer Zeit erheblich steigerte. Davon zeugt insbesondere seine 1846 während seines Staatsexamens geführte Auseinandersetzung mit dem Haupt der »Wiener Schule« Carl von Rokitansky (1804–1878), der auf mehr als 30.000 Autopsien verweisen konnte. Der Inhaber des 1844 begründeten ersten Lehrstuhls für pathologische Anatomie an einer deutschsprachigen Universität hatte in seinem 1842 bis 1846 erschienenen Handbuch der pathologischen Anatomie versucht, die ganze Pathologie in Blutkrankheiten, sogenannte Dyskrasien, einzuteilen. Damit erneuerte er humoralpathologische Vorstellungen, die nun allerdings den Zeitgenossen als »ultramodern, fortschrittlich und wissenschaftlich«204 erschienen. Aus der Nachsicht von 1861 schrieb Virchow, der wissenschaftliche Schulen gerne mit politischen Richtungen identifizierte,205 dass die Humoralpathologie die Medicin bedroht habe, »wie gleichzeitig der Socialismus in seiner doctrinärsten Form die Gesellschaft und den Staat«206. Virchow, der selbst einen solidarpathologischen Ansatz verfolgte, gelang es – vor allem mit Hilfe von Tierver-

201 Rudolf Virchow, Ein alter Bericht über die Gestaltung der pathologischen Anatomie in Deutschland, wie sie ist und wie sie werden muss, in  : VA 159 (1900), S. 24–39. Originalbericht vom Dez. 1846 in GStA-PK, I. HA, Rep. 76 VIII D Kultusministerium, Nr. 78, Bl. 20–31. 202 R. Virchow an Carl Virchow, 13.8.1846, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 289. 203 R. Virchow an Carl Virchow, 18.5.1847, Druck  : RVSW, Bd. 59  : Briefe, S. 299. 204 Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 51. Vgl. auch Bynum, Science and the Practice of Medicine, S. 52 f. 205 Rudolf Virchow, Die naturwissenschaftliche Methode und die Standpunkte in der Therapie, in  : VA 2 (1849), S. 3–37, hier  : S. 6. Vgl. dazu auch Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 35. 206 Ders., Vor- und Rückblicke, in  : VA 21 (1861), S. 1–6, hier  : S. 2.

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suchen an Hunden –, Rokitanskys Auffassung zu widerlegen und trug damit dazu bei, dass dieser die kritisierten Stellen in Neuauflagen seines Werkes stillschweigend strich.207 Damit rüttelte Virchow an einer der Säulen der Vorherrschaft der »Wiener Schule«, und dies diente gleichermaßen den Interessen der preußischen Kultusbürokratie und seiner eigenen Karriere, was ihm wohl bewusst war. Als sein Vater ihn zu mehr Dankbarkeit gegenüber dem König aufforderte, weil er die Prosektorenstelle an der Charité erhalten hatte, hielt Virchow ihm entgegen, dass es sich um eine Win-Win-Situation gehandelt habe. Denn die Vorteile aus dieser Veränderung seien für ihn nicht größer als die, die der Staat daraus beziehe  : [W]enn ich irgend wem dankbar zu sein nöthig habe, so ist es erstens der Zufall, zweitens Froriep, drittens einige Freunde. Dem Medicinalstab (…) bin ich dankbar, obwohl ich es nicht nöthig hätte (…) Ich bin ferner Schmidt dankbar, obwohl auch der nur so gehandelt hat, weil er fand, dass ihm die Wahl Ehre macht.

Hingegen sah sich Virchow frei davon, »gegen die Krone Verpflichtungen zu haben«, da er lediglich Charité-Beamter und nicht Staatsbeamter sei.208 Im Gefolge der Ausrichtung auf das neue forschungsorientierte Wissenschaftsideal, wie es im Gefolge der Humboldtschen Universitätsreform zur regulativen Idee geworden war, wurden auch die karrierenotwendigen Kontakte und Beziehungen in höherem Maße zu einem leistungsabhängigen Faktor, der die Bedeutung von »Nepotismus und Connaisance«209 wenigstens dem Ideal nach zurückdrängen sollte. Deshalb investierte Virchow auch hier strategisch. So berichtete er seinem Vater über eine ausgedehnte Reise durch Deutschland, Belgien und Holland im Herbst 1847, dass deren wissenschaftlicher Ertrag »den nicht unbedeutenden Geldausgaben vollkommen« entspreche  : »Ich kenne jetzt fast alle deutschen Universitäten u. den grössten Teil der deutschen, medicinischen Grössen, u. was nicht minder wichtig ist, sie kennen mich.«210 Dabei konzentrierte er sich nicht allein auf die Scientific community«, sondern zog den Kreis bewusst weit. So hielt er 1847 neben seinem gewöhnlichen Universitätskurs für Medizinstudenten einen zweiten für praktische Ärzte, in dem Geheimräte, Medizinalräte und alte und junge Praktiker vertreten waren  : »Es gehört nun einmal eine gewisse Popularität dazu, um eine junge medizinische Schule zur Geltung zu bringen.« Aufmerksam registrierte er, wie seine Bemühungen in der Fachwelt wie im Berliner Bürgertum wirkten.211 Virchow 207 Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 8  ; Harold M. Malkin, Rudolf Virchow and the Durability of Cellular Pathology, in  : Perspectives in Biology and Medicine 33 (1990), S. 431–443, S. 433 f. 208 R. Virchow an Carl Virchow, 18.5.1847, Druck  : RVSW, Bd. 59  : Briefe, S. 300. 209 (Anonym, vermutl. Rudolf Virchow), Die Anstellung von Armenärzten (II), in  : MR, Nr. 31 vom 2.2.1849, S. 189–190, hier  : S. 190. 210 R. Virchow an Carl Virchow, 27.10.1847, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 310. 211 R. Virchow an Carl Virchow, 17.6.1847, Druck  : ebenda, S. 303.

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konnte sich auf die wachsende Karrierebedeutung der wissenschaftlichen ebenso wie einer nicht-spezialisierten Öffentlichkeit hervorragend einstellen. In der vormärzlichen Situation, in der Teile des politischen Establishments nach Wegen begrenzter Reform suchten, um die gefährlichen Spannungen zu kanalisieren, kam dies wirkungsvoll zum Tragen. Der Ausbruch der Revolution in Berlin im März 1848 belastete dieses prekäre Bündnis dann jedoch schwer und führte dazu, dass Virchow seine personale und professionelle Identität schließlich neu justierte.

2.2 Der »ganze Mensch«  : Virchow in der Revolution von 1848

Die Revolution 1848 bildet einen tiefen Einschnitt für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Viele Naturwissenschaftler und Ärzte sahen nicht nur ihre Zukunftserwartungen bestätigt, sondern begriffen die Revolution auch als Chance, eigene professionelle und soziale Ambitionen zu realisieren. Zugleich forderte diese dazu heraus, wissenschaftliche Theorie in Praxis zu überführen und naturwissenschaftliche Autorität auf die Erklärung und Gestaltung gesellschaftlicher Vorgänge anzuwenden. Dies gilt namentlich für Virchow, der in dieser Zeit die neuartige Rolle des ›engagierten‹ Wissenschaftlers einnahm.212 Er stürzte sich 1848/49 neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit intensiv in die Politik, wobei seine politischen und wissenschaftlichen Aktivitäten oftmals unmittelbar ineinander übergingen, um schließlich den gesellschaftlichen Autoritätsanspruch der naturwissenschaftlichen Medizin vollends mit demokratischen Gesellschaftskonzeptionen zu verbinden. Virchow engagierte sich unter anderem in den Reihen des Berliner demokratischen Vereinswesens sowie in der Hochschul- und der Medizinalreformbewegung, gleichzeitig setzte er seine wissenschaftlichen Forschungen, seinen Unterricht und die ärztliche Tätigkeit an der Charité fort. Im Gefolge der gegenrevolutionären politischen Unterdrückung zu Beginn des Jahres 1849 mündete dies in eine kritische Situation für seine wissenschaftliche Karriere, aus der ihn zuletzt ein Ruf nach Würzburg befreite. Auf welchen intellektuellen, sozialen und politischen Voraussetzungen beruhte die Entstehung des Modells des ›engagierten‹ Wissenschaftlers während der Revolution  ? Welche Erwartungen verbanden sich mit diesem  ? Welche Rolle spielte es für die Selbstdefinition Virchows  ? Und welche Konflikte bestanden dabei zwischen der Rolle des Naturwissenschaftlers beziehungsweise Arztes und der des Politikers  ?

212 Everett Mendelsohn, Revolution und Reduktion  : Die Soziologie methodologischer und philosophischer Interessen in der Biologie des 19. Jahrhunderts, in  : Peter Weingart (Hg.), Wissenschaftssoziologie II. Determinanten wissenschaftlicher Entwicklung, Frankfurt a. M. 1974, S. 241–261, hier  : S. 258. Vgl. auch Thomas Junker, Darwinismus, Materialismus und die Revolution von 1848 in Deutschland. Zur Interaktion von Politik und Wissenschaft, in  : History and Philosophy of the Life Sciences 17 (1998), S. 271–302.

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2.2.1 Die oberschlesische Typhusepidemie

In den Jahren 1846/47 forderte eine Typhusepidemie, die vor allem in den Kreisen Rybnik und Pless wütete, etwa 16.000 Todesopfer unter der von einer schweren Hungersnot geschwächten Bevölkerung Oberschlesiens. Die Auseinandersetzung darüber demonstriert die Bedeutung der im Vormärz erstarkten öffentlichen Meinung sowie die wachsende Rolle wissenschaftlicher Autorität. Die preußische Bürokratie war geneigt, diese Epidemie als unbedeutendes lokales Ereignis herunterzuspielen und unterließ es lange Zeit, geeignete Hilfsmaßnahmen zu initiieren. Gleichzeitig versuchte sie, alle diesbezüglichen Nachrichten zu unterdrücken. Als diese Desinformationspolitik aber schließlich scheiterte und die Situation in Oberschlesien immer stärker öffentlich skandalisiert wurde, drohte diese Epidemie zum Menetekel des Versagens der vielgerühmten preußischen Bürokratie zu werden. Dies verstärkte die Erosion der vor allem durch das Ausbleiben der versprochenen Verfassung ohnehin schon angeschlagenen Legitimität des preußischen Staates.213 Die preußische Bürokratie musste dabei in einem für sie äußerst schmerzhaften Prozess lernen, dass die öffentliche Meinung Definitionsmacht über die Bedeutung eines derartigen Vorgangs in einer scheinbar weit ab von jeder Aufmerksamkeit gelegenen Provinz errungen hatte. Virchow drückte somit eine verbreitete Stimmung aus, als er rückblickend feststellte, dass sich in Preußen, das so stolz auf seine Gesetze und seine Beamten war, angesichts der Seuche Gesetze und ebenso die Resultate bürokratischen Handelns als bloßes »beschriebenes Papier« erwiesen hätten  : »Der ganze Staat war allmählich ein papierner, ein großes Kartenhaus geworden, und als das Volk daran rührte, fielen die Karten in buntem Gewirr durcheinander.«214 Der noch ungewohnte Druck der Öffentlichkeit ließ die preußische Bürokratie schließlich nervös werden  : Am Vorabend der Revolution setzte Kultusminister Eichhorn auf dringendes Anraten des Geheimen Obermedizinalrats Stephan Barez eine ärztliche Untersuchungskommission ein, um, wie dieser ausdrücklich betonte, dem zunehmenden Druck der öffentlichen Meinung und insbesondere des »ärztlichen Publicums«215 zu begegnen. Dass Eichhorn neben dem Initiator dieses Unternehmens, Barez, ausgerechnet Virchow als weiteres Mitglied dieser Kommission auswählte, um die Ursachen der Epidemie zu untersuchen und die lokalen Behörden bei der Bekämpfung der Seuche zu beraten, zeigt das große Vertrauen, das die preußische Kultusbürokratie bei diesem Versuch der Krisenkommunikation in ihn setzte. Vielleicht hoffte sie aber auch, gerade 213 Siehe dazu Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848–49, Bd. 1  : Bis zum Zusammentritt des Frankfurter Parlaments, Berlin 1930, S. 58 ff.; vgl. auch Manfred Vasold, Rudolf Virchow. Der große Arzt und Politiker, Stuttgart 1988, S. 62–66. 214 Rudolf Virchow, Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie, Berlin 1848, Nachdruck  : RVSW I/4, S. 357–482, hier  : S. 470. 215 Eichhorn an von Bodelschwingh, 16.2.1848  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII A Kultusministerium, Nr. 3006 (M), Bl. 7.

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dadurch, dass sie einen Vertreter der modernen, naturwissenschaftlichen Medizin beauftragte, die öffentliche Kritik zu entkräften. Bestand das Ziel des Unternehmens somit ursprünglich darin, mit Hilfe der wissenschaftlichen Autorität zweier angesehener Ärzte die angeschlagene Reputation der preußischen Bürokratie zu retten, so war jene »Vermischung« von Wissenschaft und Politik, die Virchow später als zentrale Folge dieser Mission für sich benannte,216 damit bereits von vornherein hergestellt – und zwar von staatlicher Seite. Der Aufbruch der kleinen Kommission am 20. Februar 1848 erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die politischen Spannungen, die wenige Tage später in Paris zu einem ersten revolutionären Ausbruch führten, bereits ein erhebliches Ausmaß erreicht hatten. In Preußen hatten die eng miteinander verwobenen politischen, sozialen und ökonomischen Krisen bereits im Vorjahr in der wegen der Finanzierungsnöte der preußischen Ostbahn notwendigen Einberufung des Vereinigten Landtags und der sogenannten Berliner »Kartoffelrevolution« erste Höhepunkte gefunden.217 Auch die Briefe Virchows an seinen Vater spiegelten die zeitgenössische Erwartung, wonach diese Vorgänge Anzeichen einer über kurz oder lang anstehenden tiefgreifenden Veränderung des preußischen politischen Systems seien.218 Virchow brach somit im Bewusstsein einer europaweiten politischen Krisensituation auf, in der umstürzende Ereignisse in der Luft lagen.219 Die Reise führte zunächst mit der Eisenbahn, dann mit der Pferdekutsche von Berlin nach Ratibor, Rybnik und Sorau. Barez trat bereits am 29. Februar die Heimreise an, während Virchow erst am 10. März zurückkehrte. Die Schilderungen, die Virchow in dieser Zeit an seinen Vater schickte, erinnern in mancherlei Hinsicht an heutige Berichte über Katastropheneinsätze in Ländern der »Dritten Welt«220  : Ausgiebig ist die Rede von einer Bevölkerung, die in drastischen Farben als gleichermaßen ausgezehrt wie indolent geschildert wird, wobei Mitleid und Ekel beim Beschreiben der »schrecklichen Jammergestalten« sich abwechselten, vom Versagen der lokalen Behörden und vom schließlich einsetzenden überstürzten Wettlauf der Hilfsorganisationen, die unter den Augen einer durch empörte Zeitungsberichte mittlerweile aufgeschreckten Öffentlichkeit nunmehr ihre Rettungsaktionen vollzogen. Dabei blieben die plötzlich im Überfluss vorhandenen Hilfsmittel vielfach im »unergründlichen Dreck dieser Landstraßen« liegen. Virchow beschrieb seine Erfahrungen mit einem quasi-kolonialen Blick  : »Wir sind wie in feindli216 Siehe Rudolf Virchow, Zur Erinnerung. Blätter des Dankes für meine Freunde, in  : VA 167 (1902), S. 1–15, hier  : S. 3  ; Eichhorn an Virchow, 18.2.1848  : AHUB, Charité-Direktion, Nr. 740, Bl. 29. 217 Vgl. Valentin, Geschichte der deutschen Revolution, Bd. 1, S. 61–89  ; Hachtmann, Berlin 1848, S. 81–86 u. 107–11. 218 R. Virchow an Carl Virchow, 1.5.1847 u. 13.2.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 297 f.; ebenda, S. 311 f. 219 Siehe dazu Virchow an Frantzius, 16.2.1848  : StBB-PK, Slg. Darmstädter, Rudolf Virchow, K.  2  : Briefe, Bl. 107. 220 Siehe zum Folgenden die Briefe R. Virchows an Carl Virchow, 24.2.1848 u. 29.2.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 317–322.

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chem Lande  ; die Aerzte insbesondere disponiren nach Belieben über alle Mittel u. legen niemand Rechnung ab.«221 Inmitten des drastisch geschilderten Hungers und Elends der Bevölkerung war für die kleine Expedition gut gesorgt  : »Es giebt hier gutes Bier, Ungarwein, passabel gute Speisen, gutes Brod, Kaffee pp.; genug wir können über Nichts klagen.«222 Zunächst sollten solche Berichte natürlich die besorgten Eltern beruhigen. Darüber hinaus spiegeln sich hier zeitgenössische pauperistische Erklärungsmodelle wider, in denen ein Zusammenhang von Geldmangel und Lebensmittelknappheit hergestellt wurde.223 Zudem demonstrierte Virchow damit, wie sehr er die eigene respektable Stellung als Experte im Regierungsauftrag genoß. Als schließlich Graf Hochberg, der die Herrschaft über den von der Epidemie schwer getroffenen Kreis Pless geerbt hatte und sich bei den Hilfsmaßnahmen sehr hervortat, die beiden Forschungsreisenden auf seinem Schloss aufnahm, fühlte sich Virchow bestens versorgt  : »Die Diners des Grafen, bei denen namentlich die ausgesuchtesten Weine u. frische Gemüse (Spargel, Kohlrabi, Radieschen) zu finden waren, behagten uns außerordentlich.« Besonders rühmte er auch die erlesene Tischgesellschaft, bildeten doch Prinzen, Zivil- und Militärkommissare, ein Landrat, ein Justizdirektor und schließlich der Kammerherr des Grafen eine angenehme Tafelrunde.224 Während Virchow so seine herausgehobene Stellung und die damit verbundene gesellschaftliche Anerkennung genoss, sparte er gleichzeitig nicht mit Kritik am Versagen der staatlichen Behörden, die auf die Katastrophe viel zu spät und kopflos reagiert hätten, sowie an der katholischen Kirche, der er die Hauptschuld an der von ihm angeprangerten fatalistischen Haltung der Bevölkerung gab. Die Wirkung der jetzt hereinströmenden Hilfsleistungen sei daher fraglich  : »Wie es aber nachher werden wird, wenn man diese faule u. indolente Bevölkerung 6 Monate lang gefüttert hat, kann noch niemand beurtheilen.«225 Die Seuche erschien hier als Produkt einer Mischung aus sozialer Not und staatlichem Missmanagement. Kritik der preußischen Bürokratie und der katholischen Kirche gepaart mit Verachtung für das katholische Volk bildeten Grundzüge seiner Analyse der oberschlesischen Misere, ohne dass er hier bereits jene auf radikale poli221 R. Virchow an Carl Virchow, 24.2.1848, Druck  : ebenda, S. 320. Vgl. zur Bedeutung erweiterter Kommunikation und Öffentlichkeit im Zusammenhang der Revolution von 1848 auch die Überlegungen bei Dieter Langewiesche, Kommunikationsraum Europa  : Revolution und Gegenrevolution, in  : ders. (Hg.), Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849. Internationale Aspekte und europäische Verbindungen, Karlsruhe 1998, S. 11–35. 222 R. Virchow an Carl Virchow, 24.2.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 317–320, S. 320. 223 Dies zeigt auch sein Bericht über eine 1852 im Auftrag der bayerischen Regierung im Spessart unternommene Enquete. Siehe Rudolf Virchow, Die Noth im Spessart. Eine medicinisch-geographische und historische Skizze (1852), Nachdruck  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 1, Berlin 1879, S. 368–416, hier v. a. S. 386. 224 R. Virchow an Carl Virchow, 29.2.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 320–322. 225 Ebenda, S. 322.

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tische Veränderungen zielenden Vorschläge zur Abhilfe jener Missstände vorgebracht hätte, die seinen mehrere Monate später, nach vielfachen Mahnungen des Kultusministeriums schließlich abgegebenen Bericht prägen sollten. Im Juli 1848 legte er auf Drängen der Medicinalabteilung des Kultusministeriums zunächst eine erste, kurze Fassung seines Berichts über die oberschlesische Typhusepidemie vor, an dem er seit dem Frühjahr gearbeitet hatte.226 Bald darauf veröffentlichte er eine ausführliche Fassung in dem von ihm herausgegebenen Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin, die er dem neuen Kultusminister Adalbert von Ladenberg im August vorlegte. Virchow wollte dort vor allem zeigen, »wie die Regierung durch die ungeheuerste Vernachlässigung dieses Landes, durch eine gleich saumselige innere und äußere Politik sowohl die geistige als die materielle Hebung des Volkes unmöglich gemacht hat«227, und so war sein Bericht eine hart formulierte Anklage gegen preußische Bürokratie und katholische Hierarchie. Oberschlesien erschien dort als kranker Körper, den er mit dem Blick des Pathologen analysierte. Dabei sprach er von der hohen Warte des sich im Besitze universaler Wahrheit befindenden Naturwissenschaftlers  : Sein Anschreiben an das Ministerium hob hervor, dass seine naturwissenschaftliche Erkenntnis mit dem allgemeinen Interesse der Menschheit identisch sei.228 Doch wusste die damit angesprochene preußische Bürokratie den großzügigen Rat nicht recht zu schätzen. Hermann Lehnert, Geheimer Regierungs- und Vortragender Rat im Kultusministerium, vermerkte auf dem von Virchow eingesandten Exemplar des Oberschlesien-Berichts, ihm erscheine »diese sg. Freimüthigkeit als totale Befangenheit in thörichten Hirngespinsten  ; ich hätte Virchow für verständiger gehalten  ; er ist ein republikanischer Schwärmer ohne republikanische Tugend. Schade um das Talent.« In den Augen Lehnerts hatte sich Virchow, auf den die preußische Bürokratie bei ihren Bemühungen, durch begrenzte Modernisierung von oben die politischen und sozialen Spannungen unter Kontrolle zu bekommen, große Hoffnungen gesetzt hatte, von der Leine losgerissen. Doch räumte er zugleich ein, »dass die Schrift auch viel Wahres und der sorgfältigsten Berathung Werthes enthält«, ohne jedoch dessen Vorschläge für brauchbar zu erachten.229 Bissig reagierte Lehnert insbesondere auf die dort vorgetragene Verbindung demokratischer und paternalistischer Ideen. So wollte Virchow das seine freien Tage »dem Müßiggange, der Faulheit, der Indolenz« widmende oberschlesische Volk unter Vormundschaft stellen, um ihm die »Bedeutung der Freiheit, der Selbständigkeit« zu 226 Virchow an Kultusministerium, 14.7.1848, Anlage  : Bericht über die Epidemie, welche 1847–1848 in Oberschlesien geherrscht hat  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII A Kultusministerium, Nr. 3006 (M), Bl. 120–126. 227 Virchow, Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie, S. 368. 228 Virchow an Kultusministerium, 15.8.1848  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII A Kultusministerium, Nr. 3006 (M), Bl. 169. 229 Hs. Bemerkungen Lehnerts auf dem von Virchow eingesandten Exemplar der Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII A Kultusministerium, Nr. 3006 (M), Bl. 169.

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zeigen und es zu lehren, »dass Wohlstand und Bildung die Töchter der Arbeit, die Mütter des Wohlseins sind«. Hierin wird die Ambivalenz des demokratischen Verhältnisses zu den »Massen« augenfällig, die einerseits als Quelle der Volkssouveränität, andererseits aber als unfähig zur Selbstbildung betrachtet wurden und deshalb einem angeleiteten Erziehungsprozess unterworfen werden sollten – eine Tendenz, die sich später mit dem aus Virchows Sicht misslichen Ergebnis der Revolution noch erheblich verstärkte. So schrieb sein enger politischer Mitstreiter Gustav Siegmund 1849 in einem Rückblick auf die Revolution  : »Wir dürfen nicht vergessen, wir stehen noch in einer Masse, für welche die humane Cultur erst geschaffen werden muss.«230 Lehnert kommentierte den auch in Virchows Vorschlägen offen zutage tretenden Widerspruch von Vormundschaft und Volkssouveränität am Rand seines Exemplars des Oberschlesien-Berichts  : »Virchow müsste sofort Bezirkspräsident von Oberschlesien werden  ! (…) Demokrat  ! Bevormundung  !«231 Die historische Forschung interpretierte Virchows Oberschlesien-Bericht deshalb mitunter als Paradebeispiel für ärztliche Bemühungen, sich dem Staat als Büttel einer präventiven Sozialpolitik anzubieten, die durch Medikalisierung und Sozialdisziplinierung der pauperisierten Unterschichten den sozialen Desintegrationsprozess aufzufangen und zu kontrollieren versprach.232 Diese Argumentation läuft letztlich auf die Annahme einer gemeinsamen Verschwörung von Sozialmedizinern und Staat gegen die Unterschichten zum Zwecke ihrer ›bürgerlichen Verbesserung‹ hinaus. Doch harmonisiert dies das Verhältnis zwischen bürokratischen und demokratischen Reformern  : Zwar appellierten sozialmedizinisch gesinnte Ärzte wie Virchow auf der einen Seite an den Staat, der als Exekutor des geplanten Aufklärungswerks dienen sollte. Auf der anderen Seite entsprach nach Virchows Ansicht der auf dem »christlich-germanischen Prinzip« beruhende preußische Staat nicht mehr der gegenwärtigen Kulturstufe, und so sei es die Aufgabe der Wissenschaft, den Staat, der ja »nichts weiter« sei, »als der lebendige Ausdruck des wissenschaftlichen Zeitbewusstseins«, dementsprechend zu verändern.233 Sein sozialmedizinisches Konzept, welches in den oberschlesischen »Massen« das Ob230 Siegmund fuhr fort  : »Man hat oft gesagt, die Demokratie habe ihren Bundesgenossen in der Masse. Das ist nicht wahr. Die Masse ist die Stütze der Despotie. Diese braucht die schweigend folgenden Heere, und auch das Volk als eine ununterscheidbare lenkbare Masse. Die Demokratie darf vor der Uncultur nicht zurückschrecken, sie muss arbeiten und entsagen, damit sie aus der Masse Individuen bildet  ; denn nur mit freien Persönlichkeiten gibt es eine Demokratie. Ihre Stätte ist die Gemeinde, sie muss von Unten auf.« Gustav Siegmund, Preußen, seine Revolution und die Demokratie. Eine Skizze, Berlin 1849, S. 47. 231 Hs. Bemerkungen Lehnerts auf dem von Virchow eingesandten Exemplar der Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII A Kultusministerium, Nr. 3006 (M), Bl. 169. 232 So Ute Frevert, Krankheit als politisches Problem 1770–1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984, S. 141–144. 233 Rudolf Virchow, Die öffentliche Gesundheitspflege, in  : MR, Nr. 8 vom 25.8.1848, S. 45–47, hier  : S. 47. Vgl. dazu auch Walter Bussmann, Rudolf Virchow und der Staat, in  : Helmut Berding/Kurt Düwell/Lothar Gall

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jekt eines tiefgreifenden Erziehungsprozesses sah, ließ sich nicht mehr in den Rahmen der durch die preußische Bürokratie zu rettenden Ordnung einbinden, auch wenn sich diese zu dieser Aufgabe in die Dialektik von Reform und Stabilisierung hineinbegeben hatte.234 Die in Virchows Oberschlesien-Bericht abgegebene Diagnose der Typhusepidemie diente ideologischen Zwecken, »die weniger mit der Realität von Gesundheit und sozialen Verhältnissen in Oberschlesien zu tun hatten«235, sondern mit der politischen Perspektive der demokratisch-republikanischen Bewegung. So zitierte er als politische Autoritäten radikale Demokraten wie den Begründer des Deutschkatholizismus Johannes Ronge und den Rechtsanwalt und badischen Revolutionär Gustav von Struve.236 Die Epidemie in Oberschlesien bildete für Virchow ein Exempel für den desolaten Zustand der gegenwärtigen politischen und sozialen Verhältnisse, und die von ihm für diesen Fall angezeigten Gegenmittel waren gleichzeitig auf ganz Preußen anzuwenden. Im September 1848 erfüllte er den Wunsch der Ziegenrücker Wahlmänner für die Preußische Nationalversammlung, sein politisches Programm zu erläutern, indem er sie vor allem auf seinen Oberschlesien-Bericht verwies. Dort habe er seine Grundsätze formuliert, wonach er »die Freiheit, den Wohlstand und die Bildung aller Staatsbürger« wolle, und die Verwirklichung dieser Forderungen »in dem demokratischen Staat, in der freien Gemeinde, u. den staatlich beschützten Associationen suche«237. So ist Virchows Oberschlesien-Bericht nicht nur als ein Schlüsseldokument der Sozialmedizin zu lesen, sondern auch als politisches Programm, in dem demokratische Weltanschauung und ärztlicher Autoritätsanspruch eine enge Verbindung eingingen. 2.2.2 Die Organisation der politischen Öffentlichkeit

Nach seiner Rückkehr aus Oberschlesien am 10. März 1848 geriet Virchow bald in die revolutionäre Bewegung hinein. Während der Straßenkämpfe am 18. März beteiligte er sich am Barrikadenbau in Berlin.238 In der darauf folgenden Zeit stürzte er sich neben seiner fortgesetzten wissenschaftlichen Tätigkeit in eine Vielzahl politischer Aktivitäten. (Hg.), Vom Staat des Ancien Régime zum modernen Parteienstaat. Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 70. Geburtstag, München u. Wien 1978, S. 267–285, hier  : S. 276. 234 Vgl. zum Verhältnis von Bürokratie und Reform vor allem Reinhart Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen 1815–1848, in  : Werner Conze (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848, Stuttgart 1962, S. 79–112, hier v. a. S. 88–93  ; ders., Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967. 235 Paul Weindling, Was Social Medicine Revolutionary  ? Rudolf Virchow and the Revolutions of 1848, in  : Bulletin of the Society for the Social History of Medicine 34 (1984), S. 13–18, hier  : S. 15 f. 236 Virchow, Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie, S. 369. 237 Virchow an die Wahlmänner des Kreises Ziegenrück, 23.9.1848  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2744 (Bl. 32 f.). 238 R. Virchow an Carl Virchow, 19.3.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 328–335.

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Seine politische Verortung in dieser Zeit durch die spätere Historiographie unterlag dabei dem Bemühen, ihn für bestimmte Traditionslinien zu vereinnahmen  : Herrschte in der bundesrepublikanischen und angelsächsischen Forschung die Tendenz, Virchow auch während der Revolution in die Kontinuität des Liberalismus zu stellen,239 so betonte die marxistische beziehungsweise die DDR-Forschung umgekehrt den Bruch zwischen dem »kleinbürgerlichen Revolutionär« der Revolutionszeit und dem späteren Reaktionär.240 Tatsächlich konkretisierte und radikalisierte Virchow während der Revolution zunächst seine politischen Vorstellungen  : Hatte er sich im Vormärz noch als Mitglied einer diffusen »Partei des Fortschritts« betrachtet, so engagierte er sich nunmehr bei den radikalen Demokraten. Virchow stellte Ende des Jahres 1848 selbst die rhetorische Frage  : »Denn wer kann sich darüber wundern, dass die Demokratie und der Socialismus nirgend mehr Anhänger fand, als unter den Aerzten, dass überall auf der äussersten Linken, zum Theil an der Spitze der Bewegung, Aerzte stehen  ?«241 Ein Blick auf die Parlamente des Jahres 1848/49 lässt allerdings eine größere Zurückhaltung gegenüber dieser Gleichsetzung von ›Arzt‹ und ›links‹ ratsam erscheinen. Von den 15 Ärzten, die in der Frankfurter Nationalversammlung saßen, lassen sich acht der Linken zurechnen.242 Unter den 395 Abgeordneten der Berliner Nationalversammlung 239 So etwa Ackerknecht in seiner nach seiner Wende vom Trotzkismus zum amerikanischen Liberalismus verfassten Virchow-Biographie, aber auch Byron A. Boyd, Scientist as Citizen, sowie Ian Farrell McNeely, »Medicine on a Grand Scale«  : Rudolf Virchow, Health Politics, and Liberal Social Reform in NineteenthCentury Germany, BA Thesis Harvard University 1992. Auf diesem Wege sickert dies auch noch bis in moderne Gesamtdarstellungen durch, siehe z. B. David Blackbourn, Fontana History of Germany 1780–1918  : The Long Nineteenth Century, London 1997, S. 140. Aber auch Bussmann (Rudolf Virchow und der Staat) apostrophiert Virchow für die Zeit der Revolution mehrfach als »entschiedenen Liberalen«. Demgegenüber ist, wie Dieter Langewiesche schon vor zwei Jahrzehnten resümierte, »für die Revolutionsjahre (…) die Trennung von Demokraten und Liberalen (…) von kaum zu überschätzender Bedeutung«. (Langewiesche, Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft  : Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in  : Archiv für Sozialgeschichte 21 (1981), S. 458–498, hier  : S. 479 f.) Vgl. auch Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849–1867, Düsseldorf 2000, v. a. S. 14 f. 240 Siehe etwa Kurt Winter, Rudolf Virchow, Leipzig u. Jena 1956  ; Felix Boenheim, Virchow. Werk und Wirkung, Berlin 1957. 241 Rudolf Virchow, Der Armenarzt, in  : MR, Nr. 18 vom 3.11.1848, S. 125–127, hier  : S. 125. 242 Heinrich Best/Wilhelm Weege, Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1996, S. 449. Dabei sind nur diejenigen Abgeordneten erfasst, deren Hauptberuf bei Eintritt in die Frankfurter Nationalversammlung Arzt war. Deshalb existieren zum Teil höhere Zahlen  : Huerkamp (Aufstieg der Ärzte, S. 244) spricht von 31 Ärzten in der Frankfurter Nationalversammlung, von denen mindestens elf zur Linken gehörten. Manfred Botzenhart spricht dagegen von 23 Ärzten in der Frankfurter Nationalversammlung. Siehe Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit, 1848–1850, Düsseldorf 1977, S. 161. Der Anteil der Ärzte (die hier mit anderen Freiberuflern zusammengefasst werden) an der französischen Assemblée nationale constituante war mit 4,9 % mehr als doppelt so hoch als in der Frankfurter Nationalversammlung, wo er nur bei 2,2 % lag. Siehe Heinrich

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befanden sich zwölf Ärzte, von denen fünf der von dem Königsberger Arzt Johann Jacoby geleiteten demokratischen Fraktion angehörten.243 Wie das Beispiel Jacobys zeigt, fanden sich aber Ärzte an besonders exponierter Stelle unter den Demokraten, und zudem ergaben sich regional besondere Verhältnisse. So sollen etwa bei einer Wahlmännerwahl in der Charité während der Revolution von 55 gewählten Ärzten 47 Demokraten gewesen sein.244 Erwin Ackerknecht behauptete deshalb, ähnlich wie schon Virchow, eine »innere Gesetzmäßigkeit«, »die in einer gewissen Epoche den Arzt und den radikal kleinbürgerlich-demokratischen Politiker in einer Person zusammentreffen lassen«, die in »jenen materialistischen, demokratischen, sozialen Zügen des Arztberufes« liegen, »die ihm mit dem politischen Radikalismus von 1848 gemein« seien245. Hier ordnete er jedoch das historische Material einem geschichtsphilosophischen Wunschdenken unter, denn auch wenn sich von denjenigen Ärzten, die sich 1848/49 aktiv an der politischen Bewegung beteiligten, viele auf dem linken Flügel befanden, interessierte sich doch die Mehrzahl der Ärzte in dieser Zeit nicht für genuin demokratische Ziele.246 Auch eine andere Gruppe, der Virchow angehörte, wurde vielfach der Neigung zu radikalen demokratischen Positionen verdächtigt, nämlich die der Privatdozenten. Den zeitgenössisch hergestellten Zusammenhang von politischer Einstellung und sozial ungeschütztem Status formulierte ein Spottgedicht um 1848  : »Privatdozent ist krank und bleich, / an Hunger und an Durst nur reich  ; / schreibt Bücher dick, jahraus, jahrein, / und niemand will Verleger sein. (…) Weil ihn nicht zahlen tut der Staat, / wird er ein roter Demokrat«247. Was aber Virchow betrifft, so war er bei Ausbruch der Revolution zwar Arzt und Privatdozent und bald danach auch radikaler Demokrat, doch lässt sich hier gleichwohl kein Kurzschluss von wahrgenommenem oder tatsächlichem prekären sozialen Status zu radikalen politischen Ansichten ziehen. Zwar hatte Mitte der vierziger Jahre Virchows Selbsteinschätzung als ›akademischer Proletarier‹ entscheidend zu seiner Politisierung und Radikalisierung beigetragen. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Revolution in Berlin im März 1848 konnte er allerdings damit rechnen – und tat dies Best, Die Männer von Bildung und Besitz. Struktur und Handeln parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland und Frankreich 1848/49, Düsseldorf 1990, S. 59. 243 Zahlen nach »Personalnachrichten«, in  : MR, Nr. 1 vom 10. Juli 1848, S. 4  ; Joachim Paschen, Demokratische Vereine und preußischer Staat. Entwicklung und Unterdrückung der demokratischen Bewegung während der Revolution von 1848/49, München 1977, S. 80  ; Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus, S. 517. 244 Finkenrath, Medizinalreform, S. 56. 245 Ackerknecht, Beiträge zur Geschichte der Medizinalreform, S. 88. 246 Huerkamp, Aufstieg der Ärzte, S. 244. 247 Zit. nach Alexander Busch, Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universitäten, Stuttgart 1959, S. 130  ; vgl. dazu auch Rüdiger vom Bruch, Die Universitäten in der Revolution 1848/49. Revolution ohne Universität – Universität ohne Revolution  ?, in  : Wolfgang Hardtwig (Hg.), Revolution in Deutschland und Europa 1848/49, Göttingen 1998, S. 133–160, hier v. a.: S. 134 f.; Hachtmann, Berlin 1848, S. 363  ; Heide Thielbeer, Universität und Politik in der Deutschen Revolution von 1848, Bonn 1983, S. 91–94.

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auch  –, dass er auch unter den bislang bestehenden Verhältnissen eine schnelle Karriere machen würde. Allerdings erwartete er sich von der Revolution zunächst gleichfalls positive Effekte für seine professionellen und sozialen Ambitionen. Die Ernennung des Grafen Schwerin zum Kultusminister am 19. März im neuen preußischen Kabinett des Staatsministers von Arnim-Boitzenburg kommentierte Virchow am selben Tag seinem Vater gegenüber, dass er und seine ihm nahestehenden Kollegen um den Kreis um den Geheimen Rat Mayer sich beeilen würden, »für die wissenschaftliche u. praktische Medicin den möglichsten Vortheil davon zu ziehen. Uebrigens kannst Du Dich darauf verlassen, dass ich mich nicht nutzlos u. ohne Grund weder körperlich, noch in meiner Stellung aufopfern werde«248. Als politisches Schlüsselerlebnis beschrieb Virchow Jahrzehnte später eine Begegnung mit dem Führer der preußischen Demokratie und Obertribunalrat Benedikt Waldeck in der Berliner Konditorei Kranzler, wo er beim Zeitunglesen in eine Diskussion mit diesem geraten sei249 – Kaffeehäuser bildeten damals Zentren der politischen Kommunikation. Innerhalb des sich schnell ausdifferenzierenden politischen Vereins- und Parteienspektrums schlug sich Virchow auf die Seite der Demokraten, deren Forderungen sich um den »bürgerlich-demokratischen Erwartungsbegriff Republik« gruppierten und die sich dadurch von der liberalen Forderung nach konstitutioneller Monarchie absetzten.250 Dabei beharrte er nicht auf einer »Republik mit einem wählbaren Präsidenten«, sondern wollte »auch einen erblichen d. h. einen König ohne Eigenschaften«251 akzeptieren, oder, wie er seinem Freund Wilhelm von Wittich etwas deutlicher schrieb  : »[N]och brauchen wir eine Puppe an der Spitze.«252 Deshalb sollte die geläufige Unterscheidung von gemäßigten und kompromisslosen Demokraten anhand des Kriteriums der Einstellung zur Frage eines erblichen Königs nur mit größter Vorsicht angewendet werden, da hier taktische Überlegungen eine große Rolle spielten.253 Ohnehin kam Virchow bald zu der Überzeugung, dass sich die Hohenzollern niemals auf ein derartiges Modell einlassen würden und hielt somit auch alle von liberaler Seite gehegten Hoffnungen auf eine konstitutionelle Lösung für aussichtslos. Er teilte damit die Auffassung vieler radikaler 248 R. Virchow an Carl Virchow, 19.3.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 334. 249 Hugo Reiwald, Geschichte des Fortschrittlichen Vereins »Waldeck« zu Berlin im ersten Vierteljahrhundert seines Bestehens, Berlin 1903, S. 29 f.; Der Reichsfreund, Nr. 27 vom 3.7.1890, »Waldeck«. 250 Dieter Langewiesche, Republik und Republikaner. Von der historischen Entwertung eines politischen Begriffs, Essen 1993, S. 40. 251 R. Virchow an Carl Virchow, 1.5.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 347. 252 Zitiert nach Brief Wilhelm von Wittichs an Virchow, 24.10.1848  : ABBAW, Nr. 2363. 253 Dagegen stützte Dieter Langewiesche sich zur Unterscheidung von kompromisslosen und gemäßigten Demokraten auf das Kriterium der Zustimmung zu einem solchermaßen machtlosen König und stützte dies unter anderem gerade auf Virchow (Langewiesche, Republik, konstitutionelle Monarchie und »soziale Frage«. Grundprobleme der deutschen Revolution von 1848/49, in  : Historische Zeitschrift 230 (1980), S. 529–548, hier  : S. 544.).

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Demokraten, dass am Ende der Revolution entweder die Republik oder eine Militärdespotie stehen würde.254 Die medicinischer Reform, zu dieser Zeit Virchows publizistisches Sprachrohr, widersprach ausdrücklich der von Karl Theodor Welcker in der deutschen Nationalversammlung vertretenen liberalen Auffassung, wonach ein »constitutioneller Staat« beziehungsweise ein »constitutionelles System« nichts anderes sei »als der Rechtsstaat, ein rechtlicher Zustand in den Formen der heutigen Gesellschaft«. Stattdessen wolle die Demokratie die Gesellschaft davon überzeugen, ihre gegenwärtigen Formen zu verändern und zu »neuen, zeitgemäßen« Formen überzugehen, sei es doch ein Unrecht, dass »ganze Schichten der Bevölkerung ›ausser der Gesellschaft‹« gesetzt seien.255 Der Streit um Republik oder konstitutionelle Monarchie gewann seine Brisanz somit daraus, dass die verfassungspolitische Frage mit der ›sozialen Frage‹256 verknüpft wurde. Virchow erklärte daher seinem Vater, der sämtliche Ängste des alten Grundbesitzers und Bürgers aus der Provinz in sich vereinigte, dass diese Revolution nicht eine einfach politische, sondern wesentlich eine sociale ist. Alles, was wir jetzt politisches machen, die ganze Verfassung, ist ja nur die Form, in welcher die sociale Reform zu Stande kommen soll, das Mittel, durch welches der Zustand der Gesellschaft bis in ihre Grundlagen umgestaltet werden soll. Wenn wir das Politische fertig haben, dann wird das große Werk erst anfangen.257

Virchows politischer Erfahrungsraum in dieser Zeit war der eines Wahlmannes eines Berliner Wahlbezirkes und nicht der eines Abgeordneten. Das Gewicht der sozialen Fragen nahm umso mehr zu, je intensiver sich die Diskussion unmittelbar mit den Bedürfnissen der Bevölkerung auseinandersetzen musste und nicht im stärker von theoretischen Auseinandersetzungen geprägten Raum der Parlamente stattfand. Virchow thematisierte die wachsende kommunikative Kluft zwischen außerparlamentarischer und parlamentarischer Opposition in einem Brief an Goldstücker, in dem er von seiner Erfahrung als Redner bei einer Berliner Volksversammlung im Mai 1849 berichtete  : »Die Proclamationen des Landesausschusses sind so phrasenhaft u. dabei so breit getreten, dass man gar nicht durchkommt. Neulich wollte ich drei davon hintereinander vorlesen  ; schämte

254 R. Virchow an Carl Virchow, 1.7.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 360. 255 (Anonym, vermutl. Rudolf Virchow), Die medicinischen Anstellungen, in  : MR, Nr.  50 vom 15.6.1849, S. 265–267, hier  : S. 265. Das Welcker-Zitat aus seiner Rede in der deutschen Nationalversammlung am 14.11.1848 zitiert nach ebenda. 256 Langewiesche, Republik, konstitutionelle Monarchie und »soziale Frage«, S. 538. Ähnlich auch bereits Paschen, Demokratische Vereine, S. 38 f. 257 R. Virchow an Carl Virchow, 1.5.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 346.

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mich aber schon, als ich noch in der zweiten war. Was diese Art von Mittheilungen nutzen soll, sehe ich nicht recht ein.«258

Sowohl in privaten wie öffentlichen Äußerungen distanzierte sich Virchow radikal vom liberalen Konstitutionalismus, der auf die »sozial eingeschränkte Staats­bür­ger­gesell­ schaft«259 zielte. Die revolutionäre Bewegung dieser Zeit sei, so Virchow, eine »rein materielle«. Damit schloss er sich der demokratischen Forderung nach einer egalitären Staatsbürgergesellschaft an. Die auf Legitimation und Partizipation zielende Forderung nach »Freiheit« und »Gleichheit« sollte deshalb durch die nach »Brüderlichkeit« – d. h. nach Umverteilung  – ergänzt werden. Virchow bündelte dies in der griffigen Formulierung des badischen demokratischen Abgeordneten Gustav von Struve  : »Wohlstand, Bildung und Freiheit für Alle  !«260, die er auch als Lösung für die Probleme Oberschlesiens propagierte. Als zentrale Aufgabe wurde daher in Virchows Medicinischer Reform die »Lösung der socialen Frage« benannt, die in der »Vernichtung des Pöbels« bestehen sollte  : Dies könne allein dadurch erfolgen, dass man ihn in die Gesellschaft aufnimmt, dass man ihn an den staatlichen, bürgerlichen, familienhaften Rechten und Genüssen Theil haben lässt. Mit dem Pöbel kann die Ruhe und Ordnung nie garantirt sein  ; das Interesse des Staats und der Gesellschaft verlangen in gleicher Weise die Auflösung des Pöbels, die Unmöglichkeit einer, wenn auch nur vorübergehend wieder auftauchenden ›Pöbelherrschaft‹. So fällt denn die sociale und die politische Frage zusammen.261

Virchows Bedeutung für die demokratische Bewegung während der Revolution liegt damit nicht so sehr in etwaigen originellen Beiträgen zur politischen Theorie. Wichtig war er dagegen auf lokaler Ebene in Berlin für den politischen Parteibildungsprozess, der vor allem von den Demokraten vorangetrieben wurde.262 Dabei entwickelte 258 Virchow an Goldstücker, 29.5.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. Zum Verhältnis von parlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition vgl. auch Langewiesche, Anfänge der deutschen Parteien, S. 318 ff. 259 Langewiesche, Republik, konstitutionelle Monarchie und »soziale Frage«, S. 544. 260 Rudolf Virchow, Radicalismus und Transaction, in  : MR, Nr. 14 vom 6.10.1848, S. 93–95, hier  : S. 95. Zu Struve und dem demokratischen Programm vgl. auch Paschen, Demokratische Vereine, S. 38. 261 (Anonym, vermutl. Rudolf Virchow), Die Anstellung von Armen-Aerzten, in  : MR, Nr. 30 vom 26.1.1849, S. 185–187 (I), Nr. 31 vom 2.2.1849, S. 189 f. (II) u. Nr. 32 vom 9.2.1849, S. 193–195 (III). 262 Vgl. dazu Dieter Langewiesche, Vereins- und Parteibildung in der Revolution von 1848/49 – Ein Diskussionsbeitrag, in  : Otto Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft, München 1984, S. 51–53  ; ders., Die Anfänge der deutschen Parteien. Partei, Fraktion und Verein in der Revolution von 1848/49, in  : Geschichte und Gesellschaft  4 (1978), S.  324–361  ; Manfred Botzenhart, 1848/49  : Europa im Umbruch, Paderborn u. a. 1998, S.  152–163  ; Michael Wettengel, Parteibildung in Deutschland. Das politische Vereinswesen in der Revolution von 1848, in  : Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 701–738.

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er sich zu einem Virtuosen der neuen politischen Öffentlichkeit, der die erforderlichen Instrumente  – Organisation und Finanzierung politischer Vereinigungen, Herstellung von Publizität durch Flugschriften und Zeitungen sowie schließlich den Kampf um politische Mehrheiten bei öffentlichen Veranstaltungen und Abstimmungen – erfolgreich meisterte. Als bald nach Ausbruch der Revolution die bisherigen Beschränkungen von Vereinen und Versammlungen fielen, schloss sich Virchow dem »Politischen Klub« an, der sich unmittelbar nach den Berliner Straßenkämpfen am 21.  März konstituierte.263 Hier sammelte sich zunächst ein breites politisches Spektrum von Sozialisten über gemäßigte Demokraten bis zu Liberalen, das vor allem durch den Willen geeint wurde, die März-Errungenschaften zu verteidigen und die Rückkehr der alten Verhältnisse zu verhindern. In den ersten Wochen seines Bestehens war der Politische Klub ein unverbindlicher Diskussionszirkel, dessen Sitzungen oft einen chaotischen Verlauf nahmen. Doch nachdem er am 21. Mai reorganisiert wurde, gewann er bald deutlichere politische Konturen. Mit der neuen Bezeichnung als »Demokratischer Klub« grenzte er sich stärker von den Liberalen ab, die im »Konstitutionellen Klub« ihr eigenes Forum besaßen. Jedoch konnte letzterer nicht mit dem Aufschwung des Demokratischen Klubs mithalten, der schnell wuchs und Ende Mai etwa 500 eingeschriebene Mitglieder besaß, wozu bei öffentlichen Versammlungen noch bis zu 4000 Zuhörer kamen.264 Virchow hielt mehrfach Ansprachen im Demokratischen Klub, in dem Arbeiter und andere Angehörige der Unterschichten zwar einen großen Teil des Publikums ausmachten, aber gleichwohl Studenten und Akademiker die Fäden in der Hand behielten.265 Der Demokratische Klub war damals die bedeutendste politische Organisation Berlins und zugleich das Schreckgespenst der revolutionsgeängstigten Teile des Bürgertums. Virchow zog sich aus diesem aber schon bald nach dessen Reorganisation zurück, wofür nicht politische Differenzen, sondern die Überlastung mit anderen Aufgaben verantwortlich war.266 Virchow wurde bei den am 1. Mai 1848 stattfindenden Urwahlen für die Preußische und die Deutsche Nationalversammlung im 87. Berliner Wahlbezirk, der »2971 Seelen u. 990 Urwähler« zählte, beide Male zum Wahlmann gewählt.267 Im Vorfeld dieser Wahlen war Virchow am 20. April von seinem Kollegen Robert Remak aufgefordert worden, einem »liberalen Klub«, dem sogenannten März-Klub, beizutreten, der zwischen Demokratie und Liberalismus pendelte und vor allem Professoren und hochgestellte Beamte zu seinen Mitgliedern zählte. Dieser sollte anscheinend zugleich auch die Funktion ei263 Adolf Wolff, Berliner Revolutions-Chronik, Vaduz/Lichtenstein 1979 (unveränderter Neudruck der Ausgabe Berlin 1851–1854), Bd. 1, S. 396–399. 264 Wolff, Revolutionschronik, Bd. 2, S. 562–565  ; Paschen, Demokratische Vereine, S. 33–37  ; Hachtmann, Berlin 1848, S. 272–275  ; Botzenhart, 1848/49  : Europa im Umbruch, S. 145. 265 Hachtmann, Berlin 1848, S. 276. 266 R. Virchow an Carl Virchow, 29.9.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 366 f. 267 R. Virchow an Carl Virchow, 1.5.1848, Druck  : ebenda, S. 345. Magistrat von Berlin an Virchow, 2.5.1848 u. 6.5.1848  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2744.

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nes Wahlkomitees für den linksliberalen Juristen und Initiator dieses Klubs, Rudolf von Gneist, ausüben,268 der sich – erfolglos – um ein Mandat für die Deutsche Nationalversammlung bemühte. Doch Virchow, der gemeinsam mit 14 anderen Wahlmännerkandidaten vor seiner eigenen Wahl zum Wahlmann noch mit einem Programm angetreten war, das demokratische mit liberalen Elementen vermischte,269 trat anschließend in den Wahlversammlungen öffentlich gegen die Gemäßigten auf. Damit trug er wesentlich zum Erfolg Benedikt Waldecks bei, der selbst mehrfach als Redner auftrat und hier zum Abgeordneten in der Berliner Nationalversammlung gewählt wurde.270 (Dort erlangte er als Vorsitzender des Verfassungsausschusses große Bedeutung bei der Ausarbeitung der preußischen Verfassung.) Waldeck und Rudolf Schramm, auch dieser ein prominenter Demokrat und Mitglied der Preußischen Nationalversammlung, empfahlen Virchow umgekehrt den Wahlmännern des thüringischen Kreises Ziegenrück, die auf der Suche nach einem Nachfolger für den ausgeschiedenen Abgeordneten Bürgermeister Franke waren. Diese wählten den ihnen persönlich unbekannten Virchow am 20. September,271 doch musste er das Mandat ablehnen, da er das erforderliche passive Wahlalter von 30 Jahren noch nicht erreicht hatte.272 Ansonsten würde er, so Virchow selbst, »jedenfalls zur äussersten Linken gehören«, auch wenn er »die Mittel, welche sie zur Erreichung ihrer Ideen« verwende, nicht immer billige.273 Aus den in diesen Wochen in dichter Folge stattfindenden Wahlversammlungen der Wahlmänner entstanden im Verlauf des Mai in mehreren Stadtbezirken Vereine, die sich zunächst als Wahlmänner- und Urwähler-Clubs, später dann als Bezirksvereine bezeichneten. Bis zum Sommer hatten sich 57 dieser Bezirksvereine gebildet, die Berlin fast flächendeckend überzogen und schließlich zur mitgliederstärksten politischen Organisation der Residenzstadt während des Revolutionsjahres wurden.274 Virchow gehörte dem Komitee des politisch besonders aktiven Friedrich-Wilhelmstädtischen Bezirksvereins (74. Bezirk) an, der eine überwiegend demokratische Färbung trug, weshalb er, wie Virchow seinem Vater schrieb, »sich nicht der Gunst des Reactionär’s zu erfreuen« habe. Besonders das starke proletarische Element in der Mitgliedschaft, von seinem Onkel Ma268 Robert Remak an R. Virchow, 20.4.1848  : ABBAW, Nr. 1688. Schmiedebach (Robert Remak, S. 44) hielt es irrtümlicherweise für »höchstwahrscheinlich«, dass der »März-Club« mit dem »Politischen Klub« identisch sei. 269 Eine »Ansprache an die Urwähler der Bezirke 74a, 74b und 74c« vom 26.4.1848 mit der Unterschrift Virchows und 14 anderer Wahlmännerkandidaten zeigt, dass hier bereits ein koordinierter Wahlkampf mit einer gemeinsamen programmatischen Plattform stattfand. (ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2744.). 270 Alfred Hermann, Berliner Demokraten. Ein Buch der Erinnerung an das Jahr 1848, Berlin 1848, S. 151  ; Robert Springer, Berlin’s Strassen, Kneipen und Clubs im Jahre 1848, Berlin 1850 (Reprint der Originalausgabe, Leipzig 1985), S. 79  ; R. Virchow an Carl Virchow, 18.5.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 350 ff. 271 Wahlmänner von Ziegenrück an Virchow, 20.9.1848  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2744. 272 Virchow an die Wahlmänner von Ziegenrück, 23.9.1848  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2744. 273 R. Virchow an Carl Virchow, 29.9.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 366. 274 Hachtmann, Berlin 1848, S. 634–637.

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jor Virchow verächtlich als »erbärmliches Gesindel«275 bezeichnet, mobilisierte in den konservativen Teilen des Bürgertums Klassenressentiments. Viele andere Bezirksvereine suchten dagegen zumindest anfänglich noch demokratische und liberale Tendenzen auszubalancieren.276 Anfang Juni ging aus diesen Bezirksvereinen als Dachorganisation der Bezirks-Centralverein hervor, dessen Vizepräsident Virchow wurde, obwohl er sich auf der Gründungsversammlung zunächst gegen die Zentralisierung der Bezirksvereine ausgesprochen hatte. Der Initiator dieses Zusammenschlusses, der Philologe Rudolf Löwenstein, hatte hier ein Programm vorgelegt, das es als Hauptaufgabe der Bezirksvereine bezeichnete, »durch gegenseitige Annäherung der Stände und Verbrüderung der Einzelnen der Entwickelung eines echten Bürgerthums zu dienen«. Zugleich sei in den Bezirksvereinen, im Gegensatz zu den politischen Klubs, »ein Mittel gefunden, die sich schroff gegenüberstehenden politischen Parteien zu versöhnen und zu vereinigen«. Zudem sollten die Bezirksvereine Kerne einer Selbstregierung der Stadt von unten nach oben sein, weshalb die allmählich angestrebte »Verbrüderung Aller« ihre Zentralisation erforderlich mache.277 Virchow widersprach diesem Konzept, das die frühliberale Utopie der »klassenlosen Bürgergesellschaft« (Lothar Gall) mit der demokratischen Vorstellung von Volkssouveränität verband, und lehnte deshalb zunächst auch ab, die Bezirksvereine zu zentralisieren. Für ihn waren die lokalen Vereine die geeigneten Orte, um die sozialen Anliegen zu verfolgen. Vor allem aber kritisierte er Löwensteins Vorhaben, die politischen und sozialen Spaltungen zu überwinden  : Die politischen Fraktionen müssten »auseinandergehalten werden, wenn sie Kraft haben sollten. An eine Annäherung und vollständige Verschmelzung der Stände könne er nicht glauben.« Schließlich willigte er zwar in den Versuch der Zentralisation ein. Doch bezweifelte er, dass hier die Majorität der Bevölkerung der Stadt zum Ausdruck komme278 und stellte damit indirekt auch die dort formulierte Erwartung in Frage, dass von hier aus die Legitimität der Stadtverordnetenversammlung in Frage gestellt werden könnte. Die hier angelegten Elemente einer »bürgerlichen Doppelherrschaft« in Berlin konnten sich angesichts des weiteren Verlaufs der Revolution nicht durchsetzen.279 Gleichwohl waren die Bezirksvereine langfristig von großer politischer Bedeutung  : Im Gegensatz zu vielen anderen politischen Organisationen überlebten sie die im Gefolge des am 13. November verhängten Ausnahmezustands verfügte Schließung aller politischen Klubs und Vereine und auch die Ära der Restauration. So wurden sie zum Kern der fortschrittsliberalen politischen Kultur Berlins, die sich seit dem Beginn der »Neuen Ära« in den 1860er Jahren entwickelte. 275 R. Virchow an Carl Virchow, 29.9.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 365. 276 Hachtmann, Berlin 1848, S. 638. 277 Bericht der Zeitungshalle über die Versammlung am 1.6.1848, zit. nach Wolff, Berliner Revolutions-Chronik, Bd. 3, S. 219 f., hier  : S. 219. 278 Ebenda. 279 Hachtmann, Berlin 1848, S. 640 f.

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Virchow hielt Massenorganisationen wie die Bezirksvereine oder den Bezirks-Centralverein, aber auch den Demokratischen Klub zwar für wichtige Instrumente zur Politisierung und Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten und beteiligte sich deshalb auch an Versammlungen von Handwerker- und Maschinenbauarbeitern.280 Allerdings ergänzte eine elitäre politische Strategie die Bemühungen um eine breite politische Basis in der Berliner Bevölkerung  : Im Frühsommer 1848 wirkte Virchow neben den Privatdozenten Heinrich Bernhard Oppenheim und Julius August Collmann, letzterer auch Mitglied des Komitees des Friedrich-Wilhelmstädtischen Bezirksvereins und des Central-Bezirksvereins, sowie Gustav Siegmund – auch er wichtig im Central-Bezirksverein  – an der Gründung des »Republikanischen Klubs« mit. Dies stand vermutlich im Zusammenhang mit den Ergebnissen des ersten Demokraten-Kongresses in Frankfurt am Main, der vom 14. bis 17. Juni getagt hatte. Unter Vorsitz Julius Fröbels hatten die dort versammelten 234 demokratischen Delegierten, die unter anderem 88 Vereine aus 66 Städten vertraten, die programmatischen Grundlinien der sich bildenden demokratischen Partei entworfen. Dort war die Absicht zur Parteibildung konkretisiert und mit der Begründung eines fünfköpfigen Zentralausschusses in Berlin die Verlagerung des politischen Schwerpunkts in die Berliner Residenzstadt beschlossen worden.281 Das Einladungsschreiben für die Gründungssitzung des Republikanischen Klubs am 23. Juni an 32 Adressaten, allesamt prominente Berliner Demokraten, nannte als ausdrückliches Ziel die Republik und schloss sich damit der in Frankfurt beschlossenen Linie an. Im Gegensatz zu den bereits erwähnten politischen Vereinen sollte hier zudem strenge Exklusivität der Mitglieder gewahrt sein  : Über die Mitgliedschaft sollte in geheimer Wahl abgestimmt werden, neue Mitglieder konnten nur auf Vorschlag von drei Mitgliedern und durch Zweidrittelmehrheit sämtlicher Mitglieder aufgenommen werden.282 Allerdings scheint sich die politische Bedeutung dieses Klubs in sehr engen Grenzen gehalten zu haben, wenngleich er konservativen Verschwörungsängsten neue Nahrung zuführte.283 Die Anstrengungen zum Aufbau einer Demokratischen Partei gipfelten im zweiten Demokraten-Kongress in Berlin, auf dem 230 Delegierte vom 26. bis 30. Oktober 1848 über die Verbesserung der Parteiorganisation, politische Ziele und das weitere Vorgehen diskutierten – unter ihnen auch Virchow, der als Vertreter des Friedrich-Wilhelmstäd-

280 R. Virchow an Carl Virchow am 1.7.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 357. 281 Paschen, Demokratische Vereine, S.  53–56  ; Gerhard Becker, Das Protokoll des ersten Demokraten-Kongresses vom Juni 1848, in  : Jahrbuch für Geschichte 8 (1973), S. 379–405. 282 Einladungsschreiben vom 20. Juni 1848  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2744. 283 Vgl. Hachtmann, Berlin 1848, S. 626 f. Der Umstand, dass auf dem zweiten Demokraten-Kongress in Berlin, der Ende Oktober stattfand, kein Delegierter des Republikanischen Klubs teilnahm, obwohl zahlreiche der ursprünglich vorgesehenen Mitglieder dort anwesend waren, lässt darauf schließen, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr existierte. Vgl. dazu die Teilnehmerliste des Demokratenkongresses bei Gustav Lüders, Die demokratische Bewegung in Berlin im Oktober 1848, Berlin u. Leipzig 1909, S. 164–167.

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tischen Bezirksvereins teilnahm.284 Im Gegensatz zu seinem Vorläufer in Frankfurt am Main dominierten auf diesem Kongress, zu dessen Präsident Ludwig Bamberger gewählt wurde, die preußischen Demokraten. Auf Vorschlag des Marburger Philosophieprofessors Karl Theodor Bayrhofer wurde Virchow zu einem der fünf Mitglieder der PrioritätsKommission gewählt. Aufgabe dieser Kommission sollte sein, inhaltliche Anträge für die allgemeine Versammlung vorzubereiten, die Tagesordnung festzusetzen und gelegentlich auch als Schlichtungsinstanz zu fungieren. Bald kam es aber zu einem Streit über die Aufgaben dieser Kommission, die der Flut der Anträge immer weniger Herr wurde. Ein wachsender Teil der Delegierten erklärte sich mit den durch diese Kommission gesetzten Prioritäten nicht einverstanden und ging deshalb dazu über, Direktanträge an dieser vorbei zu formulieren.285 Darin spiegelte sich die allgemeine Krise dieser Veranstaltung wider  : Zahlreiche Delegierte verließen den Kongress vorzeitig, darunter auch einige enge politische Freunde Virchows wie Gustav Siegmund, und vermutlich gehörte auch er selbst zu dieser Gruppe. Grund dafür war, dass vor allem über das Verhältnis der demokratischen Bewegung zur ›sozialen Frage‹ und zur Wiener Oktoberrevolution kein Konsens möglich war. Diese Bruchstelle markierte auch die Auseinandersetzung über das Verhältnis zu den politischen Forderungen der »Arbeiterverbrüderung« und des »Bundes der Kommunisten«. Wie sein Freund Wittich wenige Tage vor dem Kongress geschrieben hatte, war Virchow mittlerweile ein »richtiger Socialist« geworden.286 Zwar ordnete er sich selbst auf der äußersten linken Seite des preußischen parlamentarischen Spektrums ein, doch grenzte er sich gegen die kommunistischen Forderungen ab, die vor allem im außerparlamentarischen Raum der Arbeiterbewegung erstarkten und ihm auch bei seiner politischen Arbeit in Berlin mehr und mehr zu schaffen machten. Seinem besorgten Vater, der ihn in diesem Punkt drängte, seine Ansichten zu erläutern, schrieb er  : Den Communismus als solchen halte ich (…) für Wahnsinn, wenn man nämlich ihn direkt herstellen wollte. Den Socialismus dagegen erkenne ich als das einzige Ziel unserer Bestrebungen, freilich nicht dieses oder jenes System, wie es jetzt in Frankreich aufgestellt ist, sondern das Bemühen, die Gesellschaft zu vernünftigen Grundlagen zu führen, oder mit andren Worten, Einrichtungen zu treffen, welche uns dafür Gewähr leisten, dass der Pöbel aufhöre zu sein.

284 Siehe zum Folgenden ebenda, S. 84–109 u. 164  ; Paschen, Demokratische Vereine, S. 96–112  ; Hachtmann, Berlin 1848, S. 726–730  ; Gerhard Becker, Die ›soziale Frage‹ auf dem zweiten demokratischen Kongress 1848, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 15 (1967), S. 260–280. 285 Polizeipräsident von Berlin an Königliches Zivilkabinett, 9.5.1856  : GStA-PK, I. HA Rep. 89 Zivilkabinett, Nr. 21483 (M)  ; GstA-PK, I. HA Rep. 77 Tit 509 Nr. 1 Bd. 4, Bl. 282 ff. Siehe zum Folgenden v. a. Hachtmann, Berlin 1848, S.  726–730  ; Lüders, Die demokratische Bewegung in Berlin, S.  84–109, 152–191  ; Paschen, Demokratische Vereine, S. 96–112  ; Botzenhart, 1848/49  : Europa im Umbruch, S. 156 f. 286 Wittich an Virchow, 24.10.1848  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2363.

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Dieses Projekt, dem das Christentum bis zu einem gewissen Punkt vorgearbeitet habe, müsse nun von der Republik zu Ende geführt werden.287 Damit gehörte Virchow zu denen, die weitergehende Forderungen nach der Übernahme kommunistischer Positionen durch die Demokraten ablehnten. Hier stellt sich nun die Frage, welche Rolle die Wissenschaft dabei spielen sollte, die angestrebte demokratische Gesellschaftsreform zu erreichen. Und wie hing dies mit seinem standespolitischen Engagement in der Hochschul- und Medizinalreformbewegung zusammen  ? 2.2.3 Standespolitik und Gesellschaftsreform

Ende des Jahres 1848 entschuldigte sich Virchow bei einem Freund für die verspätete Beantwortung eines Briefes in folgender Weise  : »Ich habe Tag auf Tag geackert wie ein Lastpferd, auf politischem, socialem u. medicinischem Reformboden, u. wenn ich einen Augenblick stillstand, so geschah es nicht, um mein Herz zu erlaben, sondern um meine Glieder auszuruhen.«288 Neben den geschilderten politischen Aktivitäten setzte er nicht allein seine wissenschaftliche Arbeit und seine Lehrtätigkeit fort, sondern engagierte sich auch für die Hochschul- und die Medizinalreform, die im Revolutionsjahr zu breiten Bewegungen anwuchsen. In beiden Fällen blieben diese Bestrebungen am Ende ergebnislos  : Weder das medizinische System noch die Universität bewegten sich durch diese Reforminitiativen. So interessiert im Folgenden vor allem die Frage, inwieweit diese lediglich Statusprobleme der Privatdozenten beziehungsweise der Ärzte berührten, oder inwieweit diese Bestrebungen von Bedeutung für die politische und gesellschaftliche Rolle von Wissenschaft insgesamt waren. Im Mittelpunkt der Universitätsopposition, die sich nicht nur in Berlin, sondern auch an vielen anderen deutschen Universitäten formierte,289 stand zunächst die standespolitisch motivierte Auseinandersetzung der Privatdozenten und Extraordinarien mit den Ordinarien, die weitgehend innerhalb des Horizonts einer außerhalb der liberalen Staatsbürgergesellschaft stehenden akademischen Korporation verlief.290 Eine kleine Minderheit, die demokratisch-republikanischen Positionen nahe stand, versuchte aber, die Universitätsreform stärker mit der allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu verknüpfen. Im April beriet eine Versammlung der Privatdozenten und Extraordinarien der Berliner Universität auf der Grundlage der Vorschläge eines sechsköpfigen Komitees Maßnahmen, um die Stellung dieser Statusgruppen zu verbessern. Diese liefen vor allem darauf hinaus, die Privilegien der ordentlichen Professoren einer287 R. Virchow an Carl Virchow, 13./23.5.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 406. 288 Virchow an v. Wittich, 9.12.1848, Druck  : Manfred Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe des 19. Jahrhunderts, Göttingen u. a. 1975, S. 93. 289 Vgl. dazu Karl Griewank, Deutsche Studenten und Universitäten in der Revolution von 1848, Weimar 1949  ; Thielbeer, Universität und Politik in der Deutschen Revolution, S. 198–206. 290 Vgl. dazu Bruch, Universitäten in der Revolution, S. 138 ff.

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seits zu beschränken und andererseits an diesen zu partizipieren und auf diese Weise den bestehenden Statusunterschied zu nivellieren.291 Virchow versuchte, auf diese Vorschläge über Robert Remak einzuwirken und wollte dabei die Tendenz zur Aufhebung der Privilegien der Professoren verschärfen.292 Dazu gehörte die Forderung, die Besetzung von Professorenstellen nach französischem Vorbild von einem »öffentlichen Concurs« abhängig zu machen. Dies richtete sich gleichermaßen gegen staatliche Eingriffe und nepotistische Praktiken der Fakultäten  : In einem freien Staat sollte eine wissenschaftliche Stelle nicht durch Entscheidung eines Ministers, sondern durch den Beschluss »eines competenten, aus Männern der Wissenschaft frei hervorgegangenen Körpers« besetzt werden.293 Das französische Prinzip des concours galt nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und den USA als Verkörperung des meritokratischen Ideals und verband damit die Bemühungen zur Reform der medizinischen Profession eng mit der Frage der Werte, auf der die Gesellschaft insgesamt beruhte oder beruhen sollte.294 Virchows Vorstellungen gingen jedoch weit über die standespolitischen Forderungen hinaus, die im Mittelpunkt der Universitätsopposition standen  : Die Reorganisation der Universitäten sollte dafür sorgen, dass diese nicht mehr »blosse Anstalten für das Brodund Fachstudium« seien, sondern »Heerde der allgemeinen menschlichen Bildung« würden.295 Die von ihm geforderte »demokratische Universität« würde »die Trennung der realistischen und humanistischen Wissenschaften, der Empirie und der Spekulation auflösen, kurz, sie wird die Philosophie naturwissenschaftlich, die Naturwissenschaften philosophisch machen, sie wird die Einheit des Wissens im Humanismus darstellen«296. Diese Forderungen nahmen zum Teil vorweg, was Virchow 45 Jahre später in seiner Rede anlässlich des Stiftungsfests der Berliner Universität als den Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter charakterisierte.297 1848 wie 1893 stand dabei der Bildungswert der Naturwissenschaften im Mittelpunkt. Jedoch ging es ihm während der Revolution auch darum, die von reiner Fachausbildung zu entlastenden Universitäten stärker in die gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen 291 Im Einzelnen finden sich diese Vorschläge und deren weiteres Schicksal erörtert bei Lenz, Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd.  2/2, S.  260 ff.; Schmiedebach, Robert Remak, S.  46–48  ; Hachtmann, Berlin 1848, S. 360 f. Vgl. allgemein zu diesem Zusammenhang auch Griewank, Deutsche Studenten und Universitäten, S. 56 ff. 292 Virchow an Remak, 14.4.1848, zit. nach Schmiedebach, Robert Remak, S. 48. 293 (Anonym, vermutl. Rudolf Virchow), Die medicinischen Anstellungen, in  : MR, Nr.  50 vom 15.6.1849, S. 265 f.; siehe auch Virchow, Der Concurs, in  : MR, Nr. 15 vom 13.10.1848, S. 101 f. 294 Für eine Vergleichsperspektive siehe John Harley Warner, Against the Spirit of System. The French Impulse in Nineteenth-Century American Medicine, Princeton 1998, S. 191–210. 295 Rudolf Virchow, Der medicinische Unterricht, in  : MR, Nr. 12 vom 22.9.1848, S. 77–79, hier  : S. 77. 296 Ebenda. Unter dem Begriff »Humanismus« verstand Virchow dabei die »realistische Philosophie«. 297 Rudolf Virchow  : Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter. Rede am 3. August 1893 in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehalten von dem derzeitigen Rector Rudolf Virchow, Berlin 1893.

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einzubeziehen. So forderte die Berliner Universitätsopposition in einem von Virchow mitunterzeichneten Schreiben an den preußischen Kultusminister vom 17. Mai auch die Möglichkeit, die vorhandenen »geistigen Kräfte« der Universität »an der Neugestaltung der Verhältnisse« zu beteiligen.298 Dabei griff auch die Gegenseite in diese politische Auseinandersetzung ein  : Am 24. November erklärten 80 Hochschullehrer der Berliner Universität in einer Loyalitätsadresse an den preußischen König, dass sie der angeordneten Vertagung der Preußischen Nationalversammlung zustimmten, habe diese doch »unter dem physischen und moralischen Einfluss einer Schreckensherrschaft« gestanden. Dagegen trug eine Zustimmungsadresse der Universitätslehrer an die Nationalversammlung nur 18 Unterschriften, darunter vor allem Privatdozenten wie Robert Remak, Edmund Dann, Rudolf Leubuscher und Rudolf Virchow aus der medizinischen Fakultät, aber auch Julius August Collmann und Heinrich Bernhard Oppenheim,299 die mit Virchow bei der Gründung des Republikanischen Klubs zusammengewirkt hatten. Eine solche Stellungnahme bedeutete ein hohes Karriererisiko. Dabei reagierte die Universität keineswegs nur auf staatlichen Druck, sondern verfolgte auch von sich aus Hochschullehrer, die ihre Sympathien mit den Zielen der Revolution offen bekundet hatten, mit Strafmaßnahmen.300 Virchow geriet während dieser Zeit in Konflikt mit seinem alten Lehrer Johannes Müller, der bei Ausbruch der Revolution das Rektorat der Berliner Universität innehatte (was diesen acht Jahre später nicht daran hindern sollte, Virchows Rückberufung nach Berlin zu betreiben). Müller widersetzte sich insbesondere der Forderung der Privatdozenten und Extraordinarien, die Korporationsrechte zu erhalten und wollte die selbständige Meinungsäußerung dieser Statusgruppen nach Möglichkeit beschränken.301 Nachdem aber die Gegenrevolution im Herbst 1848 die politische Initiative zurückeroberte, wurden alle Forderungen der Universitätsopposition Makulatur, und so blieb es bei einigen vorübergehenden geringen Zugeständnissen an die Extraordinarien.302 Während die Universitätsopposition primär die bestehende Benachteiligung der Privatdozenten und Extraordinarien innerhalb der Universität angriff, strebten die Ärzte während der Revolution vor allem die Bildung eines »Einheitsstandes« sowie eine bessere 298 Lenz, Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd.  2/2, S.  265. Virchow hatte vermutlich in der Zwischenzeit Remak als Mitglied des sechsköpfigen Ausschusses der Privatdozenten und Extraordinarien ersetzt. Siehe ebenda, S. 264. 299 »Personal-Nachrichten«, in  : MR, Nr. 22 vom 1.12.1848, S. 156  ; vgl. auch Lenz, Geschichte der FriedrichWilhelms-Universität, Bd. 2/2, S. 277. 300 Hachtmann, Berlin 1848, S. 363. 301 Johannes Müller an Kultusministerium, 24.6.1848, zit. bei Lenz, Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd. 2/2, S. 267–269. Siehe auch Schmiedebach, Robert Remak, S. 45–50  ; Bruch, Universitäten in der Revolution 1848/49, S. 134 f.; Hachtmann, Berlin 1848, S. 360–364. 302 Lenz, Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd. 2/2, S. 270–276.

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materielle Absicherung durch rechtliche Gleichstellung mit den Staatsbeamten an.303 Damit wollten sie ihre soziale Situation verbessern sowie die starke staatliche Gängelung verringern. Diese Ziele hatten bereits im Mittelpunkt der Medizinalreformbewegung der 1840er Jahre gestanden. In der Zeit der Revolution wurde Virchow zu einem der wichtigsten Wortführer dieser Bewegung. Zum Brennpunkt wurde die aus einem Beschluss der Gesellschaft für Geburtshülfe vom 2.  April 1848 hervorgegangene General-Versammlung der Berliner Ärzte, welche die schon bestehenden ärztlichen Organisationen zusammenfassen sollte. Virchow, den die Geburtshilfliche Gesellschaft delegiert hatte, amtierte dort als Vizepräsident. Von Juli 1848 bis Juni 1849 verfügte er überdies durch die zunächst gemeinsam mit Rudolf Leubuscher herausgegebene Wochenschrift Die medicinische Reform über ein eigenes publizistisches Sprachrohr, dessen Titel sich an das seit April von Heinrich Oppenheim und Arnold Ruge herausgegebene demokratische Parteiblatt Die Reform anlehnte. Allerdings darf die zeitgenössische Wirkung dieser Zeitschrift, die mangels einer ausreichenden Käuferschaft stets unter chronischen finanziellen Nöten litt, nicht überschätzt werden. Auch die General-Versammlung war alles andere als ein eindrucksvolles repräsentatives Organ der Berliner Ärzte  : Vereinte sie anfänglich 300 promovierte Ärzte von den damals in Berlin insgesamt 430 »Medicinalpersonen«, schrumpfte sie rasch auf etwa 50 bis 60 Teilnehmer und vertrat damit nur noch eine Minderheit. Überdies konkurrierte sie mit dem allerdings nur kurzlebigen »Medicinischen Club«, an dem neben jüngeren Ärzten auch Studenten teilnahmen. Eine weit bedeutsamere Konkurrenz war zudem der von dem bekannten Berliner Orthopäden Wolff Berend gegründete »Verein praktischer Aerzte und Wundaerzte zur Förderung der Gesammtinteressen des Heilpersonals«, der, anders als die General-Versammlung, auch Wundärzte aufnahm.304 Die Medizinalreformbewegung wird historisch unterschiedlich eingeordnet  : Einige Historikerinnen und Historiker interpretieren diese als medizinische Standesbewegung, der es in erster Linie um die Professionalisierung des Ärztestands sowie die Ausdehnung des Markts für medizinische Dienstleistungen gegangen sei.305 Andere unterstreichen dagegen den umfassenden gesellschaftspolitischen Ansatz der Medizinalreformbewegung.306 Auch Gerd Göckenjan schlug in diese Kerbe  : »Das Besondere ist, dass Standes303 Vgl. zum Folgenden vor allem Finkenrath, Medizinalreform  ; Ackerknecht, Beiträge zur Geschichte der Medizinalreform  ; Bleker, Biedermeiermedizin  ; Huerkamp, Aufstieg der Ärzte, S. 243 ff.; Schmiedebach, Robert Remak, S. 51–68  ; Hachtmann, Berlin 1848, S. 372–377. 304 Carl Posner, Zur Geschichte des ärztlichen Vereinswesens in Berlin, in  : Berliner Klinische Wochenschrift, Nr. 50 vom 11.12.1893, S. 1231. Siehe auch Eduard Graf, Das ärztliche Vereinswesen in Deutschland und der Deutsche Ärztevereinsbund, Leipzig 1890, S. 7–9. 305 Huerkamp, Aufstieg der Ärzte, S.  243–245 u. 304  ; vgl. auch Frevert, Krankheit als politisches Problem, S. 144–150, sowie Finkenrath, Medizinalreform, hier v. a. S. 11. 306 Ackerknecht, Beiträge zur Geschichte der Medizinalreform, S.  93. Vgl. dazu auch Schmiedebach, Robert Remak, S. 53.

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politik jetzt als allgemein gesellschaftliches, als universelles Problem abgehandelt worden ist.« Neu sei »die leitende Rahmenideologie  : Die naturwissenschaftliche Methode ist der universelle Reformhebel, der für alles Wissenschaftliche und alles Gesellschaftliche gültig sein soll.« So habe die »Forderung der unbeschränkten Einsetzung des universalen Mittels Naturwissenschaft (…) offenbar eine gewisse soziale Sprengkraft erhalten«307. Letztlich schließen sich beide Deutungen aber nicht aus  : Denn der auf die Naturwissenschaft gestützte gesellschaftliche Gestaltungsanspruch konnte umgekehrt auch standespolitischen Interessen dienen. Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, welche Rolle in diesem Zusammenhang die Autorität der Naturwissenschaft als Brücke zwischen Wissenschaft und Politik spielte. Die Verfechter der neuen naturwissenschaftlich orientierten Medizin der vierziger Jahre verfolgten als wissenschaftslogischen Ansatz die Einheit der Natur, die sie als Einheit des Stofflichen auffassten. Damit wiesen sie zugleich alle dualistischen Denkbewegungen zurück308 und suchten statt dessen mechanistisch-materialistische Erklärungen. Zur Gruppe dieser »Mechanisten« gehörten neben Virchow vor allem auch die organischen Physiologen um Hermann von Helmholtz, Emil du Bois-Reymond, Ernst Brücke und Carl Ludwig.309 Aus dem Anspruch der naturwissenschaftlichen Medizin, »alle Kenntnis von den Gesetzen, welche den Körper und den Geist zu bestimmen vermögen, in sich« zu vereinigen,310 ließen sich weitreichende gesellschaftliche Forderungen entwickeln  : Bereits in der vorrevolutionären Situation im Dezember 1847 erklärte Virchow in der Berliner Gesellschaft für wissenschaftliche Medizin, welche Rolle eine als Naturwissenschaft verstandene Medizin angesichts der Tatsache spielen solle, dass jedes Jahr »den Tagen der socialen Entscheidung näher« führe  – natürlich ohne zu wissen, dass diese Situation tatsächlich bald eintreten würde. Anfänglich hatte das Programm der »naturwissenschaftlichen Medizin«, die »als Wissenschaft vom Menschen, als Anthropologie im weitesten Sinne, als ideal (prophetisch), als höchste Naturwissenschaft gefasst werden müsse«, somit vor allem dazu gedient, eine neues Paradigma innerwissenschaftlich durchzusetzen. Nun aber wurde der Autoritätsanspruch der naturwissenschaftlichen Medizin auf Staat und Gesellschaft ausgedehnt. Virchow forderte in diesem Vortrag ein allgemeinpolitisches Mandat der Mediziner, das in einer an Platons Philosophenherrschaft angelehnten Utopie eingebettet war  : In Wirklichkeit, wenn die Medicin die Wissenschaft von dem gesunden und kranken Menschen ist, was sie doch sein soll, welche andere Wissenschaft könnte mehr berufen sein, in die 307 Gerd Göckenjan, Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1985, S. 279. 308 Ebenda, S. 261. 309 Vgl. Anne Harrington, Reenchanted Science. Holism in German Culture from Wilhelm II. to Hitler, Princeton 1996, S. 7–12. 310 Virchow, Die naturwissenschaftliche Methode und die Standpunkte in der Therapie, S. 36 f.

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Gesetzgebung einzutreten, um jene Gesetze, welche in der Natur des Menschen schon gegeben sind, als die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung geltend zu machen. Der Physiolog und der praktische Arzt werden, wenn die Medicin als Anthropologie einst festgestellt sein wird, zu den Weisen gezählt werden, auf denen sich das öffentliche Gebäude errichtet, wenn nicht mehr das Interesse einzelner Persönlichkeiten die öffentlichen Angelegenheiten mehr bestimmen wird.311

Virchow erhob also bereits Ende 1847 die Forderung nach einem institutionell abgesicherten Anteil der Medizin an der Gesetzgebung, ohne dass er in der vorrevolutionären Situation bereits konkrete politische Modelle formuliert hätte. Als Legitimationsquelle diente Virchow die Kompetenz des Naturwissenschaftlers, die angeblich auch das Leben der Menschen und der menschlichen Gesellschaft leitetenden Naturgesetze erfassen zu können. Damit knüpfte er an das gleichfalls 1847 erschienene Werk des zwei Jahre älteren Berliner Arztes und Sozialhygienikers Salomon Neumann über Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigenthum an. Für Neumann besaß die Medizin die Kompetenz zu entscheiden, welches »die eigentliche naturgemäße Organisation der menschlichen Gesellschaft sei (…), denn die medicinische Wissenschaft ist in ihrem innersten Kern und Wesen eine sociale Wissenschaft«. Das Eigentum an Gesundheit – d. h. das einzige Eigentum der Besitzlosen in der bürgerlichen Gesellschaft – erklärte er dabei zum wesentlichen Menschenrecht und zugleich ihren Erhalt zur Hauptaufgabe des Staates, die sich in der öffentlichen Gesundheitspflege verwirklichen müsse.312 Virchow machte sich diese Gedankengänge teils wörtlich zu eigen. So erklärte er, dass die Ärzte als die »natürlichen Anwälte der Armen«, in deren Jurisdiktion die soziale Frage zu einem erheblichen Teil falle, zugleich eine Art von Vormundschaft für diese übernehmen sollten.313 Tatsächlich haftet der im November 1848 von Virchow mit großer Geste verkündeten Aufhebung der Differenz zwischen der Medizin als einer »socialen Wissenschaft« und der Politik ein Moment des medizinischen Paternalismus an. So lässt sich auch darüber diskutieren, inwieweit seine berühmte Formulierung, wonach »die Politik (…) weiter nichts [sei], als Medicin im Grossen«314, letztlich eine auf die esoterische Kenntnis der Naturgesetze gestützte Expertenherrschaft imaginierte. Wie passte also das hier formulierte Elitenbewusstsein mit demokratischer Politik zusammen  ? Nach dem Ausbruch der Revolution begründete Virchow auch seine politischen Präferenzen mit der Naturwissenschaft, wie er seinem Vater am 1. Mai 1848 erklärte  :

311 Ebenda, S. 36. 312 Salomon Neumann, Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigenthum. Kritisches und Positives mit Bezug auf die preußische Medizinalverfassungs-Frage, Berlin 1847, S. 63–112, Zitat  : S. 64 f. 313 Rudolf Virchow, Was die »medicinische Reform« will, in  : MR, Nr. 1 vom 10.7.1848, S. 1 f., hier  : S. 2. 314 Ders., Der Armenarzt, in  : MR, Nr. 18 vom 3.11.1848, S. 125–127.

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In den Menschen habe ich mich oft getäuscht, in der Zeit noch nicht. Davon habe ich den Vortheil gehabt, dass ich jetzt kein halber Mensch bin, sondern ein ganzer, u. dass mein medicinisches Glaubensbekenntniß in mein politisches u. sociales aufgeht. Als Naturforscher kann ich nur Republikaner sein, denn die Verwirklichung der Forderungen, welche die Naturgesetze bedingen, welche aus der Natur des Menschen hervorgehen, ist nur in der republikanischen Staatsform wirklich ausführbar.315

Die hier formulierte Sehnsucht nach »Ganzheit« lässt sich als ein verbreiteter Reflex auf die mit der Moderne einhergehende Ausdifferenzierung von Wertsphären und damit verbundener Ambivalenzerfahrungen deuten. Im Zeichen der Revolution versuchte Virchow vorübergehend, diesen zu entfliehen  : Dazu gehörte die Entdifferenzierung von Politik und Wissenschaft sowie die Aufhebung des Gegensatzes von Theorie und Praxis ebenso wie des von privater Sphäre und Öffentlichkeit. Ähnlich wie die Junghegelianer näherte sich Virchow in dieser Zeit dem Typus des Gedanken und Tat in sich vereinigenden »totalen Intellektuellen«, wie er später im 20. Jahrhundert auftrat.316 Vor dem Hintergrund eines Selbstverständnisses als »ganzer Mensch« wurde die Verwirklichung der Republik zu einem Gebot einer als in sich vernünftig gedachten Natur. Indem man sich auf die allgemein gültigen Naturgesetze als Grundlage des ärztlichen Handelns berief, ließ sich überdies behaupten, dass nicht lediglich Partikularinteressen der Ärzte vertreten würden, wenn ein ärztliches Standesproblem zum Rationalitätsproblem der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt erklärt wurde.317 Virchows Medicinische Reform ernannte die Ärzte somit zu »Hohenpriester(n) der Natur in der humanen Gesellschaft«, deren letzte Aufgabe »die Constituirung der Gesellschaft auf physiologischer Grundlage« bildete.318 Aus dem Spannungsverhältnis zwischem dem esoterischen Wissen in den Händen medizinischer Experten und dem Wohl der vielen ungebildeten Laien resultierte somit ein eher republikanisches als demokratisches Politikverständnis. Die hier entworfene Identität des modernen Naturwissenschaftlers und des republikanischen Politikers stützte sich auf ein Modell des gesellschaftlichen und menschlichen Fortschritts, das in direkter Abhängigkeit von den Naturgesetzen stand und somit dem Naturwissenschaftler eine privilegierte Position einräumte. Die politischen Vorstellungen Virchows, der damals stark vom linkshegelianischen Radikalismus beeinflusst war, 315 R. Virchow an Carl Virchow, 1.5.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 347. 316 Vgl. Christophe Charle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997, S. 76 f. 317 Göckenjan, Kurieren, S. 283 u. 285. 318 (Anonym, vermutl. Rudolf Virchow), Der Staat und die Aerzte, in  : MR, Nr.  37 vom 16.3.1849, S.  212 f., Nr. 38 vom 23.3.1849, S. 217 f., Nr. 39 vom 30.3.1849, S. 221 f., Nr. 40 vom 6.4.1849, S. 225 f. u. Nr. 41 vom 13.4.1849, S. 229 f. Auf Ähnlichkeiten zu den Ideen Auguste Comtes verweist Gunter Mann, Biologie und Geschichte. Ansätze und Versuche zur biologistischen Theorie der Geschichte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in  : Medizinhistorisches Journal 10 (1975), S. 281–306, hier  : S. 294.

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lehnten sich eng an die soziale Pädagogik Julius Fröbels319 an und berührten sich zugleich mit den Ideen Arnold Ruges und des frühen Karl Marx320  : Wir sind einfach Naturforscher und als solche verlangen wir nicht nur, dass jeder Einsichtige dazu beitrage, den allgemeinen Naturgesetzen, welche sich aus der Phänomenologie des Menschen ergeben, Anerkennung zu verschaffen, weil nur unter der Herrschaft dieser Gesetze ein befriedigender Zustand Aller möglich ist, sondern wir erwarten auch zuversichtlich, dass die Menschheit dahin kommen werde, sich selbst als den Zweck ihrer Handlungen zu begreifen.321

Die hier entworfene naturwissenschaftliche Politik ging einher mit einer großen Erziehungsaufgabe, in deren Verlauf naturwissenschaftliche Grundsätze und naturwissenschaftliches Denken verallgemeinert werden sollten. Das Ende der Geschichte, »ihre endliche Ruhe«, würde erst erreicht sein, »wenn wir auf dem kosmopolitischen Standpunkt, dem der humanen, naturwissenschaftlichen Politik, dem der Anthropologie oder der Physiologie (im weitesten Sinne) angelangt sein werden«322. Auf dem langen Weg bis zur Verwirklichung der »humanen Gesellschaft«, in der die Naturgesetze in der menschlichen Gesellschaft verwirklicht sein würden, sollten die naturwissenschaftlichen Ärzte den Weg weisen,323 denen in diesem geschichtlichen Stadienmodell somit die Rolle einer historischen Avantgarde zufiel. In der konkreten politischen Situation waren jedoch Volkssouveränität einerseits und ärztliches Politikprivileg andererseits schwer vereinbar. Virchow unterstützte prinzipiell die demokratische Forderung, wonach ständische Sonderinteressen nicht in einer eigenen Kammer vertreten sein sollten. Dies berührte zugleich den Kern der Auseinandersetzung um das Ein- oder Zweikammersystem zwischen Demokraten und Liberalen. Dabei stellte er fest, dass mit dem Übergang der gesetzgebenden Gewalt in ein gewähltes Parlament deren Inkompetenz noch nicht überwunden sei – genau genommen habe sich »ja mit der Begründung eines so vielköpfigen Körpers (…) das Bedürfnis nach einem competenten Organ noch gesteigert«. Damit, so Virchow, der zu dieser Zeit auch Montesquieus De l’Esprit des lois las, gelange man zu der grundsätzlichen »Frage, in welcher 319 Siehe etwa Rudolf Virchow, Die öffentliche Gesundheitspflege, in  : MR, Nr. 5. vom 4.8.1848, S. 21 f., hier  : S. 21. Vgl. dazu Rainer Koch, Demokratie und Staat bei Julius Fröbel. 1805–1893. Liberales Denken zwischen Naturrecht und Sozialdarwinismus, Wiesbaden 1978, v. a. S. 78–105  ; Göckenjan, Kurieren, S. 284. 320 Wolfgang Jacob, Medizinische Anthropologie im 19. Jahrhundert. Mensch – Natur – Gesellschaft. Beitrag zu einer theoretischen Pathologie. Zur Geistesgeschichte der sozialen Medizin und allgemeinen Krankheitslehre Virchows, Stuttgart 1967, S. 152. 321 Rudolf Virchow, Die öffentliche Gesundheitspflege, in  : MR, Nr. 7 vom 18.8.1848, S. 37–40, hier  : S. 37. 322 Ders., Die öffentliche Gesundheitspflege, in  : MR, Nr. 5 vom 4.8.1848, S. 21. 323 Siehe etwa (Anonym, vermutl. Rudolf Virchow), Der Staat und die Aerzte (II), in  : MR, Nr. 38 vom 23.3.1849, S.  217 f., hier  : S.  218. Vgl. dazu auch Gunter Mann, Medizinisch-biologische Ideen und Modelle in der Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts, in  : Medizinhistorisches Journal 4 (1969), S. 1–23.

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Weise der demokratische Staat den Einzelbedürfnissen Gelegenheit geben soll, auf die Gesetzgebung durch anerkannte, officielle und doch freie Organe einwirken zu können, um dieselbe vor Fehlgriffen zu bewahren«324. Die aus dem demokratischen Prinzip der Volkssouveränität resultierende »Herrschaft der Majoritäten« widersprach laut Virchows Medicinischer Reform der »Möglichkeit jener noblen Anarchie (…), welche, indem sie das Königthum jedes Einzelnen begründe, nur die Herrschaft der Vernunft, die abstracte Herrschaft noch zuliesse«325. Im Konflikt zwischen der volonté de tous und der volonté génerale trat hier also idealerweise der Mehrheitswille zurück hinter den abstrakten Gesamtwillen in Gestalt von selbstberufenen Einzelnen, die sich auf das Mandat der Vernunft stützten  – hier schwebte Virchow vermutlich sein eigenes Beispiel vor. Mit der damit anklingenden Vision eines ›naturwissenschaftlichen Tugendstaats‹ war jedoch das Problem verbunden, wie solche ›Geburtshelfer der Vernunft‹ legitimiert sein würden. Zu diesem Zweck wollte Virchow neben der Volksvertretung und der Regierung »competente Organe zur Concentration der Einzelbestrebungen« schaffen, namentlich »sachverständige Bezirksausschüsse und ein daraus hervorgehender Gesundheitsrath«326. Ein solcher »Congress der Sachverständigen« sollte als »eine vorher begutachtende, officiell anerkannte Commission«327 die »Herrschaft der Vernunft«328 – d. h. die Stimme der ärztlichen Experten – zur Geltung bringen. Insbesondere betrachtete er diese als einziges geeignetes Organ für Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege, deren Ziel nach einem Beschluss der General-Versammlung sein sollte, »für die gesundheitsgemässe Entwickelung der Staatsangehörigen in geistiger und leiblicher Beziehung« zu sorgen.329 Dabei sollte es sich ausdrücklich nicht um eine »ministerielle Informationsinstanz« handeln, wie sie auch bisher schon existiert hatte, sondern um »einen competenten Körper, der der gesetzgebenden Gewalt überhaupt die Grundlagen ihrer Berathungen vorbereitete«330. Virchow formulierte hier ein Modell, das Wissenschaft und Politik in der Gestalt des nur der »Vernunft« verpflichteten Experten vereinigte und damit zumindest im Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege gleichermaßen die Kompetenz der Bürokratie und des Parlaments einzuschränken suchte. 324 Ders., Der medicinische Congress, in  : MR, Nr. 17 vom 27.10.1848, S. 118. Siehe auch (Anomym, vermutl. Rudolf Virchow), Der Staat und die Aerzte (V), in  : MR, Nr. 41, S. 229 f., hier  : S. 229  : Auch im demokratischen Staat bestünde somit ein »Bedürfniss von sachverständigen, legalen Organen der Einzelinteressen, welche als vorberathende Körper neben der Volksvertretung stehen und ohne deren Beirath kein allgemeines Gesetz erlassen werden darf«. 325 (Anonym, vermutl. Virchow), Die Anstellung von Armen-Aerzten (II), S. 189. 326 Siehe den Bericht über General-Versammlung Berliner Aerzte und Wundärzte in »Berichte über ReformVorgänge«, in  : MR, Nr. 43 vom 27.4.1849, S. 239. 327 Rudolf Virchow, Der medicinische Congress, in  : MR, Nr. 17 vom 27.10.1848, S. 117–119, hier  : S. 118. 328 (Anonym, vermutl. Virchow), Die Anstellung von Armen-Aerzten (II), S. 189. 329 Berichte über die Reform-Vorgänge, in  : MR, Nr. 40 vom 6.4.1849, S. 227 f., hier  : S. 227. 330 (Anonym, vermutl. Rudolf Virchow), Die medicinische Verwaltung, in  : MR, Nr. 49 vom 8.6.1849, S. 261 f., hier  : S. 261.

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In diesen Auseinandersetzungen ging es also nicht allein um die Rolle gesellschaftlicher Sonderinteressen, sondern darüber hinaus um die des wissenschaftlichen Experten in politischen Entscheidungsprozessen. Zudem wird hier das Verständnis Virchows für das Verhältnis von wissenschaftlicher Organisation und gesellschaftlichem und politischem Einfluss deutlich  : Einerseits vertrat er das Prinzip der Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft durch Assoziationen und Vereine auch im Bereich der Wissenschaft. Virchow zeigte sich »als der liberalen Staatslehre verhaftet und versuchte, den durch das Auseinandertreten von Gesellschaft und Staat freigewordenen Raum zu nutzen, um der organisierten Ärzteschaft als gesellschaftlicher Gruppe ein möglichst großes Feld politischer und sozialer Kompetenz zu sichern«331. Jedoch ging er über dieses unter den Ärzten weithin akzeptierte Prinzip hinaus, indem er unveränderlich überzeugt war, dass ohne ein gewisses Maß an Zentralisation ein gesellschaftlicher Einfluss der Wissenschaft nicht zu haben sei.332 So geriet Virchow in einen Konflikt mit seinen ärztlichen Kollegen, die zögerten, sich in der von ihm geforderten Weise zusammenzuschließen. Den Anlass dafür lieferte, dass er sein Konzept einer zentral organisierten Ärzteschaft als kompetenter gesetzgeberischer Institution im Bereich der Gesundheitspolitik mit der Diskussion um die Reorganisation der Armenkrankenpflege vermischte. Vor allem über die Frage der demokratischen Legitimierung der hier zu schaffenden ärztlichen Gremien stritt Virchow heftig mit anderen Protagonisten der Medizinalreform, darunter Salomon Neumann, Rudolf Leubuscher und Robert Remak.333 In den Diskussionen der General-Versammlung forderte Virchow den Zusammenschluss sämtlicher Ärzte eines Bezirkes in einer »Association«. Diese sollten gleichermaßen helfen, die ständisch geprägten, exklusiven Korporationen zu überwinden, und vor der drohenden Anarchie des Marktes schützen. So sei das »Einzige was die Freiheit, die Entwicklungsfähigkeit, die Gegenseitigkeit und das gleiche Recht verbürgt, (…) die mit der Zustimmung und durch den Willen der Gesammtheit gegründete, in ihrem Inneren frei und selbständig thätige, nach aussen kräftig gegliederte Association«334. Virchows Assoziationsmodell ähnelte einer Gebietskörperschaft, der alle Ärzte eines bestimmten Bezirkes angehören sollten.335 Der schädliche ärztliche »Indifferentismus und Particularismus« müsse untergraben »und auch die Böswilligen durch die morali331 Schmiedebach, Robert Remak, S. 65. Vgl. auch Bussmann, Rudolf Virchow und der Staat. 332 Siehe etwa (Anonym, vermutl. Rudolf Virchow), Der Staat und die Aerzte (V), in  : MR, Nr. 41 vom 13.4.1849, S. 229 f., hier  : S. 230. 333 Vgl. dazu vor allem Schmiedebach, Robert Remak, S. 64–68. 334 (Anonym, vermutl. Rudolf Virchow), Die Anstellung von Armen-Aerzten (III), S. 193. 335 (Anonym, vermutl. Rudolf Virchow), Der Staat und die Aerzte (V), in  : MR, Nr. 41 vom 13.4.1849, S. 228 f. Vgl. auch Wolfgang Hardtwig, Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft, Gewerkschaft, in  : Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 789–829.

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sche Gewalt der Association zur Theilnahme« gezwungen werden. Daraus sprach seine Enttäuschung, dass die General-Versammlung Anfang 1849 allenfalls noch eine kleine Minderheit repräsentierte, da die Ärzte zunehmend desinteressiert an der Medizinalreform waren. Virchow lehnte es daher ab, die »Bildung der Associationen dem freien Willen« zu überlassen, da dies zu einer organisatorischen Zersplitterung führen würde und keine Organisation zustande käme, die von der Regierung als »Ausdruck der Gesammtheit« betrachtet würde.336 In der General-Versammlung wurde sein Konzept der Assoziation deshalb heftig kritisiert, da »dieses Wort gerade das Freiwillige bezeichne, während hier ein Zwang vorliege und daher Zunft, Corporation, Zwangs-Association, oder ärztliche Gemeinde gesagt werden müsse«337. Insbesondere Remak protestierte vehement gegen eine solche »Despotie« des Vereinswesens und vertrat demgegenüber ein auf freiwilliger Mitgliedschaft basierendes Modell des ärztlichen Zusammenschlusses.338 Zudem wollte er im Bereich der Armenkrankenpflege den Laien ein größeres Mitspracherecht einräumen – für Virchow ging wissenschaftliche Autorität dagegen damit einher, dass die Patienten unrepräsentiert bleiben sollten.339 Zwar beschloss die General-Versammlung am 4. Mai 1849 den Zusammenschluss der Ärzte in »Bezirks-Gemeinden«, die als »sachverständiges Organ des Staats für alle Gegenstände der Gesetzgebung, welche Interessen des Heilpersonals oder der öffentlichen Gesundheitspflege betreffen«340 fungieren sollten, doch bedeutete dies schließlich nicht mehr viel  : Die politische Entwicklung war mittlerweile über die Medizinalreformbewegung hinweggegangen, die ergebnislos auseinanderbrach. Virchow hatte sich bereits vorher aus dieser zurückgezogen, als er sah, dass er seine Vorstellungen einer Sozialmedizin zum damaligen Zeitpunkt nicht realisieren konnte. Anders als andere sozialmedizinisch engagierte Ärzte wie Salomon Neumann, die sich im Rahmen des Gesundheitspflegevereins des Berliner Bezirks der »Arbeiterverbrüderung« engagierten,341 betrachtete er ärztliche Zusammenschlüsse vor allem als Hebel zur Gesellschaftsreform. Aber auch wenn dieser Anlauf scheiterte, so entwickelte Virchow doch im Kontext der Revolution von 1848 die Grundlagen seiner späteren Überzeugungen bezüglich der politischen Rolle des naturwissenschaftlichen Experten.

336 Siehe den Bericht über General-Versammlung Berliner Aerzte und Wundärzte am 13.4.1849 in »Berichte über die Reform-Vorgänge«, in  : MR, Nr. 42 vom 20.4.1849, S. 236. 337 Ebenda. Vgl. dazu v. a. Schmiedebach, Robert Remak, S. 61–67. 338 Schmiedebach, Robert Remak, S. 66–68. 339 Weindling, Was Social Medicine Revolutionary  ?, S. 17. 340 »Berichte über die Reform-Vorgänge«, in  : MR, Nr. 55 vom 11.5.1849, S. 246–248, hier  : S. 246. 341 Siehe dazu Karl-Heinz Karbe, Salomon Neumann 1819–1908. Wegbereiter sozialmedizinischen Denkens und Handelns, Leipzig 1983, S. 31–36.

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2.2.4 Politisches Engagement und wissenschaftliche Karriere

Auch während der Revolution behielt Virchow seine wissenschaftliche Karriere stets im Auge. In den ersten Monaten hoffte er, dass sich durch die Revolution auch in professioneller Hinsicht einiges erreichen ließe. Was dies betraf, so stimmten ihn jedoch die später einsetzenden gegenrevolutionären Erfolge zunehmend pessistischer, und so rückte er allmählich wieder von der zunächst behaupteten Identität von Wissenschaft und Politik ab. Im November 1848 hatte die Monarchie in Preußen mit der Auflösung der Nationalversammlung, der Verhängung des Belagerungszustands über Berlin und dem Verbot politischer Vereine, Clubs und demokratischer Zeitungen das Heft wieder fest in die Hand genommen. Mit der am 5. Dezember oktroyierten Verfassung übernahm sie schließlich endgültig die Initiative. Das neue preußische Ministerium Brandenburg/ Manteuffel zielte vor allem darauf, die demokratische Bewegung zu unterdrücken, und der Berliner Polizeipräsident Carl von Hinkeldey setzte dies wirkungsvoll um.342 Zum Hauptfeld der politischen Auseinandersetzung wurden die Ende Januar beziehungsweise Anfang Februar 1849 veranstalteten Wahlen für die beiden Kammern des preußischen Abgeordnetenhauses. An Virchow lässt sich in diesem Zusammenhang zeigen, dass sich im Umkreis der demokratischen Partei bereits während der Revolution in Ansätzen ein moderner Politikstil entwickelte, der sich deutlich vom Stil der liberalen und konservativen Honoratioren abhob.343 Mitte Dezember 1848 hatte sich im »Central-Comitee für volksthümliche Wahlen im Preußischen Staate« ein Wahlbündnis zwischen Demokraten und Linksliberalen konstituiert, in dem auch Virchow mitarbeitete. Zudem wurde er Vizepräsident des wenig später gebildeten Berliner Local-Comités. Den von der Auflösung verschonten Berliner Bezirksvereinen kam in dieser Situation als organisatorischer Rückhalt eine besondere Bedeutung zu. Dieses Bündnis zwischen Demokraten und Linksliberalen nahm in gewisser Weise den 1861 zustande gekommenen Zusammenschluss der preußischen Fortschrittspartei vorweg, allerdings auch viele ihrer Probleme. Während des Wahlkampfs Anfang 1849 nutzten sowohl die linksliberal-demokratische Volkpartei als auch ihre konservativen Gegner alle vorhandenen Mittel, um ihre Gegner auszuschalten. So verhinderte der schon genannte Ministerialbeamte Hermann Lehnert die Kandidatur von Virchows Busenfreund Theodor Goldstücker, der aufgrund seiner guten Vermögensverhältnisse auch als Finanzier der Demokraten diente, als Wahlmann.344 Umgekehrt wurde Lehnert dann auf Antrag Virchows, der als Vorsitzender des 3. Berliner Wahlbezirks fungierte, bei den 342 Paschen, Demokratische Vereine, S. 113–119. 343 Vgl. ebenda, S. 129. 344 Virchow an Goldstücker, 26.1.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. Zur Rolle Theodor Goldstückers während der Revolution siehe insbesondere Karl Rosenkranz, Briefe 1827–1850, hrsg. v. Joachim Butzlaff, Berlin u. New York 1994, S. 400 f., 404, 409 f., 415 u. 440.

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Wahlen der Abgeordneten der 2. Kammer am 5. Februar durch die Wahlmänner ausgeschlossen, und hegte seither »einen lebhaften persönlichen Widerwillen« gegen ihn.345 Jedoch kosteten auch innerparteiliche Flügelkämpfe Virchow Zeit und Nerven. In den Versammlungen stand er zudem unter starkem Druck sozialer Forderungen, die dort immer lauter wurden, wobei sich das Verhältnis der Demokraten zur Arbeiterbewegung zunehmend als Bruchstelle abzeichnete.346 Zugleich schwebten diese Veranstaltungen unter der ständigen Drohung der unter dem Belagerungszustand durchgeführten militärischen Überwachung, was umso gefährlicher war, als dort Anfang 1849 immer noch die »Volksbewaffnung pp. im demokratischen Sinne« erörtert wurde.347 Virchow war insbesondere daran beteiligt, die durch den Belagerungszustand und die Repressionsmaßnahmen stark erschwerte Kommunikation der Demokraten sowohl untereinander als auch mit der Öffentlichkeit in Gang zu halten. Dazu kümmerte er sich um öffentliche Parteiveranstaltungen, aber auch um die Sekretariatsarbeit des Centralcomitees und bemühte sich überdies – erfolglos – darum, Geldgeber zu finden.348 Schließlich beteiligte er sich auch an den Anstrengungen, die durch Verbote demokratischer Zeitungen stark angeschlagene publizistische Basis wieder zu verbreitern. Ein wichtiges Instrument dazu bildete eine Serie regelmäßig erscheinender politischer Flugblätter des Centralcomitees,349 an deren Herstellung und Verbreitung Virchow beteiligt war. Die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen richteten sich bald auch gegen dieses publizistische Organ. Aber obwohl, wie Virchow im Februar 1849 schrieb, die Presseprozesse so sehr im Gang waren, »dass jeder Tag beim Criminalgericht Schriftsteller, Drucker und Verleger zusammenführt«, fürchtete er nichts von einer gesetzlichen Verfolgung. Sein Eindruck war, dass hier eher »blinde Verfolgungssucht« und nicht ein »specieller Feldzugsplan« gegen Demokraten zum Tragen käme. Auffällig ist das Vertrauen zur preußischen Justiz selbst unter diesen Bedingungen  : »Wir wollen auf dem Rechtsboden stehen und wenn er auch sehr durchlöchert ist, ich denke, wir werden nicht durchfallen.«350 Aber nach den stark vom Protestverhalten der Bevölkerung geprägten Wahlen Ende Januar/ Anfang Februar, die in Berlin mit einem großen Erfolg der Demokraten endeten, wurden die politischen Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung weiter verschärft.351 345 R. Virchow an Carl Virchow, 8.3.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 381  ; Virchow an Goldstücker, 5.2.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. Vgl. auch das Material in BrLHA, Rep. 30 Bln C Polizeipräsidium Berlin, Nr. 14005, betr. die Abgeordneten-Wahlen zum Erfurter Reichstage und zu den preußischen Kammern (1849), Liste der Wahlmänner des 3. Wahlbezirks (Bl. 31–36). 346 Siehe etwa Virchow an Goldstücker, 28.1.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr.  2425  ; vgl. dazu auch Paschen, Demokratische Vereine, S. 109 f. 347 Virchow an Goldstücker, 28.1.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 348 Virchow an Goldstücker, 17.2.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 349 Siehe dazu Unterlagen in ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2745. 350 Virchow an Goldstücker, 16.2.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 351 Hachtmann, Berlin 1848, S.  790–796  ; Günter Richter, Zwischen Revolution und Reichsgründung (1848–

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Bereits Ende Januar hatte sich Virchow wieder heftig nach seinem »geordneten wissenschaftlichen Treiben« zurückgesehnt und wünschte, sich so bald als möglich aus seinen zeitraubenden politischen Aktivitäten zurückzuziehen.352 Am 21. Februar schrieb Virchow an Goldstücker, »dass ich mehr als je entschlossen bin, die politische Stellung jetzt aufzugeben«353. Tatsächlich beteiligte er sich seit den Wahlen kaum noch ernsthaft oder öffentlich an politischen Angelegenheiten, wenngleich er weiterhin in Kontakt mit dem demokratischen Netzwerk blieb. Allerdings beteiligte er sich noch im Sommer 1849 an der Organisation des Wahlboykotts durch die preußischen Demokraten,354 mit dem sie vor allem gegen die Abschaffung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts zugunsten des Dreiklassenwahlrechts bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus protestierten. Dies leitete zugleich ihren bis Ende der fünfziger Jahre dauernden Rückzug aus der parlamentarischen Politik ein, an dem auch Virchow teilnahm. Ende Februar war auch Virchow in die Mühlen der zunehmenden politischen Repression geraten  : Kultusminister Ladenberg leitete ein Untersuchungsverfahren gegen ihn ein, was seine wissenschaftliche Karriere ernstlich zu gefährden drohte. Ihm wurde vorgeworfen, dass er seine Stellung als Charité-Arzt vor der Abgeordnetenwahl für die zweite Kammer des preußischen Parlaments am 5. Februar 1849 durch das Verteilen von Flugblättern für das demokratische Central-Comité für volksthümliche Wahlen an Kollegen und Patienten missbraucht habe.355 Die Behörden wählten damit nicht den mühsameren Weg des Presse-, sondern den einfacher handzuhabenden des Beamtenrechts. Das für Virchow bestehende Risiko wurde ihm dadurch verdeutlicht, dass im Gefolge dieser »Intrigue« sogleich zwei Ärzte, die in seinem Auftrag Flugblätter verteilt hatten, aus der Charité entfernt und zwangsweise zum Militär versetzt wurden.356 Die mit der Untersuchung der Vorgänge beauftragte Charité-Direktion bestätigte schließlich die gegen ihn erhobenen Vorwürfe und forderte seine Bestrafung. Gleichzeitig bemühte sie sich aber um Schadensbegrenzung  : Im Hinblick auf den trotz seiner Jugend »bereits so bedeutenden Ruf in der wissenschaftlichen Welt« und den durch seine Entlassung drohenden Schaden für die Charité plädierte sie für Milde. Sie riet deshalb, ihm die Stelle als Prosektor zu belassen, aber die damit bislang verbundenen zusätzlichen Vergünstigungen – freie Kost und Logis in der Charité – zu streichen. Durch die Kündigung seines bisherigen Wohnrechts in der Charité würde ihm auch die Möglichkeit genommen, »den übrigen Anwesenden der Anstalt seine überspannten politischen Ansichten zugänglich zu machen«357. 1870), in  : Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins, Bd. 2  : Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, München 1987, S. 605–690, hier  : S. 638–644. 352 Virchow an Goldstücker, 30.1.1849  : ABBAW, Nr. 2425. 353 Virchow an Goldstücker, 21.2.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 354 Virchow an Goldstücker, 10.6. u. 12.6.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 355 Adalbert v. Ladenberg an Charité-Direktion, 23.2.1849  : AHUB, Charité-Direktion, Nr. 740, Bl. 50 f. 356 Virchow an Goldstücker, 23.2.1849 u. 26.2.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 357 Hirsch u. Esse, 12.3.1849  : AHUB, Charité-Direktion, Nr. 740, Bl. 60–63.

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Angesichts des Verlaufs der Untersuchung gab sich Virchow zuversichtlich, dass die Angelegenheit für ihn einen glimpflichen Ausgang nehmen würde. Dazu trug nicht nur bei, dass er kein tatsächliches Vergehen auf seiner Seite sah, sondern er schätzte auch richtig ein, dass man ihn um seiner wissenschaftlichen Bedeutung wegen halten wolle. Dieses Selbstbewusstsein wurde dadurch gesteigert, dass er zu dieser Zeit bereits in Berufungsverhandlungen mit Würzburg und Gießen stand, und auch in Prag war er zumindest im Gespräch gewesen. Vor allem aber hatte Virchow sehr wohl registriert, dass die Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Verwaltungsdirektors der Charité, Geheimrat Carl Heinrich Esse,358 »eines sehr schlauen Beamten, der an die Zukunft glaubt«, den Bericht an das Kultusministerium bewusst in einer Weise abgefasst hatte, der lediglich eine Schmälerung seiner Stellung, aber nicht seine gänzliche Entfernung erlaubte.359 Unter starkem Druck der konservativen Öffentlichkeit verfügte Kultusminister Ladenberg zunächst am 31.  März dennoch Virchows Entlassung. Die Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung, die eine aggressive, mit persönlichen Verleumdungen gespickte Kampagne gegen Virchow und andere Demokraten führte,360 begrüßte begeistert die Untersuchung gegen ihn »wegen Verbreitung hochverrätherischer Plakate« und seine geplante Entlassung aus seinem »einträglichen, ihm nur auf Kündigung übertragenen Posten«. Mitleid sei umso weniger angebracht, als der demokratische Central-Ausschuss seinen Genossen zu entschädigen wisse und Virchow, wenn die »rothe Republik« erst einmal siege, »mindestens Medicinal-Minister« würde.361 Auch Virchow nahm diese Entscheidung in dem Bewusstsein auf, dass angesichts der offenen politischen Verhältnisse viel vom Zufall abhing  : »[E]in Wechsel im Regierungssystem u. das Blatt wendet sich gerade umgekehrt.«362 Das Bewusstsein für den ungewissen Ausgang der Revolution, das man bei allen Akteuren in Rechnung stellen muss, hielt also zumindest noch bis in das Frühjahr 1849 hinein an. Virchow focht seine Entlassung sofort an. Unterstützt durch Eingaben von Berliner Ärztevereinen, die sich für ihn einsetzten, argumentierte er mit der strikten Trennung von Politik und Wissenschaft  : erstere sei private Handlung, letztere Gegenstand seines Amtes. So hielt er dem Minister vor, dass er »Eure Excellenz zu beleidigen glauben würde, wenn ich es für möglich hielte, dass Sie politische Gründe bei der Besetzung wissenschaftlicher Stellen entscheiden lassen«363, war doch Ladenberg dafür bekannt, dass er

358 Zu Esse vgl. Volker Hess, Der Verwaltungsdirektor als erster Diener seiner Anstalt. Das System Esse an der Charité, in  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 3 (2000), S. 69–86. 359 Virchow an Goldstücker, 2.3.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 360 Siehe etwa Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung), Nr. 61 vom 14.3.1849. 361 Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung), Nr. 65 vom 18.3.1849. 362 R. Virchow an Carl Virchow, 6.4.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 393. 363 Virchow an v. Ladenberg, 31.3.1849  : GStA-PK, I. HA Rep 76 VIII D Kultusministerium, Nr. 32 (M), Bl. 60 f.

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sich öffentlich zur uneingeschränkten Freiheit von Forschung und Lehre bekannte.364 Damit vollzog Virchow zumindest taktisch eine Wende um 180 Grad  : Noch wenige Monate zuvor hatte er für die Einheit von Medizin und Politik agitiert und ein besonders auf Ärzte bezogenes Modell von ›engagierter Wissenschaft‹ propagiert. Angesichts verstärkter staatlicher Tendenzen, wissenschaftliche Personalentscheidungen zu politisieren, pries er nun dagegen die Unabhängigkeit der Wissenschaft gegenüber allen politischen Erwägungen. Ein wahrscheinlich selbstverfasster Leitartikel in der Medicinischen Reform stellte ihn so in eine Reihe mit dem durch den Scheiterhaufen bedrohten italienischen Gelehrten Galilei  : Wahrlich, wir müssten über den Scheinconstitutionalismus, über den Absolutismus hinaus, wir müssten bis zur Inquisition zurückgehen, um die Beispiele für die Verfolgung der Wissenschaft um autokratischer Zwecke willen zu suchen und zu finden. Und ist das nicht eine Verfolgung der Wissenschaft selbst, eine Unterdrückung ihrer Lehre, die Gelehrten abzusetzen um ihrer politischen Gesinnung, um ihrer ausseramtlichen Handlungen willen, während sie den Pflichten ihres Amtes ohne Vorwurf oblagen  ? (…) Sollte irgend ein Staat der neuern Zeit dahin kommen, das Princip von der Absetzbarkeit wissenschaftlicher Stellen bei vorwurfsloser wissenschaftlicher Amtsführung einzuführen, so hat er über seine Existenz selbst entschieden.365

Die Spannung zwischen der »Freiheit der Wissenschaft« und dem gesellschaftlichen und politischen Autoritätsanspruch von Wissenschaft beantwortete Virchow somit situativ unterschiedlich. Nachdem die von den Revolutionären selbst vorangetriebene Politisierung der Wissenschaft indirekt auch die stärkere politische Maßregelung der Wissenschaftler durch die Regierung nach sich gezogen hatte,366 erhob er im Zeichen der Gegenrevolution die Autonomie der Wissenschaft zum zentralen Ergebnis des kulturellen Fortschritts. Mit der strikten Trennung von Wissenschaft und Politik – und damit zugleich von privater und öffentlicher Sphäre – als juristischer Verteidigungslinie betrat Virchow die bereits zuvor von der Charité-Direktion gezimmerte Brücke. Auch das Kultusministerium war sehr daran interessiert, einen solchen Kompromiss zu finden. Jedoch musste 364 Stefan Skalweit, Adalbert von Ladenberg, in  : Neue Deutsche Biographie, hrsg. v. d. Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (= NDB), Bd. 13, Berlin 1982, S. 385 f., hier  : S. 385. 365 (Anonym, vermutl. Rudolf Virchow), Die medicinischen Anstellungen, in  : MR, Nr.  50 vom 15.6.1849, S. 265 f., hier  : S. 266. 366 Manfred Botzenhart weist darauf hin, dass die während der Revolution von den deutschen Kammern betriebene Infragestellung der Unabsetzbarkeit des Berufsbeamtentums, womit die Blockade der parlamentarisch beschlossenen Reformen durch die Verwaltung verhindert werden sollte, sich unter den Bedingungen der Restauration als ein Einfallstor zur Disziplinierung der Beamtenschaft entwickelte. (Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus, S. 525 f.).

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Ladenberg dem ihm drohenden politischen Gesichtsverlust in der während der Revolution entstandenen konservativen Gegenöffentlichkeit vorbeugen. Auf beiden Seiten ging es anschließend vor allem um die Frage der »Ehre«, und so wurden im Geheimen ausgiebige Verhandlungen geführt. Über verschiedene Mittelspersonen, unter denen sich, wie Virchow schrieb, »auch Damen befanden«, wurden deshalb zunächst Verhandlungen geführt, wonach dieser irgendwelche Konzessionen machen sollte, »damit der Minister nicht der Schwäche angeschuldigt werden könnte«367. Bei einem Treffen in der Privatwohnung des mittlerweile zum Direktor der Medicinal-Abteilung des Kultusministeriums aufgestiegenen Lehnert unterzeichnete Virchow schließlich eine von ihm verlangte Erklärung. Darin gab er seine Amtsverfehlung zu, erkannte den Verzicht auf Dienstwohnung und freie Verköstigung an und verpflichtete sich schließlich – bei Androhung der sofortigen Entlassung bei Zuwiderhandlung  – seiner »politischen Ueberzeugung, welcher Art sie auch sein möge, nicht die entfernteste thatsächliche Aeußerung in Bezug auf die Charité und deren Beamten und ärztlichen Personal, sowie bei meinen Vorlesungen im Leichenhause zu geben«368. Dies gab Ladenberg die Möglichkeit, die Entlassung wieder teilweise zurückzunehmen  : Er beließ Virchow, der nun seine bisherige Dienstwohnung verließ, auf der mit 300 Talern jährlich dotierten Stelle des Prosektors des Leichenhauses der Charité.369 Auf diese Weise hatte das Ministerium nach außen hin Härte demonstriert und zugleich ein versöhnliches Signal an Virchow übermittelt – was Lehnert durch das Angebot einer Forschungsbeihilfe von 150 Talern für Tierversuche noch unterstrich. Virchow zögerte jedoch, dies anzunehmen und lehnte auch den angetragenen Ruf auf eine Professur für Physiologie in Königsberg ab.370 Bei ihm mischten sich Sorge um die Karriere, aber auch um seine eigene »Ehre« mit dem Bewusstsein des eigenen wissenschaftlichen Marktwerts wie der politischen Schwäche der gegenwärtigen Regierung. Schließlich ermöglichte dann die zum Wintersemester 1849/50 erfolgte Berufung Virchows als ordentlicher Professor für pathologische Anatomie nach Würzburg beiden Seiten ehrenhaft aus dem Konflikt herauszukommen. Die vorangegangenen Einigungsbemühungen verweisen aber zugleich auf einen grundsätzlichen Vorgang  : Der Kompromiss zwischen der preußischen Kultusbürokratie und Virchow kam am Ende dadurch zustande, dass sich beide Seiten auf die Trennung von Privatraison und Untertanenpflicht verständigten. Es stand dabei nicht zur Debatte, dass Virchow sich von seiner politischen Einstellung distanzieren müsse. Vielmehr wurde ihm bei Androhung der Entlassung lediglich untersagt, diese im Rahmen seines Amts öffentlich zu artikulieren. Sein Beispiel steht dabei gegen viele andere, die mit er367 R. Virchow an Carl Virchow, 13.4.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 395. 368 Protokoll einer Vereinbarung zwischen dem preußischen Kultusministerium (Lehnert) und Virchow, verhandelt Berlin, den 13.4.1849  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII D Kultusministerium, Nr. 32 (M), Bl. 70 f. 369 Ladenberg an Virchow, 14.4.1849  : AHUB, Charité-Direktion, Nr. 740, Bl. 102. 370 R. Virchow an Carl Virchow, 13.4.1849, Druck  : RVSW, Bd.  59, S.  396  ; Virchow an Adolf Bardeleben, 25.4.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 107.

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heblich härteren Verfolgungsmaßnahmen rechnen mussten.371 Ihn behandelte die preußische Bürokratie dagegen als ›irrenden Sohn‹, und Ernst Hirschfeld hatte damit recht, wenn er entgegen der verbreiteten Märtyrerlegende einer »Absetzung« Virchows von einer »Mattsetzung« sprach.372 Zu den Gründen dieser relativ milden Behandlung gehört gewiss in erster Linie die damals schon vorhandene Einschätzung seines hohen Werts für die übergeordneten Ziele der preußischen Hochschulpolitik. Allerdings wurde dieser Kompromiss anscheinend auch dadurch ermöglicht, dass in der Geschichte der Verfolgung ›staatsgefährdender‹ politischer Meinungen eine Übergangsphase vorlag  : Die absolutistische »Aufspaltung des Menschen in den ›Menschen‹ und den ›Staatsbürger‹«373 ließ sich 1849 noch heranziehen. Im Zeichen einer solchen Dualität war noch nicht allein der Besitz politisch abweichender Überzeugungen als solcher verfolgungswürdig, solange der Untertan seiner Gehorsamspflicht genügte. Fast ein halbes Jahrhundert später bat Leo Arons, den das preußische Kultusministerium wegen seiner sozialdemokratischen Betätigung aus seiner Position als Privatdozent für Physik an der Berliner Universität entfernt hatte, Virchow um Auskunft über das gegen diesen während der Revolution angestrebte Verfahren, da er hoffte, daraus »dankenswerte Winke« für seinen Fall zu erhalten.374 Diese Erfahrungen ließen sich jedoch nicht mehr auf die Situation am Ende des 19. Jahrhunderts anwenden, was auf eine ambivalente Folge der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft verweist. Denn dazu gehörte auch, dass die Unterscheidung in den »Staatsbürger« und den »Menschen«, die sich Virchow 1849 in seinem Kampf gegen die Vernichtung seiner Karriere noch hatte zunutze machen können, immer mehr zurücktrat. Als Konsequenz erhielt die ›Gesinnungsschnüffelei‹ gegen politisch Andersdenkende eine neue, unversöhnliche Qualität. Dies musste Virchow in seinen späteren Jahren am eigenen Leib erfahren  : Während im Umfeld der Revolution abweichende politische Meinungen zwar bekämpft wurden, aber zumindest nicht »ehrenrührig« waren, herrschte am Ende des Jahrhunderts im Hinblick auf politische Dissidenz ein stark ideologisiertes Verhältnis, in dem, ähnlich wie in den Religionskämpfen der Neuzeit, auch »private« politische Meinungen zum Gegenstand öffentlicher Diffamierung wurden.

371 Zu Angaben über das Ausmaß der Verfolgung demokratischer Politiker nach der Revolution, bei der sich Preußen besonders hervortat, siehe Jansen, Einheit, Macht und Freiheit, S. 55–73 u. S. 597. 372 Ernst Hirschfeld, Virchow, in  : Kyklos 2 (1929), S. 106–116, hier  : S. 112. 373 Koselleck, Kritik und Krise, S. 28–30. 374 Leo Arons an Virchow, 27.4.1895  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 58. Eine Antwort Virchows ist nicht erhalten. Doch gehörte er zu den 53 Professoren der Berliner Universität, die 1895 eine Protesterklärung gegen das Vorgehen des Kultusministeriums im Fall Arons unterzeichneten. Auch setzte er sich im Preußischen Abgeordnetenhaus gegen die sogenannte »lex Arons« ein, wobei er vor allem mit der Autonomie der Universitäten argumentierte. Siehe SBPAH, 15. Sitzung am 7.2.1898, S. 406–410.

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2.2.5 Identitätskrise und biographische Passage

Dass sich Virchow in der letzten Phase der Revolution wieder vor allem auf seine wissenschaftliche Arbeit konzentrierte, hatte auch mit der Krise der demokratischen Partei zu tun, die nicht allein von den Siegen der Gegenrevolution demoralisiert, sondern immer stärker von heftigen inneren Auseinandersetzungen zerrissen wurde. Streitigkeiten, Flügelkämpfe, Intrigen, Bestechungen, aber auch Verhaftungen, Ausweisungen und Auswanderungen prägten in dieser Phase das Bild des Central-Komitees, wo sich die dort zusammengeschlossenen heterogenen politischen Gruppierungen heftig bekämpften. Neben der enttäuschenden politischen Gesamtentwicklung trug dies erheblich dazu bei, dass Virchow, der nach Kräften für seinen politischen Kurses kämpfte, nicht nur zunehmend kritischer gegenüber dem Central-Komitee wurde, sondern dass ihm das Interesse an Parteipolitik überhaupt vergällt wurde.375 So ließ er sich auch nur unter schweren Bedenken dazu überreden, an einem von Karl Rodbertus, Hermann Graf zur Lippe, Lothar Bucher und Theodor Goldstücker initiierten liberal-demokratischen Zeitungsprojekt teilzunehmen. Das Erscheinen der Allgemeinen Demokratischen Zeitung wurde am Ende allerdings durch den andauernden Belagerungszustand und die allgemeine politische Entwicklung verhindert.376 Virchow hatte vor allem damit gehadert, sich weiterhin den bei einem solchen politischen Unternehmen notwendigen Kompromissen zu unterwerfen. Goldstücker gegenüber rechtfertigte er sein langes Zögern  : »Mir scheint aber nach der politischen Lage die Wahrscheinlichkeit, dass es auch innerlich wird coalitionär sein müssen, die allergrößte von der Welt zu sein. In diesem Falle möchte ich für meine Person aber mit der öffentlichen Politik so wenig als möglich zu thun haben.«377 Die heftigen politischen Auseinandersetzungen und das ständige Ringen um Kompromisse setzten ihm schwer zu  : »ich halte es auf die Länge nicht aus, mir eine so große Gewalt anzuthun. Die Wissenschaft gewährt mir dann einen Ausweg, wenn ich ihn in dem praktischen Staatsleben nicht finden kann  : dort wenigstens kann man radical sein«378. In der Revolutionszeit hatte Virchow politische Entscheidungen nicht nur gegenüber der Bevölkerung legitimieren, sondern in aufreibenden Fraktionskämpfen auch innerparteilich durchsetzen müssen. Dies hatte wenig mit seiner Vorstellung von Wissenschaft als einem nach Wahrheitskriterien gestalteten Diskurs zu tun, wonach sich im besten Falle auch die politischen Entscheidungen ausrichten sollten. Aus dem Versuch, die Wissenschaft in die Politik zu überführen, der am Anfang der Revolution gestanden hatte, 375 Siehe dazu etwa die Schilderung in Virchow an Goldstücker, 23.2.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425  ; ebenda, 27.2.1849  ; ebenda, 13.3.1849. 376 Koch, Demokratie und Staat bei Julius Fröbel, S. 237  ; Paschen, Demokratische Vereine, S. 132. Siehe auch Virchow an Goldstücker, 14.3., 18.3., 21.3. u. 20.5.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 377 Virchow an Goldstücker, 14.3.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425  ; siehe auch ebenda, 18.3.1849. 378 Ebenda.

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war daher jetzt die Sehnsucht geworden, sich wieder aus der Politik in die schützenden Arme der Wissenschaft zu flüchten. Diese galt ihm, anders als die Politik, als ein Ort der Vernunft und der kompromisslosen Suche nach »Wahrheit«. So zog er sich im Verlauf des Frühjahrs 1849, während er sich gleichzeitig um die Verteidigung seiner Stellung als Prosektor und um die Beseitigung der Hürden für eine Berufung nach Würzburg kümmern musste, weitgehend aus der aktiven politischen Beschäftigung in seine wissenschaftliche Arbeit zurück. Den Zustand der Ungewissheit machte er sich aber auch mit einer »indolenten« Haltung erträglich, die er der »Rothhaut des Hrn. Cooper« entlehnt hatte, und gelegentlich half er diesem Zustand durch alkoholische Exzesse etwas nach. Vor dem Hintergrund ständig neuer politisch motivierter Verhaftungen und der Ungewissheit über das Schicksal der davon Betroffenen schrieb er im Mai 1849 an Goldstücker über die tröstliche Wirkung der damals populären Berliner Biersorte  : Es ist sehr warm, und die Berliner gehen massenhaft in den Schatten ›kühler Denkungsarten‹, zu den freundlichen ›Weissen‹ und auf das Wasser. (…) Solange es noch ›Weisse‹ gibt, wird das rote Element in Berlin nicht zur dauernden Herrschaft kommen, und wenn einmal eine provisorische Regierung aufgestellt wird und diese nicht sofort die Weissen verbietet, so wird es auch nicht besser werden. Auch ich war gestern in Arkadien, d. h. in Treptow (…). Mit Genugtuung fand ich dort die meisten, nicht verhafteten Mitglieder des einstigen Lokal-, sowie einige des Zentralkomitees zusammen, und wir tranken, glücklicher Erinnerungen voll, einige Weisse, bis uns die Augen übergingen.379

Jedoch gewährte ihm die Wissenschaft nur unvollkommen den erhofften Ausweg aus seiner depressiven Stimmung, die er in seinen täglichen Briefen an Goldstücker bewegend artikulierte. Seine Zweifel am Sinn des Lebens, die ihn in dieser Phase quälten und ihn sogar die Frage des Freitods erörtern ließen,380 erstreckten sich gleichermaßen auf seine politischen Hoffnungen wie auf seine wissenschaftliche Arbeit. Sein Fortschrittsglaube, den er nach außen immer noch vertrat, war innerlich einer Empfindung der Wiederkehr des ewig Gleichen gewichen  : Wenn ich so Morgen für Morgen aufstehe u. immer wieder Vorlesungen halte, Sektionen mache, mikroskopische Bilder betrachte (…) u. mich mit allerlei Menschenvolk ernsthaft unterhalte, u. das alles so regelrecht u. immer wieder in derselben Reihenfolge, so ist das doch um nichts besser, als wenn ich die Birken vor meinem Fenster ansehe, welche Jahr für Jahr x + 1 neue Zellen bilden, oder das gute Rindvieh, das mit der nachdenklichsten Miene von der Welt

379 Virchow an Goldstücker, 29.5.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425  ; Teildruck  : Felix Boenheim, Virchow. Werk und Wirkung, Berlin 1957, S. 86 f. 380 Virchow an Goldstücker, 22.6.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425.

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dasselbe Gras, das es schon einmal unter den Zähnen gehabt hat, wieder aus dem Magen holt u. einer neuen Edition übergiebt.381

Wie in keiner anderen Phase seines Lebens gewähren die Quellen Einblick in eine persönliche Identitätskrise, und die Jahre 1849/50 verdichten sich zur tiefsten biographischen Zäsur in Virchows Leben. Bei der Bewältigung dieser Krise suchte er auch Erklärung und Trost in der Literatur. So las er im Sommer 1848 die Geschichte der Revolution von 1848 des französischen Demokraten Alphonse de Lamartine. Der Anfang dieses Werkes, in dem die »Revolutionen des menschlichen Geistes« mit dem für das menschliche Auge nicht sichtbaren Wachstum der Pflanzen in Beziehung gesetzt wurden, spiegelte sich auch in seinem Vergleich zwischen dem menschlichen Leben und dem Wachstum der Birken wider, wie Virchow im Rückblick selbst erklärte.382 Auf der Suche nach Trost stürzte er sich aber auch in die Lektüre des Ossian,383 wo der gescheiterte Revolutionär die symbolische Vereinigung mit der ursprünglichen Volksseele suchte, als dessen Ausdruck diese angebliche Sammlung keltischer Heldenlieder seit der Mitte des 18. Jahrhunderts rezipiert worden war. Und als Alternative zum Dasein als Wissenschaftler träumte er sich auf der Suche nach einem einfachen Leben »voller Strapazen und Erhebung« auch nach Ungarn,384 das zu seinem Arkadien wurde, und kokettierte in niedergeschlagener Stimmung mit einer Existenz als »Landmann«  : »Ich bin eigentlich für bucolica, u. zuweilen denke ich, in einem mäßig hinterwäldlerischen Leben müsste ich mich am behaglichsten fühlen.«385 Insgesamt ergibt sich damit ein Bild, wonach eine idealisierte Natur zum Kern seiner Selbsttröstungen gehörte  : Gegenüber dem Scheitern der Revolution386 bot ihm diese das Bild einer langsamen, aber doch gleichmäßigen und stetigen Entwicklung. Der Rückzug aus der politischen und standespolitischen Tätigkeit erschien Virchow damit auch als Befreiung. Während er in der Revolution den Gegensatz von privater und öffentlicher Sphäre vorübergehend aufgehoben hatte, betonte er diesen nun wieder umso stärker. An Goldstücker schrieb er  : »Wenn erst die letzte Nummer der Reform 381 Virchow an Goldstücker, 3.6.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 382 Rudolf Virchow, Wie der Mensch wächst, in  : Berthold Auerbach’s deutscher Volkskalender für das Jahr 1861, Leipzig 1860, S. 95–105, hier  : S. 95. 383 Virchow an Goldstücker, 21.10.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 384 Virchow an Goldstücker, 3.6.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 385 Virchow an Goldstücker, 22.6.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 386 Aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive scheint zumindest mit Bezug auf die Selbstwahrnehmung vieler Aktivisten der Revolution die Rede von einem »Scheitern« angemessen zu sein, auch wenn viele ihrer langfristigen Impulse im Nachhinein als erfolgreich betrachtet werden können. Vgl. dagegen Thomas Mergel/Christian Jansen, Von »der Revolution« zu »den Revolutionen«. Probleme einer Interpretation von 1848/49, in  : dies. (Hg.), Die Revolutionen von 1848/49  : Erfahrung – Verarbeitung – Deutung, Göttingen 1998, S. 7–13, hier  : S. 12.

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Abb. 1  Zeichnung Rudolf Virchows von Ludwig Pietsch, ca. 1849.

erschienen sein wird, könnte ich vielleicht ein neues Leben anfangen, u. die viele Liebe nicht bloß verbrauchen, sondern auch groß ziehen.«387 Virchow träumte sich in den Monaten nach dem endgültigen Ende der Revolution und des Abschieds von Berlin nicht allein aus seiner bisherigen öffentlichen Existenz als Wissenschaftler und Politiker hinaus, sondern stürzte sich nunmehr mit großer Energie in sein Innenleben. Virchow war verliebt in die 17-jährige Tochter des Geheimen Rates Mayer, Ferdinande Amalie Rosalie, genannt Rose. Aber erst bei seiner Verabschiedung aus Berlin im November 1849 erklärten sie sich einander, worauf sie sich sogleich verlobten. Während er mit den künftigen Schwiegereltern auch politisch einvernehmlich war, zeigte sich der aristokratische Teil der Familie Mayer entsetzt über den Schwiegersohn in spe.388 Politische und individualbiographische Einschnitte trafen somit in dieser Lebensphase zusammen und addierten sich zu einer biographischen Passage. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Generation und auch manchem seiner Freunde wählte Virchow nicht das Exil, sondern die innere Emigration. Die postre387 Virchow an Goldstücker, 22.6.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 388 R. Virchow an Carl Virchow, 30.11.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 432 ff.

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volutionäre Restauration war ein gesamteuropäisches Phänomen, die für ihn »solidarisch verbunden« war. Tonangebend war seiner Ansicht nach der russische Zar, weshalb er sich innerlich auf die »Herrschaft des Slavismus« vorbereitete.389 Angesichts dieser pessimistischen Erwartungen beschäftigte sich Virchow während der in ganz Europa herrschenden Ära der Reaktion auch mit Auswanderungsplänen. Erstmals war der Gedanke bei ihm im Dezember 1848 aufgetaucht – nach der Unterdrückung der Revolution in Preußen durch die Auflösung der Nationalversammlung und die Ausrufung des Belagerungszustands –, wenngleich er hier noch halb im Scherz geäußert wurde.390 Eine mögliche Auswanderung in die USA gewann jedoch für Virchow Anfang der fünfziger Jahre zeitweise so weit Gestalt, dass er in seine Publikationsstrategie Überlegungen über seine dortigen beruflichen Chancen einbezog und deshalb an englische Übersetzungen seiner Werke dachte. Wie er 1851 an den nach der Revolution nach Großbritannien ausgewanderten Goldstücker schrieb, fürchtete er, dass die Zustände in Deutschland zuletzt unerträglich werden könnten, »und wenn es möglich wäre, jenseits des Oceans eine erträgliche Stellung zu finden, die für meine Familie eine mögliche Existenz sichert, so weiß ich nicht, ob ich mich nicht über kurz oder lang zur Auswanderung entschließen könnte«391. Wenigstens bis 1854, dem Jahr, in dem die Auswanderung aus Deutschland mit fast 240.000 Emigranten ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert erreichte,392 spielte er noch mit diesem Gedanken.393 Zu den Nachwirkungen der Revolution und der neuen Situation als Ehemann trat die Rollenunsicherheit, die sich aus seiner neuen Funktion als Professor in Würzburg ergab. So beschrieb er seinen Zustand 1850 als eine Art von »Doppelleben«, bei dem der »officielle Leib«, der die amtlichen Pflichten zu erfüllen habe, und das »Herz« weit auseinanderfielen  : »Zuweilen ist es mir recht komisch, wenn ich mich so ernsthaft dociren höre oder irgend eine andere ›amtliche‹ Funktion vollführen lasse  ; wenn ich ›arbeite‹, so ist es mir wohl, als wäre nur die Dienerschaft des Gedankens zu Haus geblieben u. die Herrschaft

389 R. Virchow an Carl Virchow, 4.6.1850, Druck  : ebenda, S.  467, vgl. auch R. Virchow an Carl Virchow, 7.4.1851, Druck  : ebenda, S. 506. 390 So schrieb Virchow an v. Wittich am 9.12.1848  : »Und so sage denn deiner kleinen Frau, dass meine Liebe zu ihr immer noch gross ist, so sehr gross, dass sie nicht in ein Briefcouvert hineingeht. Wenn einmal die Eisenbahn fertig sein wird (nach Königsberg, C. G.), u. ich noch nicht nach Amerika gegangen bin, so will ich sie ihr selbst bringen, in einem rosa Umschlag, u. sie selbst dunkelroth, bluthroth, republikanisch roth, so dass alle Reactionärs u. Puthähne, die es sehen, Radschlagen sollen.« Druck  : Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe, S. 93. 391 Virchow an Goldstücker, 24.10.1851  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425  ; siehe zu den Auswanderungsüberlegungen auch den Entwurf eines Briefes an N. N., vermutl. 1851 oder 1852  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2447. 392 Klaus J. Bade, Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland  ? Deutschland 1880–1980, Berlin 1983, S. 18 f. 393 Virchow an Goldstücker, 17.8.1854  : ABBAW, Nl Virchow, Nr.  2425  ; siehe auch Briefkonzept an einen Freund in der Schweiz, (o. Dat., ca. 1852–1855)  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2447.

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Der »ganze Mensch«  : Virchow in der Revolution von 1848

ausgegangen.«394 Dieser Zustand hielt auch nach der im August 1850 erfolgten Hochzeit noch einige Zeit an, und so absolvierte er seinen Lehrbetrieb matt und lustlos. Diese biographische Passage Virchows mündete jedoch schließlich, bleibt man einmal bei der Schifffahrtsmetapher, in einen biographischen Stapellauf. Sie äußerte sich zugleich in einer erneuten, und diesmal endgültigen Veränderung seines Habitus vom Bohemien zum Bourgeois, wie er Goldstücker im Juni 1850, kurz vor seiner Hochzeit, anvertraute  : »Wissen Sie schon, dass ich keine Haare mehr abschneide seit länger als einer Woche  ? Mein Signalement ist in aller Veränderung begriffen  ; verkennen Sie mich also nicht.«395 Auf Wunsch seiner Frau ließ er nun einen Bart stehen. Stefan Zweig schilderte in seinem autobiographischen Werk Die Welt von Gestern eindrucksvoll, wie sich Ärzte im 19. Jahrhundert bemühten, mit Hilfe von Bärten, Bäuchen, Brillen und Gehröcken älter und damit seriöser zu wirken,396 und Virchow bildete hier keine Ausnahme. Der neue Bart prägte zusammen mit der später hinzukommenden charakteristischen Brille sein Äußeres bis zu seinem Tode 1902. Zudem gab er auch seine frühere Vorliebe für modische und auffällige Kleidung auf. Den nun angenommenen bürgerlichen Kleidungsstil änderte er auch in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr. Statt sich kühne Halstücher umzubinden, war er fortan im wörtlichen Sinne »zugeknöpft« und konnte sich darüber verwundern, wenn in Italien Arbeiter auf der Straße im offenen Hemd unterwegs waren,397 aber auch sarkastisch werden, wenn sich seine studentischen Zuhörer angesichts großer Sommerhitze durch Ablegen ihrer Jacketts Erleichterung zu verschaffen suchten. Vollzog er bis zu dieser Zäsur 1850 den jährlichen Wechsel der Mode bewusst mit, so pflegte er nun eine betont unveränderliche äußerliche Erscheinung. Dies wurde allenfalls gelegentlich durch die Amtstracht durchbrochen, und so berichtete er später amüsiert, dass er in Würzburg die Robe eines Jesuiten getragen habe, da die Stellen in Würzburg ursprünglich für diese begründet worden seien.398 Parallel zu diesem Wandel seines äußeren Erscheinungsbilds veränderte sich auch seine Selbstreflexion  : Während seiner Berliner Zeit in den vierziger Jahren hatte Virchow wiederholt harte Kritik an seinem Charakter einstecken müssen, die vor allem auf die Schattenseiten seines betont selbstbewussten Verhaltens zielte.399 Im Zeichen seiner umfassenden Krise im Herbst 1849 hatte sich Virchow dies sehr zu Herzen gehen lassen  : Damals litt er unter seiner so empfundenen Unfähigkeit, andere Menschen glücklich zu machen und beklagte zugleich »das Harte, Unduldsame, Schroffe u. Kalte«, das ihn so 394 Virchow an Goldstücker, 10.6.1850  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 395 Ebenda. 396 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (1944), Frankfurt a. M. 1970, S. 50 f. 397 R. Virchow an Rose Virchow, 1.10.1871  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 90. 398 SBPAH, 24. Sitzung am 31.1.1872, S. 559. 399 Siehe etwa R. Virchow an Carl Virchow, 22.2.1842, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 156 ff.; Alexander von Frantzius an Virchow, 14.1.1848, Druck  : Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 97–101  ; sowie vor allem die Korrespondenz zwischen Virchow und Goldstücker  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 744 u. 2425.

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oft überfalle.400 Auch derartige Selbstzweifel lassen sich bei ihm bald darauf nicht mehr finden. Dies korrespondierte mit der auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit auffälligen »Anlage zur frühen Erstarrung«. Virchow habe von dem, was er als 27- und 28-Jähriger verfasst habe, eigentlich nichts mehr widerrufen, und »grundlegende Neufassungen seines wissenschaftlichen Fundaments« habe er, wie sein Schüler Ernst Hirschfeld später feststellte, »danach eigentlich auch nicht mehr getroffen«. In seinem »autokratischen Alter« habe sich dieser Hang zum Starrwerden schließlich als Unduldsamkeit und Intoleranz gegenüber fremden Meinungen geäußert.401 Ähnlich gilt dies auch für seine politischen Auffassungen. Hier scheint also ein enger Zusammenhang zwischen der Selbstkonstitution seiner »Persönlichkeit« und seinen Rollen als Wissenschaftler und Politiker zu bestehen. Kann man also davon sprechen, dass Virchow nach dieser Zäsur 1850 nur noch älter, aber nicht mehr ›anders‹ wurde  ? Es scheint so, dass, nachdem er sich erst einmal in die Rolle des Professors und Familienvaters gefügt hatte, seine Identitätskonstitution für ihn abgeschlossen war und nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wurde. Vielleicht markiert diese Zäsur aber auch nur ein Ende der artikulierten Selbstreflexion und verweist damit auf die für Historiker bestehenden Erkenntnisschranken. Festzustellen bleibt, dass sich von da an keine Belege mehr für auch nur annähernd so starke Erschütterungen seines Selbstbilds finden lassen wie 1849/50. Allein der Tod und das Begräbnis seines Vaters 1864 sollten Virchow noch einmal aus der Fassung bringen. Beim anschließenden Sortieren alter Papiere und Briefe aus dem Nachlass seines Vaters dachte er über die Veränderungen seiner Persönlichkeit in den vorausgegangenen Jahrzehnten nach. Mit 43 Jahren fühlte er sich zum ersten Mal »alt und fremd«402.

2.3 Lebensführung im »naturwissenschaftlichen Zeitalter« 2.3.1 Vermögen, Prestige und sozialer Status

Das halbe Jahrhundert von 1850 bis 1902 bildet im Hinblick auf Virchows Selbstverständnis wie auf seine Lebensführung eine Einheit, die durch die öffentlichen Rollen des Wissenschaftlers und des Politikers einerseits und die private Rolle des Familienvaters andererseits geprägt war. Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit seinem Vater, die sich vor allem um finanzielle Fragen drehte und die gleichermaßen wichtig für Virchows Identitätskonstitution wie für seinen sozialen Status war, lenkt die Aufmerksamkeit zunächst auf die große Bedeutung der Frage nach dem Erwerb, dem Erhalt und der intergenerationellen Weitergabe von Vermögen im Zusammenhang bildungsbürgerlicher 400 Siehe beispielsweise Virchow an Goldstücker, 16.10.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 401 Ernst Hirschfeld, Virchow, in  : Kyklos 2 (1929), S. 106–116, hier  : S. 111 f. 402 R. Virchow an Rose Virchow, 27.12.1864 u. 29.12.1864, Druck  : Virchow, Briefe an seine Eltern, S. 221–223, Zitat  : S. 222.

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Lebensläufe.403 Zu diesen Ressourcen gehören Einnahmen und Eigentum verschiedener Art, darunter auch symbolische Gratifikationen.404 Hier interessiert neben der Einnahmen- auch die Ausgabenseite, die sich in einem spezifischen Lebensstil ausdrückte.405 Mit Blick auf Vermögen, Prestige und sozialen Status lassen sich bei Virchow drei Phasen unterscheiden  : Die erste umfasst die Zeit seiner Ausbildung bis über die Mitte der 1840er Jahre hinaus, in der Virchow seinen Vater regelmäßig um Geld bitten musste. Eine zweite Phase begann 1846/1847 mit seiner ersten bezahlten Anstellung beziehungsweise seiner Berufung zum ordentlichen Professor für pathologische Anatomie in Würzburg Ende 1849. Nun wechselte er die Position gegenüber seinem Vater, der jetzt umgekehrt zum regelmäßigen Empfänger finanzieller Zuwendungen wurde. Dies setzte sich auch nach Virchows Rückberufung auf einen Lehrstuhl an der Berliner Universität 1856 fort, die mit der in Personalunion verbundenen (und damit nicht eigens bezahlten Stelle) eines Direktors des für ihn gegründeten Pathologischen Instituts verbunden war. Eine dritte Phase begann schließlich nach dem Tod seines Vaters 1864, befreite sie ihn doch in finanzieller Hinsicht von einer wesentlichen Belastung, während zugleich sein Einkommen weiter beträchtlich stieg. Einkünfte und Vermögen

Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen blieb Virchow das Schicksal einer lang hingezogenen Privatdozentenexistenz mit all ihren finanziellen Entbehrungen erspart. Bereits im Alter von 28 Jahren machte er durch seine Berufung als Ordinarius406 nach Würzburg einen großen Sprung, mit dem er die Beengtheit seiner Ausbildungsjahre endgültig hinter sich ließ. Das Einkommen eines ordentlichen Professors setzte sich aus seinem Gehalt, den Honoraren für Vorlesungen und andere Lehrveranstaltungen sowie Dividenden aus der Fakultätskasse, die aus Prüfungs- und Einschreibungsgebühren usw. herrührten, zusammen. Diese gingen, abzüglich einer Verwaltungsgebühr, vollständig den 403 Vgl. Jonathan Sperber, Bürger, Bürgertum, Bürgerlichkeit, Bürgerliche Gesellschaft  : Studies of the German (Upper) Middle Class and its Sociocultural World, in  : Journal of Modern History 69 (1997), S. 271–297, hier  : S. 283 f. 404 Im Gegensatz zu dem von Pierre Bourdieu geprägten Begriff des »symbolischen Kapitals« zielt der hier gewählte Begriff der »symbolischen Gratifikation« auf nicht-transferierbare Werte, insbesondere auf Orden und andere statusbezogene Auszeichnungen. 405 Vgl. dazu Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 538  : »Man könnte also mit etwas zu starker Vereinfachung sagen  : ›Klassen‹ gliedern sich nach den Beziehungen zur Produktion und zum Erwerb der Güter, ›Stände‹ nach den Prinzipien ihres Güterkonsums in Gestalt spezifischer Arten von ›Lebensführung‹.« 406 Vgl. dazu die Tabelle »Alter bei Antritt des ersten Ordinariats« bei Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler, Göttingen 1997, S. 291. Nach ihrem Befund lag im Zeitraum zwischen 1848 und 1879 das Antrittsalter für ein Ordinariat bei den Geisteswissenschaften zwischen 33,3 Jahren in Kiel und 39,5 Jahren in Göttingen, bei den Naturwissenschaften zwischen 34,7 Jahren in Kiel und 43,4 Jahren in Berlin. Vgl. auch Busch, Geschichte des Privatdozenten, S. 44 ff.

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Professoren zu. In Würzburg erhielt Virchow anfänglich ein Gehalt von 1200 Gulden (dies entsprach knapp 700 Talern bei einer allerdings höheren Kaufkraft in Würzburg), das nach der Ablehnung eines Rufs nach Zürich 1852 auf 2000 Gulden gesteigert wurde.407 Dazu kamen noch die Honorare, die einen wesentlichen Teil der Einnahmen ausmachten. Waren ihm bei den Berufungsverhandlungen mit Würzburg 1849 etwa 6–800 Gulden Honorar in Aussicht gestellt worden, so übertrafen seine tatsächlichen Einnahmen diese Erwartungen bald bei weitem  : Im Studienjahr 1852/53 stiegen seine Honorare auf 3084 Gulden und im folgenden Studienjahr weiter auf 3677 Gulden.408 So schrieb er 1855 während seiner Berufungsverhandlungen mit Zürich, dass sich seine Würzburger Einnahmen aus Professorengehalt und Honoraren auf über 5000 Gulden (d. h. etwa 2850 Taler) beliefen, wovon 1600 Gulden auf seine Besoldung und damit mehr als zwei Drittel auf Honorareinnahmen entfielen.409 Nachdem er zunächst besorgt war, seiner Familie allenfalls einen bescheidenen Lebensstil bieten zu können,410 wurde er in dieser Hinsicht bald zuversichtlicher, lag sein Einkommen doch umgerechnet bei etwa 8500 Mark und damit immerhin auf dem Niveau eines preußischen Regierungspräsidenten.411 Der Ruf nach Berlin 1856, der zu einem bayerisch-preußischen Bietergefecht führte, bedeutete nicht nur einen erheblichen Prestigegewinn, sondern steigerte nach einiger Zeit auch Virchows Einkommen erneut. Dort stand er in der finanziellen Hierarchie seiner Kollegen ganz oben  : 2000 Taler Gehalt, nach späterem Umrechnungskurs 6000 Mark, bildeten von 1840 bis 1870 die Spitze dessen, was einem Ordinarius an der dortigen medizinischen Fakultät zugebilligt wurde, und vor Virchow war einzig Schönlein mit diesem Eingangsgehalt eingestellt worden.412 Sein Gehalt stieg mehrfach weiter an, 407 Karl Otto v. Raumer an Wilhelm  I, 5.5.1856  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt.  2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 24.29  ; Virchow an Bardeleben, 19.3.1849 (am Jahrestage der »lieben« Berliner), Druck  : Einige Briefe von Rudolf Virchow an Adolf von Bardeleben aus den Jahren 1847–1853, in  : VA 223 (1916), S. 1–9, hier  : S. 3. – Ein süddeutscher Gulden entsprach etwa 0,57 Taler bzw. später 1,7 Mark. 408 Virchow, Konzept für Unterhandlungen mit der Universität Zürich, 26.10.1855  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2719, Bl. 35.93. 409 Virchow an Alfred Escher (Direktor des Züricher Erziehungsrates), September 1855, Druck  : Gustav Braun, Rudolf Virchow und der Lehrstuhl für pathologische Anatomie an der Universität Zürich, Zürich u. a. 1926, S. 37 f. 410 R. Virchow an Carl Virchow, 15.12.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 437 f.; sowie R. Virchow an Carl Virchow, 14./15.5.1850, Druck  : ebenda, S. 465. 411 Besoldung ausgewählter Beamtenkategorien in Preußen, in  : Fischer u.  a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Band I, S. 162. 412 Hermann Lehnert an Virchow, 17.4.1856  : ABBAW, Nl Virchow, Nr.  1241  ; Karl Otto v. Raumer an Wilhelm I, 5.5.1856  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 24– 29. – Das Minimum für einen Ordinarius an der Berliner medizinischen Fakultät lag 1850 bei 600, 1860 bei 1200 Mark, der Durchschnitt bei 3265 bzw. 3774 Mark. Siehe »Die Ausgaben für die Gehälter der Dozenten zu Anfang eines jeden Jahrzehntes 1810 bis 1910«, in  : Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 3  : Wissenschaftliche Anstalten, Spruchkollegium, Statistik, Halle a. d. S. 1910, S. 532.

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beispielsweise 1872, als er im Zuge der generellen Anhebung aller preußischen Beamtenbezüge eine Zulage von jährlich 1200 Mark erhielt.413 Zu dieser Erhöhungswelle Anfang der 1870er Jahre zählt auch die Einführung des Ortszuschlages im folgenden Jahr, wodurch Virchow seit 1873 zu einem Wohngeldzuschuss von 900 Mark jährlich gelangte.414 1900, kurz vor seinem Tode, erhielt er schließlich noch einmal eine jährliche Gehaltszulage von 1200 Mark.415 Damit blieb er auch weiterhin an der Spitze der Gehaltsskala der Berliner medizinischen Fakultät, betrug doch das höchste dort zu diesem Zeitpunkt einem Ordinarius gezahlte jährliche Gehalt 9400 Mark, gegenüber einem Durchschnitt von 5969 und einem Minimum von 2400 Mark.416 Entscheidend für die tatsächliche Höhe der Einnahmen waren jedoch die Honorare, die sich für die Berliner Jahre allerdings weniger genau berechnen lassen. Bei seinen Berufungsverhandlungen mit Berlin 1856 wurden Virchow zunächst etwa 350 Taler Kolleggelder in Aussicht gestellt. Nach anfänglich enttäuschenden Ergebnissen, die seine Honorare gegenüber Würzburg auf die Hälfte sinken ließen,417 erreichten seine Einnahmen dann aber mit dem bald einsetzenden Zustrom der Studenten zu seinen Veranstaltungen wieder das gewohnte Niveau. Virchow wurde dadurch später etwa dazu gezwungen, einen Parallelkurs zu seinem regelmäßig abgehaltenen Privatissimum einzurichten, was mit einer entsprechenden Steigerung der Einnahmen verbunden war. Dies hatte jedoch zur Folge, dass ihm in der Öffentlichkeit Habgier vorgeworfen wurde.418 Ein Schlaglicht auf seine Honorarsituation wirft eine Angabe aus dem Jahr 1891, wonach allein die Honorare für den praktischen Kurs der pathologischen Histologie 4880 Mark betrugen, wovon er allerdings die Hälfte an seinen ersten Assistenten Dr.  Oscar Israel abtrat.419 Dabei differierten vor allem an den medizinischen Fakultäten die Honorarsätze zum Teil

413 Adelbert Falk an Virchow, 4.6.1872  : ABBAW, Nl. Virchow, Nr.  2723  ; vgl. dazu Hans Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, Köln u. a. 1980, S. 267  ; Bernd Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt a. M. 1986, S. 103. 414 Rudolf Gneist (Rektor der Berliner Universität) an Virchow, 7.7.1873  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2723. 415 Konrad v. Studt an Virchow, 21.3.1900  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt.  2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 3 (M), Bl. 318. 416 Die Spitzengehälter der übrigen Fakultäten lagen demgegenüber an der Jahrhundertwende bei 9000 Mark für die Theologische, 9600 Mark für die Juristische und 12.000 Mark für die Philosophische Fakultät. Siehe Lenz, Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd. 3, S. 532. 417 Virchow an Karl Otto Raumer, 4.3.1857  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M) Bl. 131–138  ; R. Virchow an Carl Virchow, 24.12.1856, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 763. Vgl. dazu auch Turner, Universitäten, S. 233. 418 Siehe die Rechtfertigung Rudolf Virchows in SBPAH, 74. Sitzung am 3.5.1897, S. 2572. 419 Gehaltsaufstellung der Assistenten des Pathologischen Instituts, o. Verf., o. Dat. (1891)  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 3 (M). Der erste Assistent Oscar Israel bezog zu diesem Zeitpunkt ein Gehalt von 1800 Mark sowie einen Wohngeldzuschuss von 540 Mark und ein Kollegienhonorar von durchschnittlich 70 Mark.

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erheblich, die 1897 etwa von 36 Mark für eine anatomische Präparierübung in Breslau bis zu 80 Mark für eine entsprechende Veranstaltung in Berlin reichten.420 Als es 1897 schließlich zur Reform des Honorarsystems kam, die vor allem dazu dienen sollte, die extreme Ungleichheit der Honorareinnahmen ein Stück weit zu nivellieren, verteidigte Virchow leidenschaftlich die bislang bestehenden Verhältnisse. Die geplante Abschaffung des bisherigen Systems zugunsten einer neuen Regelung, wonach ein Teil des Honorars durch den Staat verteilt werden sollte, kritisierte er als Angriff auf das korporative System der Universität, das unter anderem auf der Konkurrenz der Kollegen untereinander beruhe. In einer Rede vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus, in der er zugleich die bessere Besoldung der Universitätspedelle forderte, erklärte er dazu  : Wenn hier bezweifelt worden ist, dass das Honorarwesen damit etwas zu thun hat, so möchte ich hervorheben, dass man doch nicht von den Professoren verlangen kann, dass sie blos um des Ruhmes und Ehrgeizes willen eine harte und anstrengende Konkurrenz unterhalten. Jedermann wird begreifen, dass ein Professor, der nicht gerade gut gestellt ist, die Möglichkeit haben muss, durch seine Thätigkeit auf wissenschaftlichem Gebiet eine erhöhte Einnahme zu erzielen, und dass, wenn er die erhält, er seine Stellung durchaus würdig ausfüllt.421

Mitte der 1890er Jahre, als auf Betreiben Althoffs die Reform der Professorenhonorare diskutiert wurde, lag deren Jahresdurchschnitt im Deutschen Reich  – mit nach oben stetig sinkender Frequenz  – zwischen 1000 und mehr als 20.000 Mark.422 Leider fehlen Unterlagen, die es ermöglichen würden, Virchow in diesem Honorarspektrum exakt einzuordnen. Geht man aber davon aus, dass das Verhältnis von Gehalt zu Honoraren in Würzburg ein Drittel zu zwei Drittel betrug und er in Berlin nach einer kurzfristigen Anlaufphase bald wieder an das gewohnte Niveau anschließen konnte, ist es sehr wahrscheinlich, dass Virchows Honorareinnahmen im oberen Bereich dieses Spektrums lagen. In der Folge der Entstehung außeruniversitärer Forschungsinstitute im Kaiserreich, bei denen die privatwirtschaftlichen Einkunftsverhältnisse in der Industrie als Maßstab dienten, wurden diese Gehaltsmaßstäbe allerdings gesprengt  : ›Stars‹ wie Robert Koch konnten seit den 1890ern in ganz andere Gehaltsdimensionen vorstoßen  : So bezog die420 Ludwig Elster, Die Gehälter der Universitätsprofessoren und die Vorlesungshonorare unter Berücksichtigung der in Aussicht genommenen Reformen in Preussen und Oesterreich, in  : Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 13 (1897), S. 193–227, hier  : S. 207. 421 SBPAH, 74. Sitzung am 3.5.1897, S. 2373  ; siehe auch ders., in  : ebenda, 80. Sitzung am 10.5.1897, Bd. 4, S. 2593 f. Vgl. dazu auch Heinrich Brunner an Virchow, Berlin, 10.5.1897  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 301. 422 191 ordentliche Professoren erhielten jährlich 1000 Mark Honorar, 87 erhielten 2000, 74 erhielten 4000, 59 erhielten 6000, 27 erhielten 8000, 14 erhielten 10.000, 15 erhielten 15.000, sieben erhielten 20.000 und vier mehr als 20.000. Siehe Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Hildesheim 1966 (reprograph. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1902), S. 106.

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ser als Direktor des Instituts für Infektionskrankheiten in Berlin ein jährliches Gehalt von 20.000 Mark.423 Die sich hier öffnende Schere in der Gehaltsentwicklung betraf aber nicht allein die Spitzen  : Der Vergleich der Gehälter der am Institut für Infektionskrankheiten Beschäftigten mit denen der nächstgelegenen Charité zeigte, so Virchow 1894 im Preußischen Abgeordnetenhaus, einen »Unterschied wie zwischen einem Krösus und einem ganz gewöhnlichen Bürgersmann  : hier ist bessernde Hand anzusetzen« – womit er die Angleichung nach oben meinte. Dabei sah er das Problem weniger im Hinblick auf seine eigenen Einkünfte, die zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr als Gegenstand öffentlicher Klagen taugten, sondern vor allem im Hinblick auf die der Privatdozenten und der wissenschaftlichen Assistenten. Deren mehr als klägliche Einkommenssituation zwang sie dazu, sich entweder durch Nebentätigkeiten oder aus privaten Mitteln zu finanzieren, was er zu Recht als wirksamen sozialen Filter kritisierte.424 Im Falle Virchows traten überdies zu den Einnahmen aus Professorengehalt und Honoraren andere einmalige oder regelmäßige Einkünfte. Dazu gehörten neben einem jährlichen Gehalt von 900 Mark,425 das mit der 1873 erfolgten Aufnahme als ordentliches Mitglied in die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin verbunden war, auch etwa die Bezüge aus dem Rektorenamt, das Virchow 1892/93 ausübte und das mit Einnahmen in Höhe von etwa 12.000 Mark verbunden war.426 Zudem stellt sich die Frage, inwieweit die Einkünfte aus populären Vorträgen und Publikationen, die vor dem Ersten Weltkrieg im Budget vieler Professorenhaushalte eine wichtige Rolle spielten,427 auch in seinem Fall substanziell waren. Virchow verdiente an solchen Veröffentlichungen gut, doch sah er sich aus Zeitgründen gar nicht in der Lage, alle an ihn gerichteten Anfragen zu erfüllen und diesen lukrativen Markt systematisch als Einnahmequelle zu erschließen. Seine Publikationshonorare stiegen sowohl in Abhängigkeit von der Entwicklung seiner Bekanntheit als auch des publizistischen Markts seit den 1870er Jahren beträchtlich an. Konnte Virchow den Autoren wissenschaftlicher Aufsätze in dem von ihm herausgegebenen Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin in den fünfziger und sechziger Jahren durchschnittlich gerade einmal Beträge zwischen 423 Christoph Gradmann, Money, Microbes, and More  : Robert Koch, Tuberculin and the Foundation of the Institute for Infectious Diseases in Berlin in 1891, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Bd. 69, Berlin 1997, S. 9. 424 SBPAH, 30. Sitzung am 7.3.1894, Bd. 2, S. 953 f. Siehe auch Unterlagen in GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 3 (M). Zur Privatdozentenproblematik vgl. v. a. Busch, Geschichte des Privatdozenten. 425 Peter Th. Walther, Honoratiorenklub oder Forschungsstätte. Die Statutendebatte der Akademie 1874 bis 1881, in  : Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, hrsg. v. Jürgen Kocka unter Mitarbeit v. Rainer Hohlfeld u. Peter Th. Walter, Berlin 1999, S. 103–118, hier  : S. 110. 426 Siehe Berliner Zeitung, Nr. 422 vom 22.9.1892. 427 Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863–1941, München 1994, S. 62–64.

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sieben und zehn Talern bezahlen,428 so erhielt er selbst 1862 für eine Veröffentlichung in Berthold Auerbachs Volkskalender 44 Taler. Dies spiegelt allerdings vor allem auch den Unterschied in der Bezahlung von wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen wider. Der Anstieg seines Marktwerts, aber auch die generelle Expansion der populärwissenschaftlichen Autorengehälter im Kaiserreich zeigt sich dann etwa daran, dass Julius Rodenberg Virchow für seine Veröffentlichungen in der Deutschen Revue 1874 immerhin ein Honorar von 1000 Mark pro Bogen offerierte, während ihm Rudolf Mosse 1879 für jedes dem Berliner Tageblatt oder dem Deutschen Montags-Blatt eingesandte Feuilleton 200 Mark zahlte. Dabei konkurrierten Rodenberg und Mosse insbesondere um einen publikumswirksamen Bericht über Virchows Troja-Reise 1879.429 Den publizistischen Marktwert seiner engen Beziehungen zu Heinrich Schliemann bestätigt auch, dass sein ehemaliger Schüler Adolf Kröner gleichfalls stolz darauf war, in der von ihm herausgegebenen Gartenlaube, einer populären Familienzeitschrift, unter anderem 1891 drei Artikel Virchows mit Erinnerungen an den umstrittenen Entdecker Trojas zu veröffentlichen. Dies honorierte er, ähnlich wie seit den 1880er Jahren schon früher erschienene Artikel Virchows, mit 50 Mark pro Spalte.430 Daneben standen die leider nicht näher bezifferbaren Einnahmen aus Buchveröffentlichungen, von denen einige wie die 1858 erstmals erschienene Cellularpathologie in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und immer wieder neue Auflagen erlebten. Zu einer weiteren bedeutsamen Einnahmequelle wurde aber auch seine seit Ende der fünfziger Jahre wieder aufgenommene politische Tätigkeit  : Während seine von 1859 bis 1902 dauernde Mitgliedschaft in der Berliner Stadtverordnetenversammlung ehrenamtlich war, erhielt er für seine Tätigkeit als Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus, dem er seit 1861 bis zu seinem Tode für die Fortschrittspartei beziehungsweise deren Nachfolgeparteien angehörte, Sitzungsgelder. Seit 1849 waren dies auf gewohnheitsrechtlicher Grundlage drei Taler pro Sitzungstag, was sich an der Besoldung eines Kreisrichters orientierte.431 1873 erhöhte sich dieser Betrag auf fünf Taler beziehungs428 Siehe etwa Virchow an v. Wittich, 13.2.1856, Druck  : Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe, S. 103  ; Virchow an Wilhelm His, 25.1.1857  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2429. 429 Berthold Auerbach an Virchow, 9.9.1862  : ABBAW, Nl Virchow, Nr.  73  ; Julius Rodenberg an Virchow, 3.6.1874  : ABBAW, Nl Virchow, Nr.  1798  ; Rudolf Mosse an Virchow, 20.3.1879  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1485. 430 Adolf Kröner an Virchow, 9.1.1891  ; 25.2.1891  ; 10.3.1891  ; 13.3.1891  ; 16.4.1891  : ABBAW, Nl Virchow, Nr.  1169. Im Zusammenhang dieses Artikels ließ sich Virchow im Gegensatz zu seinen sonstigen Gepflogenheiten auch einmal Zensur gefallen  : Kröner bat ihn, Vorwürfe gegen die Augsburger Allgemeine Zeitung, die sich 1879 sehr kritisch gegen Schliemann geäußert hatte, aus dem Manuskript zu streichen. Kröner, der zugleich auch Herausgeber der Münchener bzw. früher Augsburger Allgemeinen Zeitung war, wies Virchow darauf hin, dass er andernfalls einen wohldokumentierten Bestechungsversuch Schliemanns, mit dem er sich die Gunst dieser Zeitung zu erkaufen gesucht hatte, veröffentlichen werde, um die damalige Haltung dieser Zeitung plausibel zu machen und somit die eigene Ehre zu verteidigen. 431 Christian Jansen, Selbstbewußtes oder gefügiges Parlament  ? Abgeordnetendiäten und Berufspolitiker in

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weise 15 Mark.432 Virchow erzielte auf diesem Wege ansehnliche zusätzliche Einnahmen, deren Höhe immerhin anderen Abgeordneten vollständig den Lebensunterhalt sichern musste. Da sich die Sessionen des Preußischen Abgeordnetenhauses auf eine durchschnittliche Dauer von sechs Monaten einpendelten, ergab sich daraus für Virchow, der seit 1862 Mitglied der Budgetkommission und seit 1875 Vorsitzender der Rechnungskommission war, nicht nur eine erhebliche zeitliche Belastung, sondern auch beträchtliche Zusatzeinnahmen. So nahm er beispielsweise während der Session 1862 an 65 Plenarsitzungen und 99 Sitzungen der Budget-Kommission teil.433 Im Reichstag, dem Virchow für die Fortschrittspartei beziehungsweise die Deutsche Freisinnige Partei von 1880 bis 1893 angehörte, wurden den Abgeordneten hingegen erst seit 1906 Diäten zugestanden – wohinter das Kalkül Bismarcks stand, zwar das aktive Wahlrecht durch das allgemeine Männerwahlrecht zu erweitern, aber zugleich das passive Wahlrecht auf diesem Wege indirekt zu beschränken.434 Eine exakte Bilanz der Vermögensverhältnisse Virchows erlauben die vorhandenen Quellen nicht. Zu viele Einzelposten bleiben im Ungefähren, und so können nur die allgemeinen Tendenzen beschrieben werden. Dies reicht aber für die Feststellung, dass Virchow innerhalb seiner eigenen Statusgruppe einen herausragenden Platz erreichte, und auch im Vergleich zur Einkommensentwicklung anderer Gruppen sowie der allgemeinen Einkommensentwicklung435 schnitt er sehr gut ab. Nachdem er die finanziell beengten Verhältnisse seiner Studentenzeit abgelegt hatte, war er die meiste Zeit seines Lebens wenn schon nicht reich, so doch wohlhabend, wie in einem späteren Kapitel ausgeführt werden wird. Die beträchtlichen staatlichen Bezüge scheinen zudem dazu beigetragen zu haben, dass sich der einstige Revolutionär von 1848 in seinen späteren Jahren wenn schon nicht mit den politischen Verhältnissen, so aber doch mit dem preußischen Staat ausgesöhnt hatte. Die allgemeine Tendenz, wonach im Verlauf des 19. Jahrhunderts die neuen industriellen Vermögen die höheren Beamtenbezüge zu überflügeln begannen, deren Zunahme zudem mit den Teuerungsraten nicht Schritt halten konnte,436 dürfte ihn angesichts seiner eigenen Einkommensdynamik kaum betroffen haben. Allenfalls den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts, in  : Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 33–65, hier  : S. 39. 432 Siehe ebenda  ; sowie Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen, 1867–1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994, S. 353 f. Eine gesetzliche Regelung der Erhöhung erfolgte allerdings erst 1876. Für wertvolle Hinweise zu dieser Frage danke ich Christian Jansen. 433 Virchow an Goldstücker, 31.10.1862  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 434 Jansen, Selbstbewußtes oder gefügiges Parlament, S. 57. 435 Vgl. dazu Asok Desai, Real Wages in Germany 1871–1913, Oxford 1968, S.  125  ; Fischer u.  a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. I, S. 104–183  ; Gerd Hohorst/Jürgen Kocka/Gerhard A. Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. II  : Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, 2., durchges. Aufl., München 1978, S. 94–123. 436 Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, S. 268 f., Wunder, Geschichte der Bürokratie, S. 104.

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die indirekten Auswirkungen dieser Prozesse – vor allem die erheblich höheren Gehälter, die in der außeruniversitären Forschung erzielt werden konnten – führten am Ende des 19. Jahrhunderts zu Konkurrenzbetrachtungen, wurden von ihm aber als nützliches Argument für Einkommenssteigerungen im universitären Bereich funktionalisiert. Symbolische Gratifikationen

Der soziale Status war jedoch nicht allein vom materiellen, sondern gleichermaßen vom symbolischen Kapital abhängig. Insbesondere Orden, Titel und Nähe zum königlichen Hof bildeten im 19.  Jahrhundert den Mittelpunkt eines elaborierten Systems symbolischer Gratifikationen. Solche an Virchow verliehenen Auszeichnungen sind gleichermaßen aufschlussreich für die Haltung des bayerischen und preußischen Staats ihm gegenüber, aber auch für die Frage seines bürgerlichen Selbstverständnisses. Seinen ersten Orden, das Ritterkreuz I.  Klasse des Verdienstordens vom Heiligen Michael, den Virchow 1855 durch den bayerischen König erhalten hatte, habe er leider »nicht abwenden können«, da er mit seinem Ablehnungsschreiben zu spät gekommen sei, schrieb er 1856 an Goldstücker.437 Zum Berliner Universitätsjubiläum 1860 ließ sich Virchow nicht nur einen neuen Talar schneidern, sondern gedachte seine Orden »das erste Mal spaziren (zu) führen, zu denen eben der schwedische Nordstern – um den Hals getragen – hinzukam, so daß ich hoffe, einen richtigen Affen der Civilisation darstellen zu können.«438 1871 dekorierte ihn auch der preußische König für seine Verdienste um den freiwilligen Sanitätsdienst im deutsch-französischen Krieg mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse am weißen Band. Zuvor hatte sich Kriegsminister Albrecht von Roon, der im preußischen Verfassungskonflikt in ihm einen zähen Gegner gefunden hatte, von seinem Ministerkollegen von Mühler dahingehend beruhigen lassen, dass kein Anlass zum Zweifel bestehe, »dass der Professor Dr.  Virchow die für ihn in Vorschlag gebrachte Decoration mit der entsprechenden Würdigung aufnehmen werde«439. Ende 1874, zu einer Zeit, in der Virchow weniger regierungskritisch als jemals sonst in seiner politischen Karriere war,440 ernannte Wilhelm  I. ihn auf Vorschlag des Kultusministers Adelbert Falk schließlich zum Geheimen Medizinalrat. Die Ernennung von Professoren zu Geheimräten in Preußen hatte sich erst mit Entstehung des Institutssystems auf breiter Front durchgesetzt und führte im Verlauf des 19. Jahrhunderts an manchen Instituten zu einer wahren Geheimratsschwemme. Falk, der im Kulturkampf große politische Gemeinsamkeiten mit Virchow entwickelte, wollte durch diese Ernennung erreichen, dass dieser nicht länger

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Virchow an Goldstücker, 2.5.1856  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. R. Virchow an Carl Virchow, 28.9.1860, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 854. Heinrich v. Mühler an Albrecht v. Roon, 16.8.1871  : GStA-PK, I. HA, Rep. 76 VIII A, Nr. 4030 (M), Bl. 42. Boyd, Rudolf Virchow, S. 174.

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gegenüber Kollegen an der Berliner Universität zurückgesetzt würde, die dort weniger lange beschäftigt waren als er.441 Ein außerordentlich wichtiges Gratifikationssystem bildete in Preußen die Nähe zum Hof.442 Der ehemalige Republikaner Virchow besaß dazu jedoch ein ambivalentes Verhältnis. So berichtete er Goldstücker im Januar 1868 ins Londoner Exil, dass sich seine Frau gegenwärtig sehr mit Sammlungen für den Bazar der Königin beschäftige, und sie fühle sich »immer noch tief beschwert durch die Ehre, in das allerhöchste Comité erwählt zu sein. Was nicht aus Leuten werden kann  !«443 Durch den Kronprinzen Friedrich wurde aber auch Virchow schließlich »hoffähig« und zu Empfängen in das Berliner Königsschloss eingeladen.444 Unter dem Einfluss seiner Frau Victoria, einer Tochter der Königin Victoria von Großbritannien, die Preußen und Deutschland nach englischem Vorbild in ein parlamentarisches System umzuwandeln wünschte, pflegte Friedrich schon seit den 1860er Jahren bessere Kontakte zum deutschen Liberalismus.445 Während der todkranke Friedrich III. in seiner kurzen Amtszeit dafür sorgte, dass der Linksliberale Virchow zusammen mit dem Nationalliberalen Max von Forckenbeck 1888 den Roten Adler-Orden II. Klasse mit Stern und Eichenlaub erhielt, legte dessen Sohn Wilhelm II. Virchow gegenüber eine schroffe Haltung an den Tag und kritisierte heftig die von seinem Vater vorgenommenen oder vorgesehenen Ehrungen liberaler Politiker. Althoff stieß deshalb 1891 mit seinem Vorschlag, Virchow anlässlich seines 70. Geburtstags die Goldene Medaille für Wissenschaft zu verleihen, bei dem preußischen Monarchen auf taube Ohren.446 Als zusätzliche kleine Schikane unterließ es Wilhelm  II. zunächst auch, Virchow die Annahme einiger ihm zum selben Anlass verliehener ausländischer Orden zu genehmigen. Dadurch geriet der Geehrte in die missliche Lage, diese Orden bei internationalen Kongressen nicht anlegen und sich nicht einmal bei den betreffenden Regierungen bedanken zu können.447 Zugleich wurde Virchow jedoch 1891 in einem an ihn gerichteten anonymen Brief dafür kritisiert, dass er in seinen späteren Jahren die ihm 441 Adelbert Falk an Wilhelm I, 19.12.1874  : GStA-PK, I. HA Rep. 89 Geheimes Zivilkabinett, Nr. 21486 (M), Bl. 108–110. 442 Vgl. zur Bedeutung des Hofes für die politische Kultur Preußens v. a. John C. Röhl, Kaiser, Hof und Staat  : Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 21988, hier v. a. S. 78–115  ; siehe zur »Titelwährung und Ordenswährung« auch Richard Lewinsohn (Morus), Das Geld in der Politik, Berlin 1930, S. 25 ff. 443 Virchow an Goldstücker, 8.1.1868  : ABBAW, Nl. Virchow, Nr. 2425. 444 Siehe dazu etwa die Beschreibung eines Empfangs am Berliner Hof am 17.2.1881, an dem auch Virchow teilnahm, bei Georg Brandes, Hofball, 18.2.1881, in  : ders., Berlin als deutsche Reichshauptstadt, S. 405–410, hier  : S. 408. 445 Zum Verhältnis Friedrichs III. zum Liberalismus vgl. Patricia Kollander, Frederick III. Germany’s Liberal Emperor, Westport u. London 1995. Diese relativiert den Mythos des Kronprinzen als »liberaler Hoffnung« Deutschlands weitgehend als eine Erfindung seiner Frau Viktoria sowie seiner liberalen Unterstützer. 446 Friedrich Althoff an Wilhelm II, 30.9.1891, sowie Friedrich v. Lucanus an Robert Graf v. Zedlitz-Trützschler, 12.10.1891  : GStA-PK, I. HA Rep. 89 Zivilkabinett, Nr. 21490 (M), Bl. 177 u. 182. 447 Virchow an Althoff, 10.6.1892  : GStA-PK, I. Ha Rep. 92 Althoff B, Nr. 189, Bl. 149.

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verliehenen Orden öfters in der Öffentlichkeit zeigte. Gegenüber der liberalen Presse rechtfertigte er sich für sein gewandeltes Verhältnis zum Tragen von Orden vor allem mit diplomatischen Rücksichten und betonte zudem sein gutes Verhältnis zur preußischen Regierung.448 Dies war allerdings keine symmetrische Wahrnehmung. Wilhelm  II. hatte sein Idealbild eines Wissenschaftlers in einem Brief an Hermann von Helmholtz formuliert, der ebenso wie Virchow 1891 seinen 70. Geburtstag feierte  : »Ihr stets den reinsten und höchsten Idealen nachstrebender Geist ließ in seinem hohen Flug alles Getriebe von Politik und damit verbundenen Parteiungen weit hinter sich zurück.«449 Während so der vom preußischen König für seine apolitische Haltung gelobte Helmholtz zugleich von ihm zur Exzellenz erhoben wurde, erhielt Virchow die Ehrenbürgerurkunde der Stadt Berlin. Damit traten hier zwei konkurrierende Bezugssysteme der symbolischen Gratifikation auf  : ein monarchisch-feudales und ein bürgerlich-liberales, wie auch in den begleitenden Feierlichkeiten deutlich zum Ausdruck kam. Einen Schnittpunkt dieser beiden Bezugssysteme bildete die Berliner Universität  : Zweimal, 1887 und 1888, fiel Virchow bei den Wahlen zum Rektor durch, da der akademische Senat hier einen Akt vorauseilenden politischen Gehorsams zelebrierte, ehe ihm dieses Amt schließlich 1892/93, im Alter von 71 Jahren, anvertraut wurde.450 So sah sich denn auch Kultusminister Robert von Bosse anlässlich der nach mehreren vergeblichen Anläufen 1892 doch noch geglückten Wahl Virchows zum Rektor der Berliner Universität dazu genötigt, den König, der diese genehmigen musste, ausdrücklich zu beruhigen  : Erstens handle es sich hier »lediglich um eine akademische Würde«. Zudem habe er in persönlicher Unterredung mit dem pp. Virchow die Ueberzeugung gewonnen, dass derselbe ernstlich darauf bedacht sein wird, sich während des Rektoratsjahres alle Zurückhaltung aufzuerlegen, welche die, wie er sich wohl bewusst ist, in politischer Beziehung ganz überwiegend anders gestimmte Universität mit Entschiedenheit von ihm erwartet.451

Bei seinem Amtsantritt stellte sich für Virchow jedoch die Frage, wie er zwischen seinem gewöhnlichen, betont bürgerlichen Habitus und seinen neuen Repräsentationspflichten vermitteln sollte. Das Berliner Fremdenblatt malte genüsslich das Bild aus, wie der schmächtige Gelehrte bei seiner Amtseinführung und Vorstellung vor dem König mit einem purpurnem Mantel und Barett, Amtskette, Schnallenschuhen, seidenen Strümpfen und Kniehosen, »endlich auch noch einen ungefährlichen Degen  !«, bekleidet erschei448 Berliner Tageblatt vom 16.10.1901, »Der Virchow-Kommers«  ; Frankfurter Zeitung vom 16.10.1901, »Eine Ehrung Virchows als Politiker«. 449 Zit. nach Danziger Courir, Nr. 247 vom 22.10.1891, »Politische Tagesschau«. 450 Siehe die Wahlunterlagen in GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. III Nr. 1 Bd. 4 u. 5 (M). 451 GStA-PK, I. HA I Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. III Nr. 1 Bd. 5 (M), Bl. 53 f.

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nen würde.452 Virchow erschien aber bei diesem Ereignis schließlich nicht in der vollen Amtstracht, sondern trug »nur zu dem Frack die goldene Kette, welche mit dem Bilde Friedrich Wilhelms III., des Stifters der Universität, geschmückt ist«453. Der Gelehrte im bürgerlichen Frack kontrastierte damit zum Gelehrten in der adligen Kniehose  – mit diesem Kleidungsstück hätte Wilhelm II. Helmholtz gern auf dem ihm nach seinem Tod gewidmeten Denkmal im Innenhof der Berliner Universität dargestellt gesehen.454 Zugleich kontrastierte er aber auch zum unpolitischen Experten im Labormantel, der zum neuen Leitbild des Naturwissenschaftlers aufstieg und in dieser Zeit insbesondere von Robert Koch verkörpert wurde. Die Schwierigkeiten des preußischen Staates bei der Verleihung symbolischer Gratifikationen an Virchow zeigten sich auch bei späteren Gelegenheiten, so etwa 1893 bei seinem 50.  Doktorjubiläum. Der Ton der dabei entstandenen interministeriellen Auseinandersetzung stützt die bereits früher formulierte Vermutung, dass die Auflösung der absolutistischen Trennung von Privatraison und Untertanenpflicht im Gefolge der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Ideologisierung derartiger Fragen führte. Dabei wurden teilweise jahrzehntelang zurückliegende politische »Missetaten« herangezogen, aber auch seine ablehnende Haltung zur Militärvorlage der Reichsregierung 1893. Dagegen hatte Kultusminister von Bosse aus seiner Vorlage die ursprünglich dort enthaltene Bemerkung gestrichen  : »(…) zumal auch nicht gesagt werden kann, dass Virchow als akademischer Lehrer und Examinator seinen Aufgaben überall gerecht wird«455. Die Möglichkeit, die im Umfeld der Revolution von 1848 wenigstens im Einzelfall noch bestanden hatte, sich auf der Grundlage einer Trennung von privater Meinung und öffentlichen Dienstpflichten zu verständigen, ging somit im Kaiserreich mehr und mehr verloren. Die Haltung Wilhelms II. ist hierfür symptomatisch. So befahl der preußische Monarch Bosse ausdrücklich, Virchow zu seinem 50. Doktorjubiläum die vorgesehenen Glückwünsche lediglich persönlich, nicht aber zugleich in seinem Namen auszusprechen.456 Ein letztes Mal stellte sich dieses Problem schließlich 1901 bei den Jubiläumsfeierlichkeiten zu Virchows 80. Geburtstag. Mittlerweile fiel die schwierige Aufgabe, Wilhelm II. gnädig für eine Ehrung für Virchow zu stimmen, Kultusminister Konrad von Studt zu. Vorsichtig formulierte er, dass ihm wohl bewusst sei, »dass Virchow auf dem Gebiete der Politik besonders in früheren Jahren berechtigten Anstoß erregt hat, und ich bin weit entfernt, dies irgend wie beschönigen zu wollen«. 452 Berliner Fremdenblatt, Nr. 221 vom 21.9.1892. 453 Berliner Zeitung, Nr. 253 vom 28.10.1892. 454 Dazu ausführlich Constantin Goschler, Die ›Verwandlung‹  : Rudolf Virchow und die Berliner Denkmalskultur im Kaiserreich, in  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1 (1998), S. 69–111, hier  : S. 85–87. 455 Robert v. Bosse an Lucanus, 13.10.1893  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 3 (M), Bl. 245 f. 456 Lucanus an Bosse, 17.10.1893  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 3 (M), Bl. 248.

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Jedoch trete dies gegenüber seinem wissenschaftlichen Ruhm und seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit zurück, zumal er auch, wie Studt befand, »in allen seinen amtlichen Beziehungen (…) stets eine durchaus angemessene und sachliche Haltung eingenommen« habe. Trotzdem lehnte es der Monarch ab, Virchow wie vorgeschlagen den Königlichen Kronen-Orden erster Klasse zu verleihen.457 Dafür dekorierte er ihn zusätzlich zu dem in diesem Jahr bereits verliehenen Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste noch mit der Großen Medaille für Wissenschaft und ehrte ihn zudem mit einem persönlichen Glückwunschschreiben, in dem er ihn für seine Leistungen als Arzt und Wissenschaftler würdigte458 – was unübersehbar die Missbilligung der politischen Rolle Virchows einschloss. Den Hintergrund dieser mühsam abgerungenen Auszeichnung des Jubilars bildeten schier endlose Ehrungen durch ausländische wissenschaftliche Gesellschaften und Regierungen bis hin zu einer von 20.000 russischen Ärzten unterzeichneten Glückwunschadresse und einer durch die italienische Regierung eigens zu Virchows 80. Geburtstag geprägten goldenen Medaille. Hier stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Ehrungen durch den preußischen Staat für Virchows Selbstverständnis besaßen. Das liberale Bürgertum zeigte im Deutschen Kaiserreich in dieser Hinsicht eine ambivalente Haltung  : Auf der einen Seite jagte es derartigen Ehrungen nach, zugleich hegte es diesen gegenüber auch eine gewisse Reserve – weshalb der bürgerliche Freisinn die Zurückweisung des Adelsbriefs und des Titels einer Exzellenz durch Theodor Mommsen »als leuchtendes Beispiel wahren Gelehrten- und Bürgerstolzes« gefeiert hatte.459 Als Heinrich Schliemann 1881 seinen Freund Virchow bedrängte, ihm im Gegenzug für die Überlassung seiner Troja-Funde an das Berliner Völkerkundemuseum zu einer hohen Dekoration zu verhelfen, entschuldigte er seinen Wunsch damit, dass dieser ja, entgegen den früheren gemeinsam geteilten Überzeugungen, ebenfalls Orden trage.460 Virchow hielt ihm entgegen, dass er als Beamter nicht in der Lage sei, seinem Souverän gegenüber die Annahme eines Ordens zu verweigern, und nachdem ich erst einen hatte, kam es nicht mehr darauf an, auch mehrere zu nehmen. Ich trage sie aber nie anders, als bei ganz offiziellen und höchst feierlichen Gelegenheiten, wo ich beleidigen würde, wenn ich sie nicht anmachte. Wäre ich ein freier Mann, wie Sie, so würde ich auch an solche Rücksichten mich nicht binden.461

457 Konrad v. Studt an Wilhelm II, 29.9.1901  : GStA-PK, I. HA Rep. 89 Zivilkabinett, Nr. 21494 (M), Bl. 33–37. 458 Allerhöchster Erlaß über Verleihung der Großen Goldenen Medaille für Wissenschaft an Virchow, 11.10.1901  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 3 (M), S. 380. 459 Neue Zürcher Zeitung vom 19.10.1901, »Nachklänge vom Virchow-Fest«. 460 Schliemann an Virchow, 20.1.1881, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 244. 461 Virchow an Schliemann, 9.2.1881, Druck  : ebenda, S.  250. Der New Yorker Staatsanzeiger, Nr.  269 vom

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Abb. 2  Ulk  : Dem Achtzigjährigen (1901).

Schliemanns folgende kuriose Rechtfertigung, der sich Virchow gegenüber keineswegs der Lächerlichkeit wegen »Ordenssucht« preisgegeben sehen wollte, demonstriert das zwiespältige Verhältnis eines Bürgers, der sich vom Sympathisanten der amerikanischen Demokratie zum Bismarck-Bewunderer gewandelt hatte, zu derartigen Ehrungen des monarchischen preußischen Staates  : Keinesfalls wolle er sich mit solchen Dekorationen künftig in der Öffentlichkeit zeigen. »Aber Orden«, so Schliemann, »machen sich wunderbar, um die leeren Räume meiner Schränke, die für die trojanischen Schätze bestimmt waren, mit Orden geschmückt zu sehen.«462 So bildet dieser Fall ein Muster jener politischen Ökonomie der Artefakte, innerhalb derer sich im Kaiserreich der Tausch zwischen Gegenständen für die Sammlungen der Berliner Museen und königlichen Orden vollzog.463 10.11.1897, berichtete, dass Virchow die zahlreichen ihm verliehenen Orden bei den dafür geeigneten Gelegenheiten nicht anzulegen pflegte. 462 Schliemann an Virchow, 17.2.1881, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 251. 463 Zimmerman, Anthropology and Antihumanism, S. 153.

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Die Ambivalenz des liberalen Bürgertums gegenüber derartigen Auszeichnungen zeigte sich auch an den Reaktionen der liberalen Presse, als es um die Angemessenheit der Ehrungen Virchows zu seinem 80. Geburtstag durch den preußischen König ging  : In Zorn und Gram jammern publizistische Vertreter des Berliner bürgerlichen Freisinns  ; kein Schwarzer Adler, nicht einmal das Großkreuz des Roten Adlers, kein Stern des Hohenzollernordens habe sich in das Knopfloch des Virchowschen Frackes herabgesenkt. Nur die große goldene Medaille für Wissenschaft sei dem Jubilar verliehen worden.

Doch, so fragte der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, wie vertrug sich diese Klage mit dem sonstigen Stolz auf die Ablehnung derartiger, dem bürgerlichen Selbstbewusstsein entgegenstehenden Attribute  ? »Ich selbst kenne einen Zeitungsverleger«, fügte er hinzu, »der vor Jahren sich blos einen hohen Orden wünschte, nur um ihn ablehnen zu können.« So verteidigte er den königlichen Akt geradezu als »besonders feinsinnig«, da er es auf diese Weise vermieden habe, den Geehrten sozusagen in eine Gesellschaft hineinzubringen, die er zeitlebens abgelehnt hätte.464 Auch das Berliner Tageblatt hob gerade den »bürgerlichen« Charakter der Virchow-Feiern positiv hervor,465 einen Eindruck, den auch der Berlin-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung unterstrich  : Wir, die hier beständig in dem Glauben geschult werden, ohne Vortritt des Hofes, der Staatsbehörden, der Generalität und des Militairs könne kein öffentlicher Akt wirklich glänzend und feierlich sich vollziehen, erlebten eine internationale Huldigung sondergleichen, ohne dass dabei Uniformen und Hofbeamte überhaupt eine Rolle spielten. (…) Mögen wir auch im Kern noch ganz dick in der alten preußischen Militärautokratie stecken, in der äußern Form sind wir (…) erheblich ›westlicher‹ geworden.466

Die Auseinandersetzung um die symbolischen Gratifikationen Virchows durch den preußischen Staat, um seine eigenen Reaktionen wie die des liberalen Bürgertums lassen sich also auch als ein Beitrag zu der alten Streitfrage, wie ›bürgerlich‹ das Kaiserreich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gewesen sei,467 verstehen. Dabei erweist sich, 464 Neue Zürcher Zeitung vom 19.10.1901, »Nachklänge vom Virchow-Fest«. 465 Berliner Tageblatt vom 19.10.1901, »Eine bürgerliche Virchow-Feier«. 466 Neue Zürcher Zeitung vom 19.10.1901, »Nachklänge vom Virchow-Fest«. 467 Vgl. dazu etwa Thomas Nipperdey, Wehlers »Kaiserreich«. Eine kritische Auseinandersetzung, in  : ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 360–389  ; Arno J. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848–1914, München 1988  ; Rüdiger vom Bruch, Kaiser und Bürger. Wilhelminismus als Ausdruck kulturellen Umbruchs um 1900, in  : Adolf  M. Birke/Lothar Kettenacker (Hg.), Bürgertum, Adel und Monarchie. Wandel der Lebensformen im Zeitalter des bürgerlichen Nationalismus, München u. a. 1989, S. 119–146  ; Reinhard Alter, Heinrich Manns Untertan – Prüfstein für die ›Kaiserreich‹-Debatte, in  : Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 370–389  ; Jürgen Kocka, Obrigkeitsstaat

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dass sich innerhalb des Systems statusbestimmender Anerkennungen ein genuin bürgerliches Symbolsystem zu einer starken Konkurrenz für die feudale Symbolik entwickelt hatte. Haushaltsführung und Konsum

Dem hohen sozialen Status, den Virchow im Verlauf seiner Karriere erreichte, entsprach auch seine Haushaltsführung. Schon in Würzburg, vor allem aber in Berlin, konnte er für seine Familie einen gehobenen Lebenszuschnitt entwickeln, auch wenn seine persönlichen Bedürfnisse dabei anspruchslos blieben. Aber im Gegensatz zu manchen späteren Schilderungen, die einen asketischen Zug hervorheben,468 legen etwa überlieferte Speisepläne eher eine etwas abweichende Charakterisierung nahe  : Virchow legte auf ›kräftige‹ Ernährung Wert, weil sich andernfalls die Anstrengungen seiner Arbeit nicht ertragen ließen. So trank er seit seiner Assistenzarztzeit bereits zum zweiten Frühstück Bier. Auch zu den Hauptmahlzeiten nahm er Bier oder Wein zu sich, nach dem Essen rauchte er gewöhnlich eine Zigarre oder Zigarette.469 Sein Küchenzettel war ›gutbürgerlich‹, wobei er später den Fleischkonsum aus gesundheitlichen Gründen mäßigte. Überhaupt lebte er erklärtermaßen nach dem Grundsatz, dass stets »Mäßigkeit in Allem« zu herrschen habe – was auch die Sexualität einschloss –, und er empfahl diese Haltung auch seinem sinnenfrohen Freund Heinrich Schliemann, der ihn wegen seiner Potenzstörung um medizinischen Rat gebeten hatte.470 Bei der populären Charakterisierung Virchows als »Asket« handelte es sich vermutlich um eine Stilisierung, die auf einem alten Topos beruhte  : Demnach verbürge die asketische Lebensweise eines Wissenschaftlers die Wahrheit des von ihm vertretenen Wissens, indem sein Desinteresse an weltlichen (und namentlich an kulinarischen) Dingen die Reinheit seiner Erkenntnis zeige. Dies wurzelt in einer antiken und christlichen Tradition, in der vor dem Hintergrund einer Auffassung des Körpers als Grab der Seele ein Zusammenhang zwischen der asketischen Lebensweise des Philosophen beziehungsweise des Heiligen und der Wahrheit des nur ihnen zugänglichen Wissens bestand. Diese und Bürgerlichkeit. Zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19.  Jahrhundert, in  : Wolfgang Hardtwig/Harm-Hinrich Brandt (Hg.), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, S. 107–121. 468 Siehe etwa Isidor Kastan, Berlin wie es war, Berlin 1919, S. 159  ; Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 30. 469 Ein detaillierter Speisenplan für zwei Tage von Virchows Hand beginnt mit dem Frühstück um 6 Uhr, Obst um 8 Uhr, einem Morgenimbiss um 10 Uhr, Mittagstisch um 1 Uhr, Nachtisch um 15 Uhr, Schokolade um 18 Uhr und endet mit einem ausgiebigen Abendbrot um 20 Uhr. (ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2952.) Bier wurde hier noch in älterer Tradition als Nahrungsmittel betrachtet. Als junger Assistenzarzt schrieb er  : »Morgens um 8 Uhr geniesse ich schon Fleisch und Bier. Ohne ein solches Leben wäre die Anstrengung auch nicht auszuhalten.« R. Virchow an Carl Virchow, 26.10.1843, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 81. 470 Heinrich Lee, Virchow zu Hause, in  : Berliner Tageblatt, Nr. 518 a vom 13.10.1891  ; Virchow an Schliemann, 11.4.1880  : »Mäßigkeit ist eine große Tugend, auch in der Liebe.« Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 181.

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Vorstellung wurde in der Neuzeit auf den Wissenschaftler übertragen. Zwar verblasste die Vorstellung des »entkörperlichten Wissenschaftlers« allmählich, doch wirkte dieser Topos zumal in der populären Wahrnehmung noch bis in das 20.  Jahrhundert hinein nach.471 Dies zeigt auch der Widerspruch zwischen der öffentlichen Darstellung Virchows als Asket und seiner eigenen Haltung zu seinem Körper  : Statt asketischer Verachtung der eigenen physischen Bedürfnisse verfolgte er eine selbstkontrollierte, disziplinierte Lebensweise, die körperlichen Ansprüchen im ›vernünftigen Maß‹ nachgab. Zwar besaß auch das Ideal der Mäßigung eine weit in die Antike zurückreichende Tradition. Jedoch mischte sich dies bei Virchow mit einem spezifisch modernen Zug  : dem Versuch, das rechte Maß der Lebensführung physiologisch zu berechnen.472 Weniger von einem Sinn für Askese als von gutbürgerlicher Behaglichkeit, die mit dem Anspruch auf eine physiologisch begründete ›gesunde‹ Lebensweise einherging, zeugten auch die übrigen Aspekte seiner Lebensführung. Dies lässt sich vor allem an Indikatoren wie Wohnsituation, Hauspersonal und Ferienreisen ablesen. Die ersten Jahre seiner Professorenexistenz lebte Virchow mit seiner Familie zur Miete, zumal er in Würzburg, wo er zuerst in der Eichhorn-, dann in der Theaterstraße wohnte, niemals auf Dauer zu bleiben gedachte. Auch in Berlin bewohnte er mit seiner Familie zunächst Mietwohnungen, von 1856 bis 1862 am Leipziger Platz 13, anschließend in der Hohenzollernstraße 1, einer fast im Tiergarten und nach allen Seiten freigelegenen Wohnung. Damit konnte er es sich sogleich nach seiner Rückkehr nach Berlin leisten, sich in einer bevorzugten Wohngegend niederzulassen, die damals noch fast außerhalb der sich in der Folge rapide ausbreitenden Stadt lag.473 Der in den fünfziger Jahren einsetzende starke Anstieg der Berliner Mietpreise474 bewegte Virchow jedoch 1864 schließlich dazu, ein Haus zu kaufen, um sich »bleibend einrichten« zu können und sicher zu sein, »nicht hinausgeworfen zu werden«475. Dazu belastete er sich zunächst mit einer Kreditschuld von

471 Hierzu und zum Folgenden vgl. Steven Shapin, The Philosopher and the Chicken. On the Dietetics of Disembodied Knowledge, in  : Christopher Lawrence/Steven Shapin (Hg.), Science Incarnate. Historical Embodiments of Natural Knowledge, Chicago u. London 1998, S. 21–50. Vgl. auch Anthony Synott, Tomb, Temple, Machine and Self  : the Social Construction of the Body, in  : British Journal of Sociology 43 (1992), S. 43–79. 472 Siehe dazu auch Rudolf Virchow, Ueber Nahrungs- und Genussmittel. Vortrag, gehalten im Saale des Berliner Handwerker-Vereins, Berlin 1868. Grundlegend für die Diskussion dieses Themas im 19. Jahrhundert  : Jacob Moleschott, Physiologie der Nahrungsmittel. Ein Handbuch der Diätetik, 2. umgearb. Aufl. Giessen 1859. 473 Vgl. dazu auch Heinz Reif, Hauptstadtentwicklung und Elitenbildung. »Tout Berlin« 1871 bis 1918, in  : Michael Grüttner/Rüdiger Hachtmann/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Geschichte und Emanzipation, Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt a. M. u. New York 1999, S. 679–699, hier  : S. 692 ff.; sowie M. Klemm, Das Tiergartenviertel 1871–1914. Berlins »gute Adresse« im Wandel, (masch.) Magisterarbeit, TU Berlin 1998. 474 Die durchschnittliche Jahresmiete aller Berliner Wohnungen stieg von 1840/41 bis 1850 um 1,15 %, zwischen 1850 und 1860 jedoch um 32,26 % und zwischen 1860 und 1870 weiter um 15,54 %. Berechnet nach Fischer u. a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. I, S. 183. 475 R. Virchow an Carl Virchow, 26.3.1864, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 885 f.

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Abb. 3  Rudolf Virchow in seinem privaten Arbeitszimmer, 1901.

35.000 Talern, weshalb er seine Einnahmen und Ausgaben scharf kalkulieren musste.476 Damit stieg Virchow aber zugleich in die beneidete Klasse der Hausbesitzer auf, mit der nach dem Berliner kommunalen Wahlrecht auch exklusive politische Rechte verbunden waren  : Um den Einfluss der besitzenden Klasse zu gewährleisten, besaßen die Grundbesitzer den Anspruch auf mindestens die Hälfte der Stadtverordnetenmandate.477 Sein Haus in der Schellingstraße 10 befand sich in jenem damals noch am Stadtrand liegenden Berliner Stadtteil, der etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch »Geheimratsviertel« genannt wurde und dem 1. Berliner Wahlkreis für das Preußische Abgeordnetenhaus entsprach. Es war der, wie der dänische Literaturwissenschaftler und Journalist Georg Brandes in den 1880er Jahren beschrieb, »fashionable Stadtteil« nahe des Tiergartens, in dem vor allem höhere Beamte, Hochschulprofessoren, Dichter, Künstler und Offiziere wohnten.478 Die »breitfassadigen, stukkaturfreien, von flachem Säulenor476 R. Virchow an Carl Virchow, 1.10.1864, ebenda, S. 899. 477 Richter, Zwischen Revolution und Reichsgründung, S. 646. 478 Brandes, Weltstadt Berlin, 21.6.1881, in  : ders., Berlin als deutsche Reichshauptstadt, S.  429–438, hier  : S. 431. Vgl. auch Reif, Hauptstadtentwicklung und Elitenbildung.

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nament umschmiegten Gebäude, denen hohe Fenster viel Licht und Luft zuführten, galten als vornehmste Wohnhäuser der inneren Stadt, damals, in den fünfziger Jahren, bevor noch die aufregende, luxushungrige Gründerzeit die Geschmacksbegriffe verwirrte«, wie ein melancholischer Rückblick 1910 beschrieb.479 Virchows Haus, ein dreistöckiges Gebäude mit einem kleinen Vorgarten, dessen zweites Stockwerk er bewohnte, während die anderen Teile vermietet waren, verwandelte sich im Verlauf der nahezu vier Jahrzehnte, die er dort mit seiner Familie lebte, in ein Museum  : »[Ü]berall standen oder lagen prähistorische Stücke aller Art, Schädel, Knochenreste. Und an den Wänden, auf Tischen, Stühlen, kurz überall waren riesige Büchermassen aufgestapelt«, was erhaltene Fotografien glaubhaft belegen. Die Schilderung seines Arbeitszimmers als eines überbordenden, scheinbar ordnungslosen Archivs, in dem Virchow von dem angesammelten Material nahezu überwuchert wurde, bildete einen festen Topos in allen zeitgenössischen Berichten. Dieses breitete sich über drei Räume seiner Wohnung aus, und seine Privatbibliothek soll eine der größten Berlins gewesen sein.480 Im Übrigen war die Ausstattung der Wohnung »einfach, schlicht und bürgerlich« und wich in keinem Ausstattungsdetail vom üblichen Standard einer Berliner Mittelstandsfamilie ab, wie er in den sechziger Jahren üblich war. Wie seine Tochter später schilderte, war in dem Hause »alles wohnlich, behaglich, sorgsam gepflegt, aber ganz frei von jenem Luxus, der nach dem Krieg von 1871 nur zu bald in dem schnell reich werdenden Berlin üblich wurde«481. Eine Reportage von 1901 schilderte die nach vorne zur Straße gelegenen Repräsentationsräume  : Demnach fanden sich im Salon der Wohnung »eine ganz gewöhnliche, grüne Papiertapete, weiße Vorhänge um die Fenster, eine dunkelfarbige Möbelgarnitur, auf einem großen Teppich von rothem Velours, ein Pianino, eine paar Stiche und Photographien an den Wänden«. Auch der Vogelkäfig, der Natur in das Innere der Wohnung hineinholte, gehörte zum Standard dieser bürgerlichen Wohnkultur, allein, dass dieser nicht mit lebenden, sondern mit ausgestopften Vögeln gefüllt war, hob sich als ungewöhnliches Detail ab und verriet den Sammler.482 Die Selbstverständlichkeit von Dienstpersonal im gehobenen bürgerlichen Lebenszuschnitt des 19. Jahrhunderts drückt sich unter anderem in der Tatsache aus, dass es in den Quellen kaum erwähnt wird. Lediglich im Zusammenhang von Unregelmäßigkeiten findet es sich etwa in der ehelichen Korrespondenz thematisiert. Aus diesen mageren 479 Der Tag, Nr. 323 vom 29.6.1910, 3. Beibl., »Das schwindende Geheimratsviertel«. 480 Kastan, Berlin wie es war, S. 159. Siehe zu Virchows Bibliothek auch die Verhandlungen seiner Familie mit dem Preußischen Kultusministerium über deren Verwendung nach seinem Tod  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40, Bd. 4 (M). 481 Marie Rabl geb. Virchow, Meine Mutter Rose Virchow, in  : Die Waage 7 (1973), Bd. 11–12, S. 289–292, hier  : S. 290. 482 Lee, Virchow zu Hause. Vgl. auch Kastan, Berlin wie es war, S. 101  ; Ursula A. J. Becher, Geschichte des modernen Lebensstils. Essen – Wohnen – Freizeit – Reisen, München 1990, S. 132–138  ; Geulen, »Center Parcs«, S. 271.

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Angaben lässt sich rekonstruieren, dass ein Kindermädchen beziehungsweise ein Stubenmädchen sowie eine Köchin zum Haushalt der Familie Virchow gehörten.483 Mehr Erwähnung in den Quellen findet dagegen ein anderes wichtiges Element des bürgerlichen Lebensstils  : Virchow unternahm zahlreiche wissenschaftliche Reisen, die »ihm allerdings ein Bedürfnis (waren), und für dessen Befriedigung hatte er, der sonst so sparsame Haushälter und kluge Verwalter seiner Habe, keinerlei Kosten gescheut«484. So wies er 1879 das Angebot seines Freundes Heinrich Schliemann, eine Reise nach London zur Besichtigung seiner Sammlungen auf dessen Kosten zu unternehmen, zurück  : »Ich bin kein reicher Mann, aber ich habe doch so viel erworben, dass ich ohne Beschwerde ein Übriges für wissenschaftliche Zwecke tun kann.«485 Virchow besuchte ausdauernd, meist mehrmals im Jahr, wissenschaftliche Kongresse und Versammlungen in Deutschland und ganz Europa, wozu seine zahlreichen kleineren und größeren Exkursionen und Forschungsreisen kamen, die ihn unter anderem mit einem Auftrag der dortigen Regierung zur Untersuchung der Lepra nach Norwegen, zu archäologischen Untersuchungen mit Heinrich Schliemann nach Kleinasien und nach Ägypten und zu eigenen anthropologischen und urgeschichtlichen Forschungsreisen nach Russland führten. Neben zahlreichen Familienbesuchen unternahm er häufig Ferienreisen mit Frau und Kindern, die vor allem an die Ostsee und in die Sächsische Schweiz, zu Freunden und Verwandten nach Pommern und in die Pfalz, aber auch in die Schweiz führten, wo sie regelmäßig Gebirgswanderungen unternahmen. Mit seiner Frau, die er oft zu Kongressreisen mitnahm, reiste er beispielsweise zur Eröffnung des Kölner Domes 1880.486 Hinzu kamen die zahlreichen Grabungsreisen in die nähere und weitere Umgebung Berlins, zu denen er oftmals seine Kinder mitnahm und bei denen er nach Burgwällen, Pfahlbauten und anderen urgeschichtlichen Spuren suchte. Diese Exkursionen dienten ihm als »regelmäßige Erholung«487. Auch hier galt die hygienische Maxime von »Licht und Luft«. Im Vordergrund stand dabei für Virchow das »Auslüften« beziehungsweise »Frische-Luft-Schnappen« und 483 Siehe dazu die Briefe Virchows an seine Frau  : PLM, Slg. Rabl, A II. Zwischen 1840 und 1914 besaßen nur 3 % der deutschen Bürgerhaushalte gar keine Dienstboten, 68,9 % einen, 22,0 % zwei und 6,1 % drei Dienstboten. Siehe Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 276. Vgl. auch Rolf Engelsing, Das häusliche Personal in der Epoche der Industrialisierung, in  : ders., Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, Göttingen 1973, S. 225–261. 484 Kastan, Berlin wie es war, S. 159. 485 Virchow an Schliemann, 30.7.1879, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 129. 486 Siehe etwa die Schilderung Virchows über seine Hochzeitsreise im Herbst 1850, bei der er mit seiner Frau unter anderem eine achttägige Hochgebirgswanderung in der Schweiz unternahm, R.  Virchow an Carl Virchow, 3.10.1850, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 476 ff.; Virchow an Julius Kollmann, 5.8.1879  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2433  ; Korrespondenz Virchows mit seiner Frau  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II  ; siehe auch Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, sowie Rabl geb. Virchow, Meine Mutter Rose Virchow, S. 291. 487 Virchow an v. Wittich, 25.3.1869, Druck  : Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe, S. 108.

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noch nicht das »Energie-Tanken«, das der folgenden Generation zur zentralen physiologischen Metapher zur Beschreibung des Verhältnisses von Arbeit, Ermüdung und Erholung wurde.488 Dabei war die Grenze zwischen Privatleben und Wissenschaft für ihn nicht streng gezogen  : So fielen ihm bei Strandspaziergängen nebenbei historisch bedeutsame Schädel auf, die er sogleich vermaß, und eine Ferienwanderung in der Schweiz führte en passant zur Revision der bislang bestehenden Lehrmeinung über die Anfänge der Verbreitung arabischer Jahreszahlen in Europa. Damit verband er den Grundsatz, »dass man immer seine Augen offen halten soll, und dass man in Allem, selbst in dem Vergnügen, ungeahnte Schätze für die Wissenschaft entdecken kann«489. Zu dem von Virchow kultivierten naturwissenschaftlichen Habitus gehörte damit auch die enge Verbindung des Schönen mit dem Nützlichen. Dies prägte auch sein Verhältnis zur Kunst, das wenig zu der verbreiteten Vorstellung beiträgt, wonach diese im 19. Jahrhundert als Medium der Individualisierung und der innerweltlichen Transzendenz gedient habe und somit zu einer säkularen Religion geworden sei.490 Wie schon berichtet, hatte Virchow während seiner Studienzeit häufig Theateraufführungen besucht, teilweise wöchentlich. In späteren Jahren frequentierte er Theater oder andere kulturelle Veranstaltungen allerdings meist nur noch, soweit es sich um das Rahmenprogramm wissenschaftlicher Kongresse handelte. Im 19. Jahrhundert wurde eine ästhetische Rezeptionsweise, die künstlerische Darbietungen als »Begleitmoment von Geselligkeit« ansah, von einer neuen Art der Rezeption abgelöst, bei der, ausgedrückt »durch korrektes Benehmen und schweigendes Nach-Innen-Wenden«, die Kultivierung von Subjektivität im Vordergrund stand. Dies ging hauptsächlich von der Musik aus, die als »reinste« ästhetische Gattung aufgewertet wurde.491 Der Straßburger Anatomieprofessor Wilhelm von Waldeyer verlieh dieser Auffassung anschaulich Ausdruck, als er einen gemeinsamen Konzertbesuch mit Virchow anlässlich einer Tagung in Ulm 1892 im zeitgenössischen ›Kolossalstil‹ schilderte  : »Das Schönste und Eindrucksvollste dieser Tagung«, so Waldeyer,

488 Maria Osietzki beschreibt am Beispiel von Hermann von Helmholtz die aufschlussreiche Analogie zwischen dem ersten thermodynamischen Grundsatz (»Satz von der Erhaltung der Energie«) und einer privaten männlichen Kräfteökonomie, welche die ehelich gesicherte Verwandlung von Arbeitskraft und privater Reproduktion als »idealen Kreisprozeß« begriff. (Osietzki, Körpermaschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluß von Industrialisierung und Thermodynamik, in  : Sarasin/Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft, S. 313–346, hier  : S. 330 ff.) Zum historischen Wandel der Vorstellungen über Ermüdung und Erholung vgl. auch Anson Rabinbach, Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, in  : ebenda, S. 286–312  ; sowie ders., The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, New York 1990. 489 Lee, Virchow zu Hause. 490 Vgl. dazu Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918, München 1988, S. 140–143. 491 Gay, Die Macht des Herzens, S. 19–48, v. a. 23 u. 27.

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»bereitete mir aber wieder Frau Musica durch ein wundervolles Konzert im Ulmer Münster, dessen Orgel ja eine der ausgezeichnetsten ist, die wir in Deutschland besitzen, und wobei uns eine der ersten Sängerinnen des Stuttgarter Hoftheaters durch echt künstlerische Wiedergabe der besten Sachen von Händel und Bach tief ergriff und entzückte«.

Dabei habe ihn keine Musikdarstellung jemals so »aus der Welt entrückt und nachhaltig auf ihn eingewirkt wie diese. Rudolf Virchow saß neben mir  ; wir wechselten kein Wort  ; aber wenn ich ihn ansah, wusste ich, dass es ihm ging wir mir. Stumm reichten wir uns, als der letzte Ton verklungen war, die Hand.«492 Diese Stilisierung eines gemeinsamen quasi-liturgischen Kunsterlebnisses unterscheidet sich deutlich von den Schilderungen, die Virchow von künstlerischen Veranstaltungen lieferte  : Über die Jahre hinweg blieb es ein konstantes Merkmal seiner Berichte über von ihm besuchte Kunstereignisse, dass sie überwiegend dem Publikum und besonders etwa anwesenden bedeutenden Personen gewidmet waren und sich kaum in ästhetischen oder subjektives Erleben ausdrückenden Qualifikationen ergingen.493 Lebensführung und Konsumgewohnheiten wiesen Virchow somit als Vertreter jener als diszipliniert, nüchtern und sparsam beschriebenen »altpreußischen« Generation aus, deren allmähliche Verdrängung durch eine neue, einer opulenteren Ästhetik und Lebensführung zugetane »Gründerzeitgeneration« von Schriftstellern wie Theodor Fontane in vielen Romanen beklagt oder, weniger sentimental, von Georg Brandes494 analysiert wurde. Das kameralistische Prinzip der Rechnungsführung, das ihm als Pépin eingebläut worden war, beherrschte gleichermaßen seine private Sphäre  – wo er stets die Verwaltungsangelegenheiten seines Hauses selbst erledigte495 – als auch sein Wirken in der öffentlichen Sphäre, wo er als jahrzehntelanges Mitglied beziehungsweise Vorsitzender der Budgetkommission des Preußischen Abgeordnetenhauses für die penible Kontrolle der Haushaltsentwürfe bekannt war.496 Dabei blieb das mit seinem Lebensstil verbundene Gefühl bürgerlicher Sicherheit bei ihm aber stets von der Sorge um die Sicherung des erreichten Status seiner Familie und die intergenerationelle Weitergabe seines Vermögens beeinflusst. So behielten finanzielle Fragen für das persönliche Verhältnis zwischen Virchow und seinem Vater zeitlebens zentrale Bedeutung. Nach dem Tod von Virchows Mutter 1857 endete in seinen Augen die »Pflicht, als Sohn Frieden zu erhalten zwischen den

492 Wilhelm von Waldeyer-Hartz, Lebenserinnerungen, Bonn 1920, S. 247. 493 Siehe z. B. den Bericht über eine Aufführung von Shakespeares »Was ihr wollt« im Festprogramm der Naturforscherversammlung in Karlsruhe 1858, in  : R. Virchow an Rose Virchow, 18.9.1858  : PLM, Slg. RablVirchow, A II, Nr. 30. 494 Siehe dazu Brandes, Zwei Generationen. 495 Rabl, Meine Mutter Rose Virchow, S. 290. 496 Heinrich Steinitz, Rudolf Virchow. Ein Lebensbild, Berlin 1891, S. 16 f.

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Eltern«497, und das Vater-Sohn-Verhältnis bewegte sich schließlich auf einen völligen Bruch zu. Carl Virchow hielt hartnäckig daran fest, seinen eigenen Grundbesitz selbst zu bewirtschaften. Dieser bedeutete für ihn mehr als nur eine Einnahmequelle, auch wenn er dabei ökonomisch schlecht fuhr, zumal als 1857 ein großer Scheunenbrand seine gesamte Jahresernte vernichtete.498 Nachdem sein Vater alle früheren Ratschläge in den Wind geschlagen hatte, versuchte Rudolf Virchow diesen schließlich im folgenden Jahr zu überreden, die Landwirtschaft aufzugeben und seinen Besitz zu kapitalisieren. Die Zinsen des von seinem Vater auf einen Wert von 25.000 Talern geschätzten elterlichen Besitzes würden, so der Sohn, einen höheren Betrag abwerfen als die Erträge der Landwirtschaft. Diese könnten seinem mittlerweile alleinstehenden Vater eine sorgenfreie Existenz ermöglichen, während seine Landwirtschaft ständig durch die Folgen glücklosen Wirtschaftens und von Naturkatastrophen wie Missernten, Hagel und Viehseuchen gefährdet sei.499 Bei einem damaligen Zinssatz langfristiger Staatsanleihen von gut vier  Prozent hätten sich in der Tat jährliche Zinserträge von über 1000 Talern ergeben. Dieser Betrag reichte für eine sparsame bürgerliche Lebensführung, zumal sein Vater ja keine Familie mehr zu versorgen hatte. Immerhin war dies etwa das Fünffache des jährlich verfügbaren Einkommens eines Arbeiterhaushalts und das Doppelte eines Kleinbürgerhaushalts.500 Dabei argumentierte Rudolf Virchow vor dem Hintergrund der Erfahrung eines langanhaltenden, erst 1873 unterbrochenen wirtschaftlichen Aufschwungs, der zu den ihm wohlvertrauten agrarischen Krisen scharf kontrastierte. Doch weniger derartige Rentabilitätsvergleiche als die sentimentale Anhänglichkeit an das eigene Land und die damit verbundene Existenzform, vielleicht aber auch das Nachwirken physiokratischer Auffassungen, spielten die Hauptrolle für die Abneigung seines Vaters, in den Stand des Renten-Privatiers zu wechseln. So stießen in der Auseinandersetzung der beiden Generationen auch zwei unterschiedliche Wirtschaftsmentalitäten aufeinander.501 Carl Virchow bedrängte seinen Sohn immer stärker, sein angespartes Kapital in die väterliche Landwirtschaft zu investieren. Seine Ablehnung rechtfertigte Rudolf Virchow 497 R. Virchow an Carl Virchow, 28.4.1858, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 813. 498 Virchow an Kölliker, Berlin, 25.10.1857  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1122, Bl. 83. 499 R. Virchow an Carl Virchow, 28.2.1858, Druck  : RVSW, Bd.  59, S.  805 ff.; R. Virchow an Carl Virchow, 28.4.1858, ebenda, S. 811–816. 500 Siehe »Die Entwicklung von jährlichen effektiven Zins- und Diskontsätzen 1815–1870«, in  : Fischer u. a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. I, S. 97 f.; Engelsing, Hanseatische Lebenshaltungen und Lebenshaltungskosten im 18. und 19. Jahrhundert, in  : ders., Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, S. 35. 501 Vgl. dazu auch die Konflikte, die bei der Anlageberatung für Bismarck durch seinen Bankier Bleichröder auftraten. Während letzterer Bismarck vor allem zu Aktieninvestitionen riet, steckte dieser sein Geld vorzugsweise in vergleichsweise unrentable Zukäufe zu seinem pommerschen Gut Varzin. Siehe Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier, Reinbek b. Hamburg 1988, S. 157 ff.

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vor allem mit seiner Verantwortung als Familienvater. Ein Jahr nach seiner im August 1850 erfolgten Heirat gebar seine Frau das erste ihrer insgesamt sechs gemeinsamen Kinder, und so wurde er nicht müde, seinem Vater gegenüber zu betonen  : »Ich darf keinen Augenblick vergessen, dass ich nicht bloß Sohn, sondern auch Mann u. Vater bin. Niemand gibt mir etwas, als was ich verdiene.« Virchow hatte mit dem Gedanken an eine Verheiratung gewartet, bis er sich durch den Ruf nach Würzburg in der Lage sah, eine Familie zu ernähren.502 Durch seine Ehe erwarb er zwar einiges an sozialem, aber kein materielles Kapital, hatte er doch von seinem Schwiegervater, wie er später schrieb, nie einen Dreier an baarem Geld bekommen, u. meine Frau ausser einem gelegentlichen Geschenke gleichfalls nicht  ; ob meine Kinder je etwas von ihm erben werden, weiss ich nicht. Trotzdem besteht zwischen uns das freundlichste Verhältniss. Aber daraus folgt für mich die Pflicht, dass ich jedes Jahr für meine Familie wenigstens etwas zurücklege u. dass ich die einmal gesammelten Capitalien, die Du Dir wahrscheinlich oder hoffentlich nicht als gross vorstellen wirst, als unangreifbar betrachte.

Allein in den Fällen dringendster Not bei seinem Vater wäre er bereit, auf diese Ersparnisse zurückzugreifen.503 Eine Erbschaft aus der Hinterlassenschaft seines 1856 verstorbenen Onkels, Major Virchow, sorgte für finanzielle Entlastung, zugleich aber auch für neuen Streit mit seinem Vater. Einen wichtigen Aspekt dieser Erbschaft, deren Abwicklung Rudolf Virchow zufiel, bildete ein Familienstipendium in Höhe von 15.000 Talern. Dieses sollte der Ausbildung der männlichen Nachfahren der vier Geschwister des Erblassers zukommen504 und leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Weitergabe des erreichten sozialen Status der Familie Virchow. Mit dem Tod seines Vaters 1864 entfiel die ständige finanzielle Verantwortung Rudolf Virchows für diesen. Gleichzeitig erbte er die Reste des elterlichen Vermögens, zu dem Haus, Land, Vieh und Bücher gehörten. Allerdings blieb weiterhin die Sorge um die eigene Familie, die er 1858 seinem Vater entgegengehalten hatte, um neuerliche Geldforderungen abzuwehren  : »Soll ich nicht an das Geschick denken, das meiner Frau, meiner Kinder warten würde, wenn ich bald stürbe  ?«505 Dies war, zumal bei Pathologen, die in ständiger Gefahr standen, sich bei ihrer gefährlichen Arbeit mit Leichen eine lebensbedrohliche Infektion zuzuziehen, weit mehr als nur eine theoretische Möglichkeit. Professoren wurden grundsätzlich nicht pensioniert, also existierten im Gegensatz zu anderen Beamten keine Pensionsansprüche. Witwen und Waisen der Professoren besaßen zu502 R. Virchow an Carl Virchow, 30.11.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 435. 503 R. Virchow an Carl Virchow, 28.4.1858, ebenda, S. 814. 504 Testamentarische Verfügung Johann Christian Virchows vom 31.12.1855  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, B V, Nr. 9  ; sowie Virchow an Goldstücker, 2.5.1856  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 505 R. Virchow an Carl Virchow, 28.4.1858, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 814.

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nächst Anspruch auf die »Gnadenkompetenzen«, d. h. die Fortzahlung des Diensteinkommens für den Sterbemonat sowie die drei folgenden Monate. Darüber hinaus war deren finanzielle Absicherung in Berlin seit 1816, ähnlich wie an anderen preußischen Universitäten, Angelegenheit einer »Professoren-Wittwen-Versorgungs-Anstalt«506. Verheiratete Professoren zahlten einen Jahresbeitrag von 120 Mark ein, wofür deren Witwen einen Anspruch auf ein jährliches Witwengehalt von 1200 Mark erwarben. Dazu kam für eheliche Kinder noch ein Zuschuss von 300 Mark bei einem, 500 Mark bei zwei beziehungsweise 600 Mark bei drei oder mehreren Kindern. Dieser wurde bei Söhnen bis zur Vollendung des 20., bei Töchtern bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs gezahlt. Diese Ansprüche erloschen bei Wiederverheiratung der Witwe, bei einer Verurteilung zu einer Strafe von mehr als sechs Monaten Gefängnis beziehungsweise 900 Mark Geldstrafe oder einem »ärgerlichen Lebenswandel«507. 1897/98 trat hier eine Änderung ein, als zum einen die Beiträge von der Staatskasse übernommen wurden und zum anderen das Witwen- und Waisengehalt deutlich erhöht wurde. So erhielt die Witwe eines ordentlichen Professors künftig jährlich 1650 Mark, eine Ganzwaise 720 Mark, jede weitere Ganzwaise beziehungsweise eine Halbwaise 480 Mark sowie jede weitere Halbwaise 300 Mark.508 Zu Recht hießen diese Leistungen »Wittwengehalt«  : Der Status der Witwe wurde hier zu einer Art von Beruf, ein eigenes, neues Leben lag nicht im Horizont dieser Bestimmungen und wurde mit dem Verlust der Bezüge geahndet. Jedoch drohte der Witwenstatus angesichts der Höhe der Leistungen mit einem scharfen sozialen Abstieg einherzugehen, falls keine weiteren Rücklagen vorhanden waren, zumal bei Professoren, die hohe Einnahmen neben ihrem Gehalt mit einem aufwendigen Lebensstil verbanden. Dies stand Virchow deutlich vor Augen, wandte er sich doch am Neujahrstag 1897 mit einem Hilfsgesuch für die Witwe seines Kollegen Emil du Bois-Reymond an Ministerialdirektor Althoff. Da dieser außer der häuslichen Ausstattung und einem Landhaus keine Vermögenswerte zurückgeblieben waren, war die »Arme sogar in Verlegenheit, wie sie die kostspielige Heizung des Hauses fortsetzen soll. Da sie noch eine Anzahl unversorgter Kinder hat, so ist kaum zu erwarten, dass ihre Witwenpension für den Unterhalt ausreichen wird.« Ähnliche Schwierigkeiten waren auch bei der Witwe von Hermann von Helmholtz aufgetreten, wo schließlich durch eine »private Petition an Seine Majestät« ein Ausweg gesucht worden war.509 Die Sicherung des sozialen Status der Familienangehörigen blieb somit auch für einen erfolgreichen Professor ein erhebliches Problem, 506 Conrad Bornhak, Die Rechtsverhältnisse der Hochschullehrer in Preussen, Berlin 1901, S. 53 f. 507 Revidierte Statuten der Professoren-Wittwen-Versorgungs-Anstalt vom 15. März 1884, Druck  : D. Daude, Die Königliche Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Systematische Zusammenstellung der für dieselbe bestehenden gesetzlichen, statuarischen und reglementarischen Bestimmungen, Berlin 1887, S. 320– 326. 508 Bornhak, Rechtsverhältnisse der Hochschullehrer, S. 54 f. 509 Virchow an Althoff, 1.1.1897  : GStA-PK, I. Ha Rep. 92 Althoff B, Nr. 189, Bl. 174 f.

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zumal wenn sie sich – wie im Falle von du Bois-Reymond und Helmholtz – einen repräsentativen Lebensstil zugelegt hatten. Virchow, der bis zu seinem 82. Lebensjahr im Amt blieb, konnte aber seiner Frau und seinen Kindern in dieser Hinsicht wohlgeordnete Verhältnisse hinterlassen. Dazu trug aber auch bei, dass er erhebliche Anstrengungen unternommen hatte, den von ihm erreichten Status weiterzureichen. Deshalb richtet sich der Blick als nächstes auf seine Familie und die damit verbundenen Geschlechterrollen. Die konzeptionelle Trennung in Öffentlichkeit und private Sphäre, die dieser Frage zugrunde liegt, ist jedoch selbst bereits ein Ausdruck der im 19. Jahrhundert zu einem gewissen Abschluss gelangten normativen Fixierung polarer Geschlechteridentitäten und muss deshalb sorgfältig überprüft werden.510 2.3.2 Familie und Geschlechterrollen

Bis zu seinem 28. Lebensjahr, als sich Virchow verlobte, lebte er, wie er Ende 1848 in einem Brief an seinen gleichaltrigen Duz-Freund und Königsberger Arzt Wilhelm von Wittich selbstironisch schrieb, als »zeit- und raumlose(r) Hagestolz«511. Die mit der Revolution einhergehenden extremen Gefühlslagen begünstigten jedoch, dass er intensive Freundschaften entwickelte. Neben dem liberalen Königsberger Hegelschüler und Philosophen Karl Rosenkranz (1805–1879), der im zweiten Halbjahr 1848 auch als vortragender Rat im Preußischen Kultusministerium tätig war, gehörte zu den neuen, engen Freunden aus dieser Epoche vor allem dessen Schüler, der Sanskritforscher und Demokrat Theodor Goldstücker (1821–1872), dem als Juden in Berlin die Habilitation verweigert worden war.512 Während der Revolution engagierte sich dieser zusammen mit Virchow in der Berliner demokratischen Bewegung. 1850 emigrierte er nach England, wo er im Jahr darauf Professor für Sanskrit an der Londoner Universität wurde. Sieht man von seiner Ehe ab, so stellte die Freundschaft zu Goldstücker die engste emotionale Bindung dar, die Virchow in seinem langen Leben einging – ein Bild seines Freundes hing später auch in seinem Arbeitszimmer.513 In zahlreichen Briefen explorierten die beiden während der Revolution und auch noch danach ihre gegenseitigen Gefühle, wobei sich Virchow stark gegen den von ihm so empfundenen totalen emotionalen Vereinnahmungsversuch Goldstückers wehrte.514 510 Vgl. dazu Karin Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in  : dies./Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M. u. New York 1992, S. 81–88. 511 Virchow an v. Wittich, 9.12.1848, Druck  : Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe, S. 92. 512 Karl Rosenkranz an Johannes Schulze, 7.8.1842, Druck  : Karl Rosenkranz, Briefe 1827 bis 1850, hrsg. v. Joachim Butzlaff, Berlin u. New York 1994, S. 279. 513 Lee, Virchow zu Hause. 514 Siehe dazu die Korrespondenz zwischen Virchow und Goldstücker  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 744 u. 2425. Die von Virchow immer wieder beklagte erstaunliche Fähigkeit Goldstückers, seine Mitmenschen aus der

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Im November 1849, unmittelbar vor seiner Abreise nach Würzburg, kam es beim Abschiedsbesuch im Haus der Familie Mayer zur Verlobung mit der erst 17-jährigen Ferdinande Amalie Rosalie Mayer, der jüngsten von drei Schwestern. Virchow, der seit einigen Monaten in Rose, wie sie von allen genannt wurde, verliebt war, hatte schließlich die Initiative ergriffen, und die beiden offenbarten einander ihre Gefühle. Das künftige Paar entschied selbst sich zu verloben, wie Virchow seinem Vater später erklärte. Zwar fragte Virchow anschließend, wie traditionell vorgesehen, die Eltern, ob diese zustimmten, doch bestätigte dies nur noch die eigene Handlung. Dass sein Vater über diesen Punkt genaue Aufklärung erbeten hatte, deutet darauf hin, dass der sich darin abzeichnende Wertewandel zumindest für die ältere Generation noch keineswegs selbstverständlich war. Dabei hatte Virchow, wie er seinem Vater weiter erklärte, mit diesem Schritt solange warten wollen, bis er »im Stande zu sein glaubte, eine Frau ernähren zu können«515. Diese Verlobung zog eine dramatische Auseinandersetzung mit Goldstücker nach sich.516 Virchow wurde dabei durch das fordernde Verhalten seines Freundes in einen »innerlichen Conflikt zwischen der Liebe u. der Freundschaft«517 getrieben. Für den heutigen Leser der emotional stark aufgeladenen Korrespondenz zwischen den beiden Männern drängt sich der Gedanke auf, dass bei Goldstücker ein homoerotisches Moment eine Rolle gespielt haben könnte. Allerdings stellt sich hier die Frage, inwieweit der Konflikt um die Codierung von Intimität, wie ihn Niklas Luhmann für das 18. Jahrhundert herausgearbeitet hat, auch am Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht endgültig entschieden war.518 Virchow zog in dieser Auseinandersetzung schließlich eine deutliche Grenze zwischen der »Freundschaft« zu Theodor und der »Liebe« zu Rose, wobei nun Intimität eindeutig der letzteren vorbehalten blieb. Dabei folgte er – ebenso wie der in dieser Hinsicht verschmähte Goldstücker – dem im 18. und frühen 19. Jahrhundert aufgekommenen modernen Liebesideal, das auf der »Vereinigung der Seelen«, d. h. der Verschmelzung zweier polarer Persönlichkeiten basierte  :519 Facon zu bringen, bewahrte sich dieser offensichtlich auch nach seiner Emigration nach England. Ein Streit Goldstückers mit seinem Londoner Kollegen, dem Sanskrit-Forscher Fitzedward Hall, trug anscheinend wesentlich dazu bei, dass bei letzterem eine schwere psychische Erkrankung ausbrach. Siehe Simon Winchester, The Professor and the Madman. A Tale of Murderer, Insanity, and the Making of the Oxford English Dictionary, New York 1998, S. 166. 515 R. Virchow an C. Virchow, 30.11.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 433  ; sowie R. Virchow an Carl Virchow, 30.12.1849, ebenda, S. 441 ff. 516 Siehe dazu den Briefwechsel zwischen Virchow und Goldstücker  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 744 u. 2425. 517 Virchow an Goldstücker, 16.10.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 518 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 71994, S. 105. Vgl. dazu auch Stefan-Ludwig Hoffmann, Unter Männern. Freundschaft und Logengeselligkeit im 19. Jahrhundert, in  : Hettling/Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel, S. 193–216, hier  : S. 202 f. 519 Anne-Charlott Trepp, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls  : Liebe am Beginn des bürgerlichen Zeitalters, in  : Hettling/Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel, S. 23–55, hier  : S. 40 ff. Vgl. auch Peter Gay, Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter, München 1987.

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Aber ich sehe auch, wie ein Unterschied ist in meiner Liebe zu Röschen u. der zu Ihnen  : Röschen hat mich ganz, u. Sie haben immer einen Theil nicht gehabt. Als Sie diesen auch haben wollten, da war Röschens Besitz schon sicher, u. ich selbst empörte mich für sie. (…) Was Sie von mir wollten, weiß ich eigentlich erst, seitdem mir die Rose ihr Herz offenbart u. wir immer mehr in einander aufgehen, immer mehr du u. ich.520

Nachdem Virchow diesen Konflikt dadurch bereinigt hatte, dass er die konkurrierenden Anforderungen an Intimität in klar voneinander abgegrenzte Bereiche trennte, nämlich in die eheliche »Liebe« zu seiner Frau einerseits und in die »Freundschaft« zu Goldstücker andererseits, versuchte er beide wieder in sein Leben zu integrieren. Dies ging bis zu einer gemeinsamen Reise, die jedoch wenig harmonisch verlief.521 Rose Virchow akzeptierte Theodor Goldstücker jedoch in der Rolle des Hausfreunds, und so bestellte ihm Virchow angesichts eines angekündigten Besuchs  : »Meine Frau freut sich mehr dazu, als sie sagen kann, denn sie fühlt doch, dass Sie mir mehr sind, als sonst ein Mann, ob sie gleich nicht weiß, weshalb.«522 Sowohl in Virchows Verhältnis zu Goldstücker als auch zu Rose spielten romantische Verhaltensstilisierungen eine große Rolle. Die Verbindung mit der bei ihrer Verlobung im November 1848 17-jährigen Rose folgte dem sich erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als soziale Norm entstehenden Ideal einer Liebesheirat.523 Die Zeit zwischen Verlobung und Hochzeit im August 1850, welche die künftigen Eheleute getrennt in Berlin und Würzburg verbrachten, lebte er, wie er Goldstücker schilderte, »eigentlich blos in der Rose, u. wenn Sie wollen, nicht einmal in der wirklichen, sondern in der idealen, geträumten Braut«524. Einblicke in Virchows Idealbild bietet ein Vortrag über die Krankheiten der Frau im Kindbett, den Virchow am 11.  Januar 1848 vor der von seinem künftigen Schwiegervater gegründeten Gesellschaft für Geburtshülfe gehalten hatte. Romantische Verklärung und biologische Determinierung trafen dort unvermittelt aufeinander  : (…) die süsse Zartheit und Rundung der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwickelung der Brüste bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener schöne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, weichen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum diese Tiefe des Gefühls, diese Wahrheit der menschlichen Anschauung, diese 520 Virchow an Goldstücker, 10./11.3.1850  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 521 Virchow an Goldstücker, 15.10.1850  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 522 Ebenda. 523 Vgl. dazu Reinhard Sieder, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt a. M. 1987, S. 130–135  ; Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 26–31  ; Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815), Göttingen 1996, S. 548–555  ; vgl. auch Trepp, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung, S. 38. 524 Virchow an Goldstücker, 15.10.1850  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425.

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Sanftmuth, Hingebung und Treue  – kurz, Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks.

So besaß dieses biedermeierlich-stimmungsvolle Gemälde einer Idealfrau seine physiologische Grundlage in den Ovarien  : »Man nehme den Eierstock hinweg, und das Mannweib in seiner hässlichsten Halbheit mit den groben und harten Formen, den starken Knochen, dem Schnurrbart, der rauhen Stimme, der flachen Brust, dem missgünstigen und selbstsüchtigen Gemüth und dem schiefen Urtheil steht vor uns.« Körperliche ebenso wie seelische und charakterliche Eigenschaften des weiblichen Geschlechts waren damit für Virchow biologisch determiniert. Zu diesen Eigenschaften zählte vor allem auch der Kinderwunsch  : Früher oder später finde bei jeder Frau der »Kampf zwischen dem jungfräulichen Stolz und dem geheimen Sehnen, zwischen der äusserlichen Sprödigkeit (…) und dem jungen, innen sich regenden Leben, zwischen der Schaam und der Wollust sein Ende«. Dann sei es die »Jungfrau (…) müde, immer nur lebensfähige Zellen, die Möglichkeiten von Generationen producirt zu haben, sie will nun auch wirklich lebende Zellenhaufen, Kinder hervorbringen«525. Diese Mischung aus romantischem Vitalismus und biologischem Mechanismus durchzog auch Virchows Schilderung des Zeugungsakts, »jenes grosse(n) Mysterium(s) an sich endloser gleichartiger Bewegung«. Dabei zitierte er zunächst Friedrich Schlegels 1799 erschienenen Roman Lucinde, in dem das romantische Liebesideal einer ekstatischen psychischen und physischen Verschmelzung literarisch formuliert wurde. So wandle sich hier, zitierte Virchow dieses Werk, »die Wollust in der einsamen Umarmung der Liebenden (…) in das reine Feuer der edelsten Lebenskraft«526. Anschließend werde, wie Virchow in einer abrupten mechanistischen Wendung hinzufügte, »der männliche Samen durch unwillkürliche, reflektirte Muskelaktion« in den, wie es der stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft für Geburtshülfe Josef Hermann Schmidt genannt hatte, weiblichen »Geschlechtsdarm« eingetrieben. Dabei bezeichnete Virchow den männlichen Samen als den eigentlichen Träger der Lebenskraft, welcher der weiblichen Eizelle, die bislang lediglich eine »lebensfähige Zelle« gewesen sei, durch die Vereinigung »wirkliches, selbständiges Leben« verleihe.527 In dieser Konzeptionalisierung des weiblichen 525 Rudolf Virchow, Der puerperale Zustand. Das Weib und die Zelle (1847), Nachdruck in  : ders., Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin, Frankfurt a. M. 1856, S. 735–779, hier  : S. 747. 526 Siehe Friedrich v. Schlegel, Lucinde. Ein Roman, 2. unveränd. Aufl., Stuttgart 1835, S. 124  : »Die Wollust wird in der einsamen Umarmung der Liebenden wieder, was sie im großen Ganzen ist – das heiligste Wunder der Natur  ; und was für andere nur etwas ist, dessen sie sich mit Recht schämen müssen, wird für uns wieder, was es an und für sich ist, das reine Feuer der edelsten Lebenskraft.« Siehe dazu auch Trepp, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung, S. 36. 527 Virchow, Der puerperale Zustand, S.  752 f. Zum Wandel der medizinischen Konzeptionalisierung von Menstruation und Schwangerschaft vgl. auch Emily Martin, Die neue Kultur der Gesundheit. Soziale Geschlechtsidentität und das Immunsystem in Amerika, in  : Sarasin/Tanner (Hg.), Physiologie und indus-

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Körpers fungierte der männliche Samen als Erlöser des weiblichen Eies, das erst durch die Vermengung mit dem männlichem Prinzip die Qualität selbständigen Lebens erhielt. Mit dieser Auffassung setzte Virchow einen intensiven medizinischen und anthropologischen Diskurs fort, innerhalb dessen seit dem 18. Jahrhundert die Polarität weiblicher und männlicher Geschlechtscharaktere wissenschaftlich begründet worden war.528 Indem seit dem Ende dieses Jahrhunderts der Mensch nicht mehr in erster Linie ständisch definiert, sondern als Teil einer universal gültigen Ordnung begriffen werden konnte, ließen sich zwar die bisherigen sozialen Unterschiede transzendieren. Als neue Differenz verbürgende Ordnungskriterien stiegen aber »Rasse« und vor allem »Geschlecht« auf.529 Das von Virchow skizzierte Idealbild einer Frau orientierte sich an bürgerlichen, biedermeierlich eingefärbten Maßstäben, denen seine auserwählte Braut Rose Mayer in idealer Weise zu entsprechen schien.530 Gegenüber seinem Freund Wittich charakterisierte er diese  : »Sie ist noch etwas jung, wird im Frühjahr 18 Jahre, ist sehr gut u. sehr bescheiden.«531 Seinem Vater schrieb Virchow, dass er sich in ihr Gesicht und ihren Körper »eigentlich erst nach der Verlobung« verliebt habe  : »Sie ist etwas klein u. zart, dunkelbraunes Haar, blaue Augen, sehr schöne lange Wimpern u. Brauen, sehr schöne Farben, feine, etwas aufgeworfene, aber nicht stumpfe Nase, kleiner Mund, schöne Hände u. fast zu gute Taille.«532 Auch als sich Virchow mit den Eltern Rose Mayers darüber auseinandersetzte, wann die Hochzeit stattfinden sollte, bewegte sich dies innerhalb eines medizinischen Diskurses  : Während er auf einen frühen Termin zu Ostern 1850 drängte, ermahnte ihn der Brautvater zu mehr Geduld. Der ›Vater-Arzt‹ Mayer, der angesehenste Gynäkologe Berlins, wies den drängenden Bräutigam auf die großen gesundheitlichen Gefahren hin, die »eine frühe Heirath für ein so zartes Kind, wie Röschen, mit sich brächte«, und illustrierte dies drastisch aus seiner reichen Praxis als Frauenarzt. Diese Bedenken standen vor dem Hintergrund eines noch immer dramatisch hohen Risikos für Frauen, im Kindbett zu sterben. Der gleichfalls gynäkologisch ausgewiesene Virchow versuchte, dem Vater mit medizinischen Argumenten beizukommen, aber vergeblich  :533 »Die Physiologie trielle Gesellschaft, S.  508–525, hier v. a. S.  513–521  ; dies., Die Frau im Körper. Weibliches Bewußtsein, Gynäkologie und die Reproduktion des Lebens, Frankfurt a. M. u. New York 1989, S. 45–91  ; dies., The Egg and the Sperm  : How Science has Constructed a Romance Based on Stereotypical Male-Female Roles, in  : Signs 16 (1990), S. 485–501. 528 Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib. 1750– 1850, Frankfurt u. New York 1991, S. 210–212  ; kritisch dazu  : Hans H. Simmer, Zum Frauenbild Rudolf Virchows in den späten 1840er Jahren, in  : Medizinhistorisches Journal 27 (1992), S. 292–319  ; sowie ders., Rudolf Virchow und der Virilismus ovarioprivus, in  : ebenda 28 (1993), S. 375–401. 529 Ute Frevert, Geschlecht – männlich/weiblich, in  : dies., »Mann und Weib, und Weib und Mann.« Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995, S. 13–60, hier  : S. 54. 530 Simmer, Frauenbild Rudolf Virchows, S. 307. 531 Virchow an v. Wittich, 22.12.1849, Druck  : Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe, S. 97. 532 R. Virchow an Carl Virchow, 30.11.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 436. 533 Virchow an Goldstücker, 25.1.1850  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425.

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hat gesiegt, u. die Herren Eltern haben bestimmt, dass es so sein soll«534, kommentierte er schließlich resigniert den späten Hochzeitstermin im August 1850. Damit war Rose Virchow in dieser Ehe von Anfang an nicht nur Ehefrau, sondern immer auch Patientin und blieb dies auch, umso mehr, als sie von Anfang an ständig kränkelte. Rose und Rudolf Virchow hatten insgesamt sechs Kinder, die zwischen 1851 und 1873 geboren wurden. Davon waren drei Jungen und drei Mädchen, womit sich diese Familie genau im Durchschnitt deutscher bildungsbürgerlicher Familien ihrer Zeit bewegte.535 Die ersten beiden Kinder wurden im Jahresabstand nach der Eheschließung geboren, die Abstände der folgenden Kinder vergrößerten sich bei den beiden nächsten Kindern auf drei und schließlich auf acht und sieben Jahre. Krankheiten blieben auch in der Familie Virchows allgegenwärtig und bildeten einen festen Bestandteil der privaten Korrespondenz. Eine Scharlachepidemie in seiner Familie im Jahre 1860 kostete zwar keines der erkrankten Kinder, aber das Kindermädchen das Leben.536 Auch in Bürgerfamilien gehörte im 19. Jahrhundert der Tod von Kindern zu einer häufigen Erfahrung,537 und Virchow, der selbst umfangreiche statistische Untersuchungen zur Berliner Kindersterblichkeit anstellte, nahm diese Frage sehr ernst.538 So legte er große medizinische und hygienische Fürsorglichkeit für seine Familie an den Tag, wobei er gegenüber seiner Frau wie den Kindern eine ebenso zärtliche wie patriarchalische Haltung einnahm. Auch während seiner Abwesenheit auf Reisen dirigierte er noch die Einhaltung der von ihm für wichtig gehaltenen hygienischen Regeln. In den Briefen an seine Frau gebrauchte Virchow eine betont schlichte Sprache, die sie bei aller Zärtlichkeit zugleich in die Nähe der von ihr aufgezogenen Kinder rückte  : Sorge Du nur dafür, dass Du dich nicht zu sehr anstrengst, mein kleiner Schatz  : sei recht vorsichtig mit deiner Gesundheit u. erkälte dich nicht dann bei dem Reinigen der Zimmer oder sonstigem Hausordnen. Du musst dafür sorgen, dass ich dich recht frisch und rosig wiedersehe, damit wir dann noch die kleine Freizeit recht benützen können. Pflege auch die Buben recht u. nimm sie bei dem scharfen Wind etwas in Acht. Wenn Du selbst Vormittags ein wenig hinausgehst, kannst Du es ja am besten sehen, ob das Wetter geeignet ist, sie hinauszuschicken.539

534 Virchow an Goldstücker, 4.8.1850  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 535 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 51. 536 Virchow an Wilhelm His, 1.5.1860  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2429. Siehe auch beispielsweise Virchow an v. Wittich, 6.3.1858, Druck  : Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe, S. 105. 537 In dem von Gunilla-Friederike Budde untersuchten Sample deutscher Bürgerfamilien berichten mehr als 72 Prozent aller vor 1880 geborenen Bürgerkinder vom Verlust wenigstens eines ihrer Geschwister. (Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 54.). 538 Rudolf Virchow, Über die Sterblichkeitsverhältnisse Berlins, in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 1, Berlin 1879, S. 561–575. 539 R. Virchow an Rose Virchow, 12.3.1853  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 2.

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Abb. 4  »Rose und Rudolf Virchow, 1851 in Würzburg«.

Auch wenn seine Frau mit den Kindern zur »Sommerfrische« auf das Land verreiste, sorgte er sich noch brieflich um die Einhaltung hygienischer Erziehungsstandards  : So bemängelte er etwa, dass die Kinder »in dem Wasser gebadet werden, worin schon so viele Andere gebadet haben. Ließe sich das nicht ändern  ? Wie sind denn jetzt die Nächte  ? Ist Carl ruhig oder steht er noch immer auf  ? Und wie ist es mit dem Bett, ist es mit Barrieren versehen, u. wie liegen die Kinder eigentlich, neben oder über einander  ?«540 Durch seine Vorstellungen zur Kindererziehung zog sich als Leitmotiv das Prinzip von »Licht und Luft«, das auch die Grundlage für seine stadt- und schulhygienischen Initiativen bildete.541 So wurden die Kinder und seine Frau regelmäßig zum »Auslüften« auf das Land oder an die See geschickt, aber auch er selbst verordnete sich wiederholt diese Maß­ 540 R. Virchow an Rose Virchow, 22.7.1854  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 13. Vgl. auch Manuel Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760–1860, Göttingen 1997. 541 Rudolf Virchow, Über gewisse, die Gesundheit benachtheiligende Einflüsse der Schulen, in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 2, Berlin 1879, S.  473–490  ; Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht, S.  187  ; vgl. auch Brian Ladd, Urban Planning and Civic Order in Germany, 1860–1914, Cambridge, Mass. 1990, v. a. S. 48. Der Schlachtruf »Licht und Luft«

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nahme.542 In dieses Programm einer physiologisch begründeten Lebensführung fügte sich später auch die Elektrizität  : Während Virchow auf einer Reise nach Ägypten unterwegs war, beschwor er seine Frau, ihre »Opposition gegen das Elektrisieren aufzugeben«, das eine Lähmung der rechten Hand therapieren sollte.543 Diese Elemente rationaler hygienischer Lebensführung gehören in den weiteren Zusammenhang der »Verwissenschaftlichung der Lebenswelt«544, die auch Haushalt und Kindererziehung betrafen. Neben der Gesundheit lag sein Hauptaugenmerk auf der Ausbildung seiner Kinder. So soll Virchow später erklärt haben, der Weggang von Würzburg sei ihm auch unter dem Gesichtspunkt leicht gefallen, dass ihm die dortigen Schulen zu schlecht gewesen seien.545 In Berlin schickte Virchow seinen Sohn Hans von 1858 bis 1863 auf die Privatschule Sachs am Leipziger Platz und von 1863 bis Ostern 1871 auf das Wilhelms-Gymnasium in der Beethoven-Straße.546 Eine zeitgenössische Schmähschrift gegen Virchow mokierte sich darüber, dass er sich privat im Widerspruch zu den von ihm öffentlich vertretenen Grundsätzen verhalten habe. Seine Töchter hätten demnach eine Privatschule besucht, in der auf streng christliche Erziehung Wert gelegt würde, was dieser mit dem Einfluss seiner Frau entschuldigt habe.547 In die Bildung der Söhne wurde auch nach ihrem Schulabschluss weiter investiert  : Carl studierte Chemie und erwarb den Dr. phil., Hans studierte Medizin in Berlin, Bonn, Straßburg, Würzburg und zuletzt wieder in Berlin, Ernst besuchte die Gärtnerlehranstalt in Potsdam. Die Töchter Adelheid, Marie und Johanna blieben dagegen nach ihrer Schulzeit im Elternhaus, wo sie jahrelang damit beschäftigt waren, auf einen Ehemann zu warten. »Die Mädchen sind zu Hause thätig, u. leiden an der Stubenluft, ohne dass ich ihnen helfen kann«548, fasste Virchow 1877 die Situation seiner damals 22, elf und vier Jahre alten Töchter zusammen. Dies entsprach ganz dem Muster der erzwungenen im Städtebau wird dort als Reflex einer Weltsicht interpretiert, in der sich die Furcht der städtischen Eliten über ihre Städte im Bestreben nach Sichtbarkeit und Zirkulation ausdrückte. 542 Siehe z. B. Virchow an Goldstücker, 17.8.1854  : ABBAW, Nl Virchow, Nr.  2425  ; Virchow an Schliemann, 30.7.1879, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 129. Virchow an v. Wittich, 6.3.1858, Druck  : Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe, S. 105 f. 543 R. Virchow an Rose Virchow, 17.18.3.1888  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 235. 544 Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 90. 545 Aufzeichnung von Conrad Rieger (1856–1839) über die Feiern zu Virchows sechzigstem, siebzigstem und achtzigstem Geburtstag, zit. nach  : Ernst Werner Kohl, Virchow in Würzburg, Würzburg (med. Diss.) 1976, S. 109 f. 546 Personalakte Hans Virchow  : AHUB, UK V31. 547 Carl Paasch, Geheimrath Professor Dr. Rudolph Virchow aus Schievelbein. Unser großer Gelehrter. Eine psychologische Skizze, Leipzig 1892, S. 11. Es handelt sich dabei freilich um eine antisemitische Schmähschrift, die unter anderem auch die Behauptung aufstellte, dass »Virchow jüdisches Blut in seinen Adern« habe, ebenda, S. 8. 548 Virchow an Alexander von Frantzius, 3.1.1877, StBB-PK, Slg. Darmstädter, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 177 f.

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Langeweile, die das Lebensschicksal unverheirateter, bürgerlicher, junger Frauen im 19. Jahrhundert prägte.549 Elf Jahre später saßen die zwei jüngeren Töchter immer noch zu Hause und pflegten ihre kleinen Leiden  : »Die Mädchen fangen auch wieder an zu klagen. Marie ist so heiser, als wären ihr alle von Koch verscheuchten Bakterien in die Kehle geflogen. Hanna studirt, als gelte es eine eigentliche Lebensaufgabe, aber es bekommt ihr auch nicht ganz.«550 Die Bildungsbemühungen der jüngsten Tochter waren Virchow somit durchaus suspekt. Eine der wenigen Möglichkeiten, aus diesem auf den familiären Haushalt beschränkten Wirkungskreis auszubrechen, ergab sich daraus, dass Virchow nicht nur seine Söhne, sondern auch seine Töchter auf wissenschaftliche Exkursionen mitzunehmen pflegte. Vor allem seine älteste Tochter entwickelte ein eigenes Interesse an Botanik und Archäologie. Schliemann bezog dies in seine Umgarnungsstrategie gegenüber Virchow ein und rühmte Adelheid 1880 öffentlich (und unverdientermaßen) für den Fund eines urgeschichtlichen Gefäßes bei einer gemeinsamen Ausgrabung. Virchow versuchte Schliemann von solchen Ehrungen abzubringen, wofür er neben Gründen der wissenschaftlichen Lauterkeit vor allem darauf verwies, dass »junge Mädchen (…) nicht in die Öffentlichkeit« gehörten. Durch die öffentliche Hervorhebung der Entdeckerrolle Adelheids anlässlich der Allgemeinen Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in Berlin sei diese »schon mehr als gut ist, von den Reportern in ein gänzlich ungehöriges Licht gestellt worden«551. Schliemann rechtfertigte dagegen seine PR-Aktion mit der wünschenswerten Einbeziehung von Frauen in das nationale Projekt der Altertumskunde  : »Wenn ich Fräulein Adéle irrtümlich die Auffindung eines nicht von ihr entdeckten Gefäßes zugeschrieben habe, so macht das ja nichts aus  ; im Gegenteil, es kann nur segensreiche Wirkungen auf unsere deutschen Damen haben und ihnen Sinn für Archäologie einflößen.«552 Zur Ausbildung seiner Kinder gehörte auch der obligatorische Unterricht auf dem Klavier.553 Virchow selbst hatte nie ein Musikinstrument erlernt, und so bedeutete der Klavierunterricht für seine Kinder auch die Übernahme kultureller Gewohnheiten einer Schicht, in die er selbst erst im Verlauf seines Lebens aufgestiegen war. So markierte es auf der Skala der »feinen Unterschiede« (Pierre Bourdieu) einen weiteren kleinen Schritt nach oben, dass das Elternpaar Virchow für die älteste Tochter Adelheid von den 1000 Mark, die Heinrich Schliemann ihnen 1881 als Hochzeitsgeschenk für diese hatte zukommen lassen, anstelle des bislang gewohnten Pianofortes einen Flügel für ihren 549 Martina Kessel, »Der Ehrgeiz setzte mir heute wieder zu …«. Geduld und Ungeduld im 19. Jahrhundert, in  : Hettling/Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel, S. 129–148, hier  : S. 136. 550 Virchow an Johannes Ranke, 19.11.1890, Druck  : Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 417. 551 Virchow an Schliemann, 1.9.1880, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 223. 552 Schliemann an Virchow, 2.9.1889, Druck  : ebenda, S. 224. 553 R. Virchow an Carl Virchow, 3.8.1860, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 851.

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neuen Hausstand erwarb.554 Schliemann, der dazu neigte, sein vor allem im Krimkrieg erworbenes großes Vermögen zum Erwerb persönlicher Loyalitäten einzusetzen, überschüttete die Familie Virchow mit teuren Geschenken, wobei ihm vor allem die Töchter, denen er hohe Beträge als Geschenke und »Mitgift« zukommen ließ, als Angriffspunkt dienten. So bedachte er Marie und Johanna Virchow in seinem Testament mit 10.000 Schweizer Franken »für ihre Aussteuer« – ebenso viel, wie er der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zugedachte,555 deren langjähriger Vorstand Rudolf Virchow war. Im Verlauf der Jahre ermattete dabei der anfängliche Wille Virchows, diese Gaben zurückzuweisen. Deren Tauschcharakter offenbarte sich an der umfangreichen Unterstützung, die er Schliemann bei seinen Bemühungen um soziale Auszeichnungen und professionelle Anerkennung zukommen ließ. Die Berufswahl der Söhne und die Ehegemeinschaften der Töchter bilden weitere wichtige Kriterien für eine Analyse sozialer Verflechtungen wie der Bemühungen, den erreichten sozialen Status weiterzureichen. Sein ältester, 1851 geborener Sohn Carl wurde Handelschemiker in Berlin, während Virchows 1852 geborener Sohn Hans seit 1889 als Anatomieprofessor in Berlin beruflich in die Fußstapfen seines Vaters trat, die er allerdings nie vollständig auszufüllen vermochte. Sein 1858 geborener Sohn Ernst, der wegen seiner Neigung zu asthmatischen Anfällen als Sorgenkind der Familie galt, wurde schließlich Hofgärtner und arbeitete unter anderem in den Kew Gardens bei Richmond in England, als Verwalter des Königlichen Tiergartens in Wasserburg und schließlich als Hofgartendirektor in Kassel-Wilhelmshöhe. Virchow versuchte dabei nach Kräften, seine weitläufigen Beziehungen zu Universitäten und Kultusbürokratie für persönliche Interventionen zugunsten der Karriere von Familienmitgliedern zu nutzen. Dabei rechtfertigte er sich gegenüber Ministerialdirektor Althoff, dass er sich »stets bemüht habe, meine persönliche Einwirkung bei der Förderung meiner Kinder auf das strengste Maaß der Loyalität einzuengen«556. Dies schloss jedoch durchaus Bittbriefe und direkte Empfehlungen ein, wobei sich solche Interventionen gelegentlich auch kontraproduktiv auswirkten. Diese Form der Unterstützung erstreckte sich namentlich auf seinen Schwiegersohn, den Germanisten Rudolf Henning, und sein Patenkind Paul Langerhans junior, Arzt und Sohn des mit Virchow eng befreundeten späteren Berliner Stadtverordnetenvorstehers Paul Langerhans senior.557 Neben Ausbildungsinvestitionen und dem Gebrauch persönlicher ›Beziehungen‹ bildeten Heiratsstrategien einen weiteren wichtigen Bestandteil der sozialen Reproduk554 Siehe dazu Schliemann an Rose Virchow, 6.2.1881  ; sowie Virchow an Schliemann, 9.2.1881, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 248 f. 555 Siehe Schliemann an Virchow, 8.11.1884, Druck  : ebenda, S. 424. 556 Virchow an Friedrich Althoff, 20.4.1894  : GStA-PK, I. HA Rep. 92 Althoff B, Nr. 189, Bl. 164 f. 557 Ernst Virchow an Friedrich Althoff, 8.7.1882 u. 11.10.1882  : GStA-PK, I. HA Rep. 92 Althoff B, Nr. 189, Bl. 109 f. u. 111  ; Virchow an Althoff, 20.4.1894, ebenda, Bl. 164 f.; Althoff an Virchow, 24.4. u. 13.12.1894, ebenda, Bl. 167 f.; Virchow an Julius Kollmann, 2.2.1883  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2433.

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tion wie des sozialen Aufstiegs des Bürgertums. Virchow nahm in dieser Hinsicht seine Stellung als ›Familienvater‹ sehr ernst. Verstöße gegen seine patriarchalische Hausgewalt und die von ihm streng beaufsichtigte Ordnung der Geschlechter ahndete er unnachsichtig. Dies zeigt etwa der Fall des Dienstmädchens Antonie, die 1854 einen familiären Skandal auslöste, weil sie ein Kind von ihrem Onkel erwartete. Virchow kündigte der »schmähliche(n) Person« fristlos und schickte sie in eine Gebäranstalt für ledige Mütter – nicht ohne dass er seiner Frau das Fahrgeld auf den Kreuzer genau vorrechnete.558 So wurde der durch die Dienstboten stets drohende ›Einbruch der Sittenlosigkeit‹ in den Kreis der bürgerlichen Familie entschlossen abgewendet. Auch was den Zeitpunkt von Eheschließungen in seiner Familie betraf, nahm Virchow seine Rolle als Hausvorstand sehr ernst, und diesen patriarchalischen Anspruch dehnte er auch auf die Assistenten seines Berliner Pathologischen Instituts aus.559 Gezielte Bemühungen standesgemäße Ehen anzubahnen, spielten vor allem im Hinblick auf seine 1855, 1866 und 1873 geborenen Töchter eine entscheidende Rolle, bildete doch eine Heirat auch in seinem Horizont die einzige Möglichkeit, um diese angemessen außerhalb des eigenen Elternhauses unterzubringen. Auffällig im Hinblick auf die bekannten Muster bürgerlicher Eheanbahnung ist dabei vor allem die Rolle der Wissenschaft als Heiratsmarkt  : Virchow nahm nicht nur seinen Sohn Hans regelmäßig zu wissenschaftlichen Exkursionen und Kongressen mit, sondern auch die jeweils älteste Tochter. So fanden sich die 25-jährige Adelheid Virchow und ihr späterer Verlobter auf eben jenem im August 1880 stattfindenden Anthropologen-Kongress in Berlin, auf der sie Schliemann in das Licht der Öffentlichkeit gerückt hatte. Der drei Jahre ältere Germanist Rudolf Henning, mit dem sich Adelheid im darauffolgenden Jahr vermählte, »hatte dort die Runenausstellung unter sich, und die große Nähe der [gemeinsamen] Schränke, hat nicht wenig zu der Verständigung beigetragen«560, schilderte Virchow das Eheanbahnungsritual. Ähnlich glückte dies auch mit der zweiten Tochter. Nachdem Schliemann Virchow im Vorjahr schon freundschaftlich darauf hingewiesen hatte, dass es für dessen 23-jährige Tochter Marie an der Zeit wäre, sich zu verheiraten, schuf der X. Internationale Medizinische Kongress in Berlin 1890 die erhoffte Gelegenheit. Virchow, der dieser Veranstaltung präsidierte, absolvierte das gesellschaftliche Rahmenprogramm in Begleitung seiner Tochter, wo sie den Prager Medizinprofessor Carl Rabl kennen lernte, mit dem sie 1891 getraut wurde. Auch die jüngste, 1873 als Nachzügler geborene Tochter Johanna wurde künftig zu Reisen und Kongressen mitgenommen, doch anders als ihre Schwestern blieb sie ledig. 558 R. Virchow an Rose Virchow, 29.7., 30.7. u. 11.8.1854  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 15, 16 u. 21. 559 Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 20. Siehe auch die Klage Virchows über die »vorzeitige« Verlobung seines 28-jährigen Sohns Carl in  : Virchow an Schliemann, 27.10.1879, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 148. 560 Virchow an Schliemann, 28.11.1880, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 232.

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Als Familienvater, als Mediziner und als Politiker interessierte sich Virchow sehr für die in den 1860er Jahren in Deutschland aufgekommene »Frauenfrage«, hinter der die Sorge um die Zukunft unverheirateter Bürgertöchter stand.561 In einem öffentlichen Vortrag am 20. Februar 1865 im Hörsaal des »Grauen Kloster« in Berlin mit dem Titel »Ueber die Erziehung des Weibes für seinen Beruf«, den er für den »Verein für Familien- und Volkserziehung« hielt, fasste Virchow seine Auffassung vom Verhältnis der Geschlechter zusammen. Bereits im Titel dieses Vortrags verriet sich der Bezug auf Rousseaus Emile, wo Sophie zur idealen Frau und Gefährtin des Mannes erzogen wurde.562 Dabei erläuterte Virchow zunächst seine Gesellschaftskonzeption, in deren Mittelpunkt die Familie stand. »Familie« und »Volk« standen für ihn »Staat« und »Gesellschaft« gegenüber. Beide zeichneten sich durch unterschiedliche Erziehungsaufgaben aus  : Während die Familie »die selbständige Entwicklung des Einzelnen« ermögliche, forderten Staat und Gesellschaft »die künstliche Entwicklung der Massen«. Ähnlich wie schon während der Revolution bezeichnete er den Staat dabei als historisch vergängliche »Form, welche sich das Volk zur Erfüllung gewisser Aufgaben schafft«. Demgegenüber verfolge die Volkserziehung, die in der Familie stattfinde, höhere Zwecke  : »freie Entwicklung der Einzelnen« sowie »Bildung und Fortschritt des Volkes«563. Darin artikulierte sich auch die Mitte der sechziger Jahre in Teilen der Fortschrittspartei bestehende Hoffnung, wonach eine Identität des Liberalismus mit dem Volk möglich sei, wodurch schließlich auch der Staat reformiert werden könne.564 Vor dem Hintergrund des preußischen Verfassungskonflikts verband Virchow Elemente seiner früheren demokratischen Überzeugungen, die das Volk als Quelle politischer Souveränität dem bestehenden Staat entgegen stellten, mit liberalem Individualismus – dessen Kehrseite die Angst vor den »Massen« bildete – und sozialkonservativen Einstellungen zu einer Auffassung, die eine klare Stoßrichtung gegen den politischen Status quo besaß  : Von der Familie über die Gemeinden sollte schließlich die Reform der bestehenden Verhältnisse erfolgen, was auch die noch nicht erreichte nationale Einigung einschloss. In diesen gesellschaftspolitischen Rahmen stellte Virchow auch die »Hausfrau« hinein  : »Mag der Vater das Haupt der Familie bilden, so muss doch die Mutter den Mit561 Gunilla-Friederike Budde, Das Geschlecht der Geschichte, in  : Mergel/Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, S. 125–150, hier  : S. 132. Einen hervorragenden Einblick in das Schicksal Berliner Professorentöchter geben die Erinnerungen von Adelheid Mommsen, Mein Vater. Erinnerungen an Theodor Mommsen, München 1992. Vgl. auch Bärbel Kuhn, Familienstand ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850–1914), Köln 2000. 562 Vgl. Sieder, Sozialgeschichte der Familie, S. 136. 563 Rudolf Virchow, Ueber die Erziehung des Weibes für seinen Beruf. Eine Vorlesung, gehalten im Hörsaale des grauen Klosters zu Berlin am 20. Februar 1865, Berlin 1865, S. 7 ff. 564 Zum Verhältnis des Liberalismus zum Verhältnis von »Volk« und »Staat« vgl. James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983, S. 114–129.

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telpunkt derselben bilden  ; sie soll sein die eigentliche Vertreterin des Hauses, zu der Alles, auch der Vater, wenn er Amt und Geschäft besorgt hat, ›heim‹ kehrt.«565 Ähnlich wie in seinem Vortrag 1848 vor der Gesellschaft für Geburtshülfe ging er auch hier von einer naturbedingten, komplementären Definition der Geschlechtscharaktere aus.566 Er stellte einer männlichen Rollenidentität, die sich in der Außenwelt verwirkliche, eine weibliche entgegen, die ihre Erfüllung im Innenraum der Familie finde  : Damit variierte er ein verbreitetes Rollenmodell, wie es sich am prägnantesten in Schillers »Lied von der Glocke« formuliert fand, das zum eisernen Bestand bildungsbürgerlichen Erziehungsgutes gehörte,567 das bei ihm aber eine biologistische Fundierung erhalten hatte. Diese Anschauungen begründeten eine gleichsam natürliche Bestimmung des weiblichen Geschlechts als »Weib, Frau und Mutter«. Zwar schloss Virchow nicht gänzlich aus, dass das weibliche Geschlecht künftig auch an der »Lösung der allgemeinen Aufgaben des Menschengeschlechts selbstthätig den ihm gebührenden Antheil« nehmen könnte. Der »natürliche Beruf des Weibes überhaupt« sei jedoch keinesfalls, »auf den Markt des öffentlichen Lebens zu treten«, sondern die Erziehung der Kinder, wodurch sie dadurch prädestiniert sei, dass »die natürliche Organisation (…) bei dem Weibe im Allgemeinen der kindlichen näher steht als bei dem Manne«. Die »Erziehung des Weibes für seinen Beruf« bedeutete, kurz gesagt, »Erziehung des Weibes für das Haus«, was die Voraussetzung der »Erziehung des Weibes für den Mann« und schließlich der »Erziehung des Weibes für die Gesellschaft« darstellte.568 Auch für Virchow hingen weibliche Identität und bürgerliche Gesellschaft unmittelbar zusammen. Auch tief im 19. Jahrhundert waren diese Positionen nicht unangefochten, und so erfuhr Virchow für seine öffentlichen Ausführungen »manchen Widerspruch«569. Zudem funktionierte dieses auf getrennten männlichen und weiblichen Sphären basierende Rollenmodell auch in seiner eigenen Familie nicht ohne Konflikte. Das Ehepaar Virchow war sich mehr durch Empathie als durch intellektuelle Partnerschaft nahegekommen. 565 Virchow, Ueber die Erziehung des Weibes für seinen Beruf, S. 11. 566 Zur Tradition dieses Arguments siehe vor allem Karin Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in  : Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363–393  ; vgl. auch Ute Frevert, Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19.  Jahrhundert, in  : dies. (Hg.), Bürgerinnen und Bürger  : Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 17–48  ; Karin Hausen, ›… eine Ulme für das schwankende Efeu‹. Ehepaare im Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert, in  : ebenda, S. 85–117  ; Frevert, »Mann und Weib, und Weib und Mann«. 567 Eine handschriftliche Abschrift dieses Gedichtes, das Virchow in seiner Gymnasialzeit anfertigte, findet sich in ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2783  : Abschriften von Gedichten verschiedener Verfasser, 1835, 1837. – Vgl. auch Frevert, Bürgerliche Meisterdenker, S. 37–41  ; Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit, S. 84 f. 568 Frevert, Bürgerliche Meisterdenker, S. 17–20 u. 23. Zur Tradition dieser Argumente siehe Hausen, Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«, v. a. S. 373 u. 386. 569 Virchow, Ueber die Erziehung des Weibes, Nachschrift, S. 31.

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Als Virchow seinen Eltern seine Verlobung angekündigt hatte, erläutert er ihnen, wie er sich über einen längeren Zeitraum hinweg der sehr schweigsamen Rose allmählich angenähert habe, und zwar vor allem dadurch, dass sie bei seinen Gesprächen mit ihrer Mutter oder ihren Eltern zugehört habe  : »Aber bei diesem Zuhören hat sie sich auch so in mich hineingehört, sie ist gewissermaaßen so durch mich erzogen worden, daß ich nicht weiß, wer mich jetzt besser verstehen könnte als sie.«570 So suchte auch Virchow sein Selbst »im Spiegel der geliebten Person«571. Im Verlaufe ihrer über 50 Jahre dauernden Ehe führte diese Mischung aus Einfühlung und Erziehung dazu, dass seine Frau »in Bewegungen, Sprache, langsam und still aneinandergereihten Worten und Manieren völlig den Rhythmus des Gatten übernommen hatte und ganz im Banne seiner Bedeutung stand«572. Dabei war sie jedoch den mit einem bildungsbürgerlichen Lebensstil verbundenen Erwartungen an eine Ehefrau nur begrenzt gewachsen. Ihr fehlte nicht allein die Bildung, um mit ihrem Mann oder in Gesellschaft wissenschaftlich oder politisch diskursfähig zu sein. Zudem war sie ungewandt im Umgang mit Fremden. Damit war ihr der Weg versperrt, den zumindest einige Professorengattinen wählten, sich durch inner- und außerhäusliche Geselligkeit, etwa in Form eines Salons, einen gesellschaftlichen Ausgleich für die dominante öffentliche Rolle ihres Mannes zu schaffen, wie es etwa Anna von Helmholtz vermochte.573 Die Ehe Virchows bietet die Möglichkeit, zwischen kulturellen Normen und Praxis genauer zu unterscheiden.574 Das von Virchow öffentlich vertretene Rollenmodell, das weitgehend mit damals verbreiteten Vorstellungen übereinstimmte, spiegelte zwar auch seine häusliche Realität weitgehend wider. Allerdings überzeugten seine dafür gelieferten Begründungen in seinem privaten Bereich nicht ohne weiteres. So beschwerte sich Rose Virchow immer wieder über ihre Rolle in dieser Ehe und litt darunter, dass sie ihre eigene Tätigkeit gegenüber der ihres Mannes als wertlos empfand.575 Virchows Versuche, seine Frau zu trösten, fügen sich mit seinen öffentlichen Ausführungen zur Frauenfrage nahtlos zusammen. In den Briefen, die er ihr 1859 während einer im Auftrag der dorti570 R. Virchow an Carl Virchow, 30.11.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 434. 571 Trepp, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung, S. 44. 572 Carl Ludwig Schleich, Besonnte Vergangenheit. Lebenserinnerungen (1859–1919), Berlin 1921, S. 181. 573 Klagen über Rose Virchows mangelnde soziale Kompetenz finden sich etwa in Briefen an Carl Virchow (Druck  : RVSW, Bd. 59), aber auch im Brief von R. Virchow an Rose Virchow, 16.9.1859  : PLM, Slg. RablVirchow, A II, Nr. 50. Vgl. dazu auch Ute Frevert, Kulturfrauen und Geschäftsmänner. Soziale Identitäten im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts, in  : dies., »Mann und Weib, und Weib und Mann«, S. 133– 165, hier  : S. 158 f.; sowie M. Rainer Lepsius, Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, in  : ders. (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil III, S. 8–18, hier  : S. 16 f. 574 Vgl. dazu auch Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750– 1850), Göttingen 2000, S. 13 f. 575 Da die Briefe Rose Virchows an ihren Ehemann nicht überliefert sind, kann dies nur indirekt aus seinen Antwortbriefen erschlossen werden. Siehe etwa R. Virchow an Rose Virchow, 16.9.1859  : PLM, Slg. RablVirchow, A II, Nr. 50.

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gen Regierung unternommenen Forschungsreise durch Norwegen schrieb, versicherte er, »dass Du mir dabei mächtig hilfst, indem Du mir erlaubst, viele Sorgen des Zuhauses u. der Familie auf dich abzuwälzen. Es ist das eine schwere Last für dich, das verkenne ich gewiss nicht, mein Herz, aber ich denke, es muss auch immer eine Befriedigung für dich sein, zu wissen, dass Du damit mir die Möglichkeit schaffst, in meiner Weise thätig zu sein.« Auf diese Weise nehme sie an allen seinen Erfolgen teil, was auch für sie einen Lohn darstelle. »Du empfindest das ja auch, nur willst Du es dir nicht selbst gestehen.«576 Damit nahm er zugleich in Anspruch, sie besser zu kennen als sie sich selbst. Bald darauf bedauerte er in einem Brief zwar die Tatsache, dass seine »kleine Rose« seinem »Thun und Arbeiten immer noch fern stehe«, doch solle sie darüber nicht so sehr grübeln  : »Vieles von dem, was dir jetzt in deinem Thun werthlos erscheint, wird dir wichtig werden, wenn Du dich als die treue Helferin deines Mannes behauptest, u. wenn ich dir aus vollem Herzen die Versicherung gebe, dass Du mir als eine solche erscheinst, so musst Du mir auch glauben.«577 Allerdings scheinen ihre Zweifel damit nicht ausgeräumt gewesen zu sein  : 15 Jahre später etwa redete Virchow seiner Frau erneut zu, sie solle sich bewusst machen, »was alles die Mutter der Familie ist, auch wenn sie zunächst nur die Ordnerin u. Pflegerin aller ist. In dem Bestreben, dir allerlei Qualen zu bereiten, liebst Du es, deinen Verdienst herabzusetzen, gleichsam als ob der Werth der Frau u. Mutter in ganz ungewöhnlichen Leistungen bestehen müsse.«578 So war seine Auffassung der jeweiligen Rolle in der Familie und Ehe von einem Ethos der Pflichterfüllung durchdrungen, in dem jeder die Aufgaben zu vollenden habe, »die jedem pflichtmäßig gestellt sind, der Frau in dem Hause, dem Manne in der Welt. Man arbeitet dann so gut man kann, u. in der That muss man seine Befriedigung finden, nicht in den Erfolgen.«579 Daran appellierte er insbesondere in Zeiten, in denen ihn die Politik in besonders starkem Maße von der Familie fernhielt, so vor allem während des preußischen Verfassungskonflikts.580 In dieser Hinsicht unterschieden sich seine Auffassungen also in keiner Weise von der des konservativen Gelehrten Wilhelm Heinrich Riehl, der 1861 in seinem Werk Die Familie geschrieben hatte  : »Das Weib wirkt in der Familie, für die Familie  ; es bringt ihr sein Bestes ganz zum Opfer dar  ; es erzieht die Kinder, es lebt das Leben des Mannes mit.« Dabei hatte dieser zugleich auch den Punkt deutlich ausgesprochen, unter dem Virchows Frau offensicht576 R. Virchow an Rose Virchow, 31.8.1859, ebenda, Nr. 46. 577 R. Virchow an Rose Virchow, 16.9.1859, ebenda, Nr. 50. 578 R. Virchow an Rose Virchow, 20.8.1874, ebenda, Nr. 117. 579 R. Virchow an Rose Virchow, 4.9.1862, ebenda, Nr. 63. 580 Siehe z. B. R. Virchow an Rose Virchow, 17.9.1862, ebenda, Nr. 70  : »Es schmerzt mich ja gewiss sehr, dass du so viel leiden musst, meine kleine Rose, aber niemand kann zween Herren dienen, u. es giebt Zeiten, wo die Sorge um das Vaterland auch zugleich die Sorge um die eigene Familie u. die Zukunft der Seinigen mit umschließt. Ein starkes u. freies Deutschland wird auch die Familie erst zu echter, behaglicher Ruhe des Genusses kommen lassen.«

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lich litt  : Auf den Namen des Mannes »häufen sich die Ehren, während man gar bald der Gattin vergißt, die ihm diese Ehren hat mitgewinnen helfen«581. Die öffentliche und private Sphäre wurde in diesem Denken polaren Geschlechtscharakteren zugewiesen. Daran schloss sich die Vorstellung an, dass in der Ehe männliche Objektivität und weibliche Subjektivität verbunden würden, worin ein Rest romantischen Polaritätsdenkens nachwirkte.582 So lobte Virchow die Briefe seiner Frau in folgender Weise  : Ich werde ordentlich neidisch auf dich, denn es scheint mir, dass ich weder so gefühlvoll die Natur zu schildern vermag, noch meine eigenen Zustände u. Empfindungen so klar darlegen kann. Wir Männer sind genöthigt, zu sehr objektiv zu werden u. wir Naturforscher zumal  ; wie schön ist es da, so einen süßen Schatz an Subject zu haben, an dem wir uns zuweilen wieder etwas verinnerlichen können.583

Schrieb er damit seiner Frau eine einfühlende Haltung in die Natur zu, in der Ich und Welt ungeschieden blieben, so stilisierte er sich selbst zum Typus des ›objektiven Beobachters‹, der die Entfremdung zwischen Ich und Welt heroisch ertrage.584 Vor dem Hintergrund der langen Tradition der Opposition von männlicher Objektivität und weiblicher Subjektivität ist hier vor allem die charakteristische Zuspitzung wichtig, die Virchow diesem Modell verlieh  : Da die »Objektivität« für ihn ihr Maximum im »Naturforscher« erreichte, basierte die Identität des Naturwissenschaftlers, der gefordert war, sich so weit als dies möglich war zu »entsubjectivieren«585, auf einem Verständnis von gesteigerter Maskulinität. Hier artikulierte sich ein spezifisches Männlichkeitsbild des modernen Naturwissenschaftlers als eine Art von ›Super-Mann‹. Seine Achillesferse war allerdings, dass er unfähig geworden war, sich in die ihm äußerlich entgegentretende Natur einzufühlen. Derartige vorausgesetzte Geschlechtscharaktere spielten auch eine wichtige Rolle bei der Auseinandersetzung um die Frage der Frauenberufe. Virchow ging von der »natürlichen« Berufung des weiblichen Geschlechts zur Hausfrau aus, was er neben den schon genannten Argumenten auch mit dem volkswirtschaftlichen Segen der Arbeitsteilung

581 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Familie, Stuttgart 1861, S. 115. 582 Simmer, Virchow und der Virilismus ovarioprivus, S. 398 f. 583 R. Virchow an Rose Virchow, 16.9.1859  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 50. 584 Siehe dazu auch Rudolf Virchow, Wie der Mensch wächst. Eine Erinnerung, in  : Berthold Auerbach’s deutscher Volkskalender für das Jahr 1861, Leipzig 1860, S. 95–105, hier  : S. 96. 585 Siehe auch Rudolf Virchow, Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staatsleben, in  : Amtlicher Bericht über die 50. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte, München 1877, S. 65–77, hier  : S. 75. Vgl. dazu auch Dietrich von Engelhardt, Historisches Bewusstsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus, Freiburg u. München 1979, S. 212.

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begründete.586 Überdies argumentierte er mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Hausfrauentätigkeit  : »Erziehung des Weibes für seinen Beruf« bedeutete somit, dass Mädchen mit wissenschaftlich fundierten Grundkenntnissen der Gesundheitspflege, Ernährungswissenschaft, Hygiene – wozu Fragen der »Erwärmung und Abhärtung, der Lüftung und Heizung, der Bekleidung und Bebettung« zählten – sowie der Erziehungswissenschaft vertraut gemacht werden sollten. Geeignete Orte dafür waren, so Virchow, neben entsprechend einzurichtenden Schulen vor allem auch Kinderkrippen und Kindergärten.587 Eine Beschäftigung in diesen Einrichtungen bildete für ihn zugleich ein probates Mittel zur Lösung des Problems der unverheirateten Bürgertöchter. Während aber die Diskussion dieser Frage im Bildungsbürgertum sich vor allem um die Frage standesgemäßer Erwerbsmöglichkeiten mittelständischer Frauen drehte,588 sah Virchow hier lediglich ein psychologisches Problem. So erklärte er 1865, die »unzufriedene Stimmung der unverheiratheten Jungfrau« lasse sich durch praktische Tätigkeit im Kindergarten lösen, »und wenn der Gedanke der vollen Emancipation darüber in den Hintergrund gedrängt wird, so wollen wir nicht vergessen, dass die größte und reinste Quelle menschlicher Zufriedenheit nicht der Genuss, sondern der freiwillige, aus sittlichen Gründen geleistete Verzicht ist«589. Durch seine Tätigkeit im Verwaltungskomitee des Volkskindergartens in der Friedrichstraße, dem er seit 1867 angehörte, stellte er auch die Verbindung zur Praxis her. Dieser und andere Kindergärten boten nicht nur ein Feld für weibliche Berufstätigkeit, sondern definierten auch das Verhältnis von privater und öffentlicher Sphäre neu, sollte doch die öffentliche Kindererziehung eine Ergänzung zur privaten darstellen. Typisch dafür war allerdings, dass dieser »Bereich der öffentlichen Erziehung im Kindergarten (…) selbst noch einmal durch eine Zuordnung zu ›Innen‹ und ›Außen‹, Öffentlichkeit und Haus strukturiert« war  : Der Mann repräsentierte den Kindergarten nach außen, die Frauen waren »hingegen für das alltägliche Funktionieren im Inneren und für den Umgang mit Kindern zuständig«590. Wegen der Berufung auf den Pädagogen und Erfinder des Kindergartens Friedrich Fröbel, der engen Verbindung zu den Bezirksvereinen wie auch der Mitgliedschaft zahlreicher bekannter politischer Oppositioneller wurde die586 Rudolf Virchow, Ueber Bekleidungsstoffe, in  : Berthold Auerbach’s deutscher Volks-Kalender auf das Jahr 1863, Leipzig 1862, S. 39–53, hier  : S. 44. 587 Virchow, Erziehung des Weibes, S. 24–30. 588 Herrad U. Bussemer, Bürgerliche Frauenbewegung und männliches Bildungsbürgertum 1860–1880, in  : Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger, S. 190–205  ; hier  : S. 195–199  ; vgl. auch dies., Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum. Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgründungszeit, Weinheim 1985, S. 53–80. 589 Virchow, Erziehung des Weibes, S. 30. 590 Meike Sophia Baader, »Alle wahren Demokraten tun es«. Die Fröbelschen Kindergärten und der Zusammenhang von Erziehung, Revolution und Religion, in  : Mergel/Jansen (Hg.), Die Revolutionen von 1848/49, S. 206–224, hier  : S. 212 u. 218.

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ser wie andere zu dieser Zeit entstehende Kindergärten vom Berliner Polizeipräsidium als politisches »Agitations- und Reizmittel« betrachtet. (Allerdings beruhte die in den 1850er Jahren in Preußen bestehende Unterdrückung der Kindergärten auch mit auf der Verwechslung Friedrich Fröbels mit seinem sozialistischen Neffen Julius Fröbel.) 1867 untersagte das Berliner Polizeipräsidium sogar eine unter Beteiligung Virchows geplante Straßensammlung zu Gunsten des Volkskindergartens in der Friedrichstraße als staatsgefährdende Veranstaltung.591 Ein ähnliches Tätigkeitsfeld, das Virchow zur Beschäftigung bürgerlicher Frauen geeignet erschien und diesen zugleich eine Möglichkeit bot, die Grenzen einer sich nur im Privaten abspielenden Existenz zu überwinden, bildete die Krankenpflege, und so zählte er zu den Pionieren der weiblichen Krankenschwesternausbildung. Während des Krieges 1870/71 betätigte sich auch Rose Virchow, wie viele Frauen aus dem Berliner Bürgertum, im Lazarett auf dem Tempelhofer Feld, wofür sie eine Auszeichnung durch das Rote Kreuz erhielt. »Sonst«, so vermerkte ihre Tochter Marie Rabl später, »trat sie nirgends in die Öffentlichkeit«592. Virchows Vorstellungen zur Frauenerwerbstätigkeit blieben somit von seiner Überzeugung einer biologisch verankerten Bestimmung zu häuslichen und familiären beziehungsweise wesensverwandten pflegerischen Tätigkeiten geprägt, die eine weitere Stütze in der zentralen Bedeutung der Familie für sein Gesellschaftsmodell fand. So gehörte er schließlich auch zu den einflussreichen Gegnern des Frauenstudiums, namentlich im Bereich der Medizin.593 In dieser seit den 1890er Jahren heftig geführten Diskussion reichten jedoch die alten Argumente allein nicht mehr aus, ohne dass die Berufung auf biologisch geprägte unterschiedliche Geschlechtscharaktere deshalb aus der Debatte verschwunden gewesen wäre. Während andere Professoren im Kaiserreich durch das Schicksal ihrer eigenen Töchter für das Problem der Frauenerwerbstätigkeit zumindest sensibilisiert wurden, hing Virchow weiterhin dem überkommenen Modell an, wonach die soziale Position bürgerlicher Frauen durch Heirat und nicht durch einen eigenen Beruf gesichert werden sollte. Nachdem die Perspektive einer Reform der Gesellschaft durch die Familie, die in den sechziger Jahren noch eine wichtige Rolle gespielt hatte, im Kaiserreich schließlich in den Hintergrund getreten war, schob er Ende der neunziger Jahre praktische Gründe in den Vordergrund  : Die Universitäten besäßen einfach nicht genug Räume, Lehrpersonal und Unterrichtsmaterial, um den Zuwachs zu bewältigen, der durch die allgemeine Zulassung von Frauen entstünde, während er immerhin aufgrund konkreter Erfahrungen an anderen Universitäten die Zulassung einzelner Stu591 Polizeipräsidium Berlin an den Königlichen Oberpräsidenten von Jagow, 5.3.1867  : BrLHA, Rep. 30 Bln C Polizeipräsidium Berlin, Nr. 15244, Bl. 2 f. 592 Rabl, Meine Mutter Rose Virchow, S. 291. 593 Siehe dazu Protokoll der Ordentlichen Generalversammlung der Berliner Medicinischen Gesellschaft am 4.1.1899, in  : Verhandlungen der Berliner Medicinischen Gesellschaft 30 (1899), S. 32  ; sowie Protokoll der Sitzung am 15.2.1899, ebenda, S. 97–102.

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dentinnen nicht prinzipiell ablehnte.594 Jedoch verteidigte Virchow mit seiner lebenslänglichen Ablehnung der bezahlten Erwerbstätigkeit  – wohlgemerkt  – bürgerlicher Frauen auch einen bildungsbürgerlichen Lebensstil. Zu diesem gehörte als wesentlicher Bestandteil ein Frauenbild, das »eine die Differenzierung der Berufswelt überwindende ›Ganzheit‹« beschrieb und dabei bestimmte kulturelle Funktionen sowohl im Rahmen der Kindererziehung als auch der Geselligkeit ausübte.595 Virchow beteiligte sich daran, das Vordringen von Frauen in die Öffentlichkeit zu blockieren und damit an der konzeptionellen Trennung weiblicher und männlicher Sphären festzuhalten. Die Ambivalenz des liberalen Konzepts von Öffentlichkeit erwies sich vor allem daran, dass in der Praxis des 19. Jahrhunderts mit der Verbreitung und Durchsetzung des Prinzips der freien Vereinigung in der Regel die Exklusion von Frauen einherging.596 Im Gegensatz zum »Ausschluss der unterprivilegierten Männer« besaß »die Exklusion der Frauen eine strukturbildende Kraft« für die bürgerliche Öffentlichkeit.597 Bei männlichen Bürgern umfasste die gesellschaftliche Vergemeinschaftung, die sich im Begriff der Soziabilität zusammenfassen lässt, dagegen den »ganzen sozialen Bereich zwischen der Familie einerseits, dem Staat und den etablierten politischen Körperschaften (Parteien) andererseits«598. In welcher Weise verhielten sich also Privatheit und Öffentlichkeit in Virchows persönlichem Netzwerk zueinander  ? Und inwieweit drückte sich seine doppelte Rolle als Wissenschaftler und Politiker in einer besonderen Soziabilität aus  ? 2.3.3 Geselligkeit und soziale Kreise

Am 16. November 1849, d. h. wenige Tage, bevor Virchow Berlin verließ, um sein Ordinariat in Würzburg anzutreten, veranstalteten Freunde für ihn ein großes Festmahl. Es

594 SBPAH, 44. Sitzung am 11.3.1898, S. 1348. 595 Lepsius, Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, S. 17. 596 Vgl. dazu ausführlich Constantin Goschler, Wissenschaftliche »Vereinsmenschen«  : Wissenschaftliche Vereine in Berlin im Spannungsfeld von Wissenschaft und Öffentlichkeit, 1870–1900, in  : ders. (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, 1870–1930, Stuttgart 2000, S. 31–63. 597 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, Vorwort zur Neuausgabe, S. 19. 598 Rolf Reichardt, Zur Soziabilität in Frankreich beim Übergang vom Ancien Regime zur Moderne  : Neuere Forschungen und Probleme, in  : Etienne François (Hg.), Sociabilité et société bourgeoise en France, en Allemagne et en Suisse, 1750–1850, Paris 1986, S. 27–41, hier  : S. 29. Siehe dazu auch Marcel Agulhon, Introduction. La sociabilité est-elle objet d’histoire  ?, in  : ebenda, S. 13–23, hier  : S. 23. Dem Begriff »Soziabilität« steht auf deutscher Seite kein genauer Begriff entgegen, der das Bedeutungsspektrum insgesamt erfassen würde. »Geselligkeit« bezieht sich vorrangig auf das persönliche Verhalten, während »Vergesellschaftung« vor allem das Organisatorische bezeichnet. (Siehe Otto Dann, Die bürgerliche Vereinsbildung in Deutschland und ihre Erforschung, in  : ebenda, S. 43–51, hier  : S. 43.).

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bot ihm »wie in einem großen Rahmen ein lebendes Bild dieser ganzen Zeit«599, und so blickte er aus diesem Anlass auf die zurückliegenden zehn Jahre zurück, die er in Berlin verbracht hatte. Die sozialen Beziehungen Virchows in dieser Zeit wurden bei dieser Gelegenheit noch einmal aufgefächert  : Neben Ärzten fanden sich Juristen, Philologen, Künstler, Mechaniker und Kaufleute ein. Aus seiner Familie erschien nur sein Onkel Karl Hesse, während sein anderer Onkel, Major Virchow, fernblieb. Beamte fehlten, abgesehen von zwei Räten des Provinzial-Medizinal-Kollegiums. Die Universität entsandte lediglich einen Professor, nämlich Bernhard Langenbeck, aber sechs Privatdozenten, und aus der ersten Kammer des preußischen Abgeordnetenhauses erschien ein Abgeordneter. Der Großteil der Gäste bestand jedoch aus den Freunden der letzten beiden Jahre  : Mitglieder der General-Versammlung der Ärzte, des Central-Wahlcomités, des 3. Berliner Wahlbezirkes, »ja sogar ein alter Präsident des demokratischen Clubs u. ein Mitglied des demokratischen Centralausschusses waren zugegen. Selbst die Maigefangenen hatten ihre Repräsentanten.« Dass die Militärmedizin bei diesem Fest fehlte, weil sie befürchtet hatte, dort Anstoß zu erregen, symbolisierte den Riss in Virchows sozialem Beziehungsnetz. Doch hatten ihm die Stabsärzte aus der Charité bereits am Tage vorher »ein großes Frühstück, das von 12–5 Uhr dauerte, gegeben«. Als auf dem Festmahl, dessen Charakter »ein durchaus herzlicher« war, auch ein schleswig-holsteinischer Bataillonsarzt erschien, erregte dies umso mehr Aufsehen unter den Anwesenden. Diese Mischung der sozialen Kreise umfasste somit Bürger, Militärs und Intellektuelle. In professioneller Hinsicht überwog die Ärzteschaft, in politischer die Berliner Demokratie. Dazu hatte neben seiner Teilnahme am Geselligkeitskreis der Familie Mayer vor allem auch Virchows Vereinsengagement beigetragen. Unter den wissenschaftlichen Vereinen, denen er bis dahin angehört hatte, befanden sich neben der Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin auch die Gesellschaft für Geburtshülfe, die Berliner Physikalische Gesellschaft sowie die General-Versammlung der Berliner Ärzte. Auch seine Mitwirkung in zahlreichen Berliner politischen Vereinen der Revolutionszeit wurde bereits detailliert geschildert, darunter der Demokratische Klub, der Friedrich-Wilhelmstädtische Bezirksverein, der Bezirks-Centralverein sowie der Republikanische Club. Zum Typus des ›engagierten Wissenschaftlers‹, der sich während der Revolution entwickelt und in Virchow einen exemplarischen Vertreter gefunden hatte, gehörte somit auch eine heterogene, soziale und politische Gruppen umfassende Vergesellschaftung. Aber am Ende des Jahres 1849 war es nicht mehr möglich, alle Kreise, denen Virchow zugleich angehörte, in einer Tischgemeinschaft zu versammeln  : Vor allem die politische Trennungslinie war nun unüberwindbar geworden. Solange noch Ungewissheit über den Ausgang der Revolution geherrscht hatte, war eine prekäre Balance in Virchows sozialen Beziehungen möglich gewesen, doch nunmehr erzwangen die Berufung nach Würzburg

599 R. Virchow an Carl Virchow, 17.11.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 426.

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und die politische Reaktion eine Neujustierung seines sozialen Beziehungsgeflechts wie auch seiner Geselligkeitsformen. Zwei Tage nach dieser, noch einmal die sozialen Beziehungen der zurückliegenden Jahre bündelnden Abschiedsfeier verlobte sich Virchow, und dies unterstrich den nun folgenden Bruch. Zwar unterhielt Virchow nach seinem Abschied von Berlin den Kontakt mit einer Anzahl seiner alten Freunde aufrecht. In den Veränderungen seines Beziehungsnetzes spiegelte sich aber das Schicksal der Berliner Demokraten in der Ära der Restauration wider, wählten doch viele von ihnen den Weg in das Exil. Von seinen Freunden gingen etwa Theodor Goldstücker nach London, Lothar Bucher nach Paris und Carl Ludwig nach Zürich. Virchow, der wiederholt in Hilfsaktionen für exilierte Freunde und Kollegen eingespannt war, teilte gleichfalls eine Art von teils äußerlichem, teils innerlichem Emigrantenschicksal. In diesem Wartezustand entwickelte er eine weitgehende Apathie gegenüber seiner Würzburger Umgebung und trauerte zugleich um den in Berlin hinter sich zurückgelassenen Teil seines Lebens. Anders als in Berlin praktizierte er nun die rigorose Trennung in eine beruflich-öffentliche Sphäre einerseits und in ein privates Idyll andererseits und hoffte »auf ein zurückgezogenes Leben, auf einen beschränkten Umgangskreis, auf vielfachen Verkehr mit der Natur«600. So erwartete er, dass Würzburg für ihn »nur der Schauplatz der stillen, innerlichen und häuslichen Thätigkeit, nach außen höchstens einer wissenschaftlich-literarischen werden kann«601. Wenn seine Frau erst einmal hier sein werde, schrieb er an Frantzius Mitte 1850, werde er sich auf lange Zeit »ganz abkapseln«602. Diese Erwartungen sollten sich auch erfüllen, und so bilanzierte er die Würzburger Verhältnisse als politische Stagnation, geselliges Stillleben, schöne Natur und vielversprechende wissenschaftliche Anstalten.603 Anfang 1854 beschrieb Virchow einem in die USA emigrierten Freund sein Leben der vergangenen Jahre in folgender Weise  : Würzburg ist politisch todt u. ausser der Medicin u. dem Wein will hier nichts gedeihen. So lebe ich auch ziemlich abgeschlossen (…) Seit ich hier bin, habe ich eine Frau genommen (aus Berlin) u. zwei Buben erzeugt. Nach außen war ich nur wissenschaftlich thätig, da ich, wie Sie wissen, die Conspiration nicht liebe u. ausserdem unsere Partei keine politische Thätigkeit haben kann. Ich beschränke mich daher, eine Schaar ordentlicher Untersucher heranzuziehen, selbst zu arbeiten u. unserer Medicin mehr u. mehr eine selbständige, nationale Haltung zu geben. (…) Würzburg ist, seit ich hier bin, der Sammelplatz vieler politisch Abgedankter geworden, die sich auf Medicin verlegt haben.604 600 Virchow an Goldstücker, 30.11.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 601 Virchow an Goldstücker, 28.12.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 602 Virchow an Frantzius, 17.6.1850  : StBB-PK, Slg. Darmstädter, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 102–179  : Briefe von Virchow an Alexander von Frantzius, hier  : Bl. 119 f. 603 Virchow an Wittich, 22.12.1849, Druck  : Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe, S. 96–98. 604 Virchow an N.N., 26.1.1854, Druck  : Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 478 f.

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Im gesellschaftlichen Verkehr mit seinen neuen Kollegen hielt sich Virchow sehr zurück, zumal ihm diese mit wenigen Ausnahmen weder politisch noch intellektuell behagten. Die akademischen Milieus in Berlin und Würzburg unterschieden sich erheblich voneinander  : Franz von Rinecker hatte ihm bereits vorab mitgeteilt, dass die sozialen Verhältnisse an seiner neuen Wirkungsstätte »höchst kleinstädtischer Natur seien« und unter den Professoren nicht viel Kontakt bestünde. Virchow ergänzte künftig das aus seinen Kollegen Franz von Rinecker, Albert Kölliker und Franz von Kiwisch bestehende Würzburger »Kleeblatt«605. Mit ihnen zusammen begründete Virchow auch die dortige Physikalisch-Medizinische Gesellschaft, »deren Mitglieder«, wie der als Student dort selbst als Mitglied beteiligte Ernst Haeckel schrieb, »sämtliche hiesige Notabilitäten, auch naturforschende Nicht-Notabilitäten sind«606. Damit herrschte dort die typische Vermischung von Wissenschaftlern und interessierten Laien, die das Geselligkeitsmuster zahlreicher wissenschaftlicher Vereine bis weit in das 19. Jahrhundert hinein prägte. Zumindest anfänglich zeigte Virchow für diese Gesellschaft, ebenso wie für seine übrigen Würzburger Amtsgeschäfte, wenig Begeisterung.607 Neben politischen und wissenschaftlichen Freunden aus der Berliner Zeit und einigen wenigen Kontakten zu den neuen Kollegen, die aber alle auf die medizinische Fakultät beschränkt waren, blieben Virchows soziale Kreise in den Würzburger Jahren eng. Dass sich diese schließlich in Richtung auf das lokale Besitzbürgertum hin erweiterten, wird durch die Tatsache angedeutet, dass ein wohlhabender Würzburger Champagner-Fabrikant, Ferdinand Döring, im September 1851 in Vertretung für Virchows Vater als Taufpate für den erstgeborenen Sohn Carl fungierte.608 Aber alles in allem schlug Virchow in gesellschaftlicher Hinsicht in Würzburg keine tiefen Wurzeln. So klagte er 1851 gegenüber Frantzius, dass es so scheine, »dass wir hier nie ganz heimisch werden, dass wir immer das Gefühl der Fremdheit behalten werden, wenn wir auch hier sterben sollten«609. Ein Fremder war Virchow zunächst im Hinblick auf seine Staatsbürgerschaft  : Mit seiner Ernennung zum Ordinarius in Würzburg war das bayerische Indigenat verbunden. Dadurch besaß er zunächst eine doppelte Staatsbürgerschaft, was ihm in Erwartung eines »bald zu erlassenden allgemeinen deutschen Heimathsgesetzes« unproblematisch erschien. Weil ihm die Einberufung zur preußischen Landwehr drohte, beantragte er jedoch 1850 die Entlassung aus der preußischen Staatsbürgerschaft.610 Zu seiner Fremd605 Rinecker an Virchow, 8.9.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1784. 606 Ernst Haeckel an seine Eltern, 14.12.1852, in  : ders., Entwicklungsgeschichte einer Jugend. Briefe an die Eltern 1852/1856, Leipzig 1921, S. 12. 607 Virchow an Goldstücker, 6.12.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 608 R. Virchow an Carl Virchow, 6.9.1851, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 519. 609 Virchow an Alexander von Frantzius, 7.6.1851  : StBB-PK, Slg. Darmstädter, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 124. 610 R. Virchow an das Polizeipräsidium zu Berlin, 27.11.1850, BrLHA, Rep. 30 Bln C Polizeipräsidium Berlin, Nr. 52, Bl. 9.

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Abb. 5  In Würzburg, 1850  : stehend Rudolf Virchow (links) und der Physiologe Rudolf Albert Kölliker, sitzend der Chemiker Johann Joseph von Scherer, der Gynäkologe Franz von Kiwisch und der Rektor der Universität, Franz von Rinecker (von links nach rechts).

heitserfahrung trug aber vor allem bei, dass Virchow, wie er 1855 Goldstücker gegenüber hervorhob, in Bayern niemals vollständig akzeptiert wurde und ihm »das bayerische Wesen mir je länger um so weniger zusagte. Als Protestant u. Demokrat bin u. bleibe ich natürlich persona ingrata«611. Nach seinem neuerlichen Umzug nach Berlin änderten sich diese Verhältnisse grundlegend. In den folgenden Jahrzehnten trat er aus der vorübergehend selbstgewählten sozialen Beschränkung heraus. Sein sich nun immer stärker entwickelndes umfangreiches Beziehungsnetzwerk schlug sich am Ende auch in einer überlieferten Korrespondenz mit nahezu 2500 Briefpartnern nieder. Alles in allem überwogen unter ihnen vor allem Mediziner, Anthropologen, Geologen, Paläontologen, Botaniker und Zoologen, während Geisteswissenschaftler die Ausnahme bilden. Stammte der Großteil seiner Korrespondenzpartner aus Deutschland, so stand er aber auch mit Gelehrten aus ganz 611 Virchow an Goldstücker, 21.9.1855  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425.

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Europa im Briefverkehr, wobei Frankreich, Italien und Skandinavien besonders wichtig waren. Einen kleineren Teil der Korrespondenz nahm auch die mit Familienmitgliedern, vor allem mit seiner Frau, und mit Freunden ein, die zum Teil über die ganze Welt verstreut waren. Da aber in der Regel seine Freunde gleichfalls aus seinem Berufsfeld kamen, schlossen sich in der Korrespondenz mit diesen an die Erörterung familiärer Angelegenheiten meist professionelle Gegenstände an. Dabei spielten neben aktuellen wissenschaftlichen Vorhaben oder Problemen vielfach auch Karrierefragen eine wichtige Rolle. Zur Pflege seines professionellen Netzwerks gehörten überdies seine vielen Reisen, vor allem während der vorlesungsfreien Zeit im Sommer unternahm er oftmals regelrecht wissenschaftliche Kongresstourneen. Im Laufe der Jahre erweiterte sich auch der regionale Radius seiner Familienbesuche immer mehr. Politische Korrespondenz führte Virchow dagegen kaum  : In der Regel finden sich allenfalls Verweise auf seine politische Tätigkeit im Allgemeinen sowie auf die damit verbundene Terminnot, doch kaum einmal eine inhaltliche Erörterung politischer Fragen.612 Dies liegt vermutlich auch daran, dass seine politische Tätigkeit erheblich stärker als seine wissenschaftliche in ein lokales personelles Beziehungsgeflecht eingebunden war, so dass die meisten Angelegenheiten mündlich erledigt wurden und keine Überlieferungsspuren hinterließen. Virchow wurde zu einer wichtigen Figur im Netzwerk des Berliner Fortschrittsliberalismus. Bereits Ende der fünfziger Jahre führten alte Freunde und Bekannte aus früheren Berliner Tagen wie der Arzt Paul Langerhans sen. und der Armenarzt Salomon Neumann Virchow in das lokale politische Leben ein, das seit dem Beginn der »Neuen Ära« wieder einen Aufschwung genommen hatte und in ein Projekt der »liberalen Modernisierung« dieser Stadt mündete.613 In welcher Weise sich verschiedene Geselligkeitsformen und -kreise überschnitten, lässt sich insbesondere an Virchows Kontakt zu Paul Langerhans sen. zeigen. Virchow und der wenig ältere Langerhans hatten sich in den vierziger Jahren über den Kreis der Familie Mayer kennengelernt und angefreundet. Der private Kontakt wurde über die Familien stetig gepflegt. Beide trafen sich später als politische Freunde im Lager des Fortschrittsliberalismus in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, deren Vorsteher Langerhans von 1893 bis 1909 war, im Preußischen Abgeordnetenhaus und zeitweilig auch im Reichstag, aber auch in der Berliner medicinischen Gesellschaft, wo beide eine gewichtige Rolle spielten. Virchow war zudem Patenonkel von Langerhans’ Sohn Paul, der auch bei ihm promovierte, während dessen Halbbruder Robert von 1885 bis 1895 sein Assistent am Pathologischen Institut war.614 Solche Überschneidungen stabilierten nicht zuletzt auch gegenseitiges Vertrauen. 612 Siehe dazu die Überlieferung der Korrespondenz in ABBAW, Nl Virchow  ; sowie in PLM, Slg. Rabl-Virchow. Vgl. auch Christian Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 1  : Virchow als Begründer der neueren deutschen Ur- und Frühgeschichtswissenschaft, Berlin 1976, S. 81. 613 Vgl. Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht, S. 185 f. 614 NDB, Bd. 13, Berlin 1982, S. 593 f.

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Abgesehen von gesellschaftlichen Kontakten, die unmittelbar in beruflichen Zusammenhängen standen, entfaltete sich Virchows Geselligkeit vor allem im privaten Kreis sowie im Rahmen seiner ausgedehnten Vereinstätigkeit. Wie er 1891 in einem Interview erklärte, blieb ihm neben seiner Arbeit keine Zeit für andere Dinge  : »In Gesellschaften geh’ ich nur selten und gebe darum auch gewöhnlich keine. Schließlich bin ich ja auch den ganzen Tag in Gesellschaft. Wann bin ich denn einmal allein  ? Dazu meine Thätigkeit in den Vereinen, denen ich verpflichtet bin (…) So geht jede Stunde am Tage darauf.«615 Die ausgedehnten sozialen Kreise Virchows brachten es mit sich, dass zahlreiche Besucher auch zu ihm nach Hause kamen, darunter häufig Gäste aus dem Ausland. Jedoch blieben die Formen dieser häuslichen Geselligkeit betont schlicht  : In der Regel bedeutete eine Einladung, dass man von »Herrn und Frau Virchow zu einem einfachen Essen am Sonntag Mittag ›zu einem Löffel Suppe‹ eingeladen wurde«. Zu geselliger Konversation fehlten dagegen ihm die Zeit und Muße und ihr die sozialen Ambitionen und Kompetenzen. Gastlichkeiten größeren Umfangs wurden – abgesehen von einigen Hausbällen für die erwachsenen Töchter der Virchows – vermieden.616 Umgekehrt fand sich Virchow als Gast vor allem in Kreisen des Berliner medizinischen Establishments, das sich beispielsweise im Haus Hans Traubes versammelte.617 Dies überschnitt sich zum Teil mit dem liberalen bürgerlichen Honoratiorentum, das einen weiteren Schwerpunkt seiner Geselligkeitskreise bildete. Dazu gehörte etwa Werner von Siemens, einer der wenigen Duz-Freunde Virchows. Die Beziehung der beiden bildet ein weiteres Beispiel dafür, wie sich Wissenschaft, Politik und Privatleben verknüpften. So teilten sie wenigstens zeitweise politische Ambitionen, Freunde wie den Leiter der Meeresbiologischen Forschungsstation in Neapel Anton Dohrn, und zudem wurde Virchow bei schwerwiegenden Erkrankungen in der Familie als Hausarzt konsultiert.618 Solche nahtlosen Übergänge lassen sich auch an Virchows Zugehörigkeit zu dem liberalen Freundeskreis um den Zeitungsverleger Rudolf Mosse zeigen. Anton von Werner portraitierte diesen 1899 in einem Wandbild, das außer Virchow auch weitere Linksliberale wie Albert Traeger, Albert Hänel sowie Heinrich Rickert im Kreise der Familie Mosse im Ambiente der republikanischen Niederlande des 17. Jahrhunderts darstellte.619 Der Kontakt zu Mosse war insbesondere auch wichtig für die Bemühungen Virchows, Mäzene für wissenschaftliche und soziale Aktivitäten zu gewinnen. So spendete Rudolf

615 Lee, Virchow zu Hause. 616 Rabl, Meine Mutter Rose Virchow, S. 291. 617 Siehe dazu etwa die Schilderung bei Waldeyer-Hartz, Lebenserinnerungen, S. 134. 618 Siehe etwa Werner von Siemens an Virchow, 16.8.1878, 3.11. u. 9.11.1880  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2023  ; sowie Anton Dohrn und Rudolf Virchow. Briefwechsel 1864–1902, bearbeitet, herausgegeben u. mit einer wissenschaftshistorischen Einleitung von Christiane Groeben u. Klaus Wenig, Berlin 1992. 619 Siehe dazu Elisabeth Kraus, Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 476 ff.

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Mosse, im Kaiserreich einer der drei größten Steuerzahler Berlins,620 wenigstens 30.000 Mark für das 1890 aufgrund privater Initiative gegründete Kaiser-und-Kaiserin-Friedrich-Kinderkrankenhaus in Berlin, in dessen Vorstandskomitee Virchow Vorsitzender und Mosse Schriftführer waren.621 Aber auch für Forschungsexpeditionen kam der von Virchow zu seinen »Geld-Hintermännern« gezählte Rudolf Mosse Virchows Bitten mit beachtlichen Beiträgen nach und spendete etwa 1894 1000 Mark für die von Felix von Luschan geleiteten Sendjirli-Ausgrabungen.622 Informelle Geselligkeiten, vor allem in Gestalt von Abendgesellschaften und gegenseitigen Besuchen, bei denen auch die Familien einbezogen wurden, überschnitten sich mit solchen mehr formeller Natur. Wesentlich waren in diesem Zusammenhang Virchows zahlreiche und zeitraubende Mitgliedschaften in Vereinen und Gesellschaften. An Virchow lässt sich in besonderem Maße zeigen, wie sehr die öffentliche Existenz eines Wissenschaftlers im 19.  Jahrhundert an Vereinsmitgliedschaften gebunden war. Dabei war er, wie er gegenüber entsprechenden Verdächtigungen ausdrücklich hervorhob, niemals Freimaurer oder Mitglied irgendeiner geheimen Gesellschaft.623 In der Regel beanspruchten die Vereine wenigstens einen Abend im Monat, was sich bei der Vielzahl seiner Vereinsmitgliedschaften leicht zu einem hohen Zeitaufwand summierte. Im Anschluss an die nach Vereinsrecht reglementierten Sitzungen, in denen Virchow vielfach das Amt des Vorsitzenden ausübte, folgte meist noch ein »geselliger Teil«, an dem Virchow gleichfalls teilzunehmen pflegte. Allein auf die Liste seiner wissenschaftlichen Vereinsmitgliedschaften stehen unter anderem die Berliner medicinische Gesellschaft und die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, die Berliner Gesellschaft für Erdkunde, der Verein für Volkskunde624 sowie überregionale Vereini-

620 Ebenda, S. 459. 621 Maximilian von Forckenbeck an Virchow, o. Dat. (ca. 1890)  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 632. Zur Stiftungs-, Spenden- und Mäzenatentätigkeit der Familie Mosse siehe Kraus, Die Familie Mosse, S.  400–452. Zur Rolle des Mäzenatentums vgl. auch Jürgen Kocka/Manuel Frey (Hg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, Berlin 1998  ; Manuel Frey, Macht und Moral des Schenkens. Staat und bürgerliche Mäzene vom späten 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Berlin 1999. 622 Der Fall ist in der Korrespondenz gut dokumentiert. Siehe Rudolf Mosse an Virchow, Berlin 5.3.1894  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1485  ; Virchow an Luschan, 15.3., 1.5. (dort Zitat) u. 25.5.1894  : StBB-PK, Nl Felix von Luschan, Rudolf Virchow  ; sowie Schöne (General-Direktor der Königlichen Museen) an Virchow, 2.5.1894  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1938. 623 SBPAH, 27. Sitzung am 8.2.1872, S. 681. 624 Siehe dazu Goschler, Wissenschaftliche »Vereinsmenschen«  ; sowie Rüdiger vom Bruch, Die Stadt als Stätte der Begegnung. Gelehrte Geselligkeit im Berlin des 19. und 20. Jahrhunderts, in  : Horst Kant (Hg.), Fixpunkte. Wissenschaft in der Stadt und der Region. Festschrift für Hubert Laitko anlässlich seines 60. Geburtstages, Berlin 1996, S.  1–29  ; ders., Gelehrtes und geselliges Berlin. Urban-elitäre Zirkel als kommunikative Schnittpunkte für Akademiemitglieder und Universitätsprofessoren, in  : Kocka (Hg.), Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, S. 85–100.

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Abb. 6  »Das Gastmahl der Familie Mosse«. Wandbild im Speisesaal der Villa Mosse am Leipziger Platz von Anton von Werner (1899). In der Mitte mit erhobenem Pokal steht der Abgeordnete der Freisinnigen Vereinigung Albert Traeger, an der Längsseite der Tafel, mit Blick zum Betrachter und weißer Halskrause, der Abgeordnete der Fortschrittspartei Albert Hänel, in der Mitte sitzt Rudolf Virchow, der einem weiteren Gast einschenkt. Der Auftraggeber des Bildes Rudolf Mosse steht rechts hinter Virchow.

gungen, wie die Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte sowie die Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte. Seit den späten fünfziger Jahren wurde auch das nach der Revolution zerschlagene liberale und demokratische Vereinsnetz in Berlin wieder rekonstruiert. Virchow gehörte zu dem Kreis bürgerlich-liberaler Honoratioren, die dabei eine entscheidende Rolle spielten. Neben seiner Mitarbeit im Vorstand des »Berliner Turnvereins«625 ist dafür vor allem seine Mitwirkung bei der Wiedergründung des 1850 aufgelösten Berliner »Handwerkervereins« wichtig, die 1859 in Zusammenarbeit mit dem »Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen« erfolgte. Die Mitgliedschaft war zwar sozial übergreifend zusammengesetzt, doch während die Handwerker das Gros der Mitgliedschaft stellten, gaben die liberalen Honoratioren den Ton an. Schließlich verloren diese Vereine aber mehr und mehr ihre nichtbürgerliche Mitgliedschaft an die Sozialdemokratie. In der Stadtverordnetenversammlung und später auch in den liberalen Parlamentsfraktionen, aber auch in zahlreichen Berliner Vereinen traf Virchow somit immer wieder mit demselben Kreis von Männern zusammen, die den Kern des Berliner liberalen Honoratiorenmilieus darstellten. Die Übergänge von politischen beziehungsweise halbpoli625 Siehe BrLHA, Rep. 30 Bln C Polizeipräsidium Berlin, Nr. 13705  ; ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2696  ; vgl. dazu auch Protokoll der 18. Polizeikonferenz, S. 604 f.

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tischen zu geselligen und wissenschaftlichen Vereinen bis hin zu informeller Geselligkeit waren damit vor allem durch die Homogenität der bürgerlich-liberalen Honoratiorenschicht fließend. Während zumal in den sechziger Jahren Bemühungen zur Integration unterbürgerlicher Schichten – unter bürgerlicher Führung – eine gewisse Rolle gespielt hatten, blieb die bürgerliche Honoratiorenschicht gleichwohl in den meisten Vereinen unter sich. Als ein Beispiel für dieses weitgehend liberal geprägte Berliner Honoratiorennetzwerk kann das von Virchow selbst initiierte Komitee zur Errichtung eines Denkmals für Alexander von Humboldt gelten, das seine Tätigkeit 1869 aufnahm.626 Als treibende Kräfte des geschäftsführenden Ausschusses fungierten dort neben dem als 1.  Schriftführer amtierenden Virchow der zum Vorsitzenden gewählte Physiologe Emil du BoisReymond sowie der Bankier Alexander Mendelssohn, einst ein enger Freund und Mäzen Alexander von Humboldts und nun Schatzmeister des Denkmalskomitees.627 Weitere Mitglieder des Ausschusses waren Adelbert Delbrück, Werner von Siemens, der Archäologe und Prinzenerzieher des späteren Kaisers Friedrich  III. Ernst Curtius, der Leiter der Berliner Sternwarte Wilhelm Förster sowie der Buchhändler und Verleger Virchows Georg Ernst Reimer. Lässt sich dieses Gremium sozial als Verbindung von städtischem Bildungs- und Besitzbürgertum (bei eindeutigem Übergewicht des ersteren) mit einem auffällig hohen Anteil an Vertretern der modernen naturwissenschaftlich-technischen Richtung charakterisieren, so dominierte politisch in dieser Runde der Liberalismus in seinen verschiedenen Spielarten. Als der Ausschuss in den siebziger Jahren erweitert wurde, verstärkte dies noch seine liberale politische Ausrichtung, denn hinzu kamen nun weitere Exponenten der ›liberalen Reform‹ in Berlin wie der Stadtverordnetenvorsteher Heinrich Eduard Kochhann und der im Bereich der Stadthygiene engagierte Arzt Wolfgang Strassmann, ein Parteigenosse Virchows im Preußischen Abgeordnetenhaus. Auf der Grundlage des dichten, durch viele personelle Überschneidungen verknüpften sozialen Netzwerks, das sich durch diese Vereine konstituierte, konnte sich neben dem Typus des dauerhaften Vereins, der für gewöhnlich über Jahrzehnte hinweg existierte, ein zweiter, mehr flüchtiger Typus ausbilden. Solche Ad-hoc-Vereinigungen wurden im Hinblick auf eine bestimmte Aufgabe und damit von vornherein mit begrenzter Lebensdauer gegründet. Dazu gehörten Denkmalskomitees, wie das für Alexander von Humboldt, Hermann Schulze-Delitzsch, Benedikt Waldeck und Hermann von Helmholtz, in denen Virchow wiederum eine wichtige Rolle spielte. Ein anderes Beispiel bildete der von 1863 bis 1865 existierende »Verein zur Wahrung der verfassungsmäßigen Pressfreiheit in Preußen«, der das ganze Spektrum des Liberalismus zu dieser Zeit repräsentierte. Dabei diente das durch Vereine stabilisierte gesellschaftliche Netzwerk als Rekrutierungsbasis für solche oft kurzfristig zusammengekommene Gründungen. 626 Siehe dazu ausführlich Goschler, Die ›Verwandlung‹, S. 75 ff. 627 NDB, Bd. 17, Berlin 1994, S. 45, 50, Die Mendelssohns in Berlin. Eine Familie und ihre Stadt, Berlin 1983, S. 217–227.

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Dies traf auch für einige weitere Vereinsgründungen zu, deren unmittelbaren Anlass der deutsche Bürgerkrieg von 1866 gebildet hatte. Virchow gehörte dem Vorstand des »Berliner Hülfsvereins für die Armee im Felde« an. Seine Gründung in diesem Jahr reagierte, wie er später schrieb, auf »die Unterordnung der gesammten freiwilligen Krankenpflege unter Organe des Johanniterordens«. Deshalb gründete eine »grössere Anzahl von Männern aller Parteien« diesen Verein, um auch die Unterstützung solcher Kreise zu gewinnen, die der »Bevormundung durch die Aristokratie widerstrebten«628. Auch hier fanden sich im Vorstand wieder viele Namen vor allem des liberalen Spektrums, darunter Delbrück, Kochhann, Siemens, Karl Twesten und Hans Victor von Unruh.629 Und als dieser Verein 1870 während des Krieges mit Frankreich einen Sanitätszug an die Front schickte, fungierte dort Eugen Richter, der spätere Vorsitzende der Fortschrittspartei, als Materialverwalter.630 Ähnliche Verflechtungen hatten auch in dem anlässlich des Krieges gegen Österreich 1866 gegründeten »Komitee zur Gründung von Berliner Volksküchen« geherrscht, wo Virchow gemeinsam mit Twesten, Franz Duncker, Adolf Lette, Kochhann und anderen gleichfalls zu den Unterstützern gehörte.631 Mit dieser Unterstützung der preußischen Kriegsanstrengungen konnten Liberale so gleichzeitig an der Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft mitwirken und ihren Patriotismus unter Beweis stellen. Bürgerliche Philanthropie, die neben der Selbsthilfe durch Assoziationen einen wichtigen Bestandteil des liberalen Konzepts von Sozialreform bildete, war in Berlin seit den 1860er Jahren eng mit dem sozialen Netzwerk verbunden, in dem sich Virchow bewegte. Letzteres besaß seinen Höhepunkt in den sechziger und siebziger Jahren, wovon auch seine Beteiligung an der Gründung des »Berliner Asylvereins« 1868, des mit Fragen der verbesserten Volksernährung befassten »Deutschen Fischereivereins« 1870 sowie der »Gesellschaft für die Verbreitung von Volksbildung« 1871632 zeugen, in denen sich häufig die liberale Elite in den Führungspositionen traf. Jedoch blieb der übergreifende Gedanke, durch bürgerliche Selbsttätigkeit soziale Reformen ohne staatliche Mitwirkung zumindest zu initiieren, auch später wichtig. Davon zeugt etwa der Mitte der achtziger Jahre gegründete »Verein zur Gründung eines Kinderhospitals«, auf dessen Initiative hin 628 Rudolf Virchow, Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 2, Berlin 1879, S. 106 f.; vgl. dazu auch Hans Victor von Unruh, Erinnerungen, Stuttgart u. Leipzig 1885, S. 299 f. u. 305  ; sowie ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2614–2639. 629 Instruction für die Krankenwärter des Reserve-Lazaretts des Berliner Hülfsvereins für die Armee im Felde, Berlin 1866, in  : Virchow, Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd.  2, S. 131–142, hier  : S. 133. 630 Rudolf Virchow, Der erste Sanitätszug des Berliner Hülfsvereins für die deutschen Armeen im Felde. (Bericht an den Vereins-Vorstand, Berlin 1870), in  : ebenda, S. 146–166, hier  : S. 166. 631 Siehe Berliner Zeitung, Nr. 129 vom 6.6.1891, »Zur Jubelfeier der Berliner Volksküchen«  ; sowie Vossische Zeitung, Nr. 258 vom 6.6.1891. 632 Siehe Berliner Tageblatt, Nr. 283 vom 6.6.1896, 2. Beiblatt, »25 Jahre im Dienste der Volksbildung«.

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1890 in Berlin das Kaiser-und-Kaiserin-Friedrich-Krankenhaus eröffnet wurde. Dessen Errichtung und Betrieb beruhten ursprünglich gänzlich auf privater Philanthropie, bis schließlich die steigenden Kosten ein immer größeres finanzielles Engagement der Stadt Berlin erforderlich machten. Geselligkeit und der Gedanke der Selbstorganisation von Gesellschaft blieben stets funktional aufeinander bezogen.633 Es gehörte zu den Eigenarten der deutschen Verhältnisse, dass sich zwar ein außerordentlich intensives Vereinsleben entwickelte, zugleich aber kaum Clubs im angelsächsischen Sinne existierten.634 Insgesamt überwog in Berlin die formalisierte, organisierte Geselligkeit gegenüber der scheinbar zwangloseren Geselligkeit mit ihren subtileren gesellschaftlichen Zwängen, wie sie von Clubs verkörpert werden.635 Weder Anwesenheit noch Ablauf waren dort reglementiert, der Hauptzweck bestand in der zwanglosen Mischung sozialer Kreise, wobei die sorgfältige Vorauswahl der Mitglieder ein wesentliches Erfolgsrezept darstellte. In Berlin waren jedoch verschiedene, in der Zeit vor 1880 unternommene Anläufe zur Gründung eines derartigen Clubs an mangelndem Zuspruch gescheitert. Der dänische Literaturkritiker und Schriftsteller Georg Brandes erklärte 1881 den Misserfolg von Versuchen, in der ironisch als »Weltstadt Berlin« titulierten preußischen Metropole derartige Clubs einzurichten, als ein spezifisch lokales Phänomen  : Der Grund für den mangelnden Zuspruch solcher Einrichtungen lag seiner Ansicht nach darin, »dass das gesellschaftliche Leben in Berlin seine wesentliche Anziehungskraft dem weiblichen Geschlecht verdankt, so dass man nur ungern einen Abend pro Woche vertut, den man ausschließlich unter Männern zubringen muss«636. Freiherr von Reibnitz führte den Mangel an Clubs in Berlin dagegen später eher auf materielle Gründe zurück  : Deutschland könne sich die »gesellschaftliche Schicht der Klubleute (…) noch nicht leisten«. Während man die entsprechende Gruppe in London zu Tausenden zählen könne, handelte es sich in Berlin nur um Dutzende.637 So entstanden die ersten Clubs im kaiserzeitlichen Berlin schließlich auch im Adels- und Millionärsmilieu,638 während vor allem für Schriftsteller die Kosten für die angemessene Ausstattung eines Clublokals zu hoch waren. Eine Ausnahme bildete der 1880 gegründete »Literarische Club«, der sich dem Ehrgeiz der Berliner Jeunesse dorée der Gründerzeit, die »ganz versessen auf den persönli633 Siehe dazu die Unterlagen in GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII B Kultusministerium, Nr. 1772, Bl. 204–230. Vgl. dazu auch Kocka/Frey (Hg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum  ; Frey, Macht und Moral des Schenkens. 634 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Erster Band  : Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1993, S. 169. 635 Vgl. auch Otto Dann, demzufolge Geselligkeit im europäischen Vergleich mit verschiedenen nationalen Mustern des kommunikativen Handelns verbunden sei. Otto Dann, Conclusion. Sociabilité und Vereinsbildung, in  : Sociabilité et societé bourgeoise, S. 313–316. 636 Brandes, Weltstadt Berlin, 2.6.1881, in  : ders., Berlin als deutsche Reichshauptstadt, S. 435. 637 Kurt von Reibnitz, Gestalten rings um Hindenburg. Führende Köpfe der Republik und die Berliner Gesellschaft von heute, Dresden 1928, S. 131. 638 Reif, Hauptstadtentwicklung und Elitenbildung, S. 689 f.

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chen Umgang mit Berühmtheiten aus Literatur und Politik« war, verdankte. Einige reiche Jungkaufleute steuerten die Mittel dazu bei, um in der Berliner Innenstadt ein elegantes Etablissement einzurichten. Virchow gehörte zu den etwa 60 »der angesehensten Autoren, Kaufleute, Politiker, Schauspieler usw.«, die zunächst zu diesem Club eingeladen wurden, dessen Hauptinitiatoren der Schriftsteller Friedrich Spielhagen und der linksliberale Reichstags- und Landtagsabgeordnete Albert Hänel waren.639 Unter den 208 selbstverständlich durchweg männlichen Mitgliedern einer erhaltenen  – undatierten  – Mitgliederliste fanden sich 17 Kaufmänner, ebenso viele Rechtsanwälte und Juristen, 22 Bankiers und Bankdirektoren sowie sechs Fabrikanten. Dem standen 20 Schriftsteller, 20 Maler, Musiker und Komponisten sowie fünf Schauspieler gegenüber. Neben den beiden Verlegern Rudolf Mosse (Berliner Tageblatt) und Ferdinand Salomon (Nationalzeitung) waren auch 19 Journalisten und Chefredakteure vertreten. Die Berliner Universität war außer durch Virchow nur durch vier weitere Mitglieder repräsentiert. Demgegenüber fanden sich immerhin 15 Landtags- und Reichstagsabgeordnete unter den Clubmitgliedern, darunter neben einer Reihe wichtiger liberaler Politiker auch der Zentrumsführer Ludwig Windthorst.640 Im »Literarischen Club« war nicht nur die Universität sehr schwach vertreten, sondern auch höhere Staatsbeamte fehlten fast völlig. Damit bildete er ein alternatives Modell zu Vereinigungen wie der Berliner »Mittwochs-Gesellschaft« oder dem »Montags-Klub«, in denen versucht wurde, den personellen Zusammenhang der Fakultäten zu wahren beziehungsweise die Verbindung der Universität mit hohen Staatsbeamten herzustellen.641 Diese Form der Soziabilität, an der Virchow nicht teilhatte, beruhte auf einem Modell der Einheit der »Bildungsgemeinschaft« von Universität und staatlicher Exekutive und verband damit Ideale der neuhumanistischen Bildung mit einem etatistischen Ansatz. Der »Literarische Club« stand dagegen für den Versuch, Eliten aus Wirtschaft, Kultur, Medien sowie den im Kaiserreich immer noch staatsfernen Parteien zusammenzuführen. So verkörperte dieser in höherem Maße das Prinzip der Selbstorganisation von Gesellschaft. Insgesamt war dem »Literarischen Club« aber anscheinend nicht der erhoffte Erfolg beschieden, wie Georg Brandes bemerkte  : »Das Clubleben liegt den Berlinern eben nicht so sehr wie den Londonern.«642 Im Hinblick auf Virchow selbst lässt sich mit gutem Grund vermuten, dass ihm der durch Statuten disziplinierte Ablauf von Vereinssit-

639 Brandes, Weltstadt Berlin, S. 435. 640 Mitgliederverzeichnis des »Literarischen Clubs«  : ABBAW, Nl Virchow, Nr.  2743. Bei einigen Personen überschneidet sich dabei die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kategorien. 641 Vgl. dazu Waldeyer-Hartz, Lebenserinnerungen, S. 272–275  ; vom Bruch, Stadt als Stätte der Begegnung, S. 14 u. 31  ; ders., Gelehrtes und geselliges Berlin, S. 94 ff.; Gerhard Besier (Hg.), Die Mittwochs-Gesellschaft im Kaiserreich. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1863–1918, Berlin 1990  ; Reinhold Sydow, Der Montagsclub in Berlin 1899 bis 1924. Neudruck und Fortsetzung bis 1935, Berlin 1936. 642 Brandes, Weltstadt Berlin, S. 435.

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zungen näher lag als die entspannte Zigarre im Clubsessel. Formen der Soziabilität sind eng verbunden mit Wertorientierungen und Lebenszielen, um die es im Folgenden geht. 2.3.4 Wertorientierungen und Lebensziele Zeitkultur  : Der Rastlose

Ein immer wiederkehrendes Element der öffentlichen Wahrnehmung Virchows war seine anscheinend jedes menschliche Maß sprengende Aktivität, die er auf den unterschiedlichsten Feldern gleichzeitig entwickelte. Erwin Ackerknecht sah »etwas Un- oder Übermenschliches in dieser Dynamik, dieser unermüdlichen Energie, dieser unaufhörlichen Arbeit« und registrierte in dieser »unaufhörliche(n) Bewegung«, die Virchows Leben erfüllte, »einen fast dämonischen Charakter«643. Auch Virchows Zeitgenossen waren immer wieder erstaunt. William Osler, der Anfang der 1870er Jahre bei Virchow studiert hatte, erinnerte sich etwa an einen Tag, an dem dieser nacheinander die Vormittagsvorlesung und -demonstration am Pathologischen Institut, einen ausführlichen Vortrag in der Berliner Stadtverordnetenversammlung über den Ausbau der Kanalisation sowie schließlich eine Rede in der Haushaltsdebatte des Preußischen Abgeordnetenhauses gehalten habe.644 Das Neue Wiener Tageblatt zählte Virchow zu den Menschen, welche das Talent einer unbegreiflichen Zeitausnützung haben. Man begegnet ihnen sozusagen an jedem Orte und bei jedem wichtigen Anlasse des öffentlichen Lebens  ; man sieht sie in unermüdlicher Bewegung, unaufhörlich thätig, an der Spitze aller nützlichen Bestrebungen, hundertfältige persönliche Verbindungen pflegend und dies alles doch nur in den Mußestunden, welche sich solche Talente noch neben ihrer eigentlichen Aufgabe, der intensiven wissenschaftlichen Forschung, zu gönnen vermögen.645

Ebenso legendär war allerdings auch seine Gewohnheit, bei Vorlesungen und anderen akademischen Veranstaltungen mit großer Verspätung zu erscheinen.646 Auch sonst verursachte seine aus der Überlastung mit Aufgaben resultierende Unzuverlässigkeit Verstimmungen. Theodor Mommsen rügte Virchow bereits ein Jahr nach seiner Ernennung zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften dafür, dass er kaum an den Sitzungen teilnahm und schlug ihm den Austritt vor, was dieser entrüstet zurückwies  : »Als die Akademie mich wählte, ohne dass ich jemals die mindeste Andeutung eines dahingerichteten Wunsches zu erkennen gegeben hatte«  – was allerdings nicht ganz den Tat643 Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 27. 644 William Osler, Rudolf Virchow. The Man and the Student. Remarks made at the Virchow Celebration, John Hopkins University, Baltimore, October 13, 1891, Baltimore 1891, S. 8. 645 Neues Wiener Tageblatt, Nr. 44 vom 14.2.1895. 646 Kastan, Berlin wie es war, S. 157 f.; Die Post, Nr. 158 vom 13.6.1890, »Geheimrath Virchow«.

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Abb. 7  Virchows Schreibtisch im Pathologischen Institut der Charité.

sachen entsprach  –, »wusste jedes Mitglied, dass ich vielfache Verpflichtungen schon längst übernommen hatte.« Niemand hätte glauben können, er würde, selbst wenn er es gewollt hätte, sich »plötzlich freimachen u. damit die Erreichung der Frucht jahrelanger Arbeit sofort aufgeben«. Zwar wolle er den Kreis seiner nach anderer Seite bestehenden Verpflichtungen einengen. »Aber gerade Sie«, appellierte er an Mommsen, »können auch wissen, wie schwer es für einen Mann des öffentlichen Lebens ist, solche Absichten auszuführen.«647 Damit stellt sich die Frage, wie Virchow seine verschiedenartigen Tätigkeiten in seinem Tagesablauf verband und wie er mit den daraus resultierenden Zeitkonflikten umging. Welche Zeitkultur lag also seiner geradezu sagenhaften ›Rastlosigkeit‹ zugrunde  ?648 Diese Fragen sind nicht nur im Hinblick auf sein wissenschaftliches Arbeitsethos, sondern auch für die für die Honoratiorenpolitik im 19. Jahrhundert zentrale Frage der »Abkömmlichkeit«649 wichtig. 647 Virchow an Theodor Mommsen, 7.12.1874, Druck  : Andree, Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 351 f.; Siehe auch Mommsen an Virchow, 8.12.1874, Druck  : Briefe an Rudolf Virchow. Zum hundertsten Geburtstage. Für die Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin herausgegeben, Berlin 1921, S. 33 f. 648 Zur Zeitkultur im 19. Jahrhundert vgl. auch Martina Kessel, »Der Ehrgeiz setzte mir heute wieder zu …«  ; sowie dies., Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2000. 649 Max Weber, Politik als Beruf, in  : ders., Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919, hrsg. v.

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Virchows Tagesablauf und Zeiteinteilung standen in seiner über 50-jährigen Zeit als Hochschullehrer völlig im Zeichen der Arbeit. Angeblich benötigte er nur fünf Stunden Schlaf,650 andere Schilderungen sagten ihm allerdings zumindest in späteren Jahren einen Hang zum Langschlafen nach.651 Im Mittelpunkt stand den Großteil seines Lebens die Tätigkeit in seinem Berliner Pathologischen Institut, wohin er für gewöhnlich morgens um sieben aufbrach, um dort auch sein Frühstück einzunehmen. Morgens von acht bis zehn Uhr hielt er Kurse, von zehn bis elf Uhr unternahm er Krankenvisiten, von elf bis zwölf Uhr hielt er Vorlesungen und um zwölf Uhr veranstaltete er Leichensektionen. Daneben fertigte er Präparate an, hielt Examen ab, nahm an Sitzungen der medizinischen Fakultät teil und widmete sich seinen Forschungen.652 Gegen vier oder fünf Uhr nachmittags kehrte er nach Hause zurück, wo er mit seiner Familie ein spätes Mittagessen einnahm  ; im Sommer ging er anschließend einige Minuten mit seinem Pudel in den Garten hinter seinem Haus.653 Zu dem genannten Arbeitspensum kam schließlich seine Tätigkeit in wissenschaftlichen und politischen Vereinen und Parteien, als wissenschaftlicher Gutachter, die Redaktion der von ihm herausgegebenen wissenschaftlichen Zeitschriften, und überdies hielt er einige Jahr lang auch noch abends Kurse für praktische Ärzte. Seit Ende der fünfziger Jahre trat eine immer größere zeitliche Belastung durch seine politische Tätigkeit hinzu. Dazu gehörten über Jahrzehnte hinweg Plenar-, Ausschuss- und Parteisitzungen in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, im Preußischen Abgeordnetenhaus und zwölf Jahre lang auch im Reichstag. Auch die vorlesungsfreien Zeiten von März bis April und von August bis Oktober, in denen er meist auf privaten und wissenschaftlichen Reisen unterwegs war, brachten nur geringe Entlastung. So war er oftmals den größten Teil der Woche lediglich eine halbe bis eineinhalb Stunden zu Hause.654 Einen Eindruck von Virchows zeitlichen Nöten gibt die Begründung, mit der er 1862 wieder einmal den Plan verschob, während der Semesterferien Theodor Goldstücker in London zu besuchen – der Besuch kam schließlich nie zustande. Wie Virchow aufzählte, hatte erst im Oktober die Session des Preußischen Abgeordnetenhauses voller Plenar-, Ausschuss- und Parteisitzungen geendet. Zudem musste er nun wegen anstehender Neuwahlen seinen saarländischen Wahlkreis besuchen. Zuvor hatte er noch eine große Masse von Akten der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen aufgearbeitet. Nach seiner Rückkehr von der Reise fand er »die Angelegenheiten unserer Wolfgang J. Mommsen u. Wolfgang Schluchter in Zusammenarb. m. Birgitt Morgenbrod (Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I  : Schriften und Reden, Bd. 17), Tübingen 1992, S. 157–252, hier  : S. 170. 650 Kastan, Berlin wie es war, S. 157. 651 Bernhard Naunyn, Erinnerungen, Gedanken und Meinungen, München 1925, S. 538. 652 Virchow an Kölliker, 25.10.1857  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1122, Bl. 83  ; siehe auch R. Virchow an Carl Virchow, 16.1.1857, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 769. 653 Rabl, Meine Mutter Rose Virchow, S. 291. 654 R. Virchow an Carl Virchow, 28.2.1858, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 807.

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Stadtverordneten-Versammlung so in Verwirrung«, dass er drei Tage lang fast nur Stadtverordneter gewesen sei. »Nun steht wieder das Semester vor der Tür u. ich muss Montag in das Geschirr.« Virchow fügte jedoch beruhigend hinzu, dass es sich »mehr um Zeit, als um Kräfte handelt. Die Session ist mir körperlich sehr gut bekommen, ja ich hatte ein geringeres Bedürfnis nach Erholung als nach einem gewöhnlichen Semester.« Morgens von sieben bis zehn Uhr habe er seine Vorlesungen gehalten und sich »hinterher nicht weiter um Professur u. Amt« gekümmert, während er »sonst regelmäßig bis 3 oder 4 Uhr in wirklich angestrengter Thätigkeit« sei. Die fast täglichen Abendsitzungen hätten ihn von den anderen Sitzungen dispensiert, die auch fast täglich stattfanden, und so sei, alles zusammengerechnet, »die Summe meiner Arbeitszeit ziemlich gleich, nur anders u. zwar weniger anstrengend vertheilt« gewesen. Angesichts der Folgen der wissenschaftlichen und politischen Doppelbelastung kam Virchow immer wieder zu dem Schluss, dass sich diese beiden Bereiche auf die Dauer nicht vereinbaren ließen,655 doch zog er niemals die oft erwogene Konsequenz, seine politische Tätigkeit aufzugeben. In seiner Studentenzeit hatte Virchow wenigstens während der Ferien noch über freie Zeit verfügt, und als junger Assistenzarzt machte er »ganz gern einmal eine Partie Whist oder eine Partie l’Hombre mit (…). Das ist aber überstanden«, bekannte er 1891 in einem Interview, »und kühl bis ans Herz hinan sehe ich heute dem schönsten Grandissimo oder Nullissimo zu.« Zu anderen Dingen als für die Arbeit habe er einfach keine Zeit.656 In seiner Zeitkultur war Müßiggang somit nicht vorgesehen. Als er beispielsweise im Herbst 1849 seine Eltern in seiner Heimatstadt Schivelbein besuchte, empörte er sich, die Leute dort hätten so viel Zeit, dass es ihnen gar nicht darauf ankomme, ob sie ein, zwei oder drei Stunden warten müssten, nur um sich mit ihm zu unterhalten.657 Diese Konfrontation mit einer vorindustriellen Zeitkultur provozierte sein verinnerlichtes Ideal der rastlosen Tätigkeit. Zugleich beklagte er aber ständig seinen Zeitmangel.658 Und obwohl er gelegentlich die Entlastung von Tätigkeiten suchte und so etwa 1873 die Leitung der Abteilung für kranke Gefangene an der Charité abgegeben hatte, klagte er später gelegentlich auch darüber, dass er nicht nur an der Grenze der Leistungsfähigkeit angelangt sei, sondern die Ansprüche an seine Tätigkeit seine Zeit und seine Kräfte überstiegen hätten.659 Die zeitliche Belastung änderte sich auch in seinen späteren Jahren nicht, und 1893 antwortete der im 72. Lebensjahr stehende Virchow einem Journalisten in London auf die Frage, ob er sich in seinem hohen Alter mehr Ruhe gönne  : »Bevor ich auf 14 Tage nach England gehen konnte, hatte ich eine Woche lang täglich bis 5 Uhr morgens 655 Virchow an Goldstücker, 31.10.1862  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 656 Lee, Virchow zu Hause. 657 Virchow an Goldstücker, 24.10.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 658 Siehe etwa die Briefe Virchows an Wilhelm His  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2429  ; an v. Wittich  : ABBAW, Nr. 2445  ; an Theodor Goldstücker  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 659 Virchow an Frantzius, 31.8.1876  : StBB-PK, Slg. Darmstädter, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 102–179  : Briefe von Virchow an Alexander von Frantzius, hier  : Bl. 175 f.

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zu arbeiten. (…) Nein, die Arbeit nimmt mit den Jahren zu, sie nimmt zu, indem man älter wird, und meine Zeit ist gegenwärtig mehr in Anspruch genommen als je zuvor.«660 Die mit seiner Arbeitsbelastung verbundene Überanstrengung führte wiederholt zu schweren Erkrankungen, so etwa 1882, als Virchow an einer blutenden Nierenentzündung litt. Trotz aller Bitten seiner Angehörigen nahm er aber auch diesmal »fiebernd und schwach bis zur Ohnmacht« seinen Lehrbetrieb wieder auf, bevor er die Krankheit auskuriert hatte. Zum Erstaunen seiner um seine Gesundheit bangenden Ehefrau führte dies aber auch diesmal dazu, dass es ihm bald wieder besser ging.661 Schliemann wiederholte bei dieser Gelegenheit sein bereits 1879 vorgebrachtes Angebot an Virchow, seine bisherigen Geschäfte aufzugeben und sein Mitarbeiter auf dem Felde der Altertumskunde zu werden »[um] ein Honorar, welches dem Verdienste, den er aus seinen bisherigen Arbeiten bezog, gleich sein«662 sollte, doch lehnte dieser dankend ab  : »Meine hiesige Stellung ist schwer errungen und schwer zu behaupten  ; ich kann sie ohne größte Not nicht aufgeben, ohne zahlreiche Interessen zu gefährden.«663 Als sich der 81-jährige Virchow im Januar 1902 beim Absprung von einer elektrischen Straßenbahn in der Leipziger Straße in Berlin den Oberschenkelhals brach, ging seine Hauptsorge im Frühjahr dahin, zum Wintersemester wieder sein Kolleg aufnehmen zu können, während er zugleich bereits realisierte, dass er sich »dem Ende« näherte.664 Fern davon, dies zum Anlass eines Ruhestandsgesuchs zu nehmen, schrieb er aus der Kur in Kaiserbad an seinen Dienstherrn, Ministerialrat Althoff, dass ihm viel daran gelegen sei, wieder in regelmäßige Arbeit zu treten.665 Virchow starb aber am 5. September, bevor das Wintersemester wieder begonnen hatte. Hier drängt sich ein Vergleich zu Entwicklungen im Ruhestandsverhalten des Bürgertums im 19. Jahrhundert auf. So setzten sich etwa die älteren Generationen der Mannheimer Unternehmerfamilie Bassermann mit 50 Jahren zur Ruhe, während die jüngeren Generationen weiterarbeiteten.666 Allerdings unterschieden sich Professoren insofern nicht nur von Angehörigen des Besitzbürgertums, sondern auch von anderen Beamten, die im 19.  Jahrhundert Schritt für Schritt mit verbesserten Pensionsmöglichkeiten ausgestattet wurden, als sie diese Möglichkeit nicht besaßen. Von daher bestand für diese Berufsgruppe auch ein materieller Zwang weiterzuarbeiten, solange es physisch und psychisch möglich war. Gleichwohl bleibt die 660 Virchow in einem Interview mit der Westminster Gazette, zit. nach Vossische Zeitung, Nr.  140 vom 23.3.1893. 661 Rose Virchow an Heinrich Schliemann, 4.12.1882, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 341. 662 Schliemann an Rose Virchow, 24.11.1882, Druck  : ebenda, S. 340. 663 Virchow an Schliemann, 25.12.1882, Druck  : ebenda, S. 343. 664 Virchow an Werner Körte, 24. u. 27.5.1902  : StBB-PK, Nl Werner Körte, Bl. 4 u. 6. 665 Virchow an Althoff, 25.5.1902  : GStA-PK, I. Ha Rep. 92 Althoff B, Nr. 189, Nl Althoff, Korrespondenz mit Virchow, Bl. 181. 666 Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989.

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Frage, wie die auch im Vergleich zu anderen Kollegen667 ungewöhnliche ›Rastlosigkeit‹ Virchows zu interpretieren ist. Arbeitsethik  : Forschen und Arbeiten

Ein erstes und nicht zu unterschätzendes Motiv für den Stellenwert der Arbeit in Virchows Leben bildete die schiere Notwendigkeit, für den Unterhalt seiner Familie aufzukommen. Dies steht zugleich vor dem Hintergrund des zentralen Stellenwerts der Arbeit für das bürgerliche Selbstverständnis. In Verbindung mit einer auf die Öffentlichkeit und die Gestaltung von Zukunft gerichteten Zeitkultur bildete die außerhäusliche Erwerbsarbeit Grundlage einer für die Familie konstitutiven polaren Geschlechterkonstruktion.668 Die spezielle Form der von Virchow kultivierten ›Rastlosigkeit‹ hatte jedoch darüber hinaus auch mit einem spezifischen Verständnis von wissenschaftlicher Arbeit zu tun. Das Fundament seiner wissenschaftlichen Arbeitsethik war bereits in seiner Schulzeit gelegt worden. So schrieb er 1836 in einem Aufsatz über die Beschaffenheit des wissenschaftlichen Fleißes  : »Jedem lebendem Wesen auf der Erde ist von der Hand der Vorsehung ein mehr oder weniger großes Maaß von Mühe und Arbeit zugetheilt, und auch besonders dem Herrn der Schöpfung, dem Menschen. Keiner verlässt das Leben, ohne vorher Arbeit verrichtet zu haben.«669 Arbeit als eigentliche Aufgabe des Menschen bildete damit den zentralen Kern dieser Auffassung, die in Virchows Schulaufsätzen wieder und wieder befestigt wurde – und sie gipfelte in der wissenschaftlichen Arbeit, die in einer Hierarchie der verschiedenen Formen der Arbeit an der Spitze stand.670 Dieser Tenor prägte auch seinen deutschen Abituraufsatz  : Während dem »Landmann« die körperliche Arbeit zugedacht sei, seien die Gelehrten und die Geschäftsmänner zu geistiger Arbeit verpflichtet, die den einzigen Weg zur sittlichen Vollkommenheit darstelle. Der Gelehrte und der Geschäftsmann als Vertreter der modernen Kultur werden hier zu einer rationalen, arbeitsamen Lebensführung angehalten, die bei Virchow allerdings noch nicht als »Verhängnis«671, sondern als »höchstes Glück des Menschen«672 bezeichnet wird. Seine Arbeitsauffassung war noch tief in jenem moralischen Diskurs 667 Zur zeitlichen Beanspruchung von Berliner Medizinern im 19. Jahrhundert vgl. Rolf Engelsing, Arbeit, Zeit und Werk im literarischen Beruf, Göttingen 1976, S. 401 f. 668 Vgl. Martina Kessel, Individuum/Familie/Gesellschaft  : Neuzeit, in  : Peter Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. 38–53  ; dies., »Der Ehrgeiz setzte mir heute wieder zu …«, S. 134 u. 146. 669 Rudolf Virchow  : Wie ist der wahre, wissenschaftliche Fleiß beschaffen  ? (13.4.1836), Deutsche Ausarbeitungen, Coeslin, 12. März 1836, R. Virchow  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2777. 670 Zum Verhältnis von Bildung und bürgerlicher Leistungsethik vgl. auch Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 1996, S. 221–225. 671 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in  : ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 91988, S. 17–205, hier  : S. 203. 672 Der kleine Virchow, Berlin, o. J. (1901), S. 9.

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über Arbeit verankert, in dem Müßiggang als eigentliche Bedrohung galt und der erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durch das unter dem Einfluss der Arbeitsphysiologie neu entstehende Ideal des »unermüdlichen Körpers« abgelöst wurde.673 In der Generation Virchows wurde die Erschöpfung des eigenen Körpers noch nicht in den Kategorien der Energieerhaltung, sondern der Pflichterfüllung thematisiert. Den Inbegriff des untätigen Lebens bildeten für Virchow die Klöster kontemplativer Orden. Diese Kritik formulierte er am deutlichsten in seinen Attacken auf die mönchische, asketische Lebensführung in einer heimatgeschichtlichen Studie über ein aufgelassenes Kartäuser-Kloster bei Schivelbein, in der (kapitalistische) Arbeitsethik und Protestantismus in engem Zusammenhang standen. Wie er dort schrieb, habe sich dieser 1084 gegründete Orden nie einer großen Verbreitung erfreut, da die rigide Strenge seiner Regel ebenso zurückstiess, als die träge Faulheit, die üppige Genusssucht der meisten übrigen Orden anlockte. Am wenigsten hatte er sich in unseren nördlichen Gegenden verbreitet, wo der praktische Sinn der Bewohner diese einsame und grausame Kasteiung des Fleisches, diese anhaltende Tortur des Geistes schaudernd zurückwies.674

Dort wo »einst träge Mönche in körperlicher Unthätigkeit verkehrte Regeln« geübt hätten, würden »jetzt fleißige Hände das Gartenland« graben. Die geistige Ausbildung dieser Mönche sei die »allerdürftigste« gewesen, »von wissenschaftlicher Beschäftigung nicht die Rede, und ihr ganzes Tagewerk« habe »in geistlichen Übungen und Nichtstun« bestanden. »Wer«, so Virchow, »freut sich daher nicht ob der Reformation, welche endlich diesen faulen Krebsschaden aus dem gesunden Staatsleben entfernte und die toten Schätze weniger Faulenzer in die befruchtenden Kanäle der Volkswirtschaft zurückführte  ?«675 Die mit der Reformation verbundene Aufwertung des profanen Lebens der Laien als »zentraler Ort der Erfüllung von Gottes Absicht«676 wurde von Virchow schließlich auf den Naturwissenschaftler übertragen, der in diesem Modell das Gegenbild des weltabgewandten Mönches darstellte. Denn der Baum der Erkenntnis, von dem die Menschheit gegessen hätte, so brachte er es bei der Eröffnung der Humboldt-Akademie in Breslau 1869 auf den Punkt, sei der Baum der Naturwissenschaft.677 Die Welt außerhalb des Paradieses sei die Welt der Arbeit, d. h. vor allem die fortgesetzte Erkenntnistätigkeit des Naturwissenschaftlers. Dies prägte auch Virchows Haltung zur industriellen Welt und verband sich eng mit einer liberalen Bildungskonzeption. Die infolge des technischen 673 Rabinbach, The Human Motor. 674 Virchow, Das Karthaus vor Schivelbein, S. 11. 675 Ebenda, S. 13 u. 21 f. 676 Taylor, Quellen des Selbst, S. 386 ff. 677 Der Hausfreund für Stadt und Land, Nr. 47, 20.11.1869, »Rede des Professor Dr. Virchow, gehalten bei der Eröffnungsfeier der Volksakademie des Humboldt-Vereins für Volksbildung in Breslau«.

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Fortschritts nun mögliche »Ersetzung der Menschenarbeit durch Maschinenarbeit« sollte nicht etwa zu vermehrter Freizeit führen, sondern in erster Linie »auf dem Gebiet der geistigen Arbeit nutzbar gemacht werden«. Bei der Erörterung der Frage der Arbeitszeitverkürzung, so erklärte er 1871 auf der Naturforscherversammlung in Rostock, käme es nicht selten vor, dass ein intelligenter Arbeiter schon gegenwärtig sagt  : die Ersparung an Zeit, welche der Normalarbeitstag mit sich führt, soll gewidmet werden der geistigen Erziehung, dem Fortschritte in der Wissenschaft, nicht bloß der ›Erhebung‹, sondern dem Fortschritte im Wissen, welches Wissen wiederum verwandt werden soll zu neuer Arbeit, welches Wissen wiederum dienen soll als Ausgang für neue technische und geistige Fortschritte.678

Anwandlungen eines Gefühls der Sinnlosigkeit seiner wissenschaftlichen Arbeit artikulierte Virchow dabei nur in jener als tiefe Krise empfundenen Zeit 1849/50. Ansonsten finden sich bei ihm allenfalls gelegentliche Selbstzweifel am Sinn seiner politischen Arbeit. So beneidete er 1862 während des preußischen Verfassungskonflikts seinen Vater um seine landwirtschaftliche Tätigkeit  : Diese in zyklische Naturprozesse eingebundene Arbeit gewähre an sich bereits einen Lohn, während er oftmals ohne Aussicht auf sichere Erträge seiner Tätigkeit arbeiten müsse.679 In politischen Krisenzeiten trübte damit gelegentlich das Gefühl der individuellen Vergeblichkeit seinen ansonsten recht robusten Fortschrittsglauben. Aber nicht das Ziel, sondern die Tätigkeit an sich sei das Wesentliche, tröstete er sich in solchen erfolglosen Zeiten.680 Arbeit nahm somit in Virchows seelischer Ökonomie den zentralen Platz ein, und dabei diente sie sogar als Rezept zur Bewältigung existentieller Krisen  : Seiner Frau, die um den Tod eines nahestehenden Menschen trauerte, hielt er die Nutzlosigkeit ihrer Trauer vor und riet ihr stattdessen  : »Arbeiten, auch für sich selbst, ist die Aufgabe u. so musst Du dein Leben auch fassen. Jetzt arbeitest Du für deine Gesundheit, dein Wohlsein, u. das wird nachher für Mann, Kinder u. Wirthschaft seine Früchte tragen.«681 Aus »Beten und Arbeiten« war bei Virchow »Forschen und Arbeiten« geworden.682 Ähnlich wie Thomas Carlyles etwa zeitgleich formulierte Sentenz »Arbeiten und nicht verzweifeln«, die im Ersten Weltkrieg zur deutschen Durchhalteparole geronn, wurzelte 678 Rudolf Virchow, Über die Aufgaben der Naturwissenschaft in dem neuen nationalen Leben Deutschlands, in  : Tageblatt der 44. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Rostock 1871, Nr. 5 vom 22.9.1871, S. 73–81, hier  : S. 76. 679 R. Virchow an Carl Virchow, 20.12.1862, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 880. 680 R. Virchow an Rose Virchow, 4.9.1862  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 63. 681 R. Virchow an Rose Virchow, 15.9.1862  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 68. 682 Rudolf Virchow, Undatiertes Vortragskonzept, Druck  : Rudolf Virchow Gesammelte Werke, bearb. von Christian Andree, Bd. 33/2  : Politische Tätigkeit im Preußischen Abgeordnetenhaus 1. Mai 1867 bis 11. Februar 1870, Bern u. a. 1995, Nr. 243 u. 251, S. 763 u. 768.

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dies in einer protestantischen Arbeitsethik. Die in der idealistischen Bildungskonzeption so deutlichen theologisch-mystischen Wurzeln des Bildungsprozesses683 treten damit auch hier deutlich hervor. Auf die Frage nach dem Zweck des Menschen und dem Sinn des Lebens gab Virchow eine Antwort, die die naturwissenschaftliche Arbeit in den Mittelpunkt stellte und die er 1873 im »Glaubensbekenntnis eines modernen Naturforschers« zusammenfasste  : [A]uch wir haben den Glauben, daß es der Menschheit beschieden ist, immer näher zum Lichte, immer näher zur Wahrheit zu dringen  ; darum fordern wir von jedem Naturforscher, nach Kräften hieran mitzuwirken. Wir haben den Glauben, dass die Menschheit berufen ist, diese Entwicklung durchzumachen, und wenn wir nicht sagen können, was das für einen Zweck hat. Für uns ist die Anschauung der Wahrheit das höchste Glück (…) Das Lernen, (…), das Fortschreiten in der Wahrheit ist unser Glück  ; unser höchstes Glück wird es sein, recht viel zu lernen und recht viel Fortschritte zu machen in der Wahrheit.

Die wissenschaftliche Arbeit stand hier zugleich im Gegensatz zum mystischen Weg der Erkenntnis und ging somit erneut mit einer Verurteilung der »ruhige(n) Kontemplation« einher. Der von Virchow unmittelbar mit dem aufklärerischen Fortschrittsglauben gekoppelte Forschungsimperativ der modernen Naturwissenschaft wurde dabei zu einer anthropologischen Bestimmung erhoben, indem er ein Ende des Lernens als etwas »absolut Unverständliches«, ja sogar »absolut Unmenschliches« bezeichnete. Der Naturwissenschaftler wurde so zugleich zum Vorbild der Menschheit, die sich insgesamt an den Gedanken gewöhnen müsse, »dass jedermann fortarbeiten muß. Die Arbeit enthält ja auch zugleich die Sicherheit des Genusses (…) ein Abschluß mit ewiger Ruhe (…) widerstreitet geradewegs jeder Anschauung des Naturforschers«684. Virchows ›Rastlosigkeit‹ macht somit die Auswirkungen der allmählichen Säkularisierung der Arbeitsethik im 19. Jahrhundert deutlich  : Wo es kein Leben nach dem Tod mehr gab, blieb im Rahmen einer ursprünglich noch von einer Auffassung der Arbeit als gottgegebenem Schicksal geprägten Selbstdefinition als einzige Möglichkeit der Sinngebung der Existenz nur noch die Selbstverwirklichung durch Arbeit, und wissenschaftliche Arbeit stellte dabei die höchste Form dar. So endete auch für ihn die Arbeit im wörtlichen Sinne erst mit seinem Tod. Wissenschaftliche Arbeit und die damit verbundene Suche nach »Wahrheit« als religiöse Tätigkeit bildeten damit eine wichtige Alternative zu der sich im Bildungsbürgertum ausbreitenden »Kunstreligion« beziehungsweise zur Politik als Ersatzreligion, für die Virchow keinerlei Anfälligkeit besaß. Umso mehr war er ein Vertreter der Wissenschafts683 Zusammenfassend dazu Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 43. 684 Rudolf Virchow, Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung der Menschheit. Tageblatt der 46. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Wiesbaden vom 18. bis 24. September 1873, S. 203–213, hier  : S. 213.

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religion, und so erklärte er 1865 vor den in Hannover versammelten Naturforschern und Ärzten  : Ich kann wohl behaupten, dass der Charakter der deutschen Wissenschaft viel angenommen hat von jenem wahrhaft sittlichen Ernste, mit dem sich unser Volk jeder Arbeit unterzieht, und der das eigentliche Wesen der religiösen Stimmung ist. Ich scheue mich nicht zu sagen, es ist die Wissenschaft für uns Religion geworden (…).685

Welche religiösen Prägungen waren in diese Auffassung der wissenschaftlichen Arbeit eingegangen  ? Und wie veränderte sich Virchows Verhältnis zur Religion im Verlauf seines Lebens  ? Religiosität  : Die »letzten Dinge«

Wie in Virchows Generation selbstverständlich, hatten Religion und Religionsunterricht in seiner Erziehung einen erheblichen Anteil eingenommen. Virchow war, wie seine überlieferten Schulhefte belegen, durchaus bibelfest.686 Das vertrug sich ohne weiteres mit einem anderen zentralen Element seiner protestantischen Sozialisation, nämlich Antikatholizismus und Papstfeindschaft, die sich in seiner Schulzeit quer durch verschiedene Unterrichtsfächer zogen. Dies paarte sich jedoch schon bald nach seinem Wechsel nach Berlin mit einer ebenso heftigen Abneigung gegen den von Friedrich Wilhelm IV. in Preußen kräftig geförderten Pietismus,687 die schließlich in eine fundamentale Religionskritik mündete. 1841 empfahl er seiner Mutter zwar noch die Religion als Trost und Zuflucht in unlösbaren privaten Konflikten, wobei das Moment der Prädestination eine besondere Rolle spielte. Allerdings lag hier bereits ein funktionales Verständnis von Religion vor  : Diese, so Virchow, würde auch bei ihr »am geeignetsten sein, eine gewisse Zufriedenheit herzustellen, da Du so frühe darauf hingeleitet bist. (…) Das Schicksal lässt sich nicht forciren, und den Platz, auf den man von demselben angewiesen ist, würdig einzunehmen, (…) ist die Pflicht jedes Sterblich-Geborenen.« Indem er hier den früher von ihm gebrauchten Ausdruck »Vorsehung« durch den des »Schicksals« ersetzte,688 deutete sich bereits seine innere Ablösung von einem christlichen Weltbild an. In den 1840er Jahren radikalisierten sich Virchows antireligiöse Gefühle. Hatte er gegenüber seiner Mutter noch die Funktion von Religion als Opium des Volkes und damit deren Trostfunktion hervorgehoben, so wurde ihm Religion nunmehr zum Opium für 685 Rudolf Virchow, Über die nationale Entwickelung und Bedeutung der Naturwissenschaften. Rede gehalten in der zweiten allgemeinen Sitzung der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Hannover am 20. September 1865, Berlin 1865, S. 17 f. 686 Siehe dazu etwa die 12 überlieferten Religionshefte Virchows aus den Jahren 1835–1839  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2778-1. 687 R. Virchow an Carl Virchow, 14.5./3.6.1843, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 219. 688 R. Virchow an Johanna Virchow, 31.8.1841, Druck  : ebenda, S. 145.

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das Volk.689 Katholizismus und Pietismus waren für ihn gleichermaßen Instrumente einer von oben gesteuerten Verdummung der Bevölkerung. So berichtete er seinem Vater 1843 über seine Arbeit auf einer Krankenstation der Charité  : »Traurig aber ist es zu sehen, wie der religiöse Wahn, durch die höchsten Beispiele unterstützt, täglich mehr Opfer liefert, und in numerischer Beziehung nur der Onanie und dem Branntweingenuß weicht.«690 In dieselbe Kerbe schlug eine Schilderung, die er seinem Vater 1848 über seine Oberschlesien-Reise gab  : »Das Elend ist grenzenlos u. man sieht hier recht deutlich, was eine durch die katholische Hierarchie u. preussische Bureaukratie geknechtete Masse werden kann.«691 Seine persönliche Entfernung von religiösen Bindungen kam schließlich auch darin zum Ausdruck, dass er bei der Meldung zur Medicinal-PersonenTabelle für 1849 die dort geforderte Angabe der Religion verweigerte, wobei er sich auf die in der preußischen Verfassung vom 5.  Dezember 1848 gewährte Religionsfreiheit berief.692 Religion war für Virchow somit ganz und gar Privatsache. Dabei vertrat er einen strengen Agnostizismus, der auch keinerlei Sympathie für unter Naturforschern oft als Ersatzreligion dienende pantheistische Vorstellungen hegte.693 »Theistische und pantheistische Märchen« waren ihm lediglich Produkte eines »dichterische[n] Verleimungszustand[es] des Gehirns«, und so hörte gegenüber »allem Transzendentalen und Metaphysischen« sein Interesse buchstäblich auf. Den Maßstab bildete für ihn Kants Kritik an der theologischen Tradition der Gottesbeweise.694 Und so fertigte er einen jungen Arzt, der ihn auf einer nächtlichen Eisenbahnfahrt zu einer Naturforscherversammlung zu seiner Meinung zu religiösen Fragen bedrängte, mit der Antwort ab  : »Denken Sie nie über Dinge nach, zu deren Erforschung das menschliche Gehirn absolut nicht genügend ausgebildet ist.«695 Virchow war von der Vorstellung einer kognitiven Systemkonkurrenz696 geprägt, 689 Owen Chadwick zeigt, dass die Auffassung der Religion als eines Betäubungsmittels, nach älteren Vorläufern unter französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts, in den 1840er Jahren besonders unter Junghegelianern wie Bruno Bauer und Karl Marx populär war. Allerdings spricht die berühmte Formulierung bei Marx, die er 1843 in der in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern erschienenen Schrift »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« gebrauchte, nicht von Opium für das Volk, sondern von Opium des Volkes und betonte damit den Trost- und nicht den Manipulationsaspekt. (Chadwick, The Secularization of the European Mind in the Nineteenth Century, Cambridge u. a. 1975, S. 49.). 690 R. Virchow an Carl Virchow, 30.7.1843, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 226. 691 R. Virchow an Carl Virchow, 24.2.1848, Druck  : ebenda, S. 317. 692 BrLHA, Rep. 30 Bln C Polizeipräsidium Berlin, Nr. 52, Bl. 7. 693 Vgl. dazu Burkhard Gladigow, Pantheismus als ›Religion‹ von Naturwissenschaftlern, in  : Peter Antes/Donate Pahnke (Hg.), Die Religion von Oberschichten, Marburg 1989, S. 219–239. 694 Schleich, Besonnte Vergangenheit, S. 189. 695 Enoch Heinrich Kisch, Erlebtes und Erstrebtes. Erinnerungen, Stuttgart u. Berlin 1914, S. 123. 696 Friedrich H. Tenbruck, Wissenschaft und Religion, in  : Jakobus Wössner (Hg.), Religion im Umbruch. Soziologische Beiträge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft, Stuttgart 1972, S. 217–244, hier v. a. S. 222 ff.

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innerhalb derer die Naturwissenschaft im Verlauf ihrer Geschichte und auch in Zukunft durch kontinuierliches Hinausschieben ihrer Erkenntnisgrenzen die Religion immer weiter zurückdrängte.697 Jedoch endete die Konkurrenz für ihn an der Grenze, an der zugleich die Erkenntnismöglichkeiten der Naturwissenschaften und sein Erkenntnisinteresse aufhörten. Damit blieben zwar bestimmte Fragen innerhalb der Wissenschaft unbeantwortbar. Doch lag es zugleich noch außerhalb seines Horizonts, dass die durch Wissenschaft selbst bewirkten Veränderungen der Welt ihrerseits Fragen produzierten, auf welche diese keine Antworten mehr zu liefern vermochte.698 Als Dimension persönlicher Sinndeutung spielte Religion für Virchow keine Rolle mehr. An die Stelle der mit Liebe und Furcht verbundenen Hochachtung vor Gott war die Nachfolgekategorie der »Achtung vor dem Gesetz«699 getreten, die in seinem Wertehaushalt eine herausragende Rolle spielte. Inwieweit hatte dabei der Schwund an Kirchlichkeit zugleich auch seine religiöse Lebensprägung entmächtigt  ?700 Die Würzburger Jahre, in denen sich Virchow nicht nur als Demokrat, sondern auch als Protestant diskriminiert fühlte,701 trugen dazu bei, die protestantische Färbung seiner agnostischen Haltung als Bestandteil seines Selbstverständnisses zu verstärken, ein Effekt, der sich auch bei seinem damaligen Assistenten Ernst Haeckel gut studieren lässt.702 So intensivierten etwa Wallfahrten und andere katholische religiöse Praktiken das Gefühl kultureller Fremdheit, während zugleich die anfänglich heftigen Intrigen gegen den Protestanten Virchow sowie die großen Schwierigkeiten anderer nicht-katholischer Bewerber auf Würzburger Lehrstühle seine Selbstwahrnehmung als Teil einer unterprivilegierten Minderheit verstärkten.703 In seinen darauf folgenden Berliner Jahren blieb Virchow Kirchenmitglied und gehörte der evangelischen St. Matthäus-Gemeinde an. In seinem Nachlass finden sich überdies Spuren zu Kontakten zur Berliner Freireligiösen Gemeinde, ohne dass er dieser, soweit sich feststellen lässt, angehört hätte.704 Dies wäre auch schwer mit seiner kritischen Haltung zu »Vernunftreligionen« vereinbar. Denn sein weltanschauliches Programm basierte ja gerade darauf, dass Glauben und Wissen, Religion und Wissenschaft strenge 697 Siehe etwa Virchow, Aufgaben der Naturwissenschaft in dem neuen nationalen Leben Deutschlands, S. 78 f. 698 Vgl. Chadwick, Secularization of the European Mind, S. 233–244. 699 Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M. 1995, S. 274. 700 Vgl. Nipperdey, Religion im Umbruch, S. 153  ; Lucian Hölscher, Die Religion des Bürgers. Bürgerliche Frömmigkeit und protestantische Kirche im 19. Jahrhundert, in  : Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 595–630, v. a. S. 615–627. 701 Virchow an Goldstücker, 21.9.1855  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 702 Siehe dazu Haeckel, Entwicklungsgeschichte einer Jugend, z. B. Briefe an die Eltern vom 17.2.1853, S. 40 f.; vom 8.7.1853, ebenda, S. 63  ; sowie 20.5.1856, ebenda, S. 188 f. 703 Siehe dazu etwa die vergeblichen Bemühungen Virchows, eine Kandidatur Adolf Bardelebens an der Universität Würzburg zu unterstützen. Virchow an Bardeleben, 4.5. u. 18.5.1853  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2420. 704 Siehe dazu Unterlagen in ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2701.

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Gegensätze bilden sollten, und da eigneten sich Offenbarungsreligionen weit besser als Widerpart. Dafür, dass Virchow ein Kirchgänger war, gibt es keine Anhaltspunkte, und kirchliche Akte sind, zumindest nach dem Ende seiner Schulzeit, kaum verbürgt  : Es blieben nur seine Hochzeit und die Taufen der Kinder, die eher als soziale denn als individuelle religiöse Handlungen angesehen werden können. Dies gilt auch für christliche Feiertage wie Ostern und Weihnachten, die in der Intimität der Familie mit einem genau festgelegten Ritual festlich begangen wurden – wozu etwa gehörte, dass Virchow die Bescherung seiner Kinder durch ein Signal auf einer Kindertrompete eröffnete.705 Bei der Kindererziehung versuchte er einen Spagat zwischen seinem eigenen Agnostizismus und der Religiosität seiner Frau zu vollführen, und so färbte er etwa einen Brief an seine achtjährige Tochter Johanna von einer Reise nach Tiflis 1881 leicht pantheististisch ein  : Hier werde ich freilich vom Fest nicht viel merken, denn die meisten Menschen sind Mohammedaner, und die einzigen Christen, die Kopten, feiern Ostern erst gegen Ende des Monats. Wir müssen uns also mit der Natur begnügen, aber es ist doch auch Feier genug, den ewig blauen Himmel und die goldene Sonne und alle die schönen Gewächse zu sehen.706

Generell blieben Frauen im 19.  Jahrhundert Kirche und Religion stärker verhaftet als ihre Ehemänner.707 Gleichzeitig herrschte unter Virchow und seinen männlichen Kollegen ein Tonfall, der sich über die weibliche Wertschätzung für kirchliche Rituale wie die Taufe lustig machte, während sie dennoch als gesellschaftliche Konvention eingehalten wurden.708 Zwar hatte Virchow vorübergehend erwartet, wie er 1850 an Goldstücker schrieb, über den Glauben »aus den Augen meiner Rose neue Aufklärung [zu] schöpfen«709. Im Übrigen traf aber auch für ihn das Goethe-Wort zu, dass, wer Wissenschaft und Kunst habe, auch Religion habe, wer aber beides nicht habe, der habe Religion. Zumal im Falle Virchow bedeutete dies, dass für Frauen die Religion die angemessene Form der Kontingenzbewältigung darstellte, für Männer dagegen die in der Naturwissenschaft gipfelnde Arbeit. Die Frage nach dem Sinn seines Tuns vermochte er dabei stets weltimmanent zu beantworten, und abgesehen von wenigen Krisen, die zumeist politischer Natur waren wie die Revolution oder der preußische Verfassungskonflikt, artikulierte er niemals tiefere Zweifel.

705 Einige Hinweise dazu finden sich bei Rabl, Meine Mutter Rose Virchow, S. 290 f. 706 R. Virchow an Hanna Virchow, 21.9.1881, Druck  : Das Deutsche Gesundheitswesen 1 (1946), S. 814. 707 Vgl. Hugh McLeod, Weibliche Frömmigkeit – männlicher Unglaube  ? Religion und Kirchen im bürgerlichen 19.  Jahrhundert, in  : Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger, S.  134–156  ; Hölscher, Religion des Bürgers, S. 610 f.; zur Kirchlichkeit in Berlin im Kaiserreich vgl. ders., Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 156–163. 708 Vgl. dazu etwa Rinecker an Virchow, 14.9.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1784. 709 Virchow an Goldstücker, 26.7..1850  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425.

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Auch an seinem Umgang mit Krankheit und Tod lässt sich zeigen, wie sehr Virchow religiöse Dimensionen der Deutung der menschlichen Existenz fernlagen oder durch die Wissenschaft ersetzt worden waren. Als er 1857 anlässlich des Todes seiner Mutter seinem Vater sein Beileid aussprach, erkundigte er sich in seinem Brief vor allem nach den genauen Krankheitssymptomen, die ihrem Tod vorausgegangen waren. »Freilich kann das Alles jetzt nichts für sie nützen«, schrieb Virchow seinem Vater, »aber es giebt doch eine gewisse Beruhigung, zu wissen, wie überhaupt der Hergang gewesen ist.« So versuchte er hier die Kontingenz von Krankheit und Tod durch medizinische Rationalisierung, durch die Suche nach kausalen Ursachen zu bewältigen. Die Bedeutung des Todes lag dabei vor allem darin, die Lebensplanung auf unvorhersehbare Weise zu erschüttern. Diese anlässlich des Todes nahestehender Personen von Virchow immer wieder festgestellte Einsicht diente ihm vor allem als Mahnung, die vorhandene Zeit möglichst zu nutzen.710 Auch beim Tod seines Vaters im Dezember 1864, der ihn stark erschütterte, bemühte er keine religiösen Vorstellungen. Vielmehr bestärkte ihn dieses Ereignis in seiner Haltung der Pflichterfüllung und Verantwortung, die er nunmehr verstärkt auch seinen Söhnen auferlegte. So schrieb Virchow, der zur Beerdigung seines Vaters allein nach Schivelbein gereist war, seiner Frau nach Hause  : »Grüße die Kinder, schicke sie auf das Eis, auch den Ernst, aber sage den Grossen, ich machte ihnen Vorsicht zur Pflicht u. wenn dem Ernst etwas zustieße, so würde ich es an ihnen ahnden. Sie müssen jetzt das Gefühl der Verantwortlichkeit kennen lernen.«711 Die Vorstellung eines Lebens nach dem Tode lehnte Virchow ab, wobei er gelegentlich sehr zynisch werden konnte. Seit Mitte der 1870er Jahre setzte er sich politisch für die Feuerbestattung ein und unterstützte in den neunziger Jahren die Bemühungen des Berliner Vereins für Feuerbestattung als Gutachter. Während er vor allem mit hygienischen Gründen argumentierte,712 wurde dies bereits zeitgenössisch als eine »Symbolfrage antichristlicher Gesinnung«713 verhandelt. So agitierte die Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung gegen die Bestrebungen zur Einführung der Feuerbestattung in Berlin auch mit antisemitischen Untertönen  : »Da darf uns denn auch nicht wundern, dass bei den Verhandlungen der Deputation für das öffentliche Gesundheitswesen neben Herrn Dr. Virchow

710 R. Virchow an Carl Virchow, 22.12.1857, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 791  ; R. Virchow an Carl Virchow, 19.4. 1862  : ebenda, S. 872. 711 R. Virchow an Rose Virchow, 29.12.1864, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 221–223, hier  : S. 223. 712 Berliner Tageblatt, Nr. 453 vom 6.9.1853, »Über den Stand der Feuerbestattungsfrage in Berlin«. Erst 1911 wurde in Preußen ein »Gesetzentwurf betreffend Feuerbestattung« erlassen. Vgl. dazu auch das Kapitel über »The Disinfecting Fires« in Paul J. Weindling, Epidemics and Genocide in Eastern Europe 1890–1945, New York 2000, S.  42–45  ; sowie Michael Erbe, Berlin im Kaiserreich (1871–1918), in  : Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins, Bd. 2  : Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, München, 2. durchges. Auflage 1988, S. 691–793, hier  : S. 719. 713 Nipperdey, Religion im Umbruch, S. 136.

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der jüdische Stadtrath Dr. Strassmann die Hauptrolle spielte.«714 Für seine Eltern, aber auch für sich selbst genoss Virchow allerdings durchaus die Ästhetik einer würdigen Grabstätte. So schrieb er seiner Frau 1883 von einer Reise aus Syrakus  : In einer der großen Gartenanlagen (…) findet sich eine Reihe von Grabmälern von Fremden. Darunter ist auch das Grab des deutschen Dichters v. Platen. Ich wurde ordentlich neidisch auf den Platz. Es mag ja sehr gleichgültig sein, wo man schließlich begraben wird, aber jeder Besucher empfängt hier das (…) Gefühl, dass es sich an einer solchen Stelle gut ruhen müsse. Es sind lauter Protestanten, die auf dem katholischen Friedhofe keine Aufnahme fanden (…).715

Das Grab war damit seiner religiösen Bedeutung entkleidet und erhielt stattdessen für Virchow seine neue Funktion vor allem durch seine Bedeutung für das Familiengedächtnis716 und war damit Teil der Vergewisserung von Identität über die Generationen hinweg. Dazu diente schließlich eine schlichte Grabstätte auf dem Berliner Matthäi-Friedhof, wo er am 9.  September 1902, vier Tage nach seinem Tode, bestattet wurde. Die Grabreden hielten »im Namen der Gelehrtenwelt« Wilhelm Waldeyer, der freisinnige Abgeordnete Albert Träger, der Virchows politische Freunde vertrat, sowie für die Stadt Berlin Bürgermeister Martin Kirschner. Eine weitere Ansprache hielt auch Prediger Paul Kirmss, der an Virchows Sarg nicht nur seine Wahrheitssuche als Wissenschaftler pries, sondern zugleich die Aufklärungsmetapher des Lichts der Wahrheit wieder auf ihren religiösen Ursprung zurückführte  : »Alle Wahrheit, welcher Art sie auch sei, ist göttlichen Geschlechts.«717 Gegen diese wie andere Aneignungsprozesse, die nun folgten, konnte sich der Verstorbene nicht mehr wehren. Die ›Verwandlung‹ zum Symbol

Nach seinem Tod wurde Virchow von sehr unterschiedlichen Gruppen vereinnahmt. Dabei handelte es sich namentlich um die Liberalen sowie die Ärzteschaft, die hierbei heftig miteinander konkurrierten. Virchow lebte als öffentliche Symbolfigur weiter, wobei er an diesem Verwandlungsprozess vom Akteur zum Symbol noch zu Lebzeiten ein Stück weit gestaltend mitgewirkt hatte. Bereits der 60. Geburtstag Virchows 1881 wurde zum Anlass zahlreicher Feiern, seit seinem 70. Geburtstag 1891 rissen dann die Feierlichkeiten, Jubiläen und Ehrungen als Wissenschaftler und Politiker praktisch nicht mehr ab. Und so spottete ein Zeuge dieser umfangreichen Ehrungen  : »Rudolf Virchow hatte nicht blos eine große 714 Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung), Nr. 426 vom 11.9.1893, »Die Stadt Berlin und die Leichenverbrennung«. 715 R. Virchow an Rose Virchow, 6.4.1883, PLM, Stiftung Rabl-Virchow, A II, Nr. 211. 716 Siehe dazu R. Virchow an Carl Virchow, 22.12.1857, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 792. 717 Siehe Die medizinische Reform. Wochenschrift für sociale Medicin, Nr. 37 vom 13.9.1901, »Beerdigung Virchows«.

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Arbeitskraft, sondern auch eine große Jubilirungskraft.«718 Dabei war diesem allerdings selbst bewusst, wie sehr die vielfältigen Ehrungen in seinen späteren Jahren nicht allein seiner Person galten, sondern der Selbstvergewisserung bestimmter Gruppen dienten.719 Das Virchow insbesondere in seinen späteren Jahren gewidmete öffentliche Interesse hatte viel mit dem Aufkommen des »Star-Systems« in Wissenschaft und Politik zu tun. Gemeint ist die Selbstverstärkung von Bekanntheit durch Medien, die mit einem Konzentrationsprozess der Popularität auf einige wenige bekannte Persönlichkeiten einhergeht.720 Zu den Auswirkungen des »Star-Systems« gehörte überdies, dass die auch für Virchows Selbstverständnis konstitutive Trennung von ›privat‹ und ›öffentlich‹ aufgehoben wurde. In den neunziger Jahren wurde erstmalig auch sein Privatleben öffentlich thematisiert, und so erschienen nun Zeitungsberichte mit Titeln wie »Virchow zu Hause«721. Dabei besaßen solche frühe Formen der Homestory zu dieser Zeit noch den Reiz des Durch-das-Schlüsselloch-Schauens, wenn etwa der Korrespondent einen Blick in Virchows privates Arbeitszimmer warf oder sein Wohnzimmer beschrieb. Seine Familie oder gar die privaten Gemächer blieben hier noch unsichtbar, wenngleich bereits ein Prozess in Gang gekommen war, der solche Grenzen immer weiter verschob. Dafür, dass sich Virchow schließlich selbst zunehmend als öffentliche Person wahrnahm, spricht auch, dass er seit Anfang der neunziger Jahre einen Zeitungsausschnittdienst abonniert hatte, der ihm zum Preis von 75 Mark jährlich sämtliche ihn betreffende Artikel aus der nationalen und internationalen Presse zukommen ließ.722 Ein Hauptinstrument der Verwandlung bürgerlicher Akteure in öffentliche Symbole war die Errichtung von Denkmälern, woran auch Virchow mehrfach aktiv mitgewirkt hatte.723 Allerdings hatte er bereits 1880 hellsichtig auf einige Schwierigkeiten hingewiesen, die sich Versuchen, den Bürger auf diese Weise in der politischen Topographie zu verankern, entgegenstellten. So erläuterte er im Preußischen Abgeordnetenhaus seine Skepsis gegenüber dem Vorschlag des Zentrumsabgeordneten Reichensberger, wonach man im öffentlichen Raum Berlins künftig vermehrt bürgerliche Personen auf den Denkmalssockel stellen solle. Virchow begrüßte diese Forderung zwar prinzipiell, doch gab er 718 Conrad Rieger, Jubiläum No. 1, 1881 (hs. Ms. über die Feiern zu Virchows 60., 70. u. 80. Geburtstag), Druck  : Kohl, Virchow in Würzburg, S. 109. 719 Protokoll der Sitzung der Berliner medicinischen Gesellschaft vom 30.10.1901, in  : Verhandlungen der Berliner medicinischen Gesellschaft aus dem Gesellschaftsjahre 1901, hrsg. von dem Vorstande der Gesellschaft, Berlin 1902, S. 188. 720 Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 1983, S. 363–370. 721 Lee, Virchow zu Hause. 722 Siehe Schliemann an Virchow, 27.9.1890, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 563. Die gesammelten Zeitungsausschnitte finden sich in ABBAW, Nl Virchow, Nr. 3003– 3018. 723 Vgl. dazu ausführlich Goschler, Die ›Verwandlung‹, S. 72–100.

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Privates Leben und öffentliche Sphären

aus seiner reichen Erfahrung als Mitglied zahlreicher Denkmalskomitees zu bedenken, dass es große Schwierigkeiten bereite, die Künstler zu einer solchen Aufgabe zu bewegen  : Unsere modernen bürgerlichen Personen sind ungemein ungünstige Objekte für die Plastik, und ich kann Ihnen sagen – (…) – es ist die äußerste Hingabe des Künstlers nothwendig, um über die Schwierigkeiten nicht blos des Kostüms, sondern auch der bürgerlichen Haltung hinauszukommen. Unsere großen Bürger sind in der That ungemein ungünstige Objekte für die darstellende Kunst und so sehr wir wünschen müssen, daß auch das bürgerliche Verdienst in einer Weise geehrt wird, wie es im Alterthum geehrt wurde, so werden wir uns doch bescheiden müssen, den Künstlern nicht zu viel solcher bürgerlicher Aufgaben zu stellen. Ich glaube nicht, daß die Plastik dabei sehr gewinnen würde.724

Diese Prognose erfüllte sich bei Virchows eigenem Denkmal, für das unmittelbar nach seinem Begräbnis im September 1902 die Vorbereitungen aufgenommen wurden, leider vollständig. Bis zur Einweihung des Denkmals 1910 auf dem Berliner Karls-Platz kam es zu heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen um den Entwurf des Bildhauers Fritz Klimsch, der sich den gängigen Konventionen entzog und Virchow nicht als »Persönlichkeit« darstellte, sondern eine allegorische Darstellung seiner Leistungen bevorzugte. Sogar Wilhelm II. wurde zuletzt von den an höchster Stelle Unterstützung suchenden Ärzten in den Streit mit hineingezogen, doch musste sich der preußische Monarch gleichfalls vor dem Autonomieanspruch der Kunst beziehungsweise der Expertise der Kunstsachverständigen beugen.725 Damit war auch das »große Individuum«, dem hier ein Denkmal errichtet werden sollte, vom Podest getreten.726 So war nicht allein die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre, die konstitutiv für Virchow wie für das bürgerliche Selbstverständnis überhaupt waren, am Ende seines Lebens unter den Einfluss tiefgreifender Veränderungen geraten, die sich an den ersten ihn erfassenden Symptomen des »Star-Systems« zeigten. Vielmehr erwies sich nun das Konzept der »Persönlichkeit« selbst, das sein Selbstverständnis geprägt hatte und als dessen Verkörperung er noch anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem 80. Geburtstag durch das Kultusministerium gefeiert worden war, als zeitgebunden und gefährdet. In gewisser Weise dementierte das Virchow-Denkmal damit sein eigenes biographisches Projekt, das vor allem auf der Entwicklung von »Persönlichkeit« sowie einer engen Verknüpfung von Wissenschaft und Politik beruht hatte. 724 SBPAH, 60. Sitzung am 12.2.1880, S. 1685 f. 725 Goschler, Die ›Verwandlung‹, S. 100–109. 726 Peter Bloch, Denkmal und Denkmalkult, in  : ders./Sybille Einholtz/Jutta von Simson (Hg.), Ethos und Pathos. Die Berliner Bildhauerschule 1786–1914, Beiträge mit Kurzbiographien Berliner Bildhauer, o. O. 1990, S. 203  ; vgl. auch ders., Vom Ende des Denkmals, in  : Friedrich Piel/Jörg Traeger (Hg.), Festschrift Wolfgang Braunfels, Tübingen 1977, S.  25–30  ; sowie Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz, Göttingen 1999, S. 291.

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3 Wissenschaft und Politik zwischen »Beruf« und »Pflicht« 3.1 Wissenschaftliche Karriere und disziplinäre Identitäten

Angesicht der vielen unterschiedlichen Felder, auf denen sich Virchow im Laufe seines langen Lebens betätigte, liegt es oft vor allem am unterschiedlichen Interesse der Betrachter, was davon jeweils in den Mittelpunkt gerückt wird. Dies betrifft einmal das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Politik, und schon bei den Planungen für das ihm 1910 gewidmete Denkmal ging es auch darum, ob nun der ›große Arzt‹ oder der ›Held des Liberalismus‹ geehrt werden sollte.1 Zum anderen betrifft dies aber auch die Frage, welcher wissenschaftlichen Disziplin er sich überhaupt zuordnen lässt. Schon sein Schüler und späterer Assistent Ernst Haeckel kommentierte 1853, dass Virchow »kein Arzt oder Freund der Ärzte und ihrer Praxis ist, sondern nur ein sehr tüchtiger Naturforscher, Chemiker, Anatom, Mikroskopiker usw.«2 Und auch Ernst Hirschfeld betonte 1929, Virchow war »kaum mehr Arzt, mögen sich auch seine Biographen noch so sehr gerade um diese Wertung bemühen«3. Als Pathologe ebenso wie später als Anthropologe entwickelte er ein Selbstverständnis als Naturwissenschaftler, wobei er bereits seit Mitte der 1850er Jahre gelegentlich von der Bezeichnung »Naturwissenschaft« zu »Biologie« als übergeordneter Kategorie wechselte.4 Deshalb geht es nun zunächst um Virchows wissenschaftlichen Karriereweg, seine Rolle beim Aufbau von Institutionen und Disziplinen sowie vor allem auch um die professionelle Kultur,5 von der er geprägt wurde und die er zugleich auch selbst mit formte.

1 Siehe dazu ausführlich Constantin Goschler, Die ›Verwandlung‹. Rudolf Virchow und die Berliner Denkmalskultur im Kaiserreich, in  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1 (1998), S. 69–111. 2 Ernst Haeckel an seinen Vater, 16.11.1853, in  : ders., Entwicklungsgeschichte einer Jugend. Briefe an die Eltern 1852/1856, Leipzig 1921, S. 82. 3 Ernst Hirschfeld, Virchow, in  : Kyklos 2 (1929), S. 106–116, hier  : S. 111. 4 Siehe etwa Rudolf Virchow, Cellular-Pathologie, in  : VA 8 (1855), S. 3–39, hier  : S. 17  : »Unter dem Apparat des Biologen – und die Pathologie ist keiner der geringsten Zweige dieser schönen Wissenschaft – löst sich alles Lebende in kleine Elemente auf.« Vgl. auch Michael Sonntag, Die Seele und das Wissen vom Lebenden. Zur Entstehung der Biologie im 19. Jahrhundert, in  : Gerd Jüttemann/Michael Sonntag/Christoph Wulf (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Weinheim 1991, S. 293–318. 5 Vgl. dazu die am Beispiel der Zeitgeschichte angestellten Überlegungen bei Eric Engstrom, Zeitgeschichte as Disciplinary History – On Professional Identity, Self-Reflexive Narratives, and Discipline-Building in Contemporary German History, in  : Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 399–425, hier  :

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Wissenschaft und Politik zwischen »Beruf« und »Pflicht«

Virchow gehört zu den Gründervätern der Naturwissenschaft als »unabhängiger, institutionell unterstützter Karriere in Deutschland«6, zu denen neben ihm auch eine Reihe weiterer Schüler des Berliner Anatomen und Physiologen Johannes Müller gehören. An ihm lassen sich somit die Mechanismen naturwissenschaftlicher Karrieren und der Entwicklung disziplinärer Identitäten exemplarisch untersuchen. Im Hintergrund stehen zwei gegensätzliche Interpretationen der Dynamik des Aufschwungs der experimentellen Naturwissenschaften im 19.  Jahrhundert, die sich pointiert auf die Alternative »Markt« oder »Modernisierung« zuspitzen lassen.7 Die erste Deutung behauptet, dass ideologische und institutionelle Faktoren stark zusammengewirkt hätten  : Die neue Wertschätzung von Wissenschaft und Bildung seit Anfang des 19.  Jahrhunderts habe eigenständige neue Forschung stark prämiert. Zudem habe die Kultusbürokratie nicht nur die Lehr- und Lernfreiheit und das Prinzip der Wissenschaft um ihrer selbst willen hoch gehalten, sondern sei auch um den finanziell lukrativen Zustrom von Studenten besorgt gewesen. Innerhalb des dezentralisierten deutschen Universitätssystem sei daher ein kompetitiver akademischer Markt entstanden. Aufstrebende Wissenschaftler konnten sich der ersten Interpretation zufolge also die aus der Konkurrenz der Universitäten resultierenden Chancen bei ihren Berufungsverhandlungen zunutze machen und erfolgreich darauf drängen, dass ihre Fächer besser ausgestattet würden.8

S. 412 f.; sowie Jan Golinski, Making Natural Knowledge. Constructivism and the History of Science, Cambridge, Mass., u. a. 1998. 6 Timothy Lenoir, Introduction, in  : ders., Instituting Science. The Cultural Production of Scientific Disciplines, Stanford 1997, S. 1–14, hier  : S. 7 f. 7 Richard L. Kremer, Building Institutes for Physiology in Prussia, 1836–1846  : Contexts, Interests and Rhetoric, in  : Andrew Cunningham/Perry Williams (Hg.), The Laboratory Revolution in Medicine, Cambridge u. a. 1992, S. 72–109, hier  : S. 75. 8 Siehe etwa Joseph Ben-David, Scientific Productivity and Academic Organisation in Nineteenth Century Medicine, in  : American Sociological Review 25 (1960), S. 828–843  ; ders., Scientific Growth  : a Sociological View  : in  : Minerva 2 (1963), S. 455–476  ; ders., The Scientist’s Role in Society  : A Comparative Study, Englewood Cliffs 1971, S. 108–138  ; ders./Awraham Zlowczower, Universities and Academic Systems in Modern Societies, in  : European Journal of Sociology 3 (1962), S. 45–84  ; Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit  : Idee und Gestalt der deutschen Universitäten und ihrer Reformen, Reinbek b. Hamburg 1963  ; A. Zloczower, Konjunktur in der Forschung, in  : Frank R. Pfetsch/A. Zloczower, Innovation und Widerstände in der Wissenschaft. Beiträge zur Geschichte der deutschen Medizin, Düsseldorf 1973, S. 91–150  ; R. Steven Turner, The Growth of Professorial Research in Prussia, 1818 to 1848 – Causes and Context, in  : Historical Studies in the Physical Sciences 3 (1972), S. 137–182  ; ders., Universitäten, in  : Karl-Ernst Jeismann/Peter Lundgreen (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. III  : 1800–1870, Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches, S. 221–249  ; ders. u. a., Careers and Creativity in Nineteenth-Century Physiology  : Zlowczower redux, in  : Isis 75 (1984), S. 523–529  ; Charles McClelland, State, Society and University in Germany, 1700–1914, Cambridge u. a. 1980. Vgl. dazu auch den Überblick bei Arleen Marcia Tuchman, Institutions and Disciplines  : Recent Work in the History of German Science, in  : The Journal of Modern History 69 (1997), S. 298–319, hier v. a. S. 298 f.

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Wissenschaftliche Karriere und disziplinäre Identitäten

Gegenüber diesem Erklärungsansatz, der die interne institutionelle Dynamik von Wissenschaft als Hauptfaktor ansetzt, wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht wenigstens einige deutsche Staaten – darunter namentlich Baden – im 19. Jahrhundert die universitäre wissenschaftliche Ausbildung in ein breiteres Konzept der intentionalen sozialen und wirtschaftlichen Modernisierung integriert hätten. Die Debatte um den Zusammenhang von Universitäten, Naturwissenschaft und Modernisierung, die sich vor allem auf die Zeit nach der Reichsgründung konzentriert, strahlt auch auf die vorhergehenden Jahrzehnte aus.9 Dieser alternative Erklärungsansatz betont somit die aktive Rolle des Staates, der im Zusammenhang der angestrebten ökonomischen und politischen Modernisierung bestimmte Disziplinen gezielt gefördert habe.10 Daraus hätten sich gleichfalls spezifische Karrierechancen für Wissenschaftler ergeben. Vertreter dieser Auffassung gehen aber über einfache modernisierungstheoretische Modelle hinaus, indem sie anhand ihrer Analysen individueller Bemühungen um Karriereaufbau sowie Disziplin- und Institutsbildung nach politischen und sozialen Interessen und Ideologien suchen, die dem institutionellen Rahmen vorausgehen.11 In diesem Zusammenhang gewinnt schließlich auch die Frage nach der kulturellen Bedeutung von Naturwissenschaft große Bedeutung.12 Zunächst wird es also um die Bedingungen des außerordentlichen wissenschaftlichen Erfolgs Virchows gehen, der nicht ausschließlich mit seinen kognitiven Leistungen erklärt werden kann. Seine Karriere war ein Geflecht, in dem sich die einzelnen Elemente gegenseitig durchdrangen und verstärkten.13 Welche Karrierestrategie lässt sich also bei ihm erkennen, und in welcher Beziehung stand diese zu den spezifischen Chancen, die  9 Tuchman, Institutions and Disciplines, S. 301. 10 Peter Borscheid, Naturwissenschaft, Staat und Industrie in Baden, 1848–1914, Stuttgart 1976  ; Arleen Marcia Tuchman, Science, Medicine, and the State in Germany. The Case of Baden, 1815–1871, New York u. Oxford 1993  ; dies., From the Lecture to the Laboratory  : The Institutionalization of Scientific Medicine at the University of Heidelberg, in  : William Coleman/Frederic L. Holmes (Hg.), The Investigative Enterprise. Experimental Physiology in Nineteenth-Century Medicine, Berkeley u. Los Angeles 1988, S. 65–99  ; Timothy Lenoir, Science for the Clinic  : Science Policy and the Formation of Carl Ludwig’s Institute in Leipzig, in  : ebenda, S. 139–178, hier  : S. 160. 11 R. Steven Turner, German Science, German Universities  : Historiographical Perspectives from the 1980’s, in  : Gert Schubring (Hg.), »Einsamkeit und Freiheit« neu besichtigt  : Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S. 24– 36, hier  : S. 31. 12 Vgl. v. a. Timothy Lenoir, Soziale Interessen und die organische Physik von 1847, in  : ders., Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. u. New York 1992, S. 18–52, hier v. a. S. 25 ff.; ders., Instituting Science  ; siehe auch ders., Laboratories, Medicine and Public Life in Germany 1830–1849. Ideological Roots of the Institutional Revolution, in  : Cunningham/Williams (Hg.), Laboratory Revolution, S. 14–71. 13 Russell C. Maulitz, The Pathological Tradition, in  : W. F. Bynum/Roy Porter (Hg.), Companion Encyclopedia of the History of Science, Bd. 1, London u. New York 1993, S. 169–182, hier  : S. 183.

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Wissenschaft und Politik zwischen »Beruf« und »Pflicht«

sich aus dem deutschen Wissenschaftssystem ergaben  ? Welche Rolle spielten demgegenüber kontingente Faktoren, etwa der Tod oder die Benachteiligung von Rivalen  ? Auf welche Weise war Virchow an der Entstehung beziehungsweise am Ausbau neuer wissenschaftlicher Disziplinen beteiligt  ? Und welche Grenzziehungsprozesse, sei es zu anderen Disziplinen, sei es gegenüber einer nicht-spezialisierten Öffentlichkeit, fanden dabei statt  ? Die Untersuchung dieser Fragen erfolgt in fünf Schritten  : Erstens wird anhand Virchows akademischer Berufungen seine Karrierestrategie untersucht. Anschließend geht es um seine Rolle als Disziplinbildner und seinen Umgang mit Ressourcen, wobei zum einen die Pathologie und zum anderen die Anthropologie im Mittelpunkt stehen. Viertens werden Virchows publizistische Aktivitäten im Spannungsfeld von Wissenschaft und Öffentlichkeit untersucht. Fünftens geht es schließlich am Beispiel der am Berliner Pathologischen Institut betriebenen Ausbildung darum, inwieweit der von Virchow betriebene Aufbau einer professionellen Identität mit der Vermittlung eines liberalen ›verborgenen Lehrplans‹ verbunden war. Auf diese Weise soll Wissenschaft als Kultur untersucht werden, die sich nicht nur in »programmatischen Erklärungen und Festreden«, sondern auch in Praktiken ausdrückt.14 3.1.1 Berufungen zwischen Markt und Modernisierung

Virchows akademische Berufungen und Berufungsverhandlungen geben gleichermaßen wichtige Einblicke in seine eigene Karrierestrategie wie in die Berufungspolitik verschiedener deutscher beziehungsweise deutschsprachiger Länder in einem sich ungefähr Mitte des 19. Jahrhunderts neu etablierenden Feld – und damit in einen zentralen Bereich der Hochschulpolitik. Virchow hatte bis zum Vorabend der Revolution bereits einen rasanten Karrierestart vollzogen. Bereits 1847 war er habilitiert worden, wobei ihm die Ochsentour als Militärarzt erlassen wurde. Jedoch geriet er während der Revolution in Konflikt mit seinen Gönnern in Militärmedizin und Kultusministerium. Dies schien seinen Karriereambitionen für einige Zeit, solange er noch auf einen Erfolg der Revolution hoffen konnte, durchaus förderlich zu sein. Als sich das Blatt aber schließlich wendete, war er für seine ehemaligen Förderer zum Problem geworden. Beide Seiten rangen um einen ehrenvollen Ausweg aus diesem Konflikt. Eine Lösung wurde dadurch erleichtert, dass im Januar 1849 die Würzburger medizinische Fakultät Kontakt mit Virchow aufgenommen hatte. Dort war man auf der Suche nach einem Nachfolger für den verstorbenen Bernhard Mohr, den bisherigen Inhaber des Lehrstuhls für pathologische Anatomie, der nach Wien erst der zweite dieser Art 14 Lorraine Daston, Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in  : Otto Gerhard Oexle (Hg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft  : Einheit – Gegensatz – Komplementarität  ?, Göttingen 1998, S. 9–39, hier  : S. 29 f.; vgl. auch Andrew Pickering (Hg.), Science as Practice and Culture, Chicago 1992.

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im deutschsprachigen Raum war.15 Bald darauf erfuhr Virchow, dass er auch in Gießen als Kandidat für ein Ordinariat gehandelt wurde, wo jedoch die Frage seiner politischen Betätigung gleichfalls eine bedeutende Rolle spielte. Seine Berufung an die dortige Universität scheiterte zuletzt an der Besorgnis der Fakultät, dass er als bekannter Politiker umgehend in ein Parlament gewählt und so seine Arbeitskraft der Universität entzogen würde. Diese hatte vor allem das Beispiel des bekannten Demokraten, Zoologen und Geologen Karl Vogt vor Augen, dessen akademische Tätigkeit in Gießen schwer unter seiner Mitwirkung im Vorparlament, der Reichsversammlung in Frankfurt und im Stuttgarter Rumpfparlament gelitten hatte.16 Die zeitliche Belastung durch ein politisches Mandat spielte somit nach den Erfahrungen mit dem frühen Parlamentarismus der Revolutionszeit eine wichtige Rolle bei Berufungsentscheidungen und erwies sich damit künftig als ein strukturelles Hemmnis für den Typus des Professorenpolitikers. Parallel zu den Gesprächen mit Würzburg führte Virchow Bleibeverhandlungen in Berlin, die das Kultusministerium allerdings, trotz seines großen Entgegenkommens, nur sehr halbherzig führte. Der Minister lehnte Virchows Forderungen – die Übertragung der Prosektur in der Charité ohne Bedingung, eine außerordentliche Professur und ein Gehalt von 800 Talern – unter großem Bedauern ab, indem er sich dabei auf unabweisbare finanzielle Zwänge berief. Zugleich forderte er ihn auf, den Würzburger Ruf anzunehmen. Adalbert von Ladenberg sei in der persönlichen Audienz, so Virchow, »außerordentlich freundlich, ja fast wehmütig« gewesen  : »Er schwankte offenbar zwischen Schaam u. Furcht – Schaam, dass die bayerische Regierung liberaler war, als er, Furcht, dass seine eigene Partei ihn angreifen würde, wenn er mich beförderte.«17 Über die schriftliche Antwort des Ministers berichtete Virchow in einem Brief an Goldstücker  : »Dieselbe gleicht dem Rhein. Sie ist hundert Meilen lang, schwillt nach kurzem Lauf zu einem geradlinigen ›Fluss‹ an, theilt sich dann in mehrere Arme, von denen die meisten im Sand verlaufen, der eine aber durch Schleusen von dem offenen Meere abgetrennt wird.« Virchows erste Reaktion war die Zusage an Würzburg,18 womit er in seiner eigenen Wahrnehmung den Rubikon in eine höchst unklare Zukunft überschritt.19 Für das preußische Kultusministerium ergab sich hier ein eleganter Ausweg aus dem Dilemma zwischen der Förderung der preußischen Wissenschaftslandschaft und den 15 Die seit 1842 in Würzburg eingerichtete außerordentliche Professur war 1845 in ein Ordinariat umgewandelt worden. 16 Adolf von Bardeleben an Virchow, 28.4.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 107  ; Rudolf Virchow an Carl Virchow, 13./23.5.1849, Druck  : Rudolf Virchow. Sämtliche Werke (= RVSW), hrsg. v. Christian Andree, Bd. 59, Abt. IV  : Briefe. Der Briefwechsel mit den Eltern 1839–1864, Berlin u. a. 2001, S. 404. 17 R. Virchow an Carl Virchow, 13./23.5.1848, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 403. Siehe auch Virchow an Robert Froriep, 18.12.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2424. 18 Virchow an Goldstücker, 12.5.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. Siehe dazu das Schreiben Ladenbergs an Virchow vom 9.5.1849  : AHUB, Charité-Direktion, Nr. 740, Bl. 111. 19 Virchow an Goldstücker, 29.5.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425.

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Wissenschaft und Politik zwischen »Beruf« und »Pflicht«

notwendigen politischen Rücksichten. Virchows Ruf nach Würzburg wurde als eine Art von Zwischenstation betrachtet, in der er zur vollständigen wissenschaftlichen Reife gelangen könne und dabei zugleich seine politischen ›Flausen‹ verlieren würde. So würde es zwar zu weit führen, die 1856 erfolgte Rückberufung nach Berlin als Folge eines bereits 1849 gefassten Vorsatzes zu betrachten. Aus der Überlieferung des preußischen Kultusministeriums gewinnt man jedoch den Eindruck, dass man ihn nur ungern auf Dauer verlieren wollte. Jedenfalls fügt sich diese Lösung in das vertraute Muster der preußischen Hochschulpolitik, wie es schließlich in der Ära Althoff seinen Höhepunkt erlebte, wonach junge Wissenschaftler aus Berliner Schulen begehrt für Erstberufungen an kleineren Universitäten waren. Für die Berliner Spitzenpositionen holte man dagegen meist Persönlichkeiten, die sich an anderen, oft kleineren Universitäten einen erstklassigen Namen erworben hatten, womit das Risiko einer solchen Berufung minimiert wurde.20 Auch bei den Verhandlungen mit Würzburg, deren offizieller Teil sich nach mancherlei informellen Vorgesprächen von Mai bis August 1849 hinzog, ging es zum einen um die materielle Ausstattung des Rufes und zum anderen um die politischen Bedenken. Virchow fasste die mit dem Würzburger Angebot verbundenen Konditionen bündig zusammen  : »1200 fl. [Gulden21] Gehalt, 6–800 fl. Honorar, 200–250 Leichen«22, und bezog sich damit auf die Höhe des Einkommens einerseits und die zentrale Forschungsressource andererseits. Was sein Einkommen betraf, so wurde ihm versichert, dass dieses vielfach steigerungsfähig sei. Mit dem Ruf war die Verpflichtung verbunden, eine jährliche Pflichtvorlesung zu halten, die mit zehn Gulden honoriert war  ; bei der Erschließung weiterer Einnahmequellen durch Privatkurse war ihm die Festlegung der Gebühren freigestellt.23 Sein künftiger Kollege Albert Kölliker schilderte ihm auch die materielle Ausstattung seiner künftigen Arbeitsstätte in leuchtenden Farben  : »Die Zahl der Leichen ist jährlich 300, lässt sich aber leicht auf 350 bringen. (…) zudem kommen herrliche Sachen vor, im Verhältnis zur Zahl der Sectionen viel schöner als z. B. in Zürich bei der doppelten Zahl.« Zudem existiere eine große, wenngleich schlecht geordnete pathologische Sammlung, Geld sei genug da, und das physikalische Institut verfüge über acht Mikroskope, eine für die damalige Zeit beachtliche Zahl. So ließe sich in Würzburg »vielleicht besser als irgendwo sonst der Wissenschaft leben«24. 20 Hubert Laitko, Betrachtungen über den Raum der Wissenschaft, in  : Horst Kant (Hg.), Fixpunkte – Wissenschaft in der Stadt und der Region. Festschrift für Hubert Laitko zum 65. Geburtstag, Berlin 1996, S. 313– 340, hier  : S. 334 f. 21 Die Relation Gulden zu preußischer Taler betrug 4 zu 7. 22 Virchow an Bardeleben, 19.3.1849 (am Jahrestage der »lieben« Berliner), Druck  : Einige Briefe von Rudolf Virchow an Adolf von Bardeleben aus den Jahren 1847–1853, in  : VA 223 (1916), S. 1–9, hier  : S. 3. 23 Franz von Rinecker an Virchow, 8.6.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr.  1784  ; R.  Virchow an Carl Virchow, 29.5.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 409. 24 Albert Kölliker an Virchow, o. Dat. (vermut. Okt. 1849)  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1122.

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Hinter diesem werbenden Hinweis stand auch die Sorge, ob Virchow bereit sein würde, sich an seiner neuen Wirkungsstätte politisch zurückzuhalten. Mehrfach standen die Verhandlungen wegen dieses Punktes kurz vor dem Scheitern.25 Die Würzburger medizinische Fakultät beziehungsweise der Akademische Senat hatten von vornherein versucht, die politischen Bedenken des bayerischen Kultusministeriums und des Königs Maximilian unter Hinweis auf die überragenden wissenschaftlichen Qualitäten des Wunschkandidaten auszuräumen. Die treibenden Kräfte in Würzburg für die Berufung Virchows waren der damalige Dekan der medizinischen Fakultät Franz von Rinecker sowie seine Kollegen Albert Kölliker und Wilhelm von Wittich, die es sich »in den Kopf gesetzt« hatten, ihn dorthin zu bringen.26 Diese taten über Monate hinweg ihr Bestes, um zwischen dem bayerischen Kultusministerium und Virchow zu vermitteln. Nicht nur in Preußen, sondern auch in Bayern war dabei keine Rede davon, dass er seine politischen Ansichten ändern würde. Vielmehr wurde auch hier lediglich erwartet, dass diese seine Privatangelegenheit blieben und er in Würzburg keine politischen Aktivitäten entfalten würde.27 Da es Virchow nach seiner zeitraubenden und frustrierenden politischen Betätigung in Berlin 1848/49 ohnehin schon seit längerem danach verlangte, sich wieder stärker auf seine wissenschaftliche Tätigkeit zu konzentrieren, ging es so letztlich vor allem um die Frage, in welcher Weise die erforderliche politische Abstinenzerklärung erfolgen würde  : Auch hier stand also die Frage der »Ehre« im Mittelpunkt. Zunächst erklärte er gegenüber seinen Würzburger Kollegen in spe in privaten Briefen, dass es Zeiten gebe, »wo es für jeden ehrlichen Mann gilt, seine politische Meinung offen zu vertreten, u. in einem solchen Falle kann ich natürlich nie zu einer feigen Rolle mich verdammen. So lagen die Verhältnisse im vorigen Jahr.« Allerdings werde er sich in fremden Verhältnissen nicht in politische Angelegenheiten hineindrängen, die seine wissenschaftliche Tätigkeit behindern würden.28 Vor dem Hintergrund einer starken Agitation wurde er jedoch zu weitergehenderen Erklärungen genötigt. Der bayerische Kultusminister stand seinerseits unter starkem Druck konservativ-katholischer Kreise, war ihm doch beispielsweise in der Bayerischen Postzeitung angedroht worden, dass er im Falle der Berufung Virchows eventuell des Hochverrats bezichtigt werden würde.29 Schließlich unterzeichnete Virchow in einem Brief an die Würzburger Universität die vorgegebene Formel, wonach er »die Absicht gefasst habe, mir bei Ihnen eine gesicherte wissenschaftliche Stellung und nicht einen Tummelplatz für radicale Tendenzen

25 Eine genaue Schilderung der Würzburger Berufungsverhandlungen bietet Ernst Werner Kohl, Virchow in Würzburg, (Diss. med. Würzburg) Würzburg 1976, S. 14–24. 26 Rinecker an Virchow, 16.7.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1784. 27 Kohl, Virchow in Würzburg, S. 18–24. 28 Auszug eines Briefs von Virchow an Franz von Kiwisch, zit. in einem Bericht des Würzburger Akademischen Senats an das bayerische Kultusministerium vom 23.6.1849, zit. nach Kohl, Virchow in Würzburg, S. 19. 29 Siehe Rinecker an Virchow, 22.8.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1784.

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zu erwerben.«30 Dabei löste das Erscheinen eines Artikels im dritten Band seines Archivs, in dem sich Virchow mit der Kritik an seinem im Sommer 1848 erschienenen Bericht über die oberschlesische Typhusepidemie auseinandersetzte, unter seinen Würzburger Promotoren Entsetzen aus  : Dort hielt er ausdrücklich an seinen damals geäußerten politischen Zielen fest, auch wenn er deren Realisierung nun zur Angelegenheit einer noch unbestimmten Zukunft erklärte.31 Dies lenkte reichlich Wasser auf die Mühlen seiner bayerischen Kritiker, so dass die Angelegenheit im letzten Moment doch noch verloren schien.32 Dennoch wurde im August schließlich die Ernennung förmlich angekündigt. Mehr noch  : 1852 sollte die bayerische Regierung Virchow mit einer ähnlichen Untersuchung über die Notlage im Spessart beauftragen.33 Rinecker berichtete Virchow über die Reaktionen an der Universität Würzburg auf dessen bevorstehende Ernennung zum ordentlichen Professor für pathologische Anatomie  : »Es gab nicht blos süße, sondern auch saure Gesichter, besonders aber viele süßsaure  !« Dass die politischen Bedenken zunächst weiterbestanden, zeigte sich auch darin, dass Virchow aufgefordert wurde, seinem Einbürgerungsgesuch an den bayerischen König, das aufgrund seiner preußischen Staatsbürgerschaft erforderlich war, nochmals eine Loyalitätserklärung beizulegen. Sein neuer Kollege Rinecker versuchte ihn aber zu beruhigen  : Dass wir, Kiwisch, Koelliker und ich, keinen Anstoß an Ihren demokratischen Gesinnungen nehmen, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu versichern  ; aber dass wir Sie nicht dieser wegen gerufen haben, ist gleichfalls wahr und wir geben uns wirklich der Hoffnung hin, es sei Ihr Wunsch, die politische Carriere zu verlassen, ernstlich gemeint. Nehmen Sie uns nur nicht für politische Idioten  ; war ich doch selbst früher ein halber Demokrat und bin 1831, kaum 20 Jahre alt, meinen Eltern nach Polen durchgebrannt. So wird denn auch in dieser Beziehung eine Verständigung möglich sein.34

Die für Virchows wissenschaftliche Karriere entscheidenden Konflikte in Berlin und Würzburg beziehungsweise München hatten einiges gemeinsam  : In beiden Fällen entzündete sich der Konflikt an seiner politischen Haltung und Tätigkeit während der Revolution. Beide Male fanden sich jedoch starke Kräfte innerhalb der Universität beziehungsweise innerhalb der Bürokratie, denen daran gelegen war, ihn zu halten beziehungsweise 30 Rudolf Virchow an den Rektor der Universität Würzburg, o. Dat., zit. nach Kohl, Virchow in Würzburg, S. 21. 31 Rudolf Virchow, Kritisches über den oberschlesischen Typhus, in  : VA 3 (1849), S. 154–196. 32 Kölliker an Virchow, 13.8.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1122  ; Rinecker an Virchow, 18.8.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1784. 33 Siehe dazu Rudolf Virchow, Die Noth im Spessart. Eine medicinisch-geographisch-historische Skizze, Vortrag vor der physikalisch-medicinischen Gesellschaft i. Würzburg am 6. u. 13. März 1852, in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 1, Berlin 1879, S. 368–416. 34 Rinecker an Virchow, 22.8.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1784.

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zu gewinnen. Ausschlaggebend dafür war das Interesse an den von ihm erwarteten wissenschaftlichen Leistungen, um dadurch die eigene Position in der nationalen und internationalen Konkurrenz um Studenten zu stärken. Dafür waren preußische und bayerische Kultusbürokratie selbst vor dem Hintergrund der anrollenden gegenrevolutionären Maßnahmen bereit, Wissenschaft und Politik zu trennen, und das hieß zugleich, lediglich politisch loyales Verhalten und nicht den Verzicht auf bestimmte Einstellungen zu fordern. Beide standen jedoch unter starkem Druck einer politisierten Teilöffentlichkeit, die sich etwa in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung oder der Augsburger Postzeitung artikulierte. Im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit wurden damit die Nebenfolgen jener Fundamentalpolitisierung sichtbar, die im Vormärz und während der Revolution stattgefundenen hatte  : Neben einer liberalen politischen Öffentlichkeit, für die auch Virchow gekämpft hatte, war nun auch eine konservative Öffentlichkeit entstanden, deren Opfer er nun beinahe geworden wäre. In Schwierigkeiten gerieten aber auch die von den Kultusbürokratien getragenen Anstrengungen, die Wettbewerbsposition ihrer eigenen Universitäten zu stärken. Hinter dem Ringen Virchows mit dem preußischen beziehungsweise bayerischen Kultusministerium um Loyalitätserklärungen und deren Formulierung steckte damit der Versuch, gegenüber einer zunehmend einflussreicheren öffentlichen Meinung das Gesicht zu wahren, während sich alle Parteien über ihre zentralen wissenschaftspolitischen Interessen im Grunde einig waren. Virchow begann im Wintersemester 1849 mit seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit in Würzburg, und in den sieben Jahren, die er dort blieb, enttäuschte er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Sie zählen nach allgemeiner Auffassung zu den produktivsten seiner Tätigkeit als Pathologe, und zugleich trat er politisch nicht in Erscheinung. Dabei arrangierte er sich zunehmend mit den Würzburger Verhältnissen, die ihm vor allem in wissenschaftlicher Hinsicht attraktiv erschienen. So lehnte er auch Ende 1852 einen Ruf nach Zürich ab, wo ihm zu sehr günstigen Bedingungen angeboten worden war, die dortige Klinik zu übernehmen. Virchow bevorzugte nun die wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten in Würzburg, anstatt dem Beispiel zahlreicher deutscher Wissenschaftler zu folgen, für die Zürich nach der Revolution einen Zufluchtsort gebildet hatte. Alfred Escher, der Direktor des Erziehungsrats und Führer der liberalen Partei in Zürich, berief in den fünfziger Jahren zahlreiche politisch verfolgte deutsche Gelehrte, um damit das Niveau der dortigen Universität zu heben und gleichzeitig seine liberal-demokratisch ausgerichtete Bildungspolitik personell zu untermauern.35 Virchow befand nun jedoch, es müsse »doch eine Zeit geben, wo man sich in seiner Thätigkeit auf Ziele beschränkt, die eine sichere Aussicht auf Erfolg darbieten«36. 35 Gustav Braun, Rudolf Virchow und der Lehrstuhl für pathologische Anatomie an der Universität Zürich, Zürich u. a. 1926, S. 16–44  ; Franz J. Bauer, Bürgerwege und Bürgerwelten. Familienbiographische Untersuchungen zum deutschen Bürgertum im 19. Jahrhundert, Göttingen 1991, S. 151 f. 36 R. Virchow an Carl Virchow, 2.12.1852, Druck  : RVSW, Bd. 59  : Briefe, S. 559.

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Die Situation wiederholte sich 1855, als die Züricher Universität abermals an ihn herantrat, diesmal zunächst mit dem Angebot einer Berufung auf den Lehrstuhl für Anatomie und Physiologie, den zuvor bereits sein Kollege Kölliker ausgeschlagen hatte. In seiner Absage schrieb Virchow  : »Es gab eine Zeit, wo ich dieser Einladung mit Vergnügen gefolgt wäre, allein diese liegt schon vor meiner Übersiedelung nach Würzburg«37. Damit bekannte er, dass er sich mit den Verhältnissen arrangiert hatte und auch seine früheren Emigrationspläne verblasst waren. Noch deutlicher wurde dies, nachdem Zürich als Reaktion auf die Ablehnung das Angebot erhöhte und ihm nunmehr eine neu zu schaffende Stelle als Professor für pathologische Anatomie und Physiologie sowie eine eigene Krankenabteilung anbot. Das Gehaltsangebot lag mit 3500 Schweizer Franken über seinem Würzburger Einkommen, das sich bis zum Ende seiner dortigen Tätigkeit immerhin von anfänglich 1200 auf 2000 Gulden38 steigerte – die spätere Zulage als Belohnung für die Ablehnung des Züricher Rufs mit eingerechnet. Allerdings hätte das Honorar, das einen wesentlichen Bestandteil des Einkommens ausmachte, aufgrund der kleineren Hörerzahl beträchtlich unter seinem bisherigen Niveau gelegen. Schließlich entschied sich Virchow auch hier wieder für das Bleiben und damit für den größeren Zuhörerkreis39 – d. h. für die höheren Einnahmen und den weiteren wissenschaftlichen Wirkungskreis  – und gegen die greifbare Möglichkeit, der von ihm erfahrenen politischen und konfessionellen Diskriminierung zu entkommen. Die zunehmend besseren Arbeitsmöglichkeiten in Würzburg, wozu seit 1853 ein eigenes pathologisches Institut gehörte, hatten schließlich dazu geführt, dass Virchow nach und nach anfing, sich dort »behaglich zu fühlen«, wie er äußerte, als er Anfang 1856 durch seinen Verleger Reimer erfuhr, dass die Berliner medizinische Fakultät seine Rückberufung beantragen wollte.40 Diese Entscheidung, die auf die Initiative Johannes Müllers zurückging,41 war gefallen, nachdem mit dem Tod des außerordentlichen Professors und Prosektors Heinrich Meckel von Hembsbach eine Stelle frei geworden war. Die Berliner medizinische Fakultät wollte bei der Wiederbesetzung keinesfalls den Trend zur Einrichtung von ordentlichen Lehrstühlen für pathologische Anatomie ver37 Virchow an Alfred Escher, 30.8.1855, Druck  : Braun, Rudolf Virchow und der Lehrstuhl für pathologische Anatomie, S. 31 f. In einem Brief an seine Frau vom selben Tag gebrauchte Virchow nahezu wörtlich dieselbe Formulierung. Siehe R. Virchow an Rose Virchow, 30.8.1855  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Briefe von Rudolf Virchow an seine Frau, Nr. 23. 38 Raumer an Wilhelm I., 5.5.1856  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 24, 29. 39 Virchow an Wittich, 31.10.1855, Druck  : Manfred Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe des 19. Jahrhunderts, Göttingen u. a. 1975, S. 102  ; siehe auch Virchow an Wilhelm His, 5.11.1855  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2429. 40 Virchow an Wittich, 13.2.1856, Druck  : Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe, S. 104. 41 Antrittsreden der Herren Siemens und Virchow und Antwort des Herrn Du Bois-Reymond, Secretairs der Physikalisch-Mathematischen Klasse, gelesen in der öffentlichen Sitzung der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 2. Juli 1872, Berlin 1874, S. 8  ; Max Lenz, Geschichte der Königlichen FriedrichWilhelms-Universität, Bd. 2, T. 2, Halle a. d. S. 1918, S. 312.

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schlafen, strömten doch die Studenten nun vor allem nach Würzburg und Wien,42 die als erste entsprechende Ordinariate eingerichtet hatten. Damit versuchte Berlin, den Rang als eine der im wissenschaftlichen Innovations- und Institutionalisierungsprozess führenden Universitäten zu halten. Der eigentliche Gründungsboom der pathologischen Anatomie fand demgegenüber erst in den sechziger Jahren statt, an deren Ende sie dann an fast allen deutschen Universitäten mit Lehrstühlen und Instituten vertreten war. Mit der Einrichtung eines Ordinariats in Göttingen 1876 als letzter deutscher Universität war dieser Etablierungsprozess und damit auch die »Diffusionsphase« schließlich abgeschlossen.43 Das Angebot an Virchow war umso erstaunlicher, als die fünfziger Jahre einen Tiefpunkt der preußischen Wissenschaftspolitik bildeten  : Vertreter der Physik, Physiologie und Chemie versuchten allesamt vergeblich das Kultusministerium zu überzeugen, dass es notwendig sei, neue Institute zu errichten. Der ausufernde Militäretat vernichtete jedoch alle finanziellen Spielräume für eine großzügigere Wissenschaftspolitik, wie sie in manchen süddeutschen Staaten wie Baden und Bayern zu dieser Zeit betrieben wurde. Überdies pflegte der konservative Kultusminister Karl Otto von Raumer eine notorische Abneigung gegen liberale Professoren und ihre Forderungen.44 Und schließlich sah die Charité-Direktion besorgt künftige Auseinandersetzungen mit Virchow voraus, was gleichfalls gegen ihn sprach. Wie sein Mitbewerber Theodor Billroth einem Freund schrieb, war bei »den complicirten Verhältnissen« dieser Berufungsangelegenheit Alles Schweinerei (…) Von einer wissenschaftlichen Rücksicht ist kaum die Rede  ; Alles ist Cabale, Partei-Interesse, Principien-Reiterei einzelner Parteien  ; und im Ganzen weiß man nicht, was man will. Charité-Direction und Fakultät, und Ministerium, jeder will etwas Anderes, und jede Partei sucht jetzt die andere durch Schweigen zu ermüden (…).45

Virchow war zunächst selbst skeptisch, ob sich das Kultusministerium auf seine Berufung einlassen würde, wollte aber diese vermutlich einmalige Chance nicht leichtfertig vorüberziehen lassen. Einen Ruf nach Berlin lehnte man im 19. Jahrhundert gewöhnlich nicht ab.46 Über seinen Schwiegervater Carl Mayer versuchte Virchow, alle vorhandenen Beziehungen spielen zu lassen, um weitere von der Fakultät diskutierte Konkurrenten 42 Medizinische Fakultät der FWU Berlin an Kultusminister Raumer, 16.2.1856  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 3–6  ; sowie Raumer an König Wilhelm I., 5.5.1856, ebenda, Bl. 24–29. 43 Frank R. Pfetsch, Die Institutionalisierung medizinischer Fachgebiete im deutschen Wissenschaftssystem, in  : ders./Zloczower (Hg.), Innovation und Widerstände, S. 10–90, hier  : S. 30–32. 44 Tuchman, Science, Medicine and the State, S. 174. 45 Theodor Billroth an Georg Meissner, 8.4.1856, Druck  : Walter von Brunn (Hg.), Jugendbriefe Theodor Billroths an Georg Meissner, Leipzig 1941, S. 163. 46 Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19.  Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher

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aus dem Rennen zu werfen. Dazu gehörte insbesondere Robert Remak, der erste jüdische Privatdozent in Preußen, den er bereits 1846 bei der Besetzung der Prosektur der Charité ausgestochen hatte.47 Virchow hoffte insbesondere auf seinen alten Vorgesetzten an der Pépinière, Heinrich Gottfried Grimm, der seit 1851 als Generalstabsarzt das preußische Militär-Medizinalwesen leitete. Als einen Problemfall betrachtete er dagegen Alexander von Humboldt, den er auf der Seite Remaks wähnte  : »Da er nun doch einmal zu den Juden hält, so müsste man ihm mit Juden beikommen.« So schlug Virchow seinem Schwiegervater vor, einen Kontakt zur Familie Mendelssohn zu suchen, die mit Humboldt eng befreundet war.48 Die alten Kontakte zur preußischen Militärmedizin mögen die Zustimmung des Kultusministeriums zu seiner Berufung, die Virchow selbst anfänglich unsicher erschien, erheblich erleichtert haben.49 Ausschlaggebend war aber wohl doch das fachliche Interesse, hinter dem die politischen Bedenken schließlich zurücktraten. Raumer schloss sich in seiner Empfehlung an den preußischen König, der Berufung Virchows zuzustimmen, den Argumenten der medizinischen Fakultät an, wonach die pathologische Anatomie im letzten Jahrzehnt eine Schlüsselstellung beim Aufschwung der Medizin zur exakten Naturwissenschaft und für die Konkurrenz um Studentenzahlen erlangt habe. Zugleich sei keine Person fachlich und pädagogisch besser für diese Position geeignet als Virchow. Die Bedenken wegen dessen früherer politischer Betätigung beschwichtigte er damit, dieser habe in seiner Würzburger Zeit »ausschließlich seiner Wissenschaft gelebt, ohne mit politischen Angelegenheiten sich zu befassen«. Einen willkommenen Beweis für Virchows mittlerweile erworbene politische Loyalität bildete in den Augen Raumers, dass der bayerische König den Pathologen im Dezember 1855 mit dem Ritterkreuz I. Klasse des Verdienstordens vom Heiligen Michael dekoriert hatte. So dürfe erwartet werden, »dass er auch in seinem Vaterlande Preußen sich von Politik und oppositionellen Bestrebungen fern halten werde.«50 Geistes- und Naturwissenschaftler, Göttingen 1997, S. 275. Mediziner werden dort allerdings nicht explizit untersucht. 47 Siehe dazu Heinz-Peter Schmiedebach, Robert Remak (1815–1865). Ein jüdischer Arzt im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Stuttgart u. a. 1995, S. 275 f. 48 Virchow an Carl Mayer, 15.2.1856, Druck  : RVSW, Bd.  59, S.  733. Vgl. dazu auch die Darstellung der Berufungsangelegenheit aus der Perspektive auf Remak bei Schmiedebach, Robert Remak, S. 269–277. Zum Verhältnis Alexander von Humboldts zur Familie Mendelssohn siehe Rudolf Elvers/Hans-Günter Klein (Bearb.), Die Mendelssohns in Berlin. Eine Familie und ihre Stadt. Ausstellung des Mendelssohn-Archivs der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Berlin 1983, S. 217–227. 49 Paul J. Weindling, Theories of the Cell State in Imperial Germany, in  : Charles Webster (Hg.), Biology, Medicine and Society 1840–1940, Cambridge u. a. 1981, S. 99–155, hier  : S. 118. 50 Raumer an Wilhelm I., 5.5.1856  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 24–29. Das königliche Zivilkabinett stellte anschließend eine Anfrage an den Polizeipräsidenten von Berlin, der in seiner Antwort Virchows politisches Sündenregister aus den Jahren 1848/49 aufzählte, aber zugleich bestätigte, dass Virchow seit seiner Übersiedelung nach Würzburg »einige Male besuchsweise in

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Dass das Kultusministerium, in dem Virchows alter Gegner aus Revolutionstagen Hermann Lehnert mittlerweile als Direktor der Unterrichtsabteilung amtierte und der Konservative Raumer das Ruder führte, Virchow »ohne Bedingungen politischer Art« zuließ, erregte in Berlin großes Aufsehen.51 Immerhin hatten es die preußischen Behörden noch 1855 abgelehnt, das Gehalt des Berliner Juristen Rudolf Gneist wieder aufzustocken, der wegen seines notorischen Liberalismus seit einiger Zeit nur die Hälfte seiner Professorenbezüge erhielt.52 Virchow fand es deshalb »ergötzlich, dass die Herren, die 1849 keinen Finger rührten, jetzt so viel Courage haben, wo ihnen die Studenten vor der Nase fortziehen.«53 Damit markierte er das zentrale Motiv für seine Berufung  : Verantwortlich dafür war nicht etwa ein grundsätzlicher Kurswechsel der preußischen Wissenschaftspolitik, vielmehr knüpfte diese an ein älteres Muster an, wonach Berufungen vor allem die Anziehungskraft auf Studenten steigern sollten. Dahinter trat das Interesse an der gesellschaftlich mobilisierenden Dynamik neuer wissenschaftlicher Disziplinen weit zurück. Da auch Gneist erheblichen studentischen Zulauf genoss und damit den »Marktfaktor« für sich reklamieren konnte, lässt die unterschiedliche Handhabung in diesen beiden Fällen allerdings darauf schließen, dass die Trennung von Wissenschaft und Politik den preußischen Behörden bei Juristen schwerer fiel als bei Medizinern. Alles in allem überwiegt also der Eindruck einer erstaunlichen Kontinuität der preußischen Wissenschaftspolitik über die Zäsur von 1848/49 hinweg, die auch durch die personelle Kontinuität unterhalb der Ministerebene gefördert wurde. Die Besorgnisse der medizinischen Fakultät und des Kultusministeriums um die Studentenzahlen waren nicht aus der Luft gegriffen  : Berlin lag in der Institutionalisierungswelle der pathologischen Anatomie und damit im universitären Wettbewerb mittlerweile zurück, während in Würzburg die Zahl der Medizinstudenten stetig angestiegen war, seit Virchow dort lehrte. Waren dort im letzten Studienjahr vor seiner Ankunft gerade einmal 84 Medizinstudenten eingeschrieben gewesen, so stieg die Zahl schon in seinem ersten Semester auf 132 und bis zu seinem letzten Semester auf 338 an. Wie Ernst Haeckel 1853 geschildert hatte, kamen die Studenten nach Würzburg, »um Virchow (der wirklich in seiner Art ganz einzig und isoliert dasteht) und höchstens Kölliker zu hören«54. Nachdem Virchow dann wieder weg war, sank anschließend die Zahl der Würzburger Medizinstudenten sofort wieder beträchtlich ab, wenn auch nicht mehr auf das Ausgangsniveau, um erst im Kaiserreich wieder deutlich zu steigen.55 Dagegen hatte Berlin gewesen (ist), dabei ist sein Umgang und sein Verhalten in keiner Weise Verdacht erregend gewesen«. Polizeipräsident von Berlin an Kgl. Zivilkabinett, 9.5.1856  : GStA-PK, I. HA Rep. 89 Zivilkabinett, Nr. 21843 (M). 51 R. Virchow an Carl Virchow, 25.4.1856, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 736. 52 Lenz, Geschichte der FWU, Bd. 2/2, S. 283 f. 53 Virchow an Goldstücker, 2.5.1856  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 54 Ernst Haeckel an seine Eltern, 5.11.1853, in  : ders., Entwicklungsgeschichte einer Jugend, S. 74. 55 Siehe Tab. 26.2  : Die Einzelfachströme an der Universität Würzburg nach Staatsangehörigkeit und Geschlecht

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sich die Zahl der Berliner Medizinstudenten nach dem Tiefstand von 194 im Revolutionsjahr zunächst wieder bis auf 316 im Jahr 1853 erholt, war aber bis 1856 wieder auf 254 gefallen.56 Gemessen am deutschen Gesamttrend blieben damit Berlin wie die preußischen Universitäten insgesamt hinter der Entwicklung zurück, während Würzburg die insgesamt leichte Zunahme der Medizinstudenten weit übertraf.57 Aufgrund dieser sorgsam registrierten Trends spielten die preußische und die bayerische Seite während der Berufungsverhandlungen gleichermaßen mit hohen Einsätzen. Das Berliner Kultusministerium sah allerdings zunächst Schwierigkeiten, die Zustimmung des Finanzministers für das von Virchow geforderte Gehalt von 2000 Talern zu erhalten. Dies erfolgte schließlich erst, nachdem Virchow erklärt hatte, dass er – mit Ausnahme der Kolleggelder – auf alle Nebeneinnahmen, insbesondere die aus einer eigenen ärztlichen Praxis und eines Examinators in der ärztlichen Staatsprüfung  – verzichten wolle, um sich ausschließlich Forschung und Lehre widmen zu können.58 Virchow hatte in den Verhandlungen überdies erreicht, dass ihm mit seiner Berufung zum ordentlichen Professor der pathologischen Anatomie und der allgemeinen Pathologie und Therapie die Prosektur der Charité sowie die Direktion einer Krankenabteilung in der Charité  – die Gefangenenabteilung – übertragen wurde. Damit suchte er sich die wichtigsten Ressourcen für seine Forschungen zu sichern – Kranke und Leichen. Überdies wurde ihm zugestanden, dass nach Würzburger Vorbild das Leichenhaus der Charité in ein eigenes pathologisches Institut umgewandelt würde,59 in dem sich Arbeits-, Unterrichts-, Sammlungs- und sonstige Räume befanden. Hinzu kamen ein von seinem Assistenten geleitetes chemisches Laboratorium, ein großer Mikroskopiersaal, verschiedene Räume für Sektionen sowie Ställe für Hunde, Kaninchen und sonstige Tiere.60 Die Bau- und Anschaffungskosten für das auf den Fundamenten des alten Leichenhauses eilig aufgezogene Institut beliefen sich auf 14.000 Taler, wozu ein jährlicher Etat von 600 Talern kam.61 1804/05–1941/1, in  : Hartmut Titze, Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. I, Hochschulen, 2. Teil  : Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830–1945, Göttingen 1995, S. 555 ff. 56 Siehe Tab. 1.2  : Die Einzelfachströme an der Universität Berlin nach Staatsangehörigkeit und Geschlecht 1817/18–1941/1, in  : ebenda, S. 84. 57 Siehe Tab. 32  : Die Studierenden an den deutschen Universitäten. Allgemeine Medizin, sowie Tab. 33  : Die Studierenden an den preußischen Universitäten. Allgemeine Medizin, in  : Hartmut Titze, Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd.  I  : Hochschulen, 1.  Teil  : Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820–1944, Göttingen 1987, S. 113. 58 Lehnert an Virchow, 17.4.1856  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1241  ; Raumer an Wilhelm I., 5.5.1856  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 24–29. 59 Raumer an Virchow, 19.4.1856  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 13–15. 60 R. Virchow an Carl Virchow, 16.1.1857, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 769. 61 Bodelschwing an Raumer, 7.11.1856  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 100 f.; Rudolf Köpke, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1860, S. 270. (Der Autor des Artikels über das Pathologische Institut ist Rudolf Virchow.).

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Abb. 8  Sektionsraum im Pathologischen Institut der Charité.

Die Konkurrenz der Universitäten der deutschen Einzelstaaten um Studenten gerade in der Zeit des Vormärz und den Jahren vor der Reichsgründung spielte somit eine wesentliche Rolle für Virchows Karriere. Die Rechnung von Ministerium und Fakultät ging auf, denn nach anfänglichen Schwierigkeiten, die mit der zunächst ungewohnten Richtung seiner Forschungen zusammenhingen,62 begannen sich die Studentenströme bald nach seiner Berufung wie erhofft von Würzburg und anderswo nach Berlin umzuorientieren.63 Im Gegensatz zu anderen deutschen Staaten entwickelte Preußen nach der Jahrhundertmitte kein aktives Interesse an den gesamtgesellschaftlich mobilisierenden und modernisierenden Wirkungen der Naturwissenschaften. Solche Hoffnungen existierten dagegen vor allem unter demokratischen und liberalen Naturwissenschaftlern wie Virchow und anderen, die damit zugleich Erwartungen auf eine Reform der politischen Verhältnisse verbanden. Davon wird aber in einem späteren Kapitel die Rede sein. Im Folgenden geht es dagegen zunächst um die Rolle Virchows für die Institutionalisierung der pathologischen Anatomie. 62 Siehe dazu etwa R. Virchow an Carl Virchow, 24.12.1856, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 763  ; Theodor Billroth an Georg Meissner, Druck  : v. Brunn (Hg.), Jugendbriefe Theodor Billroths, S. 181. 63 Siehe dazu Angaben bei Titze, Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd.  I/1, S.  113  ; sowie ebenda, Bd. I/2, S. 84, S. 555 ff.

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3.1.2 Die Institutionalisierung der pathologischen Anatomie Disziplinäres Programm und Disziplinkonstruktion

Virchow bildet ein wichtiges Beispiel für das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschende »Ringen um die Anerkennung spezifischer Disziplinen«. Dabei ging es nicht allein darum, überhaupt einen Lehrstuhl zu erhalten, sondern einen spezifischen Lehrstuhl für die jeweilige Disziplin zu schaffen.64 Virchows Ziel war, die pathologische Anatomie als Naturwissenschaft sowie als zentrale medizinische Teildisziplin zu etablieren. Zu diesem Zweck suchte er nicht nur den direkten Kontakt mit der Bürokratie, sondern umwarb gleichzeitig auch Fachkollegen sowie die nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit.65 Die pathologische Anatomie hatte mit der Sammlung pathologisch-anatomischer Befunde im Zeitalter des Barock begonnen, wobei zunächst das spielerische Interesse an Monstrositäten im Vordergrund stand.66 Durch Giovanni Battista Morgagni (1682– 1771) wurde dann der »anatomische Gedanke« als Methode der empirisch-naturwissenschaftlichen Krankheitsforschung festgeschrieben. Um 1800 wurde die pathologische Anatomie schließlich in die Tätigkeit der Anatomen eingegliedert und Prosekturen an den großen Krankenhäusern gegründet, wobei den Pariser Hospitälern und Sektionsräumen der napoleonischen und postnapoleonischen Ära eine Schlüsselrolle zukam. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die pathologische Anatomie schließlich zur Grundlage der klinischen Diagnostik und Nosologie. Maßgeblich daran beteiligt war Carl von Rokitansky (1804–1878), der 1844 das erste Ordinariat für pathologische Anatomie an einer deutschsprachigen Universität erlangte. Dies war, kurz umrissen, die Ausgangssituation, in der Virchow sich um eine Karriere als pathologischer Anatom bemühte. Bereits Ende 1846 präsentierte er erstmals ein ausführliches disziplinäres Programm. Als Ergebnis einer im Auftrag des preußischen Kultusministeriums unternommenen Untersuchungsreise nach Prag und Wien, wo er die dortigen medizinischen Forschungseinrichtungen inspiziert hatte, verfasste er einen ausführlichen Bericht über die künftige Gestaltung der pathologischen Anatomie in Deutschland.67 »Es scheint mir daher 64 Zloczower, Konjunktur in der Forschung, S. 111. 65 Vgl. Timothy Lenoir, Die Disziplin der Natur und die Natur der Disziplinen, in  : ders., Politik im Tempel der Wissenschaft, S. 209–225, hier  : S. 212. Zum Problem der Disziplingenese als historischer Prozess vgl. auch Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber, 1868–1934. Eine Biographie, München 1998, S. 69–72. 66 Siehe zum Folgenden Hans-Heinz Eulner, Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebiets, Stuttgart 1970, S. 111  ; vgl. auch Russell C. Maulitz, The Pathological Tradition, in  : Bynum/Porter (Hg.), Companion Encyclopedia, Bd. 1, S. 169–182  ; Erwin H. Ackerknecht, Medicine at the Paris Hospital, 1789–1848, Baltimore 1967  ; Esmond Long, A History of Pathology, Baltimore 1928, repr. New York u. Dover 1965. 67 Virchow an Eichhorn, 2.11.1846, sowie Anlage  : Bericht über die Gestaltung der pathologischen Anatomie

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ebenso richtig, als zeitgemäß zu sein«, schrieb Virchow dort, »eine Wissenschaft zu begründen, die, gleich der universellen Anatomie und Physiologie, als pathologische Anatomie und Physiologie an die Stelle der allgemeinen Pathologie trete.«68 Nur aus der Vereinigung dieser Wissenschaften mit einer rationellen Therapie könne »eine wirklich wissenschaftliche Medicin erwachsen«, und daher müsse »das Pathologische Institut den einen, die Klinik den anderen Brennpunkt des medicinischen Unterrichts und der medicinischen Forschung darstellen«69. Zugleich benannte Virchow die dafür erforderlichen Ressourcen  : Zur Erfüllung seiner Aufgaben benötige der pathologische Anatom Leichen, Präparate und Zeichnungen,70 wobei er auf Vorbilder in Russland, England und Österreich verwies. So forderte er eine pathologisch-anatomische Sammlung sowie auch die materiellen Voraussetzungen für Experimente  : »Thiere, Instrumente, Räume – kurz ein pathologisch-physiologisches Institut.«71 Ein öffentliches Institut, so Virchow, sei dringend nötig, denn Frankreich sei diesen Weg schon vorausgegangen, in Wien sei man im Begriff, eine große Anstalt zu errichten, während es in Deutschland »ausser dem Göttinger Institut, welches leider zu wenig benutzt« werde, noch nichts derartiges gebe. Als Überzeugungsstrategie diente ihm somit vor allem der Wink mit der nationalen wie internationalen Konkurrenz. Virchow war zunächst zuversichtlich, dass das Resultat seines Berichts »die Begründung eines pathologischen Institutes, wenn auch erst in kleinen Umrissen, sein wird«72. Jedoch fehlten im Vormärz in Preußen noch die Voraussetzungen, um dieses disziplinäre Programm zu verwirklichen. Es blieb bei der Ernennung Virchows zum interimistischen Prosektor der Charité im folgenden Jahr, und die geschilderten Konflikte mit der Kultusbürokratie während der Revolution blockierten seinen Vorstoß dann vorerst. Mit seiner 1855 erstmals in den Grundzügen formulierten Zellularpathologie konnte er aber den von ihm erhobenen Anspruch der pathologischen Anatomie, als Grundlage der medizinischen Forschung zu dienen, nachhaltig stärken. Bekanntlich baute Virchow bei der Formulierung der Grundgedanken seiner Zellularpathologie auf zahlreichen Vorarbeiten auf, die er vervollständigte, systematisierte und

in Deutschland  : GStA-PK, I. HA, Rep. 76 VIII D Kultusministerium, Nr. 78, Bl. 20–31. 50 Jahre später veröffentlichte Virchow diesen Bericht in seinem Archiv, wobei er sich selbst visionäre Weitsicht attestierte  : Siehe Rudolf Virchow, Ein alter Bericht über die Gestaltung der pathologischen Anatomie in Deutschland, wie sie ist und wie sie werden muss (1846), in  : VA 159 (1900), S. 24–39. 68 Virchow, Ein alter Bericht, S. 33. 69 Virchow an Eichhorn, Dez. 1846, Druck  : ders., Ein alter Bericht, S. 25 f. Zur Verortung dieses Plans in den Kontext der zeitgenössischen Bemühungen um eine wissenschaftliche Medizin vgl. Tuchman, Science, Medicine, and the State, S. 54–71. 70 Ebenda, S. 43. 71 Ebenda, S. 38 f. 72 R. Virchow an Carl Virchow, 20.12.1846, Druck  : RVSW, Bd. 59  : Briefe, S. 292.

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popularisierte.73 Bereits im 17.  Jahrhundert hatten etwa der Engländer Robert Hooke und die Holländer Antony van Leeuwenhoeck und Jan Swammerdam unter dem Mikro­ skop Pflanzenzellen gesehen. Im 19. Jahrhundert ermöglichten leistungsfähigere Mikro­ skope neue Entdeckungen  : Der Zoologe Carl Ernst von Baer fand bei seinen Studien über die Embryonalentwicklung der Wirbeltiere 1827 das Säugetierei, und 1831 gelang es dem englischen Botaniker Robert Brown den Zellkern zu identifizieren. Aber erst der Botaniker Matthias Jakob Schleiden fügte 1838 aus diesen Beobachtungen eine Theorie über die biologische Funktion des Zellkerns zusammen. Er behauptete, dass der Zellkern eine zentrale Rolle beim Entstehungsprozess neuer Zellen spiele, wodurch die Zelle zum Ausgangspunkt der empirisch-naturwissenschaftlichen Botanik wurde.74 Schleidens Freund, der Zoologe Theodor Schwann, übertrug diese Ergebnisse alsbald auf die tierischen Zellen und führte die Funktionen der Gewebe auf Zelltätigkeit zurück, womit er den Ausgangspunkt für eine Physiologie der Gewebe formulierte.75 Virchow begann Ende der 1840er Jahre auf diesem Gebiet zu arbeiten und übertrug die neuen Ansätze der Zellenlehre auf den Menschen. In seinem Aufsatz über die Cellular-Pathologie von 1855 begründete er ein neues Krankheitsverständnis, indem er sowohl das gesunde als auch das kranke Leben als Folge normaler beziehungsweise anormaler Zellenfunktionen erklärte.76 Virchows Leistung bei der Formulierung seiner Zellularpathologie besteht dabei nicht zuletzt in der Synthese und prägnanten Formulierung von Ideen, die eine Anzahl von Forschern vor ihm oder zur selben Zeit entwickelten. Insbesondere gegenüber seinem schärfsten Konkurrenten um das Berliner Ordinariat Robert Remak, der wichtige Vorarbeiten auf diesem Gebiet geleistet hatte, setzte Virchow seine Ellenbogen sehr hartnäckig ein, und so erkannte er dessen Leistungen eher widerwillig erst 1857 an, nachdem er diese Stelle bereits innehatte.77 73 Siehe zum Folgenden v. a. Anette Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, S. 47–70  ; Erwin H. Ackerknecht, Rudolf Virchow. Arzt, Politiker, Anthropologe, Stuttgart 1957, S. 58–72  ; William Coleman, Biology in the Nineteenth Century  : Problems of Form, Function, and Transformation, Cambridge u. a. 1977  ; Thomas Cremer, Von der Zellenlehre zur Chromosomentheorie. Naturwissenschaftliche Erkenntnis und Theoriewechsel in der frühen Zell- und Vererbungsforschung, Berlin 1985  ; Russell C. Maulitz, Rudolf Virchow, Julius Cohnheim and the Programm of Cellular Pathology, in  : Bulletin of the History of Medicine 52 (1978), S. 162–182. 74 Wittkau-Horgby, Materialismus, S. 52–57. 75 Ebenda, S. 62 f. 76 Ebenda, S. 70. 77 Schmiedebach, Robert Remak, S. 198 f. Noch härter urteilt Paul Weindling, der Virchow vorwirft, dass er bei seinem Bemühen, den Lehrstuhl für Pathologie in Berlin zu erhalten, Theorien seines akademischen Rivalen Remak plagiiert habe. (Weindling, Theories of the Cell State, S. 118.) Ackerknecht ging dagegen zwar von einer gleichzeitigen Formulierung der Gedanken aus, meinte aber, »Virchows kleinliche und schneidende Bemerkungen bei dieser Prioritätsdiskussion ehren ihn nicht.« Doch betonte er zugleich, dass Virchow »seine Schlussfolgerungen unabhängig, induktiv und auf seine eigene Weise erreichte.« (Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 65 u. 70.).

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Virchow nutzte seine Position in Berlin, um die pathologische Anatomie als ein Kernfach der Medizin zu verankern. Ein bedeutsamer Schritt war die 1861 erfolgte Ablösung des 1825 eingeführten Tentamen philosophicum durch ein Tentamen physicum. Statt wie bisher Logik, Psychologie, Physik, Chemie, Botanik, Zoologie und Mineralogie wurden nunmehr Anatomie, Physiologie, Chemie, Physik und beschreibende Naturwissenschaften geprüft.78 Damit wurde zugleich das alte Bildungsideal eines studium generale zugunsten eines naturwissenschaftlich orientierten medizinischen Spezialstudiums aufgegeben. Diese Änderung ging wesentlich auf gemeinsame Anstrengungen Virchows mit Emil du Bois-Reymond und Bernhard Langenbeck79 zurück, die damit die Stellung ihrer Disziplinen in der Prüfungsordnung an zentraler Stelle verankerten. Auf diese Weise verschafften sie der von ihnen später selbstbewusst geforderten Aufwertung der Naturwissenschaft im universitären Bildungskonzept80 in einem wichtigen Teilbereich Geltung. Damit hatte ein Prozess, der mit der Einführung experimenteller Untersuchungsmethoden in die medizinische Ausbildung Mitte der vierziger Jahre begonnen hatte,81 seinen vorläufigen Abschluss gefunden. In seiner 1893 gehaltenen Rektoratsrede feierte Virchow die damit verbundene Tendenz als den Übergang vom philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter, wobei er seine Zellularpathologie als einen wichtigen Motor dieser Entwicklung hervorhob.82 Ein Gradmesser für den Stand des von Virchow vorangetriebenen disziplinären Prozesses bedeutete die Auseinandersetzung um die Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften. Ein erster Versuch Emil du Bois-Reymonds, der den zweiten der drei aus der Teilung von Johannes Müllers Ordinariat entstandenen Lehrstuhl erhalten hatte, Virchow zum Akademiemitglied wählen zu lassen, scheiterte 1864 unter anderem noch daran, dass die Akademiemitglieder die pathologische Anatomie noch nicht 78 Verfügung von Bethmann-Hollweg vom 19.2.1861, Druck  : Wilhelm Horn (Hg.), Das Preussische Medizinalwesen. Aus amtlichen Quellen dargestellt, Bd. II, 2. vermehrte Aufl., Berlin 1863, S. 32 f. Vgl. auch Hans Günter Wenig, Medizinische Ausbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1969 (zugl. Diss. med., Bonn 1969), S. 46 u. 116  ; Claudia Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten  : Das Beispiel Preußens, Göttingen 1985, S. 45–50 u. 102 f. 79 Lenoir, Laboratories, Medicine and Public Life, S. 49 f. Lenz, Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd. 2/2, S. 338, führt diesen Schritt v. a. auf Frerichs und Unterstaatssekretär Lehnert zurück. 80 Siehe dazu etwa Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter. Rede am 3. August 1893 in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehalten von dem derzeitigen Rector Rudolf Virchow, Berlin 1893  ; sowie Emil du Bois-Reymond, Culturgeschichte und Naturwissenschaft, in  : Reden von Emil du BoisReymond, Erste Folge  : Litteratur, Philosophie, Zeitgeschichte, Leipzig 1886, S. 240–306. Vgl. auch Christoph Gradmann, Naturwissenschaft, Kulturgeschichte und Bildungsbegriff bei Emil du Bois-Reymond. Anmerkungen zu einer Sozialgeschichte der Ideen des deutschen Bildungsbürgertums in der Reichsgründungszeit, in  : Tractrix 5 (1993), S. 1–16. 81 Lenoir, Science for the Clinic, S. 151. 82 Virchow, Gründung der Berliner Universität, S. 28 f.

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als selbständige Disziplin anerkannten.83 Ein zweiter wiederum von du Bois-Reymond vorgebrachter und unterstützter Vorschlag führte schließlich 1873 zur Wahl Virchows, gemeinsam mit Werner von Siemens. In seiner Antrittsrede bezog Virchow die Wahl gleichermaßen auf die Würdigung seiner Arbeit wie des von ihm vertretenen Wissenschaftszweigs. Noch einmal begründete er ausdrücklich, dass gerade die Pathologie den Zusammenhang der Medizin mit den Naturwissenschaften gefördert habe.84 Die offensive Strategie der disziplinären Absicherung der pathologischen Anatomie, wie sie vor allem mit Hilfe der Prüfungsordnung erfolgte, ergänzte Virchow durch eine Defensivstrategie. So unterstützte er die Haltung der Berliner medizinischen Fakultät, die sich grundsätzlich dabei zurückhielt, neue ordentliche Professuren einzurichten. Seit der Berufung Virchows 1856 zählte die medizinische Fakultät zwölf Ordinarien. Die bereits 1846/47 vorhandene Zahl von 16 ordentlichen Professoren wurde aber erst in den Jahren 1882/83 wieder erreicht. Im Zeitraum 1856/57 bis 1882/83 vermehrte sich allerdings die Zahl der Extraordinarien von sieben auf 25 und die der Privatdozenten von 19 auf 47.85 An diesen Zahlen wird deutlich, wie sehr die ordentlichen Professoren darauf achteten, die Institutionalisierung neuer Disziplinen zu bremsen. Am Beispiel der Berliner medizinischen Fakultät lassen sich zwei unterschiedliche Typen der Vermehrung der Lehrstühle unterscheiden  : einmal durch Replizierung etablierter Disziplinen, zum anderen als Kulminationspunkt der Anerkennung einer neuen Disziplin. Während die Fakultät eindeutig den ersten Typ favorisierte, förderte der Staat den zweiten Typ der Begründung neuer Ordinariate.86 Mehrfach übernahm deshalb das Kultusministerium die Rolle des Schrittmachers, wenn es darum ging, eine neue Disziplin durch ein Ordinariat zu etablieren. Dies zeigt die heftige Gegenwehr der Berliner medizinischen Fakultät gegen das Vorhaben des Kultusministers Bethmann-Hollweg beziehungsweise seines Nachfolgers Mühler, ein Ordinariat für die Geschichte der Medizin einzurichten und dieses mit August Hirsch zu besetzen. Virchow, der sich dabei besonders hervortat, begründete seine Ablehnung unter anderem damit, dass ihm »ein Bedürfnis unter den Studirenden (…) nicht bekannt geworden« sei. Jedoch stärkte er Kultusminister Mühler, der die Berufung Hirschs 1863 gegen die Fakultät durchsetzte, insofern den Rücken, als er den Kandidaten gegen den von seinen Kollegen erhobenen Vorwurf mangelnder fachlicher Qualifikation ausdrück83 Siehe Virchow an Emil du Bois-Reymond, 28.8.1864, in  : Klaus Wenig, Rudolf Virchow und Emil du BoisReymond. Briefe 1864–1894, Marburg/Lahn 1995, S.  73 f., siehe dazu sowie zum Folgenden auch Wenig, ebenda, S. 50–55. 84 Antrittsreden der Herren Siemens und Virchow und Antwort des Herrn Du Bois-Reymond, S. 5–10. 85 Übersicht über die Zahl der Lehrer, in  : Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 3  : Wissenschaftliche Anstalten, Spruchkollegium, Statistik, Halle a. d. S. 1910, S. 490 f. Als Beispiel für die Gegnerschaft gegenüber weiterer Differenzierung und Spezialisierung siehe vor allem Wilhelm von Waldeyer-Hartz, Lebenserinnerungen, Bonn 1920, S. 188–193. 86 Weindling, Theories of the Cell State, S. 109.

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lich in Schutz nahm.87 Virchow ging es bei dieser Gelegenheit somit nicht darum, die Bedeutung der Medizingeschichte zu bestreiten.88 Vielmehr widerstrebte ihm die Ausdifferenzierung neuer »Spezialitäten«, sofern er glaubte, dass diese innerhalb bestehender Fachgebiete, insbesondere seines eigenen, gut aufgehoben seien. So trug er dazu bei, die Medizingeschichte aus den Universitäten zu verdrängen, weshalb seit 1880 das Angebot entsprechender Vorlesungen an deutschen Universitäten rapide zurückging.89 Aber auch als das Preußische Abgeordnetenhaus 1884 über die Einrichtung eines Lehrstuhls für medizinische Chemie und Hygiene in Göttingen beriet, opponierte Virchow. Preußen wollte dabei an Bayern und Sachsen anschließen, wo die Hygiene bereits 1865 beziehungsweise 1878 »ordinariabel« geworden war.90 Virchow erklärte im Namen der medizinischen Fakultäten, dass »sowohl die Hygiene als die gerichtliche Medizin angewendete Wissenschaften (seien), welche weder selbstständige Methoden noch selbstständige Objekte in der Untersuchung haben«. Daher sei es Aufgabe der wissenschaftlichen Institute, »welche wirklich wissenschaftlichen Disziplinen dienen«, auch die Studenten der Hygiene zu unterweisen. Zwar stimmte er in diesem speziellen Falle der neuen Einrichtung in Göttingen zu, wollte darin aber keinen Präzedenzfall für andere preußische Universitäten sehen  : »[I]m Gegentheil, ich bin überzeugt, dass, wenn man an den anderen Universitäten die verschiedenen wissenschaftlichen Institute in gebührender Weise durchbildet, das Bedürfnis für hygienische Institute ein sehr mäßiges sein wird.«91 Am bekanntesten ist allerdings sein letztlich vergeblicher Kampf gegen die Insti­ tutionalisierung der seit den 1880er Jahren steil aufstrebenden Bakteriologie. Ein wichtiges Instrument, um akademisches Terrain zu kontrollieren, bildete die Platzierung seiner Schüler. Lange Zeit, so erinnerte sich einer von ihnen später, sei Virchow »Beherrscher und Besetzer aller Lehrstühle der Medizin«92 gewesen. Dies war zwar sicherlich übertrieben, doch vor allem unter Pathologen fanden sich zahlreiche ehemalige Schüler von ihm.93 So schätzte Ministerialdirektor Althoff 1898 im Preußischen Abge87 Separatvotum Virchows, 5.3.1863  : AHUB, Medizinische Fakultät, Nr.  1413, Bl.  20 R. Siehe auch das Schreiben Mühlers an die medizinische Fakultät, 2.4.1863, ebenda, Bl. 30–32. Vgl. dazu Lenz, Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd. 2/2, S. 338. Dieser sieht Virchow allerdings stärker im Gegensatz zu seiner eigenen Fakultät. 88 Vgl. Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 125–133. Zur Stellung der Medizingeschichte vgl. auch Huerkamp, Aufstieg der Ärzte, S. 103 f.; sowie die Beiträge in Andreas Frewer/Volker Roelcke (Hg.), Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie. Entwicklungslinien vom 19. ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001. 89 Dietrich von Engelhardt, Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus, Freiburg u. München 1979, S. 214. Siehe auch Rudolf Virchow in  : SBPAH, 44. Sitzung am 11.3. 1898, S. 1350. 90 Pfetsch, Institutionalisierung medizinischer Fachgebiete, S. 21 f. 91 SBPAH, 39. Sitzung am 1.2.1884, S. 1129  ; ebenda, 27. Sitzung am 5.3.1889, S. 800 f. 92 Carl Ludwig Schleich, Besonnte Vergangenheit, Lebenserinnerungen (1859–1919), Berlin 1921, S.  181 u. S. 194. 93 Siehe dazu Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 18–20  ; vgl. auch Harold M. Malkin, Rudolf Virchow and the Du-

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ordnetenhaus, dass sich unter den seit 1852 etwa 1000 oder 1200 zu Extraordinarien und Ordinarien beförderten Privatdozenten etwa 50 Schüler Virchows befänden.94 Allerdings ging seine Anziehungskraft auf begabte Schüler in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten zurück, vor allem, weil sein Ansatz durch die Bakteriologie, aber auch durch neovitalistische Ansätze unter Druck geraten war. Während Virchow am Ende des Jahrhunderts also noch den Erfolg seines disziplinären Programms pries,95 hatten sich um ihn herum zahlreiche Mediziner lohnenderen Forschungsprogrammen zugewandt. So war es ihm schließlich nicht gelungen, den Anspruch der pathologischen Anatomie, die Basis aller medizinischen Forschung zu bilden, dauerhaft durchzusetzen. Immerhin aber hatte er nachhaltig zu ihrer festen disziplinären Identität und auch zu ihrer Institutionalisierung beigetragen, und dazu gehörte auch die Entwicklung einer spezifischen professionellen Kultur. Eine zentrale Rolle dafür spielte sein Pathologisches Institut. Das Berliner Pathologische Institut und die »institutionelle Revolution«

Bei der 1856 erfolgten Gründung des Pathologischen Instituts in Berlin, das Virchows zuvor existierendem Institut in Würzburg nachempfunden war, hatte vor allem der innerdeutsche Wettbewerb um Studenten den Ausschlag gegeben. Im April 1871 beantragte Virchow, das 1856 hastig hochgezogene und bereits wieder baufällige Pathologische Institut zu erweitern und zu vervollständigen, »damit dasselbe den seit den letzten 10 Jahren beträchtlich gesteigerten Anforderungen des Unterrichts und der Wissenschaft vollständig genügen und auch in seiner äußeren Erscheinung als eine würdige Zierde der Hauptstadt sich darstellen könne«. Zugleich ersuchte er die preußische Regierung, »nunmehr auch diejenige weitere Ausstattung hinzuzufügen, welche uns die Möglichkeit bietet, die Concurrenz zu bestehen, welche das Ausland durch Gründung ähnlicher Institute, wie das unsrige als das erste sie mit Notwendigkeit gezeigt hat, in ausgedehntem Maße eröffnet hat«96. Neben der Anpassung des Instituts an die Bedürfnisse der bereits vorhandenen Studentenzahlen rückte er somit die internationale Konkurrenz, vor allem mit Frankreich, in den Vordergrund. Virchow reihte sich damit in die prominente Phalanx jener Naturwissenschaftler ein, die nach der Reichsgründung öffentlich auf die zentrale Bedeutung der Naturwissenschaft für die innere Reichsgründung wie für die internationale Stellung Deutschlands in der Welt pochten und dabei auf deren praktischen Beitrag in Krieg und Frieden hinwiesen.97 rability of Cellular Pathology, in  : Perspectives in Biology and Medicine 33 (1990), S. 431–443, hier  : S. 440  ; Bernd Denhardt, Rudolf Virchow und seine Schüler, Münster (med. Diss.) 1966. 94 SBPAH, 70. Sitzung am 2.5.1898, S. 2295. 95 Virchow, Ein alter Bericht über die Gestaltung der pathologischen Anatomie. 96 Virchow an Mühler, 11.4.1871  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 tit. IV Nr. 40 Bd. 2 (M). 97 Siehe z. B. Rudolf Virchow, Über die Aufgaben der Naturwissenschaft im neuen nationalen Leben Deutschlands, in  : Tageblatt der 44. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Rostock 1871, Nr. 5 vom 22.9.1871, S. 73–81.

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Die französischen Reparationszahlungen trugen wahrscheinlich dazu bei, dass im Gegensatz zu 1856 keine Einwendungen des preußischen Finanzministers das Projekt störten und der auf 90.000 Taler geschätzte Erweiterungsbau des Pathologischen Instituts bereits 1873 fertiggestellt werden konnte.98 Diese Ausbaumaßnahme, die so vielleicht auch als eine Art Kriegsdividende betrachtet werden kann, bewegte sich in einer Welle von Institutsgründungen zwischen den späten 1860er Jahren und 1880, welche die älteren im Hinblick auf die bislang gewohnten finanziellen Dimensionen bei weitem übertraf. So unterscheidet David Cahan am Beispiel der Physik die älteren Institutsgründungen des 19. Jahrhunderts von den Gründungen seit Mitte der 1860er Jahre, die im Zusammenhang des Bemühens erfolgt seien, diese für die Bedürfnisse einer aufsteigenden Industrienation einzuspannen. Den dramatischen Anstieg der aufgewandten Baukosten und Budgets und der Zahl der Institute, aber auch der dort unterrichteten Studenten und beschäftigten Assistenten brachte er auf die suggestive Formel einer »institutionellen Revolution«99. So vollzog die preußische Regierung, die sich mit Institutsneugründungen bislang zurückgehalten hatte, eine geradezu dramatische Wende ihrer Politik, die sich ebenso in der Breite der Gründungsprojekte als auch in einzelnen besonders spektakulären Projekten manifestierte. Vorreiter dieser Entwicklung war das zwischen 1864 und 1869 erbaute erste chemische Universitätslaboratorium für August Wilhelm von Hofmann.100 Bald stellten neue Planungen diesen zunächst als luxuriös empfundenen Standard in den Schatten  : 1870 veranschlagte du Bois-Reymond für die von ihm geforderte Errichtung eines physiologischen Instituts Baukosten von etwa 300.000 Talern.101 Und als die Berliner Universität 1871 Hermann von Helmholtz als Ordinarius nach Berlin berief, musste sie ihm gleichfalls ein eigenes Institut versprechen, das bei seiner Fertigstellung 1878 mehr als 1,5 Millionen Mark (entsprechend 500.000 Talern) verschlungen hatte und überdies mit einem Jahresetat von 27.000 Talern ausgestattet war.102 Dieser preußische Gründungsboom kulminierte in der Amtszeit Friedrich Althoffs als Leiter der Abteilung für Höhere Bildung im Preußischen Kultusministerium zwischen 1882 und 1907, als  98 Wilhelm von Camphausen an Adalbert Falk, 5.2.1872  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 tit. IV Nr. 40 Bd. 2 (M), Bl. 157.  99 David Cahan, The Institutional Revolution in German Physics, 1865–1914, in  : Historical Studies in the Physical Sciences 15 (1984), T. 2, S. 1–65  ; vgl. auch Lenoir, Laboratories, Medicine and Public Life, S. 16  ; Kremer, Building Institutes for Physiology, S. 73. 100 Wolfgang Girnus, Zwischen Reichsgründung und Jahrhundertwende, 1870–1900, in  : Autorenkollektiv unter Leitung von Hubert Laitko  : Wissenschaft in Berlin. Von den Anfängen bis zum Neubeginn nach 1945, Berlin 1987, S. 174–303, hier  : S. 177 f. 101 Lenoir, Soziale Interessen, S. 48. 102 Cahan, Institutional Revolution, S.  22. Siehe auch ders., An Institute for an Empire  : The PhysikalischTechnische Reichsanstalt 1871–1918, Cambridge u. a. 1989, S. 51  ; Girnus, Zwischen Reichsgründung und Jahrhundertwende, S. 221 f.

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allein 86 neue medizinische Institute, Labore und Kliniken errichtet wurden103 und sich zugleich 1887 mit der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin der Trend zur Großforschung durchsetzte. In dieser Reihe nahm sich das Pathologische Institut mit einem Jahresetat von etwa 4000 Talern in den 1870er Jahren104 geradezu bescheiden aus. Hatte das Institut ursprünglich mit einem Assistenten begonnen, so war bereits 1857 ein zweiter Assistent bewilligt worden, und nachdem 1861 eine chemische Assistentenstelle begründet wurde, folgte 1874 schließlich eine dritte anatomische Stelle. In diesem Institut »schaltet(e) und waltet(e)« Virchow, wie ein Zeitungsbericht 1891 schilderte, »als ein unumschränkter, absoluter König, umgeben von seinen Getreuen – dem Stabe seiner Assistenten«. Das Arbeitszimmer Virchows bezeichnete der Bericht als »Allerheiligstes«105, worin sich die autoritäre Position des Institutsdirektors treffend widerspiegelt. Diese geht auch aus den Berichten seiner Assistenten und Schüler deutlich hervor, die gleichermaßen vor seiner Autorität und seinem Sarkasmus zitterten. Virchows Haltung zu den genannten institutionellen Entwicklungen war ambivalent  : Diese hing nicht zuletzt davon ab, ob er die Sache aus einer weitergespannten wissenschaftspolitischen Perspektive oder aus seiner engeren Institutsperspektive betrachtete. Als es um die Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt ging, stimmte er in die mit nationalistischen Untertönen angereicherte weitverbreitete Begeisterung ein und begrüßte die Entwicklung zur Großforschung als notwendig und zeitgemäß. Jedoch hoffte er darauf, dass hieraus ein internationales Institut entstehen würde, das die weltweite Durchsetzung technischer Normen unter deutscher Hegemonie erreichen könnte und damit konkurrierenden französischen Bestrebungen zuvorkäme. Wissenschaftlicher Internationalismus konnte somit auch eine Funktion nationalistischer Vormachtbestrebungen werden. Im Fall der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt widersprach Virchow zugleich der von liberaler Seite geäußerten Kritik an der hier entstehenden Mischform staatlicher und öffentlicher Finanzierung.106 Kritisch verhielt sich Virchow dagegen zu Robert Kochs 1891 in Berlin fertiggestelltem Institut für Infektionskrankheiten, dessen Baukosten auf 866.000 Mark veranschlagt worden waren und dessen Jahresbudget bei 235.000 Mark lag.107 Zwar begrüßte er 103 McClelland, State, Society, and University, S. 280 ff. 104 Virchow an Falk, 24.10.1873  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 2 (M), Bl. 187–192. 105 Dr. Bock, Virchow in seinem Institut, in  : Berliner Tageblatt, Nr. 518 vom 13.10.1891, 1. Beiblatt. 106 SBDR, 8.1.1887, S. 303–306. Zur liberalen Kritik an der Gründung der PTR siehe auch Girnus, Zwischen Reichsgründung und Jahrhundertwende, S. 277  ; Wilhelm Foerster, Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen, Berlin 1911, S. 192. 107 Vgl. dazu Christoph Gradmann, Money, Microbes, and More  : Robert Koch, Tuberculin and the Foundation of the Institute for Infectious Disease in Berlin in 1891, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint 69, Berlin 1997, v. a. S. 2 u. 13.

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prinzipiell die Einrichtung eines von ihm beharrlich so genannten »bakteriologischen Institutes«, sorgte sich aber zugleich um die daraus erwachsende Konkurrenz für sein eigenes Institut, zumal da ein der Budgetkommission des Preußischen Abgeordnetenhauses vorgelegtes Programm des neuen Instituts, so Virchow, »von der schwindelhaften Vorstellung aus(geht), dass die ganze Pathologie in Bakteriologie aufzulösen sei«. Auch die alle bisher üblichen Dimensionen sprengenden finanziellen Dimensionen dieses Instituts kritisierte er im Abgeordnetenhaus, nutzte dies aber vor allem als Maßstab für Forderungen, welche die Situation anderer Institute verbessern wollten.108 Tatsächlich gelang es ihm in den 1890er Jahren, noch einmal in größerem Umfang Mittel für sein Pathologisches Institut vom preußischen Staat zu erhalten. Das in den 1850er und 1860er Jahren noch schlagende Argument, zugkräftige Bedingungen für den Zustrom weiterer Studenten herstellen zu müssen, hatte sich nun allerdings nahezu in das Gegenteil verkehrt  : Im Kaiserreich endete die um die Mitte des Jahrhunderts herrschende Stagnation der Studentenzahlen, und besonders stark erfasste dieser Boom die medizinische Fakultät. Lag die Zahl der Medizinstudenten an den Universitäten des Deutschen Reichs 1870/71 noch bei 2600, so stieg sie bis 1890 auf etwa 8700 an, um dann wieder etwas abzusinken.109 Auch an der Berliner Universität stiegen die Studentenzahlen eindrucksvoll, die dadurch zur ersten deutschen »Massenuniversität« wurde  : Die Zahl der an der dortigen medizinischen Fakultät immatrikulierten Studenten stieg von etwa 440 Anfang 1870/71 – nach einem zeitweiligen Rückgang Mitte der siebziger Jahre auf etwa 260 – bis Anfang 1890/91 auf ein Maximum von etwa 1380 Studenten an, um dann wieder etwas zurückzugehen.110 Bereits seit den achtziger Jahren wurde dies als »Überfüllung« wahrgenommen und Ängste vor einem akademischen Proletariat geschürt, und so breitete sich in den neunziger Jahren schließlich ein neuartiger Bildungsprotektionismus aus.111 Vor diesem Hintergrund war das bei Virchows Berufung noch so wirksame Argument, durch bessere Ausstattung des Pathologischen Instituts die Stellung der Berliner medizinischen Fakultät bei der Konkurrenz um Studenten zu stärken, wertlos geworden. So rückte er nun die akute Baufälligkeit des Pathologischen Instituts, die bereits 1870 ein Argument gewesen war, in das Zentrum seiner Argumentation. Offensichtlich sah er 108 SBPAH, 85. Sitzung am 9.5.1891, S. 2264–2267  ; ebenda, 93. Sitzung am 16.3.1892, S. 964 f.; ebenda, 30. Sitzung am 7.3.1894, S. 954. 109 Tab. 23  : Die Studierenden an den deutschen Universitäten nach Fachbereichen 1830/31–1941/1, in  : Titze, Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. I/1, S. 87 f. 110 Lenz, Geschichte der FWU, Bd. 3, Statistik der immatrikulierten Studenten, S. 496 f.; Tab. 1.2. Die Einzelfachströme an der Universität Berlin nach Staatsangehörigkeit und Geschlecht 1817/18–1941/1, in  : Titze, Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II/2, S. 85. 111 Zusammenfassend dazu Konrad Jarausch, Universität und Hochschule, in  : Christa Berg (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV  : 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, S. 313–345, hier  : S. 316–319.

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sich gegenüber anderen ambitionierten Institutsgründungen dieser Zeit in der Defensive. Auch der legitimierende Verweis auf die weiter gewachsenen Aufgaben des Unterrichts sowie den mittlerweile erreichten Umfang der international führenden pathologischen Sammlung,112 d. h. der Wink mit der traditionellen akademischen Verbindung von Forschung und Lehre, stellte seinen Neubauantrag außerhalb des aktuellen Trends zur anwendungsorientierten, industrienahen »Großforschung«. Vorrang besaß schließlich der 560.000 Mark teure Bau des 1899 eröffneten Pathologischen Museums. Die Fertigstellung der übrigen Institutsgebäude, die erst 1905 beziehungsweise 1906 abgeschlossen war, erlebte er allerdings nicht mehr.113 Zugleich konnte er die Personalstellen noch einmal erheblich ausdehnen. So arbeiteten für ihn zuletzt neben fünf anatomischen Assistenten ein Kustos, ein Militärarzt, der Vorsteher und der Assistent des chemischen Laboratoriums, hinzu kam ein Unterarzt des militärärztlichen Friedrich-Wilhelm-Instituts.114 Zwar konnte Virchow auf diese Weise mit seinem Institut noch ein Stück weit an der Wachstumsdynamik der Institutsgründungen seit dem Ende des Jahrhunderts partizipieren. Allerdings wurde hier nicht mehr wie fünfzig Jahre zuvor ein innovatives Forschungsgebiet prämiert, sondern ein immerhin nach wie vor prestigeträchtiger universitärer Unterrichtszweig auf das notwendige personelle und sachliche Niveau angehoben. Dabei spielte die internationale Reputation Virchows, um die es zu diesem Zeitpunkt bereits besser bestellt war als um seine nationale, eine wichtige Rolle. Ebenso wie die Fertigstellung der neuen Institutsgebäude erlebte er auch eine andere Änderung nicht mehr, für die er sich während seiner gesamten Zeit als Institutsdirektor in Berlin eingesetzt hatte, nämlich die Regelung der Stellung des Pathologischen Instituts zwischen der Charité und der Universität.115 Von Anbeginn seiner Tätigkeit sah er seine Stellung als Institutsdirektor durch die hier bestehende Unklarheit belastet, was sich besonders in der Frage der Finanzverwaltung bemerkbar machte. Virchow versuchte deshalb intensiv, diese Verhältnisse durch ein Institutsstatut zu regeln, das ihm die Unabhängigkeit von der Charité und die volle Zugehörigkeit zur Universität verschaffen sollte. Damit scheiterte er jedoch, und erst kurz nach seinem Tode wurde dies weitgehend in seinem Sinne geregelt und die beiden Einrichtungen wenigstens finanziell getrennt.116 112 Siehe dazu die Unterlagen in GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 3 (M). 113 Johannes Orth, Das pathologische Institut, in  : Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-WilhelmsUniversität, Bd.  3, S.  165–176 u. S.  170  ; Peter Krietsch/Manfred Dietel, Pathologisch-anatomisches Cabinet. Vom Virchow-Museum zum Berliner Medizinhistorischen Museum in der Charité, Oxford u. a. 1996, S. 82 f. 114 Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd. 3, S. 166–169. 115 Vgl. dazu auch Cay-Rüdiger Prüll, Zwischen Krankenversorgung und Forschungsprimat. Die Pathologie an der Berliner Charité im 19. Jahrhundert, in  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 3 (2000), S. 87–108. 116 Köpke, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität, S. 270 f.; Orth, Das pathologische Institut, S. 173.

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Bei dieser Auseinandersetzung, in die neben Virchow das Kultusministerium, die medizinische Fakultät und die Charité einbezogen waren, ging es letztlich vor allem um die Frage der Forschungsressourcen. Neben Räumen und Apparaten als infrastruktureller Voraussetzung handelte es sich dabei vor allem um Kranke, Leichen, Präparate und Tiere für Untersuchungszwecke. Konflikte auf dem Markt der Forschungsressourcen

Auch bei seiner Dauerauseinandersetzung um wissenschaftliche Ressourcen war Virchow vor allem darauf bedacht, den bei seiner Berufung nach Berlin bereits weit fortgeschrittenen Disziplinbildungsprozess der pathologischen Anatomie voranzutreiben beziehungsweise diesen zu sichern. Bald nach dem Tode seines alten Lehrers Johannes Müller beantragte Virchow, aus dem zuletzt von diesem geleiteten anatomischen Museum der Universität den pathologisch-anatomischen Teil abzutrennen. Zugleich sollte dieses Material dem Professor für pathologische Anatomie – d. h. ihm selbst – unterstellt und dabei eventuell in das Pathologische Institut verlagert werden.117 Die angestrebte Teilung der Sammlung entlang der neugezogenen Fachgrenzen begründete er als notwendige Konsequenz der Ausdifferenzierung des neuen Lehrstuhls für pathologische Anatomie.118 Die medizinische Fakultät billigte dieses Vorhaben zunächst,119 doch wollte Kultusminister Raumer sein Placet nicht geben, bevor der noch zu bestimmende neue Leiter der anatomischen Sammlung und Professor für Anatomie dazu seine Meinung erklärt hatte.120 Der auf den dritten aus der Teilung der freigewordenen Stelle Johannes Müllers hervorgegangenen Lehrstuhl berufene Carl Bogislaus Reichert wehrte sich prompt gegen den Teilungsplan. Er argumentierte dabei mit dem fachlichen Zusammenhang von pathologischer Anatomie und Anatomie, aber auch mit der drohenden Zerstörung der Sammlung, die ein gewachsenes einheitliches Ganzes darstelle, sowie des Katalogs.121 Die medizinische Fakultät, die diese Angelegenheit beraten und entscheiden sollte, ergänzte ein weiteres wichtiges Argument  : Das anatomische Museum sei nicht blos für einzelne, an demselben angestellte Fachgenossen, es sei für den ganzen Staat, für das Publikum, die gelehrte Welt, für sämtliche Mitglieder der medicinischen Fakultät, für die Medicin studirende Jugend geschaffen und es sei daher bei jeder beabsichtigten Veränderung nothwendig darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Benutzung desselben in keiner Weise erschwert werde (…). 117 Virchow an medizinische Fakultät, 2.5.1858  : AHUB, Medizinische Fakultät, Nr. 177, Bl. 24. 118 Separat-Votum des Professor Virchow in der Angelegenheit wegen Trennung der anatomischen Sammlungen der Universität, 12.11.1858  : AHUB, Medizinische Fakultät, Nr. 177, Bl. 61–62. 119 Bericht der medizinischen Fakultät vom 6.5.1858  : AHUB, Medizinische Fakultät, Nr. 254, Bl. 27. 120 Raumer an Virchow, 8.6.1858  : AHUB, Medizinische Fakultät, Nr. 254, Bl. 38. 121 Reichert an medizinische Fakultät, 18.4.1859  : AHUB, Medizinische Fakultät, Nr. 177, Bl. 101 f.

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Deshalb schlug sie den Erhalt des anatomischen Museums vor, wobei die einzelnen Abteilungen nach dem Vorbild des königlichen Kunstmuseums von verschiedenen Direktoren geleitet werden könnten.122 Stellte die medizinische Fakultät auf diese Weise die Einheit und die Öffentlichkeit der Sammlung in den Vordergrund, erklärte Virchow die Bedeutung des anatomischen Museums für das Publikum zum gänzlich untergeordneten Argument. Seine oberste Priorität war dagegen die Zugänglichkeit zu den jeweils relevanten Objekten für denjenigen Professor, der die betreffende Richtung in Forschung und Lehre vertrat.123 Dies ist umso bemerkenswerter, als er in anderen Zusammenhängen der Öffentlichkeit von Wissenschaft erhebliches Gewicht beimaß. Sofern es jedoch seine eigenen disziplinären Interessen berührte, trat dieses Motiv in den Hintergrund. Mit dieser Auseinandersetzung verband er insbesondere die Sorge, dass die disziplinäre Entwicklung der pathologischen Anatomie einen Rückschlag erleiden könnte. Für ihn bestand hier die akute Gefahr, dass sein Ordinariat ganz auf die klinische, praktische Richtung eingeschränkt würde, während er die praktische mit der theoretischen Richtung verbunden wissen und den Zusammenhang mit der Physiologie erhalten wollte  : »Denn unser Bestreben in der Pathologie ist ja eben das, in jedem Vorgange des kranken Lebens das physiologische Gesetz, in der anatomischen Untersuchung den allgemeinen morphologischen Grund zu erkennen.«124 Darauf stützte sich auch sein Konzept, wonach die pathologische Anatomie ein Zentrum medizinischer Forschung und Lehre bilden sollte. Virchow zog in dieser Auseinandersetzung zunächst den Kürzeren, da sich das Kultusministerium dagegen entschied, das anatomische Museum aufzuteilen. Deshalb begann er nun eine eigene Sammlung pathologischer Präparate aufzubauen. Diese Lösung hatte er zunächst abgelehnt, da dies nicht nur viel Zeit und Geld kosten würde, sondern auch schwer zu realisieren sei, denn bestimmte pathologische Phänomene träten nur sehr selten und manche Krankheitsbilder in der Gegenwart gar nicht mehr auf.125 Diese Tätigkeit betrieb er jedoch so intensiv, dass daraus eine der international bedeutendsten Sammlungen pathologischer Präparate wurde. Überdies wurde nach dem Tode Reicherts 1873 das anatomische Museum schließlich doch aufgeteilt,126 wodurch Virchow nachträglich in den Besitz der ihn interessierenden historischen pathologischen Präparate gelangte. Für die zuletzt auf etwa 20.000 Exponate angewachsene Sammlung wurde 1899

122 Bericht des Dekans und der Professoren der medizinischen Fakultät für Kultusminister Bethmann Hollweg, 22.4.1859  : AHUB, Medizinische Fakultät, Nr. 254, Bl. 95. 123 Erklärung des Prof. Virchow, die Trennung der anatomischen Sammlungen betreffend, 16.4.1859  : AHUB, Medizinische Fakultät, Nr. 254, Bl. 110. 124 Rudolf Virchow, Zusatz zu der Erklärung vom 16.4.1859  : AHUB, Medizinische Fakultät, Nr. 254, Bl. 112 f. 125 Erklärung des Prof. Virchow, die Trennung der anatomischen Sammlungen betreffend, 16.4.1859  : AHUB, Medizinische Fakultät, Nr. 254, Bl. 110. 126 Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd. 2/2, S. 370 f.

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Abb. 9  Skelette und Gipsabdrücke von Köpfen aus der Sammlung Rudolf Virchows.

ein eigenes Pathologisches Museum eingeweiht, das neben den Abteilungen für Lehrzwecke nunmehr auch eine eigene öffentlich zugängliche Schausammlung enthielt.127 Auch die von Virchow zunächst ausgeübte Leitung der Abteilung für kranke Gefangene der Charité besaß ihren Hintergrund in einer solchen Ressourcenfrage  : An dieser Position interessierte ihn vor allem das dort anzutreffende breite Spektrum von Krankheiten. Die Stellung der Patienten war durch die in den Erinnerungen seines Schülers Bernhard Naunyn verwendete Bezeichnung »Krankenmaterial«128 treffend gekennzeichnet  : Bevor sich am Ende des 19. Jahrhunderts allmählich die therapeutischen Mög127 Rudolf Virchow, Die Eröffnung des pathologischen Museums der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität am 27. Juni, Berlin 1899  ; Krietsch/Dietel, Pathologisch-anatomisches Cabinet, S. 82 f.; Angela Matyssek, Das Pathologische Museum der Friedrich-Wilhelms-Universität. Rudolf Virchows Sammlung von Körpermißbildungen und Krankheiten – Ansätze zu einer Stilgeschichte medizinischer Präparate, Magisterarbeit, Kunstgeschichtliches Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin, 1998  ; dies., Die Wissenschaft als Religion, das Präparat als Reliquie. Rudolf Virchow und das Pathologische Museum der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin, in  : Anke te Heesen/E. C. Spary (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001, S. 142–168. 128 Bernhard Naunyn, Erinnerungen, Gedanken und Meinungen, München 1925, S. 112. Zum Problem des

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lichkeiten verbesserten, war die Behandlung der in der Regel sozial niedrig gestellten Krankenhauspatienten, wie Virchows damaliger Würzburger Kollege Rinecker 1853 seinen Studenten zu Beginn seines Kollegs ernüchternd mitteilte, »eigentlich nur ein ganz unsystematisches Experimentieren, ein irrationales Versuchen mit dem menschlichen Organismus, ein unnützes und wenigstens sehr zweideutiges Probieren, Hin- und Herraten usw.«129 Virchow wurde aber 1873 auf eigenen Wunsch von seiner Abteilungsleiterposition an der Charité entbunden, da sie für ihn an Bedeutung verloren hatte und er mit anderen Aufgaben überlastet war.130 Damit verlagerte sich seine medizinische Arbeit zunehmend von der Klinik zum Experiment. Erheblich wichtiger als die kranken Patienten war für seine Arbeit somit eine andere Forschungsressource, nämlich Leichen. Der Aufstieg der pathologischen Anatomie war eng damit verknüpft, dass in den Hauptstädten Europas große warenhausartige Hospitäler entstanden, die für stetigen Nachschub an Leichen sorgten.131 Virchow hatte deshalb bei den Berufungsverhandlungen die Prosektur der Charité – d. h. die Leitung des Leichenhauses – zur Bedingung gemacht, um die für die Ausbildung von Studenten wie für die Erforschung pathologischer Befunde gleichermaßen wichtige Versorgung mit diesem Untersuchungsmaterial garantieren zu können. Der großzügige Zugang zu Leichen war der Hauptfaktor dafür, dass Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts Paris als Mekka amerikanischer Medizinstudenten ablöste.132 Der Bedarf war dabei beträchtlich  : In den 1880er Jahren wurden jährlich etwa 2000 Leichen in das Pathologische Institut gebracht, von denen etwas mehr als die Hälfte zu einer regelmäßigen Sektion gelangten.133 Die Verfügbarkeit dieser Ressource war jedoch durch religiöse und kulturelle Vorbehalte in der Bevölkerung begrenzt, bei der die Sektionen wesentlich zu der großen Unbeliebtheit der Charité beitrugen,134 zumal es sich, wie bei den Krankenhauspatienten, hauptsächlich um Arme und andere Angehörige der Unterschichten handelte. Hinzu kamen die konkurrierenden Ansprüche anderer Forscher auf diesem begrenzten Markt. Auch der nach Virchows Ankunft in Berlin vom Zaun gebrochene Konflikt mit der Charité drehte sich im Wesentlichen um den Leichennachschub für sein PathologiArzt-Patienten-Verhältnisses unter den Bedingungen des Krankenhauses im 19.  Jahrhundert vgl. Huerkamp, Aufstieg der Ärzte, S. 131–166. 129 Haeckel, Brief an Vater, 16.11.1853, in  : ders., Entwicklungsgeschichte einer Jugend, S. 79. 130 Virchow an Charité-Direktion, 31.3.1873  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2723. 131 Maulitz, The Pathological Tradition, S. 172  ; vgl. auch Ackerknecht, Medicine at the Paris Hospital. 132 John Harley Warner, Against the Spirit of System. The French Impulse in Nineteenth-Century American Medicine, Princeton 1998, S. 304 f. 133 National-Zeitung vom 16.8.1888, Nr.  445, »Das pathologische Institut«.  – 1890 wurden »von insgesamt 1981 Leichen (…) 1141 secirt  ; 840 wurden begraben oder nach außen gebracht, ohne secirt zu sein. Von den 1141 secirten waren wiederum nur 994 klinische, bei denen ein voller Sectionsbefund erhoben werden konnte  ; der Rest zerfällt in gerichtliche und Examensfälle.« Siehe Virchow an v. Zedlitsch-Trützschler, 15.5.1891  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 3 (M), Bl. 215–218. 134 Naunyn, Erinnerungen, S. 113.

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sches Institut. Dies war nicht allein eine Auseinandersetzung zwischen Wissens- und Verwaltungsökonomie,135 sondern zugleich ein kultureller Konflikt. Leichen bildeten ein Medium, durch das Wissenschaft und städtische Öffentlichkeit eng verbunden waren. Während Virchow die Erfordernisse von Forschung und Lehre ins Feld führte und den von ihm erwarteten Erfolg bei der Anlockung von Medizinstudenten in direkte Beziehung zur Versorgung mit Leichen stellte,136 argumentierte die Charité-Direktion in dieser Auseinandersetzung mit den Pietätsinteressen und religiösen Empfindungen der Patienten sowie der Angehörigen der Verstorbenen. Zugleich rechnete sie ihm vor, dass ihm alle zwei Tage wenigstens drei Leichen zur Verfügung stünden und »ihm in der That ein Material zur Disposition steht, wie es wohl in wenig größeren Städten Deutschlands, und gewiß nicht in Würzburg, irgend einem Professor der Pathologie geboten wird«137. Verwaltungsdirektor Carl Heinrich Esse, der gute persönliche Beziehungen zum Kultusministerium besaß,138 beschwerte sich deshalb bei Raumer, dass »der Professor Virchow es nicht vermag, die wichtigsten Angelegenheiten ohne persönliche Beziehungen und Verletzungen zu behandeln« und fand darin »leider einen erneuten Beweis für die Richtigkeit meiner Beurtheilung des Charakters des Professors Virchow, über welchen ich vor seiner Berufung als Professor der pathologischen Anatomie bei der hiesigen Universität Eurer Exzellenz wiederholt Schilderungen zu machen mir erlaubt habe«139. Der Konflikt wurde schließlich 1857 durch ein Leichenreglement beschwichtigt, in dem die Verfügungsgewalt über die in der Charité verstorbenen Leichen detailliert geregelt wurde. Darin wurde dem Prosektor insbesondere das Vorrecht eingeräumt, bis auf einige Ausnahmefälle alle Sektionen auszuführen. Mit detaillierten Bestimmungen, die darauf abzielten, Scheintote rechtzeitig zu entdecken und Verstümmelungen der Leichen soweit als möglich zu verhindern, suchte das Statut zugleich einen Weg zwischen den religiösen Empfindungen der Angehörigen und der Auffassung der Pathologen, die Leichen schlicht als Forschungsmaterial betrachteten, zu vermitteln.140

135 Siehe dazu Eric J. Engstrom/Volker Hess, Zwischen Wissens- und Verwaltungsökonomie  : Zur Geschichte des Berliner Charité-Krankenhauses im 19. Jahrhundert, in  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 3 (2000), S.  7–16  ; Volker Hess, Der Verwaltungsdirektor als erster Diener seiner Anstalt  : Das System Esse an der Charité, in  : ebenda, S. 69–86  ; Prüll, Zwischen Krankenversorgung und Forschungsprimat. 136 Siehe dazu insbesondere Virchow an Raumer, 2.3.1857  : AHUB, Charité-Direktion, Nr. 740, Bl. 131–135. 137 Esse und Horn an Raumer, 22.4.1857  : AHUB, Nr. 740, Bl. 136–146. 138 Naunyn, Erinnerungen, S. 116  ; vgl. zu Esse auch Hess, Der Verwaltungsdirektor als erster Diener. 139 Esse an Raumer, 19.8.1857  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 157–160. 140 Leichen-Reglement des Königlichen Charité-Krankenhauses vom 22.12.1857, gez. Horn u. Esse  : AHUB, Charité-Direktion, Nr. 740, Bl. 159 f. Druck  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 3 (2000), S. 209–214. Vgl. dazu auch Prüll, Zwischen Krankenversorgung und Forschungsprimat, S.  101. In Großbritannien hatte bereits der Anatomy Act von 1832 einen kontrollierten Markt für Leichen mit klar geregelten rechtlichen Grenzen geschaffen. Siehe Ruth Richardson, Death, Dissection and the Destitute, London 1987.

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Virchows Position war hierbei sehr dezidiert  : »Will man die pathologische Anatomie, so muß man sie auch ohne Umstände und Vorurtheile wollen.« Erkenne man an, »daß die Anschauung, die sie gewährt, unerläßlich ist«, so schrieb er weiter an Raumer, begreift man, dass die Reform der Medicin, welche jetzt begonnen hat, von ihr ausgeht, (…) so muss man die Schranken öffnen und denjenigen, welche diese Wissenschaft betreiben sollen, soviel Vertrauen schenken, dass sie nicht ohne Noth Leichen verstümmeln oder verunstalten werden  ; mit einem Worthe, so handelt es sich darum, die Wissenschaft gegen das Vorurtheil und nicht das Vorurtheil gegen die Wissenschaft zu schützen.141

Damit behandelte er den Konflikt um die Verfügungsgewalt über Leichen auf der Ebene der diskursiven Opposition von »Wissen« und »Glauben«, die einen Kernpunkt der liberalen Fortschrittskonzeption darstellte. Dies verdeckte allerdings, dass hinter dieser Auseinandersetzung oftmals auch soziale Gegensätze standen, wie beispielsweise ein 1861 eingereichtes Unterstützungsgesuch an den preußischen König zeigt. Der Webermeister Friedrich Christian Vetter hatte sein mit Wassersucht tot geborenes Kind in das Pathologische Institut gebracht und dabei auf eine großzügige Belohnung gehofft. Als er nach acht Tagen immer noch ohne die erhoffte Gabe geblieben war, wandte er sich an Virchow und verlangte sein Kind zurück. Dieser habe ihm nun aber geantwortet, das Kind sei im Beisein vieler junger Ärzte total zerschnitten und ferner zur Lehre für dieselben in Spiritus unter Glasrahmen in der pathologischen Sammlung bereits aufgenommen. Und könne mir dies ja auch nur lieb sein, denn wenn dereinst die Auferstehung der Todten stattfände, so würde ich mein Kind noch leichter wiederfinden, als wenn dasselbe tief unter der Erde vergraben läge.

Schließlich versuchte Virchow den Streit durch ein Geschenk von zwei Talern beizulegen. Da dem Vater aber zu Ohren gekommen war, dass andere Spender in ähnlichen Fällen Hunderte von Talern erhalten hätten, erschien ihm der Betrag unangemessen, worüber er sich dann auch offiziell beschwerte.142 Das Kultusministerium schmetterte diesen Antrag ab, worin vermutlich auch das gesellschaftliche Ungleichgewicht der Kontrahenten zum Ausdruck kam. In dem Wertkonflikt zwischen dem Schutz der privaten Gefühle der Angehörigen und dem Recht auf freie Forschung verteidigte Virchow somit vehement die Spielräume der Pathologen und versuchte zugleich, auftretende Unregelmäßigkeiten zu bagatellisieren. Ein 141 Virchow an Raumer, 19.8.1857  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 176–190. 142 Friedrich Christian Vetter an Wilhelm  I., 24.10.1861  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 326–328.

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besonders heikles Thema in diesem Zusammenhang bildete die illegale Beschaffung von Leichen. Anlässlich der Ausarbeitung des Strafgesetzbuchs des Norddeutschen Bundes kämpfte Virchow in seiner Eigenschaft als federführendes Mitglied der Königlichen Deputation für das Medicinalwesen für die ersatzlose Streichung einer Strafandrohung von bis zu zwei Jahren Gefängnis für die Wegnahme eines Leichenteils aus dem Gewahrsam der berechtigten Person, die dort im Zusammenhang von Regelungen zum Schutz religiöser Empfindungen vorgesehen war.143 Seine wichtige Stellung in dieser Gesetzgebungsprozedur ermöglichte ihm dabei, professionelle Interessen unmittelbar geltend zu machen. Das mit dem Leichenstatut von 1857 getroffene Arrangement blieb bis Anfang der neunziger Jahre stabil, als mit Robert Kochs Institut für Infektionskrankheiten ernste Konkurrenz für Virchows Position auf dem umkämpften Berliner Leichenmarkt erwuchs. Gestärkt durch die massive Förderung der aufstrebenden Bakteriologie durch das Kultusministerium, forderte Koch bei den Planungen für sein 1891 gegründetes Institut dieses großzügig mit »Krankenmaterial« und Leichen aus der Charité zu versorgen.144 Virchow protestierte bei Kultusminister Robert Graf von Zedlitz-Trützschler heftig gegen den geplanten Zugriff auf seine zentrale Forschungsressource und argumentierte abermals mit den Erfordernissen von Forschung und Lehre. Dabei hob er hervor, dass »Uebungen im Seciren pathologischer Leichen und im Mikroskopiren krankhaft veränderter Organe (…) gegenwärtig zu den regelmäßigen Bestandtheilen des Studiums« gehörten und unterstrich damit den veränderten Stellenwert derartiger Praktiken, die nun auch für den Durchschnittsstudenten selbstverständlich geworden waren. Dass er in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich auf das »Bestehen älterer und wohl begründeter Rechte« hinwies, zeigte, wie sehr er sich mittlerweile in einer disziplinären Verteidigungsstellung befand. Deshalb polemisierte er auch, dass der »Mangel pathologischanatomischer Kenntnisse bei manchen Bakteriologen (…) schon jetzt große Verwirrung gestiftet« habe.145 Auch hier kam es zu einem Kompromiss, wonach das Leichenreglement von 1857 dahingehend abgeändert wurde, dass Koch zwar das Recht erhielt, an den Leichen der in seinem Institut verstorbenen Patienten Sektionen vorzunehmen und Organe und Organteile zu entnehmen, doch musste er die Leichen anschließend an das Pathologische Institut abgeben.146 143 Diebstahl an Leichen. Gutachten der Königlichen Wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen, Referent  : Virchow, in  : Rudolf Virchow, Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 2, Berlin 1879, S. 522. 144 Vgl. dazu Gradmann, Money, Microbes, and More, S. 15–19  ; Prüll, Zwischen Krankenversorgung und Forschungsprimat, S. 104 f. 145 Virchow an Robert Graf v. Zedlitz-Trützschler, 15.5.1891  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 3 (M), Bl. 215–218. 146 Verfügung der Königlichen Charité-Direktion betreffend die Anwendung des Leichen-Reglements des Königlichen Charité-Krankenhauses auf das Institut für Infections-Krankheiten vom 23.8.1891  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2, Tit. IV Nr. 40 Bd. 3 (M), Bl. 237.

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Ähnliche Konflikte, in denen sich disziplinäre Konflikte mit der Frage nach der kulturellen Bedeutung der modernen Naturwissenschaften vermengten, zeigten sich auch bei der Beschaffung von Versuchstieren für medizinische Experimente. Die Vivisektion wurde im 19.  Jahrhundert zu einem wesentlichen Bestandteil der Bemühungen, den Anschluss der biomedizinischen Wissenschaften an exakte Naturwissenschaften wie die Chemie und Physik zu finden. Nur Tierversuche verbürgten die Anerkennung als eine »wissenschaftliche Medizin«, wie sie auch von Virchow gefordert wurde, da hier die Voraussetzungen für experimentelle Wissenschaft in einer Weise gegeben waren, wie sie bei bloßen anatomischen Beobachtungen an toten Körpern niemals zu erlangen waren. Die Experimentatoren stellten dabei stets das Streben nach nützlichen Erkenntnissen in den Mittelpunkt ihrer Selbstdarstellung. Jedoch bedeutete »die Vivisektion für Physiologen und viele andere biomedizinische Naturwissenschaftler« vor allem auch »die experimentelle Legitimierung ihrer Karriereambitionen und sozialen Bestrebungen«147. Bereits Anfang der 1840er Jahre hatte Virchow mit Tierversuchen begonnen, wobei die Versorgung mit Versuchstieren lange Zeit seiner privaten Initiative überlassen blieb. So bat er 1841 seinen Vater, zu diesem Zweck eine kleine Kaninchenzucht anzulegen.148 In seiner Zeit als Prosektor der Charité wurden er und die anderen jungen Mediziner der »Berliner Schule« durch Professor Ernst Friedrich Gurlt unterstützt, der ihnen an der Tierarzneischule Raum für ihre Vivisektionsexperimente gewährte.149 Mit Hilfe von Tierversuchen wurden pathologische Vorgänge an lebenden Organismen untersucht, und Virchow gelangen auf diese Weise bedeutende medizinische Entdeckungen wie etwa die der Thrombose. Nach seiner späteren Rückkehr nach Berlin forderte Virchow nicht nur den Leichennachschub zu steigern, sondern beharrte mit denselben Argumenten, nämlich den Erfordernissen von Forschung und Lehre, auch darauf, Tierställe bei seinem Pathologischen Institut zu errichten.150 Dies diente gleichfalls dazu, den Zusammenhang der pathologischen Anatomie mit der Physiologie zu wahren und damit auch seine disziplinären Ambitionen weiter zu verfolgen. Aber wie schon in der Frage der Leichen widersetzte sich die Charité-Direktion auch in der Frage der Tierställe vehement. Erneut stellte sie die Interessen der Patienten gegen die der Forschung. Sie führte an, Virchow hätte heimlich Hunde im Leichenhaus gehalten und dann versucht, dies zu vertuschen. Zudem sei es in seiner Amtszeit als Prosektor 147 Nicolaas A. Rupke, Introduction, in  : ders. (Hg.), Vivisection in Historical Perspective, London u. a. 1987, S. 1–13, hier  : S. 9. Vgl. dazu auch Dietrich von Engelhardt, Die Konzeption der Forschung in der Medizin des 19. Jahrhunderts, in  : Alwin Diemer (Hg.), Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Referate und Diskussionen des 10. wissenschaftshistorischen Kolloquiums 1975, Meisenheim a. Glan 1978, S. 58–103. 148 R. Virchow an Carl Virchow, 2.7.1841, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 136. 149 Wolf Becher, Rudolf Virchow. Eine biographische Studie, Berlin 1891, S. 24. 150 Virchow an Raumer, 4.3.1857  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 131–138.

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der Charité vorgekommen, »dass von den ohne Erlaubnis und ohne Vorwissen der Direction in dem alten Leichenhause gehaltenen Hunden Leichenköpfe durch den Garten der Charité gezogen wurden«151. Der Verwaltungsdirektor Esse protestierte deshalb dagegen, einen Hunde- oder Tierstall auf dem Charité-Gelände zu errichten, »da dies ihrem Charakter als Humanitäts-Anstalt widerspreche«. Überdies seien auf dem Gelände der Tierarzneianstalt geeignete Räume vorhanden. Ein Hundestall auf dem Charité-Gelände würde nicht allein »Spötteleien« hervorrufen, vielmehr würde dadurch auch »eine neue Veranlassung gegeben sein, die Abneigung zu erhöhen, welche sich in der niederen Volksklasse überhaupt gegen die Charité geltend macht. Durch diese erhöhte Abneigung würde sich aber auch die, von Jahr zu Jahr sich leider immer vermindernde Zahl der Kranken noch von Neuem ermäßigen.« Die negativen psychologischen Wirkungen auf die Kranken, die ohnehin das Leichenhaus stets im Blick hatten, würden somit durch den Blick auf einen Hundestall beziehungsweise durch das Geheul der Hunde noch mehr gesteigert.152 Das Kultusministerium schloss sich dieser Argumentation an153 und erntete damit den Zorn Virchows, der sich durch fehlende Tierställe bei seinem Pathologischen Institut in seiner Forschungstätigkeit erheblich behindert sah, wenngleich er nun bereit war, notfalls auf Hundeställe zu verzichten.154 Damit wurde zwar unterbunden, Versuchstiere auf dem Charité-Gelände zu halten, doch nicht Tierversuche überhaupt verboten. An diesem Vorgang wird eine ältere, anthropozentrische Haltung sichtbar, bei der es mehr darum ging, Menschen den Anblick von brutalen Handlungen an Tieren zu ersparen, als Tiere vor ihnen zugefügten Leiden zu schützen.155 Seit Ende der 1870er Jahre veränderte sich jedoch der Blick auf die Grenzen der Wissenschaft im Umgang mit Tieren  : Nunmehr entstand auch in Deutschland nach englischem Vorbild eine Bewegung, welche die Vivisektion überhaupt zu verbieten suchte und dabei vom Ideal des Schutzes der Tiere um ihrer selbst willen ausging. Aus den Bemühungen der englischen Antivivisektionsbewegung war 1876 der Cruelty to Animals Act hervorgegangen, nach dessen Muster seit 1880 im Reichstag sowie in verschiedenen Abgeordnetenhäusern der deutschen Einzelstaaten Gesetzesinitiativen gestartet wurden.156 151 Charité-Direktion (gez. Horn u. Esse) an Raumer  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), 22.4.1857, Bl. 119–130. 152 Esse an Raumer, 24.8.1857  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 193–200. 153 Raumer an Charité-Direktion, 10.12.1857  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 203. 154 Virchow an Bethmann-Hollweg, 14.3.1859  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 40 Bd. 1 (M), Bl. 329. 155 Ulrich Tröhler/Andreas-Holger Maehle, Anti-vivisection in Nineteenth-century Germany and Switzerland  : Motives and Methods, in  : Rupke (Hg.), Vivisection, S. 149–187, hier  : S. 150. 156 Siehe zum Folgenden Hubert Bretschneider, Der Streit um die Vivisektion im 19. Jahrhundert. Verlauf – Ar-

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Die Vivisektion bildete dabei »Teil eines mechanistischen Weltbilds und eines szientokratischen Konzepts von Gesellschaft, demgegenüber war Anti-Vivisektion mit einem stärker romantischen Bild der Natur verbunden«157. So fanden sich in Deutschland auf Seiten der Vivisektionsgegner vor allem medizinische Laien oder Außenseiter wie Ernst Grysanowski und Ernst von Weber, der mit dem 1879 erstmals erschienenen Werk Die Folterkammern der Wissenschaft einen großen Publikumserfolg erzielte  – in wenigen Monaten erlebte es nicht weniger als acht Auflagen.158 Das Spektrum der Vivisektionsgegner erweiterte sich immer mehr um lebensreformerische, völkische und antisemitische Kreise, darunter als prominenteste Namen der Komponist Richard Wagner und Bernhard Förster, der Initiator der Antisemitenpetition von 1877. Die Vivisektionsbefürworter rekrutierten sich hingegen aus dem medizinischen Establishment. Damit wurde bei dieser Auseinandersetzung ganz wesentlich die Autorität der modernen Wissenschaft überhaupt verhandelt. Virchow war hierbei eine zentrale Gestalt, auch wenn sich seine individuellen Forschungsinteressen mittlerweile stärker auf die Anthropologie verlagert hatten und er damit von Tierversuchen unabhängig geworden war. Er setzte sein Renommee sowohl national wie international für das Recht der medizinischen Forschung auf Tierversuche ein. Als die englischen medizinischen Kollegen in den achtziger Jahren eine Kampagne zugunsten der Vivisektion starteten und zu diesem Zweck 1881 den Internationalen medizinischen Kongress in London benutzen, hielt Virchow dort eine vielbeachtete Verteidigungsrede »Ueber den Werth des pathologischen Experiments«159. Die bis dahin größte internationale Ärzteversammlung aller Zeiten beschwor den Zusammenhang von wissenschaftlicher Medizin und Vivisektion, wobei das Tierexperiment zum Symbol des von außen bedrohten Expertentums und der medizinischen Autorität wurde. Darin drückte sich die Besorgnis aus, dass der in der Antivivisektionsbewegung artikulierte Protest von Laien gegen die wissenschaftliche Medizin das erlangte Prestige der Mediziner wieder in Frage stellen würde.160 Als die Antivivisektionsbewegung in den achtziger Jahren auch auf die Tagesordnungen der deutschen Parlamente rückte, wurde Virchow dort gleichfalls zu einer Schlüsselfigur  : Er wurde als wissenschaftlicher Gutachter zur Stellungnahme aufgefordert und gumente – Ergebnisse, Stuttgart 1962  ; Tröhler/Maehle, Anti-vivisection. 157 Rupke, Introduction, S. 8. 158 Ernst von Weber, Die Folterkammern der Wissenschaft, Berlin u. Leipzig 1879. Vgl. dazu sowie zum Folgenden auch Bretschneider, Der Streit um die Vivisektion, S. 40 ff.; sowie Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert (1938), Frankfurt a. M. 1981, S. 91–98. 159 Rudolf Virchow, Ueber den Werth des pathologischen Experiments. Vortrag, gehalten in der 2. allgemeinen Sitzung des 7. internationalen medicinischen Congresses zu London 1881. Neuer Abdruck, nebst einem Nachworte des Verfassers, Berlin 1899. 160 Nicolaas Rupke, Pro-vivisection in England in the Early 1880s  : Arguments and Motives, in  : ders. (Hg.), Vivisection, S. 188–208.

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beteiligte sich zugleich als Abgeordneter sowohl des Reichstags als auch des Preußischen Abgeordnetenhauses selbst an den parlamentarischen Debatten.161 Die Initiativen, die auf ein völliges Verbot der Vivisektion zielten, wurden vor allem von Teilen des Zen­ trums und der Konservativen Partei unterstützt. Während diese Vorstöße im Reichstag scheiterten, waren sie im Preußischen Abgeordnetenhaus 1883 teilweise erfolgreich  : Das Kultusministerium beauftragte sämtliche medizinische Fakultäten Preußens mit einem Gutachten über die Entbehrlichkeit der Vivisektion als Forschungs- und Unterrichtsmittel. Virchow gehörte der Kommission der Berliner medizinischen Fakultät an, die unter Federführung du Bois-Reymonds, der für seine physiologischen Experimente vor allem zahlreiche Frösche benötigte, die Vivisektion als wissenschaftliches Forschungsmittel einmütig zu rechtfertigen suchte.162 Im Ergebnis wurden Tierversuche in Preußen schließlich zwar nicht verboten, sollten aber seit 1885 durch einen sehr allgemein gehaltenen kultusministeriellen Erlass auf ein Mindestmaß reduziert werden und wurden deshalb künftig einer stärkeren Kontrolle unterworfen.163 Das war weit weniger als die Antivivisektionsbewegung gefordert hatte und bedeutete letztlich einen Sieg der Verteidiger des Tierexperiments. Ernst Grysanowski beklagte deshalb 1887 das Scheitern der von ihm mitbestimmten Bewegung gegen die Vivisektion und begründete es damit, dass nur wenige sich nicht durch den Hohn und die Verachtung »wissenschaftlicher Würdenträger« hätten entwaffnen lassen. Schuld daran sei vor allem der deutsche »fanatische Wissenschaftskult«, der eine Schüchternheit des Laienpublikums vor den besoldeten und betitelten Gelehrten bewirke.164 Im Preußischen Abgeordnetenhaus und ebenso im Reichstag hatte Virchow Tierexperimente nachdrücklich verteidigt, indem er sie für wissenschaftlich notwendig erklärte und ethisch auf eine Stufe mit dem Züchten und Schlachten von Tieren stellte. Die Gegner erklärte er entweder für wissenschaftlich inkompetent oder warf ihnen vor, moralisch mit zweierlei Maß zu messen, sofern sie nicht strikte Vegetarier seien.165 Indem Virchow auch diesen Konflikt als Ergebnis eines Gegensatzes von »Wissen« und »Glauben«, von wissenschaftlichen Experten und ungebildeten Laien darstellte, benutzte er 161 Siehe etwa SBPAH, 39. Sitzung am 1.2.1884, S. 1126 ff.; 27. Sitzung am 25.2.1885, S. 676 ff.; SBDR, 32. Sitzung am 23.1.1882, S. 876–880  ; zu den Verhandlungen im Reichstag 1880 und 1882 und im Preußischen Abgeordnetenhaus 1883 siehe Bretschneider, Der Streit um die Vivisektion, S. 65 f., 80–85 u. 89–93  ; sowie Tröhler/Mähle, Anti-vivisection, S. 166–170. 162 Berliner Tageblatt, Nr. 31 vom 19.1.1884, »Die Vivisection und die medizinische Fakultät zu Berlin«  ; siehe dazu auch AHUB, Medizinische Fakultät, Nr. 177  ; sowie PLM, Slg. Rabl-Virchow, C III 2 – Vivisektionen. 163 Dazu ausführlich  : Bretschneider, Der Streit um die Vivisektion, S. 101 ff.– Abdruck des Erlasses des preußischen Kultusministers Gossler vom 2.2.1885, ebenda, S. 157. 164 Ernst Grysanowski, Die Vivisektion. Zur Verständigung über die Motive und Zwecke der Agitation, Riga 1887, zitiert nach Bretschneider, Der Streit um die Vivisektion, S. 104. 165 SBPAH, 39. Sitzung am 1.2.1884, S. 1127 f.; ebenda, 27. Sitzung am 25.2.1885, S. 676–679  ; SBDR, 32. Sitzung am 23.1.1882, S. 876–880 u. 883.

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Argumentationsmuster aus dem preußischen Kulturkampf, der in den siebziger Jahren zwischen Staat und Fortschrittsliberalismus auf der einen sowie katholischer Kirche und Zentrum auf der anderen Seite ausgetragen wurde. Dazu trug nicht zuletzt bei, dass sich auch in der Frage der Tierexperimente unter den Gegnern des »wissenschaftlichen Fortschritts« vor allem Frauen befanden.166 Ähnliche Konflikte traten schließlich auch im Bereich der Anthropologie auf, der sich Virchow seit den späten sechziger Jahren zunehmend zugewandt hatte. Die Ausstellung sogenannter menschlicher Monstrositäten und Exotik in Völkerschauen, zoologischen Gärten und Panoptiken, bei der die von Virchow beherrschte Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte eine enge Symbiose mit den kommerziellen Betreibern solcher Veranstaltungen einging, stieß nicht allein auf reges Interesse der Berliner Bevölkerung, sondern mitunter auch auf heftige Kritik. So unterband das Königliche Polizei-Präsidium 1884 das Vorhaben, ein behaartes siamesisches Kind namens Krao im Aquarium auszustellen, »da die Vorzeigung menschlicher Gestalten in unmittelbarer Nähe von ähnlich gestalteten Thieren der menschlichen Würde nicht angemessen erscheint«167. Öffentlich kritisiert wurde auch, dass die Veranstalter dieser Völkerschauen die Krankheit oder sogar den Tod dieser Menschen fern ihrer Heimat in Kauf nahmen. Um dies zu entkräften, verwies Virchow unter anderem auf die viel größeren Gefahren, die europäischen Forschungsreisenden bei ihren Expeditionen in abgelegene Weltgegenden drohten.168 Und schließlich hielt er den Skeptikern auch noch entgegen, dass »wirklich ein positives wissenschaftliches Interesse höchsten Ranges sich an diese Vorstellungen anknüpft«169. Auch hier hielt er also an seinem vertrauten Argumentationsmuster fest. Die Auseinandersetzungen um Ressourcen für die Pathologie, d. h. Kranke, Leichen und Tiere, sowie für die Anthropologie und Ethnologie, d. h. vor allem »exotische Menschen«, kreisten somit nicht zuletzt um die Frage, was moderne Wissenschaft tun dürfe. Sie bilden somit einen wichtigen Ansatzpunkt für die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit, das als ein ständiger Aushandlungsprozess angesehen werden muss, innerhalb dessen der Status von Wissenschaft jeweils erst definiert ­wurde.170 War dieser für die pathologische Anatomie, die ihren Disziplinbildungsprozess bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgreich abschließen konnte, bereits 166 Vgl. dazu David Blackbourn, Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen – Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek b. Hamburg 1997, S. 465. 167 Otto Hermes an Virchow, 15.1.1884  : ABBAW, Berlin, Nl Virchow, Nr. 890. 168 Virchow in der Sitzung der BGAEU am 18.12.1886, in  : VBGAEU 18 (1886), S. 713. 169 Virchow bei der außerordentlichen Zusammenkunft der BGAEU im zoologischen Garten am 7.11.1880 anlässlich der Vorstellung der von Hagenbeck nach Berlin gebrachten Eskimos von Labrador, in  : V ­ BGAEU 12 (1880), S. 270. 170 Vgl. dazu ausführlicher Constantin Goschler, Einleitung, in  : ders. (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, 1870–1930, Stuttgart 2000, S. 7–29.

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weitgehend gesichert, so befand sich die Anthropologie noch in einem weit ungefestigteren Zustand, der das Verhältnis von Laienöffentlichkeit und wissenschaftlichen Experten zu einem ihrer zentralen Probleme werden ließ. 3.1.3 Anthropologie als »volkstümliche Wissenschaft«

Seit Ende der 1860er Jahre widmete sich Virchow mehr und mehr der Organisation der deutschen Anthropologie und Urgeschichte, und bald erlangte er dort eine beherrschende Stellung, die er bis zu seinem Tode behielt.171 Er spielte eine wesentliche Rolle bei der 1869 erfolgten Gründung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU), und dasselbe galt auch für die im folgenden Jahr gegründete Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (DGAEU). Bis an sein Lebensende dirigierte Virchow teils als offizieller, teils als inoffizieller Vorsitzender weitgehend deren Geschicke. Beide Gesellschaften gingen aus einer Sektion der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte hervor. Den Hauptanstoß für diese Ausgründung lieferte die Konkurrenz zu ausländischen anthropologischen Gesellschaften vor allem in Frankreich und Großbritannien, wie sie besonders anlässlich des internationalen anthropologischen Kongresses in Kopenhagen 1869 zu Tage getreten war. Während Virchow im Falle der Anthropologie ebenso wie der Medizin viel Energie für internationale Zusammenarbeit aufbrachte, wachte er gleichzeitig eifersüchtig darauf, dass vor allem der Hauptrivale Frankreich niemals in eine bevorzugte Rolle gelangen dürfe. Und auch bei der Gründungsversammlung der DGAEU hob er hervor, dass es sich bei der Anthropologie um ein »ureigenstes« Gebiet der Deutschen handle, doch habe das Fehlen einer nationalen Dachorganisation bislang verhindert, dass die deutschen Anthropologen im Ausland angemessen wahrgenommen würden.172 Die Arbeit der DGAEU sollte auf den lokalen Gesellschaften aufbauen, die allerdings sehr unterschiedliches Gewicht gewannen. Die BGAEU war nicht nur bei weitem die mitgliederstärkste, sondern dominierte auch sonst  : »Man muss blind sein, wenn man 171 Vgl. insbesondere Christian Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker. Bd. 1  : Virchow als Begründer der Neueren Deutschen Ur- und Frühgeschichtswissenschaft, Berlin 1976  ; Benoit Massin, From Virchow to Fischer  : Physical Anthropology and »Modern Race Theories« in Wilhelmine Germany, in  : George W. Stocking (Hg.), Volksgeist as Method and Ethic. Essays on Boasian Ethnography and the German Anthropological Tradition, Madison 1996, S. 79–154  ; Andrew Zimmerman, Anthropology and Anti-Humanism in Imperial Germany, Chicago 2001. 172 Rudolf Virchow, Rede auf der 2. allgemeinen Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte am 22.  September 1871 in Schwerin, in  : CBDAG  2 (1871), S.  43–47. Zur Gründungsgeschichte der Deutschen bzw. Berliner anthropologischen Gesellschaft vgl. auch Christian Andree, Geschichte der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869–1969, in  : Festschrift zum Hundertjährigen Bestehen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869–1969, T. 1  : Fachhistorische Beiträge, Berlin 1969, S. 9–142.

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nicht sieht, dass der ganze Schwerpunct der anthropologischen Thaetigkeit Deutschlands im Berliner Verein liegt«173, schrieb Alexander von Frantzius, der erste Generalsekretär der DGAEU, 1871 an Virchow. Vor allem Karl Vogt, der bei deren Gründung eine Hauptrolle gespielt hatte, bemühte sich auch in anderen deutschsprachigen Ländern darum, lokale Gesellschaften zu gründen. 1870 war ihm dies schon in Klagenfurt, Graz und Wien geglückt, und auch in Prag schien ein Erfolg greifbar, »obgleich dies weit schwieriger [ist] wegen des Nationalhasses der bis zum Messer geht«174. Vogts deutschlandpolitische Vorstellungen zielten vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im Schweizer Exil auf einen demokratischen Föderalismus mit schwacher Zentralgewalt, wobei er einer preußischen wie österreichischen Hegemonie gleichermaßen kritisch gegenüberstand.175 Parallel dazu verhielten sich auch seine Vorstellungen zur Organisation der DGAEU, wobei ihm der »Schillerverein« als Muster vorschwebte  : »Dort hat jeder Lokalverein seine besondere Competenz, der wandernde Vorort die seine und damit geht die Sache ganz gut, ohne viel gegenseitige Eifersüchtelei und es ist ein Band der Einheit geschaffen ohne dass es viel drückt.«176 Virchows Haltung zur Organisation der Anthropologie war dagegen davon geprägt, dass er der großpreußisch-demokratischen Option anhing, womit der Ausschluss Österreichs aus Deutschland einherging.177 Dies verband ihn gleichfalls mit Frantzius, mit dem er seit den Tagen der Revolution eine alte Abneigung gegen das katholische Österreich teilte, das beiden vor dem Hintergrund einer gemeinsamen kulturkämpferischen Haltung suspekt war. Beide opponierten gegen die von dem Stuttgarter Anthropologen Oscar Fraas geförderte Wiederannäherung der Österreichischen anthropologischen Gesellschaft, die bald nach der Gründung der DGAEU selbständig geworden war. 1874 schrieb Virchow an Frantzius, dass ihm Fraas »mit seinem Austrianismus geradezu bedenklich geworden« sei.178 Andrew Zimmerman spitzte deshalb treffend zu, Virchow habe in der DGAEU eine Art von Ersatz-Deutschland geschaffen, das föderalistisch organisiert war, Wien ausschloss und von Berlin beherrscht wurde.179 Denn ähnlich wie Bismarck, der das Amt des Ministerpräsidenten und des Reichskanzlers kombinierte, 173 Alexander von Frantzius an Virchow, 3.12.1871, Druck  : Christian Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker. Bd. 2  : Briefe Virchows und seiner Zeitgenossen, Berlin 1976, S. 149. 174 Carl Vogt an Virchow, 21.2.1870, Druck  : Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 497. 175 Siehe dazu Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849–1867, Düsseldorf 2000, v. a. S. 472 f. u. 560. 176 Vogt an Virchow, 21.2.1870, Druck  : Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 497. 177 Zur großpreußisch-demokratischen Position vgl. Jansen, Einheit, Recht und Freiheit, S. 229–252  ; zu Virchows deutschlandpolitischen Vorstellungen vgl. auch Byron  A. Boyd, Rudolf Virchow. The Scientist as Citizen, New York u. London 1991, S. 76–79. 178 Virchow an Frantzius, 9.9.1874  : StBB-PK  ; Slg. Darmstädter, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl.  102–179  : Briefe von Virchow an Alexander von Frantzius, Bl.  160 f. Siehe auch Frantzius an Virchow, 12.9.1874, Druck  : Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 191. 179 Zimmerman, Anthropology and Antihumanism, S. 114.

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leitete Virchow sowohl die mächtigste lokale Organisation in Berlin als auch den nationalen Dachverband. Die akademische Anerkennung blieb der Anthropologie jedoch noch längere Zeit versagt  : Erst 1886 wurde für Johannes Ranke in München ein Lehrstuhl für Anthropologie eingerichtet, der bis 1906 der einzige im Deutschen Reich blieb. Bis dahin erlangte lediglich Felix von Luschan 1900 in Berlin eine außerordentliche Professor. Da eine noch in den Anfängen der Disziplinbildung begriffene Wissenschaft wie die Anthropologie noch nicht auf universitäre Positionen und Ressourcen zurückgreifen konnte, wurde die interne disziplinäre Institutionalisierung umso wichtiger.180 Deshalb spielten auch Fragen der Vereinsorganisation eine große Rolle. Virchow war ein Motor der Bemühungen der BGAEU um die Körperschaftsrechte, die sie schließlich 1884 erhielt. Den unmittelbaren Anlass dafür hatte eine private Schenkung geliefert, denn der Status einer juristischen Person war erforderlich, um eigenes Vermögen, Grundeigentum und dingliche Rechte erwerben, vermehren und auch verwenden zu dürfen. Nur so konnten wissenschaftliche Vereine über Schenkungen verfügen, Stiftungen einrichten und Vereinshäuser bauen.181 Im Falle der BGAEU konnte nach der Verleihung der Körperschaftsrechte eine aufgrund einer Sammlung anlässlich von Virchows 1881 gefeiertem 60. Geburtstag zustande gekommene Stiftung ihre Arbeit aufnehmen. Aus dem anfänglichen Gründungskapital von 78.000 Mark unterstützte die Rudolf-Virchow-Stiftung insbesondere anthropologische, ethnologische und prähistorische Forschungen. Zusammen mit anderen auf privater Förderung beruhenden Stiftungen bildete sie eine wichtige Alternative zur staatlichen Forschungsförderung. Erst nach Verleihung des Status einer juristischen Person konnte die BGAEU auch die Frage nach einem festen Standort lösen  : Während sie früher in der alten Börse getagt hatte und später in das Gewerbemuseum übergesiedelt war, erwarb sie 1888 das Wohnrecht im neueröffneten Königlichen Völkerkundemuseum und war damit nicht mehr auf die Gastfreundschaft befreundeter Institutionen angewiesen. Bei dieser Vereinbarung musste »scheinbar Disparates und Antagonistisches« vereinigt werden, nämlich »die freie Unabhängigkeit einer privaten Gesellschaft und die formelle Stabilität eines Staatsinstituts«182. Damit wurde die enge Kooperation zwischen der BGAEU und dem preußischen Staat vertieft, die schon bald nach Gründung des Vereins durch jährliche finanzielle Unterstützungsleistungen des Kultusministeriums eingesetzt hatte. Das Grundmuster dieser Kooperation, das vor allem auch bei verschiedenen aus diesem Kreis heraus initiierten Museumsprojekten praktiziert wurde, bestand darin, dass 180 Massin, From Virchow to Fischer, S. 84. 181 Siehe dazu E. Loening, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in  : Johannes Conrad u. a. (Hg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 8, dritte, gänzlich umgearb. Aufl., Jena 1911, S. 152–171, hier v. a. S. 164  ; sowie die Unterlagen in GStA-PK, I. HA Rep. 76 V c Kultusministerium, Sekt. 1 Tit. 11 Teil 1 Nr. 4 Bd. 2 (M). 182 Wilhelm Reiss in der Sitzung der BGAEU am 28.4.1888, in  : VBGAEU 20 (1888), S. 177 f.

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die BGAEU derartige Vorhaben mit privaten Mitteln auf den Weg brachte, um zugleich langfristig deren staatliche Etatisierung anzustreben. Das Charakteristische dieses Vorgangs liegt somit in der Spannung von privater Initiative und Anlehnung an den Staat. Offen bleibt, ob diese Ambivalenz zwischen der bewusst wahrgenommenen Funktion als Medium gesellschaftlicher Selbstorganisation einerseits und einer auffälligen Staatsnähe andererseits auf ein spezifisch preußisch-deutsches Modell wissenschaftlicher Vereine hindeutet.183 Die Mitgliederzahl der BGAEU stieg von 1870 bis 1900 von etwa 100 auf etwa 500, der Scheitelpunkt der Kurve lag allerdings im Jahre 1889, in dem fast 600 ordentliche Mitglieder verzeichnet wurden.184 Darin machte sich vor allem ein starker Sterbeüberschuss geltend, da die Gründergeneration des Vereins sich allmählich lichtete, ohne dass in gleichem Maße neue Mitglieder nachgerückt wären. Unter der Mitgliedschaft der Berliner anthropologischen Gesellschaft spielten neben Berlinern auch zahlreiche auswärtige Mitglieder eine wichtige Rolle. Als größte Einzelgruppe, mit etwa einem Drittel Anteil, traten die Ärzte in Erscheinung. Charakteristisch war jedoch vor allem, dass neben Wissenschaftlern (darunter vor allem Mediziner) zahlreiche Laien unter den Mitgliedern der BGAEU waren – wobei die Grenze zwischen professionellen Anthropologen, Ethnologen und Frühhistorikern einerseits und Laien andererseits noch sehr fließend war.185 In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg verstärkte sich die Attraktivität der BGAEU für ein bildungsbürgerliches Laienpublikum sogar noch.186 Allerdings verlief dies parallel zum Abstieg der wissenschaftlichen Bedeutung dieses Vereins. In der BGAEU wurde in den 1870er Jahren die Kompetenz von Laien zur Beteiligung an wissenschaftlichen Aktivitäten ausdrücklich betont. Einerseits resultierte daraus die große Bedeutung in »sozialer Beziehung«, da doch die Laien auf diese Weise »unmittelbar in den Dienst der Wissenschaft gestellt«187 würden, wie Virchow 1880 erklärte. Andererseits war jedoch die Vereinsgeselligkeit und die damit verbundene Form der sozialen Organisation grundlegend für die spezifischen Formen anthropologischen Wissens, wie sie in der BGAEU entwickelt wurden.188 Im Mittelpunkt stand dabei die Tätigkeit 183 Vgl. dazu auch Jürgen Kocka, Obrigkeitsstaat und Bürgerlichkeit. Zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in  : Wolfgang Hardtwig/Harm-Hinrich Brandt (Hg.)  : Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, S. 107–121. 184 Siehe dazu die ab 1875 jährlich veröffentlichten Mitgliederverzeichnisse in  : VBGAEU 7 (1875) ff. – Vgl. auch Massin, From Virchow to Fischer, S. 86. 185 Massin, From Virchow to Fischer, S. 86. 186 Andree, Geschichte der Berliner Gesellschaft, S. 109. 187 Rudolf Virchow, Rede auf der 1. Sitzung der 11. allgemeinen Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in Berlin vom 5. bis 12. August 1880, in  : CBDAG 11 (1880), Nr. 9, 10, 11, S. 2. 188 Andrew Zimmerman, Geschichtslose und schriftlose Völker in Spreeathen. Anthropologie als Kritik der

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des Sammelns, das eine entscheidende Rolle auf dem Wege noch ungefestigter Disziplinen zur anerkannten Wissenschaft spielte. Es bedeutete die Mobilisierung von Gegenständen zu den Arbeitsstätten der Wissenschaftler und begründete damit eine quasikopernikanische Wende der Wissenschaft  : Die Gegenstände bewegten sich nun um den Wissenschaftler und nicht mehr länger der Wissenschaftler um die Gegenstände.189 Indem die BGAEU vor allem die Sammeltätigkeit von Laien förderte, wurde zugleich der Stellenwert dieses Vereins als Ort kultureller Gemeinsamkeit des gebildeten Bürgertums unterstrichen. So formulierte der Vereinsvorstand 1872 in einem Ratgeber für anthropologische Untersuchungen der deutschen Marine  : Während die Ausführung zoologischer, botanischer, mineralogischer und geologischer Sammlungen immer gewisse Fachstudien voraussetzt, liegt die Betreibung der Ethnologie und Anthropologie, obwohl durch medizinische Kenntnisse im Besonderen erleichtert, dem Allgemeinen nach doch im Bereich jedes Gebildeten.190

In der Praxis erwiesen sich diese Instruktionen allerdings als zu kompliziert.191 Zudem gab es auch grundsätzliche Einwände  : Robert Hartmann, Professor der Anatomie und Physiologie in Berlin, kritisierte 1876 in der BGAEU die dilettantische Tätigkeit von »Stuben-Ethnologen ohne Selbstanschauung und Reisende(n) ohne anthropologische Bildung«192, womit auch hier mehr Professionalität gefordert wurde. Dennoch hielt dieser Verein zunächst daran fest, gebildete Laien an wissenschaftlicher Tätigkeit zu beteiligen. So unterstützten Virchow und die BGAEU auch den von professionellen Archäologen massiv kritisierten Heinrich Schliemann nachdrücklich.193 Der Entdecker und  – wie ihm zugleich vorgeworfen wurde  – Zerstörer Trojas, der 1881 in einer demonstrativen Solidaritätsgeste zu einem der wenigen Ehrenmitglieder dieses Vereins ernannt wurde, verkörperte geradezu den Prototyp des wissenschaftlichen Dilettanten, dessen Erfolg in der gebildeten Öffentlichkeit seinem lange Zeit geringen Ansehen in Fachkreisen diametral entgegenstand. Am ›Fall Schliemann‹ wird somit auch der Geschichtswissenschaft im Kaiserreich, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 197–210, hier S. 208. 189 Bruno Latour, Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge, Mass., 1987, S. 224. Vgl. auch die Beiträge in Heesen/Spary (Hg.), Sammeln als Wissen. 190 Rathschläge für anthropologische Untersuchungen auf Expeditionen der Marine, in  : ZfE 4 (1872), S. 325. 191 Rede Virchows auf der 11. allgemeinen Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zu Berlin am 5.8.1880, S. 8. 192 Robert Hartmann in der außerordentlichen Sitzung der BGAEU am 29.6.1876, in  : VBGAEU  8 (1876), S. 189 f. 193 Siehe dazu Die Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow 1876–1890, bearb. u. hrsg. von Joachim Herrmann und Evelin Maaß in Zusammenarbeit mit Christian Andree und Luise Hallof, Berlin 1990  ; sowie die Reden von Rudolf Virchow und Ernst Curtius bei der Gedächtnisfeier für Heinrich Schliemann im Berliner Rathaus am 1.3.1891, in  : ZfE 23 (1891), S. 41–62.

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Prozess der ständigen Verhandlung der Grenzen zwischen Laien und professionellen Experten deutlich.194 Aber nicht nur bei Expeditionen in ferne Länder, sondern auch in die nähere Umgebung Berlins war die Mitarbeit gebildeter Laien sehr bedeutsam. Denn neben der Anthropologie betätigten sich diese insbesondere zahlreich auf dem Gebiet der Ur- und Frühgeschichte. Mit Blick auf die Mitgliederstruktur der BGAEU lässt sich vermuten, dass dieser Verein eine wichtige Rolle dabei spielte, Wissenschaft als einen Aspekt bürgerlicher Kultur in Berlin zu verankern195 – wenngleich die Wissenschaftlichkeit derartiger ›laienhafter‹ Aktivitäten unter professionellen Experten mehr und mehr umstritten war. Allerdings war hier populäre Wissenschaft nicht abgesunkene Elitenwissenschaft, sondern ermöglichte überhaupt erst, dass sich eine solche entwickeln konnte. Auch in Virchows privater Korrespondenz mit wissenschaftlichen Laien, so mit seinem Schwager Karl Theodor Seydel, dem Oberbürgermeister von Berlin, oder dem linksliberalen Journalisten und Parteisekretär Ludolf Parisius, finden sich immer wieder Bezüge zu gemeinsamen heimatkundlichen Forschungsinteressen.196 Besonders wichtig in dieser Hinsicht waren jedoch die jährlichen Exkursionen des Vereins zu ur- und frühgeschichtlichen Fundstätten, die gleichermaßen ein wissenschaftliches wie gesellschaftliches Ereignis bildeten. Eine wichtige Rolle spielte die Beteiligung von Laien an den Aktivitäten der BGAEU auch bei den regelmäßigen Ausflügen oder Sondersitzungen anlässlich von Völkerschauen oder Vorführungen menschlicher Monstrositäten. Solche Veranstaltungen fanden seit den 1870er Jahren regelmäßig in Berlin statt, bis nach der Jahrhundertwende vor allem durch das Aufkommen neuer Medien das öffentliche Interesse an derartigen Attraktionen mehr und mehr abflaute. Gezeigt wurden dort neben »exotischen« Völkern in ihrer »natürlichen« Umgebung – von Eskimos über Pygmäen und Feuerländer bis zu Australiern – auch anatomische Kuriositäten, etwa sogenannte Haarmenschen, Schwanzmenschen, Riesen, Zwerge usw. Bei den Ausflügen, bei denen diese Menschen besichtigt, begutachtet und ausführlichen anthropologischen Messungen unterworfen wurden, waren häufig auch die Frauen der geladenen Mitglieder mit anwesend. Für ausgewählte Laien, wie etwa die Familie des Kronprinzen, mit der zusammen Virchow 1878 die »Nubier« im Zoologischen Garten besichtigte, nahm er gelegentlich auch die Rolle des Privatführers ein.197 Dabei pflegte man sich außerhalb der gewöhnlichen Öffnungszeiten dort einzufinden, »da vorher 194 Vgl. dazu auch Steven Shapin, Science and the Public, in  : R. C. Olby u. a. (Hg.), Companion to the History of Modern Science, London u. New York 1990, S. 990–1007, hier  : S. 998. 195 Vgl. dazu auch Philipp Sarasin, «La Science en Famille». Populäre Wissenschaft im 19.  Jahrhundert als bürgerliche Kultur – und als Gegenstand einer Sozialgeschichte des Wissens, in  : Ueli Gyr (Hg.), Soll und Haben. Alltag und Lebensformen bürgerlicher Kultur, Zürich 1995, S. 97–110. 196 Siehe z. B. Karl Theodor Seydel an Virchow, 29.11.1859  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2008  ; Ludolf Parisius an Virchow, 30.7.1882  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1625. 197 John C. G. Röhl, Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers 1859–1888, München 1993, S. 307.

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die Anwesenheit des Publikums hinderlich«198 erschien. Der Besuch Virchows zu einer anthropologischen Begutachtung während der normalen Öffnungszeiten konnte dagegen selbst zu einem öffentlichen Spektakel werden. Der Ausstellungsbetrieb basierte auf einem symbiotischen Verhältnis zwischen der BGAEU und ›ethnologischen Entrepreneurs‹ wie Carl Hagenbeck, dem Impresario zahlreicher Völkerschauen, und Louis Castan, dem Betreiber von »Castans Panoptikum« in Berlin. Diese zählten ebenso zu den aktiven Mitgliedern der BGAEU wie Ludwig Heck und Otto Hermes, die Direktoren des Tiergartens beziehungsweise des Aquariums, die gleichfalls derartige Vorstellungen beherbergten. Das inszenatorische Moment solcher Ausstellungen war den Anthropologen und Ethnologen durchaus bewusst, wenn etwa festgestellt wurde, dass die »Wildheit« oft nur vorgetäuscht wurde und die ausgestellten »Primitiven« nach der Vorstellung in bürgerlicher Kleidung im Gewimmel der Berliner Innenstadt verschwanden, um dort kaum noch unterscheidbar zu sein.199 Die BGAEU versuchte ihren Anspruch auf Expertenschaft dadurch zu unterstreichen, dass sie allzu dreiste Fälschungen, wie etwa die angebliche Amazonengarde des Königs von Dahome, als solche entlarvte. Dies tat allerdings der den »drallen Gestalten« der Darstellerinnen und der von ihnen »mit grosser Verve und Correctheit ausgeführten militärischen Wendungen« geschuldeten Attraktivität dieser Ausstellung wenig Abbruch.200 Virchow fand »Milderung darin, daß es sich nicht um eine eigentlich anthropologische Vorstellung, sondern um ein Schauspiel für die Massen gehandelt habe  ; dafür genüge es, dass die Dressur der Frauenzimmer im Gebrauch der Waffen (…) eine vorzügliche sei und dass die Personen selbst gute westafrikanische Typen darstellen«201. So schien, wie ein Zeitungsbericht 1894 schrieb, der Anschauungsbericht durch lebendige Vertreter farbiger Völkerschaften in Berlin zu den festen Formen eines höhern Bildungsweges zu gehören (…) Virchow misst den braunen und schwarzen Kerlen und Frauenzimmern die Köpfe und seine Landsleute sind stolz darauf  : Ethnographie ist in Berlin eine volksthümliche Wissenschaft, wenn sie von tanzenden Dahomeweibern gelehrt wird.202

Bei der diesen anthropologischen Ausstellungen und Vorführungen zugrunde liegenden Form der Präsentation liegt es nahe, Öffentlichkeit als koloniale Machtrelation zwischen den ›Exponaten‹ einerseits und dem Laien- wie Expertenpublikum andererseits zu be198 Otto Hermes an Virchow, 15.1.1884  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 890. 199 Siehe etwa den Bericht über die außerordentliche Sitzung der BGAEU am 26.0.1895 im Passage-Panopticum anlässlich der Vorführung einer Gesellschaft von Samoanern, in  : VBGAEU 27 (1895), S. 673 f. 200 Robert Hartmann, Vortrag über die Amazonen des Königs von Dahome in der außerordentlichen Sitzung der BGAEU am 10.1.1891, in  : VBGAEU 23 (1891), S. 64–71. 201 Virchow in der außerordentlichen Sitzung der BGAEU am 10.1.1891, ebenda, S. 114. 202 Kölnische Zeitung, Nr. 915 vom 11.11.1894, »Berliner Brief«.

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greifen, zumal die BGAEU selbst Teil eines engen Geflechts von Kolonialismus und Wissenschaft203 war. Allerdings schildern zeitgenössische Berichte auch, wie der scheinbar festgelegte panoptische, ethnologische Blick auf die ausgestellten Personen von diesen durchbrochen wurde  : Gelegentlich machten sie ihrerseits das Publikum zum Gegenstand ihrer Betrachtung und Kommentare. So konnte es sogar vorkommen, dass der ›wissenschaftliche‹ Blick umgekehrt wurde  : etwa als ein kamerunischer Königssohn, der 1896 mit Angehörigen seines Stammes in der Deutschen Kolonialausstellung präsentiert wurde, bei einem Besuch der BGAEU »der vielen neugierigen Blicke müde, plötzlich selbst die gelehrte Gesellschaft durch das Opernglas zu mustern begann«204. Während der wissenschaftliche Blick also von den kolonialen Objekten zumindest gelegentlich ironisiert wurde, spielte er gleichzeitig eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis der BGAEU : Sie erhob den Anspruch, durch Schulung der Wahrnehmungsformen eine gemeinsame Weltsicht zu befestigen und auf diese Weise zu der angestrebten ›Einheit der Gebildeten‹ beizutragen. So bildete sie einen »Hybridraum, in dem Wissenschaftler und Laien aufeinander trafen und sich ihre differenten Normen und Wertesysteme zu überlappen und zu durchmischen begannen«205, und, so ließe sich ergänzen, auch ihre Praktiken der Wahrnehmung. Die Herstellung einer disziplinären Identität und die Vermittlung einheitsstiftender Momente des Bildungsbürgertums, auf der die angestrebte kulturelle Autorität der Anthropologie basierte, standen dabei in einem spannungsvollen Verhältnis. Die Bemühungen Virchows als Disziplinkonstrukteur – das zeigt sowohl das Beispiel der Anthropologie wie das der pathologischen Anatomie – zielten damit darauf, disziplinäre Außengrenzen zunächst herzustellen und dann zu sichern. Zugleich war dies mit vielfältigen Vermittlungsprozessen sowohl gegenüber Expertenwie Laienöffentlichkeiten verbunden. Diese sollen im Folgenden anhand der Rolle Virchows als wissenschaftlicher Autor und Publizist näher untersucht werden. 3.1.4 Medizinische und anthropologische Publizistik

Der Konflikt zwischen Markt und Modernisierung bei der Erklärung der Innovationen des deutschen Wissenschaftssystems im 19.  Jahrhundert lässt sich partiell aufheben  : Denn im Vormärz modernisierte die preußische Hochschulverwaltung von außen die institutionellen Regelungen von Wissenschaft, indem sie ein neues Forschungsethos durchsetzte, womit der Staat zugleich eine stärkere Marktkonkurrenz erzeugte. Dazu gehörte auch, dass seit den 1830er Jahren der Grundsatz Publish or perish als wissenschaft203 Siehe dazu ausführlich Zimmerman, Anthropology and Antihumanism  ; H. Glenn Penny, Im Schatten Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie, München 2019. 204 Freisinnige Zeitung, Nr. 145 vom 23.6.1896, »Berliner Plauderer«. 205 Ulrike Felt, »Öffentliche« Wissenschaft. Zur Beziehung von Naturwissenschaft und Gesellschaft in Wien von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996), S. 45–66, hier  : S. 50.

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liches Karrierekriterium durchgesetzt wurde, was etwa 1848 abgeschlossen war.206 Dadurch wurde die enzyklopädische Zusammenstellung bekannten Wissens, die bislang die akademische Publikationstätigkeit stark geprägt hatte, gegenüber der Veröffentlichung neuer Forschungsergebnisse abgewertet. Zunehmend war es geboten, sich öffentlich dem Forschungsimperativ zu unterwerfen, was das Selbstverständnis von Wissenschaftlern erheblich veränderte  : Sie mussten nun nicht mehr so sehr in erster Linie auf die Anerkennung ihrer Fakultät als vielmehr auf die Anerkennung ihrer Forschungsergebnisse durch Fachkollegen bedacht sein. Die Fähigkeit zur Selbstvermarktung wurde daher enorm wichtig für wissenschaftliche Karrieren. So teilte der 24-jährige Virchow seinem Vater im Dezember 1845 mit, er müsse noch eine Anzahl von Aufsätzen für hiesige medizinische Blätter schreiben, um sich »einer gewissen Klasse von hohen Medicinern, die weiter nichts lesen, bekannt zu machen«207. Im August 1847 bilanzierte er, dass er mit seinen literarischen Erfolgen zufrieden sei  : »In Berlin habe ich allgemach eine gewisse Autorität, u. in den Provinzen, namentlich in den größeren u. Universitätsstädten auch. Im übrigen Deutschland geht es besser als ich erwartete, u. trotz der heftigen Polemik, welche ich gegen die österreichische u. einen Theil der süddeutschen Medizin entwickle, kommt noch kein Gegner hervor.« Dafür seien seine Arbeiten im Ausland noch nicht sehr bekannt, auch wenn er sich an diesem Tag zum ersten Mal in einem englischen Journal zitiert gesehen hatte, wenngleich noch als »Dr. Sirchov«.208 Einiges an Virchows Haltung wird auch an einer Antwort deutlich, die ihm sein gleichaltriger enger Freund und Kollege Alexander von Frantzius im Januar 1848 auf die von ihm erteilten Karrieretipps gab  : »Darin indessen werde ich Dir niemals folgen, wenn Du mir den Rath giebst, zu arbeiten und Etwas zu veröffentlichen, blos um mich der wissenschaftlichen Welt bekannt zu machen.«209 Während Frantzius damit ein älteres wissenschaftliches Ethos vertrat, dem ein marktgemäßes Verhalten, ein »Sich-Anpreisen« fremd war, entfaltete Virchow auch aus diesem Motiv heraus eine enorme publizistische und literarische Produktivität. Virchow entwickelte sich somit zu einem Virtuosen auf dem im 19. Jahrhundert stark expandierenden Markt wissenschaftlicher Publikationen. Sein Beispiel zeigt sowohl die Wichtigkeit von Publikationsstrategien für den Aufbau wissenschaftlicher Disziplinen als auch die wachsende Bedeutung der Fähigkeit zur Selbstvermarktung für wissenschaftliche Karrieren im 19. Jahrhundert. In diesem Prozess wurden wissenschaftlicher und literarischer Markt immer enger verknüpft. Wie agierte Virchow im Spannungsfeld der publizistischen Märkte für ein spezialisiertes und ein nicht-spezialisiertes Publikum  ? 206 Hierzu ausführlich Turner, Growth of Professorial Research, S. 137–182  ; Pfetsch, Institutionalisierung medizinischer Fachgebiete, S. 64  ; McClelland, State, Society, and University, S. 164–189. 207 R. Virchow an Carl Virchow, 14.12.1845, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 275. 208 R. Virchow an Carl Virchow, 28.8.1847, ebenda, S. 305 f. 209 Frantzius an Rudolf Virchow, 14.1.1848, in  : Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 97.

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Und wie befestigte er dabei seine wissenschaftliche Autorität auf dem Feld der Medizin und der Anthropologie  ? Auf welche Weise konsolidierte er durch seine publizistische Tätigkeit wissenschaftliche Tatsachen als gesichertes »Wissen«  ? Und welche Rolle spielten dabei Übersetzungsprozesse zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit für die Wissensproduktion  ?210 Einige Antworten darauf liefert eine Untersuchung von Virchows Rolle auf dem wissenschaftlichen Zeitschriftenmarkt. Wissenschaftliche Zeitschriften

Die ersten Anfänge wissenschaftlicher Zeitschriften reichen bis in das 17. Jahrhundert zurück, als die damals aufkommende experimentelle Forschungsweise verlangte, Ergebnisse schneller zu publizieren als es mit Büchern möglich war, um die Prioritätsfrage bei wissenschaftlichen Entdeckungen eindeutig klären zu können.211 Zudem entstanden periodische Publikationen in engem Zusammenhang mit dem beschleunigten Wissenserwerb, der vor allem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Allein zwischen 1778 und 1843 erschienen »neunzig deutsche medizinische Fachblätter, die mit dem Wort ›Archiv‹ beginnen«212. Die vierziger Jahre des 19.  Jahrhunderts bildeten schließlich eine Umbruchszeit für die deutsche medizinische Zeitschriftenliteratur. Noch stärker als die medizinische Literatur spiegeln die periodischen Zeitschriften die dramatischen Veränderungen in diesem Segment des literarischen Marktes wider.213 Gegenüber ihren Vorläufern änderte sich die Zielsetzung der in den vierziger Jahren in Deutschland entstehenden Zeitschriften, indem sie sich nicht mehr an ein Laienpublikum wandten, denen sie medizinische Belehrung zuteilwerden lassen wollten, sondern vorrangig an Ärzte adressiert waren. Während in diesem Jahrzehnt medizinische Fachzeitschriften alten Schlags wie das Hufelandsche Journal der praktischen Arzneikunde und

210 Vgl. Ulrike Felt/Helga Nowotny/Klaus Taschwer, Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt a. M. u. New York 1995, S. 261 ff. 211 Siehe zum Folgenden v. a. Edith Heischkel-Artelt, Die deutsche medizinische Publizistik der vierziger Jahre des 19.  Jahrhunderts im Kampf für eine neue Heilkunde, Diss. Berlin (masch.) 1945, hier v. a. S.  3–14  ; dies., Rudolf Virchow als Publizist, in  : Deutsche Medizinische Rundschau 1 (1947), Nr. 7, S. 230–233, hier  : S. 230  ; sowie Joachim Kirchner, Das deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme, Teil II  : Vom Wiener Kongress bis zum Ausgange des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1962, S. 118 f., Helmut Siefert, Rudolf Virchow und das medizinische Schrifttum des 19. Jahrhunderts, hrsg. v. Eberhard Schmauderer, Düsseldorf 1969, S. 315–347. Zu Großbritannien vgl. W. F. Bynum/Stephen Lock/Roy Porter (Hg.), Medical Journals and Medical Knowledge. Historical Essays, London u. New York 1992. 212 Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München u. Wien 1976, S. 103. 213 Rudolf Virchow, Unser Jubelband, in  : VA 150 (1897), S. 1–15, hier  : S. 2. Zu den Veränderungen des literarischen Marktes siehe Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, München 1998, v. a. S. 237 u. 337 f.

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das Archiv für medizinische Erfahrung eingingen, entstand eine ganze Reihe neuer Journale, die sich der ›neuen‹, naturwissenschaftlichen Medizin verschrieben.214 In dieser medizinpublizistischen Aufbruchsstimmung, die im Gegensatz zu der Mitte der 1840er Jahre einsetzenden und erst im Kaiserreich wieder überwundenen Flaute des publizistischen Marktes stand,215 brachte Virchow Anfang 1847 gemeinsam mit seinem um zwei Jahre älteren Freund und Kollegen Benno Reinhardt das Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin heraus. Als Virchow 1861 in dieser Zeitschrift auf die Umbruchsituation des Marktes für medizinische Zeitschriften in den vierziger Jahren zurückblickte, stilisierte er dieses Projekt zu einem Kampf des Neuen gegen das Alte  : Die Mehrzahl der alten Zeitschriften war, fast überall durch die eigene Schuld der Herausgeber, im Absterben begriffen. Wenige neue waren entstanden, und obwohl ihnen die Gunst der Leser in einem ungewöhnlichen Maasse zu Theil geworden war, so hatte sich doch schon damals gezeigt, dass sie mehr dem augenblicklichen Bedürfniss einer Uebergangsperiode dienten, als mit festem Schritt in die neue Periode der Wissenschaft eintraten.216

Zumal in Norddeutschland bildete, so Virchow, das im Jahr 1834 von seinem Lehrer Johannes Müller gegründete Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin den einzigen Lichtblick unter den wissenschaftlichen Zeitschriften und damit in gewisser Weise auch ein Vorbild.217 Ein wichtiger Grund für den Entschluss zur Gründung der Zeitschrift war für ihn, dass »kein anständiges Journal existirte, in dem wir schreiben konnten«218. Dies bezog sich konkret auch darauf, dass Wilhelm Roser und Carl August Wunderlich es abgelehnt hatten, Virchows 1845 im Friedrich-Wilhelm-Institut gehaltene Festreden in ihrem Archiv für Physiologische Heilkunde zu veröffentlichen. Dies führte nicht allein zu einer jahrelangen Fehde – trotz eigentlich verwandter wissenschaftlicher Standpunkte –, sondern bestärkte auch Virchows Entschluss, eine eigene Zeitschrift zu gründen.219 Entscheidend war aber nicht zuletzt das Argument der damit verbundenen publizistischen Macht  : Worum es Virchow und Reinhardt in dieser Zeit ging, war »Ein214 Dazu gehörte das 1840 von Heinrich Haeser gegründete »Archiv für die gesammte Medicin«, die 1847 gegründete »Zeitschrift für Erfahrungsheilkunst« sowie in Süddeutschland neben der von Jacob Henle und Carl Pfeufer seit 1843 herausgegebenen »Zeitschrift für rationelle Medicin« vor allem auch das von Wilhelm Roser und Karl August Wunderlich 1842 in Stuttgart begründete »Archiv für physiologische Heilkunde«. 215 Ilsedore Rarisch, Industrialisierung und Literatur. Buchproduktion, Verlagswesen und Buchhandel in Deutschland im 19. Jahrhundert in ihrem statistischen Zusammenhang, Berlin 1976, S. 40–43. 216 Rudolf Virchow, Vor- und Rückblicke, in  : VA 21 (1861), S. 1–6, hier  : S. 1. 217 Ders., Der hundertste Band des Archivs, in  : VA 100 (1885), S. 1–14, hier  : S. 2. 218 Virchow an Frantzius, 19.2.1850  : StBB-PK, Slg. Darmstädter, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 102–179  : Briefe von Virchow an Alexander von Frantzius, Bl. 117 f. 219 Siefert, Medizinisches Schrifttum, S. 321 f.

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fluss auf die Wissenschaft«, den sie in dieser Lebensphase, wie Virchow später schrieb, ungleich höher schätzten als persönlichen oder amtlichen Einfluss.220 Ein erster Anlauf, der jungen »Berliner Schule« ein Publikationsforum zu verschaffen, Ludwig Traubes Beiträge zur experimentellen Pathologie und Physiologie, war aufgrund verlegerischer Schwierigkeiten bereits nach zwei Heften gescheitert.221 Bereits seit 1845 hatten Virchow und Reinhardt deshalb den Gedanken erwogen, »eine eigene Zeitschrift [zu] gründen, um uns vollkommen zu emancipiren«222. Ein Brief Reinhardts an Virchow vom Ende dieses Jahres dokumentiert ihre Selbstwahrnehmung als Avantgarde einer neuen, »wissenschaftlichen« Medizin  : Es ist durchaus nothwendig, dass wir uns zusammenthun und einen energischen Feldzug gegen die Esoteren und sonstiges Volk, was jetzt die Wissenschaft mit ihrem läppischen Gewäsch überschwemmt, unternehmen. Wenn man das Zeug Alles liest, was jetzt zusammengeschmiert wird, es ist zum Rasendwerden  ! (…) Es ist höchste Zeit, dass diesem Unfug durch genaue zusammenhängende Untersuchungen, sowie durch eine schonungslose, mit bodenloser Grobheit durchgeführte Kritik gesteuert werde.223

Das Projekt sollte somit erstens der Durchsetzung der ›neuen‹, naturwissenschaftlich orientierten Medizin dienen. Zweitens sollte es nur Originalbeiträge veröffentlichen, wozu in den ersten Jahren Virchow selbst eine erhebliche Last auf sich nahm. Und drittens sollte das Archiv auf die »medicinische Öffentlichkeit« zielen, indem es die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden unter den Ärzten bezweckte.224 Entscheidend für die Realisierung des Projekts war die Unterstützung durch den Berliner Verleger Georg Ernst Reimer, der 1842 nach dem Tod des Firmengründers Georg Andreas Reimer den Verlag übernommen hatte und seither das Verlagsprofil stärker auf wissenschaftliche Veröffentlichungen ausrichtete.225 Diese Zusammenarbeit war nicht zuletzt durch den mit dieser medizinischen Richtung sympathisierenden Armenarzt Siegfried Johannes Reimer zustandegekommen  : Dieser hatte seinen Bruder Georg Reimer  – der 220 Rudolf Virchow, Erinnerungsblätter (an Reinhardt), in  : VA 4 (1852), S. 541–548, hier  : S. 542 f. 221 Becher, Rudolf Virchow, S. 22. 222 R. Virchow an Carl Virchow, 13.8.1846, Druck, RVSW, Bd.  59, S.  289. Siehe auch Virchow an Froriep, 2.3.1847  : ABBAW, Nl Virchow, Nr.  2424. Vgl. zum Folgenden auch Klaus Wenig, Rudolf Virchow und Georg Reimer. Zur Erinnerung an die Gründung des Archivs für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin im April 1847, Berlin 1997. 223 Reinhardt an Virchow, 12.12.1845, zit. nach  : Virchow, Erinnerungsblätter, S. 544 f. 224 Virchow, Der hundertste Band, S. 4. 225 Gerhard Lüdtke, Der Verlag Walter de Gruyter & Co. Skizzen aus der Geschichte der seinen Aufbau bildenden ehemaligen Firmen, nebst einem Lebensabriß Dr. Walter de Gruyter’s, Berlin 1924, S. 59 f. Siehe dazu auch Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, München 1991, S. 245. Vgl. auch das Themenheft »Verleger und Wissenschaftler«, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), H. 1.

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selbst als Mitglied der Berliner Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin sein Interesse an dieser Richtung bekundete –, zu diesem verlegerischen Wagnis überredet.226 Der mit ihm abgeschlossene Vertrag sah vor, dass die Zeitschrift in unregelmäßigen Zeiträumen in Heften, von denen je drei einen Band von etwa 36 Bogen bilden sollten, erscheinen würde. Für jeden Bogen sollte der Verleger zehn Taler Honorar an die Herausgeber zahlen, die davon die Mitarbeiter honorieren sollten. Dabei schlossen Virchow und Reinhardt zunächst eine Bezahlung der Redaktion aus. Virchow las nicht nur fast immer sämtliche Korrekturen,227 sondern füllte anfänglich das Archiv in erheblichem Maße mit seinen eigenen Beiträgen – im ersten Band immerhin 389 von 583 Seiten. Der Vertrag sah weiter vor, dass sich das Honorar von zehn auf zwölf Taler pro Bogen erhöhen würde, sobald der Absatz 700 Exemplare überschreiten sollte, »und ebenso bei fernerer Steigerung des Absatzes um zwei Thaler pro Bogen für je Hundert über 700 abgesetzte Exempl[are]«228. Allerdings blieben derartige Verkaufszahlen lange unerreichbar  : Trotz großer Werbeanstrengungen Virchows betrug die Zahl der verkauften Exemplare 1851 gerade einmal 340, womit sich noch nicht einmal die Herstellungskosten amortisierten.229 Immerhin ging ein Teil der Auflage auch ins Ausland. Die Zahl der verkauften Exemplare stieg auf 666 im Jahr 1864, erreichte 1884 mit 746 einen Gipfel und lag 1894 bei 697.230 Zugleich nahm der Umfang des Archivs kontinuierlich zu  : War am Anfang nur ein zwangloses Erscheinen angekündigt worden, um keinen Druck zur Füllung der Hefte zu erzeugen, so erschienen seit dem Jahr 1852, in dem nach Reinhardts Tod die Redaktion allein auf Virchow überging, bereits zwei Bände zu je drei Heften pro Jahr. Von 1864 an erschien monatlich ein Heft, woraus sich eine Zahl von vier Bänden jährlich ergab, und seit 1879 erschienen schließlich vier Bände zu drei Heften im Jahr, um des weiterhin wachsenden Manuskriptbergs Herr zu werden.231 Dabei bewältigte Virchow von Band 5 bis Band 169 allein die redaktionelle Bearbeitung von bis zu 2000 Seiten und mehr im Jahr,232 nachdem sein an einer fortschreitenden Lungentuberkulose leidender Kompagnon Reinhardt schon zuvor seine Pflichten mehr und mehr vernachlässigt hatte.233 Das Honorar stieg allerdings nicht im gleichen Maße, vor allem da Georg Reimer, allgemeinem Verlegerbrauch folgend, ertragsschwächere Zeitschriften, wie etwa die Protestantische Kirchenzeitung, mit erfolgreicheren Projekten querfinanzierte. Im Kampf 226 Becher, Rudolf Virchow, S. 22 f. 227 Oscar Israel, Rudolf Virchow und sein Archiv, in  : VA 170 (1902), S. 2–8, hier  : S. 4 f. 228 Georg Reimer an Virchow, Anlage  : Vertrag zwischen Virchow, Reinhardt und Reimer, 21.12.1846, Druck  : Wenig, Virchow und Reimer, S. 11 f. 229 Reimer an Virchow, 30.3.1851, Druck  : ebenda, S. 27–30, hier  : S. 30. 230 Kirchner, Das deutsche Zeitschriftenwesen, Teil II, S. 472. 231 Virchow, Der hundertste Band, S. 2 f. 232 Siefert, Medizinisches Schrifttum, S. 325. 233 Virchow an Frantzius, 13.2.1851 u. 2.4.1852  : StBB-PK, Slg. Darmstädter, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 102–179  : Briefe von Virchow an Alexander von Frantzius, Bl. 121–123 u. 126 f.

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gegen die ständig wachsende Manuskriptflut limitierte Virchow streng den Umfang der einzelnen Beiträge, da von der Beschränkung der Abonnementspreise und der Schnelligkeit der Lieferung ein wesentlicher Teil des Einflusses eines derartigen Periodikums abhinge.234 Im Interesse der anderen Mitarbeiter, insbesondere aber des Lesepublikums vertrat er die Maxime  : »Wer da schreibt, hat auch immer die Pflicht, sich zu fragen  : Wer soll das Geschriebene lesen  ?«235 Die zentrale Frage dabei war das Verhältnis von wissenschaftlicher Autonomie und ökonomischer Marktrationalität. Virchow erklärte das wissenschaftliche Interesse der Forscher und des Publikums zum einzigen legitimen Motiv für die Gründung neuer Fachzeitschriften. Besonders wichtig war für ihn überdies  – vor allem vor der Reichsgründung – das Ziel, durch Zeitschriften einen nationalen wissenschaftlichen Kommunikationsraum zu schaffen. Dies sollte auch der mangelnden internationalen Wahrnehmung der deutschen Wissenschaft, die durch ein fehlendes nationales Zentrum bedingt sei, entgegenwirken.236 Kritisch kommentierte er hingegen den Ehrgeiz profilierungssüchtiger Redakteure und wissenschaftlicher Gesellschaften, aber auch buchhändlerische Interessen. Bereits 1864 wies Virchow darauf hin, »wie viel gerade in Deutschland durch die besondere Organisation des Buchhandels und durch die Leichtigkeit, Drucksachen herzustellen und zu verbreiten, in dieser Richtung geleistet wird«. Auf diese Weise seien »bloße Speculations-Organe« entstanden. Allerdings glaubte er während des liberalen Aufschwungs der 1860er Jahre zugleich, dass die Marktkräfte, die auch das wissenschaftliche Feld beherrschten, automatisch das Bessere heraussieben würden  : »Auch die Wissenschaft, wenn sie auf den Markt gebracht wird, ist den wirthschaftlichen Gesetzen unterworfen, denn sie ist in diesem Falle nur eine Waare, deren Werth von der Nachfrage abhängig ist, und kein Buchhändler wird auf die Dauer für schlechte Waare Käufer finden.« Die Selbsterziehung des wissenschaftlichen Publikums würde dazu führen, »die Masse der Käufer zu Gunsten der besseren Literatur« zu verändern237 – das Licht der Aufklärung und die unsichtbare Hand des Marktes wirkten also nach seiner optimistischen Annahme harmonisch zusammen. Die praktische Seite dieses Problems lässt sich an Virchows langjähriger Beziehung mit dem Georg-Reimer-Verlag studieren. Die Zusammenarbeit mit Georg Reimer, der auch andere medizinische Fachzeitschriften, darunter die Verhandlungen der Gesellschaft für Geburtshülfe, in seinem Verlag betreute,238 zog sich über viele Jahre und viele Projekte hinweg bis zu dessen Tode im Jahre 1885 hin und wurde von dessen Sohn Ernst bis 234 Rudolf Virchow, Mittheilung des Herausgebers an die Herren Mitarbeiter, in  : VA 159 (1900), S. 572–574, hier  : S. 572. 235 Ders., Die medicinische periodische Presse in Deutschland, in  : VA 33 (1864), S. 1–15, hier  : S. 15. 236 Siehe dazu etwa ders., Unsere Aufgaben, in  : VA 11 (1857), S. 1–7, hier  : S. 2. 237 Ders., Die medicinische periodische Presse, S. 7. Ähnlich auch ders., Unsere Aufgaben, S. 6. 238 1849 übernahm Georg Reimer auch den Verlag der von Alexander Göschen herausgegebenen Wochenschrift »Deutsche Klinik. Zeitung für Beobachtungen aus deutschen Kliniken und Krankenhäusern«.

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zum Verkauf an Walter de Gruyter 1896 fortgesetzt.239 Nach der Übernahme des Archivs war Georg Reimer 1848 auch das verlegerische Risiko eingegangen, die von Virchow zusammen mit seinem Freund Rudolf Leubuscher (1821–1861) gegründete Zeitschrift Die medicinische Reform in sein Programm aufzunehmen. Sie erschien vom 10. Juli an und konnte sich ein knappes Jahr bis zum Heft Nr. 52 halten, wobei ihr Umfang anfänglich acht, später vier Seiten wöchentlich betrug. Sie bildete ein zentrales Forum der im Revolutionsjahr gipfelnden Medizinalreformbewegung. Neben Leitartikeln zu aktuellen Problemen der Medizinalreform enthielt diese als weitere Rubriken »Berichte über die Reform-Vorgänge«, »Kleinere Mitteilungen« sowie »Personalnachrichten«. Die medicinische Reform war zugleich ein Pionier für den neuen journalistischen Typus der medizinischen »Wochenschrift«240. Virchow selbst unterschied zwei Arten von medizinischen Zeitschriften  : Wochenschriften und »die große Mehrzahl der Broschuren und Lehrbücher« zählte er zur »leichten periodischen Presse«, bei der schnelle Berichterstattung und gute Lesbarkeit im Vordergrund stand, und hierzu zählte die Reform. Das als Kampfblatt zur Durchsetzung eines naturwissenschaftlichen Standpunkts in der Medizin konzipierte Archiv hingegen rechnete er der »schweren periodischen Presse« zu, die wesentlich höhere Anforderungen stellte.241 Mit der Periodizität der Medicinischen Reform verband Virchow zugleich auch ein gesteigertes Bewusstsein für die Rolle der öffentlichen Meinung, für die derartige Zeitschriften ein wichtiges Medium darstellten.242 Reimer beschränkte seine Zusage zunächst auf ein halbes Jahr,243 und nach Ablauf dieser Zeit gedachte er von dieser Beschränkung auch Gebrauch zu machen, da der kommerzielle Erfolg der Medicinischen Reform ausgeblieben war. Obwohl der Verkauf im zweiten Quartal auf etwa 230 Exemplare gestiegen war, blieb dies weiter unter dem kostendeckenden Minimum von etwa 350.244 Tatsächlich lag die Auflage der meisten technischen oder medizinischen Fachschriften zwischen 1830 und 1880 zwischen 200 und maximal 1000 Exemplaren.245 Virchow appellierte gegenüber den wirtschaftlichen Bedenken des Verlegers an seinen strategischen Weitblick  : »Sobald die Wissenschaft wieder bei einer ruhigeren Gestaltung der politischen Verhältnisse größeres Bedürfniss sein wird, so werden wir hier um so mehr ein solches Organ gebrauchen, als schon

239 Rudolf Virchow, Nachruf an Ernst Reimer, in  : VA 150 (1897), S. 388–391. 240 Kirchner, Das deutsche Zeitschriftenwesen, Teil II, S. 119. Siehe dazu auch Peter Schneck, Nachwort zum fotomechanischen Nachdruck der Wochenschrift Die medicinische Reform, hrsg. von Rudolf Virchow und Rudolf Leubuscher, Berlin 1983, S. 4. 241 Virchow, Unsere Aufgaben, S. 4 f. Siehe auch ders., Die medicinische periodische Presse, v. a. S. 7 f. 242 Ders., Was die »medicinische Reform« will, in  : MR, Nr. 1 vom 10.7.1848, S. 1 f., hier  : S. 1. 243 Reimer an Virchow, 30.6.1848, Druck  : Wenig, Virchow und Reimer, S. 13 f. 244 Reimer an Virchow, 21.12.1848, Druck  : ebenda, S. 15 f. 245 Rarisch, Industrialisierung und Literatur, S. 58.

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jetzt die jüngeren Kräfte in wissenschaftliche Stellen einzurücken beginnen.«246 Reimer ging darauf zunächst ein und rechtfertigte dieses Zuschussunternehmen als eine lohnende Investition in die Zukunft. Für die Gegenwart bot er Virchow daraufhin an, das Unternehmen weiterzuführen, sofern dieser bereit sein würde, auf das Honorar zu verzichten.247 Dennoch musste Virchow, der ab Januar 1849 allein als Redakteur und Herausgeber der Medicinischen Reform verantwortlich zeichnete, die Zeitschrift im Juni 1849 einstellen. Gegenüber seinem Vater begründete er dies damit, dass »die Realisirung der demokratischen Forderungen auch in der Medicin noch lange anstehen wird, u. die ewige Opposition jetzt meine Stellung nur erschweren würde«248. So ging Virchow zwar oft ein hohes persönliches Risiko ein, achtete dabei jedoch stets darauf, dass seine politischen Aktivitäten seine wissenschaftlichen Karriereambitionen nicht nachhaltig gefährdeten. Der Altliberale Reimer traf sich politisch mit Virchow insoweit in der Kritik an den preußischen Verhältnissen, als die staatlichen Maßnahmen gegen die Pressefreiheit, die nach der Revolution durch das Pressegesetz von 1851 erneut drastisch verschärft wurden, auch unter buchhändlerischen Gesichtspunkten sehr nachteilig waren. Jedoch waren seine politischen Auffassungen weit gemäßigter als die Virchows, dem er 1851 schrieb  : »Ob ich noch conservativ sei fragen Sie und ich sehe in Gedanken dabei Ihr feines spöttisches Lächeln.« Allerdings sei er kein Anhänger der neuen konservativen Regierung des Ministeriums Manteuffel, aber ich bin doch immer selbst durch dieses Ministerium noch nicht dahin gebracht zu glauben, dass in der Revolution Heil zu finden wäre und man die Freiheit im Sturm über Nacht erkämpfen könnte, sondern bin viel mehr noch immer der Ansicht, dass sie nur Schritt für Schritt mit besonnener Ausdauer erlangt werden kann  ; jetzt siehts freilich schlechter damit aus als je.249

Die Beziehung Virchows zu Reimer reichte jedoch über den publizistischen Bereich hinaus. Auch wenn sie manche politische Differenzen trennten, so trafen sie sich im Rahmen der liberalen Reformbewegung,250 die Berlin seit dem Ende der fünfziger Jahre beherrschte. Dazu gehörte etwa die gemeinsame Mitarbeit im Verein zur Wahrung der verfassungsmäßigen Pressfreiheit in Preußen oder in dem von Virchow 1869 gegründeten Komitee zur Errichtung eines Denkmals für Alexander von Humboldt.251 246 Virchow an Reimer, 20.12.1848, zit. nach Wenig, Virchow und Reimer, S. 9. 247 Reimer an Virchow, 21.12.1848, Druck  : ebenda, S. 15 f. Das Honorar betrug demnach einen Friedrichs d’or pro Wochennummer. 248 R. Virchow an Carl Virchow, 6.8.1849, in  : ders., RVSW, Bd. 59, S. 417. 249 Reimer an Virchow, 1.3.1851, Druck  : Wenig, Virchow und Reimer, S. 25. 250 Virchow, Nachruf an Ernst Reimer, S. 388. 251 Constantin Goschler, Die ›Verwandlung‹. Rudolf Virchow und die Berliner Denkmalskultur im Kaiserreich,

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Bereits bei der Gründung des Archivs zeigte sich eine eigenartige Ambivalenz  : Einerseits zielte diese auf die wissenschaftliche Ausdifferenzierung und Institutionalisierung einer neuen Disziplin. Andererseits erklärte Virchow bereits hier, dass eine Fragmentierung der Wissenschaften vermieden werden sollte.252 Neue Zeitschriftengründungen auf benachbartem Gebiet beklagte Virchow gegenüber Frantzius 1850 als »neue Zersplitterung« oder gar als »Presse-Egoismus«253. In einem programmatischen Leitartikel für sein Archiv erklärte er 1861, dass die an sich bedenkliche »zu große Zersplitterung der Disciplinen« nur so weit zulässig sei, als sie von der Arbeitsteilung bedingt werde. Aber unzweifelhaft sei »es für den Arzt in hohem Maasse wünschenswerth (…), dasjenige, was für sein Wissen erforderlich ist, nicht an verschiedenen Orten suchen zu müssen«254. Neun Jahre später aber beklagte sich Virchow erneut über den ungebrochenen Trend, wonach sich die Zahl der wissenschaftlichen Zeitschriften jährlich vermehre und jede wissenschaftliche »Spezialität«, gleich wie groß sie sei, ihr eigenes publizistisches Organ haben müsse  : »Es wird nicht lange dauern, so wird nicht bloss jeder Kanal des Körpers, jede Oberfläche, sondern wahrscheinlich auch jedes Gewebe sein besonderes Journal haben. Ein ›Archiv für Krankheiten des Bindegewebes‹ oder ein ›Archiv für farblose Blutkörperchen‹ gehört nicht mehr zu den unmöglichen Hoffnungen.« Zwar seien damit auch Vorteile verbunden, da auf diese Weise wenigstens für einige Zeit die Forschung intensiviert werde. Jedoch existierte, so Virchow, kein »dauerndes Bedürfnis für eine solche Zersplitterung«  : Wer liest am Ende Archiv und Gegenarchiv  ? Beinahe nur die Specialisten. Haben diese die Absicht und das Interesse, ihre Wissenschaft zu einer Geheimlehre auszubilden und sich aller Controle zu entziehen, so ist dieses Verfahren sehr vortrefflich. (…) Die Psychiatrie hat dies schon seit längerer Zeit durchgesetzt und beklagt sich seitdem fortwährend über Mangel an Verständnis bei den übrigen Archiven. Mein Archiv hat zu allen Zeiten den Specialitäten, welche sich erst Geltung verschaffen wollten, zum Organ gedient. Es wird dies auch künftig gern thun. Aber es wird dabei nicht aufhören, auch dann noch Artikel der Special-Disciplinen zu bringen, wenn diese letzteren sich ihre Geheim-Organe geschaffen haben.255

Solche Warnungen vor der Gefahr eines Auseinandertretens von praktischen Ärzten und wissenschaftlicher Medizin waren Bestandteil eines im 19.  Jahrhundert immer wichtiger werdenden Diskurses, der die zunehmende Fragmentierung des Wissens themati­ in  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1 (1998), S. 69–111, hier  : S. 76. 252 Siehe dazu Frantzius an Rudolf Virchow, 14.1.1848, Druck  : Andree, Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 97. 253 Virchow an Frantzius, 19.2.1850. 254 Virchow, Vor- und Rückblicke, S. 4. 255 Rudolf Virchow, Unser Programm, in  : VA 50 (1870), S. 1–12, hier  : S. 6 f.

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sierte.256 Dahinter standen zum einen Befürchtungen um den Verlust eines gemeinsamen Bildungswissens, das eine wichtige Rolle für die Vergesellschaftung des Bürgertums spielte. Zum anderen kamen gerade bei Virchow später auch Befürchtungen hinzu, dass die einmal erreichte Hegemonie innerhalb eines bestimmten wissenschaftlichen Feldes gefährdet werden könnte. Dies traf sich mit verlegerischen Befürchtungen bezüglich der ökonomischen Konkurrenz, die neue Zeitschriftengründungen bedeuteten,257 zumal wenn die Auflagenzahlen noch keine kostendeckende Produktion ermöglichten. So forderte Virchow, die wissenschaftlichen Energien in die Verbesserung der bestehenden Journale anstatt in Neugründungen zu stecken und relativierte damit auch seine frühere Auffassung, wonach das freie Spiel der Kräfte auch in der Wissenschaft das beste Prinzip sei und sich bessere Qualität sozusagen durch die Marktkräfte durchsetzen würde  : »Die Concurrenz hat auch auf dem wissenschaftlichen Markte ihre gewisse Grenze.«258 Eine Antwort auf die zunehmende Spezialisierung und Ausdifferenzierung des medizinischen Wissens waren Zeitschriften, die sich die Aufgabe stellten, Überblick über die immer mehr zunehmende Literatur zu verschaffen. Zu den ersten dieser Art gehörten Karl Canstatts 1841 begründeter Jahresbericht über die Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern. 1851 übernahm Virchow gemeinsam mit Johann Joseph von Scherer und Gottfried Eisenmann die Herausgeberschaft, die er dann von 1866 bis 1893 mit August Hirsch und von 1893 an mit Carl Posner teilte. 1866 wurde der Titel in Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte in der gesammten Medicin geändert, war jedoch allgemein als Virchows Jahresbericht bekannt. Während das Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin ausschließlich neue Forschungsergebnisse veröffentlichte und »auf alle jene Reizmittel, wie Neuigkeiten, Gesellschaftsberichte, ja sogar, bis auf geringe Ausnahmen, auf kritische Besprechungen«259 verzichtete, handelte es sich bei den Jahresberichten um ein Referateblatt. Hier wurde das gesamte ärztliche Wissen in 18 Fachgruppen aufgeteilt. Ein Spezialist erstellte jährlich jeweils ein Resümee und machte damit  – unterstützt durch ein Register  – die zunehmende Fülle von Fachliteratur leicht zugänglich.260 Nach diesem Vorbild wurden im Deutschen Reich seit den 1870er Jahren eine ganze Reihe weiterer medizinischer Jahresberichte gegründet.261 Auch die Jahresberichte nutzte Virchow als Instrument zur Stärkung seiner eigenen wissenschaftlichen Positionen. So kritisierte 1854 das Monthly Journal of Medical 256 Siehe dazu zusammenfassend Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 532 f.; ders., Deutsche Geschichte, 1866–1918. Bd. 1  : Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 676–679. 257 Siehe etwa die Klage Georg Reimers über die 1850 gegründeten »Annalen des Charité-Krankenhauses zu Berlin« in seinem Brief an Rudolf Virchow, 28.2.1851, Druck  : Wenig, Virchow und Reimer, S. 23. 258 Virchow, Die medicinische periodische Presse, S. 15 (Hervorhebung im Original.). 259 Ders., Der hundertste Band des Archivs, S. 4. 260 Vgl. dazu Kirchner, Das deutsche Zeitschriftenwesen, Teil II, S. 120. 261 Ebenda, S. 312.

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Science das in dieser Zeitschrift angewandte Verfahren, jeweils einen Experten mit einem Überblick über sein Fachgebiet zu betrauen. Dies führe dazu, dass manche von ihnen der Versuchung erlägen, ihre eigenen Beiträge herauszuheben und diejenigen, die eine abweichende Meinung besäßen, mit Verachtung zu belegen  : »Dies lässt sich besonders an den knurrenden Veröffentlichungen Virchows beobachten, wo jegliche seiner eigenen entgegengesetzte Meinung mit Ausrufezeichen gekennzeichnet und jeder Zweifel an der Richtigkeit seiner eigenen Theorien als einzigartiger Starrsinn charakterisiert wird.«262 Virchows Stellung als Ordinarius in Würzburg von 1849 bis 1856 und seine Mitgliedschaft in der dortigen Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft hatten es überdies mit sich gebracht, dass er 1850 gemeinsam mit dem Histologen Albert Kölliker und dem Chemiker Johann Joseph Scherer Herausgeber der Verhandlungen der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft wurde. 1851 wurde er zum Vorsitzenden dieser Gesellschaft gewählt, was hauptsächlich dafür verantwortlich war, dass er die Herausgeberrolle wieder abgab.263 Doch hatte er sich damit erstmals auf das Gebiet der Vereinszeitschrift begeben, ein Medium, das für ihn besonders wichtig im Hinblick auf die von ihm geforderte Öffentlichkeit wissenschaftlicher Vereine und ihrer Arbeit war. Allerdings fragte er zugleich skeptisch, welche Gesellschaft Schriften veröffentlicht hätte, »welche dauernd ein großes Publikum gefunden hätten  ?« So erfreuten sich die Würzburger Verhandlungen zwar großer Anerkennung, doch machte ihr Verleger ein schlechtes Geschäft.264 Exemplarisch zeigten sich die Schwierigkeiten von Vereinszeitschriften bei der von Virchow 1869 gemeinsam mit Adolf Bastian und Robert Hartmann als Organ der Berliner anthropologischen Gesellschaft gegründeten Zeitschrift für Ethnologie, die von Paul Parey in Berlin verlegt wurde. Angefügt waren ihr die Verhandlungen dieser Gesellschaft, deren arbeitsintensive Redaktion gleichfalls weitgehend in Virchows Händen lag.265 Diese Zeitschrift beanspruchte einen Großteil der finanziellen Ressourcen der BGAEU, bildete aber auch einen ständigen Konfliktherd. Mit der Mitgliedschaft in diesem Verein war der Bezug der Zeitschrift gekoppelt, was dieser eine weite Verbreitung sicherte. Ein nicht unerheblicher Teil der Auflage ging auf diese Weise in das Ausland. Allerdings begrenzte die deutsche Sprache auch damals schon die Reichweite gegenüber konkurrierenden Journalen in englischer oder französischer Sprache.266 Aufgrund des ständig wachsenden Umfangs der Zeitschrift mussten regelmäßig Staatszuschüsse an den Verlag gezahlt werden, 1889 beispielsweise immerhin 3351 Mark.267 Der preußische Staat un262 Zitiert nach Rudolf Virchow, Ein Sendschreiben an die Redaction des Monthly Journal of Medical Science in Edinburg, in  : VA 6 (1854), S. 427–432, hier  : S. 427. 263 Siefert, Medizinisches Schrifttum, S. 337. 264 Virchow, Die medicinische periodische Presse, S. 10. 265 Andree, Geschichte der Berliner Gesellschaft, S. 96. 266 Sitzung der BGAEU vom 19.12.1891, Rudolf Virchow, Verwaltungsbericht für das Jahr 1891, in  : ­VBGAEU 23 (1891), S. 868. 267 Sitzung der BGAEU vom 21.12.1889, Rudolf Virchow, Verwaltungsbericht für das Jahr 1889, in  : VB-

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terstützte auf diese Weise aktiv die Institutionalisierung neuer Disziplinen und initiierte gelegentlich sogar selbst die Gründung neuer wissenschaftlicher Zeitschriften. So regte Kultusminister Gustav von Goßler an, dass seit 1890 die Nachrichten über deutsche Alterthumsfunde der Zeitschrift für Ethnologie als weiteres Beiblatt angefügt wurden.268 Die immer wieder auftretenden Spannungen zwischen der Berliner anthropologischen Gesellschaft und dem Verlag verweisen auch auf grundsätzliche Probleme wissenschaftlicher Vereinszeitschriften. Das unbefriedigende Verhältnis, so schrieb ein verärgertes Mitglied, »ist um so ärgerlicher, je bekannter der Grundsatz der deut[schen] Buchhändler ist, an den gelehrten Gesellschaften so viel als möglich zu verdienen, weil die Luft von der Menge nicht gefüllt wird«269. Umgekehrt schmälerte aber der vergünstigte Bezug der Zeitschrift durch Mitglieder die Gewinnspanne des Verlegers gegenüber dem freien Verkauf. Überdies verringerte auch das zunehmende Volumen der Hefte den Gewinn des Verlegers, der deshalb auf die Einhaltung des vertraglich festgelegten Umfangs pochte.270 1882 ging das Projekt schließlich von dem Verleger Parey auf die Buchhandlung Asher & Co. über, die sich auf ethnologische und anthropologische Veröffentlichungen zu spezialisieren suchte, und bei dieser Gelegenheit verbesserten sich auch die Konditionen für die BGAEU. So konnten nunmehr auch wieder Honorare für die Beiträge gezahlt werden, worauf aufgrund finanzieller Schwierigkeiten seit einiger Zeit verzichtet worden war.271 Virchow investierte viel Zeit in diese wissenschaftlichen Zeitschriftenunternehmun­ gen und entwickelte bei der Redaktion »die pedantische Sorgfalt eines tüchtigen Kanzleibeamten«272. Zugleich bekannte er aber, »daß noch kein Redacteur eines medizinischen Journals dadurch in den Ruf eines bedeutenden Mediciners gekommen ist, daß er Redacteur war«273. Die Bedeutung dieser Position lag deshalb vor allem darin, dass er sich hier als wissenschaftlicher Torwächter betätigen konnte, wovon er auf dem Gebiet der Pathologie und Anthropologie gleichermaßen starken Gebrauch machte. Die Herausgabe und Redaktion wissenschaftlicher Zeitschriften bildete für Virchow somit zwar ein wichtiges strategisches Element des wissenschaftlichen Erfolges, doch konnte dies die Publikation eigener Forschungsergebnisse nicht ersetzen.

GAEU 21 (1889), S. 725. 268 Sitzung der BGAEU vom 20.12.1890, Rudolf Virchow, Verwaltungsbericht für das Jahr 1890, in  : VBGAEU 22 (1890), S. 586. 269 Gottfried Wetzstein an Virchow, 14.12.1881, StBB-PK, Berlin, Slg. Darmstädter 3, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe. 270 Rudolf Virchow, Geschäfts- und Verwaltungsbericht für das Jahr 1879, in  : VBGAEU 11 (1879), S. 401. 271 Ders., Verwaltungsbericht für das Jahr 1882, in  : VBGAEU 14 (1882), S. 554. 272 Bernhard Fränkel, Thätigkeit in medicinischen Gesellschaften, in  : Berliner Klinische Wochenschrift, Nr. 43 vom 21.10.1893, S. 1053–1056, hier  : S. 1054. 273 Virchow, Die medicinische periodische Presse, S. 8.

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Wissenschaftliche Karriere und disziplinäre Identitäten

Wissenschaftliche Publikationen

Virchow verfasste neben unzähligen wissenschaftlichen Artikeln zahlreiche Monographien, Handbücher und Aufsatzsammlungen.274 Während die Aufsätze meist neue Forschungsergebnisse präsentierten, dienten die übrigen Publikationen vor allem der Synthese. Wichtig waren aber auch programmatische Schriften wie die 1849 bei Georg Reimer erschienenen Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medizin275. Dieses Büchlein bildete »eine Art von Abschieds-Programm«, bevor er von Würzburg nach Berlin zurückkehrte. Es handelte sich gewissermaßen um ein wissenschaftliches »Glaubensbekenntnis«, in dem Virchow zeigen wollte, dass er »wirklich im Prinzip über die bestehenden Systeme und Theorien hinausgehe. Es ist damit zugleich der Weg vorgezeichnet, den meine Studien fortan einhalten sollen.«276 Mit diesem Bändchen, das in die Kapitel »Der Mensch«, »Das Leben«, »Die Medicin«, »Die Krankheit« und »Die Seuche« eingeteilt war, formulierte er sein Konzept einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin in Form eines philosophisch-theoretischen Forschungsprogramms, auch wenn er selbst einräumte, dass es etwas flüchtig formuliert sei.277 Zugleich erkannte Virchow aber die große wissenschaftsstrategische Bedeutung von Handbüchern und Kompendien. Damit unterschied er sich von vielen seiner Kollegen, die es für wissenschaftlich unproduktiv hielten, derartige Werke zu verfassen, widersprach dies doch dem durch den Forschungsimperativ geprägten neuen Selbstbild des Naturwissenschaftlers.278 Seit 1849 plante er für einige Zeit, »ein großes Handbuch der pathologischen Anatomie« zu verfassen, was zum Teil auch ein Reflex auf seine für einige Zeit unsicher gewordenen Berufsaussichten war. Über die Veröffentlichung verhandelte er wiederum mit Georg Reimer, der dieses Projekt nachdrücklich unterstützte,279 bedeuteten doch Handbücher verlegerisch ein besseres Geschäft als spezialisierte Forschungsliteratur. Reimer schlug ihm dazu eine Auflage von 1500 Exemplaren vor und offerierte ein Honorar von 20 Talern beziehungsweise 35 Gulden pro Bogen280 – während er für die Einheitsbestrebungen insgesamt lediglich 30 Taler gezahlt hatte.281 Virchow erschien dies als zu wenig, doch rechtfertigte Reimer seine Kalkulation damit, dass ein auf Studenten zielendes Buch keinen zu hohen Verkaufspreis haben dürfe  : Üblich sei bei 274 Julius Schwalbe (Hg.), Virchow-Bibliographie, 1843–1901, Berlin 1901. 275 Rudolf Virchow, Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin. (Inhalt  : Der Mensch. Das Leben. Die Medicin. Die Krankheit. Die Seuche.) Berlin 1849. 276 Virchow an Frantzius, 18.9.1849  : StBB-PK, Slg. Darmstädter, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 102–179  : Briefe von Virchow an Alexander von Frantzius, Bl. 113. 277 Ebenda. 278 Turner, The Growth of Professorial Research, S. 180. 279 Virchow an Goldstücker, 27.2.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425  ; siehe auch Georg Reimer an Virchow, 12.12.1850, Druck  : Wenig, Virchow und Reimer, S. 22. 280 Reimer an Virchow, 28.2.1851, Druck  : ebenda, S. 24. 281 Reimer an Virchow, 12.12.1850, Druck  : ebenda, S. 21 f.

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wissenschaftlichen Büchern bei einer Auflage von 1000 Exemplaren ein Honorar von 10 Talern pro Bogen.282 Virchows Publikationspläne waren nicht unerheblich von seiner allgemeinen Lebensperspektive abhängig. So dachte er 1851 über eine englische Übersetzung des projektierten Handbuchs nach, wobei er vor allem den nordamerikanischen Markt im Auge hatte, denn »in England lesen doch schon sehr viele Aerzte deutsch, in Amerika außer den Eingewanderten fast niemand«. Solche Überlegungen standen im Zusammenhang der politischen Unterdrückung nach der Revolution, als er, wie gesagt, einige Jahre lang mit dem Gedanken spielte, in die USA auszuwandern. Um sich dort eine Existenz aufbauen zu können, so Virchow 1851, sei »es aber nicht unwichtig, gekannt zu sein«283. Das Handbuchprojekt schleppte er zwar wenigstens bis 1863 weiter, doch wurde es nie ausgeführt. An dessen Stelle war in gewisser Weise die Mitarbeit an einem sechsbändigen Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie getreten, das von 1854 an erschien.284 Virchow selbst schrieb den allgemeinen Teil und führte die Redaktion dieses unter Beteiligung der bedeutendsten Kliniker Deutschlands zustande gekommenen Werks, das zum Vorbild kollektiv verfasster Handbücher in Deutschland wurde.285 Der Gemeinschaftscharakter dieser Veröffentlichung machte es aber zugleich schwerer, es für die Durchsetzung seines eigenen wissenschaftlichen Ansatzes verwenden zu können. Zudem zwang ihn der Handbuchstil dazu, ausführlich die Ergebnisse anderer Autoren referieren zu müssen. Der Effekt, den Lehrbücher zu bestimmten Zeiten erreichen können, nämlich hilfreich für den Prozess der Begründung einer Disziplin zu sein,286 ließ sich damit nicht erreichen. Entscheidend für die endgültige Durchsetzung seiner medizinischen Auffassungen war daher sein 1858 bei August Hirschwald erschienenes Buch über Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre287, das eine popularisierte Synthese seiner bisherigen Arbeiten darstellte. Damit vervollständigte, systematisierte und verfestigte Virchow die Orientierung auf die Zelle als Grundeinheit der Pathologie, die sich über Jahre hinweg vorbereitet hatte. An dieser Stelle interessiert jedoch nicht so sehr die umstrittene Frage, inwieweit diese Theorie eine originelle Leistung darstellte, sondern auf welche Weise er seine Ideen als anerkanntes »Wissen« 282 Reimer an Virchow, 30.3.1851, Druck  : ebenda, S. 27–30, hier  : S. 28 f. Zu den üblichen Honoraren für wissenschaftliche Bücher sowie für politische Broschüren in den 1850er und 1860er Jahren vgl. auch Jansen, Einheit, Macht und Freiheit, S. 126–129. 283 Virchow an Goldstücker, 24.10.1851  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 284 Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie, redigiert von Rudolf Virchow, 6 Bde., Stuttgart u. a. 1854–1876. 285 Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 17. 286 Vgl. dazu Kathryn M. Olesko, Commentary  : On Institutes, Investigations, and Scientific Training, in  : Coleman/Holmes (Hg.), Investigative Enterprise, S. 295–332, hier  : S. 315 f. 287 Rudolf Virchow, Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, Berlin 1858.

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durchsetzen konnte. Damit ging die Leistung einher, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Ideen zu einem System zu formen und sie dabei durch neue Begriffe auch in einer dramatischen Art und Weise zu präsentieren.288 Bereits Erwin Ackerknecht bemerkte, dass der »Historiker wahrscheinlich weniger von Virchows Entdeckungen beeindruckt (sei) als von seiner Gabe, die Menschen zu veranlassen, seine Gedanken anzunehmen«289. Dem ist mit Ludwik Fleck hinzuzufügen, dass Wissenschaftspopularisierung nicht etwa lediglich der Diffusion gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis dient, sondern einen eigenen epistemologischen Stellenwert besitzt. Demzufolge erhalten wissenschaftliche Theorien ihre einfache und klare Form durch die Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse durch Handbücher und Darstellungen für Nicht-Fachleute  : »Gewißheit, Einfachheit, Anschaulichkeit entstehen erst im populären Wissen  ; den Glauben an sie als Ideal des Wissens holt sich der Fachmann von dort.«290 Die Cellularpathologie ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Wie schon gesagt hatte Virchow das Grundkonzept seiner Zellularpathologie bereits 1855 in einem Artikel in seinem Archiv veröffentlicht. Der dort geprägte suggestive Ausspruch »Omnis cellula e cellula«291 wurde zu einem Leitmotiv der neuen biologischen Forschung. Das drei Jahre später folgende Buch entstand dann aus einer Reihe von Vorlesungen in einem Kursus für Berliner praktische Ärzte, die Virchow während der Semesterferien gehalten hatte. Diese ließ er durch einen Stenographen, mit dem er den Erlös des Buchs teilen wollte, nachschreiben und schickte die korrigierte Reinschrift in die Druckerei.292 So verdient sich die Prägnanz der Zellularpathologie auch einem Übersetzungsprozess für ein nicht-spezialisiertes Publikum. Dieses Werk wurde zu einem großen Publikumserfolg und erfuhr bereits zu Virchows Lebzeiten fünf Auflagen im Deutschen sowie fünf Übersetzungen, die gleichfalls zahlreiche Neuauflagen nach sich zogen.293 1860 verlegte John Churchill eine englische Übersetzung der Cellular Pathology in London, nachdem noch 1858 die nordamerikanischen Verleger Blanchard & Loeb es abgelehnt hatten, einen derartigen spekulativen deutschen Text zu veröffentlichen.294 Gleichfalls 1860 erschien auch eine amerikanische 288 Malkin, Rudolf Virchow and the Durability of Cellular Pathology, S. 435. Vgl. auch Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 61 u. 74–82. 289 Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 27. 290 Ludwik Fleck, Ursprung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und vom Denkkollektiv. Mit einer Einleitung hrsg. v. Lothar Schäfer/Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 31994, S. 152. Vgl. dazu auch Terry Shinn/Richard Whitley (Hg.), Expository Science  : Forms and Functions of Popularisation, Dordrecht 1985, hier v. a. dies., Editorial Preface, S. VII. 291 Virchow, Cellular-Pathologie, S. 23. 292 R. Virchow an Carl Virchow, 28.4.1858, Druck  : RVSW, Bd. 59  : Briefe, S. 816. 293 Siefert, Medizinisches Schrifttum, S. 343  ; Renato G. Mazzolini, Politisch-biologische Analogien im Frühwerk Rudolf Virchows, Marburg 1988, S. 23. 294 Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 82.

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Ausgabe, der in den kommenden Jahren zahlreiche Neuauflagen folgten, sowie eine niederländische Ausgabe. Nach gezielten Anstrengungen Virchows, die Cellularpathologie in Frankreich zu veröffentlichen und damit seinen Ansatz auch dort zu verbreiten,295 erschien 1861 die von Paul Picard übersetzte Pathologie cellulaire, die bis 1874 gleichfalls schon vier Auflagen erreichte. 1863 erschien in Italien La patologia cellulare, deren zweite Auflage schon 1865 folgte. Die Cellularpathologie war somit ein medizinischer Welterfolg, der Virchows Ruhm seit den sechziger Jahren international begründete und auch erhebliche Tantiemeneinkünfte mit sich gebracht haben dürfte. Auch die 1862 im Georg-Reimer-Verlag erschienenen Vier Reden über Leben und Kranksein296 basierten auf Vorträgen teils populärwissenschaftlicher Natur, die Virchow in den Jahren 1858 bis 1862 vor der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, dem Wissenschaftlichen Verein der Singakademie sowie dem Verein junger Kaufleute »Vorwärts« in Berlin gehalten hatte. Theodor Goldstücker, der sich für Virchow als Literaturagent auf dem englischen Markt betätigte, schlug ihm – nach dem erfolgreichen Vorbild der Cellularpathologie – sogleich eine Übersetzung der Vier Reden vor. Virchow lehnte dies jedoch ab, da diese Veröffentlichung seiner Meinung nach nicht dem englischen Geschmack entsprach  : »Einmal nicht wegen der Richtung des Denkens, die darin steckt, u. zum anderen Male nicht wegen des durchgehend national-deutschen Grundzuges derselben, der sich nirgends verleugnet u. der wahrscheinlich die Engländer beleidigen wird.« Deshalb betrachtete er ein solches Unternehmen im besten Falle als Zeitverschwendung, im ungünstigsten Falle aber sogar als schädlich.297 Während Virchow also einerseits die Allgemeingültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis vertrat, unterschied er andererseits unterschiedliche nationale wissenschaftliche Denkstile. Nach der Cellularpathologie erschienen in den sechziger Jahren noch einige weitere seiner großen medizinischen Werke, darunter ein dreibändiges Werk über Tumore im Verlag von August Hirschwald.298 Allerdings lieferte Virchow seit dem Ende der 1860er Jahre keine neuen Beiträge mehr für die pathologische Anatomie. Virchows kreative Phase auf diesem Gebiet konzentrierte sich damit auf jene Blütezeit deutscher wissenschaftlicher Produktivität im Bereich der Medizin, die etwa von 1820 bis 1870 reichte, und fiel dann allmählich ab.299 Auffällig ist die sich bereits früh abzeichnende Neigung Virchows, einzeln abgedruckte Aufsätze und Vorträge in Sammelbänden wiederzuveröf295 Zu den Verhandlungen über die Konditionen der Veröffentlichung der französischen Ausgabe der Cellularpathologie siehe Paul Picard an Rudolf Virchow, 19.5.1859  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1671. 296 Rudolf Virchow, Vier Reden über Leben und Kranksein, Berlin 1862. Die Themen der Vorträge waren »Über die mechanische Auffassung des Lebens«, »Atome und Individuen«, »Das Leben des Blutes«, und »Das Fieber«. 297 Virchow an Goldstücker, 31.10.1862  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 298 Rudolf Virchow, Die krankhaften Geschwülste. Dreissig Vorlesungen gehalten während des Wintersemesters 1862–1863, Bd. 1–3, Berlin 1862–1867. 299 Ben-David, Scientific Productivity, S. 831.

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fentlichen, wie etwa die 1856 im Frankfurter Verlag Meidinger Sohn & Comp. erschienenen Gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medizin300. Goldstücker gegenüber hatte er zuvor angekündigt, dort, falls noch Platz sei, mit einem Artikel aus der Medicinischen Reform zu schließen, »obwohl das wieder einmal etwas unpolitisch ist. Indess haben sich die Leute bei mir etwas daran gewöhnt, dass ich von Zeit zu Zeit etwas Unerwartetes leiste, so dass ich hoffe, sie werden das auch ertragen. Deinetwegen möchte ich doch noch am Ende etwas bringen, das dir besser Eindruck macht, als die Mitte.«301 Möglicherweise schien ihm dies dann im Hinblick auf die laufenden Berufungsverhandlungen mit Berlin doch als zu riskant – am Ende erschien das zweibändige Werk jedenfalls ohne einen solchen politisch anstößigen Beitrag. Dies holte er erst in den 1879 in zwei Bänden bei August Hirschwald erschienenen Gesammelten Abhandlungen aus dem Gebiet der öffentlichen Medizin und der Seuchenlehre302 nach, die er mit dem Wiederabdruck einiger seiner kritischen Veröffentlichungen aus den Jahren 1848/49 eröffnete. In seinen späteren Jahren pflegte Virchow gelegentlich mit seinem einstigen jugendlichen Radikalismus zu kokettieren, womit er vermutlich auf Vorwürfe gegen seinen wachsenden politischen und wissenschaftlichen Konservativismus reagierte. Ein wichtiges Motiv für die Wiederveröffentlichung älterer Artikel in Sammelbänden war, dass Virchow es für erforderlich hielt, die Wissenschaft auf die Öffentlichkeit hin zu orientieren. 1898, am Ende seiner Laufbahn, urteilte er in einem Interview  : »Hätte Darwin nicht die Darwinisten gehabt, er würde nie so populär geworden sein. Unsere heutige Wissenschaft hat einen großen Fehler, dass sie viel zu viel untersucht und zu wenig Spektakel macht, eine eigentliche richtige Bewegung ist zur Stunde nicht zu konstatiren.«303 Zu Recht wurde Virchow als medizinischer »Propagandist« bezeichnet, der viel aus seiner politischen Arbeit für seine wissenschaftspublizistische Tätigkeit gelernt habe.304 So dienten etwa seine vielen Leitartikel, Rückblicke und wissenschaftshistorischen Ausführungen dem Zweck, seine eigenen Standpunkte immer wieder zu referieren. Wenn es allerdings um seine Kritiker ging, beurteilte er das Phänomen, wonach sich wissenschaftliche Positionen durch ständige Wiederholungen verfestigten, durchaus kritisch  : »Denn nicht bloß in der Politik frisst die Phrase sich ein und geht nachher unter den Leuten um, wie ein Gespenst  ; auch in der Medizin gibt es Redensarten genug, die ein solch’ gespenstisches Bürgerrecht gewonnen haben.«305

300 Rudolf Virchow, Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin, Frankfurt a. M. 1856. 301 Virchow an Goldstücker, 2.5.1856  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 302 Rudolf Virchow, Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, 2 Bde., Berlin 1879. 303 Zitiert nach Wilhelm Georg, Eine Unterredung mit Geheimrath Virchow, in  : Neueste Nachrichten (Braunschweig), Nr. 183 vom 7.8.1898. 304 Heischkel, Virchow als Publizist, S. 231 f. 305 Rudolf Virchow, Die Kritiker der Cellularpathologie, in  : VA 18 (1860), S. 1–14, hier  : S. 2.

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Allerdings genoss Virchow unter seinen Zeitgenossen mitunter selbst den zweifelhaften Ruf, sehr intensiv von der suggestiven Wirkung der Wiederholung Gebrauch zu machen und seine publizistische Machtposition einzusetzen, um seine Begriffe beziehungsweise seine wissenschaftlichen Anschauungen zu popularisieren. Der Chirurg Theodor Billroth bemerkte 1858, Virchow habe, obwohl er »doch gewiss mehr wie jeder Andere vom wissenschaftlichen Publikum auf Händen getragen wird, (…) eine peinliche Angst, vergessen und übersehen zu werden«306, und der Internist Carl Wunderlich hielt ihm die »bis zur Unsitte gesteigerte Gewohnheit« vor, »immer wieder die eigenen Worte zu wiederholen«307. Wilhelm Griesinger, ein Pionier der Neurologie und Psychiatrie in Deutschland, veröffentlichte 1858 anonym eine Satire auf Virchow, den er als Menander auftreten ließ. Zwei griechische Ärzte, Creon und Nikias, spotteten dort über die in der Cellularpathologie propagierte Umorientierung der Grundlagen der Medizin auf die Zelle und vor allem über Virchows Anstrengungen, sein Konzept zu popularisieren  : »Der grosse Menander hat wieder eine neue Zelle entdeckt. Ganz Athen läuft hin, sie zu sehen.« Zudem karikierte Griesinger in diesem fingierten Dialog die bemerkenswert häufigen Selbstzitate in Virchows Publikationen  : »Goldene Worte kann man nicht oft genug sagen. Er weiß recht gut, dass man ihn darum um so mehr bewundert. Auch lässt er sich nicht stören und hat sich im letzten Leitartikel auf 63 Seiten 102 mal selbstcitirt.«308 Damit neue wissenschaftliche Konzepte erfolgreich sind, müssen diese nicht nur unter Fachleuten durchgesetzt, sondern auch von wissenschaftlichen Laien akzeptiert werden, was wiederum auf die Fachwelt zurückwirkt. Dies galt nicht nur für das Konzept der »Zelle«, sondern vor allem auch für die Trichinen, für deren Erforschung und Popularisierung Virchow eine zentrale Rolle spielte. Es handelt sich dabei um sich im Muskelgewebe von Schweinen vermehrende Parasiten, die durch den Konsum von Schweinefleisch auf den Menschen übertragen werden und dort zu gefährlichen Erkrankungen führen können. Die Existenz der Trichinen musste der Öffentlichkeit, die zunächst an einen von Ärzten und der Presse erzeugten künstlichen »Trichinenschwindel« glaubte, gegen vielerlei Widerstände erst als allgemein akzeptierte wissenschaftliche »Wahrheit« vermittelt werden. Diesem Zweck diente ein 1861 von Virchow bei Georg Reimer veröffentlichtes Büchlein über Die Lehre von den Trichinen, mit Rücksicht auf die dadurch gebotenen Vorsichtsmaßregeln für Laien und Aerzte dargestellt, dem schon bald eine zweite Auflage folgte. Diese Publikation wandte sich, wie der Untertitel ausdrücklich hervorhob, gleichermaßen an Ärzte und Laien, um Vorsichtsmaßregeln gegen den Trichinenbefall zu verbreiten.309 Hier wurde zwar die Grenze zwischen spezialisiertem und nicht-spezi306 Theodor Billroth an Georg Meissner, 21.11.1858, Druck  : Brunn (Hg.), Jugendbriefe Theodor Billroths, S. 194. 307 Zit. nach Heischkel-Artelt, Deutsche medizinische Publizistik, S. 173. 308 Anonymus (= Wilhelm Griesinger), Medicinische Gespräche aus dem alten Hellas, in  : Archiv für physiologische Heilkunde, N. F. 2 (1858), S. 567–570, Zitate  : S. 567 u. 569. Vgl. auch Hirschfeld, Virchow, S. 110. 309 Rudolf Virchow, Die Lehre von den Trichinen, mit Rücksicht auf die dadurch gebotenen Vorsichtsmaßregeln für Laien und Aerzte dargestellt, Berlin 1863.

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alisiertem Publikum übersprungen, doch war diese Veröffentlichung ganz von der Haltung des wissenschaftlichen Experten geprägt, der sein gesichertes Wissen in vereinfachter Form an ein unwissendes Publikum weiterreicht. Im Folgenden geht es deshalb um den Beitrag Virchows zur Popularisierung von Naturwissenschaft durch populärwissenschaftliche Publizistik. Welche Rückschlüsse auf die Entwicklung des Verhältnisses von Wissenschaft und Öffentlichkeit lassen sich daraus ziehen  ? Populärwissenschaftliche Literatur

Virchow gehörte zu der Minderheit innerhalb des wissenschaftlichen Establishments, die sich an der Popularisierung naturwissenschaftlichen Wissens sowohl für andere Fachleute als auch für nicht-spezialisierte Laien beteiligte.310 Nicht von ungefähr datiert der Beginn seines populärwissenschaftlichen publizistischen Engagements auf den Anfang der 1860er Jahre  : Seit dieser Zeit war seine wissenschaftliche Autorität unangefochten. Zugleich verband sich sein Einsatz für die Wissenschaftspopularisierung mit der damals gerade erstarkenden liberalen Nationalbewegung, für die das Vertrauen in die liberalisierende Macht der Naturwissenschaft eine zentrale Rolle spielte. Seit Anfang dieses Jahrzehnts veröffentlichte Virchow regelmäßig populärwissenschaftliche Artikel in Berthold Auerbachs deutschem Volkskalender. Dazu gehörte etwa sein Beitrag »Wie der Mensch wächst«, der die Lebens- und Wachstumsvorgänge von Pflanzen, Menschen und Gesellschaften zueinander in Beziehung setzte.311 An selber Stelle folgten Artikel »Über Fleischessen und Fleischbrühe«312 und »Über Bekleidungsstoffe«313, worin Virchow die Prinzipien rationeller Ernährung erläuterte beziehungsweise die moderne, bürgerliche Kleidung als vernünftige Bekleidung in einen Gegensatz zur Funktion von Bekleidung zur Markierung einer ständischen Ordnung stellte. Aus der wissenschaftlichen Beobachtung der Natur sollten sich also die vernunftgemäßen Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung ableiten lassen, und diese entsprachen hier der bürgerlichen Gesellschaft. Mit diesen Publikationen befand sich Virchow in Gesellschaft prominenter liberaler und demokratischer Autoren wie Gottfried Keller, Adolph Menzel, Berthold Sigismund und Aaron Bernstein. Die Zusammenarbeit mit Auerbach, die auf eine bis in die 1840er 310 Vgl. dazu v. a. die grundlegende Studie von Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert  ; sowie Angela Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914), Stuttgart 1999  ; Goschler (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin. 311 Rudolf Virchow, Wie der Mensch wächst. Eine Erinnerung, in  : Berthold Auerbach’s deutscher Volkskalender auf das Jahr 1861, Leipzig 1860, S. 95–105. 312 Ders., Über Fleischessen und Fleischbrühe, in  : Berthold Auerbach’s deutscher Volkskalender auf das Jahr 1862, Leipzig 1861, S. 81–90. 313 Ders., Ueber Bekleidungsstoffe, in  : Berthold Auerbach’s deutscher Volks-Kalender auf das Jahr 1863, Leipzig 1862, S. 39–53.

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Jahre im Kreise der Familie Mayer entstandene Bekanntschaft zurückreichte, mündete schließlich 1871 nach der Reichsgründung in das  – allerdings nicht zustande gekommene – Projekt eines einheitlich an allen deutschen Schulen einzuführenden Schullesebuchs. »Dadurch«, so warb Auerbach bei Virchow, »soll der gesammten Nation derselbe Jugendeindruck gegeben werden, eine allverbreitete Einheit der Empfindung, womit auch gegeben wäre, daß man bei einer mündlichen oder schriftlichen Ansprache in jedem deutsch redenden Menschen bestimmte Voraussetzungen haben und einen sicheren Wiederklang erwarten kann«. Damit sollte dieses Schullesebuch die nach der Reichsgründung geschaffenen nationalen Institutionen und Symbole in wirkungsvoller Weise ergänzen. Virchow sollte die Auswahl der naturwissenschaftlichen Teile übernehmen, Friedrich von Holtzendorff das Rechts- und Staatsleben, Heinrich Kiepert die Geographie, Ernst Engel die Statistik, Johann Gustav Droysen oder Heinrich von Sybel die Geschichte und Auerbach selbst »die Poesie«314. Aufgrund seiner Prominenz wurde Virchow auch künftig immer wieder angefragt, sich an populärwissenschaftlichen Unternehmungen zu beteiligen. So bat ihn etwa Henri Dunant, der Gründer des späteren Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, 1868 darum, das Projekt einer Bibliothèque internationale universelle zu unterstützen. In dieser geplanten Buchreihe sollten, so Dunant, die wichtigsten Werke der zivilisierten Welt zum Nutzen des »wahren Fortschritts« veröffentlicht werden. Virchow sollte insbesondere geeignete Personen benennen, die die Auswahl der deutschen Literatur besorgen könnten.315 Für eine solche Position bot er sich auch deshalb an, weil er seit Mitte der sechziger Jahre zu einem Hauptorganisator populärwissenschaftlicher Vorträge und Publikationen wurde, die vor allem naturwissenschaftliche Bildung unter Handwerkern und Arbeitern verbreiten wollten. Dabei konnte er auf seine zahlreichen Kontakte zu anderen Naturwissenschaftlern zurückgreifen.316 Auf der Naturforscherversammlung in Hannover 1865, wo Virchow einen Vortrag zum Thema der nationalen Entwicklung und Bedeutung der Naturwissenschaften hielt, stellte er einen Antrag zur Abstimmung, der darauf zielte, »Formen zu finden, durch welche die Naturforscherversammlung in nähere Beziehung treten kann mit der Bevölkerung«317. Auf diesem Weg ging er selbst tatkräftig voran, denn im nächsten Jahr gründete Virchow 314 Berthold Auerbach an Virchow, 1.12.1871, Druck  : Briefe an Rudolf Virchow. Zum hundertsten Geburtstage. Für die Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin herausgegeben, Berlin 1921, S. 1 f. 315 Henri Dunant an Virchow, 12.1.1868  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 508. Die Reihe erschien ab 1870 in Paris unter dem Titel Bibliothèque internationale universelle. Collection des chefs d’oeuvres de l’esprit humain. 316 Siehe dazu etwa Emil du Bois-Reymond an Virchow, 7.1.1866, Druck  : Klaus Wenig, Rudolf Virchow und Emil du Bois-Reymond. Briefe 1864–1894, Marburg 1995, S. 76  ; Wilhelm Förster an Virchow, 14.12.1866  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 630, Bl. 1 f. 317 Rudolf Virchow, Über die nationale Entwickelung und Bedeutung der Naturwissenschaften. Rede gehalten in der zweiten allgemeinen Sitzung der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Hannover am 20. September 1865, Berlin 1865, S. 28.

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zusammen mit dem Juristen Friedrich von Holtzendorff die Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge. Nach dem Tod des Kompagnons übernahm der Historiker Wilhelm Wattenbach die Mitherausgeberschaft und richtete zugleich das Programm stärker historisch aus. Als 1897 dieser gleichfalls verstarb, führte Virchow die Geschäfte noch einige Jahre allein weiter. Das bis zur Einstellung der Reihe im Jahre 1901 auf über 700 Hefte angewachsene Programm umfasste Titel zum Thema Naturwissenschaften und Medizin, Geschichte und Kulturgeschichte, Recht, Literatur, Philosophie und vor allem in den ersten Jahren auch zu aktuellen sozialpolitischen Fragen, die aus liberaler Perspektive behandelt wurden. Unter den Autoren fanden sich zahlreiche herausragende Fachleute und anerkannte Wissenschaftler, worin sich das große Renommee der Herausgeber niederschlug. Damit hob sich diese Reihe von anderen populärwissenschaftlichen publizistischen Unternehmungen ab, die vor allem von solchen Autoren getragen wurden, die keine reguläre wissenschaftliche Karriere eingeschlagen hatten.318 Die ersten Jahrgänge erschienen in Berlin in der C.  G.  Lüderitz’schen Verlagsbuchhandlung. Als das Unternehmen 1873 zum Verlag von Carl Habel wechselte, sah der neue Vertrag vor, dass die Autoren bis zu einer Auflage von 4500 Exemplaren mit 50 Talern bezahlt würden, Doppelhefte mit dem doppelten Betrag. Jede folgende Auflage von 1000 Exemplaren sollte mit 20 Talern honoriert werden.319 1886 wurden diese Honorare gestaffelt und damit stärker vom tatsächlichen Verkaufserfolg abhängig.320 Schon bald nach dem Start besaß die Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge 1900 feste Abonnenten.321 Gleichwohl erwies sich diese Reihe als ein finanziell unsicheres Unternehmen. Auch der Verleger Carl Habel verlor schließlich das Zutrauen, weshalb zuletzt der J. J. Richter-Verlag in Hamburg das Projekt übernahm. Finanzielle Argumente des Verlags führten aber dazu, dass das Unternehmen nach 35 Jahren schließlich eingestellt wurde.322 Die Gründe für die nach der Reichsgründung allmählich nachlassende Popularität dieser Reihe, die sich in schwindenden Abonnentenzahlen ausdrückte, lagen dabei gleichermaßen in einem gewandelten thematischen Interesse des Publikums, in strukturellen Ver318 Vgl. dazu Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. 319 Bestimmungen betr. Beiträge der Mitarbeiter an der Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge vom 1.4.1873, gez. R. Virchow, Fr. v. Holtzendorff, C. Habel, StBB-PK, Slg. Darmstädter 3, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 235 f. 320 Für den Verkauf der ersten 2600 Exemplare wurden nunmehr 100 Mark bezahlt, für je 100 weitere verkaufte Exemplare 15 Mark mehr, so dass sich das Honorar aus der komplett verkauften Auflage von 4500 Exemplaren auf 150 Mark summierte, was der bisherigen Summe von 50 Talern entsprach. Jede folgende Auflage von 1000 Exemplaren sollte mit 60 Mark honoriert werden. Siehe Bestimmungen betr. Beiträge der Mitarbeiter an der Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge vom 1.7.1885, gez. R. Virchow, v. Fr. Holtzendorff, C. Habel, StBB-PK, Slg. Darmstädter 3, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 273 f. 321 Virchow an Goldstücker, 24.2.1867  : ABBAW, Nr. 2425. 322 Rudolf Virchow, Schlusswort zur Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, März 1901  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2736.

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änderungen des literarischen Marktes sowie auch in Schwierigkeiten des hier zugrunde gelegten Modells von Wissenschaftspopularisierung. Die Vorträge waren ursprünglich, wie Virchow erläuterte, darauf zugeschnitten, in Arbeiterbildungsvereinen »vorgelesen und gedeutet zu werden«. Dieses dem Modell der Exegese der Heiligen Schrift nachempfundene Muster, das dem Publikum eine weitgehend passive Rolle zuschrieb, wurde bald durch freie Vorträge und Diskussionen verdrängt.323 Das diffusionistische Konzept von Wissenschaftspopularisierung, wonach das Laienpublikum wissenschaftliche Wahrheiten aus den Händen von Experten empfangen solle,324 stieß so im Zuge der Trennung von Liberalismus und Arbeiterbewegung an eine Grenze. Aber auch die gebotenen Inhalte und deren Präsentation erschienen zunehmend als unattraktiv  : »Das Publikum verlangte andere Speise  ; ist es doch niemals möglich geworden, unsere Sammlung in die ReiseLektüre einzuführen, so sehr sie sich dazu eignete. Auch konnten wir den Weg der Illustration in einer so späten Stunde nicht mehr betreten.«325 Virchow selbst bediente dieses populäre Bedürfnis in den 1880er und 1890er Jahren etwa durch Berichte für Die Gartenlaube und Die Nation über seine Reisen mit Schliemann nach Troja und nach Ägypten,326 an denen solche Publikumszeitschriften eine unstillbare Nachfrage besaßen. Auf diese Weise versuchte Virchow zugleich die Akzeptanz der Öffentlichkeit für die Finanzierung wissenschaftlicher Auslandsexpeditionen zu steigern, woran er etwa im Rahmen seiner Tätigkeit als Kurator für die Alexander-von-Humboldt-Stiftung327 großen Anteil nahm. Wissenschaftspopularisierung mit publizistischen Mitteln diente Virchow somit dazu, einerseits positives Wissen über Natur und Gesellschaft zu verbreiten und andererseits die kulturellen und politischen Rahmenbedingungen für wissenschaftliche Forschung zu verbessern. Dazu gehörte auch, die öffentliche Akzeptanz für teure Forschungseinrichtungen und wissenschaftliche Experimente zu erhöhen, wobei Tierversuche ein besonders umstrittenes Thema bildeten. Wissenschaftspopularisierung unterstützte damit den Versuch, die Autorität moderner Naturwissenschaft in der Öffentlichkeit zu sichern, 323 Ebenda. Vgl. dazu auch Christiane Eisenberg, Arbeiter, Bürger und der »bürgerliche Verein« 1820–1870. Deutschland und England im Vergleich, in  : Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. III  : Verbürgerlichung, Recht und Politik, Göttingen 1995, S. 48–80, hier v. a. S. 71. 324 Siehe v. a. Richard Whitley, Knowledge Producers and Knowledge Acquirers. Popularisation as a Relation between Scientific Fields and Their Publics, in  : ders./Whitley (Hg.), Expository Science, S. 3–28. Grundlegende Einsichten in diesen Zusammenhang finden sich bereits bei Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. 325 Virchow, Schlusswort zur Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, März 1901  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2736. 326 Siehe etwa ders., In Nubien, in  : Die Nation, Nr.  45 vom 4.8.1888, S.  628 ff.; ders., Einige internationale Gedanken, in  : Die Nation, Nr.  51 vom 17.9.1892, S.  760 f.; ders., Erinnerungen an Schliemann, in  : Die Gartenlaube 39 (1891), S. 299–303. 327 Siehe dazu Klaus Wenig, Rudolf Virchow (1821–1902) und Emil du Bois-Reymond (1818–1896). Werdegang und Lebensstationen, in  : ders., Rudolf Virchow und Emil du Bois-Reymond. Briefe, S. 15–67, hier  : S. 55–62.

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wozu eine strenge Grenzziehung von Laien- und Expertenwissenschaft gehörte. Zugleich sollte sie aber auch Gemeinsamkeiten von Laien und Experten herstellen. Dieses Ziel verfolgte Virchow vor allem auf dem Wege der Popularisierung der sogenannten »naturwissenschaftlichen Methode«328, die ihm zufolge die Grundlage moderner naturwissenschaftlicher Arbeit überhaupt darstellte. So sprach er in seinem 1901 verfassten Schlusswort zur Einstellung der Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge den Wunsch aus, »dass die durch uns gepflegte Methode der selbständigen Beobachtung und Beurtheilung den kommenden Geschlechtern erhalten bleibe«329. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die Rolle Virchows bei der Verbreitung von Elementen wissenschaftlicher Praxis, um die es im folgenden Abschnitt geht. 3.1.5 Das Pathologische Institut als Schule des »Sehens«

Vor seiner Rückkehr von Würzburg nach Berlin veranstalteten Professoren und Studenten am 19. Juli 1856 ein Abschiedsfest für Virchow. In seiner Ansprache an die Anwesenden hob dieser einem Bericht Ernst Haeckels zufolge hervor, dass sein ganzes wissenschaftliches und menschliches Streben und Denken, Dichten und Trachten einzig allein der rücksichtslosen, unbedeckten Wahrheit, ihrer vorurteilsfreien Erkenntnis und unveränderten Verbreitung gelte  ; wie er in dem konsequenten Streben nach diesem einen Ziel seine einzige Befriedigung finde, (…) und wie er diesen Weg der rücksichtslosen, lautern Wahrheit stets verfolgen werde, auch in Zukunft, unbeirrt von allen Anfeindungen. Dann ermunterte er uns, immer in unserem Streben zu beharren, dass die studierende Jugend, und insbesondere die medicinische (…) das einzige kernhafte Element sei, aus dem sich immer wieder ein guter Stamm deutscher Männer voll Wahrheit und Kraft rekrutieren könne. Dazu ermahnte er uns, immer mehr alle Vorurteile abzulegen, mit denen wir leider von Kind auf an so vollgestopft werden, und die Dinge so einfach und natürlich anzusehen, wie sie sind.330

In seinen Abschiedsworten entfaltete Virchow somit ein Programm, das an die zentrale Rolle des Begriffs der »Wahrheit« im naturwissenschaftlichen Diskurs des 19. Jahrhun328 Zum Begriff der »naturwissenschaftlichen Methode« bei Virchow vgl. v. a. Wolfgang Jacob, Medizinische Anthropologie im 19. Jahrhundert. Mensch – Natur – Gesellschaft. Beitrag zu einer theoretischen Pathologie. Zur Geistesgeschichte der sozialen Medizin und allgemeinen Krankheitslehre Virchows, Stuttgart 1967, v. a. S. 202–207  ; Heinz Peter Schmiedebach, »Ist nicht diese ganze zersetzende Naturwissenschaft ein Irrweg  ?« Virchow und die Zellularpathologie, in  : Medizinhistorisches Journal 27 (1992), S. 26–42, hier v. a. S. 39 ff. – Zur Rolle des Diskurses über die »Methode« im 19. Jahrhundert vgl. Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt, S. 60–64. 329 Virchow, Schlusswort zur Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, März 1901  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2736. 330 Haeckel an seine Eltern, 21.7.1856, in  : ders., Entwicklungsgeschichte einer Jugend, S. 200 f.

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derts anschloss. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und später in den USA war »Wahrheit« seit etwa 1830 zum Kampfbegriff aufgestiegen, mit dem die empirisch orientierten Naturwissenschaften ihre Überlegenheit gegenüber rationalistischen und naturphilosophischen Systemen legitimierten. Die Forderung nach »Wahrheit« unterstützte dabei die Institutionalisierung und Professionalisierung der Naturwissenschaften beziehungsweise der Medizin.331 Die von Virchow auch in seinem berühmten Aufsatz über die Cellular-Pathologie erhobene Forderung nach der »Autorität der Tatsachen«, der »Berechtigung des Einzelnen« und der »Herrschaft des Gesetzes«332 lässt sich auch als ein politischer Machtanspruch des modernen, empirischen Naturwissenschaftlers lesen. Virchow steht somit für jenen Typus moderner naturwissenschaftlicher Autorität, der bis zur Mitte dieses Jahrhunderts eng mit den Idealen und Praktiken der »Wahrheit« verknüpft war. Letztere wurde jedoch unter dem Eindruck der immer schnelleren Ablösung wissenschaftlicher Lehrmeinungen mehr und mehr durch »Objektivität« und »größtmögliche Wahrscheinlichkeit« abgelöst.333 Derartige erkenntnistheoretische Zweifel und den damit verbundenen Relativismus ließ Virchow jedoch niemals gelten. Und so forderte er auf der Naturforscherversammlung 1877, dass im Rahmen des Schulunterrichts ausschließlich gesicherte Wahrheiten vermittelt werden sollten, um negative Rückwirkungen auf die Autorität der Naturwissenschaften durch die Erfahrung wechselnder wissenschaftlicher Wahrheiten zu vermeiden.334 Hier wird ein wichtiger Teil der herrschenden naturwissenschaftlichen Ideologie des 19.  Jahrhunderts greifbar, die sich zugleich in einer ›Kultur der Wahrheit‹ und in einem spezifischen Habitus niederschlug. Die Forschungs- und Unterrichtspraxis am Berliner Pathologischen Institut – von 1856 bis 1902 das Zentrum der pathologischen und anthropologischen Aktivitäten Virchows – liefert dabei ein hervorragendes Beispiel dafür, wie diese verschiedenen Aspekte miteinander im Konzept einer »Schule des Sehens« verknüpft waren. Innerhalb der Gruppe der vor der »institutionellen Revolution« (David Cahan) der 1870er Jahre eingerichteten Institute existierten verschiedene Muster der medizinischen Ausbildung  : Die nach 1820 gegründeten Institute hatten sich zunächst auf die forschungsorientierte Zusammenarbeit einer kleinen Gruppe von Studenten mit einem bedeutenden Wissenschaftler konzentriert. Demgegenüber vermittelten spätere 331 Warner, Against the Spirit of the System. 332 Virchow, Cellular-Pathologie, S. 4. 333 Lorraine Daston, Objectivity versus Truth, in  : Hans Erich Bödeker/Peter Hanns Reill/Jürgen Schlumbohm (Hg.), Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750–1900, Göttingen 1999, S. 17–32  ; vgl. auch dies., Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, S.  31  ; dies., Wunder, Beweise, Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt  a.  M. 2001  ; sowie Steven Shapin, A  Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago u. London 1994  ; Schwarz, Schlüssel zur modernen Welt, S. 60 f. 334 Rudolf Virchow, Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staatsleben, in  : Amtlicher Bericht über die 50. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte, München 1877, S. 65–77, hier  : S. 69.

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Institutsgründungen auch Durchschnittsstudenten praktische Laborerfahrung, die als Grundlage für gewöhnliche medizinische Karrieren diente. Die Verallgemeinerung naturwissenschaftlicher Methoden in der medizinischen Ausbildung wurde besonders an der Universität Heidelberg vorangetrieben, wo Jacob Henle Mitte der vierziger Jahre mikroskopische Übungen als ein wichtiges didaktisches Hilfsmittel einführte.335 Diese Neuerungen setzten sich im deutschen Universitätssystem bis zu den fünfziger Jahren allgemein durch. In Berlin war der Wendepunkt in der Einbeziehung praktischer Kurse in die medizinische Ausbildung, die den Gebrauch des Mikroskops und anderer naturwissenschaftlicher Techniken lehrten, um 1845 erreicht.336 Noch 1834 hatte die Berliner Universität nur ein einziges Mikroskop besessen, und in seiner Studienzeit hatte Virchow ein einziges dieser Geräte in Müllers Labor mit seinen Mitstudenten geteilt.337 Im Gegensatz dazu besaß sein Berliner Pathologisches Institut von Anfang an mehr als 14 Mikroskope.338 Während so Virchows eigene medizinische Ausbildung noch dem älteren elitären Modell entsprochen hatte, wurden später in seinem Institut experimentelle Praktiken für alle Studenten üblich. »Wir sollten nie vergessen, dass es unsere Aufgabe ist, nicht Mikroskopiker, sondern Ärzte zu erziehen, die dem täglichen Bedürfnisse zu genügen wissen«339, schrieb er 1890. Im Mittelpunkt der medizinischen Ausbildung am Berliner Pathologischen Institut stand die Erziehung zum »naturwissenschaftlichen Denken«, wozu vor allem das »Sehen Lernen« beziehungsweise »Mikroskopisch sehen lernen«340 gehörte. Dies bildete Virchow zufolge die Grundlage zur Produktion unvoreingenommener, ›objektiver‹ Fakten, die dann zu induktiven Schlüssen benutzt werden konnten. So war »Wahrheit« für Virchow »nur Das zu nennen, was die fünf Sinne des Menschen, unter Einhaltung der von den exakten Wissenschaften vorgeschriebenen Beobachtungs- und Folgerungs-Methoden uns als wirklich seiend (existirend) erkennen lassen«341. Schon während der Revolution 1848 hatte er als Kernpunkt einer zukünftigen fundamentalen Reform der medizinischen Universitätsausbildung gefordert, dass diese in Zukunft auf dem Konzept der »Anschauung« basieren sollte  : »Jedermann muß die Thatsachen und die Erscheinungen in möglichst größtem Umfange durch eigene Beobachtung kennen gelernt haben und

335 Arleen Tuchman, From the Lecture to the Laboratory  : The Institutionalization of Scientific Medicine at the University of Heidelberg, in  : Coleman/Holmes (Hg.), Investigative Enterprise, S. 75–91. 336 Lenoir, Science for the Clinic, S. 150 f. 337 Ebenda, S. 146 f.; Tuchman, From the Lecture to the Laboratory, S. 74 f. 338 Virchow an Raumer, 3.2.1857  : AHUB, Charité-Direktion, Nr. 740, Bl. 131–135. 339 Rudolf Virchow, Über den Unterricht in der pathologischen Anatomie, in  : Klinisches Jahrbuch 2 (1890), S. 75–100, hier  : S. 97. 340 E. Klebs, Rudolf Virchow. Gedenkblätter zu seinem 70sten Geburtstage, gewidmet von einem alten Schüler, in  : Deutsche Medicinische Wochenschrift, Nr. 42 vom 13.10.1991, S. 1165–1168, hier  : S. 1166. 341 Virchow, Glaubensbekenntnisse, S. 8.

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sich gewissermaßen die Gesetze selbst construiren.«342 Dies bezog sich direkt auf die sensualistische Erkenntnistheorie John Lockes, wonach nichts im Verstand sei, was nicht vorher in der Sinneswahrnehmung existiert habe.343 Diese Herangehensweise stand erstens im Kontext der alten Kontroverse zwischen »Sehen« und »Schauen«  : Während die Auffassung, die sich mit dem Begriff des »Schauens« verband, darauf insistierte, dass die Essenz der Realität unsichtbar sei, gehörte zum »Sehen« das feste Vertrauen in den Gesichtssinn und seine Fähigkeit, Realität zugänglich zu machen. Mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaft im 17.  Jahrhundert hatte eine Rehabilitierung des optischen Sinns stattgefunden, wobei die Priorität des Gesichtssinns und die humanistische Auffassung von zur Aufklärung durch Vernunft fähigen Subjekten eng verbunden waren.344 Einen zweiten Zusammenhang bildet der Umbruch der Auffassungen der Wahrnehmung und des Beobachters, der sich unter dem Einfluss der Physiologie seit den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts angebahnt hatte. Seither setzte sich mehr und mehr die Auffassung durch, wonach das Sehen erlernt werden müsse. Eine wesentliche Rolle für diesen Wandel spielten in Deutschland die Arbeiten von Virchows Lehrer Johannes Müller zur Physiologie der Sinnesorgane. Müller beschrieb »eine zutiefst arbiträre Beziehung zwischen Reiz und Empfindung  : einen Körper, der mit der Fähigkeit ausgestattet ist (…), falsch wahrzunehmen, und ein Auge, das Verschiedenes gleich aussehen lässt«345. Seine Schüler zogen daraus die Konsequenz  : »Dass Sehen gelernt werden muss, lehrt auch die Physiologie.«346 Allerdings konnte dies Verschiedenes bedeuten  : Während sich etwa Hermann Helmholtz von den Prämissen seines Lehrers weit entfernte und die Auffassung entwickelte, dass »die visuelle räumliche Wahrnehmung vollständig erlernt sei«347, blieb Virchow stärker dem Nativismus Müllers 342 Ders., Der medicinische Universitäts-Unterricht, in  : MR, Nr. 13 vom 29.9.1848, S. 85–87, hier  : S. 86. 343 Siehe dazu Rudolf Virchow, Die naturwissenschaftliche Methode und die Standpunkte in der Therapie, (gelesen bei der Jahressitzung der Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin zu Berlin am 20. Decbr. 1847), in  : VA 2 (1849), S. 3–37, hier  : S. 8 f. 344 Ralf Konersmann, Die Augen des Philosophen. Zur historischen Semantik und Kritik des Sehens, in  : ders. (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1977, S. 9–47, hier v. a. S. 33 f. Vgl. dazu auch Martin Jay, Im Reich des Blicks  : Foucault und die Diffamierung des Sehens im französischen Denken des zwanzigsten Jahrhunderts, in  : Leviathan 19 (1991), S. 131–156, hier  : S. 134–141  ; ders., Was steckt hinter dem Spiegel  ? Ideologie und die Herrschaft des Auges, in  : Leviathan 23 (1995), S. 41–55. 345 Jonathan Crary, Techniken des Betrachters  : Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden u. Basel 1996, S. 96. Vgl. dazu auch Konersmann, Die Augen des Philosophen  ; Jay, Was steckt hinter dem Spiegel  ? 346 Du Bois-Reymond, Culturgeschichte und Naturwissenschaft, S. 249. 347 Timothy Lenoir, Das Auge des Physiologen. Zur Entstehungsgeschichte von Helmholtz’ Theorie des Sehens, in  : Philipp Sarasin/Jacob Tanner (Hg.)  : Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 99–128, hier  : S. 100. Vgl. auch die ausführliche englische Fassung dieses Beitrags  : ders., The Eye as Mathematician. Clinical Practice, Instrumentation, and Helmholtz’s Construction of an Empiricist Theory of Vision, in  : David Cahan (Hg.),

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verhaftet  : Er betonte die natürliche, angeborene Fähigkeit zum Sehen, die nur durch die Zivilisation behindert sei und deshalb durch strenges Training wiedergewonnen werden müsse. »Sehen Lernen« hieß also für Virchow – anders als für Helmholtz, der die bedeutendste Theorie der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert entwickelte – in erster Linie, eine angeborene Fähigkeit zurückzugewinnen. Darauf basierten auch seine Grundsätze des pathologischen Unterrichts, die er 1890 zusammenfasste  : Die Grundlage alles pathologisch-anatomischen Wissens bildet die Anschauung (…) Daraus ergiebt sich die Forderung, dass dem Lernenden in möglichst größter Ausdehnung die Gelegenheit zum Sehen und auch die Anleitung zum Sehen gewährt werden muss. Diese letztere Anleitung ist um so notwendiger, als erfahrungsgemäss die Jugend unserer gelehrten Schulen das wahre Sehen nicht nur nicht lernt, sondern auch zum nicht geringen Teil verlernt. Man darf diesen Satz sogar noch erweitern, denn er gilt nicht bloß vom Sehen, sondern auch vom Fühlen, Riechen u. s. w. Statt ›Sehen‹ kann geradezu ›sinnliche Wahrnehmung‹ gesetzt werden.348

Wie sah nun die didaktische Praxis am Berliner Pathologischen Institut aus  ? Im Mittelpunkt stand der Grundsatz, die »dogmatische« durch die »demonstrative« Methode zu ersetzen. Deshalb basierte der Unterricht vor allem auf der Beschreibung und Erklärung pathologischer Präparate. Zu diesem Zweck forderte Virchow auch die ständige Verbindung der Wissenschaft mit wirklichen Gegenständen, wozu Museen, Sammlungen, Laboratorien und Institute benötigt würden.349 Das 1899 eröffnete Pathologische Museum in Berlin, dessen Kern eine umfangreiche Sammlung pathologischer Präparate zu Lehrzwecken bildete, war somit gewissermaßen der institutionelle Schlussstein dieser Konzeption.350 Ein Zeitungsbericht schilderte die Ausbildung am Berliner Pathologischen Institut folgendermaßen  : »Mit den Worten  : ›Beschreiben Sie nur, was Sie sehen‹, wird dem ›jugendlichen Schwärmer‹, ein Lieblingswort Virchows, jegliche Aussicht auf philosophische Spekulationen, die in den Räumen des Instituts verpönt sind, abgeschnitten.«351 Ein ehemaliger Schüler betonte gleichfalls den Gegensatz zu der »ältere(n), dogmatische(n) Medicin«, welche ihre Unkenntnis »mit dem Mangel der Autorität oder der naturphilosophischen Speculationen zu verdecken« getrachtet habe  : »Hier dagegen war alles Wahrheit, erweitert und geläutert durch scharfsinnigste Beobachtung.«352 Dabei handelte es sich auch um einen Widerhall der verbreiteten Rhetorik der naturwissenschaftlichen Hermann von Helmholtz and the Foundation of Nineteenth-Century Science, Berkeley u. a. 1993, S. 109– 153  ; sowie ders., The Politics of Vision  : Optics, Painting, and Ideology in Germany, 1845–95, in  : ders., Instituting Science, S. 131–178, hier  : S. 145 f.; Crary, Techniken des Betrachters, S. 94–99. 348 Virchow, Über den Unterricht in der pathologischen Anatomie, S. 79 f. 349 Ders., Gründung der Berliner Universität, S. 26. 350 Vgl. auch Matyssek, Das Pathologische Museum, S. 27–29  ; dies., Wissenschaft als Religion. 351 Bock, Virchow in seinem Institut. 352 Klebs, Rudolf Virchow, S. 1167.

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Wissenschaft und Politik zwischen »Beruf« und »Pflicht«

Medizin des 19. Jahrhunderts, die sich durch scharfe Abgrenzung von ihren naturphilosophischen Vorläufern legitimierte und dabei die tatsächlich vorhandenen Kontinuitäten bewusst ausblendete. Die am Berliner Pathologischen Institut gepflegte ›Kultur der Wahrheit‹, die ein wichtiges Element des Selbstverständnisses von Naturwissenschaftlern und Ärzten bildete, basierte auf einem Ensemble von Praktiken, die ihrerseits eng mit materialen Ressourcen verbunden waren. Beim Bau dieses Instituts waren zahlreiche Einrichtungen des Würzburger Pathologischen Instituts, wo Virchow von 1853 bis 1856 als Direktor amtiert hatte, kopiert worden. Um die Vorbereitung des neuen Berliner Instituts besser planen zu können, hatte man sogar den Verwaltungsdirektor der Charité, Carl Heinrich Esse, eigens nach Bayern gesandt.353 Zu den Adaptionen gehörte vor allem die »mikroskopische Eisenbahn«354, die zwei zentrale Symbole des Fortschritts vereinigte  : das Labor und die Eisenbahn355. Damit hatte Virchow eine 1846 von Franz von Rinecker in seinem mikroskopisch-physiologischen Institut eingeführte und im Jahr darauf von Albert Kölliker übernommene Innovation zunächst in Würzburg aufgegriffen und dann nach Berlin mitgebracht.356 Derartige Elemente wissenschaftlichen Arbeitens, die von einem Ort an einen anderen transferiert werden können, bilden zugleich ein wichtiges Element der Gemeinsamkeit disziplinärer Formen an verschiedenen Orten.357 Zusammen mit den räumlichen und technischen Einrichtungen wurde so auch ein bestimmter Arbeitsstil und damit ein wichtiges Element der professionellen Kultur von Würzburg nach Berlin übertragen. Die »mikroskopische Eisenbahn« bildete ein zentrales didaktisches Hilfsmittel in Virchows demonstrativem Kurs über pathologische Anatomie und Pathologie.358 Die Studenten saßen an zwei langen Tischen, in deren Mitte in einer Rinne Schienen verlegt waren, auf denen Mikroskope auf Rädern liefen und von einem Studenten zum nächsten geschoben wurden. Auf diese Weise konnten in einer Sitzung 140 Studenten die Objekte betrachten.359 Demgegenüber arbeitete in den praktischen Kursen jeder Teilnehmer an

353 Siehe dazu die Unterlagen in GStA-PK, I. HA Rep. 76 V a Kultusministerium, Sekt. 2 Tit. IV No. 40 Bd. 1 (M)  ; sowie AHUB, Akten der Charité, Nr. 1346. 354 Virchow an Esse, 30.9.1856  : AHUB, Akten der Charité, Nr. 1346, Bl. 25. 355 Vgl. dazu David Blackbourn, Fontana History of Germany 1780–1918. The Long Nineteenth Century, London 1997, S. 394. 356 Christian Andree, Einleitung, in  : RVSW, Bd. 21, Abt. I  : Medizin. Vorlesungs- und Kursnachschriften aus Würzburg. Wintersemester 1852/53 bis Sommersemester 1854, bearb. von dems., Berlin u. a. 2000, S. 7–14, hier  : S. 11. 357 Golinski, Making Natural Knowledge, S. 77. 358 Virchow, Über den Unterricht in der pathologischen Anatomie, S. 88 u. 95. 359 Ernst Haeckel an seine Eltern, 25.3.1854, in  : ders., Entwicklungsgeschichte einer Jugend, S. 136  ; William Osler, Berlin Correspondence, 25.11.1873, in  : Canada Medical and Surgical Journal 2 (1874), S. 308–315, hier  : S. 314 f.

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Wissenschaftliche Karriere und disziplinäre Identitäten

einem eigenen Mikroskop, um damit den Umgang mit diesem Instrument zu erlernen.360 Hier wurde die für die selbständige Arbeit mit dem Mikroskop erforderliche Disziplinierung der Handhabung und Wahrnehmung betrieben. So kontrollierte Virchow anhand von Zeichnungen, die seine Studenten vor dem Mikroskop anfertigen mussten, deren Fähigkeit, ein mikroskopisches ›Bild‹ richtig lesen zu können.361 Begleitet wurde dies in seinen Vorlesungen und Übungen durch ausführliche Erklärungen von Techniken des Beobachtens. Virchows didaktische Praxis basierte vor allem auf der Beschreibung und Erklärung anatomischer Präparate, die er für gewöhnlich aus seiner umfangreichen pathologischen Sammlung mitbrachte. Auf diese Weise wollte er die sogenannte »exakte Methode« vermitteln. Berichte seiner Studenten verweisen allerdings oftmals auf eine Diskrepanz zwischen der bewunderten Exaktheit seiner Methode und seiner gewundenen Sprechweise, die mit philosophischen Exkursen und gelehrten Anspielungen gespickt war und es manchmal schwierig machte, seinen Argumentationen zu folgen.362 Gleichwohl war Virchow für seine Fähigkeit der exakten Beschreibung berühmt.363 Seine Genauigkeit während der Vorlesungen war sprichwörtlich  : Die Beschreibung einer Schädeldecke konnte eine halbe Stunde in Anspruch nehmen.364 Die von Studenten unter seiner Aufsicht durchgeführten Sektionen dauerten gewöhnlich drei oder vier Stunden und wurden als eine Art moralischer Spießrutenlauf charakterisiert, bei dem es ihm niemand recht machen konnte.365 Virchow war davon überzeugt, dass Medizinstudenten die Fähigkeit verloren hätten, ihre Sinne zu gebrauchen und beispielsweise exakte Farbbestimmungen und Größenschätzungen vorzunehmen. Deshalb gebrauchte er verschiedene didaktische Hilfsmittel, um ihnen die ihm vorschwebende exakte Beschreibung beizubringen. So füllte er Gläser mit verschiedenfarbigen Bohnen und anderen Gegenständen und ließ die Studenten die Farben bestimmen.366 Zudem hatte er im Pathologischen Institut Glasschränke an360 Rudolf Virchow, Das pathologische Institut, in  : Die naturwissenschaftlichen und medicinischen Staatsanstalten Berlins. Festschrift für die 59. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte, bearb. v. A. Guttstadt, Berlin 1886, S. 288–300, hier  : S. 295 f. 361 Virchow, Über den Unterricht in der pathologischen Anatomie, S. 92. Vgl. dazu auch W. F. Bynum, Science and the Practice of Medicine in the Nineteenth Century, Cambridge u. New York 1994, S. 101  ; Ian Hacking, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996  ; Helmut Kettenmann/Jörg Zaun/ Stefanie Korthals (Hg.), Unsichtbar – Sichtbar – Durchschaut. Das Mikroskop als Werkzeug des Lebenswissenschaftlers, Berlin 2001. 362 Ernst Haeckel an seinen Vater, 16.11.1853, in  : ders., Entwicklungsgeschichte einer Jugend, S. 79–82. Siehe auch z. B. Carl Gegenbaur, Erlebtes und Erstrebtes, Leipzig 1901, S. 48  ; Schleich, Besonnte Vergangenheit, v. a. S. 182–187  ; Isidor Kastan, Berlin wie es war, Berlin 1919, S. 156–158. 363 Vgl. z. B. Waldeyer-Hartz, Lebenserinnerungen, S. 152 f. 364 Osler, Berliner Briefe, S. 314. 365 Kastan, Berlin wie es war, S. 156. 366 Julius Pagel, Rudolf Virchow, Leipzig 1906, S. 45.

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bringen lassen, in denen Vergleichsgegenstände ausgestellt waren, um das Abschätzen von Maßverhältnissen zu üben.367 Auf diese Weise sollten die Studenten ihre natürliche Beobachtungsfähigkeit wiedergewinnen. Während Virchow so den Gebrauch des Mikroskops in der Ausbildung an seinem Institut stark förderte, legte er zugleich großes Gewicht auf die Schulung der Fähigkeit, mit dem bloßen Auge zu sehen. Einer seiner Studenten berichtete, wie er von Virchow lächerlich gemacht wurde, weil er verneint hatte, dass es möglich sein würde, Trichinen mit dem bloßen Auge zu beobachten – sein Lehrer demonstrierte ihm das Gegenteil.368 Indem Virchow die Bedeutung des Sehens mit »nacktem Auge« hervorhob, zeigte er sich empfänglich für die verbreiteten Bedenken, wonach die natürliche Fähigkeit des Auges als Folge der Verbesserung optischer Instrumente geschwächt würde.369 So lehnte er es auch ab, bei seiner eigenen Präpariertätigkeit von technischen Innovationen wie leistungsfähigeren Mikroskopen, Doppelmessern und Färbemitteln zu profitieren. Vielmehr blieb er bei seinem Arbeitsstil, den er sich in seinen frühen Jahren angewöhnt hatte  : Er arbeitete in erster Linie mit einem einfachen Rasiermesser und genoss seine Geschicklichkeit, damit präzise mikroskopische Schnitte anzufertigen. Der damit verbundene Stolz auf seine handwerkliche Fertigkeit und seinen ›scharfen Blick‹ gehörte auch zu seiner Selbstdarstellung,370 wie er weniger erfahrene Schüler oft in demütigender Weise spüren ließ. In seinem 1876 veröffentlichten Werk über Die Sections-Technik im Leichenhause des Charité-Krankenhauses beschrieb Virchow das genaue Vorgehen bei einer gerichtsmedizinischen Leichenöffnung, wie es auch an seinem Pathologischen Institut gelehrt wurde,371 und förderte damit zugleich die weite Verbreitung der von ihm entwickelten Prozedur. Diese bildete auch die Grundlage des 1875 erlassenen preußischen »Regulativs für das Verfahren der Gerichtsärzte bei den gerichtlichen Untersuchungen menschlicher Leichen«, dem die Verordnungen der anderen deutschen Bundesstaaten nachgebildet wurden. Auch international besaß Virchow für lange Zeit großen Einfluss auf die Normierung von Standards bei wissenschaftlichen Sektionen, wozu 1876 beziehungsweise 1877 Übersetzungen der Sections-Technik für den englischen und amerikanischen Markt beitrugen.372 Virchow erläuterte in diesem Werk die genaue Abfolge einer Obduktion, deren Ideal darin bestand, durch große Schnitte die zu untersuchenden Organe so aufzuschneiden, dass man in ihnen wie in einem Buch die Seiten umblättern und lesen könne. 367 Virchow, Über den Unterricht in der pathologischen Anatomie, S. 81. 368 Schleich, Besonnte Vergangenheit, S. 37. 369 Vgl. Konersmann, Augen der Philosophen, S. 33–35. 370 Bock, Virchow in seinem Institut. 371 Rudolf Virchow, Die Sections-Technik im Leichenhause des Charité-Krankenhauses mit besonderer Rücksicht auf gerichtsärztliche Praxis, Berlin 1876  ; (engl.: A Description and Explanation of the Method of Performing Post-mortem Examinations in the Dead-house of the Berlin Charite Hospital, with Especial Reference to Medico-legal Practice. London 1876 sowie Philadelphia 1877). 372 Oscar Israel, Rudolf Virchow. 1821–1902, in  : Deutsche Rundschau 29 (1902), H. 3, S. 361–379, hier  : S. 366.

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Wissenschaftliche Karriere und disziplinäre Identitäten

Dazu gehörten detaillierte Anweisungen zur Technik des pathologischen Schneidens sowie zur Haltung des Körpers und der Hand bei dieser Prozedur, aber auch zu den von ihm selbst aufgrund eigener Erfahrung wie der Beobachtung der Arbeit von Fleischern entwickelten Schneideinstrumenten und ihrer korrekten Handhabung. Ebenso gab Virchow Anweisungen, wie die von ihm eingeführten Sektionsprotokolle, die den genauen Ablauf der Untersuchung Schritt für Schritt dokumentieren sollten, anzufertigen waren. Damit formulierte Virchow ein Modell der Fallstudie und normierte dabei eine induktive Herangehensweise bei der Suche nach der Todesursache. Dies unterstützte er durch angefügte Beispiele von Sektionsprotokollen, die mehrfach zeigten, dass die untersuchte Leiche nicht an der offensichtlichen Wunde, sondern an zunächst verborgenen Organschädigungen verstorben war. Schritt für Schritt beziehungsweise Schnitt für Schnitt tastete sich der Pathologe von außen nach innen an eine zunächst verborgene Erkenntnis heran, wobei der genaue Ablauf durch das Protokoll festgehalten wurde. Das Resultat sollte nicht durch vorangehende Hypothesen und Indizien gesteuert sein, sondern erst am Ende als Resultat einer vollständigen Untersuchung festgestellt werden, wenn alle Beweise vor dem kritischen Auge des Pathologen auf dem Tisch lagen. Die »objektive Erkenntnis« unterschied sich somit für Virchow gerade darin von der »subjektiven«, d. h. der doktrinären und deduktiven Erkenntnis, dass nicht von vornherein bestimmte Elemente als wesentlich oder unwesentlich für eine Erklärung der Ursachen privilegiert wurden.373 Die Sections-Technik legte somit ein Leitbild disziplinierter Wahrnehmung und Erkenntnis fest, das Virchows epistemologisches Modell in einzuübende und zu verinnerlichende Praktiken zu überführen suchte. So stellt sich die Frage, inwieweit die Ausbildungspraktiken am Würzburger beziehungsweise Berliner Pathologischen Institut dazu beitrugen, einen spezifischen naturwissenschaftlich-exakten Habitus374 zu formen, für den Virchow selbst, den sein Schüler Carl Schleich als »Heros des Beobachtens und Registrierens«375 bezeichnete, ein Vorbild abgab. Schilderungen seiner Schüler heben immer wieder darauf ab, dass hierzu auch ein Moment der Arroganz und des Zynismus trat, oder, wie es Haeckel nannte  : 373 Virchow, Über den Unterricht in der pathologischen Anatomie, S. 84. Als »objektive Methode« erschien ihm so allein das induktive Vorgehen bei einer Obduktion. Siehe ebenda, S. 83. 374 Pierre Bourdieu definiert »Habitus« als dauerhaftes und übertragbares System internalisierter Muster, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer gegebenen Kultur zu erzeugen. (Bourdieu, Strukturen, Habitusformen, Praktiken, in  : ders., Sozialer Sinn, Frankfurt a. M. 1987, S. 97–121, hier v. a. S. 98 f.; sowie ders., Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt 1976, S. 139–202.) Bei Norbert Elias basiert der Begriff des »Habitus« dagegen auf seiner Geschichte des »Zivilisationsprozesses«, wo er diesen als Resultat der Selbstkontrolle von Affekten beschreibt. Dabei konzentriert er sich auf die Entstehung eines »nationalen Habitus«, der sich am besten als eine Art Persönlichkeitsstruktur beschreiben ließe, der allen Mitgliedern einer Nation gemeinsam sei. (Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Michael Schröter, Frankfurt a. M. 1989). 375 Schleich, Besonnte Vergangenheit, S. 181.

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sein »kalter Verstand«376. Seine Assistenten kopierten ihn bewusst oder unbewusst bis in seinen Redegestus hinein, und auch seine Frau soll nach vielen Ehejahren schließlich seinen körperlichen und sprachlichen Gestus gänzlich übernommen haben.377 Christopher Lawrence verweist auf die Bedeutung körperlicher Selbstpräsentationen im Gefolge der Professionalisierung von Ärzten. Er zeigt, wie die Chirurgen im Großbritannien des 19.  Jahrhunderts »Naturwissenschaft dazu benutzten, um sich selbst in Gentlemen zu verwandeln« und sich auf diese Weise von ihrem älteren Image als Fleischer zu befreien.378 Im Anschluss daran lässt sich vermuten, dass auch in Deutschland Elemente eines ›naturwissenschaftlichen Habitus‹ dazu beitrugen, wissenschaftliche Autorität in der Öffentlichkeit zu demonstrieren und damit auch eine wichtige Rolle bei dem bemerkenswerten Aufstieg der deutschen medizinischen Profession in den späteren Jahrzehnten des 19.  Jahrhunderts spielten.379 Dabei bliebe allerdings zu berücksichtigen, dass sich im Falle der deutschen Ärzte ein solcher naturwissenschaftlicher Habitus stärker in einem Spannungsverhältnis zum neuhumanistischen Ideal der »Bildung« befand.380 Für Virchow (unter dessen Vorfahren Fleischer übrigens eine wichtige Rolle gespielt hatten) lässt sich jedenfalls davon sprechen, dass sich das Ideal der »Wahrheit« in einem solchen Habitus niederschlug und gleichermaßen zum Kern seines Selbstverständnisses, seiner öffentlichen Selbstdarstellung und auch seiner Außenwahrnehmung gehörte. Dies galt auch und gerade, als sich im Kreis von Naturwissenschaftlern seit Mitte des 19.  Jahrhunderts das in mancherlei Hinsicht bescheidenere Modell der »Objektivität« verbreitete, das in stärkerem Maße der Vergänglichkeit wissenschaftlicher Positionen Rechnung trug.381 Die Autorität der Naturwissenschaften, wie sie in Praktiken des exakten Wissenschaftlers verkörpert waren, konnte auf diese Weise aber auch im politischen Feld eingesetzt werden. Als Virchow 1891 anlässlich seines 70. Geburtstags durch den fortschrittsliberalen Verein »Waldeck« mit einer Festveranstaltung in der Berliner Tonhalle geehrt wurde, 376 Ernst Haeckel an seine Eltern, 21.7.1856, in  : ders., Entwicklungsgeschichte einer Jugend, S. 200. 377 Schleich, Besonnte Vergangenheit, S. 181 u. 203. 378 Christopher Lawrence, Medical Minds, Surgical Bodies  : Corporeality and the Doctors, in  : ders./Steven Shapin (Hg.), Science Incarnate. Historical Embodiments of Natural Knowledge, Chicago 1998, S. 156–201, hier  : S. 193. 379 Vgl. Huerkamp, Aufstieg der Ärzte  ; Paul J. Weindling, Bourgeois Values, Doctors, and the State  : The Professionalisation of Medicine in Germany 1848–1933, in  : David Blackbourn/Richard  J. Evans (Hg.), The German Bourgeoisie. Essays on the Social History of the German Middle Class from the Late Eighteenth to the Early Twentieth Century, London 1991, S. 198–223. 380 Vgl. dazu Constantin Goschler, Wissenschaftliche »Vereinsmenschen«  : Wissenschaftliche Vereine in Berlin im Spannungsfeld von Wissenschaft und Öffentlichkeit, 1870–1900, in  : ders. (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, S. 31–63, hier  : S. 60 f.; Thomas Broman, Bildung und praktische Erfahrung  : Konkurrierende Darstellungen des medizinischen Berufes und der Ausbildung an der frühen Berliner Universität, in  : Jahrbuch für Universitätsgeschichte 3 (2000), S. 19–35. 381 Vgl. dazu Daston, Objectivity versus Truth.

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Naturwissenschaftliche Gelehrtenpolitik

versicherte er, »dass, wenn er selbst etwas dazu beitrage die materielle Wahrheit zu erforschen, dies das Beste sei, was er habe tun können«382. Auch Virchows Selbstverständnis als Politiker war somit eng an sein Selbstverständnis als der »Wahrheit« verpflichteter Naturwissenschaftler gebunden. Damit stellt sich die Frage nach einer spezifisch naturwissenschaftlichen »Gelehrtenpolitik«, die im folgenden Teil untersucht wird.

3.2 Naturwissenschaftliche Gelehrtenpolitik

Der Politiker Virchow wurde meist daraufhin untersucht, welche politischen Positionen er zu welchem Zeitpunkt vertrat und welche Erfolge und Misserfolge er damit erzielte.383 Weitgehend unbeachtet blieben dagegen bislang andere Fragen  : Welche Rollen nahm Virchow ein, wenn er als Wissenschaftler auf dem von ganz anderen Spielregeln strukturierten Machtfeld der Politik agierte  ?384 In welcher Weise intervenierte er also in gesellschaftliche und politische Konflikte und in welchem Verhältnis stand dies zu seiner Rolle als Wissenschaftler  ? Und wie korrespondierten die damit verbundenen Veränderungen mit der Entwicklung des Liberalismus  ? An Virchow lässt sich somit die Bedeutung von Naturwissenschaftlern für die bildungsbürgerliche Gelehrtenpolitik des 19.  Jahrhunderts diskutieren, die hier als Teil einer Geschichte der politischen Intellektuellen in Deutschland verstanden wird. Gangolf Hübinger entwarf eine Typologie der Handlungsebenen, auf denen Wissenschaftler und andere Intellektuelle im politischen Kommunikationsfeld agieren. Ihm geht es dabei um die Spannung zwischen der »relativen Autonomie« des Intellektuellen und seinem praktischen politischen Engagement. Zu diesen Handlungsebenen gehören erstens Kommunikationsnetze, in denen Intellektuelle als Organisatoren politischer Öffentlichkeit wirken, zweitens Expertengremien, in denen Intellektuelle als Politikberater handeln, drittens Mandate, die Intellektuelle als Volksvertreter einnehmen und viertens Ämter, in denen Intellektuelle als Minister oder Staatsmänner auftreten.385 Damit erweitert Hübinger das Untersuchungsspektrum bisheriger Studien zur »Gelehrtenpolitik«, welche die bevorzugte Form darstellte, in der Intellektuelle in Deutschland im 19. Jahrhundert politisch intervenierten.386 Allerdings konzentrieren sich die älteren Ansätze 382 Hugo Reiwald, Geschichte des fortschrittlichen Vereins »Waldeck« zu Berlin im ersten Vierteljahrhundert seines Bestehens, Berlin 1903, S. 30. Siehe auch Berliner Tageblatt, Nr. 535 vom 22.10.1891, »Die VirchowFeier im ›Waldeck‹-Verein«. 383 Siehe dazu insbesondere die Arbeit von Boyd, Rudolf Virchow. 384 Siehe dazu Thomas Hertfelder, Kritik und Mandat. Zur Einführung, in  : Gangolf Hübinger/T. Hertfelder (Hg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Politik, Stuttgart 2000, S. 11–29, hier v. a. S. 13 u. 21. 385 Gangolf Hübinger, Die politischen Rollen europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, in  : ders./Hertfelder (Hg.), Kritik und Mandat, S. 30–44, hier  : S. 39 u. 41. 386 So klammert Herbert Döring, der »spezifische« Gelehrtenpolitik in erster Linie auf ihre deutungskulturelle

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Wissenschaft und Politik zwischen »Beruf« und »Pflicht«

zur Gelehrtenpolitik und die neueren Ansätze zur Geschichte der Intellektuellen in der Regel gleichermaßen auf die Kulturwissenschaften, während die Naturwissenschaften meist nicht berücksichtigt werden.387 Deshalb wird hier nun gefragt, inwieweit Virchow das Modell einer zugleich naturwissenschaftlichen und liberalen Gelehrtenpolitik exemplifiziert. Wie veränderte sich dieser naturwissenschaftliche »Professorenliberalismus« gegebenenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts  ? Inwieweit war er von dem gegen Ende dieses Zeitraums einsetzenden, für die Gelehrtenpolitik insgesamt konstatierten Bedeutungsverlust betroffen, der mit der Entstehung des Intellektuellen in seiner modernen Variante einherging  ? Und welche Bedeutung besitzt er hinsichtlich der Frage nach einem spezifischen Modus liberaler Politik und den damit verbundenen unterschiedlichen Formen öffentlicher Glaubwürdigkeit  ?388 Diese Fragen werden in drei Schritten verfolgt  : Erstens wird Virchows politische Karriere unter dem Gesichtspunkt der Verberuflichung von Politik im 19. Jahrhundert untersucht. Wie ist Virchow also in der Spannung zwischen Honoratioren- und Berufspolitik einzuordnen  ? Die beiden folgenden Abschnitte widmen sich dann verschiedenen politischen Handlungsfeldern und -formen. Dazu gehört zunächst die Bedeutung naturwissenschaftlicher Autorität für sein praktisches politisches Handeln, das sich zwischen zwei Polen bewegte  : An dem einen stehen traditionelle Honoratiorenpolitiker und am anderen professionelle Experten, die für die damals entstehenden modernen Leistungsverwaltungen immer wichtiger wurden. Zuletzt geht es dann um

Dimension bezieht, die Tätigkeit in Parlamenten und im Bereich der Politikberatung ausdrücklich aus. (Döring, Thesen zum fortschreitenden Zerfall der sozialhistorischen Voraussetzungen von ›Gelehrtenpolitik‹ am Beispiel des sozialliberalen Flügels deutscher Hochschullehrer, in  : Gustav Schmidt/Jörn Rüsen u. Mitarb. v. Ursula Lehmkuhl (Hg.), Gelehrtenpolitik und politische Kultur in Deutschland 1830–1930. Referate und Diskussionsbeiträge, Bochum 1986, S. 147–166, v. a. S. 148 f.) Rüdiger vom Bruch definiert dagegen zwar Gelehrtenpolitik weiter gefasst »als jede(n) von Gelehrten als Gelehrte unternommene(n) Versuch politischer Einflußnahme (…) – in Parlamenten, Vereinen mit politischer Zielsetzung, Publizistik und Mitwirkung an gezielten Aktionen«. Doch auch er schliesst die vor allem mit Juristen und Naturwissenschaftlern verbundene Gutachtertätigkeit aus pragmatischen Gründen aus seiner Betrachtung aus. (Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland [1890–1914], Husum 1980, S. 20.)  ; vgl. auch ders., Gelehrtenpolitik und politische Kultur im späten Kaiserreich, in  : Schmidt/Rüsen (Hg.), Gelehrtenpolitik und politische Kultur, S. 77–106. 387 Eine Ausnahme bildet etwa Rudolf Vierhaus, der Virchow zu der Minorität der deutschen Gelehrten zählt, die im 19.  Jahrhundert den Schritt in die politische Auseinandersetzung vollzogen, und nicht nur, wie die Majorität, im Bewusstsein lebten, »als Elite der Nation« gegenüber »besonders verpflichtet zu sein«. (Vierhaus, Der politische Gelehrte im 19. Jahrhundert, in  : Christian Jansen/Lutz Niethammer/Bernd Weisbrod [Hg.], Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, Berlin 1995, S. 17–28, hier  : S. 27 f.). 388 Geoff Eley, Liberalism, Europe, and the Bourgeoisie 1860–1914, in  : Blackbourn/Evans, The German Bourgeoisie, S. 293–317, hier  : S. 304.

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Naturwissenschaftliche Gelehrtenpolitik

die Frage, inwieweit sich Virchow am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich von einem deutschen Gelehrten zu einem europäischen Intellektuellen verwandelte. 3.2.1 Politik als »Nebenberuf«

Virchows politische Tätigkeit fällt in die Zeit des Übergangs von einer »periodisch und elitär begrenzten Honoratiorenpolitik« in das Zeitalter des national organisierten politischen Massenmarktes.389 Honoratioren in Parlamenten und Verwaltungen wurden dabei immer mehr durch Berufspolitiker und professionelle Experten abgelöst, während zugleich der Anteil der Professoren in den Volksvertretungen kontinuierlich abnahm.390 Während der Revolution 1848/49 hatte sich Virchow erstmals politisch betätigt, und lediglich der Umstand, dass ihm das dafür erforderliche Mindestalter fehlte, hatte seinen Einzug in die preußische Nationalversammlung verhindert. In der anschließenden Phase der nachrevolutionären Restauration zog er sich zunächst für einige Jahre politisch zurück, um dann nach dem Beginn der »Neuen Ära« in Preußen Ende der fünfziger Jahre wieder ins politische Leben zurückzukehren. 1859 wurde er Abgeordneter der Berliner Stadtverordnetenversammlung und 1862 des Preußischen Abgeordnetenhauses  – beiden Häusern gehörte er bis zu seinem Tode 1902 an. Von 1880 bis 1893 war er auch Mitglied des Deutschen Reichstags. Überall dort wirkte er nicht nur im Plenum, sondern auch in einer Vielzahl von Ausschüssen und Kommissionen vor allem auf den Gebieten der öffentlichen Hygiene und der Bildung. Zudem war er jahrzehntelang Mitglied der Budgetkommission beziehungsweise Vorsitzender der Rechnungskommission des Preußischen Abgeordnetenhauses. Max Weber lieferte die geläufige Unterscheidung in »Gelegenheitspolitiker«, »nebenberufliche« Politiker und »Berufspolitiker«, wobei er ein ökonomisches Unterscheidungskriterium wählte. Legt man diese idealtypische Einteilung zugrunde, so entspricht Virchow dem Typus des nebenberuflichen Politikers, zu denen Weber »ziemlich breite Schichten unserer Parlamentarier« zählte, »die nur in Zeiten der Session Politik treiben«391. Damit entsprach Virchow zugleich dem Typus des »Honoratioren«, dessen Hauptbedeutung darin besteht, »für die Politik leben zu können, ohne von ihr leben zu 389 Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867–1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994, S. 127  ; vgl. auch Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967  ; Peter Steinbach, Die Zähmung des politischen Massenmarktes. Wahlen und Wahlkämpfe im Bismarckreich im Spiegel der Hauptstadt- und Gesinnungspresse, 3 Bde., Passau 1990. 390 Vgl. dazu Norbert Andernach, Der Einfluß der Parteien auf das Hochschulwesen in Preußen 1848–1918, Göttingen 1972  ; Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, S.  58–62  ; Bernhard vom Brocke, Professoren als Parlamentarier, in  : Klaus Schwabe (Hg.), Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815–1945, Boppard a. Rh. 1988, S. 55–92. 391 Max Weber, Politik als Beruf, in  : ders., Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919, hrsg. v.

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Abb. 10  Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses im Sommer 1862. Rudolf Virchow ist die zweite Person in der zweiten Reihe (links).

müssen«, wofür Weber einen »spezifische(n) Grad von ›Abkömmlichkeit‹ aus eigenen privaten Geschäften«392 als Hauptvoraussetzung nennt. Erst allmählich entwickelte sich aus dieser Gruppe eine Schicht von »Berufspolitikern«393. Darüber, wie dieser Übergang von Honoratioren zu Berufspolitikern ablief, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Eine erste Auffassung unterscheidet zwei unterschiedliche Karrieremuster von Abgeordneten in Deutschland, die sich nacheinander entwickelt hätten  : Das ältere Karrieremuster sei bis in das Kaiserreich hinein gültig gewesen, wobei das Amt des Abgeordneten in der Regel Honoratioren angetragen oder gar nachgetragen wurde (was in der Regel einen außerparlamentarischen Beruf bereits voraussetzte). Dem sei ein jüngeres Karrieremuster gefolgt, bei dem der Sprung in eine parlamentarische oder gouvernementale Position einen schrittweisen Aufstieg und eine sukzessive Bewährung innerhalb einer Parteiorganisation voraussetze, die sogenannte »Ochsentour«.394 Demgegenüber wird mit guten Gründen argumentiert, dass der ÜberWolfgang J. Mommsen u. Wolfgang Schluchter in Zusammenarb. m. Birgitt Morgenbrod (Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I  : Schriften und Reden, Bd. 17), Tübingen 1992, S. 157–252, hier  : S. 168. 392 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, fünfte, revidierte Aufl., besorgt von Johannes Winkelmann, Tübingen 1980, S. 170. 393 Weber, Politik als Beruf. 394 Dietrich Herzog, Karrieremuster von Abgeordneten in Deutschland – früher und heute, in  : Politik als Be-

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gang vom Typus des Honoratiorenpolitikers zum modernen, »professionalisierten« Typus des Abgeordneten, für den Politik eine Art von Karriere bedeutet, bereits in der Ära zwischen der Revolution und der Reichsgründung erhebliche Ausmaße angenommen habe und sich erste Ansätze dazu bereits im Vormärz finden ließen.395 Am Beispiel der politischen Karriere Virchows lässt sich genauer bestimmen, wie sich politische Laufbahnen in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts veränderten. Dazu wird danach gefragt, in welcher Weise er sich als Volksvertreter legitimierte, wozu vor allem die Rolle von Wahlen und Wahlstrategien sowie seine Einbindung in politische Netzwerke untersucht werden. Wie unterschieden sich dabei der kommunalpolitische Bereich von dem der landes- beziehungsweise reichsweiten Politik  ? Und welchen wechselnden Stellenwert besaß die politische Betätigung schließlich für Virchows Selbstverständnis  ? Politikabstinenz und politischer Wiedereinstieg

Im Revolutionsjahr hatte sich Virchow, wie schon ausführlich geschildert, in den Reihen der Berliner Demokraten sowie der medizinischen Reformbewegung, aber auch der Befürworter einer Universitätsreform intensiv engagiert und vor allem auch daran beteiligt, die politische Öffentlichkeit in Berlin zu organisieren. Nachdem die Revolution jedoch scheiterte, zog er sich wieder in die wissenschaftliche Arbeit zurück. Zwar engagierte er sich 1849 noch für den demokratischen Wahlboykott in Preußen. Doch mündete dieser schließlich in die langjährige Politikabstinenz der Demokraten, und dies galt auch für Virchow, zumal seine politischen Aktivitäten seine wissenschaftliche Karriere ernsthaft zu gefährden drohten. So trennte er nunmehr Politik und Wissenschaft, die er während der Revolution in eins gesetzt hatte, wieder in eigene Sphären, was nicht nur psychologisch entlastend war, sondern auch half, seine berufliche Position zu verteidigen. Während der verschiedenen im Frühjahr 1849 laufenden Verhandlungen um eine akademische Berufung spielte der Konflikt zwischen wissenschaftlicher und politischer Tätigkeit eine zentrale Rolle. Seinen Gießener Freund Adolf Bardeleben, der ihn über die Berufungsberatungen der dortigen Fakultät auf dem Laufenden hielt, versuchte Virchow zu beruhigen  : Ich habe keine Absicht, Politiker von Profession zu werden. Meine Betheiligung an der Politik bis zum November war nur eine accidentielle, nur Arbeit der Mußestunden. Dass ich mich ruf  ? Das Abgeordnetenbild im historischen Wandel. Protokoll eines Seminars der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen, hrsg. v. Deutschen Bundestag. Presse- und Informationsamt, Bonn 1979, S. 63–72, hier  : S. 70. Vgl. dazu auch Hans Boldt, Die Stellung des Abgeordneten im historischen Wandel, ebenda, S. 15–43. 395 Jansen, Einheit, Macht und Freiheit, v. a. S. 145–148  ; sowie ders., Selbstbewußtes oder gefügiges Parlament  ? Abgeordnetendiäten und Berufspolitiker in den deutschen Staaten des 19.  Jahrhunderts, in  : Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 33–65, hier v. a. S. 34.

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nicht davon zurückhalten konnte, wo alles so lebhaft dazu drängte u. die Möglichkeit gegeben schien, wissenschaftlich vernünftige Principien auf einen fruchtbaren Boden auszustreuen, war sehr natürlich.396

So habe er es »für einfache Bürgerpflicht gehalten«, dass er sich nach der Auflösung der Preußischen Nationalversammlung und der Ausrufung des Belagerungszustands in Berlin an der Wahlbewegung für die Zweite Kammer des Preußischen Abgeordnetenhauses engagierte. Dass Virchow sich hier davon distanzierte, Berufspolitiker sein zu wollen, unterstreicht zugleich, dass dieses Rollenmodell im zeitlichen Umfeld der Revolution bereits präsent war. Ähnlich wie bei seinen parallelen Verhandlungen mit der preußischen Kultusbürokratie über die möglichen Konditionen eines Verbleibs in seiner Berliner Stellung trennte Virchow hier Wissenschaft als Beruf und Politik als staatsbürgerliche Verpflichtung sowie Privatangelegenheit. Jedoch versicherte er in diesem Brief abschließend, dass er sich zwar an künftigen wissenschaftlichen Wirkungsstätten politisch zurückhalten wolle, sich aber unter den Berliner Verhältnissen sehr wohl weiter an politischen Angelegenheiten beteiligen könnte. So verzichtete Virchow nach dem Ende der Revolution zunächst lediglich auf eine öffentliche politische Betätigung, die ein Resultat der spezifischen Gegebenheiten in Berlin gewesen sei  : Sie sehen, nicht ich habe mich in die Politik gedrängt, sondern die Ereignisse haben mich hinein getrieben. Bleibe ich hier, so kann ich keineswegs dafür einstehen, ob ich mich dann ferner halten kann oder ob ich tiefer hinein gezogen werde. Wenn ich die moralische Verpflichtung fühle, so gebe ich ihr nach. Anderswo wird sich das wahrscheinlich ganz anders machen. Wenn ich in Verhältnisse komme, die mir fremder liegen, in neue Bewegung, die ihre treibenden Kräfte hat, so wird es mir nicht einfallen, mich hineinzumischen. Ich hasse alle Kraft- u. Zeitverschwendung, u. wenn ich etwas besseres als Politik treiben kann, so bleibe ich dem treu. Bis jetzt habe ich weder politischen Ehrgeiz, noch politischen Fanatismus, wohl aber eine tiefe politische Überzeugung.397

Und auch gegenüber seinem Vater versicherte Virchow, der sich zugleich vom Kommunismus und den Systemen der französischen Sozialisten distanzierte, dass sein Stillschweigen keine Abkehr von seinen Überzeugungen beinhalte  : »Aber ich enthalte mich nicht deßhalb von der Politik, weil ich meine frühere Politik perhorrescire, sondern einfach, weil ich mich enthalten will, weil ich keine aktive Politik treiben will.«398 396 Virchow an Bardeleben, 19.3.1849 (am Jahrestage der »lieben« Berliner), Druck  : Einige Briefe von Rudolf Virchow an Adolf von Bardeleben aus den Jahren 1847–1853, in  : VA 223 (1917), S. 1–9, hier  : S. 3. 397 Ebenda, S. 4. Siehe dazu auch R. Virchow an Carl Virchow, 29.5.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 410. 398 R. Virchow an Carl Virchow, 7.4.1851, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 506.

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Bei all dem können die Auswirkungen der nachmärzlichen Repressionswelle nicht hoch genug eingeschätzt werden. So waren etwa mehr als die Hälfte der oppositionellen Paulskirchenabgeordneten von »Verurteilungen, Dienstentlassungen usw. unmittelbar betroffen  ; mehr als ein Drittel ging vorübergehend oder endgültig außer Landes«399. Diese Repression herrschte auch in Würzburg. Virchow hielt dort an seinen früheren politischen Ansichten fest,400 wenngleich er diese in der von Misstrauen und Bespitzelung geprägten Atmosphäre verbergen musste. In der ersten Zeit nach seiner Übersiedlung leistete ihm bei seinen Mittagessen in einem Würzburger Gasthaus der Regierungsdirektor von Unterfranken Tischgesellschaft, der dabei seine Umgebung kontrollierte. »Ich spreche daher bei Tische fast gar nicht, lese während des Essens immer die Würzburger Zeitungen«401, berichtete Virchow und beschrieb damit eindrücklich, wie die demokratische Öffentlichkeit unterdrückt wurde. Die politische Kommunikation war dadurch erheblich beeinträchtigt  : Anders als in Berlin war Virchow in Würzburg von politischen Informationen weitgehend abgeschnitten und abonnierte deshalb seit Anfang 1850 die liberale National-Zeitung, damit er »nicht ganz verbauere«402, wie er Goldstücker schrieb. Dennoch bekannte er seinem Freund  : »Von der Politik weiß ich nichts, als Fetzen.«403 Zwar war er in das weitgespannte personelle Netzwerk eingespannt, das die Demokraten nach der Revolution über ganz Europa hinweg über Jahre hinweg aufrechterhielten.404 Für Virchow wurde es aber gelegentlich beschwerlich, mit seinen alten Gesinnungsgenossen zu diskutieren, da er sich wegen der schlechten Nachrichtenversorgung politisch nicht mehr auf dem Laufenden halten konnte.405 Die Ära der Restauration führte bei den Demokraten also gleichermaßen zur Provinzialisierung und zur Europäisierung des politischen Horizonts. In Würzburg widmete Virchow seine Zeit in erster Linie seiner jungen Familie und der Wissenschaft. So erlebte er dort seine Tage, wie er seinem Vater im Mai 1850 schrieb, »im allgemeinen friedlich«. Vor allem in den frühen fünfziger Jahren berichtete er aber von heftigen Angriffen der »ultramontanen Partei« in der Augsburger Postzeitung gegen Protestanten, die sich insbesondere gegen Kölliker und ihn richteten. Ihre Medizinstudenten hätten jedoch als Antwort darauf einen Fackelzug für sie veranstaltet. Dabei sei vieles geredet worden, »was vielleicht nicht allen Ohren angenehm war, auch nicht dem Staat, doch das ließ sich nicht vermeiden«. Im Übrigen könne sein Vater »darauf rechnen, daß ich ohne Betheiligung an politischen und religiösen Parteikämpfen lebe, und 399 Jansen, Einheit, Recht und Freiheit, S. 597. Zum politischen System der »Reaktion« siehe Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch 1849–1871, Frankfurt a. M. 1990, S. 32–65. 400 R. Virchow an Carl Virchow, 7.4.1851, in  : RVSW, Bd. 59, S. 504 ff. 401 Virchow an Goldstücker, 22.12.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 402 Virchow an Goldstücker, 12.12.1849  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 403 Virchow an Goldstücker, 25.1.1850  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 404 Vgl. dazu v. a. Jansen, Einheit, Recht und Freiheit. 405 Siehe dazu etwa Virchow an Goldstücker, 24.10.1851  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425.

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wenn ich auch in meinen Ansichten nichts geändert habe, so habe ich doch etwas mehr schweigen gelernt«406. Während er sich verteidigen wollte, falls er in seiner Existenz angegriffen würde, gedachte er »gewöhnliche Angriffe (…) schweigend (zu) ertragen, um friedlich fortzuarbeiten«407. Zwar zeigten sich nicht nur die Studenten solidarisch, sondern auch der bayerische Kultusminister versicherte Virchow seiner Wertschätzung und Unterstützung. Allerdings wiederholten sich Attacken der »ultramontanen Partei« auf ihn und Kölliker so regelmäßig und hartnäckig, dass er fürchtete, diese könnten endlich doch erfolgreich sein. So berichtete er seinem Vater am Ende des Jahres 1851, dass vor kurzem in der Augsburger Postzeitung gar der Plan entworfen worden sei, »Kölliker u. mich, die beiden Hauptketzer, nach München zu versetzen, u. dafür Katholiken hierher zu bringen. In München fühlen sie sich stark genug, um Ketzer ertragen zu können.«408 Für seine spätere Haltung im Kulturkampf dürfte die Würzburger Erfahrung mit dem bayerischen, politisch selbstbewussten Katholizismus von großer Bedeutung gewesen sein. Vor allem aber führten die Würzburger Jahre von 1849 bis 1856 dazu, dass er sich von allen politischen Aktivitäten weit entfernte. Dies änderte sich erst wieder nach seiner Rückkehr nach Berlin im Vorfeld einer sich erneut verändernden politischen Großwetterlage. Seit Mitte der fünfziger Jahre wuchs unter den führenden Demokraten wieder die seit ihrem Wahlboykott 1849 weitgehend verloren gegangene Bereitschaft, sich am parlamentarischen Leben zu beteiligen. Dafür war nicht allein der Beginn der sogenannten »Neuen Ära« in Preußen verantwortlich, die 1858 mit der Übergabe der Macht auf den Kronprinzen Wilhelm I. und der von ihm verfügten Ablösung des hochkonservativen Ministeriums Manteuffel durch das moderat-konservative Ministerium HohenzollernSigmaringen verbunden war. Bereits zuvor hatten neben dem realpolitischen Perspektivwechsel der Linken vor allem die Folgen des Krimkrieges politische Hoffnungen wiederbelebt. Dieser hatte der europäischen Öffentlichkeit nicht nur erstmals die Schrecken eines modernen Stellungskriegs vor Augen geführt, sondern mit der Niederlage Russlands und dem Zerbrechen der Heiligen Allianz Hoffnungen auf ein Ende von Legitimismus und Reaktion geweckt. Damit endete auf Seiten der deutschen Linken die Phase der Depression, und zugleich zerstoben ihre Zweifel an der Gültigkeit des Fortschrittsprinzips.409 Als seit Ende der fünfziger Jahre zudem auch die Unterdrückung der oppositionellen Vereine und Presse allmählich gelockert wurde, entfaltete sich wieder eine politische Öffentlichkeit. Zugleich entstanden neue politische Organisationen, an denen sich vor allem Demokraten und Liberale beteiligten. Dabei wurden vielfach alte 406 R. Virchow an Carl Virchow, 14./15.5.1850, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 464. 407 R. Virchow an Carl Virchow, 4.6.1850, ebenda, S. 467. 408 R. Virchow an Carl Virchow, 30.11.1851, ebenda, S. 526. Siehe dazu auch Virchow an E. H. G. Wegscheider, 18.2.1851, Druck  : Virchow. Werk und Wirkung, hrsg. und eingeleitet von Felix Boenheim, Berlin 1957, S. 92. 409 Jansen, Einheit, Recht und Freiheit, S. 270 ff.

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Bekanntschaften und Beziehungen reaktiviert, und diese Reorganisation des politischen Lebens erfasste bald auch Virchow. So gehörte er zu dem internationalen Kreis der »Zelebritäten«, an die sich Arnold Ruge 1857 bei seinem allerdings vergeblichen Versuch wandte, die ehemaligen Hallischen Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst wiederzubegründen und damit der Linken wieder ein theoretisches Organ zu verschaffen.410 Die Rückkehr der preußischen Demokraten in die Politik stand programmatisch und organisatorisch im Zeichen einer Annäherung an die Liberalen, wobei sich Prozesse auf kommunaler sowie auf einzelstaatlicher und auch nationaler Ebene überschnitten und verstärkten. 1858 hatten es viele alte 1848-Demokraten wie Karl Rodbertus, Johann Jacoby, Hans Victor von Unruh und Hermann Schulze-Delitzsch, aber auch Virchow abgelehnt, für das Preußische Abgeordnetenhaus zu kandidieren. Ihnen erschien es noch als zu riskant, die durch die Rede des Prinzregenten Wilhelm ausgelösten Hoffnungen, die er unter anderem durch seine Forderung nach »moralischen Eroberungen« Preußens in Deutschland ausgelöst hatte, durch ihr öffentliches politisches Auftreten vorschnell zu gefährden.411 Unter dem Eindruck des italienischen Krieges sowie der wachsenden Unzufriedenheit mit der innen- und außenpolitischen Entwicklung in Preußen im Zeichen der »Neuen Ära« formierte sich jedoch 1859 in ganz Deutschland eine liberale Nationalbewegung. Zugleich stieg der Reformdruck innerhalb Preußens, wobei beide Prozesse sich gegenseitig beeinflussten und verstärkten. In dieser Situation kehrte auch Virchow in die Politik zurück. Ende 1859 wurde er in die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt, und gleichzeitig begann er sich in der Berliner Lokalgruppe des deutschen »Nationalvereins« zu engagieren. Anders als während der Revolution standen hier nun die Aktivitäten von Honoratioren im Mittelpunkt, worin sich ein neues Politikverständnis ausdrückte. So wurde Virchow, wie er noch Jahrzehnte später immer wieder hervorhob, auf Vorschlag Salomon Neumanns ohne eigenes Zutun und Wissen in die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt, während er sich gerade auf einer Auslandsreise in Norwegen befand.412 Auch der im selben Jahr gegründete Nationalverein war eine Veranstaltung mittelständischer Honoratioren und sollte vor allem Brücken zwischen Demokraten und Liberalen bauen. Er 410 Protokoll der 13. Polizeikonferenz vom 14. bis 17. Juni 1858 in München, Anlage Q  : Darstellung der im Rayon Hannover bestehenden regierungsfeindlichen Parteien, ihrer Tendenzen, ihres Einflusses und der äußerlichen Vorwände, unter denen sie agitieren, sowie ihrer Verbindungen unter sich, in  : Dokumente aus geheimen Archiven, Bd. 5  : Die Polizeikonferenzen deutscher Staaten 1851–1866. Präliminardokumente, Protokolle und Anlagen, eingeleitet u. bearbeitet v. Friedrich Beck/Walter Schmidt, Weimar u. a. 1993, S. 385–404, hier  : S. 400 f. Vgl. zu diesem Zeitungsprojekt auch Jansen, Einheit, Recht und Freiheit, S. 323. 411 Ludolf Parisius, Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck. Ein Beitrag zur vaterländischen Geschichte mit einem Vorwort über die gegenwärtige Kanzlerkrisis, Berlin 1878, S. 25–27  ; ders., Die Deutsche Fortschrittspartei von 1861–1878. Eine geschichtliche Skizze, Berlin 1879, S. 2 f.; Boyd, Rudolf Virchow, S. 69. 412 Edmund Friedemann, Virchow als Stadtverordneter, in  : Berliner Tageblatt, Nr. 518 vom 13.10.1891.

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diente nicht nur der Repolitisierung, sondern gewissermaßen auch der politischen Resozialisierung der als Revolutionäre verfemten Demokraten.413 Dies traf auch auf Virchow zu, der 1875 erklärte  : Der im Jahre 1859 gegründete deutsche Nationalverein wurde für die Männer der Demokratie und für die gemäßigten Liberalen das gemeinsame Werkzeug, um sowohl das Volk zu neuer Arbeit im Dienste der Freiheit und der nationalen Einigung aufzurufen, als auch die Regierungen und vor allem die preußische zu energischer That zu treiben. Seit langer Zeit zum ersten Male reichen sich hier Norddeutsche und Süddeutsche die Hand zu gemeinsamer politischer Thätigkeit. Der Ausschluss Österreichs aus Deutschland, die Einigung des Vaterlands unter preußischer Führung, die endliche Constituierung des Reiches durch ein deutsches Parlament,– das war das Programm, welches offen dargelegt wurde.414

Die politische Passage der Demokraten basierte also auch bei Virchow vor allem auf einer Neubewertung der Rolle Preußens, das nunmehr als Schlüssel zur nationalen Einigung unter freiheitlichen Vorzeichen angesehen wurde, wofür die Rolle Piemonts bei der Einigung Italiens das Vorbild war. Virchow gehörte zu den großpreußisch-gouvernementalen Linken, die Österreich aus diesem Prozess ausschließen wollten, falls nötig auch im Gefolge eines europäischen Krieges, der an die Stelle der Revolution getreten war. Diese Position vertrat er auch im Rahmen des Nationalvereins, wie einer Resolution, die auf einer unter seinem Vorsitz im Januar 1861 durchgeführten Versammlung der Berliner Mitglieder des Nationalvereins verabschiedet wurde, zu entnehmen ist. Gefordert wurde, erstens, dass Preußen sich nicht an einem möglichen Krieg Österreichs um den Besitz Venetiens beteiligen solle, zweitens, dass im Falle einer gegen Dänemark zu unternehmenden Bundesexekution die Rechte Schleswigs und Holsteins gewahrt werden sollten, und schließlich, dass zur Bildung eines deutschen Bundesstaats unter Führung Preußens geschritten werden solle. Die circa 570 im Meserschen Saale unter den Linden versammelten Teilnehmer der Versammlung kamen laut Polizeibericht »aus den besseren Schichten der Gesellschaft«, während »Handwerker und Arbeiterstand dabei gar nicht vertreten waren«415. 413 Vgl. Schlomo Na’aman, Der deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen Bürger­ tums 1859–1868, Düsseldorf 1987, S. 45–50  ; Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857– 1868. Nationale Organisation und Eliten, Düsseldorf 1994, S. 38–48  ; Jansen, Einheit, Recht und Freiheit, S. 334–347. 414 Gedächtnisrede Rudolf Virchows auf Leopold Freiherr von Hoverbeck, gest. 22.8.1875 (hs. Ms.)  : StBB-PK, Sammlung Darmstädter 3, Rudolf Virchow, K. 1. 415 Polizeibericht über die Sitzung des Nationalvereins in Berlin am 25.1.1861  : BrLHA, Rep. 30 Bln C Polizeipräsidium, Nr. 9540, Bl. 505–509  ; sowie Polizeibericht über die Versammlung der Berliner Mitglieder des Nationalvereins vom 26.1.1861  : ebenda, Bl. 510–514. Vgl. dazu auch Jansen, Einheit, Recht, und Freiheit, v. a. S. 288–321.

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Viele der Namen aus dem engeren Führungskreis der Berliner Lokalgruppe des Nationalvereins, darunter neben Virchow etwa Hans Victor von Unruh, Franz Duncker und Werner von Siemens, befanden sich auch unter dem am 6. Juni 1861 verabschiedeten Wahlprogramm der deutschen Fortschrittspartei, was die personelle und programmatische Nähe der beiden Organisationen unterstreicht.416 In der Fortschrittspartei hatte sich um den Kern von 19 Abgeordneten aus der bisherigen liberalen Landtagsfraktion Vincke »ein Zwitter aus liberalen und demokratischen Forderungen und ebenso aus liberalem Honoratiorenkomitee und moderner Programmpartei«417 gebildet. Virchow hatte die Sitzung geleitet, auf der das Parteiprogramm der Fortschrittspartei beschlossen worden war, das zunächst als Grundlage des bevorstehenden Wahlkampfs in Preußen dienen sollte. Darin war die feste Einigung Deutschlands mit starker Zentralgewalt in den Händen Preußens und eine deutsche Volksvertretung gefordert worden, wozu eine Reihe innenpolitischer Forderungen kamen.418 Der Kompromisscharakter des Programms der Fortschrittspartei zwischen Demokraten und Liberalen erwies sich vor allem daran, dass die Problematik des Dreiklassenwahlrechts nicht thematisiert wurde. Dieses sorgte durch die Einteilung der Wähler in drei nach Steuerklassen gebildete Abteilungen dafür, dass die wohlhabenderen Schichten 416 Text des Parteiprogramms in  : Wilhelm Mommsen (Hg.), Deutsche Parteiprogramme, München 1960, S. 132 ff.; Parisius, Deutschlands politische Parteien, S. 36–38. Den engen Zusammenhang zwischen dem Nationalverein und der Gründung der Fortschrittspartei betont vor allem Andreas Biefang, Nationalpreußisch oder preußisch-national  ? Die deutsche Fortschrittspartei in Preußen 1861–1867, in  : Geschichte und Gesellschaft  23 (1997), S.  360–383  ; ders., Politisches Bürgertum in Deutschland, S.  192 ff. Zu den informellen gesellschaftlichen Verflechtungen im Hintergrund dieser politischen Organisationstätigkeit siehe auch Heinrich Beitzke an seine Frau Philippine, 15.3.1860, in  : Ein Gegner Bismarcks. Dokumente zur Neuen Ära und zum preußischen Verfassungskonflikt aus dem Nachlaß des Abgeordneten Heinrich Beitzke (1798–1867), hrsg. u. eingel. v. Horst Conrad, Münster 1994, S. 177. 417 Jansen, Einheit, Recht und Freiheit, S. 378. Einen Forschungsbericht zur ersten Phase der Fortschrittspartei bietet Biefang, National-preußisch oder preußisch-national  ?  ; siehe auch ders., Politisches Bürgertum in Deutschland, S.  191–206. Unter den älteren Werken siehe v. a. Thomas Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961  ; Heinrich August Winkler, Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der deutschen Fortschrittspartei 1861–1866, Tübingen 1964  ; Michael Gugel, Industrieller Aufstieg und bürgerliche Herrschaft. Sozioökonomische Interessen und politische Ziele des liberalen Bürgertums in Preußen zur Zeit des Verfassungskonflikts 1857–1867, Köln 1975  ; Gerhard Eisfeld, Die Entstehung der liberalen Parteien in Deutschland 1858–1870. Studien zu den Organisationen und Programmen der Liberalen und Demokraten 1858–1870, Hannover 1969  ; sowie Parisius, Die Deutsche Fortschrittspartei von 1861–1878  ; ders., Deutschlands politische Parteien  ; ders., Leopold Freiherr von Hoverbeck. Ein Beitrag zur vaterländischen Geschichte, Bd. 1, Berlin 1897, hier v. a. S. 208–219. 418 Dazu gehörten die Forderung nach einem verfassungsmäßigen Rechtsstaat, nach Ministerverantwortlichkeit, nach Reform der Kommunalverfassung, Gleichberechtigung der Religionsgemeinschaften, Schulreform und Zivilehe, Revision der Gewerbegesetzgebung und Beibehaltung der Landwehr und schließlich nach einer Reform des Herrenhauses.

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einen überproportionalen Stimmenanteil besaßen. Gleichwohl wurde von konservativer Seite immer wieder versucht, die Fortschrittspartei als demokratische Tarnorganisation zu diffamieren. Auf einen entsprechenden Vorwurf des preußischen Kriegsministers erklärte Virchow am 5. Juni 1862 im Preußischen Abgeordnetenhaus  : Wir Einzelnen, die wir auf dem demokratischen Prinzip innerhalb dieser Partei stehen, haben niemals Veranlassung gehabt, dieses Prinzip zu verleugnen, aber daß die Partei im Ganzen identifiziert werden könnte mit der demokratischen Partei, muß ich doch entschieden dem Königlichen Staats-Ministerium bestreiten. Wir Alle haben, indem wir die Verfassung offen und ehrlich acceptirt, indem wir den Eid auf die Verfassung abgelegt haben, damit alle weiter gehenden Parteitendenzen abgeschworen (…).419

Der Wiedereinstieg Virchows in die Politik seit Ende der fünfziger Jahre beruhte also zunächst auf einem politischen Kompromiss der Demokraten mit dem Liberalismus, der während der Revolution noch als Gegner bekämpft worden war. Dies bedeutete jedoch nicht allein Veränderungen seiner politischen Ideen, sondern auch seines Selbstverständnisses als Politiker. Dabei konkurrierten unterschiedliche Politikmodelle auf der kommunalen Ebene und auf der Ebene der Landes- beziehungsweise später der Reichspolitik, doch kreuzten sich diese verschiedenen politischen Handlungsebenen alle in Berlin. Das Berliner Milieu des »Fortschritts«

Die Fortschrittspartei stützte sich in Berlin auf ein dichtes soziales und organisatorisches Netzwerk, in dem eine gemeinsame Weltanschauung auch lebensweltlich Rückhalt fand. Damit lässt sich von einem fortschrittsliberalen Milieu sprechen, das seine größte Stärke in den 1860er Jahren erreichte. In diesem Jahrzehnt basierte es noch auf dem frühliberalen Gegensatz von »Volkspartei« und Staat und definierte sich somit nicht im Gegensatz zu anderen politischen Gruppierungen, sondern vor allem durch kulturelle und politische Gemeinsamkeiten. Nachdem seit den siebziger Jahren jedoch zunehmend andere Parteien in Berlin mit dem »Fortschritt« konkurrierten, erfolgte der Zusammenhalt mehr und mehr durch politische Abgrenzung von diesen, so dass sich von einer fortschreitenden Lagerbildung sprechen lässt.420 419 SBPAH, 9. Sitzung am 5.6.1862, S. 176. Vgl. dazu auch Karl Blind, Personal Recollections of Virchow, in  : The North American Review 175 (1902), H. 5, S. 613–624, hier  : S. 616. 420 Zur Diskussion der Begriffe »Lager« und »Milieu« siehe v. a. Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteisysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt  a.  M. 1992, hier v. a. S.  19–29  ; 41  ; Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz von 1860 bis 1918, Göttingen 1999, v. a. S. 29 f., 132 u. 149 f. Grundlegend zum Milieubegriff  : M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft (1966), in  : ders., Demokratie

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Die seit den sechziger Jahren bestehende kulturelle Hegemonie des Fortschrittsliberalismus in Berlin wurde vor allem auch durch die liberale Presse gestützt. Dazu gehörten die bildungsbürgerliche National-Zeitung sowie die aus der demokratischen Urwähler-Zeitung hervorgegangene Berliner Volks-Zeitung, seit 1871 auch das Berliner Tageblatt und seit 1889 die volkstümlicher gehaltene Berliner Morgen-Zeitung, die beide Rudolf Mosse verlegte.421 Hinzu kam das dichte liberale Vereinsnetz, das durch den Ende der fünfziger Jahre einsetzenden Wiederaufbau der seit 1850 zerschlagenen politischen Vereine entstanden war. Während dabei anfänglich breite Bevölkerungsgruppen integriert werden konnten, blieb es zugleich beim honoratiorenpolitischen Modell, wonach bürgerliche Führer die Leitung dieser Vereine übernahmen. Auf der 18.  Polizeikonferenz in Karlsruhe 1864 wurde ein anschauliches Bild dieser Entwicklung gezeichnet, die dort sehr besorgt aufgenommen wurde. So hätten die letzten Jahre »eine neue Organisation von Vereinen entstehen sehen, welche an äußerer Ausdehnung wie an innerer Kraft der des Jahres 1848 gleichkommt, dieselbe aber in der Kunst weit übertrifft, bei pünktlicher Beobachtung der äußern Form des Gesetzes, sich sachlich den Beschränkungen desselben möglichst zu entziehen«422. In besonderer Weise traf dies auf die Bezirksvereine zu, die sich in Berlin nach Stadtbezirken organisierten und dabei organisatorisch selbständig und ohne zentrale Leitung blieben. Diese standen aber, wie der oben genannte Polizeibericht beklagte, »durch den persönlichen Verkehr ihrer Vorsteher und Leiter in dem engsten Zusammenhange miteinander und folgten, obwohl ohne sichtbares Zentralorgan und äußerlich völlig getrennt und selbständig, dennoch in allen wichtigen politischen Fragen einer gemeinsamen Parole«. Unter der statutengemäßen Beschränkung der Aufgaben der Bezirksvereine auf in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S.  56–80  ; zum Problem des »liberalen Milieus« siehe Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 132–164  ; Lothar Gall, Das liberale Milieu. Die Bedeutung der Gemeinde für den deutschen Liberalismus, in  : Liberalismus und Gemeinde. 3. Rastatter Tag zur Geschichte des Liberalismus am 10./11. November 1990, St. Augustin 1991, S. 11–33  ; Siegfried Weichlein, Wahlkämpfe, Milieukultur und politische Mobilisierung im Deutschen Kaiserreich, in  : Simone Lässig/Karl Heinrich Pohl/James Retallack (Hg.), Modernisierung und Region im wilhelminischen Deutschland. Wahlen, Wahlrecht und politische Kultur, Bielefeld 1995, S. 69–87, hier v. a. 84–87  ; zum Verhältnis des Liberalismus zum »Volk« vgl. v. a. James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770– 1914, München 1983  ; zum kommunalen Liberalismus vgl. v. a. Lothar Gall/Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995  ; Jan Palmowski, Urban Liberalism in Imperial Germany. Frankfurt a. M., 1866–1914, New York u. Oxford 1999. 421 Elisabeth Kraus, Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 180–184  ; vgl. auch Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Berlin 1959  ; Walter G. Oschilewski, Zeitungen in Berlin. Im Spiegel der Jahrhunderte, Berlin 1975  ; Wolter von Kieseritzky, Liberalismus und Sozialstaat. Liberale Politik in Deutschland zwischen Machtstaat und Arbeiterbewegung (1878–1893), Köln u. a. 2002, S. 158–171. 422 Protokoll der 18. Polizeikonferenz vom 3. bis 5. August 1864 in Karlsruhe, Anlage [E/5]  : Das Vereinswesen in Berlin, in  : Dokumente aus geheimen Archiven, Bd. 5, S. 601–617, hier  : S. 601 f.

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»gesellige und belehrende Unterhaltung« wurden »alle in der inneren und äußeren Politik vorkommenden Ereignisse, sowie alle kommunalen Angelegenheiten, Wahlen, Petitionen pp. in ihnen besprochen, beraten und zum Gegenstande von Beschlüssen gemacht«. Auch blieben die Berliner Bezirksvereine in enger Verbindung mit den in ihren Bezirken gewählten Landtagsabgeordneten, die sie »durch deren Vorträge über alle wichtigen Vorgänge innerhalb der Kammern und der Kommissionssitzungen« unterrichteten. Zudem erteilten sie öffentlichen Tadel und Lob und forderten »Rechenschaft von allen mit ihrer Hilfe gewählten Vertretern im Staats- und Kommunaldienst«423. So verabschiedete 1865 eine Reihe von Berliner Bezirksvereinen Solidaritätsadressen für Virchow, als er im Zusammenhang einer politischen Auseinandersetzung im Preußischen Abgeordnetenhaus von Bismarck zu einem Duell aufgefordert wurde, das er jedoch zurückwies.424 Virchow, der während der Revolution selbst aktiv an der Organisation von Bezirksvereinen mitgewirkt hatte, erschien auf solchen Versammlungen regelmäßig zu Vorträgen über aktuelle politische Themen. Ihren Höhepunkt besaßen die Bezirksvereine in den 1860er Jahren, als sie Berlin, wie Isidor Kastan rückblickend schrieb, »netzartig überzogen« und »eine wirklich politische Bedeutung wie nie zuvor und auch nie wieder später« gewannen. So dienten die Bezirksvereine vor allem in diesen Jahren und zum Teil auch darüber hinaus als »Lokalorganisationen der Fortschrittler und des demokratischen Flügels der Liberalen am Ort« und zugleich als »ihr Instrument der Organisierung von Handwerkern und Facharbeitern«425. Sie verkörperten überdies das demokratische Ideal der Identität von Partei und Volk, weshalb Parteientscheidungen wie vor allem die Kandidatenauslese in öffentlichen Wählerversammlungen getroffen wurden.426 Allerdings wurde unter den herrschenden Bedingungen des indirekten Wahlrechts der Wählerwille durch ein zweistufiges Wahlverfahren gefiltert, wonach die zunächst von den Urwählern zu bestimmenden Wahlmänner die eigentliche Abgeordnetenwahl vornahmen. Neben den Bezirksvereinen fand das Berliner Milieu des »Fortschritts« lange Jahre eine weitere zuverlässige organisatorische Stütze in den Versammlungen der Wahlmänner und Urwähler in den einzelnen Wahlbezirken, die vor allem während der Sitzungsperioden von einzelnen Parteiführern einberufen wurden. Dort ließen sie den von ihnen gewählten Abgeordneten Lob und Tadel für ihr Verhalten zukommen und forderten Rechenschaft über ihre Tätigkeit. Dabei umgingen sie die Beschränkungen politischer Vereine, indem sie nur zu freien zwanglosen Vereinigungen zusammentraten.427 Ein Beispiel 423 Ebenda, S. 613. 424 Siehe Zeitschrift des Bezirksvereins Alt-Cölln, Stadtbezirke 9–13, Nr. 5 vom 21.6.1865, Jg. 11  ; ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2751  ; sowie Solidaritätsadresse der Bezirksvereine 77, 78, 79, 80 u. 88 vom 11.6.1865  : ebenda. 425 Ludovica Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht. Honoratioren und Armenwesen in der Berliner Luisenstadt im 19. Jahrhundert, München u. a. 1995, S. 210. 426 Nipperdey, Organisation der deutschen Parteien, S. 55 u. 61. 427 Protokoll der 18. Polizeikonferenz vom 3. bis 5. August 1864 in Karlsruhe, Anlage [E/5]  : Das Vereinswesen in Berlin, S. 613.

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dafür ist eine Versammlung von etwa 400 Wahlmännern des von Virchow vertretenen 3. Berliner Wahlbezirks im Borsigschen Saale am 12. Februar 1868. Der Stadtverordnete Streckfuß eröffnete diese mit der Ankündigung, »daß die Abgeordneten Virchow und Schulze-Delitzsch sich bereith erklärt hätten, ihren Wahlmännern Aufschluss über die Lage der öffentlichen Angelegenheiten zu geben und über den Verlauf der gegenwärtigen Kammersession zu berichten«, worauf die beiden nacheinander das Wort ergriffen.428 Aber bereits wenige Jahre später veränderte sich der Charakter dieser ursprünglich offenen Versammlungen. Ein ähnlicher Rechenschaftsbericht der beiden Abgeordneten auf einer Versammlung von circa 500 Wahlmännern am 2. November 1870 am selben Ort musste vorzeitig abgebrochen werden. Zuvor waren etwa vier- bis fünfhundert Sozialdemokraten in den Saal eingedrungen, die dann durch verschiedene Anträge zur Geschäftsordnung, die vom Versammlungsvorsitzenden zurückgewiesen wurden, den Ablauf der Veranstaltung störten, die schließlich in einen Tumult überzugehen drohte.429 Im Rückblick auf diese Entwicklung schilderte Virchow später  : Wenn wir eine Versammlung einberiefen, wenn wir uns vertheidigen, wenn wir Rechenschaft geben wollten vor unseren Wählern, dann drangen die Sozialdemokraten ein, bemächtigten sich des Präsidiums und warfen endlich die Unsrigen zur Thür hinaus, und man mußte froh sein, daß man überhaupt noch mit gesunden Gliedern nach Hause kam. Das war die Versammlungs- und Vereinsfreiheit, die uns beschieden war und die uns schließlich genöthigt hat, uns immermehr in eine Art von geschlossenen Kreis zurückzuziehen, besondere Karten auszugeben, Einladungen ergehen zu lassen, damit ja nicht unter dem Vorwand, es sei eine öffentliche Versammlung, Leute eindringen könnten, welche einer feindlichen Partei angehörten.430

So wurden fortschrittsliberale Wahlveranstaltungen seit 1871 in ihrer Öffentlichkeit beschränkt, um Sozialisten und Bezirksfremde auszuschließen und eine bürgerlich-liberale Mehrheit zu sichern. Aber wenigstens bis in die zweite Hälfte der siebziger Jahre konnten fortschrittsliberale Parteiführer in Berlin auf sichere Mehrheiten in solchen Veranstaltungen vertrauen, und erst Ende des Jahrzehnts verlor dieses System seine Funktionsfähigkeit, weshalb die Kandidatenauswahl immer weiter in abgeschlossene Führungsgremien verlagert wurde. Zugleich »hörten auch die Bezirksvereine auf, Basis der Parteiorganisation zu sein (…). Die offene demokratische Bewegung wurde durch

428 Polizeibericht über eine Versammlung der Wahlmänner des III. Berliner Wahlbezirks im Borsig’schen Saale (Chauseestr. 1) am 12.2.1868, vom 12.2.1868  : BrLHA, Rep. 30 Bln C Polizeipräsidium Berlin, Nr. 15533, Bl. 174–179. 429 Polizeibericht vom 3.11.1870 über Wahlmännerversammlung des III. Berliner Wahlkreises am 2.11.1870  : ebenda, Bl. 181. Vgl. auch Parisius, Die Deutsche Fortschrittspartei von 1861–1878, S. 29. 430 Rudolf Virchow, Sozialismus und Reaktion. Vortrag am 28. Juni 1878 in der Versammlung des Wahlvereins der Fortschrittspartei im 6. Berliner Reichstags-Wahlkreis, Berlin 1878, S. 12.

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einen geschlossenen Vereinsbetrieb abgelöst«, indem seit 1878 liberale beziehungsweise fortschrittliche Wahlvereine gegründet wurden.431 Dazu gehörte vor allem der nach dem legendären preußischen Demokraten der Revolutionszeit benannte fortschrittliche Verein »Waldeck«. Diese Organisation machte sich die politischen Grundsätze der Fortschrittspartei beziehungsweise später der Deutschen Freisinnigen Partei und Freisinnigen Volkspartei zu eigen und stellte sich diesen vor allem zu Wahlkampfzeiten als »zuverlässige und gern gesehene Hilfstruppen« zur Verfügung. Darüber hinaus organisierte er Wahlkampfveranstaltungen für die Linksliberalen (1891 wurde ein eigener Wahlagitations-Ausschuss gegründet) und unterstützte sie durch finanzielle Spenden. Umgekehrt hielten dort fortschrittsliberale Abgeordnete, darunter auch Virchow, der 1891 zum Ehrenmitglied ernannt wurde, regelmäßig Vorträge.432 Ähnlich wie der »Waldeck«-Verein, dessen Mitgliederzahl seit einem Höhepunkt Anfang der 1880er Jahre kontinuierlich zurückging,433 litten auch die übrigen Säulen der liberalen Vereinslandschaft unter der sinkenden Anziehungskraft des Linksliberalismus auf die nachwachsende Generation. Zu diesen Vereinen gehörte insbesondere der 1859 im Zusammenwirken mit dem »Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen« unter Mitwirkung Virchows wiedergegründete Berliner Handwerkerverein, der 1850 aufgelöst worden war. Dieser entwickelte sich nach seiner Neugründung zum größten deutschen Handwerkerverein und stand gänzlich unter bürgerlich-liberalem Einfluss. Dem neuen Berliner Handwerkerverein stand seit 1859 zunächst der Schulvorsteher Wilhelm Steinert vor, der nach der Revolution von 1848 in die USA ausgewandert und von dort wieder zurückgekehrt war. 1865 folgte ihm Franz Duncker, der spätere Mitbegründer der liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine.434 Mitte der sechziger Jahre besaß er etwa sieben- bis achttausend Mitglieder, von denen normalerweise etwa zweibis dreitausend die Vorträge im Vereinsheim in der Sophienstraße besuchten. Zu den regelmäßigen Gästen gehörte neben den Spitzen der fortschrittsliberalen Parlamentsfraktion auch der Kronprinz Friedrich. Der Berliner Handwerkerverein, der zahlreiche Zweigvereine in anderen Berliner Bezirken, aber auch Ableger in anderen Städten von Riga bis Lissabon gründete, stand im Zusammenhang der liberalen Arbeiterbildungsbewegung. Zu diesem Zweck bot er Vorträge und Diskussionen von führenden Vertretern der Wissenschaft, der Kunst, Literatur sowie von Landtagsabgeordneten, und an vereinsfreien Abenden fanden dort vielfach auch politische Veranstaltungen statt. Im Zuge der Trennung von Fortschrittsliberalis431 Nipperdey, Organisation der politischen Parteien, S. 59–68, Zitat  : S. 67 f. 432 Reiwald, Geschichte des fortschrittlichen Vereins »Waldeck«, hier v. a. S. 9. 433 1882 lag die Mitgliederzahl bei 1932, 1890 noch bei 1460 und sank bis 1899 weiter auf 1204. Siehe Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 10 (1882) bis 26 (1899/1900). 434 Heinrich Steinitz, Eine deutsche Volksakademie, in  : Die Gartenlaube, Leipzig 1882, S. 428-430.

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mus und Arbeiterbewegung durch das Erstarken der Lassalleaner verlor der Handwerkerverein jedoch nach und nach seine überragende öffentlich-politische Bedeutung, da auch hier die jüngere Generation mehr und mehr fortblieb,435 und so blickte Virchow 1901 wehmütig auf das einstige Bollwerk der liberalen Arbeiterbildung zurück  : »Die tief eingreifende Woge des Sozialismus hat ein großes Stück dieser Schöpfung vernichtet. Trotzdem ist der Berliner Handwerkerverein am Leben geblieben.«436 Letzterer bildet zugleich einen Musterfall jener zutiefst paternalistischen Tendenz der liberalen Arbeiterbildungsbewegung, die Virchow in höchstem Maße verkörperte. Alle diese Vereine wurden durch bürgerliche Honoratioren geführt, sofern die Mitgliedschaft nicht ohnehin auf diese beschränkt war. Der Nationalverein, in dessen Berliner Sparte Virchow eine zentrale Rolle spielte, war typisch dafür, doch ging dessen Bedeutung bereits seit 1863 stark zurück.437 Im selben Jahr wurde unter Beteiligung Virchows der allerdings nur kurzlebige »Verein zur Wahrung der verfassungsmäßigen Pressfreiheit in Preußen« gegründet, der teilweise einen Ersatz für eine liberale Parteiorganisation darstellte und gleichfalls eine starke Berliner Sparte besaß.438 Zum Typus des sozialintegrativen Massenvereins unter bürgerlicher Führung gehörten dagegen die Turnvereine, die vor allem in den 1860er Jahren in enger Verbindung mit der Nationalbewegung standen. Damals beteiligte sich auch Virchow – obwohl selbst eher unsportlich – an der Vereinsorganisation der Berliner Turner, bevor er seine Aktivitäten dann stärker dem Schulsport zuwandte.439 Neben den zahlreichen wissenschaftlichen Vereinen, von denen bereits die Rede war, engagierte sich Virchow auch in einer ganzen Reihe 435 Karl Birker, Die deutschen Arbeiterbildungsvereine, 1840–1870, Berlin 1973, S. 91  ; Toni Offermann, Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in Deutschland 1850–1863, Bonn 1979, S. 304  ; Kastan, Berlin wie es war, S. 106  ; Günter Richter, Zwischen Revolution und Reichsgründung (1848–1870), in  : Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins, Bd. 2  : Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, München 1987, S. 605–690, hier  : S. 678 ff.; Protokoll der 18. Polizeikonferenz vom 3. bis 5. August 1864 in Karlsruhe, Anlage [E/5], Das Vereinswesen von Berlin, S. 601–603. 436 Rudolf Virchow, Zur Erinnerung. Blätter des Dankes für meine Freunde, in  : VA 167 (1902), S. 1–15, hier  : S. 15. 437 Protokoll der 18. Polizeikonferenz vom 3. bis 5. August 1864 in Karlsruhe, Anlage [E/5], Das Vereinswesen von Berlin, S. 614. 438 Siehe Mitglieder-Verzeichnis des Vereins für die Wahrung der verfassungsmäßigen Pressfreiheit in Preußen  : BrLHA, Rep. 30, Bln. C. Nr. 14337, Bl. 3  : 1. Vorsitzender war Georg Reimer, der langjährige Verleger Virchows, 2.  Vorsitzender der Jurist Rudolf von Gneist. Weitere Mitglieder waren  – neben Rudolf Virchow – der Kommerzienrat L. Reichenheim, der Stadtrat Heinrich Runge, der praktische Arzt Dr. Loewe, der Historiker Theodor Mommsen, der Buchhändler Dr. M. Veit, der Fabrikbesitzer Benjamin Liebermann, der Stadtrat Ludwig Loewe (später einer der bedeutendsten Waffenfabrikanten Europas) sowie der Stadtrat Zacharias. Vgl. auch Biefang, National-preußisch oder preußisch-national, S. 373  ; Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S. 157–160. 439 Unterlagen in ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2696  ; vgl. auch Dieter Langewiesche, »für Volk und Vaterland kräftig zu würken…«. Zur politischen und gesellschaftlichen Rolle der Turner zwischen 1811 und 1871, in  : ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 103–131.

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weiterer Vereine, die allesamt Knoten im fortschrittsliberalen Netzwerk Berlins bildeten, und so stößt man bei der Durchsicht der Mitglieder und insbesondere der Vorstände immer wieder auf dieselben Namen. Die meisten dieser Vereine, in denen Virchow aufgrund seines Prestiges vielfach an herausgehobener Stelle mitwirkte, dienten der bürgerlichen Bildungs- und Sozialreform.440 Dazu gehörten etwa der von Virchow 1866 mitgegründete »Verein der Berliner Volksküchen«441 oder der von ihm seit Mitte der 1880er Jahre präsidierte »Verein für die Errichtung des Kaiserin-und-Kaiser-Friedrich-Kinderkrankenhauses«442. Eine liberale Domäne war auch der 1866 gegründete »Berliner Hülfsverein für die deutschen Armeen im Felde«. Dieser wie andere Vereine spielten eine wichtige Rolle für das liberale Konzept einer Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft, die zugleich auch die Lösung der sozialen Frage bewältigen sollte. Zudem dienten verschiedene Denkmalskomitees dazu, der Dominanz der symbolischen Präsenz der preußisch-monarchischen Tradition im öffentlichen Raum Berlins bürgerliche Helden entgegenzustellen. Virchow spielte hier insbesondere bei den Denkmälern für demokratische und liberale Symbolfiguren wie Alexander von Humboldt, Benedikt Waldeck und Hermann Schulze-Delitzsch eine führende Rolle. Allerdings waren diese seit den 1880ern bis zum Ende des 19.  Jahrhunderts aufgestellten Denkmäler schon bei ihrer Einweihung in hohem Maße rückwärtsgewandte Beschwörungsversuche der einstigen fortschrittsliberalen Hegemonie in Berlin.443 Jedoch hatte der Fortschrittsliberalismus in Berlin auf der Ebene der Kommunalpolitik immer noch eine starke Stellung inne, die er bis zum Ende des Kaiserreichs behalten konnte. Im Folgenden geht es daher um Virchows kommunalpolitische Rolle und das damit verbundene Politikverständnis. Kommunalpolitik als »unpolitische Politik«

Bereits Virchows Zeitgenossen bewerteten seine intensive Beschäftigung mit Kommunalpolitik gegensätzlich. Auf der einen Seite konnte es etwa Friedrich Engels nicht fassen, dass »ein Mann von dem wissenschaftlichen Ruf Virchows seinen höchsten Ehrgeiz darin« suche, »Stadtverordneter zu werden  !«444 Auf der anderen Seite wurde diese Tätigkeit Virchows gerade für die sich darin erweisende Fähigkeit gefeiert, »das Kleine und das Große mit gleicher Gewissenhaftigkeit zu fördern und zu erledigen«445. Aber auch aus zeitlicher Distanz scheint es so, dass nicht nur das Bürgertum, sondern auch liberale Herrschaft in 440 Vgl. dazu Rüdiger vom Bruch (Hg.), »Weder Kommunismus noch Kapitalismus«. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985. 441 Siehe dazu etwa Berliner Zeitung, Nr. 129 vom 6.6.1891, »Zur Jubelfeier der Berliner Volksküchen«. 442 Siehe dazu das Material in GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII B Kultusministerium, Nr. 1772. 443 Siehe dazu Goschler, Die ›Verwandlung‹  ; vgl. auch Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S. 269–291. 444 Friedrich Engels an Wilhelm Bracke, 25.6.1877, Druck  : Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 34, Berlin 1966, S. 279. 445 Friedemann, Virchow als Stadtverordneter.

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Deutschland dort am wirksamsten war, wo sie am stillsten und unsichtbarsten auftrat.446 So bewegte sich Virchow selbst zwischen der Einschätzung, dass Kommunalpolitik eine entscheidende Ebene liberalen politischen Handelns darstelle, und der Auffassung, dass es sich bei dieser gar nicht um Politik im eigentlichen Sinne handle. Dieses Paradox gehört aber zum Wesen des liberalen kommunalpolitischen Verständnisses. Nach seinem Wiedereinstieg in die Politik hatte sich Virchow der während des liberalen Aufschwungs Ende der 1850er Jahre gegründeten »Terbusch-Gesellschaft« angeschlossen. Bei dieser handelte es sich um die nach ihrem Stammlokal benannte liberale Fraktion der Stadtverordnetenversammlung, an der unter anderem so prominente Liberale wie Hans Victor von Unruh, Karl Twesten, Franz Duncker, Adelbert Delbrück und Heinrich Eduard Kochhann beteiligt waren. Aus dieser Fraktion bildete sich zudem ein kleinerer informeller Zirkel, wo im privaten Kreis staatliche und kommunalpolitische Fragen besprochen wurden. 1867 löste sich diese von Seydel spöttisch »Die Vorsehung« getaufte Gruppe aufgrund aufbrechender politischer Differenzen jedoch auf.447 Virchow begründete seine Rückkehr in die Politik zunächst mit seinem Interesse daran, das Berliner Schulwesen zu verbessern  – dies wurde auch eines seiner zentralen kommunalpolitischen Tätigkeitsfelder. Zusammen mit anderen Mitgliedern der »Vorsehung« wie dem jüdischen Armenarzt Salomon Neumann und dem mit ihm befreundeten Arzt Paul Langerhans sen. startete er bald erste Initiativen auf dem Gebiet der Stadthygiene, die einen weiteren Schwerpunkt seiner kommunalpolitischen Tätigkeit bildete. Eine seiner ersten Aktionen in der Berliner Stadtverordnetenversammlung zielte darauf, zur Städteordnung von 1808 zurückzukehren und die zwischenzeitig erfolgten Veränderungen abzuschaffen, wozu vor allem das Dreiklassenwahlrecht gehörte.448 Bis Anfang der siebziger Jahre kämpfte Virchow auch im Preußischen Abgeordnetenhaus für möglichst weitgehende kommunale Selbstverwaltung, ein demokratisches kommunales Wahlrecht sowie für die Einführung des Reichstagswahlrechts bei den Landtagswahlen. 1869 unterstützte er die Forderung, das Dreiklassenwahlrecht durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht mit geheimer Abstimmung zu ersetzen, obwohl er mit Blick auf die 446 Dies in Anlehnung an David Blackbourns Charakterisierung bürgerlicher Herrschaft im 19. Jahrhundert in D. Blackbourn, The Discreet Charm of the Bourgeoisie  : Reappraising German History in the Nineteenth Century, in  : ders./Geoff Eley, The Peculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany, Oxford u. New York 1984, S. 159–292 u. S. 204  ; ders., Kommentar, in  : Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 281–287, hier  : S. 282  ; siehe auch Ian Farrell McNeely, «Medicine on a grand scale”  : Rudolf Virchow, Health Politics, and Liberal Social Reform in Nineteenth-century Germany, BA Thesis Harvard University 1992, S. 123. 447 Heinrich Eduard Kochhann, Aus den Tagebüchern des Heinrich Eduard Kochhann, Bd.  3, Mitteilungen aus den Jahren 1848–1863, Berlin 1908, S. 71 f.; Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht, S. 185 f. Eine umfassende Studie zum Berliner Liberalismus im 19. Jahrhundert ist ein Desiderat. Vgl. vorerst neben Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht, v. a. die knappen Angaben bei Richter, Zwischen Revolution und Reichsgründung, S. 678 f.; Erbe, Berlin im Kaiserreich, S. 759–763. 448 Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht, S. 188.

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historische Erfahrung in Frankreich als Folge einen Rückgang der liberalen Mandate erwartete. Jedoch überwog damals für ihn die Erwartung, dass der langfristige politische Erziehungseffekt sowie der damit verbundene Schritt auf dem Wege zur Befreiung des Einzelnen höher wiege.449 Nachdem das Reichstagswahlrecht aber den Liberalen zunehmend zusetzte – wofür der Verlust von zwei der sechs Berliner Reichstagsmandate an die Sozialdemokraten 1877 ein Fanal darstellte –, wankte jedoch auch Virchow in seinem Bekenntnis zu einem demokratischeren Wahlrecht. In seiner Eröffnungsansprache auf dem ersten Parteitag der Fortschrittspartei in Berlin 1879, auf dem das alte Parteiprogramm von 1861 durch ein neues ersetzt wurde, plädierte er nun dafür, am Dreiklassenwahlrecht in Preußen festzuhalten, und verbrämte dies mit der üblichen liberalen Rhetorik der Unreife und Manipulierbarkeit der niederen Schichten, die erst durch Bildung zur Wahlmündigkeit geführt werden müssten  : Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht auch auf kommunaler Ebene sei eine theoretische Möglichkeit, die nur dann realisiert werden könne, »wenn durch die fortschreitende Bildung die inneren Vorstellungen der Menschen von dem, was gut und recht und nützlich ist, sich mehr harmonisch und gleichmäßig entwickelt haben, als augenblicklich der Fall ist«450. Bis dahin sollte also nicht nur die Einteilung der Wähler in drei Steuerklassen, sondern auch das indirekte Wahlrecht, das den Wahlmännern die eigentliche Abgeordnetenwahl übertrug, die erforderlichen politischen Sicherheiten gewähren. Anfang der 1860er Jahre hatte es noch danach ausgesehen, dass dem Fortschrittsliberalismus an allen politischen Fronten der Durchbruch gelingen würde. Allerdings wurde dabei die Bedeutung der den liberalen Erfolgen zugrunde liegenden Kombination von Dreiklassen-Wahlrecht und niedriger Wahlbeteiligung ignoriert. Während die preußische Landtagsfraktion ihren Stimmenanteil in dicht aufeinanderfolgenden Wahlen mehr und mehr ausbauen konnte, gelang es 1862 der Fraktion der »Vorsehung«, in Berlin die liberale Wende auch auf kommunaler Ebene durchzusetzen  : Geschäftsleute und Unternehmer wie Adelbert Delbrück, Werner von Siemens und Ludwig Loewe zogen in die Stadtverordnetenversammlung ein, Kochhann aus dem Kreis der »Vorsehung« wurde Stadtverordnetenvorsteher. Das kaiserliche Bestätigungsrecht verhinderte, dass die fortschrittsliberale Mehrheit der Berliner Stadtverordnetenversammlung einen Mann ihrer Couleur zum Oberbürgermeister wählen konnte.451 So folgten auf den 1863 ernannten 449 SBPAH, 12. Sitzung am 3.11.1869, S. 291–293. Siehe auch ebenda, 9. Sitzung am 26.11.1873, Bd. 1, S. 111 f. 450 Ansprache Rudolf Virchows auf der ersten Plenarsitzung des Parteitags der Fortschrittspartei am 24.11.1878, in  : Der erste Parteitag der deutschen Fortschrittspartei. Verhandlungen derselben, Programm und Organisation der Partei, Berlin 1879, S. 20. Vgl. auch Boyd, Rudolf Virchow, S. 122–125 u. 195 f.; Walter Gagel, Die Wahlrechtsfrage in der Geschichte der deutschen Parteien 1848–1918, Düsseldorf 1958, S. 96 f.; Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur, S. 406. 451 Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1950, S. 617 f.

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Karl Theodor Seydel weitere nationalliberale Berliner Oberbürgermeister, darunter Arthur Hobrecht und Max von Forckenbeck. Seydel, der zuvor preußischer Regierungspräsident in Sigmaringen gewesen war, wurde von der »Vorsehung« gegen den bisherigen Oberbürgermeister Heinrich Wilhelm Krausnick durchgesetzt,452 wobei sich der mit ihm verschwägerte Virchow als Vermittler betätigt hatte, um ihn nach Berlin zu holen. Seydel erfüllte aber die Erwartungen seiner ursprünglichen politischen Mentoren nicht. Auseinandersetzungen über kommunalpolitische Fragen führten schließlich zeitweilig auch zu frostigen Beziehungen zwischen ihm und Virchow,453 was sich erst nach 1866 allmählich wieder besserte. Dies war eine indirekte Folge des preußischen Verfassungskonflikts, bei dem zwischen 1862 und 1866 im Preußischen Abgeordnetenhaus anhand des Militäretats die Machtfrage zwischen Parlament und Monarchie ausgekämpft wurde. Nach anfänglichen Erfolgen zogen die Liberalen schließlich den Kürzeren, woraus sich langfristig schwerwiegende Konsequenzen für die deutsche Verfassungsentwicklung ergaben. Ein wichtiger Nebeneffekt dieses Konflikts war zudem, dass die kommunalen Angelegenheiten Berlins stark politisiert wurden. Dies widersprach jedoch Seydels Verständnis von Kommunalpolitik, der diese von Parteipolitik freihalten wollte. Virchow hatte dagegen schon während des Verfassungskonflikts gefordert, dass die politische Umgestaltung des Staates von unten nach oben, d. h. von den Kommunen ausgehen sollte. So hatte er 1862 im Verlauf seiner Bemühungen, Seydel nach Berlin zu holen, diesem zugeredet  : (…) die Hauptsache ist und bleibt doch die, ob Du diese seltene und vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit ergreifen willst, an die Spitze einer großen, intelligenten und zukunftsgewissen Gemeinde zu treten, ihre Entwickelung zu leiten und den Geist freier Selbstverwaltung, dem schon so viel vorgearbeitet ist, zu einer sicheren und dauernden Grundlage für unsere politische Befreiung zu machen.454

Als Berlin schließlich im Kaiserreich zu einem der städtischen Refugien des Liberalismus in einer zunehmend illiberalen politischen Umwelt wurde, erklärte Virchow diese Stadt zu einem Schaufenster des Liberalismus und unterstrich dazu insbesondere die beeindruckenden Erfolge der Stadtsanierung. Gegen die Angriffe Bismarcks und Stoeckers gewandt erklärte Virchow 1881 im Reichstag  : »Für uns ist dieses Berliner Stadtregiment die eigentliche Quelle unseres Ruhmes.«455 452 Kochhann, Aus den Tagebüchern, Bd. 3, S. 75 f.; Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht, S. 189 f. 453 Friedrich Seydel, Unsere Familie. Gesammeltes und Erlebtes, Halle a. d. S., als Ms. Gedruckt (um 1907), S. 149 f. 454 Virchow an Seydel, 14.5.1862, Druck  : ebenda, S. 131 f. 455 SBDR, 17. Sitzung am 15.12.1881, S. 408. Siehe auch die Ansprache Virchows zur Eröffnung des X. internationalen medizinischen Kongresses in Berlin, in  : Berliner Klinische Wochenschrift, Nr. 32 vom 11.8.1890, S. 721–724.

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Dies führt zurück zu dem eingangs erwähnten Paradox der liberalen Auffassung von Kommunalpolitik. Jan Palmowski zufolge hätte zwischen 1850 und 1900 eine Einschätzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung als »unpolitisch« die Zeitgenossen gewiss sehr erstaunt und wäre nur mittels einer extrem engen Definition von Politik möglich gewesen.456 Jedoch bildete eben ein solches Verständnis von Kommunalpolitik als »unpolitischer Politik« ein zentrales Element des liberalen Selbstverständnisses, womit zugleich versucht wurde, den zunehmend ausgeprägteren bürgerlichen Klassencharakter der kommunalen Selbstverwaltung457 zu ignorieren. Hierher gehörte auch die Auffassung, dass ein struktureller Unterschied von Kommunalpolitik und Politik auf Länder- oder Reichsebene existiere, wozu vor allem die zentrale Bedeutung der städtischen »Selbstverwaltung« gehörte.458 1891, bei einem gemeinsamen städtischen Fest für Virchow und den ehemaligen Berliner Oberbürgermeister Max von Forckenbeck, bei dem ersterem die Ehrenbürgerwürde Berlins verliehen wurde, erläuterte Virchow sein und zugleich auch das herrschende liberale Selbstverständnis von Kommunalpolitik  : Ich kann von mir eins wenigstens behaupten, dass ich nie dazu beigetragen, die städtischen Angelegenheiten im Sinne einer politischen Partei zu dirigiren (Sehr gut). Wir, und ich glaube, ich kann hier ›wir‹ sagen, wir können von uns sagen, wir haben nie Koterie oder Parteipolitik in die Stadt hineingetragen, wenn wir auch freisinnige Männer waren. Ich behaupte hier nach einer so langen Zeit des Dienstes, ich würde es nicht wagen, die Würde eines Ehrenbürgers anzunehmen, wenn ich nicht sagen könnte, wir haben ohne Rücksicht auf politische Zwecke immer nur ausgehend von dem Gedanken gehandelt, für das Beste der Stadt und des Vaterlandes zu wirken. (Stürmischer Beifall.)459

Das hier von Virchow exemplarisch artikulierte Modell einer städtischen, liberalen Honoratiorenpolitik, die sich jenseits der vorgeblichen Niederungen der Parteipolitik wähnte, geriet jedoch im Kaiserreich im Gefolge der Entstehung eines »politischen Massenmarktes«, der die strukturellen Bedingungen auch von Kommunalpolitik tiefgreifend 456 Palmowski, Urban Liberalism, S. 20. 457 Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung, S. 616. 458 James J. Sheehan, Liberalism and the City in Nineteenth Century Germany, in  : Past & Present 51 (1971), S. 116–137  ; vgl. auch Hartmut Pogge von Strandmann, The Liberal Power Monopoly in the Cities of Imperial Germany, in  : Larry E. Jones/James Retallack (Hg.), Elections, Mass Politics and Social Change in Modern Germany. New Perspectives, Cambridge u. a. 1992, S. 93–117  ; Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S. 182 f. Das Argument einer strukturellen Eigenständigkeit der Kommunalpolitik findet sich zuletzt auch wieder bei Karl Heinrich Pohl, Kommunen, kommunale Wahlen und die kommunale Wahlrechtspolitik  : Zur Bedeutung der Wahlrechtsfrage für die Kommunen und den deutschen Liberalismus, in  : Lässig/Pohl/ Retallack (Hg.), Modernisierung und Region im wilhelminischen Deutschland, S. 89–126  ; vgl. auch ders., Liberalismus und Bürgertum 1880–1918, S. 274 f. 459 National-Zeitung, Nr. 591 vom 22.10.1891, »Das städtische Fest für Forckenbeck und Virchow«.

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veränderte, in eine Krise.460 Nicht einmal mehr in Hochburgen wie Berlin waren die Liberalen ihrer bisherigen Stimmanteile sicher.461 In Kommunalwahlen beziehungsweise den Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus, in denen das Dreiklassenwahlrecht galt, blieb Berlin zwar eine Hochburg des Linksliberalismus. Bei den nach dem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht abgehaltenen Reichstagswahlen entwickelte sich dagegen die Sozialdemokratie bereits seit Anfang der siebziger Jahre zu einer ernsten Konkurrenz. 1883 beteiligten sich die Sozialdemokraten erstmals an den Berliner Stadtverordnetenwahlen, und gleich im ersten Anlauf gewannen sie einige Sitze. 1885 nahmen auch die Nationalliberalen, die sich erst im Vorjahr in dieser Stadt selbständig organisiert hatten, erstmals an Berliner Kommunalwahlen teil.462 So ging in Berlin auch die strukturelle Eigenständigkeit des kommunalen Liberalismus verloren, der eine zentrale Rechtfertigung für das Modell der »unpolitischen Politik« ebenso wie für die Wahlrechtsbeschränkungen auf kommunaler Ebene gebildet hatte.463 In einer 1884 veröffentlichten statistischen Übersicht über die Wahlergebnisse im Kaiserreich in Berlin wurden die Parteien erstens in »Fortschrittler«, zweitens »Antifortschrittler« beziehungsweise »Konservative« oder »Bürgerpartei« sowie drittens »Sozialdemokraten« beziehungsweise »Arbeiterpartei« eingeteilt  ; das Zentrum rangierte hier unter »ferner liefen«464. Darin spiegelte sich die Selbstwahrnehmung der Fortschrittsliberalen wider, die durch das Auftreten der Sozialdemokraten und der Stoeckerschen »Christlich-Sozialen Arbeiterpartei« tief erschreckt wurden. Zugleich zeigte sich hier die zunehmende politische Lagerbildung, wobei für Virchow seit den späten 1870er Jahren noch mehr als die Konservativen die Sozialdemokraten als Gegner im Mittelpunkt standen  : Diese betrachtete er nicht allein als Verfechter eines Polizeistaats, der die Unterdrückung selbst des konservativsten, absolutistisch regierten Staates in den Schatten stellen würde, sondern auch als Reservoir der »unreifen, halbwüchsigen und drittelwüchsigen« Wähler.465 Zwar gehörte Virchow in den 1880er Jahren zu der aus dem Kreis der demokratischen Linken innerhalb des Freisinns zusammengesetzten sozialpolitischen Ar460 Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1985, S. 131–139. 461 Siehe zum Folgenden Michael Erbe, Berlin im Kaiserreich (1871–1918), in  : Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins, Bd. 2  : Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, München, 2. durchges. Auflage 1988, S. 691–793, hier  : S. 770–777  ; Thomas Kühne, Handbuch der Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus 1867–1918. Wahlergebnisse, Wahlbündnisse und Wahlkandidaten, Düsseldorf 1994, S. 164–180  ; Hans  J. Reichhardt, Wahlen in Berlin 1809 bis 1967. Ein Überblick auf hundertsechzig Jahre Berliner Kommunalpolitik, hrsg. v. Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, Berlin 1970. Bei den Landtagswahlen traten die Sozialdemokraten dagegen in Berlin erstmals 1903 an. 462 Otto Hermes, Zu den Stadtverordnetenwahlen, Berlin 1887, S. 5 f. 463 Dies im Gegensatz zu Pohl, Kommunen, kommunale Wahlen und kommunale Wahlrechtspolitik. 464 Dr. A. Phillips (Hg.), Statistik der Wahlen in Berlin mit einer Karte der Reichstagswahlen von 1884 nach Stadtbezirken, Berlin 1884. Die zweite Kategorie verweist dabei auf unterschiedliche Konstellationen, da die Nationalliberalen teils mit den Linksliberalen, teils mit den Konservativen koalierten. 465 Ansprache Virchows auf der ersten Plenarsitzung des Parteitags der Fortschrittspartei am 24.11.1878, S. 22.

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Abb. 11  Flugblatt zu den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung am 18. Oktober 1883.

beitsgruppe, aus der heraus sich langfristig Perspektiven für eine Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie entwickelten. Jedoch blieb die Kluft zu den Sozialdemokraten für ihn wie für die meisten anderen Linksliberalen seiner Generation unüberwindlich, und so blieb er ablehnend gegenüber den seit den neunziger Jahren von jüngeren Linksliberalen wie Wilhelm Barth entwickelten Annäherungstendenzen von Liberalismus und Sozialdemokratie.466 Die veränderte politische Lage im Kaiserreich erzwang zudem Neuerungen des politischen Stils. So musste Virchow ebenso wie andere liberale Honoratioren seit Anfang der 1880er Jahre auch bei der Auseinandersetzung um Stadtverordnetensitze mit Flugblättern und öffentlichen Wahlveranstaltungen um Wählerstimmen kämpfen, während er 1859 noch gewählt werden konnte, ohne überhaupt zuvor von seiner Kandidatur erfahren zu haben. Zu der seit Anfang der achtziger Jahre verstärkt betriebenen Modernisierung des Wahlkampfstils467 gehörten auch Versuche der Charismatisierung Virchows  : Als liberale Führergestalt sollte er nun zu einem Anti-Bismarck aufgebaut werden. Dabei 466 Siehe dazu Kieseritzky, Liberalismus und Sozialstaat, S. 449–457. 467 Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur, S. 407.

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ließ sich auch auf seinen durch die Duellaffäre im Jahre 1865 erlangten öffentlichen Nimbus als herausragender Gegner des Reichskanzlers zurückgreifen. Ein wichtiges Element einer solchen charismatischen Stilisierung waren die »Virchow-Lieder«, die seither ein wichtiges Element seiner öffentlichen politischen Auftritte bildeten. So wurde 1881 eine Wahlkampfveranstaltung im Berliner »Tivoli« mit einem auf der Melodie des Deutschlandlieds gesungenen Virchow-Lied eröffnet.468 Und 1892 fand in Berlin eine freisinnige Festveranstaltung zu seinen Ehren statt, auf der zur Melodie von »Zu Mantua in Banden« ein von Albert Sachs gedichtetes Festlied gesungen wurde. Der letzte, von der Festversammlung stehend gesungene Vers lautete  : So führe Deine Scharen Stets neuen Siegen zu, Du Jüngling weiß an Haaren, Du »Marschall Vorwärts« Du  ! Wir stehen zu Dir, wo Du auch stehst, Wir folgen Dir, wohin Du gehst  ! Und um des Weltalls Runde Hallts wetterbrausend schier, Ein Gruß aus jedem Munde  : Heil  ! Rudolf Virchow, Dir  !

Virchow mit den Klängen des Hoferliedes zu feiern und dann mit Heilrufen zu schließen, kritisierten bereits manche Zeitgenossen als problematischen »Autoritätskultus und Verhimmelung«469. Allerdings eignete er sich ohnehin schlecht zum politischen Charismatiker, nicht nur, weil er mit seiner leisen und oft unverständlichen Stimme kein mitreißender Redner war,470 sondern auch, weil die dafür erforderliche charismatische Situation nicht gegeben war. Seit den 1880er Jahren gelang es der Fortschrittspartei und ihren Vertretern in Berlin immer weniger, sich weiter als eine über den gegensätzlichen Klasseninteressen stehende politische Kraft dazustellen, auch wenn diese weiterhin vor allem die angeblich von demagogischen Kräften künstlich unter die Wähler getragenen Zerklüftungen anprangerten. Der vorgeblichen Einheit von Volk und liberaler Partei standen mehr und mehr die Sozialdemokraten und konservative beziehungsweise antisemitische Kräfte entgegen, die nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Stadtverordnetenversammlung 468 Berliner Tageblatt, Nr. 500 vom 25.10.1881. Siehe auch ein gleichfalls auf der Melodie von »Deutschland, Deutschland über Alles« zu singendes Festlied, das Virchow zum 25-jährigen Abgeordneten-Jubiläum am 24.3.1887 von den Vertrauensmännern der Potsdamer Vorstadt gewidmet wurde  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2766, Bl. 30–32. 469 Konstanzer Zeitung, Nr. 265 vom 12.11.1892, »Deutschfreisinniges«. 470 Siehe dazu die Beschreibung Virchows als Redner bei Naunyn, Erinnerungen, S. 538.

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insbesondere auf die soziale Karte setzten, um die liberale Stadtherrschaft zu diffamieren. Den Startschuss zu einer heftigen Agitation gegen die führende Rolle der Fortschrittspartei in der Berliner Kommunalpolitik hatte Bismarck gegeben. Als seine Berliner Dienstwohnung zu der vielfach als unsozial kritisierten kommunalen Mietsteuer veranlagt wurde, nahm er dies 1881 zum Anlass, vor dem Reichstag gegen die Rolle der Fortschrittspartei in Berlin zu wettern  : Ja, ich glaube, es ist eine weltbekannte Sache, dass in Berlin der Fortschritt regiert, ein fortschrittlicher Ring die Stadt beherrscht, der garnicht zu durchbrechen ist. Wie kommt da irgend eine andere Partei auf  ? Sehen Sie bei den Wahlen, bei den Anstellungen, bei den Stadtverordneten – alle Instanzen gehören in ihrer Majorität der gleichen Fortschrittspartei an471.

Bismarck polarisierte den angeblich unsozialen Charakter der liberalen Stadtverwaltung gegenüber dem Staat als Retter der Armen, wobei er mit dem Begriff des »fortschrittlichen Rings« auf die von Korruptionsskandalen erschütterten Verhältnisse in New York anspielte.472 Solche Angriffe auf die liberale Stadtherrschaft in Berlin verbanden sich immer stärker mit antisemitischen Attacken, die Fortschrittsliberalismus und Judentum gleichsetzten. So wurde die Rede Bismarcks in 100.000 Exemplaren gedruckt und als Beilage zu der antisemitischen Ostendzeitung in allen Wohnungen Berlins verteilt, wobei sie als »Kanonenschuß zur Eröffnung der Schlacht gegen das Fortschrittsjudentum« kommentiert wurde.473 Solche Angriffe auf die, wie es hier weiter hieß, »jüdische Stadt­ clique« schlossen ausdrücklich auch Virchow ein, der sich schließlich genötigt sah, öffentlich zu erklären, kein Jude zu sein.474 Auf kommunaler Ebene wurden die bisherigen Strukturen der Honoratiorenpolitik zudem von der zunehmenden Professionalisierung und Bürokratisierung der städtischen Verwaltung sowie der Zentralisierung der Entscheidungsgewalt bei den Bürgermeistern betroffen. Diese Entwicklungen untergruben das bislang gültige Leitbild des städtischen Ehrenamtes, das die Stadtverwaltung in die Hände von Amateuren gelegt hatte.475 Virchow war dabei insofern eine Übergangsgestalt, als er das politische Honoratiorenmodell der städtischen Selbstverwaltung mit seinen spezifischen professionellen Kompetenzen verbinden konnte. 1895 erklärte er in seinem Rechenschaftsbericht auf 471 472 473 474 475

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SBDR, 9. Sitzung am 4. März 1881, S. 169. Siehe dazu auch Hermes, Zu den Stadtverordnetenwahlen, S. 2 f. Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht, S. 275. Zit. nach Hermes, Zu den Stadtverordnetenwahlen, S. 4. SBPAH, 84. Sitzung am 25.6.1883, S. 2116. Sheehan, Liberalism in the City  ; Wolfgang R. Krabbe, Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1989, S. 129–155  ; Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht, S. 217–221  ; Reulecke, Geschichte der Urbanisierung, S. 62  ; ders., Bildungsbürgertum und Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert, in  : Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV  : Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 122–145.

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einer Versammlung der liberalen Kommunalwähler der dritten Abteilung des 7. Berliner Wahlbezirkes, man »könne es ihm nicht verdenken, wenn er auch in der Stadtverordneten-Versammlung hauptsächlich als Mediziner wirke, der Uneingeweihte glaube nicht, wie vielfach er als solcher von der Stadt in Anspruch genommen werde und wie viele hygienische Einrichtungen Berlin besäße«476. So war er in dieser Zeit Mitglied in den Deputationen für Gesundheitspflege, für die Krankenanstalten, für die Statistik, für die innere Ausschmückung des neuen (roten) Rathauses sowie in der Verwaltung der Kanalisationswerke, der Direktion des Märkischen Provinzialmuseums, des Kuratoriums zur Verwaltung der Heimstätten für Genesende und der Sanitätskommission.477 In der Person Virchows verbanden sich so zwei moderne Tendenzen, die beide dem Modell des liberalen städtischen Honoratioren entgegengesetzt waren  : der wissenschaftliche Experte und – mit weitaus weniger Erfolg – der charismatische »Führer«478. Hinzu kam, dass er ein zentrales Kriterium des Honoratiorenmodells, nämlich das der »Abkömmlichkeit«, nur sehr begrenzt erfüllte. Auch Max Weber, dessen Vater seit 1869 besoldeter Stadtrat in Berlin gewesen war, zählte später die Leiter medizinischer Institute zu denjenigen Gruppen, die aufgrund mangelnder Abkömmlichkeit von ihren beruflichen Verpflichtungen nicht für eine Honoratiorenposition geeignet seien.479 So lassen sich an Virchow die wachsenden Schwierigkeiten des Modells der Honoratiorenpolitik deutlich erkennen. Die Überforderung der liberalen Honoratioren

Inwieweit unterschieden sich die strukturellen Bedingungen für Virchows politische Tätigkeit in Länderparlamenten beziehungsweise im Deutschen Reichstag von der kommunalen Ebene  ? Bei den Wahlen im Dezember 1861 zum Preußischen Abgeordnetenhaus, die nach dem indirekten Dreiklassenwahlrecht erfolgten, gehörte Virchow zu den erfolgreichsten Kandidaten der Fortschrittspartei. Da es möglich war, gleichzeitig in verschiedenen Wahlkreisen zu kandidieren, wurde er  – wie neben ihm nur noch drei andere Bewerber – gleich in drei Wahlkreisen gewählt, nämlich im zweiten und vierten Wahlbezirk in Berlin sowie im  – überwiegend katholischen  – Wahlkreis SaarbrückenOttweiler-St. Wendel.480 Er entschied sich für das saarländische Mandat und konnte dieses auch 1866 noch einmal erringen.481 476 Volks-Zeitung, Nr. 500 vom 24.10.1895, »Kleine Chronik«. 477 Heinz David, Rudolf Virchow und die Medizin des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Werner Selberg/Hans Hamm, München 1993, S. 261. 478 Vgl. dazu Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S. 32  : »Honoratioren waren weder Experten, noch Führer, sie waren politisch aktive Bürger.« 479 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 546 f. 480 Parisius, Deutschlands politische Parteien, S. 51. Vgl. dazu auch Boyd, Rudolf Virchow, S. 80. 481 Zum Ergebnis der Landtagswahlen 1866 im Wahlkreis Saarbrücken-Ottweiler-St. Wendel siehe Blackbourn, Marienerscheinungen in Marpingen, S. 131.

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Abb. 12  Litographie Rudolf Virchows von F. Hecht, vermutlich aus der Zeit des preußischen Verfassungskonflikts. Dreizeiliges Autograph Virchows  : »Es gibt keine höhere Treue, als die gegen/das Recht, und kein höheres Recht, als das der Wahrheit«.

Virchow widmete seinem saarländischen Wahlkreis während des preußischen Verfassungskonflikts große Aufmerksamkeit und veranstaltete dort vor anstehenden Wahlen regelrechte Wahlkampagnen, wobei er auch persönlich vor den Wählern und Urwählern auftrat. So schrieb er an Goldstücker, er habe im Oktober 1861 in Saarbrücken »Wahlagitation gemacht, anfangs mit großem Widerstreben, dann aber, als ich die überaus intelligente u. politisch (…) geschulte Bevölkerung kennen lernte, mit wirklichem Vergnügen.«482 Auch vor den Neuwahlen im folgenden Jahr unternahm er eine mehrtägige Wahlkampfreise in seinen saarländischen Wahlkreis, wo ihm in den verschiedenen dazugehörigen Gemeinden ein triumphaler Empfang bereitet wurde. Er wurde jeweils von Delegationen der einzelnen Gemeinden empfangen und zu den einzelnen Versammlungen der Wähler und Wahlmänner gebracht, wo er von den lokalen Bürgermeistern begrüßt wurde und wo dann »natürlich viel geredet, gesungen u. getrunken, Adressen edirt und empfangen u. alles höchst einig u. herzlich wurde«483. 482 Virchow an Goldstücker, 29.10.1861  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 483 R. Virchow an Rose Virchow, 23.10.1862  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 76  ; siehe auch R. Virchow an Rose Virchow, 24.10.1862  : ebenda, Bl. 77.

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Ähnlich wie die Abgeordnetenwahl verliefen auch die Wahlkampfveranstaltungen in der Form eines politischen Festes, bei dem die Teilnehmer den politischen Konsens »als Gruppenritual und Gruppenerlebnis zelebrierten«484. Doch fehlte hier im Gegensatz zu den sich später unter den Bedingungen des »politischen Massenmarktes« herausbildenden Formen noch das Moment der Konkurrenz verschiedener Parteien  : In den 1860er Jahren konnte die Fortschrittspartei in vielen Regionen Preußens als die Partei des Volkes überhaupt auftreten und dies durch Einheitsrituale untermauern. Umgekehrt versuchten die staatlichen Behörden in dieser Zeit und darüber hinaus, derartige Wahlveranstaltungen massiv zu behindern. Zur amtlichen Wahlbeeinflussung in Virchows saarländischem Wahlkreis gehörten nicht nur Versuche, Staatsbeamte und Staatsangestellte zu regierungstreuem Wahlverhalten anzuhalten, sondern auch disziplinarische Maßnahmen gegen Feuerwehrleute, die an einem festlichen Empfang für den Kandidaten teilgenommen hatten.485 1867 verzichtete Virchow vor den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus siegesgewiss auf einen Auftritt in seinem saarländischen Wahlkreis, und dies mag dazu beigetragen haben, dass er knapp gegen einen konservativen Herausforderer verlor, der von einer intensiven Regierungskampagne unterstützt worden war.486 Deshalb nahm er nunmehr das Mandat im dritten Berliner Wahlbezirk an – aufgrund des dort stark vertretenen Maschinenbaus einer der industriereichsten Bezirke des Landes mit starker Arbeiterbevölkerung–, den er bis 1902 regelmäßig wieder gewann. Bereits 1849, als er Berlin nach Würzburg verlassen hatte, war ihm versprochen worden, dass man ihn bei nächster Gelegenheit zum Abgeordneten machen werde,487 und nun war die Gelegenheit gekommen. In Berlin konnte er sich auf das liberale Vereinsnetzwerk stützen, das ihn bei seinen Wahlkampfauftritten tatkräftig unterstützte, während er zugleich durch regelmäßige öffentliche Rechenschaftsberichte bei Wahlmännerversammlungen den Kontakt zur politischen Basis zu halten suchte.488 Bereits seit den frühen sechziger Jahren vertrat Virchow ein ›modernes‹ Konzept von Wahlagitation und politischer Öffentlichkeit. Im August 1862 ließ sich die von den Fort484 Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur, S. 164. 485 Siehe dazu die ausführliche Schilderung Virchows in SBPAH, 9. Sitzung am 28.11.1863, S.  176  ; vgl. zu den politischen Verhältnissen im Saarland während des Verfassungskonflikts auch Blackbourn, Marienerscheinungen in Marpingen, S.  128–134  ; Josef Bellot, Hundert Jahre politisches Leben an der Saar unter preußischer Herrschaft (1815–1918), Bonn 1954, S. 162. Zur amtlichen Wahlmache in Preußen vgl. Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur, v. a. S. 50–61. 486 Kühne, Handbuch der Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus, S. 280  ; Boyd, Rudolf Virchow, S. 120. Auch 1870 scheiterte Virchow in seinem saarländischen Wahlkreis. 487 Berliner Börsen-Courier, Nr. 561 vom 7.11.1892, »Jubiläumsfeier der Landtagsabgeordneten Ludolf Parisius und Rudolf Virchow«. 488 Siehe dazu diverse Berichte über Auftritte Virchows auf Wahlmännerversammlungen in BrLHA, Rep. 30, Bln C Polizeipräsidium Berlin, Nr. 15533.

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schrittsliberalen beherrschte Budget-Commission des Preußischen Abgeordnetenhauses, der neben Virchow auch Franz Duncker, Heinrich von Sybel, Max von Forckenbeck und Karl Twesten angehörten, fotografieren. Dabei ging es bereits darum, das Medium der Fotografie als politisches Instrument zu nutzen, wie Virchows Kommentar an seine Frau verrät  : »Es ist ein Gesamtbild gemacht worden, das nach Aussage des Photographen sehr gelungen sei  : Ist das richtig, so muss es viel Absatz finden.«489 Der preußische Verfassungskonflikt, in den diese Episode fiel, war in vielerlei Hinsicht ein zentraler Einschnitt in der liberalen Erfahrungsbildung. Jenseits seiner großen Bedeutung für die verfassungspolitische Entwicklung Deutschlands veränderte er auch das Rollenverständnis des modernen Parlamentariers. Wie Virchows Korrespondenz zeigt, brachten ihn die zeitlichen Anforderungen des modernen Partei- und Parlamentsbetriebs, die während des Verfassungskonflikts ein Maximum erreichten, in erhebliche Schwierigkeiten, da er sowohl die Wissenschaft als seine Familie für längere Zeit hintanstellen musste. Auch auf dem scheinbaren Höhepunkt der liberalen Erfolge – noch bevor Bismarck als neuer Ministerpräsident berufen wurde – machte er sich keine großen Illusionen. So schrieb er seiner Frau am 27. August 1862 nach Sigmaringen, wo sie bei der Familie ihres Schwagers Seydel weilte  : Unsere politischen Aussichten sind eher unter, als über Null. Wir arbeiten, wie es scheint, rein für die Zukunft. Aber es kann auch jeder Tag einen Umschwung bringen, u. dann weiss die Nation, was sie soll u. will. Garibaldi’s Vordringen ist so ein unerwarteter Erfolg, dem leicht andere folgen können. Das Wichtige ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die wachsende Einsicht des Volkes, die Zunahme an politischer Bildung, die Bekanntschaft mit dem Staat. Und das schafft unsere langsame Arbeit sicherer, als der schnelle Gewinn einer stürmischen Session.490

Charakterisierte Virchow hier Politik als langfristige Erziehungsaufgabe, so rechtfertigte er seine anhaltende Abwesenheit von seiner Frau drei Wochen später mit aktuellen Notwendigkeiten. Dazu versuchte er ihr die privaten Konsequenzen seiner politischen Tätigkeit vor Augen zu führen, denn ein »starkes u. freies Deutschland wird auch die Familie erst zu echter behaglicher Ruhe des Genusses kommen lassen«. Seine Tröstungen gipfelten darin, dass allein die deutsche Einigung Sicherheit vor einem möglichen Angriff Frankreichs über den Rhein schaffen würde.491 Darin artikulierten sich die Ängste vor einer französischen Osterweiterung, die ein wichtiges Element der integrierenden Wirkung defensiv-nationaler Vorstellungen des Liberalismus in den sechziger Jahren bildeten.492 Die Überlastung mit Aufgaben veranlasste Virchow bereits im Oktober 1862 – 489 R. Virchow an Rose Virchow, 27.8.1862  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 60. 490 Ebenda. 491 R. Virchow an Rose Virchow, 17.9.1862  : PLM, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 70. 492 Siehe dazu zusammenfassend Hellmut Seier, Liberalismus und Bürgertum in Mitteleuropa 1850–1880. For-

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kurz nachdem Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten berufen worden war – in einem privaten Brief zu weitreichenden Schlussfolgerungen  : Aber eines ist mir klar geworden, was ich bis dahin bezweifelte, nämlich dass sich praktische Politik u. praktische Wissenschaft auf die Dauer nicht vereinigen lassen u. dass mir nur die Wahl der einen oder der anderen bleibt. Du weißt, wie sehr ich von äußeren Gelegenheiten abhängig bin, u. ich fühle, daß Fälle eintreten könnten, welche mir individuell nur die Wahl der praktischen Politik übrig ließen, aber ich wünsche u. hoffe es nicht. Vielmehr empfinde ich das lebhafte Bedürfnis, zur praktischen Wissenschaft zurückzukehren, u. meine Absicht geht dahin, in dem Maaße, als die Parteiorganisation fester wird, mich aus diesen Banden loszumachen u. anderen das Feld zu überlassen, welche mehr Zeit u. Neigung haben, alle jene persönlichen Beziehungen zu cultiviren, ohne welche sich, wie ich sehe, keine dauerhafte politische Wirksamkeit ausüben lässt.493

In der als Verfassungskonflikt bekannt gewordenen Auseinandersetzung um das Budgetrecht des preußischen Abgeordnetenhauses, die sich an der Frage des Militäretats entzündet hatte, stieß das liberale Modell der Honoratiorenpolitik somit an seine Grenzen. Diese Entwicklung wurde durch die von der preußischen Regierung provozierte schnelle Abfolge von Wahlen bewusst verschärft. Mehrfach führte dies dazu, dass Virchow zumindest im privaten Kreis seinen politischen Rückzug ankündigte. Nach dem Sieg Bismarcks in der Auseinandersetzung um die Indemnitätsvorlage, wodurch die Mehrheit des Preußischen Abgeordnetenhauses das Vorgehen des Ministerpräsidenten im Verfassungskonflikt nachträglich billigte, und der Abspaltung der Nationalliberalen von der Fortschrittspartei war Virchows politische Frustration so groß wie vielleicht nur noch 1849 nach dem Ende der Revolution, was sich auch in umfangreichen Reflexionen niederschlug. So weigerte er sich 1867, für den Reichstag des Norddeutschen Bundes zu kandidieren, dessen Verfassung er ohnehin abgelehnt hatte  :494 Jemand, der seit Jahren wie in einer Tretmühle gearbeitet hat, empfindet die Eröffnung des Reichstages, die ihn zunächst ungestört lässt, wie einen Tag der Erlösung. Es hat etwas persönlich so Angenehmes, Politiker a. D. zu sein, dass alle anderen Sorgen für Augenblicke schwinden. Ueberdies gibt es Zeiten, wo auch in der Politik die Naturkräfte z. B. die Gravitation mehr machen, als die Menschen, u. ich habe die Vorstellung, dass diese Zeit für uns gekommen ist.495

schung und Literatur seit 1970, in  : Lothar Gall (Hg.), Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1997, S. 131–229, hier  : S. 192 f. 493 Virchow an Goldstücker, 31.10.1862  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 494 Siehe Virchow an N. N., 18.11.1867  : StBB-PK, Slg. Darmstädter 3, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 7 f. Vgl. dazu auch Parisius, Die Deutsche Fortschrittspartei von 1861–1878, S. 22–25. 495 Virchow an Goldstücker, 24.2.1867  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425.

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Virchow sehnte sich wieder einmal nach der geordneten Welt der Wissenschaft, während der Kairos für mögliche politische Veränderungen scheinbar vorbeigegangen war. Im April 1867 schrieb er deshalb  : In den politischen Dingen habe ich nach u. nach mich von der harten Ekelkur erholt, die wir durchzumachen hatten. Ob ich mich für lange oder für immer ganz von der Politik zurückziehen werde, habe ich noch nicht ausgemacht, doch habe ich große Neigung dazu. Da ich keine Versuchung in mir verspüre, für die Revolution zu arbeiten, so betrachte ich meine Rolle unter der Regierung König Wilhelms als ziemlich abgeschlossen. Zum National-Liberalen bin ich verdorben, u. wenn ich für die Zukunft arbeiten muss, so thue ich es lieber im Wege der Wissenschaft, als in Pseudoparlamenten.496

Seine politische Reaktion ähnelte auch in anderer Hinsicht der Zeit am Ende der Revolutionsepoche  : Zunehmend löste er sich von der Tagespolitik und stellte sich auf lange Entwicklungsepochen in der Psychologie der Massen ein. Die lange Zeit, derer es nach dem »Abfall der Nationalen« seiner Meinung nach bedurfte, um wieder eine Sammlung der liberalen Kräfte vorzunehmen, wollte er lieber anders nutzen als zu mühsamer parlamentarischer Arbeit, und so dachte er 1867 daran, sich ganz aus der Parlaments-Jacke herauszuziehen. Ich kann es gegenwärtig noch nicht, weil die Opposition noch nicht hinreichend geschlossen ist, als das dort ein Austritt ihrer Sicherheit nicht nachtheilig werden könnte. Aber es ist mir eine drückende Last, u. ich empfinde es als eine unwürdige Fessel, mit einer Majorität, wie wir sie jetzt haben, verhandeln zu müssen. Meine anderen Aufgaben sind ungleich größer, u. ich werde den Tag grüßen, wo ich mich ihnen ganz hingeben, u. dann zugleich meiner Familie u. meinen Freunden leben kann.– Ein langer Sermon  ! Oft genug gehalten, u. doch noch immer fruchtlos  !497

Dass sich Virchow im Voraus bereit erklärt hatte, erneut für das Preußische Abgeordnetenhaus zu kandidieren, erschien ihm in diesem Jahr »fast wie eine Thorheit«, da er mit Schrecken dem Moment entgegensah, da er wieder seinen ehemaligen Parteifreunden gegenüberstehen würde, die sich nun in der Nationalliberalen Partei zusammengeschlossen hatten.498 Schließlich berief er sich aber auf sein politisches Pflichtgefühl, um zu begründen, dass er trotz alledem weiter in der Politik ausharrte. Das Gefühl der Verpflichtung zu öffentlicher politischer Tätigkeit bildete damit bei ihm noch Teil der bürgerlichen Identität, auch wenn ihm die daraus resultierende zeitliche Belastung oft unerträglich erschien. 496 Virchow an N. N., 3.4.1867, Druck  : Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. II, S. 482 f. 497 Virchow an Goldstücker, 17.5.1867  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425. 498 Virchow an Goldstücker, 9.10.1867  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2425.

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Angebote, auch für den Reichstag zu kandidieren, lehnte Virchow immer wieder ab, wobei er vor allem zeitliche Gründe geltend machte. Allerdings mochte er 1873, auf dem Höhepunkt des preußischen Kulturkampfs, in dem er wie schon im Verfassungskonflikt eine zentrale Rolle spielte, schon nicht mehr gänzlich ausschließen, doch »der Verlockung (zu) erliegen«, sofern erst einmal die Auseinandersetzungen um die Kirchenfragen und um die preußische Provinzialverfassung, die ihn zu dieser Zeit politisch hauptsächlich in Anspruch nahmen, einen gewissen Abschluss gefunden haben würden.499 Schließlich war es aber die von Hofprediger Adolf Stoecker ausgehende politische Herausforderung, die seinen Widerstand gegen eine Reichstagskandidatur überwand. Dabei litt Virchow unter der zunehmenden Verschärfung des Wahlkampfstils, die bei dieser Konkurrenz besonders scharf zu Tage trat, wie er 1881 kommentierte  : »Die Agitation hat eine Stärke und Formen angenommen, wie sie bisher fast gänzlich unbekannt bei uns waren.«500 Bei den folgenden Reichstagswahlen drei Jahre später wiederholte sich diese Erfahrung, und Virchow musste, wie er gegenüber Heinrich Schliemann klagte, »einen Tag um den anderen in eine Volksversammlung gehen, aber das Volk der Berliner ist jetzt so wankelmütig, wie die Achäer, und keine Athene tritt mir zur Seite. Ich muss also den Kampf gegen Hrn. Stoecker allein durchfechten.«501 Virchow artikulierte damit zugleich eine für politische Abgeordnetenkarrieren sehr bedeutsame neuartige Erfahrung. Wie er einem unbekannten Korrespondenzpartner mitteilte, begann »der überschwängliche Parlamentarismus des Fürsten Bismarck (…), den politischen Eifer zu schwächen und den Vorrath an Politikern zu erschöpfen«502. Damit wies er auf einen wichtigen Nebeneffekt der Parlamentarisierung des Deutschen Reiches hin, der die insgesamt noch wenig professionalisierte Fortschrittspartei empfindlich traf  : Die verstärkten personellen und sachlichen Anforderungen ließen sich aus dem begrenzten Reservoir an bürgerlichen Honoratioren, die wie Virchow Politik meist als Nebenberuf betrieben, immer schwerer befriedigen. Zwar blieb das honoratiorenpolitische Modell bis zum Ersten Weltkrieg Grundlage der liberalen Politik nicht nur auf kommunaler, sondern auch auf der Ebene der Landes- und Reichspolitik. Und so wird auch argumentiert, dass »sich die Honoratiorengesellschaft der Linksliberalen als flexibler und überlebensfähiger als oft behauptet« erwiesen habe.503 Jedoch zeigten sich schon früh die Grenzen der Funktionsfähigkeit dieses Politikmodells, was Virchow wiederholt thematisierte. So erklärte er bei seiner Gedenkrede auf den 1875 plötzlich verstorbenen Parteiführer der Fortschrittspartei Leopold Freiherr von Hoverbeck diesen zum Opfer der mit der verschärften Parlamentarisierung verbundenen Mehrbelastungen  : 499 Virchow an O. Fränkel, 13.11.1873  : StBB-PK, Slg. Darmstädter 3, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 90 f. 500 Virchow an Schliemann, 7.9.1881, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 276. 501 Virchow an Schliemann, 9.11.1884, Druck  : ebenda, S. 426. 502 Ebenda. 503 Hettling, Politische Bürgerlichkeit, v. a. S. 219.

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Der forcirte Parlamentarismus unserer Tage fordert die Arbeitstheilung. Wer die Politik nicht als Handwerk betreibt, der ist nicht mehr in der Lage, allen Ansprüchen des öffentlichen Lebens zu genügen. Selbst für die ausschließlichen Politiker ist es eine fast unerträgliche Anstrengung. Wenn das Wort wahr ist, was man (…) erzählt, es solle der Parlamentarismus durch den Parlamentarismus zerstört werden, so kann man sagen, daß es sich wirklich nicht bestätigt hat. Aber das ist wahr, dass der Parlamentarismus die Parlamentarier tödtet. Wie viele der teuersten Männer hat das Vaterland zu betrauern, die ihr Leben gelassen haben auf der Walstatt der parlamentarischen Kämpfe  ! Auch Hoverbecks stählerne Natur erlag den Anstrengungen.504

Nach dem Tod Hoverbecks begann der innerparteiliche Aufstieg Eugen Richters, der den Typus des Berufspolitikers verkörperte, an die Spitze der Fortschrittspartei. Als Konsequenz der in den späten 1870er Jahren einsetzenden Professionalisierung der Führungsspitze der Fortschrittspartei verringerte sich auch die anfänglich zentrale innerparteiliche Rolle Virchows mehr und mehr. Innerhalb der linksliberalen Parteiorganisation gehörte er zum engeren Führungskreis, der sich aus den in Berlin ansässigen führenden Liberalen zusammensetzte. Eine wichtige Rolle spielte dabei das enge Verhältnis zu dem politischen Journalisten und Parteisekretär Ludolf Parisius, mit dem er denselben Berliner Landtagswahlkreis teilte. Allerdings konnte sich Virchow in späteren Jahren aufgrund seiner beschränkten Abkömmlichkeit nur begrenzt an den laufenden Geschäften der Parteiführung beteiligen. In den späteren Jahren agierte er immer mehr nur noch als Galionsfigur und wurde deshalb 1891 von der den Nationalliberalen nahestehenden Kölnischen Zeitung spöttisch zum »weißen Elefant der Partei«505 erklärt. Bereits von Anfang an war Virchow Mitglied des Zentralwahlkomitees der Fortschrittspartei gewesen, das deren Kurs zwischen den Parteitagen bestimmte, und auch dem 1866 gegründeten engeren geschäftsführenden Ausschuss der Fortschrittspartei gehörte er an.506 Seit ihrer Neuorganisation im November 1878 amtierte er als stellvertretender Vorsitzender des Zentralwahlkomitees. Zudem war er unter den drei Abgeordneten, die dem geschäftsführenden Ausschuss der Fortschrittspartei in wichtigen politischen Fragen hinzutraten. Virchow hatte im Gegensatz zu Richter die 1884 erfolgte Fusion von Fortschrittspartei und Liberaler Vereinigung zur deutsch-freisinnigen Partei gewünscht.507 In 504 Gedächtnisrede Virchows auf Leopold Freiherr v. Hoverbeck. 505 Kölnische Zeitung (MA), Nr. 388 vom 12.5.1891, »Abgeordneter Dr. Virchow«. 506 Parisius, Deutschlands politische Parteien, v. a. S. 43 u. 81 f. Zur linksliberalen Parteiorganisation vgl. auch Ursula Steinbrecher, Liberale Parteiorganisation unter Berücksichtigung des Linksliberalismus 1871–1893. Ein Beitrag zur deutschen Parteigeschichte, Köln 1960  ; Ina S. Lorenz, Eugen Richter. Der entschiedene Liberalismus in Wilhelminischer Zeit 1871–1906, Husum 1981  ; von Kieseritzky, Liberalismus und Sozialstaat, S. 145–158. 507 Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien, S. 204. Dagegen schreibt Byron A. Boyd, dass Virchow an der Vorbereitung des organisatorischen Zusammenschlusses 1884 nicht beteiligt gewesen sei, was seinen gesunkenen innerparteilichen Stellenwert deutlich mache. (Boyd, Rudolf Virchow, S. 211.).

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der neuen Partei wurde er zweiter Stellvertreter des Vorsitzenden des Centralkomitees sowie stellvertretender Vorsitzender des weiteren geschäftsführenden Ausschusses,508 doch lag die Macht mehr und mehr bei Richter. Virchow unterstützte diesen loyal bei seinem Kurs, der die Linksliberalen nicht auf den Weg einer Volkspartei, sondern einer elitären mittelständischen Programmpartei führte. So kam er diesem nicht nur bei der Parteikrise der Deutsch-Freisinnigen 1890 zur Hilfe, sondern trug auch die 1893 erfolgte Abspaltung der Freisinnigen Volkspartei mit, in der er aber keine Parteiämter mehr übernahm.509 Neben individuellen Gründen zeichnete sich hierin aber auch die schon von Max Weber beschriebene allgemeine Tendenz ab, wonach »führende Männer der Wissenschaft« und andere Honoratioren nur noch als »Reklamemittel« von Bedeutung waren, während die praktische Arbeit mehr und mehr in die Hände bezahlter Parteiangestellter überging.510 Virchow akzeptierte, dass es erforderlich war, die Parlaments- und Parteitätigkeit zu professionalisieren. Dass er aber trotzdem seine parlamentarische Tätigkeit nicht stärker beschränkte, sondern auf Drängen seiner Partei sogar noch ausweitete, indem er 1880 zusätzlich ein Berliner Reichstagsmandat annahm, lag nicht nur an der durch die Kandidatur Stoeckers aufgetretenen konkreten politischen Bedrohung. Vielmehr hatte dies auch mit dem Mangel an geeigneten Kräften zu tun, da die Linksliberalen für den politischen Nachwuchs zunehmend unattraktiver wurden. Anfang der 1890er Jahre beklagte Virchow die personellen Schwierigkeiten seiner Partei  : Die Zahl der Abgeordneten, welche für agitatorische Thätigkeit zu haben sind, verkleinert sich in dem Maaße, als die Ansprüche an eine solche Thätigkeit sich weit über die Leistungsfähigkeit steigern. (…) Sie dürfen nicht vergessen, dass eine Partei, welche 30 Jahre lang in der Opposition steht, keinen großen Vorrath an Männern haben kann, welche sich ausschließlich mit Politik beschäftigen – Jedenfalls gehöre ich zu diesen Männern nicht. Das wissen Sie u. jedermann. Passt das den Wählern nicht, so bin ich gern bereit, auf eine Wiederwahl zu verzichten. Ich habe andere Aufgaben im Dienste der Menschheit zu erfüllen u. es giebt viele gute Männer, welche die Meinung haben, es wäre nützlicher gewesen, wenn ich mich auf diese Aufgaben beschränkt hätte. Wahrscheinlich hätte ich es auch gethan, wenn ich nicht erwartet hätte, dass die Wähler mit der Zeit lernen würden, sich über ihre Angelegenheiten selbst zu unterhalten.511

Linksliberale und Nationalliberalen fanden immer schwerer geeignete Kandidaten, die bereit waren, politische Verantwortung und Aufgaben zu übernehmen.512 Neben der mit 508 Freisinnige Zeitung, Nr. 249 vom 22.10.1893, »Parteinachrichten«. Vgl. auch Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien, S. 176–231  ; Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S. 184–220. 509 Boyd, Rudolf Virchow, v. a. S. 233 f. u. 241 f. 510 Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in  : ders., Gesammelte politische Schriften, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 51988, S. 306–443, hier  : S. 329. 511 Virchow an Neckes, 4.6.1891  : StBB-PK, Slg. Darmstädter 3, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 266 f. 512 Vgl. dazu auch die zeitgenössische Analyse bei Georg Brandes, »Die geringe Anziehungskraft der Politik«,

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einer Abgeordnetentätigkeit verbundenen wachsenden zeitlichen Belastung hatte dies auch mit der Empfindung zu tun, dass der Ton und Stil der politischen Aktivität nicht mehr länger mit dem Selbstverständnis einer respektablen bürgerlichen Existenz verträglich waren, wodurch das liberale Modell der Honoratiorenpolitik an der Wurzel getroffen wurde.513 Dies mündete schließlich 1908 in eine von Werner Sombart ausgelöste Debatte, der seine Analyse zugrunde lag, wonach der Anspruch auf »Persönlichkeit« und öffentliche politische Betätigung in einen Widerspruch geraten seien.514 Für Virchow gehörte zwar beides noch zusammen, doch brachte dies erhebliche persönliche Belastungen mit sich. Während Virchow die Überforderung des traditionellen Honoratiorenmodells an seinem eigenen Beispiel deutlich vor Augen hatte, fühlte er sich vor allem durch den Mangel an geeignetem Personal immer wieder genötigt, sich erneut vor den Karren seiner Partei spannen zu lassen. »Pflichtgefühl« bildete im bürgerlichen Wertehaushalt des 19.  Jahrhunderts einen nicht zu unterschätzenden Posten. So erklärte er im Juni 1893 auf einer Wahlkampfrede für die bevorstehenden Reichstagswahlen, jemand habe ihm geschrieben, dass er nun doch besser zu Hause bleiben solle, »er müsse doch einsehen, dass er kein Politiker sei. Nun gäbe er zu, dass er kein Berufspolitiker sei, ein solcher sei in der freisinnigen Partei nur Eugen Richter. Da aber ein solcher Mangel an Berufspolitikern herrsche, so habe er sich zu einer nochmaligen Candidatur verstanden und wolle auch auf seinem Posten ausharren.«515 Jedoch verlor Virchow diese Wahl gegen den sozialdemokratischen Kandidaten, was er unter anderem mit einem Rücktritt von allen Parteiämtern quittierte.516 Hier überschnitten sich somit mehrere Entwicklungstendenzen  : die Krise des Liberalismus und der gegenläufige Aufstieg der Sozialdemokratie, die Professionalisierung der Politik und das daraus resultierende wachsende Spannungsverhältnis zum liberalen Modell der auf »Persönlichkeit«, »Bildung« und »Unabhängigkeit« gegründeten Politik als Nebenberuf sowie schließlich auch der Rückgang der Bedeutung naturwissenschaftli31. Juli 1881, in  : ders., Berlin als deutsche Reichshauptstadt. Erinnerungen aus den Jahren 1877–1883, hrsg. v. Erik M. Christensen/Hans-Dieter Loock, Berlin 1989, S. 455–458. 513 Sheehan, Der deutsche Liberalismus, S. 256 f.; zur Krise der Honoratiorenpolitik vgl. auch Geoff Eley, Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, London 1980, S. 19– 40  ; ders., Notable Politics, the Crisis of German Liberalism, and the Electoral Transition of the 1890’s, in  : Konrad  H. Jarausch/Larry Eugene Jones (Hg.), In Search of a Liberal Germany. Studies in the History of German Liberalism from 1789 to the Present, S. 187–216  ; Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 200–211. 514 Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S. 233–241  ; Friedrich Lenger, Die Abkehr der Gebildeten von der Politik. Werner Sombart und der »Morgen«, in  : Gangolf Hübinger/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1993, S. 62–77, hier v. a. S. 68–73  ; ders., Werner Sombart 1863– 1941, München 1994, S. 154–162. 515 Berliner Börsen-Courier, Nr. 287 vom 22.6.1893. 516 Boyd, Rudolf Virchow, S. 244.

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Abb. 13  »Freisinnige Zukunftsbilder«. Politischer Bilderbogen No. 3, Dresden 1892.

cher Gelehrtenpolitiker. Vor allem in den sechziger, aber auch noch in den siebziger Jahren hatten Naturwissenschaftler und Ärzte noch eine wichtige Rolle unter den Führern der Liberalen gespielt, doch traf dies seit den achtziger Jahren zunehmend weniger zu.517 Worin hatte die besondere Rolle dieser Gruppe für liberale Politik bestanden  ? Welche Bedeutung hatte ihre professionelle Rolle als Naturwissenschaftler und Ärzte für ihre politische Autorität und Kompetenz gespielt  ? Und inwieweit ergab sich hier schließlich ein spezieller Beitrag für einen liberalen Politikstil  ? Diesen Fragen wendet sich der nächste Abschnitt am Beispiel von Virchows Abgeordnetentätigkeit zu. 3.2.2 Naturwissenschaftliche »Wahrheit« und Politik

Im Folgenden soll es nicht darum gehen, Virchows über mehr als vier Jahrzehnte ausgeübte politische und parlamentarische Tätigkeit detailliert zu beschreiben, würde dies 517 Vgl. Konrad Jarausch, The Decline of Liberal Professionalism. Reflections on the Social Erosion of German Liberalism, 1867–1933, in  : ders./Jones (Hg.), In Search of a Liberal Germany, S. 261–286, hier v. a. S. 270–273  ; Weindling, Bourgeois Values, Doctors, and the State, S. 198–223.

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doch bedeuten, eine Geschichte des Linksliberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verfassen. Vielmehr steht hier die Frage im Mittelpunkt, welche Bedeutung die für ihn charakteristische Verknüpfung von politischer Tätigkeit und wissenschaftlicher Autorität für die Frage nach dem Stil liberaler Politik in diesem Zeitabschnitt besaß. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Frage nach dem liberalen Gehalt seines Politikstils zu stellen  : Zunächst lässt sich erörtern, inwieweit dieser im Zusammenhang mit spezifisch liberalen Inhalten stand. Während dies bei den klassischen politischen Großkonflikten wie dem Verfassungskonflikt und dem Kulturkampf in Preußen, wo zentrale Punkte der liberalen Agenda unmittelbar betroffen waren, auf der Hand liegt, ist dies bei anderen Themen wie der Stadtsanierung schwerer zu beantworten. Virchow selbst erklärte 1889 in einer Wahlrede in seinem Wahlbezirk als Stadtverordneter der dritten Abteilung in Berlin, »man pflastere Straßen nicht politisch und baue auch keine Krankenhäuser nach politischen oder religiösen Gesichtspunkten, sondern lasse sich nur von Gesichtspunkten des allgemeinen Nutzens leiten. (…) Man könne natürlich seine politische Meinung nicht abknöpfen, wie einen Ueberrock«, doch könne die Stadtverordnetenversammlung »als Muster der Objektivität und Unbefangenheit betrachtet werden«518. Dabei stellt sich jedoch auch die Frage, inwieweit hier politische Gesichtspunkte lediglich als Sachlogik ausgegeben wurden.519 Und inwieweit versuchte Virchow bestimmte Themen zu entpolitisieren, indem er sie auf das Gebiet wissenschaftlicher Expertise verschob  ? Zudem lässt sich aber auch fragen, inwieweit der Stil der Entscheidungsfindung selbst eine politische Qualität besaß. In welcher Weise wurden also scheinbar unpolitische Projekte legitimiert und durchgesetzt, und welche Rolle spielte dabei Virchows naturwissenschaftliche Expertenrolle  ? Und was lässt sich daraus über das liberale Politikverständnis sowie über das Potenzial liberaler Gesellschafts- und Sozialreform erfahren  ? Es geht hier also vor allem um Veränderungen des Liberalismus im Spannungsfeld zwischen dem Modell der auf Honoratioren basierenden »unpolitischen Politik« einerseits und dem Aufkommen des modernen, professionellen Experten andererseits. Im Folgenden soll argumentiert werden, dass Virchow seinen eigenen Beitrag zu jenem Reformprozess, der auf die Liberalisierung der politischen und gesellschaftlichen Strukturen Preußens beziehungsweise Deutschlands zielte, mehr und mehr auf die von ihm selbst so bezeichnete »halbpolitische Tätigkeit«520 konzentrierte. Dabei zeigt Virchows Politikstil vor allem auf kommunaler Ebene, aber auch auf der Ebene der Landes- und Reichspolitik eine deutliche Tendenz, politische Fragen nicht als politische Wertentscheidungen, sondern als wissenschaftliche Sachentscheidungen zu formulieren. Eine entscheidende Frage ist, in welcher Weise sich dabei die Legitimation politischer Entscheidungen veränderte. Jürgen Habermas definierte idealtypisch drei Modelle des 518 Freisinnige Zeitung, Nr. 243 vom 17.10.1889. 519 Vgl. Hermann Lübbe, Zur politischen Theorie der Technokratie, in  : Der Staat 1 (1962), S. 19–38, hier S. 38. 520 Virchow, Zur Erinnerung, S. 5.

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Verhältnisses von Wissenschaft und Politik. Er unterscheidet dabei ein dezisionistisches, ein technokratisches und ein pragmatistisches Modell. Das dezisionistische Modell basiert auf der strikten Trennung der Funktionen des Experten und des Politikers. Letzterer bediene sich dabei zwar des technischen Wissens, doch handle es sich bei einer politischen Entscheidung um eine willkürliche Auswahl aus mehreren konkurrierenden und letztlich nicht rational begründbaren Wertordnungen und Glaubensmächten. In neuerer Zeit, so Habermas, sei das Verhältnis von Fachwissen und politischer Praxis hingegen durch das technokratische Modell abgelöst worden, bei dem der Politiker zum Vollzugsorgan der wissenschaftlichen Expertise werde. Diesen beiden Modellen, die das Verhältnis von Wissenschaft und Politik konträr ordnen, stellt er schließlich das pragmatistische Konzept gegenüber, das ihm als das adäquate Modell für die Demokratie gilt. Dort herrsche »anstelle einer strikten Trennung der Funktionen des Sachverständigen und des Politikers« ein »kritisches Wechselverhältnis«521, womit er der politischen Öffentlichkeit eine wesentliche Rolle bei solchen Aushandlungsprozessen zuweist. Mit Hilfe dieser Typologie soll nun untersucht werden, welche Rolle Wissenschaft bei Virchow als Faktor beziehungsweise als Modell politischer Entscheidungsverfahren spielte. Daran schließt sich die Frage an, in welcher Weise Virchow die Wertmaßstäbe begründete, aufgrund derer politische Entscheidungen im Konfliktfall zu treffen waren. Hier stellt sich das für den Liberalismus zentrale Problem, wie Virchow mit dem für moderne Gesellschaften charakteristischen Pluralismus umging, d. h. dem Umstand, »dass es eine Vielzahl vernünftiger und gleichwohl miteinander unvereinbarer Konzeptionen des Guten gibt«522. Inwieweit kollidierte also die Berufung auf die mit naturwissenschaftlichen Mitteln begründete »Wahrheit« in politischen Konflikten mit pluralistischen Werten  ? Unter diesen Gesichtspunkten werden im Folgenden exemplarisch einige politische Konflikte gemustert, in denen Virchow eine besondere Rolle spielte. Der preußische Verfassungskonflikt

Der von 1862 bis 1866 ausgetragene preußische Verfassungskonflikt gilt bis heute vielfach als eine Weichenstellung in der Geschichte des deutschen Liberalismus. Der Konflikt endete durch die von der Mehrheit der liberalen Abgeordneten erteilte parlamentarische Indemnität, mit der das außerkonstitutionelle Vorgehen des preußischen Ministerpräsidenten in der Frage des Militäretats nachträglich gebilligt wurde und die zugleich die Aussöhnung eines Teils der Liberalen mit Bismarcks kleindeutschem, semikonstitutionellem Reich markierte. Dies wurde lange Zeit je nach politischer Perspektive als Ge521 Jürgen Habermas, Verwissenschaftliche Politik und öffentliche Meinung, in  : ders., Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a. M. 111981, S. 120–145, hier  : S. 126  ; vgl. dazu auch Wolfgang Schluchter, Wertfreiheit und Verantwortungsethik. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei Max Weber, in  : ders., Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt a. M. 1980, S. 41–74, hier v. a. S. 48 f. 522 Winfried Hinsch, Einleitung, in  : John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, hrsg. v. W. Hinsch, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S. 9–44, hier  : S. 25.

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bot des politischen Realismus oder als ein Akt liberaler Selbstpreisgabe angesehen.523 Dementsprechend wechselt das Bild Virchows, der sich dieser Aussöhnung mit Bismarck widersetzte, wahlweise vom störrischen Prinzipienpolitiker524 zum Fels in der Brandung des liberalen Opportunismus.525 Die Folie dieser Interpretation bildet das Modell des deutschen »Sonderwegs« sowie die damit eng zusammengehörige Interpretation einer mit dem Ende des Verfassungskonflikts einsetzenden Agonie eines geschwächten deutschen Liberalismus. Beides ist allerdings schon seit längerem umstritten.526 Mit Blick auf die individuelle Erfahrungsbildung bei Virchow lässt sich die Rede vom Verfassungskonflikt als Weichenstellung zunächst bekräftigen. Doch wird das Problem der langfristigen Bedeutung dieser Auseinandersetzung im Folgenden aus einer anderen Perspektive thematisiert. Die Konfrontation zwischen Virchow und Bismarck im preußischen Verfassungskonflikt soll hier unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik betrachtet werden. Die beiden Kontrahenten verkörpern exemplarisch zwei gegensätzliche Modelle dieses Verhältnisses, die während dieses Konflikts aufeinander prallten. Auf der einen Seite forderte Bismarck, der stets den potentiellen Wissenschaftscharakter von Politik bestritt,527 die Professionalisierung der Außenpolitik, wie sie von ihm selbst verkörpert wurde. Deshalb attackierte er immer wieder, etwa 1863 während der Schleswig-Holstein-Krise, den außenpolitischen Dilettantismus Virchows und anderer Fortschrittsliberaler.528 Damit wies er zugleich die fortschrittsliberale For523 Vgl. dazu die Überblicke bei Seier, Liberalismus und Bürgertum in Mitteleuropa 1850–1880, S. 133–147 u. 159–163 sowie Elisabeth Fehrenbach, Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815–1871, München 1992, hier S. 56–70 u. 92–119. Vgl. auch Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 93–104, hier v. a. S. 95  ; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.  3, Stuttgart 31988, S.  281–369  ; Rolf Helfert, Der preußische Liberalismus und die Heeresreform von 1860, Bonn 1989  ; zu Virchows Rolle im Verfassungskonflikt vgl. v. a. Boyd, Rudolf Virchow, S. 89–112  ; Biefang, National-preußisch oder deutschnational  ?  ; ders., Die Deutsche Fortschrittspartei in Preußen und das Problem der Kriegskredite. Aufzeichnungen über vier Fraktionssitzungen im Dezember 1863, in  : Jahrbuch zur Liberalismusforschung, 8 (1996), S. 89–120  ; sowie die aus der Perspektive eines Teilnehmers verfasste Darstellung von Ludolf Parisius, Leopold Freiherr von Hoverbeck. Ein Beitrag zur vaterländischen Geschichte, Bd. 2/1  : Verfassungskampf und budgetloses Regiment. Von 1862 bis zum dänischen Kriege, Berlin 1898  ; Bd. 2/2  : Ende des Verfassungskampfes und Reichstag. Von 1864 bis 1875, Berlin 1900. 524 So vor allem bei Winkler, Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat. 525 So etwa Manfred Vasold, Rudolf Virchow. Der große Arzt und Politiker, Stuttgart 1988, S. 196–225  ; ähnlich auch Ackerknecht, Rudolf Virchow  ; Boyd, Rudolf Virchow. 526 Siehe v. a. Eley, Liberalism, Europe, and the Bourgeoisie, S. 293 ff. Die Herauslösung der Liberalismusgeschichte aus dem Prokustesbett der Sonderwegsdebatte forcierte insbesondere Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988. Gegen die Niedergangsgeschichte des Liberalismus argumentiert auch der Band von Jarausch/Jones (Hg.), In Search of a Liberal Germany. 527 Gall, Bismarck, S. 23. 528 SBPAH, 19. Sitzung am 18.12.1863, S.  507. Diese Auffassung findet sich auch bei Winkler, Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat, S. 12.

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derung nach mehr Transparenz der Außenpolitik zurück. Dem stellte sich Virchow entgegen, indem er zugleich seine Autorität als Naturwissenschaftler zugunsten der Stellung des Parlaments mobilisierte. Dazu operierte er mit einem diskursiven Gegensatz  : Auf der einen Seite stand dabei »Wahrheit« und »Öffentlichkeit«, auf der anderen dagegen »Unwahrheit«, »Geheimnis« und »Täuschung«, womit er die von Bismarck vertretene Geheimdiplomatie belegte.529 1865 brach dieser Konflikt anlässlich der Debatte um eine Gesetzesvorlage der preußischen Regierung zum außerordentlichen Geldbedarf der Militär- und Marineverwaltung offen aus. Inhaltlich ging es dabei darum, dass die Regierung das Preußische Abgeordnetenhaus aufforderte, eine Anleihe zum Ausbau der Marine zu bewilligen. Die Fortschrittspartei war dazu prinzipiell bereit, jedoch nur unter der Voraussetzung der Anerkennung des parlamentarischen Haushaltsbewilligungsrechts. Bismarck diffamierte diese von der zuständigen parlamentarischen Kommission formulierte Stellungnahme als Verweigerung der erforderlichen Mittel und somit als unpatriotische Handlung. Virchow als dafür verantwortlicher Ausschussvorsitzender konterte damit, dass der Ministerpräsident den Bericht der Kommission entweder nicht vollständig gelesen habe oder aber nicht die Wahrheit sage,530 womit er ihn indirekt der Lüge bezichtigte. Nachdem sich die beiden nicht auf die Form einer von Bismarck verlangten Entschuldigung einigen konnten, forderte dieser Virchow zum Duell. Für diesen Vorgang existierte als Vorbild der 1861 ausgeführte Waffengang zwischen Virchows Fraktionskollegen Karl Twesten und dem Chef des Preußischen Militärkabinetts, Generalmajor Edwin Baron von Manteuffel, der sich durch eine politische Kritik Twestens in seiner Ehre gekränkt sah und diesen daraufhin gefordert hatte.531 Dagegen lehnte Virchow Duelle grundsätzlich ab. Zudem wollte er die Auseinandersetzung im Rahmen des Entstehungskontexts des Konflikts lösen und verteidigte damit auch das Recht der Meinungsfreiheit des Parlamentariers.532 Bismarck hingegen sah hier einen Angriff auf seine Persönlichkeit und forderte, diese Angelegenheit außerhalb des Parlaments auszutragen. Auf beiden Seiten zeigten sich somit nicht allein unterschiedliche Konzepte der Ehre, sondern auch ein unterschiedliches Verhältnis zur Stellung der parlamentarischen Kritik.533 Nicht zuletzt ging es hier aber um die grundsätzliche Frage, in welcher Weise »Wahrheit« und »Lüge« sanktioniert und »Vertrauen« hergestellt werden könne  : Auf der einen Seite stand – vertreten durch Bismarck – ein Modell, 529 Siehe etwa Rede Virchows, SBPAH, 5. Sitzung am 7.5.1867, S. 51. 530 SBPAH, 62. Sitzung am 2.6.1865, S. 1885. 531 Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991, S. 169. 532 SBPAH, 71. Sitzung am 17.6.1865, S. 2249–2252. 533 Vgl. dazu v. a. M. Rainer Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in  : ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 270–285, hier  : S. 279 f. Demzufolge bilde die parlamentarische Indemnität einen Extremfall des Grundsatzes, wonach »Kritik von einem Angehörigen der Profession im Rahmen der Profession (…) kompetente Kritik« sei.

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das »Wahrheit« und »Vertrauen« mit ständischer Ehre verknüpfte, insofern es an einen aristokratischen Ehrenkodex gebunden war. Auf der anderen Seite stand hingegen – vertreten durch Virchow  – die Forderung, »Wahrheit« und »Vertrauen« auf empirische Überprüfung von Fakten unter Beachtung logischer Regeln zu stützen. Damit wurde das Modell der modernen Naturwissenschaft zum impliziten Maßstab. Während aber im Zuge der Entstehung der modernen Naturwissenschaft im England des 17. Jahrhunderts die Wahrheit des Experiments gerade durch die persönliche Integrität des Gentlemans garantiert worden war,534 stand hier der von Bismarck vertretenen Einheit von persönlicher Integrität und »Wahrheit« ein Modell entgegen, das »Wahrheit« nicht mehr an die persönliche Glaubhaftigkeit des Urhebers, sondern an universale Grundsätze von »Wissenschaftlichkeit« zurückzubinden suchte. Über diesen Vorgang entstand die öffentliche Legende, dass Virchow zwar das Duell angenommen habe, aber gleichzeitig statt Säbel oder Pistole den Kampf mit einer trichinösen Wurst vorgeschlagen habe.535 In diesem populären Mythos schlug sich vermutlich die Erfahrung nieder, dass Virchow in die Debatten des preußischen Abgeordnetenhauses einen naturwissenschaftlichen Ton hereingetragen hatte, der von ausführlichen Exkursen über die physiologische Rolle des Salzes im Zusammenhang von Debatten über die Salzbesteuerung536 bis hin zu eher peripheren Ausführungen über die physikalischen Ursachen der lästigen Zugluft im Sitzungssaale reichte.537 Damit brachte er neben dem Anspruch auf »Wahrheit« zugleich die Autorität des Naturwissenschaftlers in seine Rolle als Parlamentarier ein, die er dem Selbstverständnis Bismarcks als professioneller Diplomat während des Verfassungskonflikts und auch darüber hinaus entgegenstellte. Virchow begriff Demokratie damit als »Wahrheitspolitik«538, wobei auf diese Weise der Bereich der Politik und der Wissenschaft nicht auseinandergehalten, sondern der naturwissenschaftliche Wahrheitsanspruch dem Politischen als Maßstab zugrunde gelegt wurde. Dieser Wahrheitsdiskurs spielte am Ausgang des Verfassungskonflikts eine wichtige Rolle für den Bruch zwischen den beiden Lagern des Liberalismus. In seiner 1866 ver534 Shapin, A Social History of Truth. 535 Vgl. dazu auch Hella Machetanz, Die Duell-Forderung Bismarcks an Virchow im Jahre 1865, ErlangenNürnberg (med. Diss.) 1977  ; dies., Trichinen und die Duell-Forderung Bismarcks an Virchow im Jahre 1865, in  : Medizinhistorisches Journal 13 (1978), S. 297–306. Machetanz, die sich mit diesem Gerücht intensiv auseinandersetzt, gelang es aber nicht, dessen Ursprünge zu lokalisieren. Vgl. zum Duell auch Norbert Elias, Die satisfaktionsfähige Gesellschaft, in  : ders., Studien über die Deutschen, S. 61–158  ; Frevert, Ehrenmänner. 536 Siehe z. B. SBPAH, 27. Sitzung am 24.3.1865, S. 731 f. 537 SBPAH, 35. Sitzung am 11.8.1862, S. 1179. 538 Demgegenüber versucht John Rawls in seiner Begründung des Liberalismus »Gerechtigkeit« und »Wahrheit« auseinanderzuhalten und weist sie unterschiedlichen Bereichen, nämlich einerseits der Politik und andererseits der Philosophie zu. (Rawls, Gerechtigkeit als Fairness  : politisch, nicht metaphysisch, in  : ders., Die Idee des politischen Liberalismus, S. 255–292.).

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öffentlichten Studie Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik begründete Hermann Baumgarten den Schwenk eines Teils der Liberalen zu Bismarck und damit das Ende des seit 1861 bestehenden Bündnisses zwischen Demokraten und gemäßigten Liberalen in der preußischen Fortschrittspartei, das bald darauf in die Gründung der Nationalliberalen Partei mündete. Dort argumentierte er vor allem mit der Notwendigkeit einer stärkeren Machtorientierung des Liberalismus, der endlich regierungsfähig werden müsse, während er in den vergangenen Jahren des Verfassungskonflikts auf Opposition und Kritik fixiert gewesen sei. Dies erklärte Baumgarten unter anderem damit, dass in dieser Zeit wissenschaftliche Arbeit als »naturgemäße Vorbereitung für politisches Thun« begriffen worden sei. Unbewusst sei »die wissenschaftliche Methode auf die politische Praxis übertragen« worden. Baumgarten betrachtete dies nunmehr aber als problematisch  : »Die Wissenschaft hat ihre Arbeit gethan, wenn sie die Wahrheit gefunden und ausgesprochen hat  : die Politik fängt dann an.« Dass dies verkannt worden sei, habe dazu geführt, dass liberale Politik in den vergangenen Jahren »auf die Formulirung theoretisch correcter Sätze das größte Gewicht« gelegt habe und deshalb so wirkungslos geblieben sei  : So absorbirte die Discussion unsere beste Kraft  : hatten wir in der Debatte gesiegt, so waren wir zufrieden. (…) Die ganze unselige Politik der Resolutionen, welche in den letzten Jahren so schrecklich grassirt und uns vor den praktischen Völkern so lächerlich gemacht hat, ist in gewissem Maße eine Frucht dieser Verwechslung von Wissenschaft und Politik, die sich auch noch in einem anderen Punkte fühlbar gemacht hat, in der politischen Thätigkeit unserer Professoren. Es ist sicherlich sehr wünschenswerth und erfreulich, wenn die Vertreter unserer Wissenschaft am politischen Leben eifrig Theil nehmen. Aber es sollte dabei eins nicht vergessen werden. Wissenschaftliche Leistungen setzen wesentlich andere Geisteseigenschaften voraus als politische Handlungen. (…) Unsere bisherigen Erfahrungen lassen es wünschenswerth erscheinen, dass die Wissenschaft mit gespanntester Aufmerksamkeit das handelnde Leben begleitet, ihm mit ihrem Wissen und ihrer Einsicht zur Seite steht, aber nur mit Vorsicht das Wagnis unternimmt, selber handeln zu wollen.539

Baumgartens hier entworfene Position wurde später von seinem Neffen Max Weber verarbeitet, der forderte, akademische Forschung und Lehre sowie politische Tätigkeit streng voneinander zu trennen.540 Auch die 1932 vor der Folie eines strikt dezisionistischen Politikmodells formulierte Kritik Carl Schmitts am Liberalismus, wonach dieser den politi539 Hermann Baumgarten, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, in  : Preußische Jahrbücher 18 (1866), Teil II  : S. 575–628, hier  : S. 576 f. Vgl. dazu v. a. Karl-Georg Faber, Realpolitik als Ideologie. Die Bedeutung des Jahres 1866 für das politische Denken in Deutschland, in  : Historische Zeitschrift 203 (1966), S. 1–45  ; Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 104 ff. 540 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in  : ders., Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919  ; ders., Politik als Beruf.

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schen Feind in einen Diskussionsgegner verwandelt habe,541 lässt sich als indirekter Reflex der Analyse Baumgartens verstehen. Virchow hatte dagegen im Verfassungskonflikt versucht, dem naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruch auch in der Politik Geltung zu verschaffen. Stellten derartige Aktionen somit unter Berufung auf das Argument einer universalen naturwissenschaftlichen Vernunft die mit der Entwicklung moderner Gesellschaften eng verbundene Institutionalisierung von Rationalitätskriterien in Frage542  ? Und inwieweit produzierte das Beharren auf einen naturwissenschaftlich begründeten Wahrheitsanspruch in der Politik Probleme im Umgang mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen  ? Was bedeutete es also, wenn die im Labor beziehungsweise im Experiment institutionalisierten Wahrheitskriterien der Naturwissenschaft in den Kompetenzraum des Parlaments verlagert wurden  ? Diese Fragen sollen im Folgenden am Beispiel des Kulturkampfs weiter diskutiert werden. Welche Rolle spielte also die Wissenschaft in jener Auseinandersetzung um die institutionelle Differenzierung von Staat und Kirche, die seit den 1870er Jahren im Deutschen Reich entbrannte  ? Der Kulturkampf

Im Verfassungskonflikt wurde die naturwissenschaftlich begründete »Wahrheit« dazu herangezogen, um die Macht traditionaler Eliten zu begrenzen. Später sollte sie auch dazu beitragen, die aus umgekehrter Richtung entstehende Bedrohung der Stellung der liberalen Honoratioren einzudämmen. Auf dem ersten Parteitag der Fortschrittspartei 1879 erklärte Virchow  : »Wir müssen uns als unabhängige Männer, nach oben gegen die Regierungsgewalt, nach unten gegen die Massen, welche die Gesellschaft bedrohen, hinstellen.«543 In der Kategorie der »Masse« bündelten sich zahlreiche liberale Ängste im Hinblick auf den sozialen und politischen Wandel  : das Auftauchen neuer Akteure in der öffentlichen Sphäre – etwa Unterschichten und Frauen –, aber auch deren Erweiterung und Demokratisierung sowie der damit einhergehende Einflussverlust bürgerlicher Honoratioren.544 Dies war vor allem während des Kulturkampfs deutlich geworden, der deshalb zu Recht als Rettungsversuch der liberalen Honoratioren vor den Folgen der mit dem Katholizismus identifizierten »Massendemokratie« interpretiert wurde.545 541 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1991, S. 28. 542 Vgl. dazu M. Rainer Lepsius, Über die Institutionalisierung von Kriterien der Rationalität und die Rolle der Intellektuellen, in  : ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 44–52  ; sowie ders., Modernisierungspolitik als Institutionenbildung  : Kriterien institutioneller Differenzierung, in  : ebenda, S. 53–62. 543 Ansprache Virchows auf der ersten Plenarsitzung des Parteitags der Fortschrittspartei am 24.11.1878, S. 23. 544 Jennifer Jenkins, The kitsch collections and the Spirit in the Furniture  : Cultural Reform and National Culture in Germany, in  : Social History 21 (1996), S. 123–141, hier  : S. 137  ; vgl. auch Eley, Reshaping the German Right. 545 Margarete L. Anderson, The Kulturkampf and the Course of German History, in  : Central European History 19 (1986), S. 82–115  ; vgl. auch dies., Liberalismus, Demokratie und die Entstehung des Kulturkampfes,

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Der Kulturkampf, der zwischen 1870 und 1914 ein gemeineuropäisches Phänomen darstellte, konzentrierte sich im Deutschen Reich auf die siebziger Jahre und endete 1878 vorläufig. Virchow gehörte auf liberaler Seite zu den Hauptprotagonisten dieses Konflikts. Vorgeblich ging es ihm dabei darum, den Übergriff der katholischen Kirche auf den Handlungsraum der immanenten Welt abzuwehren, welcher der privilegierten Erkenntnis der Naturwissenschaften vorbehalten sein müsse. Den politischen Kampf des Liberalismus mit dem Zentrum transformierte Virchow so auf die Ebene eines Konflikts zwischen Katholizismus und moderner Naturwissenschaft. Die Verbindung von Naturwissenschaft und Liberalismus lässt sich insofern als ein Gegenstück zum politischen Katholizismus begreifen, als in beiden Fällen ein außerpolitischer Wahrheitsanspruch mit einem politischem Gestaltungsanspruch verbunden wurde – wobei allerdings die Quellen des Wahrheitsanspruches diametral entgegengesetzt waren. Für Virchow herrschte hier eine unerträgliche Konkurrenz, weshalb der Kulturkampf für ihn zu einem lebenslangen Projekt wurde. In liberaler Perspektive ging es bei dieser Auseinandersetzung zwischen Staat und katholischer Kirche somit nicht allein um die Trennung von Kirche und Staat, sondern zugleich um die Bedeutung naturwissenschaftlicher Autorität als politische Legitimationsressource. Im Preußischen Abgeordnetenhaus beanspruchte Virchow am 18.  Januar 1879 als »ein Vertreter der Wissenschaften (…) dem Glauben Schranken zu ziehen«. Seinen Zentrumskollegen stellte er die mit diesem Konflikt verbundene Machtfrage und beantwortete diese gleich selbst  : »Sie müssen sich fügen, und ich sage Ihnen, Sie werden sich fügen.«546 Die liberale Grundforderung, wonach Religion Privatsache sein müsse, legte er so aus, dass sich das Gebiet des Glaubens ausschließlich auf Gegenstände »außerhalb dieser Welt« beziehen müsse. »Alles dasjenige, was wir direct erfahren können«, so Virchow, »ist nicht Gegenstand des Glaubens, sondern dieses ist Gegenstand der Untersuchung, der Forschung, der Beobachtung, der wirklichen directen Ueberzeugung und schließlich des Wissens.«547 Ausdrücklich kritisierte Virchow das zentralistische System der römisch-katholischen Kirche, wobei er zeitweise manche Entwicklungen der protestantischen Kirchen angriff, die für ihn in eine ähnliche Richtung wiesen.548 Wie bei vielen Liberalen besaß ein idealisiertes amerikanisches Modell des Verhältnisses von Staat und Kirche auch für ihn Vorin  : Rudolf Lill/Francesco Traniello (Hg.), Der Kulturkampf in Italien und den deutschsprachigen Ländern, Berlin 1993, S. 102–125. 546 SBPAH, 32. Sitzung am 18.1.1879, S. 732. 547 Rudolf Virchow, Staat und Kirche (Wahlrede im Verein für öffentliche Angelegenheiten, Berlin, 11.12.1874), Druck  : RVSW, Bd. 33, Abt. II  : Politik. Politische Tätigkeit im Preußischen Abgeordnetenhaus, 14. Februar 1870 bis 13. Dezember 1874 sowie dazugehörige Dokumente, bearb. v. Christian Andree, Bern u. a. 1997, S. 718–736, hier  : S. 724. 548 Derartige Kritik richtete er vor allem gegen Bestrebungen, die evangelische Kirche in Preußen durch eine neue Synodalordnung stärker hierarchisch zu gliedern, da er eine ähnliche Entwicklung wie im Falle der katholischen Kirche befürchtete. Siehe etwa SBPAH, 56. Sitzung am 1.5.1874, S. 1376–1377.

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bildcharakter. Dieses schien ihm nicht allein kirchliche und weltliche Angelegenheiten konsequent zu trennen, sondern befördere geradezu das Gedeihen des religiösen ­Lebens, indem es die Gemeindefreiheit herstelle.549 Vor allem aber empörte sich Virchow immer wieder über die Verurteilung von Fortschritt, Liberalismus und moderner Zivilisation durch Papst Pius IX. im Syllabus errorum von 1864, den er so häufig erwähnte, dass es ihm gelegentlich den Spott seiner Abgeordnetenkollegen eintrug. In einer dieser Parlamentsreden, in der er auch den Begriff »Kulturkampf« in die politische Sprache einführte, erklärte er mit Bezug auf die 1870 verkündete päpstliche Unfehlbarkeit, die dem naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruch diametral entgegengesetzt war  : »[W]ir befinden uns schon gegenwärtig im offenen Kriege, das ist ja kein Zweifel, und dieser Krieg beruht unzweifelhaft auf jener letzten Formulirung des italienisch-päpstlichen Staats-Gedankens, der in der Infallibilität ausgedrückt ist.«550 Virchow identifizierte somit die naturwissenschaftliche Weltanschauung implizit mit Protestantismus und Liberalismus, die er der religiösen Weltanschauung der römischen Katholiken beziehungsweise der Zentrumspartei gegenüberstellte. Die Weigerung der Katholiken, sich das naturwissenschaftliche Wissen zu eigen zu machen, indem sie von ihren »traditionellen Vorstellungen« nicht abließen, betrachtete er nicht allein als eine Gefahr für die nationale Einheit, sondern sogar als »inhuman, vollkommen wider die Natur«551. Seine Argumentation basierte auf einer manichäischen Unterscheidung von Fortschritt versus Anti-Fortschritt, Mensch versus Unmensch, Deutsch versus NichtDeutsch, wobei die eine Seite mit dem Liberalismus und die andere mit dem Katholizismus gleichgesetzt wurde.552 549 Virchow, Staat und Kirche, S. 735  ; sowie »Staat und Kirche, Vortrag, gehalten von Professor Dr. Virchow im Oranienburgerthor – Bezirksverein am Mittwoch den 28ten October 1874«, Druck  : RVSW, Bd. 33/2, S. 692–709, hier  : S. 704 f.; SBPAH, 36. Sitzung am 30.1.1873, S. 844–848, 868  ; vgl. zu Virchows Rolle im Kulturkampf auch Boyd, Rudolf Virchow, S. 142–149. 550 SBPAH, 28. Sitzung am 17.1.1873, S. 632 f. Vgl. auch den von Virchow formulierten Wahlaufruf der Fortschrittspartei vom 23.3.1873, in dem sie es für notwendig erklärte, »im Verein mit den anderen liberalen Parteien die Regierung in einem Kampfe zu unterstützen, der mit jedem Tage mehr den Charakter eines großen Kulturkampfes der Menschheit annimmt«. Druck  : Parisius, Die Deutsche Fortschrittspartei von 1861–1878, S. 37 f. 551 Virchow, Aufgaben der Naturwissenschaften im neuen nationalen Leben, hier  : S.  78 f. Vgl. auch ders., SBPAH, 60. Sitzung am 8.3.1873, S. 1512. 552 Siehe dazu beispielsweise ders., Eröffnung der Generalversammlung, in  : Die 6. Allgemeine Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zu München am 9. bis 11. August 1875, Nach den stenographischen Aufzeichnungen redigiert von Prof. Dr. Kollmann, München 1875, S. 14  : »Ich habe auch von denjenigen, die zeitweise sich als die schlimmsten Feinde des Fortschrittes erwiesen haben, die Meinung, dass sie nur unter dem Drucke zeitweiliger fremdartiger Einflüsse arbeiteten  ; so oft sie sich wieder selber fanden, sobald sie wieder Menschen waren als solche, wurden sie sich auch immer wieder bewusst, dass sie als Deutsche der Richtung der ascendirenden Bestrebungen angehören.« Vgl. dazu auch David Blackbourn, Volksfrömmigkeit und Fortschrittsglaube im Kulturkampf, Stuttgart 1988, S. 46.

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Mit seinen parlamentarischen Aktionen unterstützte Virchow die von der preußischen Regierung in den 1870er Jahren ergriffenen Maßnahmen gegen die Katholiken, auch wenn er dies im Nachhinein als Fehler ansah. Später rechtfertigte er sich damit, dass er damals den massiven Einsatz staatlicher Machtmittel lediglich unter der Annahme gebilligt habe, dass dies die Trennung von Kirche und Staat befördern würde, doch sei er darin getäuscht worden.553 Vermutlich trug seine Einsicht, wonach die Unterdrückung politischer Gegner Risiken für die Freiheitsrechte aller anderen Parteien enthalte, auch dazu bei, dass er das 1878 von Bismarck eingebrachte »Sozialistengesetz« ablehnte, obwohl er die Sozialdemokratie politisch als Hauptgegner betrachtete. So war Virchow überzeugt, dass Bismarck unter dem Vorwand der Bekämpfung der Sozialdemokratie in Wirklichkeit das Ziel verfolge, »die liberalen Parteien zu vernichten«554. Ungeachtet solcher späterer Einsichten in die ambivalenten Folgen der Beschränkung der Meinungsfreiheit weltanschaulicher Gegner hatte der Kulturkampf aber ein liberales Dilemma offenbart  : Dieser lässt sich als ein Versuch verstehen, einem auf eine metaphysische Begründung gestützten antipluralistischen politischen Wahrheitsanspruch mit staatlichen Machtmitteln zu begegnen. Doch vertrat Virchow im Kulturkampf selbst einen ähnlich rigorosen Wahrheitsanspruch im Bereich des Politischen, der sich in seinem Fall auf die Naturwissenschaft stützte. So fehlte in seinem Verständnis von liberaler Politik die Möglichkeit, mit der Pluralität unterschiedlicher Konzeptionen des »Guten« umzugehen.555 Fischzucht und öffentliche Gesundheitspflege

Wie versuchte nun Virchow, seine auf naturwissenschaftliche »Wahrheit« gestützte Expertenautorität in politischen Entscheidungsprozessen konkret einzusetzen  ? Und welche Rolle spielte dabei der Konflikt zwischen konkurrierenden wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen  ? Bereits während der Revolution hatte Virchow Politik als »Medicin im Grossen« definiert. Von dieser technokratischen beziehungsweise eigentlich ›iatrokratischen‹ Vision, in der die Sozialmedizin zur Avantgarde einer demokratischen Gesellschaftsordnung wurde, rückte er allerdings nach dem Ende seiner zeitweiligen politischen Abstinenz und der Rückkehr in die aktive Politik ein Stück weit ab. Seit den 1860er Jahren stand für ihn nicht mehr die Forderung nach direkter politischer Mitherrschaft der (naturwissenschaftlichen) Ärzte auf der Tagesordnung. Vielmehr konzeptualisierte Virchow das Verhältnis von wissenschaftlicher Expertise und praktischer Politik nunmehr dergestalt, dass Wissenschaft aufgrund ihrer Untersuchungen gesellschaftlicher Zustände politische Zielvorgaben wie Lösungsvorschläge formuliere, wofür vor allem

553 Siehe z. B. SBPAH, 46. Sitzung am 26.1.1881, S. 1304–1308. 554 Virchow, Sozialismus und Reaktion, S. 13. 555 Vgl. dazu Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß.

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die Statistik ein wertvolles Instrument sei.556 Die moderne Naturwissenschaft und Medizin sei damit »Helferin der Staatsmänner«, erklärte er 1861 auf der Naturforscherversammlung in Speyer.557 Ein aufschlussreiches Beispiel für die praktische Seite solcher Deklarationen bildet die künstliche Fischzucht und Binnenfischerei, mit der sich Virchow im Preußischen Abgeordnetenhaus jahrzehntelang beschäftigte, da er dies als zentralen Beitrag zur Lösung des Ernährungsproblems und damit der sozialen Frage betrachtete. Im Zusammenhang einer Debatte zu diesem Gegenstand im Preußischen Abgeordnetenhaus verkündete er 1862  : »Aber gerade dieser Fall lehrt am besten, dass hier nicht vom grünen Tische aus Gesetze gegeben werden können, sondern daß man Leute gebraucht, die wirklich die Beobachtungen fortwährend fortsetzen und die unmittelbar aus der Erfahrung der Naturwissenschaften heraus auch die Grundlagen für die Gesetzgebung schaffen.«558 Als einer der führenden Vertreter des 1870 gegründeten »Deutschen Fischereivereins«, in dem er auch mit konservativen Politikern erfolgreich zusammenarbeitete, engagierte sich Virchow als Lobbyist für die künstliche Fischzucht und die Binnenfischerei.559 Zugleich unternahm dieser Verein unter seiner Leitung umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen der natürlichen Reproduktion von Fischen, um dann vor allem durch die Zucht und das Aussetzen von Fischlaichen gezielt in diesen Vorgang einzugreifen. Dieses Projekt beschritt somit den Übergang von der natürlichen zur künstlichen Vermehrung von Fischen. Fragen der wissenschaftlichen Forschung, der Ökonomie sowie der Innen- und Außenpolitik waren dabei eng verknüpft. Hier handelte es sich also um einen jener »Hybridartikel, die eine Kreuzung sind aus Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Recht, Religion, Technik und Fiktion«560, die in der Gegenwart so vertraut geworden sind. Neben seiner Forschungstätigkeit im Auftrag des Deutschen Fischereivereins beteiligte sich Virchow intensiv an den parlamentarischen Beratungen zu diesem Gegenstand und organisierte zudem große öffentliche Ausstellungen wie die internationale Fischerei-Ausstellung 1880 in Berlin, deren Direktorium er angehörte.561 Sein Engagement für 556 Rudolf Virchow, Über die Fortschritte in der Entwicklung der Humanitäts-Anstalten (Auszug aus einem Vortrage Virchows auf der Naturforscher-Versammlung in Königsberg 1860), Druck  : Sudhoff, S. 11–15. 557 Ders., Über den Einfluß des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf die Volksbildung, in  : Beilage zum Tageblatt der 36. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Speyer vom 17. bis 24. September 1861, S. 70–72. 558 SBPAH, 22. Sitzung am 18.7.1862, S. 668. 559 Gedächtnisrede von Rudolf Virchow auf Friedrich Felix von Behr (Präsident des Deutschen Fischerei-Vereins) 1892  : ABBAW, Nl Virchow, Bd. 2704  ; Deutscher Reichsanzeiger, Nr. 131 vom 6.6.1891, »Der Deutsche Fischereiverein«. 560 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 1998, S. 8. 561 Siehe Virchow an Schliemann, 6.3.1880, Druck  : Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow, S. 168.

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die künstliche Fischzucht und Binnenfischerei verknüpft somit exemplarisch die Rollen des wissenschaftlichen Experten und des im Gesetzgebungsprozess engagierten Parlamentariers. Dies stand im Zusammenhang mit den im Kaiserreich immer wichtiger werdenden Bestrebungen von Gelehrten und professionellen Experten, vereinsmäßig organisiert Regierungskreise politisch zu beeinflussen. So trat Virchow im Zusammenhang des Deutschen Fischereivereins als Fürsprecher einer technokratischen Sozialreform auf, ähnlich wie sie auch im »Verein für Socialpolitik« propagiert wurde,562 zu dem er aber in keiner direkten Beziehung stand. Im Gegensatz zu den dort organisierten »Kathedersozialisten« war er aber gleichzeitig als Parlamentarier tätig und beschränkte sich nicht wie diese darauf, Bürokratie, Regierung und Öffentlichkeit durch wissenschaftliche Expertisen zu beeinflussen. Im Rahmen seines gelehrtenpolitischen Engagements versuchte Virchow zugleich in vielen Fällen, politische Fragen in unpolitische Sachfragen umzudefinieren beziehungsweise zumindest den Anteil der von wissenschaftlichen Experten zu beantwortenden Entscheidungen an politischen Fragen auszudehnen. So verlagerte er etwa im Streit über die Frage des kolonialen Engagements des Deutschen Reichs in den 1880er Jahren die Debatte in das Feld der wissenschaftlichen Kontroverse. Dazu diskutierte er die Frage der Ansiedlung deutscher Kolonisten in tropischen Ländern in der Öffentlichkeit nicht auf der Ebene einer Auseinandersetzung um Pro und Kontra des Kolonialismus beziehungsweise der dafür oder dagegen sprechenden Wertideen, sondern eröffnete eine Debatte über die medizinischen Probleme der Akklimatisation.563 Virchow registrierte jedoch die Probleme, die mit der Verlagerung von politischen Entscheidungen auf nicht demokratisch legitimierte Expertengremien einhergingen. Dies zeigt etwa seine Auseinandersetzung mit den im Umfeld der deutschen Reichsgründung formulierten Vorschlägen zur Etablierung eines Reichsgesundheitsamts. Deren Hauptwortführer war der Nationalliberale Georg Varrentrapp, der als ein deutscher Apostel der Thesen des englischen Sanitärreformers Edwin Chadwick unter anderem eine Schlüsselrolle bei der Stadtsanierung von Frankfurt am Main spielte.564 Er gehörte zum Initiatorenkreis einer 1869 beziehungsweise 1870 beim Reichstag eingereichten Petition, welche forderte, ein Reichsgesundheitsamt einzurichten,565 was dann schließlich 562 Vgl. dazu Rüdiger vom Bruch, Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich, in  : ders. (Hg.), »Weder Kommunismus noch Kapitalismus«, S. 61–179. 563 Rudolf Virchow, Über Akklimatisation, in  : Tageblatt der 58. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Straßburg, 18. bis 23. September 1885, S. 540–550  ; sowie VBGAEU 17 (1885), S. 202–214. Vgl. dazu auch Wolfgang U. Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884–1945, Paderborn u. a. 1997, S. 64 u. 74 ff. 564 John von Simson, Kanalisation und Städtehygiene im 19. Jahrhundert, Dortmund 1983, S. 133 f.; Palmowski, Urban Liberalism, S.  212  ; Brian Ladd, Urban Planning and Civic Order in Germany, 1860–1914, Cambridge, Mass., 1999, S. 39, 43, 51, 54, 56, 74 u. 141. 565 Siehe Antrag an den Hohen Reichstag des Norddeutschen Bundes in Berlin, Januar 1870, gez. Hermann

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1876 auch geschah. Zum Podium dieser Vorschläge wurde die Sektion für öffentliche Gesundheitspflege der deutschen Naturforscherversammlung, aus der wiederum unter Varrentrapps maßgeblicher Mitwirkung 1873 auch der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege hervorging.566 Letzterer war neben dem kathedersozialistischen Verein für Socialpolitik vermutlich das bedeutendste Beispiel für das Modell der technokratischen Sozialreform. Das Tätigkeitsfeld des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege kam Virchows Interessen sehr nahe. Umso bemerkenswerter ist die feindliche Haltung, die er diesem gegenüber einnahm. Virchow setzte sich als Gutachter der preußischen Königlichen Wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen, in der er seit seiner Ernennung 1860 jahrzehntelang eine führende Rolle spielte, mit Varrentrapp heftig öffentlich auseinander. Dieser hatte im Vorfeld seiner Initiativen für ein Reichsgesundheitsamt vergeblich versucht, Virchow persönlich davon zu überzeugen, dass der Vorstoß die »weitestgehende communale Autonomie«, ohne welche »wir in Deutschland auch zu keiner gesicherten, eigentlich politischen Autonomie« kommen würden, nicht angreifen solle.567 Die sich über Jahre hinwegziehende Auseinandersetzung zwischen Virchow und Varrentrapp ist für die Frage nach der Rolle professioneller Experten in der Politik in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zunächst betonten beide Kontrahenten stets die unpolitische Natur des zur Verhandlung stehenden Gegenstands, d. h. der öffentlichen Gesundheitspflege. Auf der anderen Seite sahen beide den engen Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Entwicklung des Deutschen Reichs. Im Hinblick auf die dort nicht existierende parlamentarische Verantwortlichkeit legte Virchow umso mehr Gewicht auf die kommunale Selbstverantwortung. Die Gesundheitsfürsorge wurde dabei zu einem zentralen Feld, auf dem die langfristige verfassungsmäßige Evolution von unten nach oben wirken sollte. Zudem begründete er sein Unbehagen an dem geforderten Reichsgesundheitsamt aber auch mit dem Verdacht des professionellen Eigeninteresses, Eberhard Richter, Alexander Spieß, Georg Varrentrapp, Hermann Wasserfuhr, James Hobrecht  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2767, Bl. 33–36. 566 Vgl. Simson, Kanalisation und Städtehygiene, S. 165 f.; Ladd, Urban Planning and Civic Order, S. 39, 41 ff. u. 142  ; Beate Witzler, Großstadt und Hygiene. Kommunale Gesundheitspolitik in der Epoche der Urbanisierung, Stuttgart 1995  ; Heinz-Jürgen Brand, Die »Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege« in den ersten Jahrzehnten ihres Erscheinens (1869–1885) und ihre Bedeutung in der ärztlichen Hygienebewegung am Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin 1986, S. 66–70  ; Juan Rodriguez-Lores, Stadthygiene und Städtebau. Am Beispiel der Debatten im Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege, in  : Jürgen Reulecke/Adelheid Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hg.), Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von »Volksgesundheit« und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 63–75. 567 Georg Varrentrapp an Virchow, 2.4.1870  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2228. Siehe dazu und zum Folgenden vor allem die Dokumentation der Auseinandersetzung zwischen Virchow und Varrentrapp in Rudolf Virchow, Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 1, S. 78–95  ; sowie das Material in GStA-PK, I. HA Rep. 169 C Preußisches Abgeordnetenhaus, Abschnitt 51 Nr. 3 Bd. 1.

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den ihm »die überaus fremdartige Zusammensetzung der Section für öffentliche Gesundheitspflege bei den Naturforscher-Versammlungen öfters eingeflößt« habe  : »Alle diese Architekten und Ingenieure, welche sonst auf der Naturforscher-Versammlung nicht zu sehen waren, woher haben sie plötzlich eine so innige Theilnahme für die öffentliche Gesundheitspflege  ? Sicherlich ist diese Theilnahme erst erwacht, seitdem es grosse Canal- und Bewässerungsarbeiten ins Leben zu rufen galt.«568 Damit warf Virchow die im Spannungsfeld von wissenschaftlicher Expertise und politischer Entscheidung herrschende Legitimationsproblematik auf, die sich bei politischen Entscheidungen von großer Tragweite wie den kommunalen Investitionen im Bereich der Stadtsanierung stellte. Die Berliner Kanalisation

Kommunalpolitik wurde in der Zeit des Kaiserreichs ein wichtiger politischer Gestaltungsraum, wie einige Zahlen verdeutlichen mögen  : 1857 betrugen die Staatsausgaben in Preußen 130 Millionen Taler, dem Ausgaben der Kreise in Höhe von 2,25 Millionen und der Gemeinden in Höhe von 33 Millionen Taler gegenüberstanden.569 Demgegenüber war der Anteil der kommunalen Investitionstätigkeit an den öffentlichen Investitionen 1913/14 im Deutschen Reich auf circa 60  Prozent gestiegen.570 Zu den bedeutendsten kommunalen Infrastrukturmaßnahmen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gehörte der Bau von Kanalisationen, der auch in Berlin nach jahrzehntelangen Diskussionen in den 1870er Jahren schließlich in Angriff genommen wurde.571 Dieser Schritt lässt sich zunächst als eine technische Reaktion auf einen verstärkten Problemdruck interpretieren, insofern als die traditionellen Methoden der Abwasserentsorgung nicht mehr ausreichten  : So hatte man die Straßen bislang durch Rinnsteine zur Spree hin entwässert, während feste Exkremente in Abtrittgruben gesammelt und dann in Tonnen aus der Stadt fortgeschafft oder einfach in die Spree entleert wurden. Eine zentrale Ursache für die zunehmende Überforderung dieses Systems war der schnelle Anstieg der Bevölkerungszahl der Großstädte. Zwischen 1861 und 1895 verdreifachte

568 Rudolf Virchow, Bemerkungen über das Reichs-Gesundheits-Amt, in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 1, S. 82–86 u. 11–114, hier  : S. 85. 569 Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung, S. 609. 570 Michael Reidenbach, Zur kommunalen Investitionstätigkeit im deutschen Kaiserreich 1871 bis 1918, in  : Karl Heinrich Kaufhold (Hg.), Investitionen der Städte im 19. und 20. Jahrhundert, Köln u. a. 1997, S. 21– 37, hier  : S. 30. Vgl. dazu auch Karl Heinrich Pohl, Der Liberalismus im Kaiserreich, in  : Rüdiger vom Bruch (Hg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin u. New York 2000, S. 65–90, hier  : S. 80. 571 Vgl. zur Geschichte der Berliner Kanalisation v. a. John von Simson, Kanalisation und Städtehygiene im 19.  Jahrhundert, Dortmund 1983  ; Brigitte Ng Kuet Leong, Eine medizinisch-historische Analyse der gesundheitspolitischen Bemühungen von Rudolf Virchow  : dargestellt anhand seiner Anregungen zur Abwasserkanalisation in Berlin, Marburg (med. Diss.) 1991  ; Vasold, Rudolf Virchow, S. 244–271  ; McNeely, «Medicine on a Grand Scale”, S. 52–85  ; Manuel Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760–1860, Göttingen 1997, S. 300–309.

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sich die Berliner Bevölkerung von circa 548.000 auf mehr als 1.677.000 Einwohner.572 Hinzu kamen die regelmäßig wiederkehrenden Choleraepidemien, die im 19. Jahrhundert auch Berlin mehrfach schwer trafen. Schließlich ging es auch um Technikfolgenbewältigung  : Seit den 1850er Jahren besaß in Berlin eine englische Wassergesellschaft die Konzession, fließendes Wasser in Häuser zu verlegen. In der Folge hatten viele Hausbesitzer Wasserklosetts eingerichtet, welche die bisher bestehenden getrennten Abwasserkreisläufe für Hauswasser und Fäkalien durchbrachen. Da zudem auch diejenigen Berliner Fleischer, die über fließendes Wasser verfügten, ihre Schlachtabfälle in die Rinnsteine entleerten, hatte dies das bisherige Entwässerungssystem über die Grenzen seiner Kapazität hinaus belastet. 1872 beschrieb der englische Gesundheitsreformer Edwin Chadwick Berlin als die am übelsten riechende Stadt Europas und behauptete, man könne einen Berliner am Geruch seiner Kleider erkennen.573 Im selben Jahr schrieb Anna von Helmholtz an ihre Mutter  : »Der Magistrat wird so lange über diese Verhältnisse nachdenken, bis eine neue Pestilenz über die Stadt hereinbricht. (…) Oh Haussmann  ! Könnte man ihn den Berlinern nur fünf Jahre engagieren  ! Sie würden Mund und Nase aufsperren, aber schließlich für ihr Geld doch Luft und Wasser haben.«574 Der hier zutage tretende doppelte Bezug auf eine gesteigerte Sensibilität für Geruchsbelästigungen575 sowie auf den Pariser Präfekten Baron Haussmann, der die französische Hauptstadt nach der Jahrhundertmitte einer gewaltsamen städtebaulichen Modernisierung unterworfen hatte, die neben verbesserter Hygiene auch der größeren Sicherheit vor revolutionären Aufständen dienen sollte, macht zugleich auf einen anderen Aspekt der Abwasserfrage aufmerksam  : Dass die zyklisch wiederkehrenden Seuchen nicht mehr länger als gottgegeben ertragen wurden und zugleich Antworten auf den nunmehr als unerträglich empfundenen »Schmutz« und Gestank der Großstadt gefordert wurden, verweist auf einen Zusammenhang von Reinheit und Ordnung. Schmutz ist, wie Mary Douglas argumentiert, nichts Absolutes, sondern »existiert nur vom Standpunkt des Betrachters aus. (…) Schmutz verstößt gegen Ordnung. Seine Beseitigung ist keine negative Handlung, sondern eine positive Anstrengung, die Umwelt zu organisieren.«576 Damit stellt sich auch die Frage nach den mit der Diskussion der Abwasserfrage verbundenen Ordnungsvorstellungen, zumal bereits in den Ideen der englischen Sanitärbewegung, die die Diskussion in Deutschland stark beeinflussten, der Zusammenhang von Städtereini572 Richter, Zwischen Revolution und Reichsgründung, S. 667  ; Erbe, Berlin im Kaiserreich, S. 697. 573 Edwin Chadwick, in  : Beilagen zum Kommunalblatt der Haupt- und Residenzstadt Berlin 13 (1872), 9. Extrabeilage (zit. nach Simson, Kanalisation und Städtehygiene, S. 123). 574 Anna von Helmholtz an ihre Mutter, 24.5.1872, Druck  : Anna von Helmholtz. Ein Lebensbild in Briefen, hrsg. von Ellen von Siemens-Helmholtz, Bd. 1, Berlin 1929, S. 180. 575 Vgl. dazu Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft, Frankfurt a. M. 1993. 576 Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1988, S. 12  ; vgl. auch Ladd, Urban Planning and Civic Order, S. 48  ; Frey, Der reinliche Bürger.

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gung und sozialer Frage eine zentrale Rolle spielte. Wie agierte nun Virchow auf diesem Feld  ? Zum Zeitpunkt der geschilderten Klagen berieten Magistrat und Stadtverordnetenversammlung in Berlin bereits seit zehn Jahren, in welcher Weise man dieser allgemein empfundenen Missstände Herr werden sollte. Die preußische Regierung hatte sich sogar bereits seit den 1840er Jahren mit dem Berliner Abwasserproblem beschäftigt. Auf Grundlage einer vom preußischen Ministerium für Handel, Gewerbe und Bauwesen initiierten internationalen Studienreise legte Eduard Wiebe 1861 einen Plan vor, der den Ersatz des bisherigen, immer schlechter funktionierenden Systems aus Rinnsteinen und Fäkalienabfuhr durch den Bau eines Kanalisationssystems vorsah, wobei die gesammelten Abwässer unterhalb von Charlottenburg ungereinigt in die Spree eingeleitet werden sollten.577 Dieser Plan löste eine Debatte aus, die sich schnell auf die Alternative »Abfuhr« oder »Kanalisation« zuspitzte. Der Streit, der immer stärker auch in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde, lähmte die Entscheidung der staatlichen wie der städtischen Gremien, die sich nicht kompetent fühlten, die Kontroverse über den Wiebe-Plan zu klären. Deshalb gab das genannte Ministerium 1865 bei der von Virchow geleiteten wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen ein weiteres Gutachten in Auftrag.578 Virchow (der gleichzeitig auch die Interessen der Binnenfischerei im Blick hatte) gehörte zu denen, die Bedenken gegen die von Wiebe vorgeschlagene Einleitung der ungeklärten Abwässer in die Spree erhoben und deshalb in der Stadtverordnetenversammlung darauf drängten, zunächst die Abwasserfrage gründlich zu untersuchen. Daraufhin setzten die städtischen Gremien 1867 eine gemischte Deputation des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung ein, die die strittigen Fragen wissenschaftlich klären sollte, und auch hier führte Virchow den Vorsitz.579 Von Anfang an hatten also wissenschaftliche Experten bei der Diskussion dieser Frage eine wichtige Rolle gespielt, da die damit zusammenhängenden hygienischen und technischen Fragen das Beurteilungsvermögen von Laien überforderten. Nun erhielten sie eine Schlüsselstellung im weiteren politischen Entscheidungsprozess. Dabei lassen sich die Konflikte nicht auf eine Auseinandersetzung von Laien einerseits und wissenschaftlichen Experten andererseits reduzieren. Von einer sozusagen objektiven, wissenschaftlichen Problemlösung konnte keine Rede sein. Vielmehr ging es darum, unter konkurrierenden wissenschaftlichen Meinungen, die jeweils im Verbund mit bestimmten politischen und ökonomischen Wertentscheidungen auftraten, auszuwählen. 577 Eduard Wiebe, Über die Reinigung und Entwässerung Berlins, Berlin 1861. 578 Über die angemessenste Art, die Stadt Berlin von den Auswurfstoffen zu reinigen. Gutachten der Wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen. Erster Referent  : Virchow (1868). Nachdruck  : Virchow, Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 2, S. 203–225, hier  : S. 203. 579 Generalbericht über die Arbeiten der städtischen gemischten Deputation für die Untersuchung der auf die Canalisation und Abfuhr bezüglichen Fragen. Berlin 1874, Nachdruck  : ebenda, S. 287–435, hier  : S. 287, sowie ebenda, S. 458.

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So stützten sich die Landwirte, die für Abfuhr plädierten, auf die wissenschaftliche Autorität Justus von Liebigs, dessen »Raubbau«-Theorie die Verarmung der Böden als größte Gefahr für die Zivilisation bezeichnete. In dieser Perspektive produzierte ein Abwassermischsystem einen unerträglichen volkswirtschaftlichen Schaden, da Fäkalien als Dünger verloren gingen. Hinzu kamen Befürchtungen vor den finanziellen Belastungen durch den Bau einer Kanalisation, aber auch vor aus den Kanalisationsrohren aufsteigenden giftigen Gasen oder in den Untergrund sickernden Verunreinigungen. Solche Ängste gewannen in der Berliner Öffentlichkeit großes Gewicht, und vor allem die politisch einflussreiche Gruppe der Hausbesitzer agitierte in diese Richtung. Umgekehrt stützten sich auch die Anhänger der Kanalisation auf wissenschaftliche Expertisen, um diese als einzige technisch und ökonomisch machbare Lösung darzustellen, und versprachen zugleich sinkende Sterblichkeitsziffern. Zu dieser Gruppe gehörten vor allem Vertreter des gehobenen Bürgertums und namentlich der Industrie, die hier von sich allmählich professionell formierenden Sozialhygienikern unterstützt wurden.580 Um den Konflikt aufzulösen plädierte Virchow dafür, eine Entscheidung jeweils von den lokalen Verhältnissen abhängig zu machen  : Während für größere Gemeinden eine Kanalisation notwendig sein könne, sei für kleinere Gemeinden unter Umständen auch ein Abfuhrsystem angemessen.581 Im Falle Berlins plädierte er für eine Kanalisation, doch befürwortete er abweichend vom Wiebe-Plan die in England bereits erprobte Verrieselung der Abwässer, die auf diese Weise gereinigt werden sollten. Diesen Gedanken setzte dann der Bauingenieur James Hobrecht, ein Bruder des seit 1874 regierenden Berliner Oberbürgermeisters, technisch um. Er entwarf ein Radialsystem, das die Berliner Abwässer in verschiedene Entwässerungssektoren einteilte, die jeweils auf außerhalb der Stadt gelegene Rieselfelder geleitet werden sollten. Zugleich fanden unter Virchows Leitung aufwendige wissenschaftliche Untersuchungen statt, welche die Praktikabilität und die Auswirkungen der verschiedenen zur Debatte stehenden Lösungsvorschläge studierten und an deren Ende ein umfangreicher Abschlussbericht der gemischten städtischen Deputation stand.582 1868 beklagte Virchow, nachdem er von Seiten des preußischen Staates und der städtischen Behörden mit dem wissenschaftlichen Studium der Abwasserfrage beauftragt worden war, dass »es eine Zeitlang Parteifrage« geworden sei, »ob man für oder gegen Canalisation stimmen wolle«583. Solche von ihm als technisch bezeichnete Fragen sollten dagegen besser nicht in die Entscheidung demokratisch gewählter kommunaler Gremien 580 Siehe hierzu die umfangreiche Sammlung an Stellungnahmen und Unterlagen in ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2595–2699. 581 Rudolf Virchow, Canalisation oder Abfuhr  ? Eine hygienische Studie (1868), Nachdruck  : in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 2, S. 235–287. 582 Generalbericht über die Arbeiten der städtischen gemischten Deputation. 583 Rudolf Virchow, Zusätzliche Bemerkungen zu den beiden vorstehenden Gutachten (1868), Nachdruck  : Virchow, Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 2, S. 227–235, hier  : S. 228.

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gelegt werden  : »Aber meine Herren, in einer Frage, welche über Leben und Gesundheit der Einwohner entscheidet, die letzte Entscheidung in die Hand einer, für diese Sache doch in der Tat schwer vorbereiteten Korporation zu legen, das ist meiner Ansicht nach ein sehr gefährliches Ding.« So sprach er sich ausdrücklich dagegen aus, »die finale Entscheidung über diese technischen Fragen« den Gemeindebehörden zu überlassen. Dagegen forderte er die Einrichtung von Gesundheitsämtern, in denen Experten darüber wachen sollten, dass die Entscheidungen der Lokalinstanzen nicht auf Grund einseitiger und vielleicht sehr eigennütziger Bestrebungen gefasst werden, die auf die Dauer das Wohl der Gemeinden in hohem Maße zu schädigen geeignet sind. Aus eigenen Erfahrungen in dieser Frage darf ich wohl behaupten, dass es wenige Fragen der Gegenwart giebt, wo so viele eigennützige persönliche Bestrebungen sich mit den wissenschaftlichen kreuzen, als bei der vorliegenden.584

Mit seiner Forderung, die kommunale Hygiene zu entpolitisieren, die 20 Jahre später selbstverständlich wurde,585 war zugleich das Argument verbunden, dass derartige Fragen nicht Gegenstand von Mehrheitsentscheidungen sein konnten, da sie nach dem Kriterium der »Wahrheit« entschieden werden sollten. Dies bezog sich zunächst auf gewählte politische Vertretungen wie Stadtverordnetenversammlungen und Parlamente. Aber auch divergierende wissenschaftliche Expertenmeinungen sollten seiner Meinung nach nicht durch Mehrheitsbeschlüsse entschieden werden. Ausdrücklich wies Virchow darauf hin, dass 1869 auf der Innsbrucker Naturforscherversammlung gerade im Hinblick auf derartige Probleme ein neuer Passus in die Statuten aufgenommen worden war, wonach keine Resolutionen über wissenschaftliche Thesen gefasst werden sollten, würde dies doch die Anwendung des Mehrheitsprinzips auf die Entscheidung wissenschaftlicher Kontroversen bedeuten.586 Damit reagierte er darauf, dass sich dahinter auch Interessen bestimmter professioneller Gruppen, etwa der Architekten und Ingenieure, verbergen konnten. So stellte sich die Frage, wie die in der Berliner Kanalisationsfrage aufeinander prallenden gegensätzlichen Standpunkte vermittelt werden sollten  : Der Steuerzahler hat einen anderen Maasstab, als die Verwaltung  ; der Hauswirth sieht die Sache anders an, als die Polizei. Aber auch die Landwirtschaft hat andere Interessen, als die öffentliche Gesundheitspflege  ; die Chemie schiebt andere Seiten der Betrachtung in den Vordergrund, als die Biologie. Erst allmählich, theils im Kampfe, theils im Zusammenwirken, werden 584 SBPAH, 65. Sitzung am 9.2.1870, S. 2031 f. 585 Marianne Rodenstein, »Mehr Licht, mehr Luft«. Gesundheitskonzepte im Städtebau seit 1750, Frankfurt a. M. u. New York 1988, S. 104 f. 586 Rudolf Virchow, Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen. Erster Referent  : Virchow, in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 1, S. 78–82, hier  : S. 81.

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die höheren versöhnenden Gesichtspunkte gefunden, welche als der Ausdruck der wissenschaftlichen Ueberzeugung des Zeitalters gelten können.587

Virchows Antwort führte das Modell der politischen Entscheidungsfindung wiederum auf das Modell der wissenschaftlichen Suche nach »Wahrheit« zurück  : Nicht Mehrheitsentscheidungen, sondern ein rationaler wissenschaftlicher Diskurs sollte die Lösung mit sich bringen. Virchow nahm dabei eine Position ein, wie sie erst einige Jahre nach seinem Tod im Werturteilsstreit grundsätzlich problematisiert wurde.588 Hier den »Kathedersozialisten« vergleichbar, vertraute er darauf, dass Wissenschaft angesichts konkurrierender Wertorientierungen übergeordnete, objektive Gesichtspunkte bestimmen könne. Die Ideologie des Expertentums, ihre spezifischen Sonderinteressen als Gesamtinteressen der Menschheit zu präsentieren,589 ergänzte sich hier mit dem liberalen Anspruch, »über den Klassen« zu stehen. Dabei spielte zugleich Virchows ambivalentes Verhältnis zu den »Massen« eine Rolle, die er zwar in sein naturwissenschaftliches Erziehungskonzept einbezog, aber gleichwohl nur begrenzt an politischen Entscheidungen partizipieren lassen wollte. So versuchte er – zumindest in solchen politischen Teilbereichen, in denen er seine eigene Autorität als wissenschaftlicher Experte geltend machen konnte – die Legitimierung durch einen nach wissenschaftlichen Spielregeln geführten Diskurs als Grundlage des politischen Verfahrens durchzusetzen. Dies verriet zugleich eine Distanz zu einem auf Mehrheitsentscheidungen basierenden Demokratieverständnis.590 Virchow konnte sich ein Stück weit bestätigt fühlen, als sich schließlich selbst ein Teil der anfänglich ablehnenden Agrarier durch seine wissenschaftlich fundierten hygienischen und finanziellen Argumente von den Vorzügen einer Kanalisationslösung für Berlin überzeugen ließ.591 Dass sich die Stadtverordnetenversammlung und der Magistrat der Stadt Berlin 1874 schließlich für die Lösung einer radialen Kanalisation plus Rieselfelder entschieden, die bis 1890 gewaltige Investitionen in Höhe von 79 Millionen Mark nach sich zogen, von denen 60 Millionen in Anleihen finanziert wurden,592 war somit vor allem der wissenschaftlichen Expertise Virchows geschuldet. 587 Ders., Zusätzliche Bemerkungen zu den beiden vorstehenden Gutachten, S. 228. 588 Vgl. dazu v. a. Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, S. 294–317. 589 György Konrád/Iván Szelényi  : Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht, Frankfurt a. M. 1978, S. 28  ; Ronald Hitzler, Wissen und Wesen des Experten. Ein Annäherungsversuch – zur Einleitung, in  : ders./Anne Honer/Christoph Maeder (Hg.), Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit, Opladen 1994, S. 17 f. 590 Ian Farrell McNeely meint dagegen, Virchow sei es darum gegangen, einen öffentlichen Diskurs über Sanitärreform anzustoßen, worin er sein Bekenntnis zu einer demokratischen Lösung der Kanalisationsfrage ausgedrückt habe. (McNeely, «Medicine on a Grand Scale”, S. 68.). 591 Siehe dazu vor allem den Stenographischen Bericht über die Besprechung in der Privatsitzung der Stadtverordneten am 3. März 1873, betreffend die Entfernung der Auswurfstoffe aus Berlin  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2599, Bl. 31–46. 592 Ansprache Virchows zur Eröffnung des X. internationalen medizinischen Kongresses in Berlin, S. 723.

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Allerdings hatte Virchow seinen Standpunkt auch damit gerechtfertigt, dass es sich um »durchaus praktische Gründe« handle, d. h. nicht um »die Gründe eines zu Experimenten geneigten Naturforschers, der erst nach vollem Abschluss seiner Experimente sich zu einer Meinung entschließen will, sondern die Gründe eines vorsichtigen Bürgers, eines gewissenhaften Freundes der öffentlichen Gesundheitspflege«593. Die Entscheidung für den Hobrechtschen Kanalisationsplan war dabei eng mit zentralen Ordnungsvorstellungen des politischen Liberalismus sowie allgemeiner mit einer spezifischen Idee des zivilisatorischen Fortschritts verbunden. Insofern war die Kritik seiner Gegner nicht so unberechtigt, wie Virchow es später darzustellen suchte, als er 1889 im Rückblick spottete  : »Mit Lächeln könne man nur noch an die Zeiten zurückdenken, wo Kanalisation nicht nur als Teufelswerk, sondern auch als ›Fortschritts‹-Werk gebrandmarkt wurde und wo man alle möglichen Schwierigkeiten aufbaute, um nicht die ›Fortschritts‹-Kanäle auf die Aecker der Rieselfelder gelangen zu lassen.«594 Virchow hatte somit versucht, die Debatte um die Abwasserfrage zu entscheiden, indem er die öffentliche Gesundheit zum obersten gesellschaftlichen Wert erhob. Den daraus resultierenden möglichen Konflikt mit wirtschaftsliberalen Wertideen versuchte er durch das Argument zu entschärfen, dass Krankheit und Tod eine erhebliche volkswirtschaftliche Belastung darstellten.595 Im Zusammenhang der öffentlichen Gesundheitspolitik plädierte Virchow zugleich für Staatsinterventionismus in solchen Fällen, in denen das Potenzial zur Selbsthilfe überfordert sein würde. Verweisen auf die liberalen Lehren Stuart Mills hielt er dazu die Hungerkrise in Irland als warnendes Exempel entgegen.596 Zugleich stützte sich Virchow aber auf eine andere liberale Wertidee, um den Hobrechtschen Kanalisationsplan zu verteidigen  : die individuelle Freiheit. Vor den Berliner Stadtverordneten hob er als einen wesentlichen Vorzug der Kanalisation hervor, »dass das Eindringen in die Häuser nicht nöthig wird, dass die Bequemlichkeiten, welche der Bevölkerung geboten werden, gewissermaßen die natürlichen Regulatoren und Kontroleure sind für die Sicherheit dieser Einrichtungen«. Der behördliche Zwang beschränke sich dabei darauf, dass einmalig zum Anschluss an das Kanalisationssystem aufgefordert würde.597 Dagegen sei im Falle der Entscheidung für das Abfuhrsystem eine ständige strikte polizeiliche Kontrolle der ordnungsgemäßen Entleerung der WCs erforderlich, und so malte er für diesen Fall die Schreckensvorstellung eines tief in die Privatsphäre der Bürger eingreifenden Exkrementenpolizeistaats an die Wand, der für die strenge Einhaltung der Abfuhrbestimmungen sorgen müsse.598 593 Virchow, Canalisation oder Abfuhr, S. 239 f. 594 Freisinnige Zeitung, Nr. 243 vom 17.10.1889. 595 Beispielsweise Virchow, Zusätzliche Bemerkungen zu den beiden vorstehenden Gutachten, S. 229. 596 SBPAH, 54. Sitzung am 22.2.1868, S. 1832 f. 597 16. Stenographischer Bericht. Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 11. Juni 1874, S. 10  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2599. 598 Rudolf Virchow, Generalbericht über die Arbeiten der städtischen gemischten Deputation, S. 354–357.

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Die Verbindung von WC und Kanalisation bildet damit einen Modellfall liberaler Stadtsanierung  : Ein den Menschen peinlich berührendes Objekt verschwand quasi unsichtbar, ohne Überwachung durch die Obrigkeit, und lieferte so einen Beweis für die Fähigkeit des Liberalismus, technische Problemlösungen politisch durchzusetzen, die der »Stadt einen Kulturfortschritt von der höchsten Bedeutung in Aussicht«599 stellten, und all dies ohne Eingriff in die politischen Macht- beziehungsweise Eigentumsverhältnisse. Zugleich bildeten die Kanalisation und die damit verbundenen Rieselfelder den Ansatzpunkt einer weiterführenden liberalen Gesellschaftsreform. Bei seiner Eröffnungsansprache auf dem X.  Internationalen Ärztekongress in Berlin, in der er die Erfolge der liberalen Stadtverwaltung pries, hob Virchow 1890 hervor, dass sich die Stadt durch die Gründung solcher Eigenunternehmen auf das sozialpolitische Gebiet begeben habe  : »Die Arbeiter auf den Feldern werden zu einem grossen Theil dem städtischen Arbeitshause entnommen  : mit der Zeit verwandeln sie sich aus Vagabonden in tüchtige Arbeiter, die Geld verdienen.«600 Die Rieselfelder reinigten damit nicht allein die Fäkalien der Großstadt Berlin, sondern zugleich den ›sozialen Auswurf‹ der städtischen Gesellschaft. Damit steht Virchow einerseits in der Tradition des englischen »sanitary movement«, wo Wasserwerke und Kanalisation eine technokratische Lösung der sozialen Frage liefern sollten.601 Zugleich zeigte sich bei ihm aber auch ein positives Verhältnis zu jener als »Munizipialsozialismus« bezeichneten Form der liberalen Stadtherrschaft im Deutschen Kaiserreich, die das den Gemeinden zugewachsene interventionistische Potenzial für Gesellschaftsreformen zu nutzen suchte. Damit war allerdings auch ein starkes Moment der Sozialdisziplinierung und Kontrolle der Unterschichten verbunden.602 Inwieweit führte die Vision einer liberalen Politik auf naturwissenschaftlicher Grundlage damit zu technokratischen Reformen, die zwar soziale Fürsorglichkeit für die Massen, aber wenig politische Partizipation beinhalteten  ?603 Zum einen lässt sich bilanzieren, dass für Virchow in dem Maße, in dem sich der Liberalismus immer weniger auf breite 599 Siehe dazu Vorlage No. 70 für die öffentliche Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung, vom 26.11. bzw. 26.11.1872, gez. Hobrecht bzw. Kochhann  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2599, Bl. 29 f. 600 Ansprache Virchows zur Eröffnung des X. internationalen medizinischen Kongresses in Berlin, S. 724. 601 Simson, Kanalisation und Städtehygiene, S. 10  ; Rodenstein, Mehr Licht, mehr Luft, S. 77 f.; Ladd, Urban Planning and Civic Order. 602 Vgl. dazu Wolfgang R. Krabbe, Die deutsche Stadt im 19. und 20.  Jahrhundert, Göttingen 1989, S.  121– 126, hier v. a. S. 123  ; vgl. auch ders., Munizipialsozialismus und Interventionsstaat. Die Ausbreitung der städtischen Leistungsverwaltung im Kaiserreich, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 30 (1979), S. 265–283  ; Jürgen Reulecke, Stadtbürgertum und bürgerliche Sozialreform im 19. Jahrhundert in Preußen, in  : Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990, S. 171–197, hier  : S. 188 f.; Pohl, Kommunen, kommunale Wahlen und kommunale Wahlrechtspolitik, S. 118–121. 603 Frank Bajohr, Vom Honoratiorentum zur Technokratie. Ambivalenzen städtischer Daseinsvorsorge und Leistungsverwaltung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in  : ders./Werner Johe/Uwe Lohalm (Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Hamburg 1991, S. 66–82.

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Wählerzustimmung stützen konnte, die Demokratisierung von Lebenschancen Priorität gegenüber der Demokratisierung der politischen Teilhabechancen gewann. Zum anderen kann man unter Rückgriff auf die von Habermas vorgeschlagene Typisierung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik festhalten, dass sich Virchow vielleicht zwar am ehesten dem pragmatistischen Modell zuordnen lässt, wurde doch die Lösung in der Berliner Abwasserfrage durch einen offenen Aushandlungsprozess erreicht. Doch nicht in allen derartigen Konflikten reichte die Kraft des ›besseren Arguments‹ aus. Dies wird an den folgenden Beispielen diskutiert, bei denen sich die Legitimationsproblematik der Expertenautorität in politischen Entscheidungsprozessen zuspitzte. Trichinen und Schlachthöfe

Die verschiedenen Aspekte des Verhältnisses von naturwissenschaftlicher Expertenautorität und liberaler Politik bündelten sich in der Auseinandersetzung um die Frage der Fleischbeschau und der Einführung zentraler Vieh- und Schlachthöfe. Seit Anfang der 1860er Jahre wurden Trichinenepidemien, die zahlreiche Menschenleben forderten, gleichermaßen zum Gegenstand polizeilicher und wissenschaftlicher Untersuchungen, öffentlicher Debatten und gesetzgeberischer Bemühungen der deutschen Länder.604 Virchow agierte auf mehreren Bühnen gleichzeitig und griff aktiv in die öffentliche und politische Diskussion ein. Er forderte dabei insbesondere obligatorische mikroskopische Untersuchungen von Schweinefleisch auf Trichinen. Dem widersprachen vor allem die Fleischer, die sich durch die Einführung derartiger hygienischer Maßnahmen finanziell bedroht sahen. Rückblickend schrieb Virchow dazu  : Es ist eine lange und mühselige Arbeit gewesen, und sie ist nur durch manche Zufälligkeiten meiner persönlichen Stellung als Gelehrter, als Abgeordneter und als Beamter erfolgreich gewesen, die Widerstände zu überwinden, welche sich einer wirksamen Fleischbeschau bei uns entgegenstellten. Es würde ein lehrreiches Capitel sein, die Geschichte dieser Kämpfe im Einzelnen darzulegen und zu zeigen, wie sich der Aberglauben der gelehrten und populären Kreise mit den Sonderinteressen der Schlächter und Händler, sowie mit der Bequemlichkeit der Behörden vereinigte, um die einfachsten Maassregeln zu verhindern, deren Nothwendigkeit sich mit zwingender Gewalt auf den ersten Blick nach dem Bekanntwerden der Geschichte von den Trichinen ergab.605

Für Virchow handelte es sich somit darum, eine wissenschaftlich für »wahr« erkannte und damit universell gültige Erkenntnis mit geeigneten technischen Maßnahmen po604 Siehe dazu etwa Protokoll der 18. Polizeikonferenz vom 3. bis 5. August 1864 in Karlsruhe, Anlage D  : Mitteilung über Trichinenkrankheit, in  : Dokumente aus geheimen Archiven, Bd. 5  : Die Polizeikonferenzen deutscher Staaten 1851–1866, S. 586–587. 605 Virchow, Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 2, S. 527.

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litisch durchzusetzen, wobei sich ihm zufolge auf der Gegenseite Unwissen, Aberglauben, Trägheit und gesellschaftliche Partikularinteressen verbündeten. Dem versuchte er gleichermaßen den Zwang des besseren (d. h. wissenschaftlichen) Arguments wie der staatlichen Machtmittel entgegenzusetzen. Einen Einblick in diese Auseinandersetzung gewährt das Protokoll einer Diskussion über die Trichinenfrage in einer am 15. Dezember 1865 veranstalteten Versammlung des Berliner Schlächtergewerks, auf der neben Virchow einige andere Ärzte und Tierärzte als Redner auftraten.606 Unmittelbarer Anlass war eine Trichinenepidemie in Hedersleben im Harz, die zahlreiche Menschenleben gefordert hatte. Virchow schilderte den Verbreitungsweg der Trichinen und die möglichen Vorsichtsmaßnahmen gegenüber einer Übertragung und forderte, dass das für den Verkauf bestimmte Schweinefleisch durch Fachleute untersucht werden müsse. Zugleich forderte er eine strenge polizeiliche Überwachung und Strafen im Falle von Verstößen. Nur auf diese Weise sei dem »Publicum die Ueberzeugung zu verschaffen, daß es gesundes, zuverlässiges Fleisch bekommt«607. Der Tierarzt Friedrich-Ludwig Urban hielt dem jedoch entgegen, dass Virchow die Bevölkerung ungerechtfertigterweise in Angst und Unruhe versetzen würde, handle es sich doch um nichts anderes als um einen von den Ärzten und der Presse herbeigeredeten »Trichinenschwindel«608. Dieser Expertenstreit auf offener Bühne nahm jedoch eine unerwartete Wendung  : Ein anwesender Pressevertreter forderte Urban nunmehr dazu auf, eine Probe der mutmaßlich trichinösen Wurst aus Hedersleben zu verzehren. Das Publikum schloss sich dieser Forderung in tumultartigen Formen an. Nachdem es Urbans weitere Rede ständig mit Zwischenrufen (»Wurst essen  !«) unterbrach, gehorchte er schließlich dieser Aufforderung und zerkaute und schluckte demonstrativ ein Stück Wurst. Dabei nahm er die Galilei-Pose des wegen der Verkündung einer unbequemen Wahrheit verfolgten Wissenschaftlers ein und hielt seine Behauptung, wonach es sich um einen Trichinenschwindel handle, demonstrativ aufrecht.609 Somit hatte das Laienpublikum den Experten zum Experiment am eigenen Leib gezwungen, das die Entscheidung herbeiführen sollte.610 Diese Forderung nach einem Selbstversuch des Tierarztes Urban mischte experimentelle und magische Vorstellungen, indem es auch Anklänge an ein Gottesurteil besaß. Demgegenüber bevorzugte Virchow die Kombination von Experiment und Polizei. Der Verlauf der Versammlung des Berliner Schlächtergewerks 1865 verstärkte seine 606 Stenographischer Bericht der Verhandlung über die Trichinen-Frage in der Versammlung des Berliner Schlächtergewerks (am 15.  December 1865) unter Betheiligung der Herren Prof. Dr.  Virchow, Prof. Dr. Hertwig, Dr. Cohnheim, Thierarzt Urban u. a., Berlin 1866. 607 Stenographischer Bericht der Verhandlung über die Trichinen-Frage, S. 3–19, Zitat  : S. 18. 608 Ebenda, S. 19–22, Zitat  : S. 20. 609 Ebenda, S. 31 f. 610 Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Selbstversuch Pettenkofers mit dem Cholera-Erreger. Siehe dazu Richard Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910, Reinbek b. Hamburg 1990, S. 625 ff.

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Zweifel am Effekt freiwilliger Maßnahmen der Fleischer,611 und so suchte er den Weg des Zwangs. Er setzte sich erfolgreich dafür ein, dass die Trichinen im Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes berücksichtigt wurden, doch erwies sich diese Maßnahme immer noch nicht als ausreichend, um den Handel mit trichinösem Fleisch effektiv zu unterbinden.612 Überdies hatte er schon 1864 in der Berliner Stadtverordnetenversammlung den Bau eines öffentlichen Schlachthauses gefordert.613 Aber auch nach dem 1868 erlassenen preußischen »Gesetz zur Errichtung öffentlicher, ausschließlich zu benutzender Schlachthäuser« kam ein solches in Berlin zunächst nicht zustande. Lediglich ein von einer privaten Aktiengesellschaft betriebener Vieh- und Schlachthof nahm 1870 seine Tätigkeit auf, doch existierten daneben immer noch etwa 800 private Schlachtanlagen. In seinem politischen Kampf um einen öffentlichen Schlachthof, in dem alle Schlachtungen in Berlin unter amtlicher Kontrolle vorgenommen werden sollten, nutzte Virchow seine Position in unterschiedlichen Experten- und politischen Gremien. Vor der endgültigen Entscheidung über dieses Projekt setzte er 1877 die widerstrebenden Berliner Stadtverordneten, die sich für die durch ein städtisches Schlachthofprojekt in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedrohten Fleischer stark machten, unter Druck  : Er erklärte ihnen, dass es ihm kraft seiner Expertenrolle bereits gelungen sei, die Sache sowohl im Deutschen Reich gesetzlich zu verankern als auch die einzelnen deutschen Regierungen für entsprechende Schritte zu gewinnen  – dem müsse sich schließlich auch die Stadt Berlin beugen.614 Deshalb attackierten ihn vor allem die davon betroffenen Fleischer, wobei er als Repräsentant einer volksfernen Professorenpolitik beschimpft und sein Konzept der Bildung und Aufklärung mit Spott und Hohn übergossen wurde. Virchow stellt somit geradezu den Prototyp jener bürgerlichen liberalen Führer dar, die nun gezwungen waren, »von ihrem Olymp des Universellen herabzusteigen und sich mit den Alltagsinteressen von Metzgern und Bäckern auseinander zu setzen«615. So erschien in der Deutschen Fleischer-Zeitung vom 27. März 1877 ein offener Brief an Virchow, der im 611 Virchow an N. N., 29.12.1865  : StBB-PK, Slg. Darmstädter 3, Rudolf Virchow, K. 2  : Briefe, Bl. 4. 612 Siehe Feilhaltung und Verkauf trichinenhaltigen Fleisches. Gutachten der Königlichen Wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen. Referent Virchow, Druck  : Virchow, Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 2, S. 526 f. 613 Siehe dazu Reden der Stadtverordneten Meyn und Virchow, in  : Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung von Berlin am 15.3.1877, Nr. 11, S. 125 u. S. 131 f. Vgl. zum Folgenden auch Daniela Guhr, Rundgang durch ein Jahrhundert, in  : Susanne Schindler-Reinisch (Hg.), Eine Stadt in der Stadt. Berlin Central-Viehhof, Berlin 1996, S. 7–72, hier v. a. S. 14–23  ; Joachim Borchart, Der europäische Eisenbahnkönig  : Bethel Henry Strousberg, München 1991, S. 101 ff.; Stefan Tholl, Preussens blutige Mauern. Der Schlachthof als öffentliche Bauaufgabe im 19. Jahrhundert, Walsheim 1995. 614 Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung von Berlin am 15.3.1877, Nr. 11, S. 131. 615 David Blackbourn, Wie es eigentlich nicht gewesen, in  : ders./Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte Revolution von 1848, Frankfurt a. M. u. a. 1980, S. 112.

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Namen der Berliner Fleischer gegen die von diesem geforderte amtliche Überprüfung aller geschlachteten Schweine auf Trichinenbefall protestierte, sei diese doch angesichts der großen Zahl der täglich zu untersuchenden Schweine nicht praktikabel  : Die Fleischer aber, auf dem Boden praktischer Erfahrung stehend, können den von Ihnen gemachten Behauptungen nicht zustimmen und richten daher an Ew. Hochwohlgeboren die ebenso dringende als ergebene Bitte, uns endlich einmal vom Standpunkte der Wissenschaft Belehrung zu Theil werden zu lassen. Es ist ja ein hoher, schöner Beruf der wahren Wissenschaft, Bildung und Aufklärung zu verbreiten, Ew. Hochwohlgeboren würden hier ein reiches Feld finden, Bildung und Aufklärung zu verbreiten. Leuchtende Vorbilder unter den Gelehrten der neueren und älteren Zeit zeigen uns, wie wahre Gelehrsamkeit es nicht verschmäht hat, auch dem Volke Aufklärung zu bringen, nur Hochmuth und lächerlicher Gelehrtendünkel bekommen es fertig, leere und hohle Phrasen in die Welt zu schicken, die wie Seifenblasen vor den Gründen des gesunden Menschenverstandes vergehen (…).616

Kritisiert wurde aber auch, dass ein bestehendes Privatunternehmen, nämlich die Viehmarkt-Aktiengesellschaft, durch ein unakzeptables Kaufangebot beziehungsweise durch die Drohung, ein städtisches Konkurrenzunternehmen zu gründen, in die Knie gezwungen werden sollte. Dieser 1877 zustande gekommene Beschluss der Berliner Stadtverordnetenversammlung war nach der Überzeugung der Deutschen Grundeigenthum-Zeitung »nur durch Beeinflussung entstanden«, und verwies dabei nicht nur auf versteckte Finanzinteressen, sondern namentlich auf »die theoretische Professoren-Weisheit und den Hyper-Humanismus, der gegenwärtig in der Luft liegt, wonach man das Wohl der Menschheit nur in allen möglichen und unmöglichen sanitairen Rücksichten zu finden sucht«617. Tatsächlich erlag die private Aktiengesellschaft bald nach der Eröffnung des städtischen Central-Vieh- und Schlachthofes 1881 der kommunalen Konkurrenz. Dies stand zugleich im Zusammenhang einer allgemeinen Entwicklungstendenz, denn seit den 1880er Jahren übernahmen Städte im Deutschen Reich zunehmend die bis dahin entstandenen privaten Versorgungs- und Verkehrsleistungen in Eigenregie.618 Wie Virchow in der Schlachthoffrage agierte, war weniger von den potentiellen Folgen für die künftige Verfassungsentwicklung bestimmt, etwa im Hinblick darauf, die kommunale Selbstverwaltung als Ausgangspunkt einer schrittweisen Demokratisierung Preußens zu stärken. Vielmehr ging es ihm hier vor allem darum, ein konkretes gesundheitspolitisches Ziel durchzusetzen. So setzte er also zumindest in diesem Fall die mit 616 Deutsche Fleischer-Zeitung vom 27.3.1877, »Offener Brief an den Herrn Professor Dr. Virchow«  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2756. 617 Deutsche Grundeigenthum-Zeitung vom 15.4.1877, Nr. 29, »Das Unerhörteste«. 618 Karl Heinrich Kaufhold, Investitionen der Städte im 19. und 20. Jahrhundert. Einführung, in  : ders. (Hg.), Investitionen der Städte im 19. und 20. Jahrhundert, S. XI f.

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seiner Expertenrolle auf Landes- und Reichsebene verbundene Machtposition gegenüber der Berliner Stadtverordnetenversammlung ein, um diese politisch unter Druck zu setzen. Durch diese Form der Mehrheitsbeschaffung geriet Virchow und damit auch der Typus des liberalen Gelehrtenpolitikers zunehmend in Gegensatz zu populären Stimmungen, gerade wenn es sich, wie im Falle des Schlachthofes, zugleich um eine Art von Modernisierungskonflikt handelte. Von den Gegnern des Projektes wurde nicht nur die Vernichtung mittelständischer Existenzen und die zu erwartende Verteuerung des Fleisches angeführt, sondern auch mit der Parallele zur Haussmannschen Städtereform argumentiert, wo die Zentralisierung von Versorgungseinrichtungen auch der leichteren militärischen Kontrolle einer aufständischen Bevölkerung gedient habe.619 So verband Virchow insofern Elemente des Honoratioren mit solchen des Experten, als er vor allem in der Kommunalpolitik auf wissenschaftliche Erkenntnisse gestützte ›Sachpolitik‹ ohne Rücksicht auf Parteigrenzen durchzusetzen suchte. Dabei arbeitete er, wenn es ihm erforderlich schien, nicht nur mit gegnerischen Parteien zusammen, sondern stützte sich notfalls auch auf die Autorität des preußischen Polizeistaats. Diese eigentümliche Form der Verbindung von »Wissen« und »Macht« bildet zugleich auch einen Teil des schwierigen Verhältnisses des Liberalismus zu den »Massen«620. Nicht zuletzt verdeutlichen die aufgeführten Fallbeispiele aber auch das spannungsreiche Verhältnis zwischen der Behauptung einer Eigenständigkeit des Liberalismus auf kommunaler Ebene einerseits und der Interaktion der verschiedenen politischen Ebenen – Berlin, Preußen und Deutsches Reich – andererseits.621 Virchow ging mit diesem Spannungsverhältnis situationsgebunden um  : Mal betonte er, wie wichtig es sei, die kommunale Selbstverwaltung und Autonomie an sich zu stärken, mal nutzte er seine Omnipräsenz durch Abgeordnetenmandate auf verschiedenen Ebenen sowie seine Stellung in vielfältigen Expertengremien, um seine politischen Ziele notfalls auch gegen den Willen der kommunalen Gremien Berlins durchzusetzen. Die ›Wahrheit des Experten‹ berief sich somit auf ihren Universalismus, der sich jeweils mit derjenigen politischen Macht verbünden konnte, die ihr zur Durchsetzung verhalf. Virchows politischer Stil, der sich als ›Wahrheitspolitik‹ bezeichnen lässt, ist damit im Hinblick auf die Geschichte des deutschen Parlamentarismus ambivalent  : Auf der einen Seite lässt sich seine Vorgehensweise, die vielfach darauf basierte, politische Streitfragen auf das Feld seiner spezifischen Expertenkompetenz zu ziehen, als eine Reaktion auf die Schwäche des deutschen Parlamentarismus begreifen. So trug dieser politische Stil auch zur indirekten Veränderung des »dilatorischen Herrschaftskompromisses«622 619 Siehe dazu die Unterlagen in ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2756. 620 Dies ist eines der zentralen Themen bei Sheehan, Der deutsche Liberalismus. 621 Vgl. zu dieser Kontroverse Pohl, Kommunen, kommunale Wahlen und kommunale Wahlrechtspolitik  ; Palmowski, Urban Liberalism  ; Dieter Langewiesche, »Staat« und »Kommune«. Zum Wandel der Staatsaufgaben in Deutschland im 19. Jahrhundert, in  : Historische Zeitschrift 248 (1989), S. 621–635. 622 Wolfgang J. Mommsen, Die Verfassung des deutschen Reiches von 1871 als dilatorischer Herrschaftskom-

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im Deutschen Reich durch Verwissenschaftlichung politischer Fragen623 bei. Auf der anderen Seite lässt sich ein solcher Politikstil aber auch als einer der Faktoren dieser Malaise ansehen  : Die Verlagerung von politischer Autorität auf wissenschaftliche Experten unterhöhlte nicht nur die Macht der traditionalen Eliten, sondern im Namen einer universalistischen Vernunft auch die der demokratisch legitimierten Volksvertretungen. 3.2.3 Vom deutschen Gelehrten zum europäischen Intellektuellen  ?

In seinem berühmten »politischen Testament« beklagte der Althistoriker Theodor Mommsen 1899 aus der Rückschau auf sein Leben, seine politischen Kämpfe vergeblich geführt zu haben.624 Hält man dem die wenig später veröffentlichte Lebensbilanz des vier Jahre jüngeren Virchow entgegen, so begegnet einem ein ganz anderer, selbstzufriedener Tonfall. Dieser hob dort unter anderem hervor, dass durch seine Arbeit »Berlin zugleich eine der reinlichsten und schönsten, aber auch der gesündesten Großstädte geworden« sei625. Die unterschiedliche Selbsteinschätzung ihrer jeweiligen gelehrtenpolitischen Rolle durch den Historiker und Literaturnobelpreisträger Mommsen und den Naturwissenschaftler und Mediziner Virchow scheint zunächst die vieldiskutierte These C. P. Snows über die Existenz »zweier Kulturen« zu bestätigen  : Gemeint ist dabei das Bestehen einer literarischen und einer naturwissenschaftlichen Intelligenz, von denen die erste vor allem mit der Deutung der Welt und die zweite mit deren materieller Beherrschung beschäftigt sei.626 War Virchow also vielleicht deshalb zufriedener mit seiner öffentlichen und politischen Rolle, weil er im Gegensatz zu Mommsen sozusagen greifbarere Ziele verfolgte  ? Dies würde auch in das von Wolf Lepenies entworfene Bild passen  : Im Anschluss an die Debatte um die »zwei Kulturen« charakterisiert er die Entstehung der europäischen Intellektuellen als eine »klagende Klasse«, deren Verfasstheit zwischen den Polen Melancholie und Utopie läge.627 Demgegenüber stünden die modernen Naturwissenschaftler, promiß, in  : ders., Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1990, S. 39–65. 623 Vgl. dazu auch Peter Weingart, Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Politisierung der Wissenschaft, in  : Zeitschrift für Soziologie 12 (1983), S. 225–241. 624 Vgl. v. a. Lothar Gall, »… ich wünschte ein Bürger zu sein«. Zum Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in  : Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 601–623, hier  : S. 601 f.; sowie Christian Jansen, »… wünschte ein Bürger zu sein.« Theodor Mommsen und die deutsche Politik in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, in  : ders./Niethammer/Weisbrod (Hg.), Von der Aufgabe der Freiheit, S. 29–49, hier  : S. 30. 625 Virchow, Zur Erinnerung, S. 5. 626 Vgl. dazu Helmut Kreuzer unter Mitarbeit v. Wolfgang Klein (Hg.), Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P. Snows These in der Diskussion, München 1987. 627 Wolf Lepenies, Ein Rückblick. Die klagende Klasse und die Entstehung des guten Gewissens, in  : ders., Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa, Frankfurt a. M. u. New York 1992, S. 9–45.

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die ein höchst erfolgreiches Modell der Weltbeherrschung entwickelt hätten, das auf einer Kombination von Erkenntnisanspruch und Orientierungsverzicht basiere. Dabei sei die Entmoralisierung der Erkenntnis zur Grundvoraussetzung von Forschung geworden. Folgte man dieser Argumentation, so ließe sich Virchow als ein solcher »Mensch guten Gewissens« interpretieren, dem Mommsen als Melancholiker und Intellektueller gegenüberstünde. Hinter einer solchen Polarisierung verbirgt sich allerdings wiederum das traditionelle Bild des deutschen »Gelehrten« im Kaiserreich  : Demzufolge seien Naturwissenschaftler und Mediziner in Fragen der politischen und kulturellen Deutung gleichsam intellektuelle Trittbrettfahrer der Geisteswissenschaften gewesen und hätten keine eigenständige Rolle bei der Entwicklung von Weltdeutungen und ihrer kulturellen und politischen Vermittlung gespielt, sondern sich auf ihre Rolle als technokratische beziehungsweise pragmatische Problemlöser beschränkt.628 So bleiben Naturwissenschaftler auch im Zusammenhang der Diskussion um die Intellektuellen in der Regel ausgeblendet. Der bisherige Untersuchungsgang lässt jedoch Zweifel daran aufkommen, dass die auf spezifische Expertenkompetenz gestützte Rolle Virchows als naturwissenschaftlicher Gelehrtenpolitiker gänzlich im Anspruch auf pragmatische Weltbeherrschung aufging. Inwieweit gehören also zu dem mit ihm verbundenen Modell der Gelehrtenpolitik auch Aspekte eines naturwissenschaftlichen Intellektuellen  ?629

628 So etwa bei Fritz Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, München 1987, S. 16. 629 Die im Folgenden verwendete Definition des »Intellektuellen« bezieht sich vor allem auf die Vorschläge von M. Rainer Lepsius und Gangolf Hübinger. Lepsius greift auf Josef A. Schumpeter zurück, der den Intellektuellen als »Störungsfaktor« definiert. (Josef A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, 7., erweiterte Auflage, Tübingen u. Basel 1993, S. 237.) Während aber Schumpeter die soziale Ungebundenheit als wichtigstes Kennzeichen des Intellektuellen ansieht, geht es Lepsius um eine funktionale Definition  : Der Beruf des Intellektuellen sei Kritik, und zwar inkompetente und legitime Kritik. Denn zum einen rede dieser über Dinge außerhalb seiner Expertenkompetenz. Zugleich müsse er sich dabei aber auf Werte beziehen, »über deren Gültigkeit als Leitbilder sozialen Verhaltens Konsensus besteht«. (Lepsius, Kritik als Beruf, S. 282.) Ähnlich auch die Definition des Intellektuellen bei Pierre Bourdieu. (Bourdieu, Der Korporativismus des Universellen. Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt, in  : ders., Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991, S. 41–65, v. a. S. 41 f.) Allerdings zeichnen sich bei Bourdieu, anders als bei Lepsius, die Intellektuellen gerade dadurch aus, dass sie »für sich das Recht in Anspruch (nehmen), den heiligsten Werten der Gemeinschaft – vor allem denen des Patriotismus und Nationalismus – zuwiderzuhandeln, wenn sie im Namen von Werten, die diejenigen des Gemeinwesens transzendieren«, intervenieren. (Ebenda, S. 45 f.) Während Hübinger 1994 die Intellektuellen gleichfalls als Kritiker »ohne Verantwortlichkeit für das daraus resultierende praktische Handeln« definierte (Hübinger, Die europäischen Intellektuellen 1890–1930, in  : Neue Politische Literatur 39 (1994), S. 34–54, hier  : S. 35 f.), geht es ihm in dem von ihm 2000 mitherausgegebenen Sammelband gerade um die Frage, welche Arbeit die Intellektuellen tun, »wenn sie ihr Engagement zur ›sozialen Vermittlung abstrakter Wertvorstellungen‹ nicht auf ›inkompetente Kritik‹ beschränken wollen, sondern die Grenze zum politischen Mandat überschreiten«. (Ders., Die politischen Rollen europäischer Intellektueller, S. 44)  ; siehe auch ders., Die Intellektuellen im

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Im Folgenden soll also gefragt werden, auf welche Weise und in welchen Kontexten Virchow in gesellschaftliche Streitfragen intervenierte, die außerhalb seiner naturwissenschaftlichen und medizinischen Expertenkompetenz lagen, und auf welche Werte er sich dabei bezog. In welcher Weise versuchte er dabei, den aus seinen Idealen abgeleiteten Kulturwerten soziale Verbindlichkeit zu verleihen  ? Inwieweit verhielt er sich somit als Intellektueller, der Debatten aus ihrem spezifischen Fachkontext herauslöst und sie mit universalisierbaren Werten verbindet  ? Ging es zuvor also vor allem um Virchows gelehrtenpolitische Rolle in Parlamenten und Expertengremien, die gleichfalls wichtige Wirkungsfelder des politischen Intellektuellen bezeichnen, geht es nun also um sein Wirken als »public intellectual«, der sich in erster Linie auf eine nicht-spezialisierte Öffentlichkeit bezieht. Damit stellt sich zugleich die Frage nach Veränderungen des politischen Kommunika­ tions­felds,630 innerhalb dessen Virchow sich bewegte. Als eine entscheidende Zäsur für die Geschichte der Intellektuellen werden oft die 1890er Jahre beschrieben  : Seither sei das kulturelle Deutungsmonopol des auf die Verbindlichkeit der gesellschaftlichen Bedeutung von Bildung gestützten deutschen »Gelehrten«631, der den in Deutschland vorherrschenden älteren Typus des Intellektuellen verkörpert, von der Figur des modernen Intellektuellen herausgefordert worden. Dafür wird eine ganze Reihe von Erklärungsfaktoren herangezogen, darunter vor allem beschleunigte Urbanisierung, Pluralisierung verfügbarer weltanschaulicher Orientierungsmuster, Überproduktion von Akademikern und schließlich das Vordringen des »Literaten« gegenüber den bei der Verwaltung und Interpretation des Wissens bislang dominierenden Universitätsprofessoren, aber auch die Entstehung eines Massenmarktes für geistige Produkte sowie Veränderungen der politischen Öffentlichkeit als Ergebnis einer forcierten Demokratisierung.632 Wie hingen also Veränderungen der öffentlichen Wirksamkeit Virchows mit strukturellen Veränderungen seines Handlungskontextes zusammen  ? Und wie entwickelte sich sein intellektueller Habitus im Spannungsfeld von Gelehrten und Intellektuellen  ? Die Popularisierung des Fortschritts

Während der Revolution von 1848 hatte sich Virchow dem Modell des »totalen Intellektuellen« angenähert  :633 Damals entwarf er sich als »ganzer Mensch«, und so versuchte wilhelminischen Deutschland. Zum Forschungsstand, in  : Hübinger/Mommsen (Hg.), Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, S. 198–210, hier  : S. 202. 630 Vgl. Hübinger, Die politischen Rollen europäischer Intellektueller, S. 36. 631 Vgl. Ringer, Die Gelehrten  ; Dieter Langewiesche, Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert, in  : Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV, S. 95–121, hier v. a. S. 108–113. 632 Hertfelder, Kritik und Mandat, S.  23–25  ; Hübinger, Die politischen Rollen europäischer Intellektueller, S. 36 f.; vgl. auch ders., Die Intellektuellen im wilhelminischen Deutschland  ; Christophe Charle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1996. 633 Vgl. Charle, Vordenker der Moderne, S. 76 f.

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er, Gedanken und Tat in sich zu vereinigen und zugleich alle Wertsphären zu entgrenzen. Der gescheiterte Revolutionär trennte jedoch dann Wissenschaft und Politik beziehungsweise Theorie und Praxis zunächst wieder streng voneinander. Doch blieb er nicht dabei stehen, und zu den Versuchen, hier wieder zwischen beidem zu vermitteln gehörte vor allem die Wissenschaftspopularisierung. Die Verbreitung naturwissenschaftlicher Bildung in der Öffentlichkeit bot vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Revolution einen Ersatz für die in den 1850er Jahren scharf unterdrückte politische Öffentlichkeit, und in keiner anderen Phase der deutschen Bildungsgeschichte beteiligten sich politische Intellektuelle so umfangreich an dieser Bewegung.634 Die Popularisierung von Naturwissenschaft zielte darauf, einen modernen, auf naturwissenschaftlichen Grundlagen beruhenden Lebensstil zu verbreiten und sollte damit indirekt auch die politischen Verhältnisse in eine demokratische oder liberale Richtung bewegen. Gleichzeitig sollte die ›bürgerliche Verbesserung‹ der Unterschichten durch naturwissenschaftliche Bildung zur Lösung der sozialen Frage im liberalen Sinne beitragen. Die Popularisierung der Naturwissenschaften war somit zentral für die »Kultur des Fortschritts« (David Blackbourn), deren Höhepunkt in den 1860er Jahren lag. Sie blieb aber bis in Virchows späte Jahre hinein ein wichtiges Verbindungsstück zwischen Wissenschaft und Politik. 1892 erklärte er auf einer Feier seines 40-jährigen Jubiläums als preußischer Landtagsabgeordneter, dass er sich nun an keine größere wissenschaftliche Arbeit mehr heranwagen und sich auch allmählich aus der aktiven Politik zurückziehen wolle. Zugleich wollte er seine Arbeitskraft künftig vor allem der Wissenschaftspopularisierung widmen  : »Ich bin jetzt dabei, die Resultate meiner Forschungen einheitlich zusammenzufassen und sie für die Welt und grössere Volkskreise populärer zu machen, ich muss deshalb jetzt mehr den Gelehrten als den Politiker hervorkehren.« Auf diese Weise sollte es weiter seine Aufgabe bleiben, »der kommenden Generation den Weg zu zeigen, den sie zu gehen hat. Dieser höhere agitatorische Trieb lebt zu stark in meinem Innern.«635 Virchow hielt damit bis zuletzt an seinem bereits während der Revolution artikulierten Selbstbild als Wegweiser und Prophet fest. Als Bühne seiner in den 1860er Jahren einsetzenden populärwissenschaftlichen Aktivitäten dienten Virchow vor allem die jährliche Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, aber auch Einrichtungen der liberalen Volksbildungsbewegung wie der von ihm mitbegründeten »Gesellschaft für die Verbreitung von Volksbildung« sowie insbesondere der Berliner Handwerkerverein. Zudem agierte er als populärwissenschaftlicher Publizist  : So trat er als Autor und Herausgeber zahlreicher populärwissenschaftlicher 634 Andreas Daum, Naturwissenschaften und Öffentlichkeit in der deutschen Gesellschaft. Zu den Anfängen einer Populärwissenschaft nach der Revolution von 1848, in  : Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 57–90, hier v. a. S. 75  ; sowie ders., Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. 635 Berliner Börsen-Courier, Nr. 561 vom 7.11.1892, »Jubiläumsfeier der Landtagsabgeordneten Ludolf Parisius und Rudolf Virchow«.

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Veröffentlichungen auf, von denen die Sammlung Gemeinverständlicher Wissenschaftlicher Vorträge an erster Stelle stand. Überdies organisierte er zahlreiche Ausstellungen und wirkte in Berlin maßgeblich an einer Reihe von Museumsgründungen mit – darunter das Völkerkundemuseum, das Trachtenmuseum, das Märkische Provinzialmuseum und zuletzt das Pathologische Museum. Der Plan eines Humboldt-Museums, den Virchow Anfang der 1870er Jahre gleichfalls verfolgte, scheiterte zwar,636 doch gehörte das 1883 eingeweihte Denkmal für Alexander von Humboldt vor der Berliner Universität, an dessen Verwirklichung er seit 1859 gearbeitet hatte, gleichfalls in den Zusammenhang der symbolischen Verankerung der Naturwissenschaft und ihrer liberalen Helden im öffentlichen Raum. An Virchow, der unter den deutschen Wissenschaftspopularisierern insofern eine Ausnahmestellung einnahm, als er kein akademischer Außenseiter, sondern Meinungsführer war,637 lässt sich deutlich erkennen, in welcher Weise »Popularisierung (…) auch eine Erweiterung der Definitionsmacht von Wissenschaftlern auf das Feld der öffentlichen politischen Diskussion und Forschungspolitik« 638 bedeutete. Auch in öffentlichen Debatten außerhalb seiner fachlichen Kompetenz versuchte er seine Deutungschancen vielfach in erster Linie dadurch zu realisieren, dass er die umstrittenen Themen in das Feld seiner eigenen Expertise hinüberzog, wo er als kompetenter Kritiker agieren konnte. Dies war jedoch keineswegs unproblematisch, zumal vor dem Hintergrund signifikanter Veränderungen der Grenzziehung zwischen wissenschaftlichen Laien und Experten. In der Zeit der Revolution formulierte Virchow am Beispiel der Medizin die Utopie, diese Grenze langfristig aufzuheben. Allerdings sah er dazu einen dialektischen Dreischritt vor, wonach dem gegenwärtigen Zustand eine Phase der verschärften Grenzziehung zwischen Laien und Experten folgen müsse, bevor diese Unterscheidung schließlich gänzlich aufgehoben werden könne  : Zunächst müssten die Ärzte wieder Priester werden, nämlich die Hohenpriester der Natur in der humanen Gesellschaft. Aber mit der Verallgemeinerung der Bildung muss diese Priesterschaft sich wiederum in das Laienregiment auflösen und die 636 Zur Rolle Virchows für die Berliner Museumslandschaft vgl. M. Bartels, Zum Gedächtnis Rudolf Virchow’s, in  : Nachrichten aus dem Museum für Deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes 2 (1903), S. 1 ff.; Krietsch/Dietel, »Pathologisch-Anatomisches Cabinet«  ; Matyssek, Das Pathologische Museum  ; Ulrich Steinmann, Die Entwicklung des Museums für Volkskunde von 1889 bis 1964, in  : Staatliche Museen zu Berlin. 75 Jahre Museum für Volkskunde zu Berlin 1889–1864, Festschrift, Berlin 1964, S. 7–47  ; Nikolaus Bernau/Kai Michel, Das Märkische Museum, Berlin 1999  ; Andrew Zimmerman, Science and Schaulust in the Berlin Museum of Ethnology, in  : Goschler (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, S. 65–88  ; zum Projekt des Humboldt-Museums siehe Wilhelm Förster an Virchow, 1.7.1870  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 630, Bl. 3. 637 Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 445 ff. 638 Felt, »Öffentliche« Wissenschaft, S. 65.

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Medicin aufhören, eine besondere Wissenschaft zu sein. Ihre letzte Aufgabe als solche ist die Constituirung der Gesellschaft auf physiologischer Grundlage.639

Nach der Revolution entschwand die Aussicht, die Grenze zwischen Laien und Experten niederzureißen, in weiter Ferne, doch lehnte Virchow ein esoterisches Verständnis von Wissenschaft weiterhin ab. Weiterhin blieb er davon überzeugt, dass Naturwissenschaftler und Ärzte eine Art von intellektueller Avantgarde des gesellschaftlichen Fortschritts darstellten. Einer seinem Lehrer Johannes Müller gewidmeten Arbeit stellte Virchow 1862 die programmatische Bemerkung voran  : (…) die höchste Befriedigung außer dem Forschen gewinnen wir dann, wenn es uns gelingt, unsere Wissenschaft in das handelnde Leben einzuführen und sie nicht blos dem materiellen, sondern auch dem sittlichen Fortschritte der Menschheit dienstbar zu machen. Unsere Zeit bietet ja gerade das schöne Schauspiel dar, wie täglich mehr und mehr Wissen und Können in Eins zusammengehen, wie forschende Gelehrte zugleich thätige Bürger werden, wie die früher abgeschlossene Wissenschaft in das ganze Volk eindringt und in ihm lebendig fortarbeitet.640

Die Kluft zwischen Wissenschaft und gebildeter Öffentlichkeit erschien Virchow prinzipiell überbrückbar. So erklärte er 1869 auf der Dresdener Naturforscherversammlung, dass in Deutschland das hohe Niveau der Presse »jedem Gebildeten« ermögliche, »mit den Errungenschaften der Wissenschaft Schritt zu halten«, sofern er durch die Schule die erforderlichen Grundlagen erworben habe.641 Mit dieser Auffassung stand er nicht alleine  : Die bildungsbürgerliche Presse des 19. Jahrhunderts berichtete ausführlich über wissenschaftliche Neuerungen sowie über Sitzungen wissenschaftlicher Kongresse und Gesellschaften und dokumentierte damit den grundsätzlichen Anspruch, dass eine Kommunikation zwischen Laien und Experten und zugleich eine Übersicht über die verschiedensten Wissensgebiete als Grundlage kultureller Gemeinsamkeiten möglich sei. Erst um 1900 wurde dies auf breiter Front bezweifelt, wofür nicht zuletzt Julius Langbehns antimoderne, kulturpessimistische Erfolgsschrift Rembrandt als Erzieher steht. Aber bereits Virchows Rede auf der Münchener Naturforscherversammlung 1877 über die »Freiheit der Wissenschaft im modernen Staatsleben«642 signalisierte eine 639 Rudolf Virchow, Der Staat und die Ärzte, Teil II, in  : MR, Nr. 38 vom 23.3.1849, S. 217 f. 640 Ders., Vier Reden über Leben und Kranksein, Vorwort. 641 Ders., Über den naturwissenschaftlichen Unterricht. (Auszug aus einer Rede Virchows auf der Naturforscher-Versammlung in Dresden 1868). Druck  : Sudhoff, S. 73 f., hier S. 74. 642 Ders., Freiheit der Wissenschaft. Vgl. dazu v. a. Alfred Kelly, The Descent of Darwin. The Popularization of Darwinism in Germany, 1860–1914, Chapel Hill 1981, S. 57–60  ; Kurt Bayertz, Darwinismus und Freiheit der Wissenschaft. Politische Aspekte der Darwinismus-Rezeption in Deutschland 1863–1878, in  : Scientia  118 (1983), S.  267–281  ; Jutta Kolkenbrock-Netz, Wissenschaft als nationaler Mythos. Anmerkungen

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Krise des Verhältnisses von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Dort polemisierte Virchow scharf gegen seinen einstigen Schüler und Bewunderer Ernst Haeckel, der zuvor an selber Stelle die Thesen Charles Darwins über die Evolution des Lebens zur verbindlichen Wahrheit erklärt und gefordert hatte, diese im Schulunterricht zu verbreiten.643 Virchow lehnte dies ab und forderte stattdessen, dass an Schulen ausschließlich gesichertes Wissen vermittelt werden dürfe. Hatte er während des Kulturkampfs noch befürchtet, die katholischen »Massen« seien naturwissenschaftlicher Bildung unzugänglich und könnten so nicht an der ›Kultur des Fortschritts‹ teilhaben, so sorgte er sich nun umgekehrt um die Folgen einer – zumindest in seinem Sinne – unverantwortlichen naturwissenschaftlichen Bildung. Dieses Argument steigerte er noch, indem er behauptete, der Darwinismus sei mitverantwortlich für die Schrecken der Pariser Kommune.644 Virchows Attacke resultierte zunächst aus Besorgnissen über bestimmte Formen der Popularisierung dieser Theorie, die mit seinen wissenschafts- und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen beziehungsweise professionellen Interessen zu kollidieren drohten. So befürchtete er Nachteile in der aktuellen Debatte über die Einführung des Biologieunterrichts in Preußen, aber auch die Aneignung des Darwinismus im Rahmen einer sozialdemokratischen Variante des Fortschrittsglaubens.645 Das eigentliche Thema dieser Rede bildete jedoch, dass Virchow die mit der Grenzziehung von Laien und Experten verbundene Autorität der Naturwissenschaft gefährdet sah. So hatte er eingangs erklärt  : »[W]ir befinden uns an einem Punkte, wo es sich darum handelt, zu untersuchen, ob wir in der Lage sind, diesen faktischen Besitz, in dem wir uns befinden, für die Dauer zu sichern.« Um diesen aus professioneller Sicht vorteilhaften Zustand zu erhalten, gab er zu bedenken, »daß wir jetzt nicht mehr zu fordern haben, sondern daß wir vielleicht an dem Punkte angekommen sind, wo wir uns die besondere Aufgabe stellen müssen, durch unsere Mäßigung, durch einen gewissen zur Haeckel-Virchow-Kontroverse auf der 50.  Jahresversammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München (1877), in  : Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991, S.  212–236  ; Thomas Junker, Darwinismus, Materialismus und die Revolution von 1848 in Deutschland. Zur Interaktion von Politik und Wissenschaft, in  : History and Philosophy of the Life Sciences 17 (1998), S.  271–302  ; Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19.  Jahrhundert, S.  65–71  ; Peter Zigman, Ernst Haeckel und Rudolf Virchow  : Der Streit um den Charakter der Wissenschaft in der Auseinandersetzung um den Darwinismus, in  : Medizinhistorisches Journal 35 (2000), S. 263–302. 643 Text der Rede in Ernst Haeckel, Die heutige Entwicklungslehre im Verhältnis zur Gesammtwissenschaft. Vortrag in der ersten öffentlichen Sitzung der 50. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in München am 18. September 1877, Stuttgart 1877. 644 Virchow, Freiheit der Wissenschaft, S. 69. 645 Vgl. auch Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 167 f.; Kelly, The Descent of Darwin, S. 64 ff.; Paul J. Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870–1945, Cambridge u. a. 1993, S. 43  ; Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 71–75  ; Junker, Darwinismus, Materialismus und die Revolution, S. 300.

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Verzicht auf Liebhabereien und persönliche Meinungen es möglich zu machen, daß die günstige Stimmung der Nation, die wir besitzen, nicht umschlage  !«646 Virchows Mäßigungsappell gehört somit in den Rahmen von Versuchen, die im Kaiserreich bestehende Autorität der Naturwissenschaft durch strengere Grenzziehung zwischen Elite-Wissenschaft und Laien zu befestigen. Die Kehrseite der Entwicklung zur professionalisierten und spezialisierten Wissenschaft mit klarer Grenzziehung gegenüber Laien war jedoch »gleichzeitig eine verstärkte Abkoppelung von der Gesellschaft, von deren Bedürfnissen, Erwartungen und Anforderungen. Innerwissenschaftlicher Erfolg war damit quasi zwangsläufig mit dem Verlust gesellschaftlicher Integration gekoppelt.«647 Der anhaltende Prozess der wissenschaftlichen Spezialisierung verengte immer mehr den Bereich der gesellschaftlichen Problemstellungen, über den ein wissenschaftlicher Experte kompetente Aussagen treffen konnte. Dadurch sei er schließlich zu einem »gelehrten Ignoranten« geworden, der sich »in allen Fragen, von denen er nichts versteht, mit der ganzen Anmaßung eines Mannes aufführen wird, der in seinem Spezialgebiet eine Autorität ist«648. Während also im bildungsbürgerlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts vor allem die »Halbbildung« von Laien verteufelt wurde, stellt letztere aus den 1930er Jahren stammende Beobachtung Ortega y Gassets die dem zugrunde liegende traditionelle Unterscheidung von »Wissenden« und »Unwissenden« in Frage. In dieser Spannung bewegte sich auch Virchow. Einerseits äußerte er sich kritisch gegenüber jenen »Halb- und Drittelwissern, die den Geist der Naturforschung am wenigsten begriffen haben«, und betrachtete diese in den 1850er Jahren als Hauptträgergruppe materialistischer Tendenzen.649 Doch wies er 1877 in seiner Münchener Rede die von einer liberalen Zeitung erhobene Frage zurück, »ob nicht der große Schaden dieser Zeit und der Sozialismus insbesondere auf der Ausbreitung des Halbwissens beruhe«650. Demgegenüber hob er hervor, dass auch Naturwissenschaftler jeweils nur ein enges Spezialgebiet überblickten und auf allen anderen Gebieten lediglich über »Halbwissen« verfügten  : Könnten wir nur dahin kommen, dieses Halbwissen mehr zu verbreiten, könnten wir es zustande bringen, dass wir wenigstens die Mehrzahl aller Gebildeten so weit förderten, dass sie die Hauptrichtung, welche die einzelnen Disziplinen der Naturwissenschaften einschlagen, so 646 Virchow, Freiheit der Wissenschaft, S. 66. 647 Ulrike Felt, Die Stadt als verdichteter Raum der Begegnung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Reflexionen zu einem Vergleich der Wissenschaftspopularisierung in Wien und Berlin um die Jahrhundertwende, in  : Goschler (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, S. 185–220, hier  : S. 210. 648 José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen (1930), Stuttgart 1955, S. 131. Siehe dazu auch Felt, Stadt als verdichteter Raum, S. 210. 649 Rudolf Virchow, Empirie und Transzendenz, in  : VA 7 (1854), S. 1–29, hier  : S. 9. 650 Ders., Freiheit der Wissenschaft, S. 69.

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weit übersehen, (…) dass sie (…) von dem Gesamtgange der Wissenschaft durchdrungen wären. Viel weiter kommen wir ja auch nicht. (…) Das was mich ziert, ist eben die Kenntnis meiner Unwissenheit.651

Der Unterschied zwischen wissenschaftlichen Experten und gebildeten Laien bestand somit, wie Virchow bereits 1854 erklärt hatte, vor allem darin, dass erstere sich über die »Grenzen ihres Wissens und die Schlussfähigkeit ihrer Beobachtungen bewusst« seien.652 An dieser Einschätzung hielt er bis zuletzt fest, und so schrieb er 1901  : »Am schlimmsten sind dabei die Halbwisser, die in dem Hochmuth der gewöhnlichen Laien glauben, sich über die strengen Forderungen des gelehrten Forschers hinwegsetzen zu dürfen.«653 Damit vertrat er das Modell eines idealen bildungsbürgerlichen Diskurses, innerhalb dessen es einerseits möglich sei, wenigstens die Grundlagen der verschiedenen Wissensgebiete noch zu überschauen, andererseits aber die Grenzen der jeweiligen Expertise klar markiert seien. Die Autorität des wissenschaftlichen Experten in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen war in diesem Modell nicht so sehr in erster Linie allein durch die jeweilige Fachkompetenz gegeben, die lediglich Teilgebiete der davon betroffenen Fragen betraf, sondern durch die Aura des Experten selbst, die darauf beruhte, dass dieser auf der Kontrolle der Reichweite von Aussagen insistierte. Die Forderung Virchows in München 1877, lediglich gesichertes Wissen im Schulunterricht zu verbreiten, lässt sich damit auch als Teil eines »verborgenen Lehrplans« interpretieren, bei dem nicht die Vermittlung spezifischer Inhalte, sondern des Eindrucks der Zuverlässigkeit von Erkenntnis und damit zugleich einer »Aura der Achtung vor allen Arten von Fachwissen« und vor wissenschaftlichen Experten im Mittelpunkt stand.654 Auf diese Weise konnte der wissenschaftliche Experte auch als inkompetenter Kritiker einen Teil seiner spezifischen Fachkompetenz aktualisieren, da diese gerade nicht auf das notwendigerweise spezialisierte Fachwissen beschränkt war, sondern im Wesen der kontrollierten und exakten Erkenntnis selbst lag. Die Macht des Experten in öffentlichen Diskursen basierte damit nicht allein auf dem Mythos des »desinteressierten Wissens«, sondern auch auf dem Mythos der ›Bescheidenheit‹ der Erkenntnis. Dies bestimmte somit auch die Rolle Virchows als naturwissenschaftlicher Intellektueller. Die Auseinandersetzung mit der »Berliner Bewegung« und dem Antisemitismus

Einen Katalysator für die Entstehung des modernen Intellektuellen bildete die Auseinandersetzung um den Antisemitismus, wie vor allem die große Bedeutung der Dreyfus-Affäre in Frankreich für die Diskussion dieses Phänomens deutlich macht. Auch 651 Ebenda. 652 Ders., Empirie und Transzendenz, S. 9. 653 Ders., Zur Erinnerung, S. 6. 654 Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1996, S. 113.

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für Virchows Rolle als naturwissenschaftlicher Intellektueller lieferte der Aufstieg der antisemitischen »Berliner Bewegung« seit Mitte der 1870er Jahre655 wichtige Impulse. Bereits die 1874 in der Familienzeitschrift Die Gartenlaube erschienene antisemitische Artikelserie Wilhelm Marrs über den »Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin« sowie die im folgenden Jahr in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung veröffentlichten »Ära-Artikel« hatten Juden und Liberalismus demagogisch verknüpft. Dies bildete nur die Spitze eines Eisbergs zahlloser antisemitischer Veröffentlichungen und Broschüren. Als eine ernsthafte Bedrohung realisierten Juden wie Liberale die antisemitische Bewegung aber erst, nachdem seit 1879 so angesehene Persönlichkeiten wie der Hofprediger Adolf Stoecker, mit dem Virchow in den achtziger Jahren mehrfach um einen Reichstagssitz konkurrierte, und der Berliner Historiker Heinrich von Treitschke dieser bürgerliche Reputation verliehen. Seit 1879 kursierte zudem im ganzen Deutschen Reich eine von Berliner Gesinnungsgenossen Marrs initiierte Unterschriftensammlung für eine »Antisemiten-Petition«, die darauf zielte, die politische Gleichstellung der Juden zu revidieren. Auf diese Weise wurde der Antisemitismus gleichzeitig zu einem Motor der politischen Massenmobilisierung. Die seit den 1880er Jahren in mehreren Wellen auftretende antisemitische »Berliner Bewegung« ist somit auch ein Indikator für Veränderungen der politischen Öffentlichkeit. Damit forderte sie zugleich die traditionelle Gelehrtenpolitik heraus. Virchow agierte in der Auseinandersetzung um den Antisemitismus – im Gegensatz zum ›Kathederantisemiten‹ Treitschke  – von Anfang an weniger im akademischen als im öffentlichen Raum, wobei er allerdings sein wissenschaftliches Prestige einsetzte. So gehörte er zu den von Oberbürgermeister Forckenbeck angeführten 75 Berliner Honoratioren, die im November 1880 in der Nationalzeitung eine öffentliche Erklärung abgaben, in der mit Bezug auf Stoecker und Treitschke formuliert wurde  : An dem Vermächtnis Lessings rütteln Männer, die auf der Kanzel und dem Katheder verkünden sollten, dass unsere Kultur die Isolierung desjenigen Stammes überwunden hat, welcher einst der Welt die Verehrung des einigen Gottes gab. Schon hört man den Ruf nach Ausnahmegesetzen und Ausschließung der Juden von diesem oder jenem Beruf und Erwerb, von Auszeichnungen und Vertrauensstellungen. Wie lange wird es währen, bis der Haufen auch in diesen einstimmt  ?656

655 Siehe dazu und zum Folgenden zusammenfassend Norbert Kampe, Von der ›Gründerkrise‹ zum ›Berliner Antisemitismusstreit‹  : Die Entstehung des modernen Antisemitismus in Berlin 1875–1881, in  : Reinhard Rürup (Hg.), Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien, Berlin 1995, S. 85–100. Vgl. auch ders., Studenten und »Judenfrage« im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988  ; Walter Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt a. M. 1965  ; Albert Lichtblau, Antisemitismus und soziale Spannung in Berlin und Wien 1867–1914, Berlin 1994. 656 Nationalzeitung vom 14.11.1880, Druck in  : Peter G. J. Pulzer, Die Entwicklung des politischen Antisemitis-

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Der Aufruf verteidigte die Prinzipien der Emanzipation und Rechtsgleichheit und spielte zugleich auf bildungsbürgerliche Ängste an, der ›schlafende Tiger‹ der Massenleidenschaften könnte hier geweckt werden. Solche Appelle, die Diskussion auf eine geordnete und rationale Auseinandersetzung der »Gebildeten« zu beschränken, erwiesen sich jedoch als fruchtlos. Virchow erlebte vor allem in seinen Wahlauseinandersetzungen mit Stoecker am eigenen Leib die massiven Veränderungen der politischen Kultur, die durch den Eintritt der »Massen« in die Politik erfolgten. Gezwungenermaßen verließ er so auch selbst die enge Arena der Honoratiorenpolitik und verlagerte die Auseinandersetzung um den Antisemitismus auf das Feld der breiteren Öffentlichkeit. Eine Woche nach der Veröffentlichung dieses Aufrufs in der Nationalzeitung fand im Preußischen Abgeordnetenhaus eine zweitägige Debatte über den Antisemitismus statt, welche – in den Worten Treitschkes – »der blinde philosemitische Eifer der Fortschrittspartei veranlasste«657, und Virchow spielte darin eine Hauptrolle. Dieser unterstrich am 20.  November 1880 zunächst sein politisches Selbstverständnis, wonach es nicht Aufgabe der Abgeordneten sei, »immer nur das passive Objekt des Drängens der Wähler zu sein«. Indem er also das Prinzip des imperativen Mandats geradezu auf den Kopf stellte, erklärte er, dass die Abgeordneten vielmehr dazu berufen seien, »den Wählern in einer wichtigen Bewegung die Richtung anzuweisen«. Dazu appellierte er zunächst an das Prinzip der Rechtsgleichheit und führte dann vor, wie Salomon Neumann die angebliche »semitische Überschwemmung« durch die jüdische Einwanderung statistisch widerlegt habe. Zuletzt ging er ausführlich auf die Verwechslung ein, die in dieser Frage fortwährend zwischen Religionspartei und Race getrieben wird. Wenn man hört, was in Versammlungen vorgetragen wird und was in der Petition steht, sollte man meinen, die Herren wären alle Ethnologen ersten Ranges, (Heiterkeit.) sie sprechen von Ariern im Gegensatz zu Semiten, als ob das ganz geläufige und täglich vorkommende Begriffe wären, aber nachher gehen sie auf die Statistik zurück und agiren mit derselben bald im Sinne der Religionspartei, bald im Sinne des Stammes. (…) das ist in der That ein reines Jongleurspiel.658

Virchow interpretierte den Antisemitismus somit im Kern als einen konfessionellen Konflikt, hinter dem sich vor allem Sozialneid verberge. Gleichwohl bewegte er sich innerhalb des zeitgenössischen Rassendiskurses und erklärte im Namen seiner Parteifreunde, man solle sich nicht

mus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Gütersloh 1967, S. 271  ; sowie Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 202 ff., hier  : S. 203. 657 Heinrich von Treitschke, Zur inneren Lage am Jahresschluss, 10.12.1880, Druck  : Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, S. 225–227, hier  : S. 225. 658 SBPAH, 12. Sitzung am 20.11.1880, S. 242.

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hindrängen lassen, die [sci., jüdische] Race zu verdammen als eine Race, welche ihrer Natur, ihren Anlagen, ihrem Instinkte nach eine verwerfliche sei. Nein, meine Herren, wir halten diese Race für eine sehr gut veranlagte, wir glauben, dass sie in der That zu den höchsten Leistungen veranlagt ist, und dass es nur darauf ankommt, ihr diejenige Erziehung und Bildung zu geben, um diesen Anlagen auch vollkommenen Ausdruck zu gewähren.659

Nachdem Virchow eingeräumt hatte, dass »manche die Juden betreffende Frage wissenschaftlich, sei es von der konfessionellen, sei es von der anthropologischen Seite noch weiter verfolgt werden muss«, lastete er aber die Hauptschuld für die antisemitische Bewegung der konservativen Seite an, welche die Entstehung einer antisemitischen Publizistik mit erheblichen finanziellen Mitteln gefördert habe.660 Diese Argumente führte er bei einer im Januar 1881 in Berlin stattfindenden Versammlung von 2500 Wahlmännern aus den vier Berliner Landtagswahlkreisen weiter aus.661 Dort wollten sich die acht Berliner fortschrittsliberalen Landtagsabgeordneten darüber Gewissheit verschaffen, »welches die Stellung des Kernes des gebildeten Bürgerthums Berlins zu der Tagesfrage« des Antisemitismus sei.662 Die Versammlung verabschiedete schließlich eine von Virchow vorgelegte Resolution, in der gegen die »Antastung der Rechtsgleichheit der religiösen Bekenntnisse«663 protestiert wurde. Auf dem Wege der Akklamation wurde damit noch einmal die alte demokratische Einheit von Volk und Abgeordneten beschworen. Zugleich wurde versucht, das Aufkommen der antisemitischen Bewegung als Folge einer konservativen Manipulation von oben zu erklären und dem eine Steuerung der Volksmeinung durch die liberalen Abgeordneten entgegenzusetzen. Bemerkenswert dabei ist weniger die bekannte Tatsache, dass die liberale Abwehr des Antisemitismus vor allem in die Forderung nach Rechtsgleichheit einerseits und zügiger Assimilation der Juden in die deutsche Gesellschaft andererseits mündete. Vielmehr überrascht, dass Virchow in dieser Frage beharrlich alle Versuche zurückwies, die Diskussion auf dem Gebiet der Anthropologie zu führen, auf dem er selbst die maßgebliche wissenschaftliche Autorität im Deutschen Reich war. Ähnlich ablehnend verhielt er sich auch, als 1892 eine Anfrage aus den USA an die Berliner anthropologische Gesellschaft gerichtet wurde, eine wissenschaftliche Expertise zur Frage der »politischen Gleichberechtigung der schwarzen Rasse« zu geben.664 Und so verspottete er wiederholt Bemü659 Ebenda, S. 244. 660 Ebenda. 661 Die Verurtheilung der antisemitischen Bewegung durch die Wahlmänner von Berlin. Bericht über die allgemeine Versammlung der Wahlmänner aus den vier Berliner Landtags-Wahlkreisen am 12. Januar 1881 im oberen Saale der Reichshallen, Berlin 1881, S. 3–8. 662 Ebenda, S. 3. 663 Ebenda, S. 8. 664 Siehe VBGAEU 24 (1892), S. 25.

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hungen, die Antisemitismusdebatte vom Standpunkt der Anthropologie oder Ethnologie behandeln zu wollen und bestand im selben Atemzuge darauf, dass sich das Deutsche Reich nicht auf der Grundlage »ethnologischer Heraldik« begründen lasse. Vielmehr versuchte er beharrlich, die Diskussion auf das Feld der Verfassungs- und Kulturpolitik zu schieben  : »die schnellste Assimilation dieser Fremden ist das Rettungsmittel«, und so warb er dafür, »daß die Nachkommenschaft auch der schlechten Juden unter vernünftigen und guten Verhältnissen zu nützlichen, brauchbaren und angenehmen Mitbürgern wird erzogen werden«665. In einer aus heutiger Sicht gespenstisch klingenden Debatte erläuterte Virchow 1890 im Preußischen Abgeordnetenhaus  : Die Juden sind einmal da  ; kein Mensch wird in der Lage sein, sie zu vertreiben. Sie können sie nicht todtschlagen, wie das im Mittelalter geschah  ; Sie können sie nicht nach Polen verschicken, weil man sie da nicht aufnehmen würde  ; – Sie müssen sie also behalten. Wenn wir sie aber behalten müssen, dann haben wir in der That alle ein großes Interesse daran, sie uns in ihrer ganzen Bildung, in ihren Anschauungen, in ihrem Innern, wie in ihren Handlungen uns so nahe zu bringen, als wir können. (Zuruf rechts  : Das geht nicht  !) (…) Das Problem, welches uns vorschweben muß, ist doch das, dass wir mitsammt den Juden, die wir in unserem Volke einmal haben, eine einheitliche und gemeinschaftliche Masse bilden müssen. (Widerspruch rechts. – Zurufe.)666

Für sein Konzept der Assimilation der Juden durch Bildung spielten Simultanschulen, auf denen Kinder verschiedener Konfessionen gemeinsam unterrichtet wurden, eine wesentliche Rolle. Deshalb protestierte Virchow energisch gegen eine 1895 durch das Königliche Provinzial-Schulcollegium erlassene Anordnung, wonach an Berliner Gemeindeschulen die Tätigkeit jüdischer Lehrer in Zukunft auf den jüdischen Religionsunterricht beschränkt werden sollte, womit zugleich die Tendenz verbunden war, jüdische Schulkinder in eigene Schulen abzusondern. Gegen diese Maßnahme, welche den bereits erreichten Stand der Integration von Juden wieder zurückdrehen wollte, reichte er in der Berliner Stadtverordnetenversammlung einen von 47 Mitgliedern der drei liberalen Fraktionen unterstützten Antrag ein.667 Zwar war die antisemitische Berliner Bewegung nach ihrem ersten Höhepunkt in den achtziger Jahren wieder etwas abgeflaut, wozu auch die Entlassung Stoeckers aus seinem Amt als Hofprediger 1889 beigetragen hatte. Allerdings grassierte der Antisemitismus 665 SBPAH, 20. Sitzung am 3.12.1880, S. 513 u. 517. 666 SBPAH, 34. Sitzung am 21.3.1890, S. 892. 667 Siehe Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, Nr.  26 vom 29.6.1895, »Jüdische Lehrerinnen«  ; sowie Berliner Börsen-Courier, Nr. 273 vom 14.6.1895  ; Neue Preussische Zeitung (Kreuzzeitung), Nr. 277 vom 16.6.1895  ; Berliner Tageblatt, Nr. 309 vom 21.6.1895, »Antisemitismus im Provinzialschulkollegium«  ; Berliner Zeitung, Nr. 143 vom 21.6.1895.

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mittlerweile stark unter den Studenten.668 Diese standen an vorderster Front bei dem bereits im späten 19. Jahrhundert einsetzenden Prozess, die bürgerliche Gleichstellung der Juden wieder rückgängig zu machen. Mit dem gewandelten Charakter des Antisemitismus, der zunehmend auch die Kommandohöhen der deutschen Gesellschaft infiltrierte, wandelten sich auch die Gegenmaßnahmen. Dazu gehörte insbesondere der 1891 in Berlin gegründete »Verein zur Abwehr des Antisemitismus«, der im Wesentlichen den deutschen Linksliberalismus vertrat.669 Zwar findet sich Virchow nicht in erhaltenen Mitgliederlisten, doch wirkte er bei ähnlichen Aktivitäten zur Bekämpfung der Folgen des Antisemitismus mit, die sich gleichfalls im vertrauten Rahmen bürgerlicher Honoratiorenpolitik bewegten. So spendete er etwa 1891 ein Autograph für eine Tombola bei einem Berliner Wohltätigkeitsfest zum Wohl der aufgrund der damaligen russischen Pogrome vertriebenen Juden.670 Zudem agierte er nicht nur als Gutachter im Xantener Ritualmordprozess, sondern trat 1892 auch einem Komitee bei, das Geld für den infolge dieses Prozesses zum Opfer antisemitischer Hetze gewordenen jüdischen Metzger Adolf Buschoff sammelte.671 Neben solchen Instrumentarien der Bürgergesellschaft nutzte Virchow zum Kampf gegen den in Berlin besonders starken akademischen Antisemitismus auch seine ihm an der Universität zu Gebote stehenden Machtmittel,672 wobei die Auseinandersetzungen zum Teil bis in den Hörsaal hinein reichten. Hatten ihn seine Studenten nach seinem Sieg über Stoecker bei den Reichstagswahlen 1884 noch mit Beifallsgetrampel empfangen,673 wurde er in der Folgezeit aufgrund seines gemeinsam mit anderen liberalen Professoren wie Theodor Mommsen und Wilhelm Förster geführten Kampfes gegen den »Ver668 Vgl. dazu Kampe, Studenten und »Judenfrage«  ; sowie Konrad H. Jarausch, Students, Society, and Politics in Imperial Germany. The Rise of Academic Illiberalism, Princeton 1982. 669 Vgl. dazu Barbara Suchy, The Verein zur Abwehr des Antisemitismus (I). From its Beginnings to the First World War, in  : Leo Baeck Institute Year Book 28 (1983), S. 205–239  ; Michael Brenner, »Gott schütze uns vor unseren Freunden« – Zur Ambivalenz des »Philosemitismus« im Kaiserreich, in  : Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 174–199  ; W. Fritsch, Verein zur Abwehr des Antisemitismus (Abwehrverein), in  : Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), hrsg. von Dieter Fricke, Leipzig 1986, Bd. 4, S. 375–378  ; Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 155 f. 670 Der Text des Blattes lautete  : »Möge Niemand in Deutschland vergessen, daß die Judenverfolgungen in Russland und Korfu die jüngsten und wahrscheinlich nicht die letzten Ausläufer der Bewegung sind, welche der Antisemitismus in Deutschland inscenirt hat.« Siehe Breslauer Zeitung, Nr.  408 vom 15.6.1891, »Ausstellung von Autographen«. 671 Siehe dazu Staatsbürgerzeitung, Nr. 351 vom 30.7.1892  ; zum Xantener Ritualmordprozess vgl. Christoph Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002  ; Helmut Walser Smith, Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002. 672 Kampe, Studenten und »Judenfrage«, bes. S. 39, 103, 130 u. 174  ; Jarausch, Students, Society, and Politics, S. 269, 352 u. 391. 673 Berliner Tageblatt, Nr. 454 vom 7.9.1902, 2. Beiblatt, »Virchow als akademischer Lehrer«.

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ein deutscher Studenten« zu einer Hauptzielscheibe antisemitischer Studenten.674 1892 organisierten diese schließlich sogar eine politische Demonstration am Beginn der pathologischen Vorlesung Virchows, wurden aber von der Mehrzahl der Kommilitonen aus dem Hörsaal gedrängt. Die Störer hatten gegen das Verbot einer deutsch-nationalen Studentenversammlung durch den damaligen Universitätsrektor Virchow protestiert.675 Dieser Vorfall bildete zugleich den Hintergrund für seinen Angriff auf die antisemitische akademische Bewegung anlässlich seiner Rektoratsrede beim Gründungstag der Berliner Universität im August 1893. Dort erklärte er  : Unsere Zeit, die in ihrem wissenschaftlichem Gefühl so sicher und siegesfroh ist, übersieht eben so leicht, wie die frühere, die Stärke der mystischen Regungen, welche von einzelnen Abenteurern in die Volksseele getragen werden. Noch steht sie rathlos vor dem Räthsel des Antisemitismus, von dem niemand weiss, was er eigentlich in dieser Zeit der Rechtsgleichheit will, und der trotzdem, vielleicht auch deshalb, fascinirend selbst auf die gebildete Jugend wirkt. Bis jetzt hat man noch keine Professur des Antisemitismus gefordert, aber es wird erzählt, dass es schon antisemitische Professoren gäbe.676

Für Virchow bestand das Problem somit darin, dass die antisemitischen Demagogen nicht mehr nur lediglich bei den ungebildeten »Massen« erfolgreich waren. Deshalb war er beunruhigt, dass der Antisemitismus nicht mehr im Rahmen eines rationalen Diskurses der »Gebildeten« bekämpft werden könne. Andererseits erschien ihm die Bedeutung des Antisemitismus eher rückläufig zu sein  ; für ihn handelte es sich um einen Atavismus, der noch einmal seine letzte Zuckungen erlebte, aber unausweichlich überwunden werden würde. Hatte Virchow bereits 1890 im Preußischen Abgeordnetenhaus nur widerwillig »noch einmal die alten Tage des Antisemitismus« mit aufgewärmt,677 so galt das Ende der »Berliner Bewegung« als endgültig besiegelt, als die Antisemiten bei den Stadtverordnetenwahlen in Berlin im Oktober 1895 eine vernichtende Niederlage erlitten.678 Diese Selbstberuhigung darüber, dass der Antisemitismus als eigenständige politische Bewegung marginal geworden war, übersah allerdings, dass dieser als kulturelles Dispositiv die deutsche Gesellschaft in vielen Bereichen durchdrungen hatte.679 Zugleich

674 Vgl. Kampe, Studenten und »Judenfrage«, S. 127–132, 146, 173 f.; Jarausch, Students, Society, and Politics, S. 268 f. 675 Siehe dazu Freisinnige Zeitung, Nr. 272 vom 19.11.1892  ; Vossische Zeitung, Nr. 543 vom 19.11.1892, »Vereine und Versammlungen«. 676 Virchow, Gründung der Berliner Universität, S. 30. 677 SBPAH, 34. Sitzung am 21.3.1890, S. 890. 678 Siehe dazu Breslauer Zeitung, Nr. 801 vom 13.11.1895, »Das Ende der Berliner Bewegung«. 679 Vgl. dazu v. a. Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, in  : dies., Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 22000, S. 13–36.

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hatten Virchows öffentliche Interventionen in dieser Frage vielfach Zweifel an der von ihm betriebenen Form der Gelehrtenpolitik genährt. Dies galt umso mehr, als auch Virchows öffentlicher Expertennimbus in dieser Zeit am Schwinden war. Den Hauptanlass dafür lieferte der berühmte Fall des Kaisers Friedrich III., der 1888 nach nur hunderttägiger Regierungszeit an Kehlkopfkrebs starb. Virchow war unter den Ärzten, die mit der medizinischen Behandlung Friedrichs befasst gewesen waren, und er hatte den Krebs nicht als solchen diagnostiziert. Als der Kaiser starb, blühten Spekulationen über die Gründe dieser Fehldiagnose. Die tatsächlichen Gründe dafür680 sind hier nicht relevant. Ohnehin hätte angesichts der geringen Möglichkeiten der Krebstherapie zu dieser Zeit nur eine Totalentfernung des Kehlkopfes zu Gebote gestanden – was den Verlust der Stimme Friedrichs und in der Folge die sofortige Abdankung zugunsten seines Sohnes nach sich gezogen hätte. Hier interessiert dagegen vor allem, wie dieser Vorgang zeitgenössisch wahrgenommen wurde  : In den Augen der Öffentlichkeit hatte Virchow entweder die Wahrheit gekannt – dann hatte er möglicherweise aus politischen Gründen wissentlich eine Fehldiagnose geliefert. So wurde wild spekuliert, Virchow habe versucht, durch die Unterdrückung der korrekten Diagnose eine Operation zu verhindern, um auf diese Weise den als »liberale Hoffnung« angesehenen Friedrich noch ein wenig länger im Amt zu halten.681 Oder aber Virchow hatte seine Fehldiagnose unabsichtlich gestellt – mit der Konsequenz, dass seine Aura der wissenschaftlichen Unfehlbarkeit schwer beschädigt war. Neben anderen Gründen trug diese Affäre somit erheblich dazu bei, dass sich Virchows öffentliches Prestige in seinen späten Jahren zunehmend verringerte. Internationale Beziehungen und die Einsamkeit des »Kritikers«

Die enge Verbindung von Wissenschaft und Politik bei Virchow wurde im späten 19. Jahrhundert immer stärker öffentlich kritisiert. So kommentierten etwa die Dresdner Nachrichten unter der Rubrik »Politisches« 1893 Virchows öffentliche Rolle mit einem heftigen antisemitischen Zungenschlag in folgender Weise  :

680 Virchow hatte den Vorwurf einer Fehldiagnose niemals akzeptiert. Er berief sich darauf, dass er seine Diagnose auf der Grundlage einer ihm von Dr.  Mackenzie zur Verfügung gestellten Gewebeprobe gestellt habe, die keine Spuren von Krebs aufgewiesen habe. Siehe Berliner Klinische Wochenschrift, Nr. 25 vom 20.6.1887 (Separat-Abdruck), »Bericht des Prof. Dr. Rud. Virchow über die von Dr. Mackenzie exstirpirten Theile aus dem Kehlkopfe Seiner K. K. Hoheit des Kronprinzen«. Vgl. dazu auch Arthur Schnitzler, Silvesterbetrachtungen, 31.12.1888, in  : Internationale Klinische Rundschau 3 (1889), Druck  : ders., Medizinische Schriften, mit einer Einführung von Horst Thomé, Darmstadt 1988, S. 173–176, hier  : S. 175 f. 681 Siehe z. B. Bayerischer Landbote, Nr.  186 vom 19.8.1887, »Leidet der Kronzprinz an Krebs  ?«. Kritisch zum Mythos, wonach Friedrich eine »liberale Hoffnung« gewesen sei  : Patricia Kollander, Frederick  III. Germany’s Liberal Emperor, Westport u. London 1995.

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Wissenschaft und Politik miteinander zu verquicken, um unbewiesene und unbeweisbare politische Parteidoktrinen als Ergebnisse der ›reinen‹ Wissenschaft auszugeben und dadurch die Parteibestrebungen zu fördern, ist von jeher ein beliebter Geschäftskniff demokratischer Freiheitshelden gewesen. Männer wie Rudolf Virchow, Theodor Mommsen und ähnliche ›Koryphäen der Wissenschaft‹, die sich und ihre Gelehrsamkeit in den Dienst der jüdisch-liberalen Parteitendenzen gestellt haben, verschmähen es nicht, unter dem bestechenden Deckblatt wissenschaftlicher Forschung krasse Parteipolitik zu betreiben. (…) Dem Gelehrten Virchow aber wäre zu rathen, dass er sich endlich von dem Politiker Virchow, der sich stets gründlich blamiert hat, scheiden ließe und in der Folgezeit das Wort beherzige  : ›Schuster bleib bei Deinem Leisten  !‹682

Das liberale Berliner Tageblatt hatte sich bereits 1891 besorgt mit der wachsenden Kritik an Virchows gelehrtenpolitischer Rolle auseinandergesetzt  : Demzufolge sei es allenfalls akzeptiert, dass sich Historiker oder Staatsrechtler in die Politik einmischten, zumal wenn sie sich auf die Seite der regierenden Klassen oder der Herrscher stellten. (…) Sobald es aber Männern der positiven naturwissenschaftlichen Forschungsrichtung beikam, sich auch um die politischen Dinge dieser Welt zu bekümmern, da war man nur allzurasch mit jenem Worte bei der Hand  : ›Schuster, bleib’ bei Deinem Leisten  !‹683

Dem politisch engagierten Wissenschaftler vom Schlage eines Virchow war im Typus des unpolitischen Fachmanns eine erfolgreiche Konkurrenz erwachsen. Die liberale Öffentlichkeit suchte dagegen Virchows doppelte Rolle als Wissenschaftler und Politiker gegen die sich häufenden Angriffe zu verteidigen. Dazu verwies sie nicht nur auf das autoritative Vorbild Isaac Newtons,684 sondern verband damit, wie etwa Eugen Richter, zugleich den besonderen Anspruch der »Gebildeten« auf politische Führung. In einer Festansprache auf Virchow erklärte der Parteivorsitzende der Deutsch-Freisinnigen 1891 zum drohenden oder tatsächlichen Rückzug der Gelehrten aus der Politik  : »Wenn diejenigen, die in Wahrheit die Edelsten der Nation sind, sich der Politik fremd gegenüberstellen und das Reich den kleineren und oft gemeineren Geistern überlassen, dann freilich kann das politische Lied beginnen, ein garstiges Lied zu werden.«685 Damit bediente Richter, der selbst den Prototyp des modernen Berufspolitikers verkörperte, ein gegen den Eintritt der »Massen« in die Politik gerichtetes liberales Vorurteil, das zur Sicherung der eigenen Stellung »Bildung« zu einem zentralen politischen Qualifikationsmerkmal erhob.686 682 Dresdner Nachrichten, Nr. 218 vom 6.8.1893, »Politisches«. 683 Berliner Tageblatt, Nr. 541 vom 25.10.1891 (MA), »Gelehrte Politiker«. 684 Ebenda. 685 Freisinnige Zeitung, Nr. 241 vom 15.10.1891, »Ansprache des Abg. Eugen Richter zum Virchowkommers«. 686 Vgl. dazu Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1994.

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Solcher Zuspruch konnte jedoch nicht über die zunehmende politische Vereinsamung Virchows in der durch einen sich ausbreitenden Bismarck-Kult geprägten wilhelminischen Ära hinwegtäuschen, die bis in seinen engsten Familienkreis hinein reichte.687 In der Folge veränderte sich auch die Art und Weise seiner politischen Interventionen. Während die Bedeutung seiner parlamentarischen Tätigkeit mehr und mehr abnahm – wozu auch die linksliberale Schwäche in den 1890er Jahren beitrug –, wurde er gleichzeitig zu einem gesuchten Interviewpartner für nationale, vor allem aber für internationale Zeitungen. Virchows Renommee war zu dieser Zeit in Italien, Frankreich oder Großbritannien, wo er sich regelmäßig in Zeitungsinterviews zu Fragen der inneren Entwicklung Deutschlands, aber auch zu außenpolitischen Streitfragen äußerte, erheblich größer als im Deutschen Reich. Für die internationale Presse verkörperte er sozusagen die Stimme des anderen, des liberalen Deutschlands. In seinem Heimatland wurde ihm dagegen immer häufiger vorgeworfen, seine wissenschaftliche Autorität für politische Zwecke zu missbrauchen. Allerdings verbarg sich hinter solchen Vorwürfen, die vordergründig für eine strenge Trennung von Wissenschaft und Politik eintraten und somit auch gegen Gelehrtenpolitik im traditionellen Sinne überhaupt, in der Regel nur eine Abneigung gegen unpassende politische Positionen. Dieser Konflikt ist aber insofern bedeutsam für die Geschichte kritischer Intellektueller im Kaiserreich insgesamt, als er auf die Schwierigkeiten verweist, die sich aus dem zunehmenden Mangel allgemein akzeptierter universaler Werte jenseits eines immer stärkeren illiberalen Mainstreams ergaben. Im Mittelpunkt des intellektuellen Engagements Virchows in den neunziger Jahren standen Fragen der internationalen Zusammenarbeit beziehungsweise der friedlichen Bewältigung internationaler Konflikte. Dies schloss an ältere Bestrebungen an, die er damals allerdings noch im parlamentarischen Rahmen voranzubringen gesucht hatte. Im Oktober 1869 hatte er im Preußischen Abgeordnetenhaus mit Unterstützung seiner Parteigenossen einen Antrag eingebracht, der darauf zielte, die Militärausgaben des Norddeutschen Bundes zu beschränken und durch diplomatische Verhandlungen eine allgemeine Abrüstung herbeizuführen.688 Dazu erläuterte er, dass Preußen durch die militärischen Verpflichtungen für den Norddeutschen Bund einseitig belastet würde. Zugleich warnte er vor einer Aufrüstungsspirale, die zu einer unerträglichen finanziellen Belastung der europäischen Völker führe und die notwendige Priorität des inneren Aufbaus behindere.689 Dieser Initiative waren Gespräche Virchows mit einigen prominenten linken Mitgliedern der französischen Nationalversammlung vorausgegangen, die er anlässlich des 687 Siehe etwa den Brief von Virchows Schwiegersohn Carl Rabl an Ernst Haeckel, 29.1.1893, Druck  : Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe, S. 158–160. 688 Antrag Nr. 37, Preußisches Abgeordnetenhaus, 10. Leg.-Periode, III. Session 1869, vom 20.10.1869, Bd. 1, S. 277. Der Antrag wurde mit 99 gegen 215 Stimmen abgelehnt. 689 SBPAH, 14. Sitzung am 5.11.1869, S. 358–362.

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Besuchs der Weltausstellung in Paris 1867 getroffen hatte. Bei dieser interparlamentarischen Initiative zwischen der Fortschrittspartei und linken Parlamentariern der französischen Nationalversammlung, bei der neben Virchow auf französischer Seite Jules Favre, Ernest Picard, Louis-Antoine Garnier-Pagès, Glais Bizoin und andere beteiligt waren, hatten sie gemeinsam nach Wegen gesucht, den europäischen Frieden ohne große stehende Heere zu sichern. Die Aktion im Preußischen Abgeordnetenhaus sollte einen ähnlichen Schritt in der französischen Nationalversammlung ermutigen.690 Die Reaktionen auf deutscher Seite waren vielfach negativ und mündeten meist in den Vorwurf des Vaterlandsverrats. Als bald darauf der deutsch-französische Krieg ausbrach, war Virchows Position endgültig desavouiert, und er selbst änderte seine bisherige Meinung, wonach das französische Volk keinen Krieg wünsche, und kritisierte heftig den französischen Chauvinismus.691 Langfristig schadete ihm diese Episode sowohl auf deutscher Seite, wo ihm noch Jahrzehnte später vorgehalten wurde, er habe in schwerer Stunde Deutschland wehrlos machen wollen, als auch auf französischer Seite, wo seine frankreichkritischen Bemerkungen aus der Zeit des Krieges übel vermerkt wurden. Das Thema der internationalen Abrüstung blieb gleichwohl wichtig für Virchow. So hielt er 1877 eine später auch als fortschrittsliberale Broschüre verbreitete Rede im »Oranienburger Thor-Bezirksverein« in Berlin zum Thema »Krieg und Frieden«, wo er einerseits zwar vor dem von Russland ausgehenden Panslawismus warnte, andererseits aber die europäische Hochrüstung entschieden ablehnte.692 Nachdem er 1886 im Gefolge einer Deutschlandtour des englischen Pazifisten Hodgson Pratt zum Vorsitzenden eines bald wieder entschlafenen Berliner Lokalkomitees der »International Peace and Arbitration Society« geworden war,693 spielte er seit Anfang der 1890er Jahre eine wichtige Rolle im Zusammenhang von Bemühungen, eine nationale Friedensgesellschaft in Berlin aufzubauen. Er gehörte zu den 60 Reichstagsabgeordneten, die 1891 ein parlamentarisches Komitee für Frieden und Verständigung gründeten, das den Rückstand Deutschlands bei den bestehenden interparlamentarischen Friedensbemühungen verringern sollte, jedoch eine exklusiv linksliberale Veranstaltung blieb. Einige der Mitglieder dieses Komitees, darunter neben Virchow auch der Schriftleiter der liberalen Zeitschrift Die Nation 690 Siehe dazu Independance Belge (Bruxelles), 17.10.1901, «Chez Rudolf Virchow»  ; Le Matin vom 6.7.1895, «Apôtre de la paix». Zit. nach der deutschen Übersetzung bei Christian Jenssen/Thomas Ruprecht, »Abrüsten oder Untergehen«. Ein Interview mit Rudolf Virchow aus dem Jahre 1895, in  : Medizinhistorisches Journal 25 (1990), S. 252–269, hier  : S. 261–264. Vgl. dazu auch ebenda, S. 255 f.; sowie Christian Jenssen, Abrüstung für die zivilisatorischen Aufgaben Europas. Anmerkung zu Rudolf Virchows Abrüstungsantrag vom 20. Oktober 1869, in  : Zeitschrift für Klinische Medizin 44 (1889), S. 2141–2144. 691 Vgl. dazu etwa Rudolf Virchow, Nach dem Kriege, in  : VA 53 (1871), S. 1–27. 692 Rudolf Virchow, Krieg und Frieden. Vortrag im Oranienburger Thor-Bezirksverein am 17.5.1877, Berlin 1877. 693 Karl Holl, Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 38 f.; Jenssen/Ruprecht, »Abrüsten oder Untergehen«, S. 257.

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Theodor Barth und der Zoologe Heinrich Dohrn, versuchten überdies im folgenden Jahr eine Friedensgesellschaft aufzubauen, die über die Parlamentarier hinaus auch in die allgemeine Bevölkerung hineinreichen sollte. Mangels Zuspruchs gaben sie dieses Projekt aber bald wieder auf.694 In den Rahmen dieser Zusammenarbeit gehörte auch Virchows 1892 in Barths Die Nation veröffentlichter Artikel »Einige internationale Gedanken«. Im Anschluss an eine mehrwöchige Reise nach Russland, bei der er mehrere wissenschaftliche Kongresse in Moskau und St.  Petersburg besucht hatte, beklagte er die mangelnde Beteiligung der internationalen Fachwelt und insbesondere der Deutschen, was er gleichermaßen auf fehlendes Interesse an internationalen wissenschaftlichen Begegnungen wie auf die verbreiteten Vorbehalte gegenüber der russischen Regierung zurückführte. Demgegenüber stellte er die russischen Verhältnisse in ein vergleichsweise günstiges Licht und hob vor allem die Bedeutung wissenschaftlicher Kontakte für ein friedliches Verhältnis mit Russland hervor  : Ob der Friede der Völker durch solche vereinzelte Erscheinungen gewinnt, das steht dahin. Aber ich möchte behaupten, wenn solche Erscheinungen sich vermehren, wenn friedliche Begegnungen der Menschen und Verständigungen auf den neutralen Gebieten der Wissenschaft, der bürgerlichen und socialen Praxis sich häuften, so würden dadurch starke Bürgschaften für den Frieden gewonnen werden können.695

Dieser Artikel wurde wegen seiner russlandfreundlichen Tendenz in Deutschland gleichermaßen von der politischen Rechten wie Linken scharf kritisiert.696 Im Hinblick auf die Frage nach der Form seiner intellektuellen Interventionen sticht hier jedoch eine wichtige Veränderung hervor  : So versuchte er nicht mehr länger, internationale Verständigung über Regierungen und Parlamente zu erreichen, sondern unterstützte nun zivilgesellschaftliche Initiativen, die auf die öffentliche Meinung und die Wirkung privater und wissenschaftlicher Kontakte und Beziehungen setzten. Dabei nutzte Virchow ein über viele Jahrzehnte hinweg aufgebautes und gepflegtes europäisches Netzwerk von Gelehrten und Intellektuellen. Wichtig dafür war auch, dass er zahllose internationale wissenschaftliche Kongresse besucht hatte, wo er oftmals der einzige deutsche Vertreter war.697 694 Roger Chickering, Imperial Germany and a World Without War. The Peace Movement and German Society, 1892–1914, Princeton 1975, S. 44 ff.; Holl, Pazifismus in Deutschland, S. 43  ; sowie Jenssen/Ruprecht, »Abrüsten oder Untergehen«, S. 257. Letztere berichten, dass Virchow auch aufgefordert worden sei, in Bertha von Suttners 1892 gegründeter Deutscher Friedensgesellschaft eine Vorstandsposition einzunehmen, doch habe er dies abgelehnt. Siehe ebenda, S. 257 f. 695 Virchow, Einige internationale Gedanken. 696 Siehe dazu Freisinnige Zeitung, Nr. 222 vom 22.9.1892. 697 Siehe dazu das umfangreiche Material über Virchows Rolle auf internationalen wissenschaftlichen Kongressen in GStA-PK, I. HA Rep. 76 V c Kultusministerium, Sekt. 1 Tit. 11 Teil VI Bd. 1 u. 2 (M)  ; ebenda,

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1895 bekannte Virchow in einem Interview mit der liberalen Pariser Tageszeitung Le Matin, in dem er Abrüstung oder Untergang zur einzigen Alternative erklärte, er habe aufgehört zu glauben, dass eine Abrüstungsinitiative auf dem Wege über Regierungen und Parlamente vorwärts gebracht werden könne. Der Hintergrund dafür war, dass die Ablehnung der Caprivischen Heeresreform 1893 erheblich zum Wahldebakel der Freisinnigen Volkspartei und dem Verlust des Berliner Reichstagsmandats Virchows beigetragen hatte. Auf die Frage, welchen Weg er nunmehr für richtig halte, antwortete er  : Ein völlig anderer Weg als der bisher verfolgte. Man muß vor allem die Regierenden samt Parlamenten in Ruhe lassen. So, wie sie im Moment zusammengesetzt sind, ist von ihnen nichts zu erwarten, nichts zu erhoffen. (…) Unsere Aufgabe ist im Moment ganz klar  : Nicht in den Parlamenten müssen wir wirken, sondern draußen, nicht auf Institutionen, sondern auf die breite Öffentlichkeit. Mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln müssen wir die öffentliche Meinung ›bearbeiten‹. Beweisen wir dieser immer aufgeklärteren öffentlichen Meinung, in welch unhaltbare Lage der fortdauernde Wahnsinn der Aufrüstung Europa gebracht hat.698

Wenn es die öffentliche Meinung wolle, so Virchow, »wird sie es verstehen, die Regierungen so zu lenken, wie es ihr gefällt«699. Damit stand nicht mehr länger ein durch Bildung und Expertenschaft autorisiertes Immediatverhältnis zwischen Gelehrten und Staat im Mittelpunkt. Virchow, der sich seit den 1890er Jahren zunehmend selbst als öffentliche Person begriff, versuchte nunmehr die fehlende parlamentarische Wirksamkeit des Linksliberalismus durch direkte intellektuelle Interventionen auf dem Wege der expandierenden Massenmedien zu kompensieren. Während die liberale Presse meist stolz über derartige Interviews berichtete, höhnten seine innenpolitischen Gegner, dass er sich die fehlende Aufmerksamkeit ersatzweise im Ausland hole und bei dieser Gelegenheit deutsche Interessen schädige.700 So gab Virchow, während er 1894 einen internationalen Ärztekongresses in Rom besuchte, Interviews für die italienische Riforma und den amerikanischen New York Herald, wo er sich zum Unmut mancher deutscher Blätter mehr über Politik als über Medizin äußerte und dabei vor allem den Bismarck-Kult kritisierte.701 Und wenig später kritisierte er in einem Interview mit einem Korrespondenten des Pariser Matin die im Reichstag eingebrachte Umsturzvorlage, die auf eine Strafverschärfung bei politischen Delikten Sekt. 1 Tit. XI Teil VI Nr. 7 Bd. 1 (M)  ; ebenda, Sekt. 1 Tit. 11, Teil VI Nr. 6 Bd. 2 (M)  ; ebenda, Sekt. 1 Tit. 11 Teil 1 Nr. 4 Bd. 1, 2, 3 (M). 698 Le Matin vom 6.7.1895, «Apôtre de la paix», zitiert nach der deutschen Übersetzung bei Jenssen/Ruprecht, »Abrüsten oder Untergehen«, S. 263. 699 Ebenda, S. 264. 700 Siehe etwa Deutsche Tageszeitung (Berlin), Nr. 404 vom 30.8.1898, »Professoreneitelkeit«. 701 Siehe dazu Magdeburgische Zeitung, Nr.  179 vom 10.4.1894, »Italien. Ein Interview mit Professor Virchow«  ; Hamburgischer Correspondent, Nr. 259 vom 11.4.1894, »Professor Virchow als Politiker«.

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Abb. 14  Profilportrait Virchows, ca. 1890.

zielte.702 Seit 1895 erläuterte er in verschiedenen Interviews mit ausländischen Zeitungen, darunter erneut auch die römische Riforma, nicht nur die Notwendigkeit der Abrüstung, sondern prognostizierte das unaufhaltsame Zusammenwachsen einer europäischen Föderation. Die von einem gesetzmäßig verlaufenden Fortschritt herbeigeführte Bildung der »Vereinigten Staaten von Europa« würde Kriege, Militarismus, Rüstungskosten, die für die wachsende Unzufriedenheit und Armut der Völker verantwortlich seien, sowie die Bedrohung der kleinen durch die großen Staaten beseitigen.703 Virchow bildete dabei allerdings eine Ausnahme inmitten einer von allgemeiner Schwäche gekennzeichneten Situation der deutschen Friedensbewegung am Ende des 19.  Jahrhunderts, die gleichzeitig eine »Akzeptanz- wie eine konzeptionell-programmatische Krise« im Schatten der vorherrschenden imperialistischen Politik war.704 Ge702 Freisinnige Zeitung, Nr. 302 vom 28.12.1894, »Ein Interview von Rudolf Virchow«. 703 Riforma (Rom), Nr. 315 vom 15.11.1895, «La parola è a Virchow”  ; Il Secolo (Milano) vom 12./13.4.1896  ; Berliner Zeitung, Nr. 88 vom 15. April 1896, »Rudolph Virchow und die europäische Friedensbewegung«. In ähnlicher Weise äußerte Virchow sich auch in einem ausführlichen Interview mit der liberalen Brüsseler Tageszeitung Independance Belge, 17.10.1901, «Chez Rudolf Virchow». 704 Holl, Pazifismus in Deutschland, S. 49 f.

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meinsam mit anderen Linksliberalen ließ er sich zwar dafür gewinnen, im Vorfeld der Haager Friedenskonferenz 1899 einem Komitee beizutreten, welches öffentliche Unterstützung für diese aufgrund einer Initiative des russischen Zaren zustande gekommene Zusammenkunft mobilisieren wollte.705 Jedoch bekräftigte Virchow später mit Blick auf die Ergebnisse dieser von den europäischen Regierungen abgehaltenen Konferenz seine grundsätzliche Skepsis gegenüber den Erfolgsaussichten einer solchen gouvernementalen Strategie. Im Mittelpunkt seiner gelehrtenpolitischen Bemühungen stand somit seit den 1890er Jahren der Versuch, direkt auf die Öffentlichkeit einzuwirken. Sein Vertrauen auf die Macht der aufgeklärten öffentlichen Meinung erlitt zwar gelegentlich Irritationen, doch vertraute er auch in dieser Frage auf die Gesetzmäßigkeit des menschlichen Fortschritts, angesichts dessen Rückschläge letztlich bedeutungslos seien.706 Hinzu kam die Hoffnung auf internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit. In diesen Zusammenhang gehörte auch sein Engagement 1899 bei der Gründung der »Internationalen Assoziation der Akademien«, die 1901 erstmals in Paris tagte.707 Im März 1900 kommentierte Virchow im Preußischen Abgeordnetenhaus die Bedeutung der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit für die Friedensbewegung  : Wir bekommen allmählich einen gewissen Kodex der medizinischen Wissenschaft für die ganze Welt. Wenn in diesem Jahre in Paris die großen Kongresse stattfinden werden – wir haben ja einen ganzen Monat in diesem Jahre, wo nur solche Gelehrtenkongresse sein werden –, so, bin ich überzeugt, wird daraus wieder eine gewisse Verständigung hervorgehen, die mehr werth ist als die Friedensschlüsse, die man z. B. im Haag ausführte (Heiterkeit) und die mehr bindend sein wird als das, was man von der Regierung aus thun kann.708

In den 1890er Jahren agierte Virchow somit immer seltener in der Rolle des kompetenten beziehungsweise quasi-kompetenten Kritikers – d. h. als Naturwissenschaftler oder als Parlamentarier. Hatte er zuvor in der Rolle des Politikers wie des Experten vor allem den Staat adressiert, versuchte er nunmehr, sich unter explizitem Bezug auf seine Wertstandpunkte direkt an die deutsche beziehungsweise europäische Öffentlichkeit zu wenden. Gestützt auf seine auf dem wissenschaftlichen Feld erworbene Autorität griff er in gesellschaftliche Debatten von grundsätzlicher Bedeutung ein und schlug somit 705 Chickering, Imperial Germany and a World without War, S. 55 f. 706 Siehe dazu am eindrucksvollsten das ausführliche Interview mit Virchow in Independance Belge am 17.10.1901. 707 Siehe dazu Waldeyer-Hartz, Lebenserinnerungen, S. 224  ; vgl. auch Brigitte Schroeder-Gudehus, Die Akademie auf internationalem Parkett. Die Programmatik der internationalen Zusammenarbeit wissenschaftlicher Akademien und ihr Scheitern im Ersten Weltkrieg, in  : Jürgen Kocka u. Mitarbeit v. Rainer Hohlfeld u. Peter Th. Walther (Hg.), Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999, S. 175–195. 708 SBPAH, 39. Sitzung am 6.3.1900, S. 2392.

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zuletzt noch den Weg in die »unverantwortliche«, radikale Kritik des Intellektuellen ein. So wandelte sich Virchow in den neunziger Jahren ein Stück weit vom deutschen Gelehrtenpolitiker, dessen Position gleichermaßen auf Staatsnähe wie der besonderen gesellschaftlichen Anerkennung von Bildung beruhte, zum europäischen Intellektuellen, dessen Interventionsfeld die seit dem späten 19. Jahrhundert in Ansätzen entstehende europäische Öffentlichkeit bildete. Dass er dabei weitgehend erfolglos blieb, trug vermutlich dazu bei, dass er in dieser Rolle nahezu in Vergessenheit geraten ist.

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4 Szientismus und liberale Utopie  : Naturwissenschaft als »magischer Speer« 4.1 Pathologie und Gesellschaft

Im März 1871 warb der konservative Staatstheoretiker Constantin Frantz bei Virchow um Aufmerksamkeit für sein im Vorjahr erschienenes Werk über Die Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft1. Für den »Fortschritt der Civilisation«, so begründete Frantz sein Anliegen in einem Brief, sei es wünschenswert, dass sich auch die Naturforscher einer »physiologischen Behandlung der Staatslehre« zuwendeten, und keiner erschien ihm dafür geeigneter als Virchow. Dahinter müssten auch die Gegensätze zwischen Konservativen, Liberalen und Demokraten zurücktreten. »Die politischen Naturgesetze sind neu zu erforschen durch eine vergleichende Anatomie und Physiologie des Staates«, schrieb Frantz, und nur auf diesem Wege könne eine »wirkliche Staatswissenschaft« begründet werden.2 Diese Anfrage verweist auf die wichtige Rolle Virchows im Prozess der gegenseitigen Interpretation der biologischen und politisch-sozialen Welt im 19. Jahrhundert, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt steht. Im Folgenden geht es daher zunächst darum, wie sich Pathologie und liberale Gesellschaftstheorie bei Virchow gegenseitig beeinflussten. Dabei interessiert insbesondere, wie auf dem Wege zirkulierender Metaphern und Analogien der wechselseitige Transfer von Bedeutungselementen aus dem biologischen und politisch-sozialen Diskurs stattfand.3 Wichtig dafür ist nicht zuletzt auch die Rolle der öffentlichen Rezeption dieser politisch-biologischen Analogien und Metaphern.

1 Constantin Frantz, Die Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft, Leipzig u. Heidelberg 1871. Vgl. auch ders., Die Staatskrankheit, Berlin 1852  ; sowie ders., Vorschule zur Physiologie der Staaten, Berlin 1857. 2 Constantin Frantz an Virchow, 30.3.1871  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 645. 3 Vgl. Sabine Maasen/Everett Mendelsohn/Peter Weingart, Metaphors  : Is there a Bridge over Troubled Waters  ? in  : dies. (Hg.), Biology as Society, Society as Biology  : Metaphors, Dordrecht u. a. 1995, S. 1–8  ; S. Maasen, Who is Afraid of Metaphors  ?, in  : dies. u. a. (Hg.), Biology as Society, S. 11–35, hier  : S. 26  ; Philipp Sarasin/ Jacob Tanner, Einleitung, in  : dies. (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft  : Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 12–43, hier  : S. 29  ; Jürgen Link, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München 1983, S. 16  ; Philipp Sarasin, «La Science en Famille». Populäre Wissenschaft im 19. Jahrhundert als bürgerliche Kultur – und als Gegenstand einer Sozialgeschichte des Wissens, in  : Ueli Gyr (Hg.), Soll und Haben. Alltag und Lebensformen bürgerlicher Kultur, Zürich 1995, S. 97–110, hier  : S. 98.

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Pathologie und Gesellschaft

4.1.1 Zellen, Bürger und Staat  : Politisch-biologische Analogien

In welchem Verhältnis standen also biologische und politische Ordnungsentwürfe bei Virchow, und wie veränderte sich dieses Verhältnis  ? Vor allem sein Werk über die Zellularpathologie eignet sich hervorragend um zu zeigen, wie Bedeutungen zwischen Biologie und Gesellschaft wechselseitig übertragen wurden. Virchow generierte dort ein zentrales metaphorisches Feld, das die Begriffe »Zelle«, »Individuum« und »Staat« umfasst,4 wobei sich oftmals nicht »entscheiden lässt, ob die Natur als Vorbild der Gesellschaft entworfen wurde oder umgekehrt«5. Dies liegt zum einen daran, dass die Bedeutungen zwischen dem biologischen und dem politisch-sozialen Feld bei Virchow zirkulierten, zum anderen aber auch daran, dass Natur und Gesellschaft bei ihm kein strenges Gegensatzpaar bildeten. Virchow spielte eine zentrale Rolle bei den Bemühungen, die Zelle zum Ausgangspunkt neuer Konzeptionen des Organismus und von Krankheit zu machen.6 Dabei gebrauchte er in erklärender wie in heuristischer Absicht zahlreiche politisch-biologische Metaphern und Analogien, an denen die Spuren der gesellschaftlichen Ursprünge seiner wissenschaftlichen Klassifizierungen und Theorien deutlich werden.7 Auf diese Weise strukturierten Virchows politische Überzeugungen also immer wieder auch seine wissenschaftliche Theoriebildung.8 So beschrieb er 1855 den lebenden Organismus als einen »freie(n) Staat gleichberechtigter, wenn auch nicht gleichbegabter Einzelwesen, der zusammenhält, weil die Einzelnen auf einander angewiesen sind«9. In seiner 1858 erschienenen Cellularpathologie verglich Virchow den biologischen Organismus wiederum mit einer »Art von gesellschaftlicher Einrichtung, einer Einrichtung socialer Art, wo eine Masse von einzelnen Existenzen aufeinander eingerichtet ist, aber so, dass jedes Element für sich eine besondere Thätigkeit von anderen Teilen her empfängt, doch die

4 Siehe v. a. Renato G. Mazzolini, Politisch-biologische Analogien im Frühwerk Rudolf Virchows, Marburg 1988, S. 102–112  ; Paul J. Weindling, Theories of the Cell State in Imperial Germany, in  : Charles Webster (Hg.), Biology, Medicine, and Society 1840–1940, Cambridge 1981, S. 99–155  ; Wolfgang Jacob, Medizinische Anthropologie im 19. Jahrhundert. Mensch – Natur – Gesellschaft. Beitrag zu einer theoretischen Pathologie. Zur Geistesgeschichte der sozialen Medizin und allgemeinen Krankheitslehre Virchows, Stuttgart 1967, S. 149–154. 5 Christian Geulen, »Center Parcs«. Zur bürgerlichen Einrichtung natürlicher Räume im 19.  Jahrhundert, in  : Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 257–282, hier  : S. 269. 6 Vgl. dazu zusammenfassend Anette Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, S. 19–76  ; Ackerknecht, Rudolf Virchow. Arzt, Politiker, Anthropologe, Stuttgart 1957, S. 60 ff. 7 Vgl. Mary Douglas, Wie Institutionen denken, Frankfurt a. M. 1991, S. 94. 8 Siehe vor allem Mazzolini, Politisch-biologische Analogien, v. a. S. 113–122. 9 Rudolf Virchow, Cellular-Pathologie, in  : VA 8 (1855), S. 3–39, hier  : S. 25.

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eigentliche Leistung von sich aus gehen lässt«10. Seiner Zellularpathologie lag somit eine Auffassung des Organismus zugrunde, wonach dessen einzelne Teile »eine gesellschaftliche Einheit und nicht (…) eine despotische oder oligarchische Einheit bilden«11. Dieses Bild des Organismus als einer gleichermaßen föderalistischen und arbeitsteiligen Einheit setzte die Zelle mit dem liberalen Individuum gleich, wie Virchow bei einer Rede auf der Naturforscher-Versammlung in Frankfurt am Main 1867 erläuterte  : »Die Zelle ist so gut der eigentliche Bürger, der berechtigte Repräsentant der Einzel-Existenz, wie jeder von uns beansprucht, es in der menschlichen Gesellschaft, in dem Staate, wie er eben konstituirt ist, zu sein.«12 Virchow interpretierte den Organismus somit als eine Art von contrat social der Zellen, der auf diese Weise ein bürgerlich-demokratisches Konzept von Gesellschaft verkörperte.13 Die bisher diskutierten Beispiele zeigen, wie Virchow Bedeutungen aus seinem Gesellschaftskonzept auf seine biologische Theorie übertrug. Der Bedeutungstransfer fand jedoch auch in die Gegenrichtung statt. Biologische Organisationsmodelle spielten in Deutschland nach der Revolution eine wichtige Rolle dafür, das Ziel eines geeinten Nationalstaats zu begründen. Viele Naturwissenschaftler suchten angesichts der zersplitterten Nation die vermisste Einheit in der Natur,14 und auch Virchow veranschaulichte den Organisationsprozess von Nationalstaaten durch biologische Organismen. Dabei erhob er den Nationalstaat nicht nur zu einer naturgesetzlichen Notwendigkeit, sondern legitimierte auf diese Weise zugleich, dass dieser föderalistisch organisiert sein sollte  : »Auch die Vorstellung, dass jede höhere Organisation des Menschen wie des Tieres 10 Ders., Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. (Zwanzig Vorlesungen, gehalten während der Monate Februar, März und April 1858 im pathologischen Institute zu Berlin), Berlin 1858, S. 12. Vgl. auch Mazzolini, Politisch-biologische Analogien, S. 33–47. 11 Rudolf Virchow, Die Kritiker der Cellularpathologie, in  : VA 18 (1860), S. 1–14, hier  : S. 5. 12 Ders., Ueber die neueren Fortschritte in der Pathologie, mit besonderer Beziehung auf öffentliche Gesundheitspflege und Aetiologie. (Rede, gehalten in der 2. allgemeinen Sitzung der Deutschen Naturforscher-Versammlung zu Frankfurt a. M. am 20. September 1867), in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 1, Berlin 1879, S. 99 f. 13 Jacob Tanner, »Weisheit des Körpers« und soziale Homöostasie. Physiologie und das Konzept der Selbstregulation, in  : ders./Sarasin (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft, S. 129–169, hier  : S. 165. Die Beobachtung, wonach eine Beziehung zwischen liberalem Individualismus und Virchows Zellularpathologie bestehe, findet sich schon bei Ernst Hirschfeld, Virchow, in  : Kyklos 2 (1929), S. 106–116  ; sowie Owsei Temkin, Metaphors of Human Biology, in  : R. C. Stauffer (Hg.), Science and Civilization, Madison, Wisc., 1949, S. 169–194. Vgl. auch Mazzolini, Politisch-biologische Analogien  ; Weindling, Theories of the Cell State  ; Jacob, Medizinische Anthropologie, S. 149–154  ; Gunter Mann, Medizinisch-biologische Ideen und Modelle in der Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts, in  : Medizinhistorisches Journal 1 (1969), S. 1–23, hier  : S. 5 f. 14 Anne Harrington, Reenchanted Science, Holism in German Culture From Wilhelm II to Hitler, Princeton 1996, S. 7–12  ; Timothy Lenoir, The Strategy of Life. Teleology and Mechanics in Nineteenth-Century German Biology, Chicago u. London 1982, S. 224  ; ders., Soziale Interessen und die organische Physik von 1847, in  : ders., Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. u. New York 1992, S. 18–52.

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gleichsam ein Vorbild des Staates ist, eine föderalistische Einheit, diese Vorstellung wird sich meiner Überzeugung nach Bahn brechen, wie man sie auch einzuengen geneigt sein möchte.«15 Bereits in einem 1856 veröffentlichten Beitrag über den »alten und neuen Vitalismus« hatte sich Virchow gegen die besonders unter Historikern verbreitete Tendenz gewandt, die einzelnen Menschen zu vergessen, aus denen sich ein Staat und ein Volk zusammensetzt. Er [sci.; der Historiker] spricht von einem Leben der Völker, von einem Charakter der Nationen, als wenn eine einheitliche Gewalt alle Einzelnen beseelte und durchdringe, (…). Und doch ist alle Action in den Theilen und das Leben des Volkes nichts als die Summe des Lebens der einzelnen Bürger.16

Damit widersprach Virchow, der sich von den geläufigen organizistischen Staatsmetaphern distanzierte, der im deutschen staatstheoretischen Diskurs bevorzugten Auffassung des Staates als hierarchisch gegliedertem Organismus.17 Für ihn war der Staat, wie er schon 1848 formuliert hatte, »die sittliche Einheit aller gleich berechtigten Einzelnen«  – allerdings dürfe dieser »zu seiner Existenz als Ganzes unter gewissen Umständen jede Aufopferung der Einzelnen fordern«18. Die Organisation der Freiheit sollte demgegenüber durch das Konzept der »Assoziation« verwirklicht werden, die er dem exklusiven Modell der Korporation entgegenhielt.19 Virchows Staat, der keine eigene Individualität besaß, war weder Hobbes’ absolutistischer »Leviathan« noch der Hegelsche Staat als »Wirklichkeit der sittlichen Idee«. Vielmehr betrachtete er ihn, wie Wolfgang 15 Rudolf Virchow, Ueber den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaft. (Rede Virchows auf der Naturforscher-Versammlung in Stettin 1863), Druck  : Karl Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, Leipzig 1922, S. 25–38, hier  : S. 32. Vgl. dazu auch Boyd, Rudolf Virchow, S. 62. 16 Rudolf Virchow, Alter und neuer Vitalismus, in  : VA 9 (1856), S. 3–55, hier  : S. 36. 17 Das Primat des Individuums gegenüber dem Staat bei Virchow bezeichnet eine scharfe Trennungslinie nicht nur gegenüber Comte, sondern später auch gegenüber den deutschen »Kathedersozialisten«. Siehe Gerd Göckenjan, Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1985, S. 308  ; Ian Hacking, The Taming of Chance, Cambridge u. a. 1990, S. 130  ; Mazzolini, Politisch-biologische Analogien, S. 96 ff. Zur Tradition organizistischer Staatsmetaphern vgl. ebenda, S. 53–95  ; sowie ErnstWolfgang Böckenförde, Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper, in  : Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 519–622. 18 Rudolf Virchow, Die öffentliche Gesundheitspflege, in  : MR, Nr. 5 vom 4.8. u. Nr. 7 vom 18.8.1848. Reprint  : Dokumente der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. Christa Kirsten/Kurt Zeisler, Berlin 1983, S. 22 u. 37. Vgl. dazu auch allgemein Walter Bussmann, Rudolf Virchow und der Staat, in  : Helmut Berding/Kurt Düwell/ Lothar Gall u. a. (Hg.), Vom Staat des Ancien Régime zum modernen Parteienstaat, Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 70. Geburtstag, München u. Wien 1978, S. 267–285. 19 Siehe etwa Rudolf Virchow, Der Staat und die Ärzte, in  : MR, Nr. 37 vom 16.3.1849, S. 213.

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Jacob hervorhebt, »ganz eindeutig als Mittel zum Zweck einer bürgerlichen Gesellschaft im Kantschen Sinne«20. Entgegen dem holistischen Prinzip, wonach das Ganze mehr ist als die Summe der Einzelteile, bestand Virchow also vor der Reichsgründung auf dem Primat des Individuums sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber dem Volk.21 In einer nachträglichen Anmerkung zu der erstmals 1848 veröffentlichten Schrift Die Einheits-Bestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin, die Virchow bei der Neuauflage 1856 hinzufügte, distanzierte er sich zugleich von einer möglichen revolutionären Lesart seiner Metaphorik.22 Wiederholt versuchte er in diesen Jahren, sich und die modernen Naturwissenschaften vom Odium des »Umsturzes« zu befreien. Statt einer sozialen Revolution forderte er lediglich Gleichberechtigung des »dritten Standes«, während er zugleich die überkommene gesellschaftliche Differenzierung als gegeben betrachtete und mit einer funktionalen Differenzierung gleichsetzte. Der Körper wurde hier zum »ideale(n) Staat des Liberalismus«, in dem nur Gleichberechtigung von Individuen und keine Subordination oder Konfrontation existierte.23 Allerdings versuchte Virchow, die Reichweite solcher Bedeutungsübertragungen zu begrenzen. Die Kritik an politisch-biologischen Analogiebildungen als Mittel wissenschaftlicher wie politischer Argumentation war Teil jener Delegitimierungsstrategie, mit deren Hilfe die Vorkämpfer der »naturwissenschaftlichen Medizin« in den 1840er Jahren dem naturphilosophisch-romantischen Denkstil die wissenschaftliche Autorität abzusprechen versucht hatten. Dazu gehörte insbesondere der Widerstand gegen die Übertragung biologischer Begriffe in andere Erkenntnisbereiche. Die Analogie galt den Anhängern der reduktionistisch-mechanistischen Physiologie und namentlich Virchow als die spezifische Methode »unwissenschaftliche(r) Naturen«24. Demgegenüber plädierten sie für eine Rhetorik der Nüchternheit und forderten, die Erklärungskraft solcher Bedeutungsübertragungen streng zu begrenzen. Bereits in seinem ersten öffentlichen Vortrag am 3. Mai 1845, wo Virchow den Gegensatz zwischen dem »naturphilosophischen« und dem neuen, »naturwissenschaftlichen« Paradigma dramatisiert hatte, hieß es  : »Leben ist 20 Jacob, Medizinische Anthropologie, S. 153. 21 Allerdings spielte die romantische Konzeption des Volksgeistes eine wichtige Rolle bei Virchow. Siehe dazu etwa seine Ausführungen über Sprache und Volksgeist in  : Rudolf Virchow, Atome und Individuen. Vortrag, gehalten im wissenschaftlichen Vereine der Singakademie zu Berlin am 12. Februar 1859, in  : ders., Vier Reden über Leben und Gesundheit, Berlin 1862, S. 25–75, hier  : S. 37 f. Vgl. auch Jacob, Medizinische Anthro­ pologie, S. 153. 22 Rudolf Virchow, Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin, Frankfurt a. M. 1856, S. 51  : »Indem wir das Recht des Tiers-ètat der vielen, kleinen Elemente verfechten, mag es aussehen, als sollte die Aristokratie und Hierarchie von Blut und Nerv bis in ihre Wurzeln zerstört werden. Allein auch hier ist es nur die Usurpation, welche wir angreifen, das Monopol, welches wir auflösen wollen, und noch einmal heben wir hervor, dass wir Blut und Nerven als gleichberechtigte Faktoren neben den übrigen Theilen vollständig anerkennen, ja dass wir ihre dominirende Bedeutung durchaus nicht bezweifeln.« 23 Göckenjan, Kurieren und Staat machen, S. 261. 24 Rudolf Virchow, Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin, Berlin 1849, S. 3.

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seinem Wesen nach Zellenthätigkeit, und von einem Leben der Atmosphäre, der Erde oder der Völker zu sprechen, ist ein logischer oder poetischer Irrtum.«25 Seine Kritik an solchen Vergleichen war immer auch politisch, fielen doch für Virchow naturphilosophisch-romantischer und konservativer Denkstil in eins.26 Auch in einem 1859 gehaltenen populärwissenschaftlichen Vortrag über »Atome und Individuen« kritisierte er die solchen politisch-biologischen Analogien zugrunde liegende Kosmologie, die auf einer Harmonie von Mikrokosmos und Makrokosmos beruhte  : Was ist der Organismus  ? Eine Gesellschaft lebender Zellen, ein kleiner Staat, wohl eingerichtet, mit allem Zubehör von Ober- und Unterbeamten, von Dienern und Herren, grossen und kleinen. Im Mittelalter pflegte man zu sagen, der Organismus sei die Welt im Kleinen, der Mikrokosmos. Nichts davon  ! Der Kosmos ist kein Bild des Menschen  ! Der Mensch kein Bild der Welt  ! Es giebt keine andere Aehnlichkeit des Lebens, als wieder das Leben. Man kann den Staat einen Organismus nennen, denn er besteht aus lebenden Bürgern  ; man kann umgekehrt den Organismus einen Staat, eine Gesellschaft, eine Familie nennen, denn er besteht aus lebenden Gliedern gleicher Abstammung. Aber damit hat das Vergleichen ein Ende.27

Damit akzeptierte Virchow zwar allein die illustrative Funktion von Metaphern, doch zugleich gebrauchte er in diesem Text politisch-biologische Bedeutungsübertragungen auch in erklärender Funktion  : Wie in dem Leben der Staaten, so ist auch in dem Leben der Individuen der Zustand der Gesundheit des Ganzen bedingt durch das Wohlsein und die Innigkeit der Beziehungen der Einzelglieder  ; sobald einzelne Glieder anfangen, in eine der Gemeinschaft nachtheilige Unthätigkeit zu versinken oder gar auf Kosten des Ganzen eine parasitäre Existenz zu führen, so ist die Krankheit gegeben. (…) Wer da weiss, dass das höchste Ziel des Lebens nur erreicht werden kann, indem zahllose, mit dem Charakter individuellen Daseins versehene, von Geschlecht zu Geschlecht in immer neuer Verjüngung sich übertragende Sondertheile zu einem gemeinschaftlichen Endzweck zusammenarbeiten, dem erst erschliesst sich in dem eigenen Innern jene vielgesuchte und doch unerwartete Harmonie, welche zugleich den Verstand und das Gefühl befriedigt und welche ebenso sehr ein Maass, als ein Anreiz für das sittliche Handeln wird.28 25 Ders., Rede am 3.ten Mai 1845, Druck in  : Rudolf Virchow, Medizin und Naturwissenschaft. Zwei Reden 1845. Mit einer Einführung von Werner Scheler, Dokumente der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. Christa Kirsten/ Kurt Zeisler, Berlin 1986, S. 59–67, hier  : S. 61. 26 Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 35 f. Dies findet sich ähnlich auch wieder bei Karl Mannheim, der mit Blick auf das 19. Jahrhundert einen konservativen und liberalen Denkstil unterschied. Siehe Mannheim, Konservativismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hrsg. v. David Kettler u. a., Frankfurt a. M. 1984. 27 Virchow, Atome und Individuen, S. 55 f. Vgl. dazu auch Geulen, »Center Parcs«, S. 269. 28 Virchow, Atome und Individuen, S. 72 u. 75. Zum Zusammenhang von Nationalbewegung und holistischen

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Eine herausragende Rolle spielte hier das harmonische Zusammenspiel der einzelnen Elemente des Körpers beziehungsweise der Gesellschaft. In einer Zirkulation der Bedeutungen wurde das Modell des »Konsenses«, das Virchows Lehrer Johannes Müller als die koordinierte Aktion verschiedener Körperteile definiert hatte,29 zum Muster der Koordination der verschiedenen Elemente biologischer wie sozialer Körper. In der für die nachrevolutionäre Ära charakteristischen »Metapher der dezentralisierten Autorität«30 wurde somit ein Modell favorisiert, das den Konflikt zwischen den einzelnen Elementen ausschloss. Ein solcher Konsens war Virchow zufolge allerdings nur gewährleistet, solange die einzelnen Teile »in wohltätigem Sinne zusammenwirken«. Dagegen werde »die ganze Organisation in Frage« gestellt, »wenn wesentliche Bestandteile, wesentliche Abteilungen dieser Sonder-Organismen eine andere Richtung der Entwicklung oder des Seins« einschlagen würden.31 Körper und Gesellschaft waren gleichermaßen dem Strukturprinzip einer föderalistisch organisierten Republik unterworfen, in dem die einzelnen Partikularinteressen aufgrund einer vorgegebenen funktionalen Differenzierung ihren zugewiesenen Platz besaßen. Dies korrespondiert mit der Bedeutung von Metaphern des Gleichgewichts, welche auch die Sprache der liberalen politischen Theorie beherrschen  : Zur »Vermittlung der konfliktträchtigen Werte Ordnung und Freiheit« dienen dort bevorzugt sich selbst regulierende Mechanismen, die ein solches angestrebtes Gleichgewicht der Kräfte sichern sollen.32 Damit ließen sich allerdings weder sozialer Wandel noch pluralistische Interessenkonflikte erfolgreich konzeptualisieren. Dies verweist auf ein wichtiges theoretisches Defizit, das für die Verbindung von Naturwissenschaft und Liberalismus langfristig bedeutsam war.33 Anstelle eines Modus der Konfliktaustragung und des sozialen Wandels herrschte in dieser Metaphorik sozusagen der Konsens der »klassenlosen Bürgergesellschaft« (Lothar Gall) der Zellen, was immer weniger als angemessene Beschreibung der modernen Industriegesellschaft gelten konnte.

Tendenzen in der Naturwissenschaft vgl. auch Hacking, Taming of Chance, S. 190 f.; Harrington, Reenchanted Science, S. 12. 29 Siehe dazu Alison Winter, Mesmerized. Powers of Mind in Victorian Britain, Chicago u. London 1998, S. 308. Vgl. auch Harrington, Reenchanted Science, S. 12  ; sowie M. Norton Wise, How Do Sums Count  ? On the Cultural Origins of Statistical Causality, in  : Lorenz Krüger/Lorraine J. Daston/Michael Heidelberger (Hg.), The Probabilistic Revolution, Bd. 1  : Ideas in History, Cambridge, Mass., u. London 1987, S. 395–425, hier  : S. 396 f. 30 Theodore M. Porter, The Rise of Statistical Thinking, 1820–1900, Princeton 1986, S. 282. 31 Virchow, Ueber den vermeintlichen Materialismus, S. 30. 32 Francesca Rigotti, Die Macht und ihre Metaphern. Über die sprachlichen Bilder der Politik, Frankfurt a. M. 1994, S. 206 ff. 33 Siehe Woodruff Smith, Politics and the Sciences of Culture in Germany, 1840–1920, New York u. Oxford 1991, S. 29 ff.; Karl-Georg Faber  : Strukturprobleme des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in  : Der Staat 14 (1975), S. 201–227, hier  : S. 217.

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So rückte als Reaktion auf den Aufstieg der Sozialdemokratie seit den 1870er Jahren die Gefährdung der Ordnung in den Mittelpunkt dieses Modells. Zugleich erneuerte Virchow seine Kritik an der Übertragung biologischer Theorien auf die Gesellschaft, nachdem er in der Zwischenzeit selbst eifrig davon Gebrauch gemacht hatte, um die Naturwüchsigkeit des Liberalismus zu veranschaulichen. Nun stand ihm jedoch nicht mehr länger die Verbindung von Naturphilosophie und Konservativismus, sondern von Darwinismus und Sozialismus als Schreckgespenst vor Augen. In seiner Rede über »Die Freiheit der Wissenschaft« auf der Münchener Naturforscherversammlung 1877 spottete er über die Übertragung des Kerngedankens seiner Zellularpathologie, wonach jede Zelle wiederum von einer Zelle abstamme, in nichtbiologische Bereiche wie etwa die Astronomie und Geologie. Geradezu gefährlich wurde es ihm zufolge aber dann, wenn biologische Theorien auf Gesellschaft und Politik übertragen würden, womit er auf die Adaption der Lehren Darwins durch die Sozialdemokratie zielte  : Ich führe das nur an, um zu zeigen, wie sich nach außen hin diese Dinge machen, wie sich die ›Theorie‹ vergrößert, wie unsere Sätze in einer für uns selbst erschreckenden Gestalt zu uns zurückkehren. Nun stellen Sie sich einmal vor, wie sich die Deszendenztheorie heute schon im Kopfe eines Sozialisten darstellt  ! (Heiterkeit.)34

Virchow reagierte damit darauf, dass der Vermittlungsprozess zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit nicht seiner Vorstellung einer von professionellen Experten beherrschten Wissensdistribution gehorchte  : Sind Metaphern erst einmal Teil eines Diskurses und seiner Mechanik geworden, vermögen Wissenschaftler und sogar »scientific communities« diese nur sehr begrenzt zu kontrollieren.35 Zwar versuchte er zu verhindern, dass die von ihm selbst in den vergangenen Jahrzehnten mitgebauten sprachlichen Brücken zwischen Natur und Gesellschaft in ihm nicht genehmer Weise beschritten wurden. Gleichwohl konnte er nicht verhindern, dass die von ihm in Umlauf gebrachten politisch-biologischen Analogien in sehr unterschiedlicher Weise angeeignet wurden.36 So widmete etwa Dr. Max Nassauer aus München Virchow ein auf die Melodie von »Wenn wir durch die Strassen ziehen« zu singendes Festlied mit dem Titel »Cellula e cellula«, dessen dritte Strophe lautete  :37 34 Rudolf Virchow, Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staatsleben, in  : Amtlicher Bericht über die 50. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte, München 1877, S. 65–77, hier  : S. 69. 35 Maasen, Who is Afraid of Metaphors  ?, S. 30. 36 Zur Rezeption des »Zellenstaats« siehe v. a. Mazzolini, Politisch-biologische Analogien, S. 102–112  ; Weindling, Theories of the Cell State  ; als Beispiele siehe etwa die holistische, völkische Interpretation des »Zellenstaats« bei Ludwig Aschoff  : Das Leben und der Zellenstaat, Freiburg 1934  ; sowie Hans Petersen, Zellenstaat und Lebensgemeinschaft. Rudolf Virchows Lehre und wir, in  : Deutsche Allgemeine Zeitung (Reichsausgabe), 1.12.1940. 37 ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2752, Bl. 1 f.

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Jeder Staat ist eine Zelle Mit Membran und Kern und Saft. Hier auch hat an erster Stelle Unser Meister mitgeschafft. Zelle muss die Zell’ gebären, »Fortschritt« ist die Losung da. Und die Völker liess er hören  : Cellula e cellula

Und Eugen Richter feierte in einer Festansprache zu Virchows 80.  Geburtstag dessen 28-jährige Tätigkeit als Vorsitzender der Rechnungskommission des Preußischen Abgeordnetenhauses mit den Worten  : »Aber für Virchow muß es ein eigenartiger Genuß sein, durch das Mikroskop der Rechnungen hineinzublicken in das Zellengewebe des Haushalts, um daran die Pathologie unseres Budgetrechts zu studiren.« Richter versäumte nicht auf eine andere Analogie hinzuweisen, da dieser die sechs übrigen Mitglieder dieser Kommission »wie die Assistenten seiner Klinik oder seines Institutes in der Charitee« behandelt habe.38 Während diese willkürlich ausgewählten Beispiele die freie Verfügbarkeit der Metapher des »Zellenstaats« demonstrieren, konnte ein 1878 in der von Virchow redigierten Zeitschrift für Ethnologie veröffentlichter Artikel des Mitbegründers der Berliner anthropologischen Gesellschaft Adolf Bastian beanspruchen, eine autorisierte Interpretation zu bieten  : Die »Einheit der menschlichen Gesellschaft«, so Bastian, bestünde demnach »in der Einigung gleichartiger Interessen«, die »(wie die an sich selbständigen Zellterritorien) des Organismus durch das darüber schwebende Gesetz wesentlich als Republik zusammengehalten«39 würden. Virchow hatte im Vorjahr in seiner Münchener Rede die analogisierende beziehungsweise metaphorische Übertragung wissenschaftlicher Konzepte und Modelle auf Politik und Gesellschaft noch kritisiert, da dies die sozialdemokratische Revolution befördern könnte. Bastian charakterisierte demgegenüber nun die sozialdemokratische Bedrohung mit Hilfe eben einer solchen metaphorischen Übertragung der Zellularpathologie – und lieferte dabei zugleich ein Beispiel jener bandwurm­ artigen Sätze, die ihm den Spitznamen »Don Bombastian« eintrugen40  : Wie im Organismus die Zellen ihr selbständiges Leben bewahren, diese Zellengruppen zur Republik zusammentreten, und wie sich erst in der gegenseitigen Einigung aus ihrem Zusam-

38 Vossische Zeitung, Nr. 416 vom 5.9.1902 (AA), »Rudolf Virchow als Politiker«. 39 Adolf Bastian, Abstammung und Verwandtschaft, in  : Zeitschrift für Ethnologie, in  : ZfE 10 (1878), S. 43–74, hier  : S. 52. 40 Carl Vogt an Virchow, 21.2.1870, Druck  : Christian Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2  : Briefe Virchows und seiner Zeitgenossen, Berlin 1976, S. 497.

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menwirken die Einheit des Organismus selbst herstellt, sein gesetzlicher Typus, so in der Einigung der an sich sämmtlich gleichberechtigten Particular-Interessen, in gegenseitiger Abgleichung, das Leben des Staatsganzen, und wie dieses bei übermäßigem Ueberwiegen einzelner solcher Particular-Interessen in revolutionärer Umwälzung zu Grunde gehen würde, so der animalische Organismus, wenn die durch das pathologische Wuchern in einem der Zellterritorien erzeugte Krankheit über die Controlle des einheitlichen Gesetzes hinauswachsend, das Gleichgewicht bis zur Unmöglichkeit der Wiederherstellung stört und in Unordnung bringt.41

Ähnlich wie Virchow interpretierte Bastian die Verletzung des Konsenses durch einzelne Elemente eines biologischen oder sozialen Körpers als »pathologisches« Phänomen. War die »natürliche« Ordnung der Gesellschaft in den Augen Virchows 1848 vor allem durch die konservativen Kräfte gefährdet gewesen, so wurde für ihn der soziale Konsens nach der Reichsgründung mehr und mehr von der Sozialdemokratie bedroht. Deshalb versuchte er zugleich, die nicht-intendierten Rückwirkungen des öffentlichen Erfolges seiner politisch-biologischen Analogien abzuwehren. Virchows Körper-Staat-Metaphorik gewann damit immer stärker eine anti-revolutionäre Ausrichtung, worin sich die Akzentverschiebung widerspiegelt, die demokratische oder liberale Positionen auch insgesamt prägte. Revolution wurde dabei in Begriffen der Krankheit definiert – und umgekehrt. Damit stellt sich die Frage nach der Rolle des Begriffs der »Krankheit« im Rahmen einer biologische und soziale Körper miteinander verbindenden Metaphernzirkulation. 4.1.2 Krankheit und Epidemien  : Vom »Konsens« zum »Kampf«

Die Bedeutung des Begriffs der »Krankheit« als Brücke zwischen biologischen und sozialen Körpern steht im Zusammenhang eines Phänomens, das Georges Canguilhem zum Ausgangspunkt einer klassischen Studie wählte. Im Verlauf des 19.  Jahrhunderts habe sich die Auffassung einer Identität normaler und pathologischer Lebensäußerungen als neues wissenschaftliches Dogma weitgehend durchgesetzt und – vorübergehend – zwei alternative Konzeptionalisierungen von Krankheit verdrängt, welche die medizinischen Vorstellungen bis dahin dominiert hatten (und populäre Krankheitsvorstellungen auch weiterhin beherrschten)  : einerseits als Kampf des Körpers mit einer fremden Substanz und andererseits als Störung eines inneren Gleichgewichts des Körpers, d. h. als Kampf innerer Kräfte. Im Zuge dieses Wandels habe das Konzept von Krankheit zugleich seine ontologische Qualität verloren, indem der Unterschied von pathologischen zu normalen Phänomenen lediglich in quantitativen Variationen gefasst worden sei  : Krankheit sei zur lokalen Funktionsstörung geworden.42 41 Ebenda. 42 Georges Canguilhem, The Normal and the Pathological. With an introduction by Michel Foucault, New York 1991, S. 39–43  ; Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 47  ; ders., Broussais, or a Forgotten Medical Revolution, in  :

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Virchows Definition von Krankheit, wie er sie in den 1840er Jahren entwickelt hatte, lässt sich zunächst auf die von Canguilhem beschriebenen Veränderungen beziehen  : Krankheit sei »nichts Neues, sie ist kein fremdes hergekommenes Wesen, kein Kampf feindlicher Potenzen, kein Hereindringen äusserer Kräfte«43, erklärte er 1845. Die Gesetze, denen alle Lebensvorgänge unterworfen seien, unterschieden sich demnach nicht im gesunden und kranken Körper, lediglich ihre Erscheinungsform sei verschieden. Krankheit war damit für Virchow, wie er 1849 schrieb, am Ende nichts anderes »als Leben unter veränderten Bedingungen« – wozu auch die gesellschaftlichen Umstände gehörten. Daraus folgte zugleich, dass »Heilen im Allgemeinen das Herstellen der gewöhnlichen, normalen Vorgänge desselben« bedeutete.44 In diesem Krankheitsbegriff wurden somit biologische und gesellschaftliche Körper nicht nur einfach metaphorisch vermittelt, vielmehr war der Begriff der Krankheit per se biologisch und gesellschaftlich zugleich. War Krankheit für Virchow damit »der Ausdruck des unter ungünstigen Bedingungen verlaufenden Einzellebens«, so definierte er Epidemien als kollektive Krankheiten und damit analog als »das Anzeichen grosser Störungen des Massenlebens«  : »Jedesmal, wenn sich Viele unter gleichen, nachtheiligen Verhältnissen befinden, wird auch die Krankheit an Vielen auftreten, sie wird en- oder epidemisch sein.«45 Dabei unterschied Virchow zwischen den immer schon vorhandenen »natürlichen Seuchen« und den »künstlichen« Seuchen. Letztere seien Attribute der Gesellschaft, Produkte der falschen oder nicht auf alle Klassen verbreiteten Cultur  ; sie deuten auf Mängel, welche durch die staatliche und gesellschaftliche Gestaltung erzeugt werden und treffen daher auch vorzugsweise diejenigen Klassen, welche die Vortheile der Cultur nicht mitgenießen. (…) Die Geschichte der künstlichen Epidemien ist daher die Geschichte der Störungen, welche die Cultur der Menschheit erfahren hat  ; ihr Wechsel zeigt uns das Umschlagen der Cultur zu neuen Richtungen in gewaltigen Zügen. Jede wahrhafte Cultur-Revolution hat in ihrem Gefolge Seuchen, weil ein großer Theil des Volkes erst allmählich in die neue Culturbewegung aufgenommen und ihrer Segnungen theilhaftig wird.46

Bulletin of the History of Medicine 27 (1953), S. 320–343, hier v. a. S. 324 f.; Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19.  Jahrhunderts, München u. Wien 1976, S. 175–178. 43 Rudolf Virchow, Rede am 2ten August 1845, Druck  : Virchow, Medizin und Naturwissenschaft. Zwei Reden 1845, S. 67–75, hier  : S. 69. 44 Ders., Einheitsbestrebungen, S. 19 u. 21. Ähnlich auch schon in ders., Ueber die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin (1847), (Gelesen in der Jahressitzung der Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin zu Berlin am 5. December 1846.), in  : VA 1 (1847), S. 3–19. 45 Ders., Einheitsbestrebungen, S. 46. 46 Ebenda, S. 47.

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Zwischen Virchows epidemiologischem Konzept und seinem Konzept einer stufenförmigen zivilisatorischen Entwicklung bestand somit ein enger Zusammenhang,47 womit seine Epidemiologie in eine Art Modernisierungstheorie eingebunden war. »Epidemien«, so Virchow, »gleichen grossen Warnungstafeln, an denen der Staatsmann von grossem Styl lesen kann, dass in dem Entwicklungsgange seines Volkes eine Störung eingetreten ist, welche selbst eine sorglose Politik nicht länger übersehen darf.« Und in solchen Krisensituationen, fügte Virchow hinzu, bedürften die Staatsmänner »des Beistandes einsichtsvoller Aerzte«48. Bereits Rousseau hatte den medizinischen Begriff der »Krise« auf das Gebiet des Politischen übertragen,49 und bei Virchow wurde dieser nun zum Indikator des Übergangs von einer historischen Entwicklungsstufe zur nächsten. Da sein Krankheitskonzept gleichermaßen biologische und gesellschaftliche ›Krisen‹ einschloss, gewannen Ärzte zugleich Definitionsmacht darüber, welches der ›gesunde‹ beziehungsweise ›normale‹ Zustand der Gesellschaft sein würde. Darauf stützte Virchow auch seine sozialmedizinische Konzeption, die er während der Revolution in der berühmten Formulierung zuspitzte, wonach »Medicin eine sociale Wissenschaft« sei, »und die Politik (…) nichts, als Medicin im Grossen«50. Vor dem Hintergrund einer langen Tradition der Metaphorik des Staatsmannes als Arzt am Krankenbett der Gesellschaft51 wurden nunmehr die Ärzte selbst zu den besseren Staatsmännern erklärt. Mit Hilfe dieses Krankheitskonzepts vermochte Virchow die revolutionären Ereignisse und Epidemien, die Europa 1848 erschütterten, in einen gemeinsamen Deutungsrahmen zu stellen  : Nicht nur die Typhusepidemie in Oberschlesien und die Choleraepidemie in Berlin 1848, sondern auch die Revolution fielen unter sein epidemiologisches Konzept,52 und so mündeten seine Erklärungsversuche für Verlauf und Scheitern der Revolution in eine Psychopathologie der europäischen Gesellschaft, ähnlich wie es sich auch bei deutschen, französischen und englischen Psychiatern dieser Zeit finden lässt53. Nach der Revolutionswende im November 1848 diagnostizierte Virchow einen kollekti47 Darin unterscheidet sich Virchow von Comte, bei dem vor dem Hintergrund einer ähnlichen Gesellschaftspathologie »linearer Fortschritt als Weiterentwicklung der bestehenden Ordnung« gefordert wird. Siehe Göckenjan, Kurieren und Staat machen, S. 307. 48 MR, Nr. 8 vom 25.8.1848, S. 45. 49 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), Frankfurt a. M. 81997, hier v. a. S. 140. Koselleck gebraucht hier selbst eine medizinische Metapher zur Charakterisierung seines Untersuchungsvorhabens. 50 Rudolf Virchow, Der Armenarzt, in  : MR, Nr. 18 vom 3.11.1848, S. 125. 51 Vgl. Herfried Münkler, Arzt und Steuermann  : Metaphern des Politikers, in  : ders., Politische Bilder, Politik der Metaphern, Frankfurt a. M. 1994, S. 125–162. 52 Rudolf Virchow, Die Epidemien von 1848 (Gelesen in der Jahressitzung der Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin am 27. November 1848), Nachdruck  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 1, S. 117–123. 53 Vgl. Michael Hagner, Monstrositäten haben eine Geschichte, in  : ders. (Hg.), Der falsche Körper  : Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 1995, S. 7–20, hier  : S. 16.

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ven »psychopathischen Zustand« infolge der künstlichen Behinderung des Fortgangs der Revolution. So zählte er unter die künstlichen Epidemien neben den physischen auch die psychischen Epidemien, »denn auch die Geisteskrankheiten treten epidemisch auf und reissen ganze Völker in eine wahnsinnige Bewegung«54. Die revolutionäre soziale Bewegung, die Virchow hier in erster Linie auf die von Luther über Kant zu Hegel reichende deutsche Philosophie zurückführte, war logisch so consequent wie möglich  ; die normalen Denkgesetze, wie sie die Philosophie und die naturwissenschaftliche Beobachtung festgestellt haben, sind überall bestimmend gewesen, und nur, dass man sie gehindert hat, unter normalen Bedingungen zur Aeußerung zu kommen, das hat uns eine psychische Epidemie gebracht.55

In dieser merkwürdigen Vermengung naturalistischer und idealistischer Erklärungen war die Gegenrevolution ein Aufstand gegen die Naturgesetze und die normalen Lebensgesetze, woraus scheinbar zwangsläufig physische und psychische Volkskrankheiten entstehen mussten. Damit reagierte Virchow unter anderem auf den Umstand, dass im Frühjahr 1849 in Berlin Propheten, Magnetiseure sowie ein heilendes Wunderkind große Menschenmengen anlockten.56 Das Scheitern der Revolution bedeutete in diesem Deutungsrahmen, dass ein anormaler, d. h. pathologischer Zustand erreicht worden war. Nach dem Muster eines Krankheitsverlaufes musste dies zu einer neuen Krise führen, welche die die »normale«, »gesetzmäßige« gesellschaftliche Entwicklung hemmenden Kräfte vernichten und damit zur Gesundung führen würde. Der neue Gleichgewichtszustand am Ende des Heilungsprozesses werde, so Virchow, erst mit der Einführung »einer neuen Art von Ordnung, der demokratischen nämlich« erreicht sein.57 Damit fiel im Rahmen dieser politischen Seuchenmetaphorik die ›normale‹ Ordnung der Natur mit der angestrebten demokratischen politischen Ordnung in eins – was umso weniger erstaunlich ist, als die Unterscheidung von Gesellschaft und Natur im bürgerlichen Naturdiskurs zwar stets Programm war, aber nie wirklich vollzogen wurde.58 Virchows epidemiologisches Konzept korrespondierte mit dem Pendelschwung, der sich seit den 1820er Jahren von der Kontagium- zur Miasmatheorie und seit den 1860er Jahren wieder zurück vollzog und mit dem sich zugleich unterschiedliche Vorstellungen 54 Virchow, Einheitsbestrebungen, S.  48. Vgl. dazu auch George Rosen, Madness in Society  : Chapters in the Historical Sociology of Mental Illness, Chicago 1968, S. 179–181 u. 195 f. 55 Virchow, Die Epidemien von 1848, S. 120. 56 Vgl. dazu »Das Wunderkind«, in  : MR, Nr. 36 vom 9.3.1849, S. 209 f. 57 R. Virchow an Carl Virchow, 13./23.5.1849, Druck  : Rudolf Virchow. Sämtliche Werke (= RVSW), hrsg. v. Christian Andree, Bd. 59, Abt. IV  : Briefe. Der Briefwechsel mit den Eltern 1839–1864, Berlin u. a. 2001, S. 407. 58 Siehe dazu Geulen, »Center Parcs«, S. 263. Vgl. auch Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 1998.

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über die Ursachen von Epidemien verbanden. Der bis in das frühe 19. Jahrhundert vorherrschenden kontagionistischen Theorie zufolge entstanden Seuchen durch Übertragung eines Krankheitserregers von einer kranken Person auf eine andere Person. Antikontagionistische Theorien suchten dagegen die Ursache von Epidemien in der Umwelt, nämlich in den krankheitserzeugenden Folgen eines Miasmas, d. h. in den Folgen schädlicher Dämpfe, deren Ursache in Armut und sozialem Elend sowie den damit verbundenen schlechten Lebensbedingungen zu finden seien. Genau genommen ging es in beiden Auffassungen um das Problem der Ansteckung, und so existierten auch für Anhänger der Miasmatheorie Krankheitskeime. Nach anti-kontagionistischer Auffassung waren diese jedoch an lokale Faktoren gebunden, weshalb Epidemien als endemisch galten. Bedeutsam wurde der Unterschied zwischen Kontagionismus und Lokalismus vor allem im Hinblick auf die zu ergreifenden Gegenmaßnahmen  : Während der kontagionistischen Theorie zufolge rigide Quarantänemaßnahmen als probates Gegenmittel galten, forderten die Antikontagionisten, die sozialen und damit auch die hygienischen Verhältnisse zu verbessern.59 Erwin Ackerknecht stellte die einflussreiche These auf, wonach bei dieser Kontroverse ein enger Zusammenhang zwischen medizinischen und politischen Positionen bestanden habe  : Liberale hätten den Kontagionismus abgelehnt, weil dieser mit Quarantänen, zwangsweiser Isolation und bürokratischen Kontrollen, d. h. mit der Beschränkung des Individuums und des freien Handels, verbunden sei. Antikontagionisten seien somit nicht einfach nur Wissenschaftler, sondern Reformer gewesen, die für die Freiheit des Individuums und des Handels von den Fesseln des Despotismus und der Reaktion gekämpft hätten.60 So interpretierte Ackerknecht diese medizinische Richtung 1948 ent59 Erwin Heinz Ackerknecht, Anticontagionism between 1821 and 1867, in  : Bulletin of the History of Medicin 22 (1948), S. 562–593  ; Göckenjan, Kurieren und Staat machen, S. 112 ff.; Roger Cooter, Anticontagionism and History’s Medical Record, in  : A. Treacher/P. Wright (Hg.), The Problem of Medical Knowledge, Edinburg 1982, S.  87–108  ; Richard  J. Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den CholeraJahren 1830–1910, Reinbek b. Hamburg 1990, S. 330–363. Margaret Pelling argumentiert dagegen am Beispiel Englands, dass die Unterscheidung zwischen Kontagionisten und Antikontagionisten der Komplexität der tatsächlich auffindbaren Positionen nicht gerecht werde. (Pelling, Cholera, Fever, and English Medicine 1825–1865, London 1978.). 60 Ackerknecht, Anticontagionism, S.  567. Während dieser den Aufstieg des Antikontagionismus mit sozialen Interessen erklärt, resultiert für ihn die erneute Karriere des Kontagionismus aus der höheren wissenschaftlichen Plausibilität, die er im Zuge der Erfolge der Bakteriologie erlangte. Dagegen versucht Göckenjan, beide wissenschaftliche Wechsel mit politischen Zäsuren zu parallelisieren. (Göckenjan, Kurieren und Staat machen, S. 111–114.) Roger Cooter kritisiert den Versuch Ackerknechts, einen Zusammenhang zwischen sozialen Interessen des Bürgertums und der antikontagionistischen Theorie herzustellen, als mechanistisch und versucht dagegen die Frage nach der sozialen Konstruktion des antikontagionistischen Wissens aufzuwerfen. (Cooter, Anticontagionism, S.  99.) Richard Evans versucht dagegen anhand der Untersuchung der konkreten Strategien, die in Deutschland im 19. Jahrhundert zur Bekämpfung von Choleraepidemien eingeschlagen wurden, zu zeigen, dass dort tatsächlich ein solcher Zusammenhang zwischen der Vorherr-

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lang zentraler Werte der amerikanischen Gesellschaft, die ihm während des Zweiten Weltkrieges Zuflucht geboten hatte. Darin kann man auch eine gewisse Anpassungsleistung sehen, hatte Ackerknecht doch noch 1932 in einer marxistischen Analyse Virchow im Zusammenhang der Medizinalreform als kleinbürgerlichen, radikalen Demokraten zwischen großbürgerlichem Liberalismus und proletarischem Sozialismus charakterisiert.61 Doch blieb er seinem marxistischen Ansatz insofern treu, als er Ideen weiterhin als Epiphänomen sozioökonomischer Interessen verstand.62 Ackerknecht sah eine Parallele zwischen dem Aufstieg des Antikontagionismus und des Liberalismus sowie umgekehrt zwischen dem Niedergang dieser epidemiologischen Theorie und dem Sieg der Reaktion.63 So ist diese Interpretation zugleich an das »Aufstieg-und-Niedergangs«Narrativ des deutschen Liberalismus gebunden. Allerdings sollte die Opposition von Kontagionismus und Lokalismus, die Ackerknechts suggestiver These zugrunde liegt, nicht verabsolutiert werden. Vielmehr handelt es sich hier um zwei Pole in einem intellektuellen Spannungsfeld, innerhalb dessen sich eine Vielzahl individuell unterschiedlicher Standpunkte festmachen lassen.64 Im weitesten Sinne stehen sich hier zwei Positionen gegenüber, von denen die eine von einem wieder herzustellenden gestörten Gleichgewicht zwischen dem Menschen und seiner Umwelt und die andere von einer abzuwehrenden äußeren Attacke auf die autonome Integrität des Körpers ausgeht.65 In diesem Spannungsfeld bewegte sich auch Virchow, der in den 1840er Jahren zunächst eine antikontagionistische Position vertrat. Sein berühmter Bericht über die Typhusepidemie in Oberschlesien, den er 1848 im Auftrag des preußischen Kultusministeriums anfertigte, zeigt ihn als einen Anhänger der »geographischen« Schule der Epidemiologie, wonach klimatische Faktoren im Verein mit schlechten Wohnungen zur Entwicklung eines »Miasmas« führten. Dieses wurde als ein Gärungsprodukt und chemisches Gift vorgestellt, das, in den Körper gelangt, die Krankheit erzeuge, die somit nicht-kontagiöser Natur sei. Auch Virchows unmittelbare Therapievorschläge  – vor allem mehr Hygiene, Brotbäckereien und Suppenküchen  – hielten sich weitgehend im konventionellen Rahmen. Provozierend waren jedoch seine schaft kontagionistischer bzw. anti-kontagionistischer Cholerabekämpfungsmaßnahmen einerseits und eher zentralistischen bzw. freihändlerisch-liberalen politischen Systemen andererseits existierte. (Evans, Tod in Hamburg, S. 330–363.). 61 Erwin Heinz Ackerknecht, Beiträge zur Geschichte der Medizinalreform von 1848, in  : Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 25 (1932), S. 61–183. 62 Cooter, Anticontagionism, S. 93. 63 Ackerknecht, Anticontagionism, S. 589  ; Ähnlich auch Göckenjan, Kurieren und Staat machen, S. 113 f. Auch Evans betont die »Verknüpfung von Medizin, Wirtschaftsinteressen und politischer Ideologie« in Virchows Seuchentheorie. (Evans, Tod in Hamburg, S. 535.) Bei ihm steht allerdings gerade das Versagen des Hamburger Liberalismus im Mittelpunkt. So schneidet in seiner Darstellung das autoritäre Preußen zumindest in der Frage der Seuchenbekämpfung besser ab als das liberale Hamburg. 64 Peter Baldwin, Contagion and the State in Europe, 1830–1930, Cambridge u. a. 1999, S. 9. 65 Ebenda, S. 16 f.

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Vorschläge, die einer künftigen Wiederkehr dieser Seuche vorbeugen sollten und die sich an den 1846 vorgelegten Bericht der Pariser Medizinischen Akademie über die Pest in Ägypten anlehnten. Diesem zufolge sei der Fortschritt der Zivilisation die einzige effektive Gegenmaßnahme, und Ägypten benötige in erster Linie eine gute Verwaltung.66 Virchow machte sich dies zu eigen und nutzte die Gelegenheit seines offiziellen Auftrags zur Untersuchung der oberschlesischen Typhusepidemie, um mit der Ineffizienz der preußischen Verwaltung abzurechnen und gesellschaftliche und politische Reformen zu fordern  : Da man die Witterungsverhältnisse nicht ändern kann, so bleibt nichts übrig, als die Wohnungen und die ganze Lebensart der Leute zu ändern. Man muss aus einer armseligen, unwissenden und indolenten Gesellschaft eine wohlhabende, gebildete und thätige Bevölkerung erziehen. Die medicinische Frage greift hier also unmittelbar in die sociale und staatsökonomische über.67

Seit den späten 1860er Jahren näherte sich Virchow jedoch immer mehr kontagionistischen Positionen an. Deutlich zeigt sich dieser Wandel in seiner Rede anlässlich der 1890 erfolgten Grundsteinlegung des Kaiser-und-Kaiserin-Friedrich-Kinderkrankenhauses in Berlin, das vor allem der Bekämpfung von Infektionskrankheiten dienen sollte  : Solche Erkrankungen sind eine schwere Gefahr für das einzelne Kind, aber ihr verderblicher Einfluss erstreckt sich auf die Angehörigen und die Nachbarn. Nicht Wind und Wetter, nicht Wasser oder Nahrung sind die Ursachen, dass diese Krankheiten den seuchenhaften Charakter annehmen und schliesslich die ganze Bevölkerung bedrohen. Wie wäre es sonst möglich, dass in unserer Stadt, die mehr für ihre Reinigung thut als irgend eine andere Grossstadt, Jahr für Jahr Tausende und aber Tausende ergriffen werden, ja dass diese Stadt auf der Liste der Erkrankungen und Todesfälle an den genannten Krankheiten seit Jahren fast an der Spitze steht  ? (…) Das macht die Ansteckung, die sich von Mensch zu Mensch verbreitet, die kein Alter schont, die selbst zu den höchsten Kreisen der Bevölkerung hinaufkriecht, und die durch kein anderes Mittel einzuschränken ist, als durch vollständige und vor Allem durch frühzeitige Isolirung der Erkrankten.68

Mit dem hier vertretenen kontagionistischen Standpunkt reagierte Virchow somit auch auf die Gefahr, dass die Erfolge der liberalen Stadtsanierung in Berlin durch das große 66 Vgl. dazu Ackerknecht, Anticontagionism, S. 585  ; ders., Rudolf Virchow, S. 106. 67 Virchow an Kultusministerium, 14.7.1848  : Bericht über die Epidemie, welche 1847–1848 in Oberschlesien geherrscht hat  : GStA-PK, I. HA Rep. 76 VIII A Kultusministerium, Nr. 3006 (M), Bl. 169, Bl. 121 ff. 68 Berliner Klinische Wochenschrift, Nr. 26 v. 30.6.1890, S. 599 f., »Rede zur Grundsteinlegung des Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses am 20.  Juni 1890, gehalten von dem Vorsitzenden des Comités Rudolf Virchow«.

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Ausmaß ansteckender Erkrankungen dementiert werden könnten, wie es sich aus der Anwendung seiner früheren Maßstäbe leicht hätte folgern lassen. Im Konflikt zwischen dem liberalen Münchener Hygieniker Max von Pettenkofer, der die Bedeutung lokaler Faktoren an erste Stelle setzte, und dem politisch konservativen Bakteriologen Robert Koch, der die Bekämpfung von Infektionen mit zentral zu steuernden, einheitlichen Mitteln bevorzugte, nahm Virchow eine Zwischenstellung ein.69 Im Hinblick auf Staatsinterventionen vertrat er keineswegs die Position eines liberalen ›Nachtwächterstaates‹  ; vielmehr hielt er es für erforderlich, dass der Staat zunächst überhaupt die Bedingungen herstellen müsse, unter denen freie Individuen agieren könnten, d. h. in erster Linie »Bildung« und »Gesundheit«. Der Staat war für ihn Mittel und nicht Zweck der Gesundheitspolitik, was den Gebrauch staatlicher Machtmittel einschloss. So zeigte er sich zwar in den 1870er Jahren skeptisch gegenüber großflächigen Quarantänen an Land, da diese lediglich mit drastischen Zwangsmaßnahmen durchzusetzen seien  : Grenzsperrungen ohne Erschießen, erklärte Virchow 1879 anlässlich einer Pestepidemie in Astrachan, seien eine Illusion.70 Doch befürwortete er – im Gegensatz zu Pettenkofer – die leichter durchzuführenden Schiffsquarantänen.71 Und auch bei einer im Hinblick auf die Persönlichkeitsrechte besonders sensiblen Frage fand sich Virchow als entschiedener Befürworter der Impfung auf Seiten der Anhänger staatlichen Zwangs  : Während in Frankreich unter liberalem Einfluss bis 1902 kein Impfzwang zustande kam, wurde im Deutschen Reich bereits 1874 durch ein Reichsgesetz die verbindliche Pockenschutzimpfung eingeführt, nachdem sich diese während des Krieges 1870/71 bewährt hatte.72 Virchow ging schließlich sogar so weit zu fordern, hygienische Maßnahmen wie etwa Desinfektionen gegen renitente Individuen auch mit Hilfe staatlicher Gewalt durchzusetzen.73 69 Vgl. dazu Evans, Tod in Hamburg, S. 348–353. 70 Rudolf Virchow, Die Pest. Vortrag, gehalten in der Berliner medicinischen Gesellschaft am 19. Februar 1879, in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 2, Berlin 1879, S. 609–619, hier  : S. 617. 71 Ders., Gutachtliche Auesserung der Königlichen Wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen, betreffend die Aufstellung eines Programms für die Überwachung des Schiffsverkehrs in Bezug auf die Verbreitung der Cholera. (Erster Referent  : Virchow.), in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 1, S. 201–214, hier  : S. 209. 72 Vgl. Allan Mitchell, Bürgerlicher Liberalismus und Volksgesundheit im deutsch-französischen Vergleich 1870–1914, in  : Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. III  : Verbürgerlichung, Recht und Politik, Göttingen 1995, S. 220–242, hier  : S. 233 ff.; sowie Andreas Holger Maehle, Präventivmedizin als wissenschaftliches und gesellschaftliches Problem  : Der Streit über das Reichsimpfgesetz von 1874, in  : Medizin, Gesellschaft und Geschichte 9 (1990), S. 127–148, hier v. a. S. 148  ; Carl Löhnert, Virchow und die Impfung, in  : Bonner Reichs-Zeitung vom 5.1.1878, Nachdruck in  : ders., Impfzwang oder Impfverbot, Volkswirthe und Gesetzgeber, Leipzig 1883, S.  47–49. Demzufolge bezeichnete Virchow im November 1875 »die Agitation gegen die Impfung geradezu eine sinnlose und die Impfgegner eine bethörte Menge«. Ebenda, S. 47. 73 So schilderte Virchow am 12.3.1901 den Fall eines Schullehrers in der Nähe Berlins, der sich weigerte, sich

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Der Umschwung zum Staatsinterventionismus im Bereich der Gesundheitspolitik wurde als Bestandteil einer umfassenden Abwendung von liberalen Prinzipien in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs charakterisiert.74 Einer solchen implizit moralisierenden Haltung, der die Vorstellung eines Versagens des Liberalismus gegenüber seiner angeblichen historischen Mission zugrunde liegt, steht entgegen, dass der Staat bei Virchow stets eine wichtige Rolle als Mittler zwischen einer wissenschaftlichen Reform­ elite und der zu verbessernden Gesellschaft spielen sollte. Dieses paternalistisch geprägte Konzept ging nicht in einem Gegensatz Staat – Gesellschaft auf, sondern konstituierte sich vielmehr in einem Dreieck Staat  – Gesellschaft  – medizinische Experten. Somit findet man bei Virchow keinen Bruch, keinen »Verrat« liberaler Prinzipien durch Hinwendung zum Staatsinterventionismus, sondern lediglich eine pragmatische Anpassung seiner Antworten auf wechselnde politische Konstellationen. Veränderungen der Konzeption von »Krankheit« und »Seuche« einerseits und der Wahrnehmung gesellschaftlicher und politischer Beziehungen andererseits standen dabei in einem wechselseitigen Verhältnis. Die zunehmende Annäherung Virchows an kontagionistische Modelle äußerte sich schließlich auch darin, dass er die zuvor abgelehnte Vorstellung von Krankheitserregern übernahm, wonach diese als Feinde eines durch klare Grenzen markierten Körpers verstanden wurden. Vergleicht man Virchows Vorschläge zur Bekämpfung der Missstände in Oberschlesien oder im Spessart in den vierziger und fünfziger Jahren mit den stadthygienischen Maßnahmen, die Virchow später in Berlin mit zu verantworten hatte, so verschob sich der Akzent von der Hebung einer depravierten Bevölkerung durch »Bildung« und »Wohlstand« hin zur hygienischen Ordnung der Städte durch »Licht« und »Luft«. Wenngleich beides darauf abzielte, krankheitserzeugende »Milieus« zu verbessern, so deutet die Aufklärungsmetapher, unter der das stadthygienische Reformprogramm in Berlin – und ähnlich in anderen Großstädten – etwa seit den 1860er Jahren in Angriff genommen wurde, auch auf ein Moment der Verunsicherung hin  : Mit der Forderung nach »Licht« und »Luft« war zugleich die beunruhigende Vorstellung einer finsteren »Unterwelt« der Metround seine Familie, die an Masern erkrankt war, von einem städtischem Desinfektionstrupp desinfizieren zu lassen  : »Glauben Sie, meine Herren, dass es möglich gewesen wäre, bei den Vorgesetzten dieses Lehrers zu erreichen, dass ihm Zwang angethan wurde  ? Es ist ihm nichts geschehen  ; man hat ihm nicht einmal ein schlimmes Wort gesagt (…) Faktisch ist in dem fraglichen Fall nichts geschehen, die Epidemie hat sich weiter ausgebreitet und ziemlich große Dimensionen angenommen.« Siehe SBPAH, 48. Sitzung am 13. März 1901, S. 3317 f. In Fällen von Erbkrankheiten plädierte er dagegen dafür, die Frage der Abwägung der möglichen Risiken einer Weitervererbung dieser Krankheiten an ihre Kinder in deren persönlicher Verantwortung zu belassen, auch wenn er ärztlich davon abriet. Siehe Rudolf Virchow, Einige Bemerkungen über die von Hrn. Dr. Hartsen aufgeworfene Frage über die Zulässigkeit des Geschlechtsgenusses bei Phthisikern, in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 2, S. 619–622, hier  : S. 622. 74 Siehe etwa Mitchell, Bürgerlicher Liberalismus und Volksgesundheit.

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polen verbunden. In ihrer Dialektik der Aufklärung sprachen Max Horkheimer und Theodor Adorno 1944 von der reinen »Immanenz des Positivismus«, hinter der sich eine »radikal gewordene, mythische Angst« verborgen habe  : »Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.«75 Weniger geschichtsphilosophisch als sozialhistorisch interpretiert auch Brian Ladd das stadthygienische Reformprojekt der zweiten Jahrhunderthälfte als Ausdruck bürgerlicher Ängste vor all dem, was sich nicht in die bürgerliche Ordnung einfügen ließ oder diese gefährdete.76 In der bürgerlichen Mentalität des Kaiserreichs lassen sich ein inneres und ein äußeres Bedrohungsszenarium unterscheiden. Die Wahrnehmung einer inneren Bedrohung der bürgerlichen Ordnung machte sich vor allem an den Großstädten fest, wobei Berlin aufgrund seiner Größe und seines enormen Wachstums eine herausragende Rolle spielte.77 Hinzu trat die Wahrnehmung einer Bedrohung von außen, die seit dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 immer wieder Höhepunkte erreichte. 1871, während die deutsche Belagerung von Paris noch andauerte, wertete Virchow die medizinischen Erfahrungen des laufenden Krieges aus, an dem er selbst zusammen mit zweien seiner Söhne als Leiter eines Lazarettzuges hinter der Front teilgenommen hatte. In seiner Interpretation trat die Bedeutung der Lebensumstände gegenüber der Ansteckung als Ursache von Seuchen erheblich zurück. Nunmehr formulierte er die These, dass die slawischen Länder eine Hauptquelle zur Verbreitung von Epidemien in Mitteleuropa bildeten. Auch seine Interpretation der oberschlesischen Typhusepidemie 1848 las sich nun anders  : Hatte Virchow deren Ursachen während der Revolution in den aus dem Versagen der preußischen Verwaltung resultierenden mangelhaften sozialen und hygienischen Verhältnissen gesehen, so rückte er nun die Übertragung von Krankheiten aus dem Osten in den Vordergrund  : Unsere Hungerseuchen in Oberschlesien 1848 und in Ostpreußen 1868 ließen vielfache Beziehungen zu slawischen Bevölkerungen wahrnehmen. Selbst in unserer Provinz Posen sind seit 1828 wiederholt kleinere Epidemien von Typhus und Recurrens bekannt geworden. Polen scheint daher für uns eine nahezu ebenso gefährliche Bedeutung zu haben, wie Irland für Großbritannien, und so sehr ich mich früher gesträubt habe, die Ansteckung als das gewöhnliche Mittel der Entwicklung typhöser Seuchen zuzulassen, so muss ich doch gestehen, dass 75 Max Horkheimer/Theodor Adorno, Begriff der Aufklärung, in  : dies., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a. M. 1988, S. 9–49, hier  : S. 22. 76 Brian Ladd, Urban Planning and Civic Order in Germany, 1860–1914, Cambridge, Mass., 1990, S. 48. Vgl. dazu auch Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1988  ; Manuel Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760–1860, Göttingen 1997. 77 Vgl. dazu Andrew Lees, Cities Perceived  : Urban Societies in European and American Thought, 1820–1940, Manchester 1985.

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auch mich, wie so viele frühere Beobachter, die fortgesetzte Erfahrung immer mehr in das Lager der Contagionisten zwingt.78

Aus der Kritik der unfähigen preußischen Beamten wurde nunmehr ein Loblied auf die Weitsicht der preußisch-deutschen Bürokratie, deren Umsicht während des deutschfranzösischen Krieges viele Soldatenleben durch bessere medizinische Prävention gerettet habe. Die Gefahren von außen verteilten sich damit ungleich nach Westen und Osten  : Frankreich stand einerseits für militärische Bedrohung, andererseits aber für die Übertragung von Krankheiten, die französische Armeen aus dem Osten mitbrachten – seien es die Soldaten Napoleons auf ihrem Rückzug aus Russland oder die von Seuchen geplagten französischen Belagerer der Krim.79 Zu dieser von Virchow formulierten französischen Nationalpathologie gehörte auch die nach dem deutsch-französischen Krieg aufgestellte Diagnose psychischer Epidemien – wie z. B. der französische Chauvinismus.80 Hatte Virchow 1848 in einem historischen Rückblick auf die Verbreitung einer als »englischer Schweiß« bezeichneten Seuche im 16. Jahrhundert noch von einer Ausbreitung von Epidemien von Westen nach Osten gesprochen,81 so drehte sich im Kaiserreich die Bedrohungsrichtung  : Auch er übernahm die zunehmend populärere Sicht des Ostens als Ausgangspunkt von Seuchen, die vor allem von osteuropäischen Auswanderern nach Deutschland eingeschleppt würden.82 Diese Auffassung wirkte bis in Virchows epidemiologische Untersuchungen der Stadt Berlin hinein. In einem 1872 gehaltenen Vortrag vor der Berliner medicinischen Gesellschaft über die Sterblichkeitsverhältnisse in Berlin behandelte er Argumente, die auf einen Zusammenhang von sozialer Lage, schlechten Wohnungsverhältnissen und erhöhter Mortalität abzielten, mit großer Skepsis. Umgekehrt stellte er fest, »dass ein großer Theil der Schäden, an welchen unsere öffentliche Gesundheit leidet, diesem ungeordneten Wachsthum, dieser Mengung so vieler neuer Elemente mit den inficirten alten, auch dem häufigen Import neuer Krankheiten von außerhalb zuzuschreiben ist«83. Allerdings äußerte Virchow im Deutschen Reichstag 1889 Zweifel gegenüber »fixierten Staatsdogmen über eine bestimmte Verbrei78 Rudolf Virchow, Kriegstyphus und Ruhr, in  : VA 52 (1871), S. 1–42, hier  : S. 41. Nachdruck  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 1, S. 464–495, hier  : S. 494. 79 Ebenda. 80 Rudolf Virchow, Nach dem Kriege, in  : VA 53 (1871), S. 1–27, hier  : S. 7  ; ders., Hr. Huchard und die Frage des Besuches des internationalen Congresses durch die französischen Ärzte, Berlin 14.7.1890  : StBB-PK, Slg. Darmstädter 3, Rudolf Virchow, K. 1. 81 Ders., Die Epidemien von 1848, S. 122 f. 82 Über Russland als »Seuchenherd« siehe auch Rede von Rudolf Virchow über die Verhütung der Rinderpest in SBPAH, 18. Sitzung am 12.2.1877, S. 475. Zur Rolle der Wahrnehmung einer Seuchenbedrohung aus dem Osten vgl. auch Paul J. Weindling, Epidemics and Genocide in Eastern Europe, 1890–1945, New York 2000. 83 Rudolf Virchow, Über die Sterblichkeitsverhältnisse Berlins (Vortrag auf der Sitzung der Berliner medicinischen Gesellschaft vom 13. November 1872), in  : Berliner klinische Wochenschrift, 1872, Nr. 51, Nachdruck  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 1, S. 561–575, hier  : S. 575.

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tungsrichtung« von Seuchen, so etwa gegenüber der Vorstellung, dass die Maul- und Klauenseuche aus Russland komme. Zugleich trat er der von der Agrarlobby vertretenen Auffassung entgegen, dass Tierseuchen generell von außen eingeschleppt würden und forderte eine stärkere Überwachung im Inland.84 Doch wenige Jahre später erklärte er an selber Stelle  : Ich darf wohl besonders hervorheben, daß die gewöhnliche Quelle, aus der wir das Fleckfieber beziehen, die polnischen Nachbarprovinzen und Galizien sind. Es ist das ein ähnliches Verhältnis, wie es uns bei den Thierseuchen entgegentritt  ; der Schutz der Grenze wird vielleicht wieder eingerichtet werden müssen.85

Die Vorstellung einer Bedrohung von außen, die Virchows Krankheitskonzeption immer stärker prägte, gipfelte in einem 1885 veröffentlichten Artikel über den »Kampf der Zellen und der Bakterien«, in dem er sich mit der aktuellen Herausforderung seiner Zellularpathologie beschäftigte. Darin zitierte Virchow ausführlich einen im selben Jahr erschienenen Artikel aus dem Journal médical quotidien, wo pathetisch das Ende seiner Zellularpathologie und des »Zellenstaats« aufgrund der Erfolge der Bakteriologie verkündet wurde  : Die Zellularpathologie hat sich überlebt. Unser Körper ist nicht mehr länger jene ›Republik aus Zellen, die alle ihr eigenes Leben führen (…)‹. Ihr Zellenstaat ist entthront, großer Meister. (…) Nieder mit den Zellen, hoch leben jene unendlich kleinen, aber sich stark vermehrenden, unabhängigen Wesen, (…) die von außen kommen und dabei in den Organismus wie Sudanesen eindringen und ihn mit dem Recht des Eroberers verwüsten (…).86

Gegenüber diesem Abgesang auf die Zellularpathologie im Zeichen einer mit kolonialen Untertönen interpretierten Bakteriologie machte Virchow geltend, dass die Bedeutung der Zellen keinesfalls hinfällig sei  : Angesichts der Euphorie über die Entdeckung der Bakterien werde leicht übersehen, dass damit noch keinesfalls die Frage nach dem Krankheitsprozess geklärt sei, für dessen Erklärung früher oder später der Blick wieder auf die Zellen zurückwandern werde.87 Während Virchow damit an seinem Konzept der Zellularpathologie festhielt, hatte sich deren Bedeutung im Gefolge der im Kaiserreich erfolgten Entwicklung des Krankheitsdiskurses verändert. Denn während in der Zellularpathologie früher die Ablehnung eines ontologischen Krankheitsbegriffs eine zent84 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, 17. Sitzung am 18.11.1889, S. 363 u. 369. 85 Ebenda, 80. Sitzung am 21.4.1893, S. 1961. 86 Journal médical quotidien, 1885, Nr. 61, S. 3. Zitiert nach Rudolf Virchow, Der Kampf der Zellen und Bakterien, in  : VA 101 (1885), S. 1–13, hier  : S. 8 f. 87 Virchow, Kampf der Zellen und der Bakterien, S. 9.

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rale Rolle gespielt hatte – was zugleich Vorstellungen eines Kampfes des Körpers gegen äußere Bedrohungen ausschloss –, interpretierte sie Virchow nunmehr in Begriffen, in deren Mittelpunkt die Metapher des »Kampfes« beziehungsweise des »Krieges« stand. An deren Karriere sowohl in wissenschaftlichen wie politischen Diskursen während des Kaiserreichs knüpfte er damit an. Der Übergang vom »Konsens« zum »Kampf«, wie er sich bei Virchow findet, spielte nicht allein im populären sozialdarwinistischen Diskurs eine wichtige Rolle,88 sondern auch im Bereich der Bakteriologie, die durch das Bild eines Krieges zwischen Bakterien und Körper wirkungsvoll popularisiert wurde. Das dabei entwickelte populäre Konzept bakterieller Infektionen besaß drei Hauptcharakteristika  : die Nicht-Unterscheidung zwischen Krankheitserreger und Krankheit, das Fehlen eines Konzepts des pathologischen Prozesses und die Abwesenheit eines kranken Individuums.89 Zu allen drei Punkten stand Virchows Zellularpathologie im Gegensatz. Aber im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Bakteriologie veränderte sich sein auf dem Konsens der einzelnen Teile beruhender föderalistischer, demokratischer »Zellenstaat« zu einer Festung, die sich gegen Bedrohungen von außen zur Wehr setzten musste90  : »Wir erkennen jetzt«, erklärte er 1886 auf der Berliner Naturforscherversammlung, »dass die Mikroorganismen Krankheitsursachen sind, gegen welche die lebende Substanz der Zellen ihre Wehrkämpfe ausführt, (…) und so ist jetzt die weitere und schwierigere Bahn eröffnet, den Mechanismus sowohl der Einwirkung des Mikroorganismus, als der Abwehr desselben durch die Zellen zu ergründen.«91 Damit hatte Virchow seine Zellularpathologie an die Vorstellung von Krankheit als Kampf angepasst und näherte sich einer FeindFreund-Pathologie. Der »Zellenstaat« blieb in der Interpretation Virchows zwar von anderen Auffassungen unterscheidbar, die diesen stärker hierarchisch gegliedert konzipierten.92 Doch bedeutete Krankheit nun auch bei ihm nicht mehr länger ›Leben unter veränderten Umständen‹, sondern ›Krieg‹, und dabei standen sich die »Gesundheitsburg« des als Zellenstaat gedachten Körpers und dämonische Krankheitserreger auf beiden Seiten

88 Vgl. dazu auch Peter Weingart, »Struggle for Existence«. Selection and Retention of a Metaphor, in  : Maasen u. a. (Hg.), Biology as Society, S. 127–151. 89 Christoph Gradmann, Invisible Enemies  : Bacteriology and the Language of Politics in Imperial Germany, in  : Science in Context 13 (2000), S. 9–30, hier  : S. 18  ; siehe auch ders., »Auf Kollegen zum fröhlichen Krieg.« Popularisierte Bakteriologie im Wilhelminischen Zeitalter, in  : Medizin, Gesellschaft und Geschichte 13 (1995), S. 35–54  ; ders., Bazillen, Krankheit und Krieg  : Bakteriologie und politische Sprache im deutschen Kaiserreich, in  : Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19 (1996), S. 81–94. 90 Virchow, Kampf der Zellen und Bakterien, S. 12. 91 Ders., Die Verbindung der Naturwissenschaften mit der Medizin, in  : Tageblatt der 59. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin vom 18. bis 24. September 1886, Nr. 3 vom 19.9.1886, S. 77–87. 92 Vgl. dazu Weindling, Theories of the Cell State.

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einer klar gezogenen Grenze gegenüber.93 In diesen Veränderungen der Metaphorik beeinflussten sich wissenschaftliche und politische Bedeutungsveränderungen wechselseitig. Nach dem Vorbild der Bakteriologie passte Virchow sein Krankheitskonzept der zunehmenden Militarisierung des öffentlichen Diskurses an und übernahm zugleich das Bild des Kampfes der Zellen und der Bakterien auch in die politische Sprache. So bezeichnete er 1901 in einem Interview die öffentliche Meinung, die er als Kontrollin­stanz der Regierungen ansah, als einen »moralischen Körper«, der gelegentlich von »Mikro­ ben« angegriffen und verdorben würde. Andererseits kritisierte Virchow an selber Stelle, dass Philosophen, Politiker und Militärs vielfach leichtfertig mit biologistischen Begründungen der Notwendigkeit des Krieges hantierten  : »Das Spiel gegensätzlicher Kräfte beschäftigt sie dermaßen, dass ihnen die bewundernswerte ordnende Kraft, die diese gleichzeitig ablaufenden Prozesse lenkt, entgeht, samt der unendlichen Harmonie, die sich daraus ergibt.«94 In einer solchen harmonisch geordneten Natur besaß scheinbar alles seinen Platz. Doch wohin gehörte dabei das »Abweichende«  ? So stellt sich die Frage, wie die gezeigten Veränderungen der Krankheitskonzeption Virchows vom »Konsens« zum »Kampf« sich zu der im Verlauf des 19.  Jahrhunderts ausbreitenden normativen Aufladung der Unterscheidung des »Normalen« und des »Pathologischen« verhielten. 4.1.3 Experiment, Statistik und Normalität

Der Wandel von ›Krankheit als Leben unter anderen Umständen‹ zur ›Ausgrenzung von Andersartigkeit‹ bildet eine Schattenseite jenes Prozesses der »Normalisierung«95, der die moderne Industriegesellschaft in allen Bereichen prägte. Dies berührt zugleich die größere Frage, inwieweit die liberale Utopie an jenen ambivalenten Potenzialen des Modernisierungsprozesses teilhatte, die sich »im Zentrum des gesellschaftlichen Fort-

93 Vgl. zur Karriere des Konzepts der »Gesundheitsburg« Emily Martin, Die neue Kultur der Gesundheit. Soziale Geschlechtsidentität und das Immunsystem in Amerika, in  : Sarasin/Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft, S. 508–525, hier  : S. 510 ff. 94 Independance Belge (Brüssel), 17.10.1901, «Chez Rudolf Virchow». Vgl. auch Rolf Peter Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt a. M. 1989. 95 Vgl. Volker Hess, Messen und Zählen. Die Herstellung des normalen Menschen als Maß der Gesundheit, in  : Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999), S. 266–280  ; Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 2. erweit. Auflage Opladen u. Wiesbaden 1998  ; Werner Sohn/Herbert Mehrtens (Hg.), Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalgesellschaft, Opladen 1999, darin v. a. W. Sohn, Bio-Macht und Normalisierungsgesellschaft – Versuch einer Annäherung, ebenda, S. 9–29. Zu Foucaults Konzept der »Biopolitik« und der »Normalgesellschaft« siehe Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M. 91997, S. 161–190  ; ders., In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76). Aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt a. M. 1999, v. a. S. 49 u. 292 f.

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schritts, in den Humanwissenschaften und unter den Sozialreformern« entfalteten.96 Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, welche Bedeutungen die Begriffe des »Normalen« und des »Pathologischen« bei Virchow im medizinischen und im politischen Feld annahmen und welche Veränderungen sich dabei ergaben. Die Entstehung des Diskurses über den normalen und den pathologischen Zustand von biologischen und sozialen Körpern war eng mit dem Aufstieg des Experiments und der Statistik in der Medizin verbunden. So war die »Konzeption des Pathologischen als einer graduell messbaren Differenz zum physiologischen Normalzustand (…) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Laboren der Lebenswissenschaften« entsprungen.97 Auch Virchow, für den das Experiment ein zentrales Kriterium des naturwissenschaftlichen Charakters der Pathologie bildete,98 räumte der experimentellen Herangehensweise in seinem Pathologischen Institut einen zentralen Platz ein. Im Mittelpunkt standen das Tierexperiment sowie die »genetische Untersuchung« von Krankheiten. So verankerte er die historische Dimension fest in der Medizin, indem er pathologische Entwicklungsgeschichten studierte.99 Virchow hielt bei diesen Untersuchungen an der im frühen 19. Jahrhundert vorherrschenden Auffassung fest, wonach das Normale als Idealtypus und nicht als statistischer Durchschnitt gefasst wurde.100 Wie er in einem Artikel über »Rassenbildung und Erblichkeit« 1896 bekräftigte, sei die Physiologie die »Lehre von den gesetzmäßigen Vorgängen des Lebens«. Das Gesetz, nach dem diese sich vollzögen, sei der »Typus«. »Jede Abweichung von diesem Typus oder, ganz allgemein ausgedrückt, von dem Normalleben, ist pathologisch.« Zur Pathologie gehöre daher »das Gebiet der Anomalien, d. h. der Abweichungen vom Typus«101. Diesen Grundsatz machte Virchow vor allem auf dem Ge 96 Detlev J. K. Peukert, Alltag und Barbarei. Zur Normalität des Dritten Reiches, in  : Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte  ? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a. M. 1987, S. 51–61, hier  : S. 57 f. In eine ähnliche Richtung zielen auch die Arbeiten Geoff Eleys, der sich gleichfalls für die Entfaltung der Disziplinarmacht im Sinne Foucaults interessiert. Siehe etwa Eley, German History and the Contradictions of Modernity  : The Bourgeoisie, the State, and the Mastery of Reform, in  : ders. (Hg.), Society, Culture, and the State in Germany, 1870–1930, Ann Arbor 1997, S. 67–103, hier  : S. 96.  97 Hess, Messen und Zählen, S. 269.  98 Rudolf Virchow, Die naturwissenschaftliche Methode und die Standpunkte in der Therapie (Gelesen bei der Jahressitzung der Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin zu Berlin am 20. Decbr. 1847), in  : VA 2 (1849), S. 3–37, hier S. 7 f. Siehe auch ders., Ueber den Werth des pathologischen Experiments. Vortrag, gehalten in der 2.  allgemeinen Sitzung des 7.  internationalen medicinischen Congresses zu London 1881. Neuer Abdruck, nebst einem Nachworte des Verfassers, Berlin 1899.  99 Heinrich Schipperges, Utopien der Medizin. Geschichte und Kritik der ärztlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts, Salzburg 1968, S. 37. 100 Zum Gegensatz von Normalität als Idealtyp und als statistischer Durchschnitt siehe Hess, Messen und Zählen, S. 270 ff.; Hacking, Taming of Chance, S. 162 ff. 101 Rudolf Virchow, Rassenbildung und Erblichkeit, in  : Festschrift für Adolf Bastian zu seinem 70. Geburtstage, Berlin 1896, S. 3–43, hier  : S. 7 f.

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biet der Teratologie fest, d. h. der Lehre von den Monstrositäten  : Hier hatte ihm zufolge die auf Schauen und Messen beruhende »naturwissenschaftliche Methode« im Bereich der Pathologie ihre ersten großen Erfolge gefeiert, indem sie gezeigt habe, dass derartige Missgeburten keine Wunder, sondern gleichfalls den physiologischen Gesetzen der Entwicklung unterworfen seien. Die Teratologie spielte deshalb eine Schlüsselrolle für die Legitimierung der Pathologie als Naturwissenschaft sowie für die Delegitimierung religiöser wie anderer nichtnaturwissenschaftlicher Weltbilder. Johann Friedrich Meckels embryologische Untersuchungen in den 1830er Jahren hätten, so Virchow, bewiesen, dass alle Missbildungen zwar Abweichungen von der Regel darstellten, sich aber niemals so weit von dem »Normaltypus des respectiven Organismus oder Organs (entfernen), dass sie aus der Reihe organischer Körper träten, in welcher der Organismus, der sie hervorgebracht, gehört«102. Die embryologischen Untersuchungen sogenannter »Monster« besaßen deshalb große Bedeutung dafür, dass die Schranken zwischen Physiologie und Pathologie fielen und normale Vorgänge durch den Vergleich mit pathologischen – und umgekehrt – erklärt wurden.103 Anhand der Ausstellung einer Anzahl entstellter Missgeburten in der »öffentlichen Abteilung« des Berliner Pathologischen Museums wird deutlich, dass Virchow diese Objekte nicht als qualitative, sondern lediglich quantitative Abweichungen von einem menschlichen Idealtypus präsentierte. Deshalb wurden die ausgestellten Missgeburten in Reihen angeordnet, um die graduellen Übergänge zwischen den einzelnen Formen zu verdeutlichen und damit den Gedanken einer ontologischen Differenz zu konterkarieren.104 So erklärte Virchow bei der Eröffnung des Pathologischen Museums 1899  : »Das ›Wunder‹ löst sich dann in eine Reihenfolge gesetzmäßiger Erscheinungen auf, welche für den Aberglauben keine Stütze mehr gewähren.«105 Damit widersprach er zum einen einer Klassifizierung der Objekte als »Monster«, d. h. als Zeugen göttlicher Vorgänge, wie es im Rahmen traditionaler, religiöser Weltbilder üblich war. Zum anderen wurden diese aber auch nicht als Monstrositäten klassifiziert, d. h. als Belege für die tierische Verwandtschaft des Menschen, wie es darwinistischen Auffassungen entsprach. 102 Ders., Deszendenz und Pathologie, in  : VA 103 (1886), Teil II, S. 205–215, hier  : S. 208 f. Siehe auch ders., Antrittsrede nach Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften, 1874  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2729. 103 Lepenies, Ende der Naturgeschichte, S. 179. Vgl. auch Michael Hagner, Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. Wandlungen des Monströsen und die Ordnung des Lebens, in  : ders. (Hg.), Der falsche Körper, S. 73–107  ; Link, Versuch über den Normalismus, S. 192 f. 104 Rudolf Virchow, Die Eröffnung des pathologischen Museums der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität am 27. Juni 1899, Berlin 1899. Virchows Begriff des »Pathologischen« geriet in den letzten Jahrzehnten seiner Tätigkeit allerdings zunehmend in Gegensatz zum allgemein akzeptierten wissenschaftlichen Sprachgebrauch. 105 Ders., Die Eröffnung des Pathologischen Museums, S. 21.

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Abb. 15  Der »Riese« Lewis Wilkins bei einer Demonstration vor Virchows Studenten im Pathologischen Institut (1901).

Ähnlich verhielt es sich bei dem Interesse Virchows und der Berliner Anthropologen an lebenden »Kuriositäten«, d. h. Zwergen, Riesen, Haarmenschen und anderen ungewöhnlichen menschlichen Formen, wie sie im kaiserzeitlichen Berlin in Panoptiken und Völkerschauen ausgestellt wurden. Die Präsentation dieser Menschen sollte vor allem die Grenzen zwischen Tieren und Menschen bestätigen106, und auch hier wurde das Pathologische als eine lediglich graduelle Abweichung vorgestellt. Dies widersprach allerdings nicht nur der Alltagswahrnehmung von Laien, sondern kollidierte zugleich mit einer Entwicklung, die insbesondere von der Statistik ausging  : Dort wurde die idealtypische »menschliche Natur« als Maßstab der Normalität mehr und mehr durch den statistischen Durchschnitt ersetzt. Der belgische Statistiker Adolphe Quetelet hatte 1835 den homme moyen als ein aus dem Gesetz der großen Zahl gewonnenes Konstrukt eingeführt. Über diesen schrieb er  :

106 Andrew Zimmerman, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago u. London 2001, S. 83  ; sowie ders., Geschichtslose und schriftlose Völker in Spreeathen. Anthropologie als Kritik der Geschichtswissenschaft im Kaiserreich, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 197–210.

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Wäre der mittlere Mensch vollkommen bestimmt, so könnte man ihn (…) als den Typus des Schönen betrachten  ; und alle beträchtlichen Abweichungen von seinen Verhältnissen und von seinen Eigenschaften und Fähigkeiten gehörten in das Gebiet der Missbildungen und Krankheiten  ; was in Beziehung auf Verhältnisse und Formen ihm nicht allein unähnlich wäre, sondern sogar noch jenseits der beobachteten Extreme fiele, wäre eine Monstrosität.107

Der homme moyen sollte somit »sowohl die ästhetische Norm der Gesellschaft als auch die Norm der biologischen oder medizinischen Normalität bilden«108, dessen Gegenteil, anders als bei Virchow, die Monstrosität bildete. Quetelet versuchte auf dieser Grundlage eine »soziale Physik« zu entwickeln, wozu er zahlreiche Aspekte des biologischen und sozialen Lebens der Bevölkerung der europäischen Länder statistisch erfasste. Das Spektrum reichte von Geburt und Sterblichkeit über körperliche Eigenschaften wie das menschliche Wachstum bis hin zu sozialen und moralischen Erscheinungen wie Heiraten, Verbrechen und Selbstmord. Diese Untersuchungen besaßen erhebliche politische Implikationen, denn für Quetelet war der homme moyen zugleich der Maßstab für die gezielte Reform der Gesellschaft, die er der Revolution entgegensetzte.109 Mit der aus statistischen Untersuchungen einhergehenden Expertise war somit eine neue Quelle der politischen Autorität in Fragen der Gesundheit und Moral entstanden, die vor allem auch die Ärzte zu nutzen begannen. Seit den 1840er Jahren war die Vorstellung, wonach die Verbreitung von Krankheiten nummerische Regelmäßigkeiten aufwies, selbstverständlich geworden, und medizinische Statistiken füllten die Fachzeitschriften.110 Virchow fasste diese Entwicklung und die daraus gezogenen Konsequenzen 1860 in einem Vortrag auf der Naturforscherversammlung in Königsberg folgendermaßen zusammen  : Wenn die Statistik lehre, dass an einigen Orten ein Drittteil aller Todesfälle durch Lungenerkrankungen erfolge, wenn die Schwindsucht im engeren Sinne des Wortes 15 bis 18 Prozent und noch mehr der Todesfälle liefere, so deute das darauf hin, dass in der Entwickelung unserer Bevölkerungen Störungen gegeben sind, welche in den gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen begründet, also vermeidlich sind. (…) Aber solche Überzeugungen werde die Wissenschaft erst dann siegreich begründen, wenn durch eine sorgfältige Morbiditäts- und Mortalitätsstatistik, welche sich aus dem kleinsten Kreise aufbauen müsse, die Waffen gewonnen seien, alle entgegenstehenden Einwirkungen zu überwinden, und gerade eine solche Sta107 Adolphe Quetelet, Ueber den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, oder Versuch einer Physik der Gesellschaft. Deutsche Uebersetzung von V. A. Ricke, Stuttgart 1838, hier  : S. 570. 108 Hess, Messen und Zählen, S. 272. 109 Quetelet, Ueber den Menschen. Vgl. dazu auch Porter, Rise of Statistical Thinking, S. 41–55  ; Hess, Messen und Zählen, S. 271 f. 110 Hacking, Taming of Chance, S. 55. Zur Geschichte der Statistik im 19. Jahrhundert vgl. vor allem Krüger u. a. (Hg.), The Probabilistic Revolution, Bd. 1  ; Porter, Rise of Statistical Thinking  ; ders., Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life, Princeton 1995.

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tistik herzustellen, das sei die nächste Aufgabe der Medizin, an der jeder praktische Arzt mitarbeiten könne.111

Damit würdigte Virchow den Wert der Statistik als Machtmittel, während er Quetelets Ansatz des statistischen Mittels als Norm nicht folgte. Sowohl in Würzburg als auch in Berlin engagierte sich Virchow intensiv auf dem Gebiet der Medizinalstatistik, die – etwa im Zusammenhang der Auseinandersetzung um die Berliner Abwasserversorgung – erhebliche Relevanz für politische Entscheidungsprozesse besaß.112 In seine Untersuchungen der Sterblichkeit und von Erkrankungen flossen neben zahlreichen Umweltfaktoren auch moralstatistische Gesichtspunkte ein, indem er etwa die Zahl der unehelichen Geburten als Indikator für die Sexualmoral verwendete.113 Gesundheitspolitisch motiviert war auch seine gleichfalls mit umfangreichen statistischen Erhebungen untermauerte Untersuchung der Gesundheitsverhältnisse in Schulen, die unter anderem zur Normierung von Schulzimmern, -bänken und -höfen beitrugen.114 Ähnlich wie seine 1871 erhobene Forderung nach Einführung eines Normalarbeitstages115 gehörte seine Forderung nach Schutz der Schüler vor Überbürdung durch zu lange Unterrichtszeiten und physiologisch unzuträgliche Umgebung noch in einen älteren Diskurs der Umsicht, der die natürlichen Belastungsgrenzen des Körpers schützen wollte. Dagegen suchte der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstehende Diskurs der Leistung, der vor allem von der Physiologie der Arbeit ausging, die Grenze der Leistungsfähigkeit durch Erforschung ihrer physiologischen Bedingungen weiter zu verschieben.116 Für Virchow ging es jedoch um die Anpassung des Milieus an den menschlichen Körper, und nicht umgekehrt darum, den menschlichen Körper für seine Tätigkeit zuzurichten. 111 Rudolf Virchow, Ueber die Fortschritte in der Entwicklung der Humanitäts-Anstalten, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 11–15, hier  : S. 14 f. 112 Vgl. dazu Richard Boeck, Rudolf Virchow und die Berliner Statistik, in  : Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 26. Jg., enthaltend die Statistik des Jahres 1899 nebst Theilen von 1900, einschließlich der Volkszählung, hrsg. von dems., Berlin 1902, S. III–VIII. 113 Rudolf Virchow, Die Noth im Spessart. Eine medicinisch-geographische und historische Skizze, in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 1, S. 368–416, hier  : S. 381. 114 Siehe ders., Über die Fortschritte in der Entwicklung der Humanitäts-Anstalten  ; ders., Über gewisse die Gesundheit benachtheiligende Einflüsse der Schulen, Berlin 1869  ; ders./A. Guttstatt (Hg.), Die Anstalten der Stadt Berlin für die öffentliche Gesundheitspflege und für den naturwissenschaftlichen Unterricht, Berlin 1886. Vgl. dazu auch Jürgen Oelkers, Physiologie, Pädagogik und Schulreform im 19. Jahrhundert, in  : Sarasin/Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft, S. 245–285. 115 Rudolf Virchow, Über die Aufgaben der Naturwissenschaften im neuen nationalen Leben Deutschlands, in  : Tageblatt der 44. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Rostock 1871, Nr. 5 vom 22.9.1871, S. 73–81, hier  : S. 76. 116 Anson Rabinbach, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, New York 1990  ; zusammenfassend ders., Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, in  : Tanner/Sarasin (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft, S. 286–312.

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Diesen statistischen Untersuchungen war gemeinsam, dass sie Fakten produzieren sollten, die in politisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzungen oder Entscheidungsprozessen als Argument dienen konnten. Solche Statistiken bildeten ein wesentliches Element einer »Kultur der Objektivität«, die nicht allein für die Bildung wissenschaftlicher Disziplinen, sondern auch für die Erzeugung kultureller und politischer Autorität der Wissenschaft von erheblicher Bedeutung war.117 Virchow schränkte den Wert der »statistischen Methode« jedoch insofern ein, als die Statistik nicht die Beobachtung ersetzen dürfe.118 Im Gegensatz zu Quetelet oder Henry Thomas Buckle, dessen 1860 in Deutschland erschienene History of Civilization in England sehr kontrovers diskutiert wurde, ging es ihm nicht darum, mit Hilfe der Statistik Gesetze zu etablieren. Mit diesem Widerstand gegen den ›statistischen Fatalismus‹ stand Virchow in den Reihen der in Deutschland zahlreichen Skeptiker, die statistischen Regularitäten nicht den Status von Naturgesetzen zubilligten. Dies lag vor allem daran, dass der Versuch, menschliches Verhalten statistisch zu interpretieren, in der deutschen Bildungstradition als ein Angriff auf die Willensfreiheit angesehen wurde.119 Anders als Quetelet wollte Virchow so nicht künftige Entwicklungen der Gesellschaft prognostizieren, sondern gegenwärtige Störungen diagnostizieren. Dabei bestand ihm zufolge die politische Therapie nicht darin, den politischen Krisen einfach ihren Lauf zu lassen, sondern diesen durch geeignete Maßnahmen entgegenzuwirken. Während Virchow also auf medizinischem und anthropologischem Gebiet an einer lediglich quantitativen Differenz von »normal« und »pathologisch« festhielt, beteiligte er sich bei der metaphorischen Übertragung seines Krankheitskonzeptes auf Politik und Gesellschaft an der semantischen Konfusion um den Begriff des Normalen,120 bei der Beschreibung und Bewertung vermengt wurden. Doch jenseits der Ambiguität von Fakten und Bewertung, so die These Ian Hackings, sei im Konzept der »Normalität« eine noch mächtigere Quelle verborgener Macht enthalten  : Dabei handle es sich um die fundamentale Spannung zwischen »dem Normalen als dem existierenden Durchschnitt und dem Normalen als einer Figur der Vervollkommnung, zu der wir fortschreiten können«. 117 Vgl. dazu Porter, Trust in Numbers  ; ders., Statistics, Social Science and the Culture of Objectivity, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1986), S. 177–191  ; Lorraine Daston, Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in  : Otto Gerhard Oexle (Hg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft  : Einheit – Gegensatz – Komplementarität  ?, Göttingen 1998, S. 9–39. 118 Rudolf Virchow, Eröffnung der Verhandlungen der Abteilung für allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie mit Ansprache zur Erläuterung der Gründe für die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie auf der Naturforscherversammlung in Düsseldorf 1898, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 301. 119 Vgl. Hacking, Taming of Chance, S. 124 ff.; ders., Prussian Numbers 1860–1882, in  : Krüger u. a. (Hg.), The Probabilistic Revolution, Bd. 1, S. 397–394, hier v. a. S. 383  ; Porter, Rise of Statistical Thinking, S. 151–171. 120 Vgl. dazu v.  a. Canguilhem, The Normal and the Pathological, z. B. S.  56 f.; Lepenies, Ende der Naturgeschichte, S. 190  ; Hacking, Taming of Chance, S. 168 f.

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Im Konzept der Normalität seien also zwei verschiedene Modelle des Fortschritts enthalten  : Wiederherstellung eines normalen Zustands und Verbesserung des bestehenden, normalen Zustands.121 Wie lässt sich Virchow in diesem Spannungsverhältnis verorten  ? Einen Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liefert das eng mit dem »Zauberwort ›Entwicklung‹«122 verknüpfte Konzept des »Fortschritts«, das den Mittelpunkt eines weiteren, für das 19.  Jahrhundert zentralen Interdiskurses zwischen Biologie und Gesellschaft bildet und daher im nächsten Schritt untersucht wird. Anschließend wird es um das Verhältnis von »Vererbung« und »Verbesserung« gehen, womit zugleich die Frage des Verhältnisses von »Fortschritt« und »Normalität« aufgeworfen wird.

4.2 Fortschritt und Entwicklung

Der seit dem 18. Jahrhundert unter dem Eindruck eines tiefgreifenden Erfahrungswandels entstandene Begriff des »Fortschritts« enthält Verzeitlichungskategorien, die sich von älteren Vorstellungen grundlegend unterschieden  : Als moderner Bewegungsbegriff war er nicht mehr länger »eingebettet in naturhaft-kreisläufiges Verständnis«, sondern wurde zu einem linearen Richtungsbegriff.123 Damit zusammenhängend veränderte sich auch die utopische Qualität vieler Zukunftsentwürfe im 19.  Jahrhundert  : Diese wollten nun nicht mehr einen radikal mit der Gegenwart brechenden Zukunftsentwurf revolutionär verwirklichen, sondern die bestehenden Verhältnisse mit Hilfe der Wissenschaft evolutionär verbessern. Bei der Untersuchung der Stellung Virchows im Fortschrittsdiskurs des 19. Jahrhunderts interessiert deshalb vor allem, welches »Wohin und Wozu«124 der Begriff des Fortschritts bei ihm implizierte. Auf welche Weise erklärte er die »Fortschritte« der Wissenschaft, der Politik und ganz allgemein der »Menschheit«  ? Inwieweit und auf welche Weise waren seine wissenschaftlichen und politischen Fortschrittsvorstellungen aufeinander bezogen  ? Und inwieweit veränderte sich dabei die Bedeutung dieses Begriffes  ? 4.2.1 Die Spirale des Fortschritts und die Revolution

Mit dem 1839 erfolgten Umzug von Pommern nach Berlin veränderten sich auch die Zeitstrukturen, innerhalb derer Virchow seine Welt interpretierte  : Noch zu Beginn der 1840er Jahre findet sich bei Virchow ein zyklisch geprägtes Zeitbild, das von regelmäßig 121 Hacking, Taming of Chance, S. 168. 122 Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert (1938), Frankfurt a. M. 1981, S. 112. 123 Reinhart Koselleck, Fortschritt, in  : Brunner u.  a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.  2, Stuttgart 1975, S. 359–423, hier v. a. S. 352  ; ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 21992. 124 Siehe dazu Ernst Bloch, Differenzierungen im Begriff Fortschritt, in  : ders., Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 1970, S. 118–147, hier  : S. 143.

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wiederkehrenden Ereignissen einer agrarischen und aristokratischen Welt wie Ernten und Herrscherwechseln bestimmt war. Im Verlauf dieses Jahrzehntes änderte sich dies jedoch  : Mehr und mehr dominierte bei ihm die Vorstellung des »Fortschritts«, welche die Erwartung kommender Veränderungen in sich enthielt. Doch handelte es sich bei dem Begriff des Fortschritts im vormärzlichen Berlin um eine kulturelle Chiffre, hinter der sich noch ein breites Spektrum von Positionen verbarg,125 das vom gemäßigten Liberalismus, der zumal im Umkreis der »Lichtfreunde« blühte, bis zum junghegelianischem Radikalismus reichte. Bezeichnenderweise betrachtete Virchow Ende 1844 »Fortschritt« noch als politische Kompromissformel in der Auseinandersetzung mit seinem Vater, dessen mit einem Faible für rationale Landwirtschaft gepaarter politischer Konservativismus ihm ansonsten immer fremder wurde  : »Unser Streben ist freilich verschieden, allein es will unter jeder Form doch den Fortschritt.«126 Von einer klaren Unterscheidung zwischen liberalen und demokratischen Fortschrittserwartungen im Vormärz kann zumindest mit Blick auf Virchow also noch keine Rede sein.127 Während der Revolution von 1848/49 differenzierten sich dagegen entlang unterschiedlicher politischer Richtungen verschiedene Fortschrittsmodelle aus. So bekannte sich Virchow zur Partei des »entschiedenen Fortschritts«, womit die demokratische Bewegung gekennzeichnet wurde. Zu seiner Auffassung des »Fortschritts« gehörte insbesondere der im aufklärerischen Denken verwurzelte Glaube, dass »ein Princip der Perfectibilität in der Welt sei«128. Der von Rousseau geprägte Begriff der »Perfektibilität« postulierte den prozessualen Charakter des unendlichen Fortschritts, der zugleich Positionen für eine neue Elite freisetzte, die sich selbst Erziehungs- und Führungsaufgaben zuteilte. So wurde der Fortschritts- wie der Aufklärungsbegriff zu einem Elitebegriff.129 Wie bezog nun Virchow den Begriff des Fortschritts auf die Revolution  ? Im Verlauf des Jahres 1848 ordnete er die gegenwärtigen revolutionären Ereignisse in das Tableau einer Menschheitsgeschichte ein, worin sich der Fortschritt sukzessive mit Hilfe von Revolutionen durchsetze. Die allgemeine Zeitbeschleunigung – eine in diesen Monaten zum Allgemeinplatz gewordene Metapher130  – sowie die Verbesserung und Verbreite125 Vgl. Reinhart Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹  – zwei historische Kategorien, in  : ders., Vergangene Zukunft, S. 349–375, hier  : S. 366  ; sowie ders., Fortschritt, S. 408 f. 126 R. Virchow an Carl Virchow, 15./17.12.1844, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 258. 127 Ernst Wolfgang Becker unterscheidet dagegen bereits für die Zeit des Vormärz konservative, liberale und demokratische Zeitmodelle, die sich in einer unterschiedlichen Einschätzung der Fortschrittsdynamik ausgedrückt hätten. (Ernst Wolfgang Becker, Zeit der Revolutionen  ! – Revolution der Zeit  ? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen 1789–1848/49, Göttingen 1999, hier v. a. S. 147–251.) Vgl. auch Christian Jansen/Thomas Mergel (Hg.), Die Revolutionen von 1848/49. Erfahrung, Verarbeitung, Deutung, Göttingen 1998. 128 Rudolf Virchow, Was die »medicinische Reform« will, in  : MR, Nr. 1 vom 10.7.1848, S. 1 f. 129 Koselleck, Fortschritt, S. 352 u. 399 f.; ders., Vergangene Zukunft. 130 Dazu sowie zu demokratischen Vorstellungen von »Revolution« und »Zeit« während der Revolution von 1848 vgl. Becker, Zeit der Revolution, S. 278–293.

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rung der allgemeinen Bildung und Kommunikationsmöglichkeiten, so erklärte Virchow im November 1848 in Anschluss an Julius Fröbel, führten dazu, dass sich die »Perioden zwischen den großen Revolutionen der Menschheit (…) in unglaublich großen Verhältnissen verkürzen« müssten.131 In diesem Modell vollzog sich der »Fortschritt« spiralförmig, wobei Rückschläge – die Reaktion – nur den Auftakt zu neuen Revolutionen bildeten. Anders als in England, wo sich die Vertreter einer linearen und einer zyklischen Bewegung der Geschichte, die sich als Prototypen eines liberalen beziehungsweise konservativen Geschichtsbilds definieren lassen, antagonistisch gegenüberstanden, wurde in Deutschland stärker versucht, diese beiden Fortschrittsmodelle zu vermitteln oder zu versöhnen.132 Die schwindenden Hoffnungen auf einen Erfolg der Revolution beeinflussten jedoch auch Virchows Konzeption des historischen Fortschritts  : Zunächst teilte er den unter Demokraten verbreiteten Glauben, wonach die Erfolge der Gegenrevolution künftigen Revolutionen vorarbeiteten und somit Teil eines demokratischen Reformkontinuums133 bildeten. Nachdem am Ende des Jahres 1848 auch aus seiner Sicht die Gegenrevolution gesiegt hatte, »alle Träume von gleicher politischer Berechtigung (…) verschwunden« seien und »der alte Mist wieder verbreitet« sei, schrieb er an Alexander von Frantzius  : »Wir müssen an die Revolution appelliren, die kommen wird, denn der Constitutionalismus ist ja einmal der Vater der Revolutionen.«134 Unter dem Eindruck seiner Erfahrungen des Jahres 1849 erschien Virchow etwas später allerdings eine weitere Revolution nicht mehr länger wünschenswert. So schrieb er im Oktober von Schivelbein aus, wohin er sich vorübergehend aus dem unter den gegenrevolutionären Exzessen leidenden Berlin zurückgezogen hatte, an den demokratischen Arzt Wilhelm von Wittich  : »Wir, die wir ernsthaft das dauernde Glück des Volkes hoffen, müssen sogar einer nächsten Revolution mit Bangen entgegensehen, denn ich fürchte, sie wird so terroristisch werden, dass wir keine Rolle darin finden können.«135 Hatte in begriffsgeschichtlicher Perspektive die Entgegensetzung zum Bürgerkrieg am Anfang der neuzeitlichen Verwendung des Begriffes »Revolution« gestanden,136 so fielen nun für ihn beide wieder zusammen. 131 Virchow, Die Epidemien von 1848, S. 122. 132 Vgl. dazu Lepenies, Ende der Naturgeschichte, S. 27 f. u. 118 f.; Becker, Zeit der Revolution, S. 243  ; Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960  ; Peter J. Bowler, The Invention of Progress. The Victorians and the Past, Oxford 1989. 133 Becker, Zeit der Revolution, S. 362. 134 Virchow an Frantzius, Berlin, 9.12.1848  : StBB-PK, Berlin, Slg. Darmstädter, Rudolf Virchow, Kasten 2  : Briefe von Virchow an Alexander von Frantzius, Bl. 105 f. 135 Virchow an Wilhelm von Wittich, 19.10.1849, Druck  : Manfred Stürzbecher, Deutsche Ärztebriefe des 19. Jahrhunderts, Göttingen u. a. 1975, S. 94–96. 136 Reinhart Koselleck, Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffes, in  : ders., Vergangene Zukunft, S. 67–86, hier  : S. 74 f.; ders., Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in  : Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.  5, Stuttgart 1984, S.  653–788, hier  : S. 699 ff.

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Virchow bietet somit ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sich demokratische Fortschrittsperspektiven angesichts des Scheiterns der Revolution veränderten. In der letzten Nummer der Medicinischen Reform, die im Juni 1849 erschien, nahm er Anleihen bei religiöser Metaphorik, um seinen Standpunkt zu erläutern  : »Dass wir den Glauben an den endlichen Sieg der volksthümlichen Sache nicht verloren haben, dafür bürgt unsere Anschauung von der Weltgeschichte.«137 Doch baute er zugleich eine Brücke vom Chiliasmus zur Realpolitik  : Die Lektüre von Thomas Babington Macaulays Geschichte Englands seit dem Regierungsantritt Jacob’s II., deren erste beide Bände 1849 erschienen waren, bot ihm einen neuen Deutungsrahmen, innerhalb dessen er die revolutionären und gegenrevolutionären Ereignisse lediglich als Zwischenetappe auf dem unaufhaltsamen Weg des Fortschritts interpretieren konnte. Dieses Hauptwerk einer liberalen Whig-History betrachtete die Revolution von 1688 als Ausgangspunkt der Reformen, die schließlich zur Herrschaft des englischen Parlaments geführt hatten. Solche gefährlichen Kämpfe, erklärte Virchow mit Blick auf die englische Revolution, seien »eine pädagogische Nothwendigkeit in der Culturgeschichte der Menschheit«, sie seien »das Bildungsmittel der Freiheit«138. Seine Schlussfolgerung aus der gescheiterten Revolution von 1848, dass der Machtfrage zu wenig Aufmerksamkeit zugewandt worden sei, verband er mit der Lehre Macaulays, wonach »die Gestaltung der modernen Staaten (…) seit mehr als zwei Jahrhunderten an die Frage von den stehenden Heeren geknüpft gewesen« sei. An die Stelle der Medizinalreform, die für Virchow während der Revolution den Motor der Entwicklung dargestellt hatte, trat somit die Militärreform  : »Auch die nächsten Entwicklungsstadien des europäischen Continents werden sich in der Lösung dieser Frage erschöpfen. Die Militair-Reform und die Bürgschaften der Verfassungsrechte gegen die stehenden Heere werden den Inhalt unserer politischen Kämpfe ausmachen.«139 Damit erwies er sich als Prophet in eigener Sache, insofern als hiermit die Grundkonstellation des preußischen Verfassungskonflikts der 1860er Jahre bezeichnet ist. Zugleich hatte er aber seinen Erwartungshorizont in zeitlicher Hinsicht erheblich ausgedehnt. Im letzten Heft der Medicinischen Reform verglich er sich und seine Gesinnungsgenossen schließlich mit Moses, der 40 Jahre mit seinem Volk in der Wüste herumgewandert sei  : Keiner der Ausgezogenen sah das gelobte Land, Moses selbst starb im Anschauen desselben auf dem Berg Nebo, gegen Jericho über. Aber er hatte ein streitbares Volk gebildet und mit seinen Principien durchdrungen (…) Auch wir müssen in der Wüste umherziehen und kämp-

137 Rudolf Virchow, Schluss, in  : MR, Nr. 52 vom 29.6.1849, S. 273. 138 Ebenda. 139 Ebenda, S. 274. Siehe auch Brief von R. Virchow an Carl Virchow, 13./23.5.1849, Druck  : RVSW, Bd. 59, S. 406  : »Die Reform der neueren Zeit wird wesentlich eine Militair-Reform werden.«

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fen. Unsere Aufgabe ist die pädagogische  : wir müssen streitbare Männer erziehen, welche die Schlachten des Humanismus erkämpfen.140

Ähnlich bekräftigte er dies auch in seinem schon erwähnten Brief an Wittich im Oktober 1849  : Die Aufgabe der »wirklich, bewusste(n) Demokratie« sei im Augenblick, »an der allgemeinen Bildung, der Kräftigung des Humanismus zu arbeiten«, wofür »ihre Apostel« die breiten Grundlagen schaffen sollten.141 Nach dem Scheitern der Revolution war die Realisierung seiner »humanistischen« Utopie somit wieder in eine unbestimmte Zukunft gerückt. Den Fortschrittshoffnungen, die sich aus der Analyse Macaulays ergaben, bot die folgende Ära der Restauration zunächst wenig konkrete Anknüpfungspunkte. 4.2.2 Die Naturalisierung und Nationalisierung des Fortschritts

Bei der emotionalen und intellektuellen Verarbeitung der Revolution suchte Virchow analytische Hilfe und Trost bei verschiedenen historischen Revolutionsdeutungen. Neben dem Werk Macaulays über die Geschichte der englischen Revolution las er im Juni 1849 auch die Histoire de la revolution de 1848142 Alphonse de Lamartines, der zunächst als romantischer Dichter bekannt geworden war und 1848 selbst eine wichtige Rolle in der Französischen Revolution gespielt hatte. Einige Jahre später zitierte Virchow den Anfang dieses Werkes  : »Die Revolutionen des menschlichen Geistes sind langsam, wie die Perioden des Völkerlebens. Sie gleichen dem Phänomen der Vegetation, das die Pflanze wachsen lässt, ohne dass das Auge im Stande wäre, ihr Wachsen zu bemessen, während es erfolgt.«143 In den 1850er Jahren rückten bei Virchow die lange Dauer naturaler Zeitrhythmen und die kurze Dauer des subjektiven Zeitempfindens des Menschen weit auseinander. Die auch von ihm subjektiv als Stillstand der Zeit empfundene Ära der Restau­ ration führte somit zu einer Veränderung von Zeitstrukturen  : Nunmehr unterschied er »Geschichtszeit« und »Naturzeit«144, und verbunden damit dehnten sich die ›Spiralen des Fortschritts‹, wie Virchow 1856 ausführte  : Die Zeiträume, welche der Mensch überblickt, sind (…) immerhin sehr beschränkt, und doch gestatten sie uns, die befriedigende Ueberzeugung zu gewinnen, dass ein freilich sehr langsamer und häufig unterbrochener Fortschritt in der Welt ist. In der einzelnen Periode, zumal in 140 Virchow, Schluss, S. 274. 141 Virchow an Wilhelm von Wittich, 19.10.1849, Druck  : Stürzbecher, Ärztebriefe, S. 94–96. 142 Alphonse de Lamartine, Histoire de la révolution de 1848, Paris 1848 (dt.: Geschichte der Revolution von 1848. Übers. v. Friedrich Funck, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1849). 143 Ebenda, hier zit. nach Rudolf Virchow, Wie der Mensch wächst. Eine Erinnerung, in  : Berthold Auerbach’s deutscher Volkskalender auf das Jahr 1861, Leipzig 1860, S. 95–105, hier  : S. 95. 144 Zur Unterscheidung von »Geschichtszeit« und »Naturzeit« siehe Bloch, Differenzierungen im Begriff Fortschritt, S. 138.

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der kleinen Spanne Zeit, die der Einzelne durchlebt, mag es scheinen, als drehe man sich in einem Kreis herum, der nach frischem Aufschwung und langer Thätigkeit am Ende wieder zu einem dürftigen Anfange zurückkehrt. Aber ein weiter Blick lehrt uns bald, dass der Lauf der Erscheinungen nicht immer in demselben Kreisbogen fortfährt  ; die Radien ändern sich und die Bewegung schreitet mit erneuter Kraft in grösseren Bahnen fort.145

Auf diese Weise ließen sich die individuelle Perspektive der Stagnation und die Perspektive eines unausbleiblichen Fortschritts scheinbar versöhnen. Zweifel am Fortschritt, der letztlich zur Entfaltung der »Humanität, dieser höchsten Blüthe des Natürlichen, welches sich in der Naturwissenschaft zu seiner vollen Entfaltung durchzuarbeiten bestrebt ist«, so hatte Virchow bereits 1853 geschrieben, seien gleichwohl nicht erforderlich, »wenn man die grosse und allgemeine Entwicklung des Menschengeschlechts im Spiegel der Geschichte betrachtet  ; es hat nur Noth und zuweilen arge Noth, wenn man sich selbst im Rahmen der Zeit, innerhalb einer kurzlebigen Generation erblickt, wenn man an seine Vergänglichkeit denkt und die bessere Zeit selbst erleben möchte«146. Es liegt nahe, diese 1853 veröffentlichten Bekenntnisse mit der Stimmungslage des gescheiterten Revolutionärs im so empfundenen Würzburger Exil in Zusammenhang zu bringen. Die Hoffnung auf einen langfristigen evolutionären, naturhaften Prozess sollte dabei Trost spenden. Zum Hort als auch zum Motor des unausweichlichen Fortschritts wurde nun die Wissenschaft, die inmitten der Ungleichzeitigkeit der verschiedenen Fortschritte unbeirrt voraneilte. Die Verknüpfung naturaler Wachstumsmetaphorik mit dem Gegensatz von »Geschichtszeit« und »Naturzeit« sowie die damit einhergehende Apotheose der Wissenschaft als Garantin des Fortschritts zeigt am eindrucksvollsten Virchows 1859 gehaltener Vortrag über »Atome und Individuen«  : Während die Geschichte der Völker und Staaten in ihrem Werden und Vergehen unseren Geist mit Schmerz und Zweifel füllt, während wir uns täglich mit Bangigkeit fragen, ob es besser oder nicht vielmehr schlechter wird, ob das Menschengeschlecht nicht der Entartung, die Kultur ihrem Untergange zueilt, so zeigt die wahre Wissenschaft nur den Fortschritt. Staaten gehen zu Grunde, Völker verschwinden unter dem Tritt der Eroberer, aber die Wissenschaft bleibt, um unter denen, die eben noch Barbaren waren, neue und kräftigere Blüthen zu treiben. Jährlich welken die Blätter des Baumes, auf dass im neuen Jahr neue und vollständigere Knospen hervortreiben können  ; täglich wechseln im menschlichen Körper die Blutkörperchen, auf dass frische Elemente das Werk der eigenen Aufreibung von Neuem beginnen können. So auch welken die Völker, so wechseln die Kinder der Menschen, und immer besser erkennt das nachfolgende Geschlecht sich selbst und die Natur, immer sicherer

145 Virchow, Alter und neuer Vitalismus. 146 Ders., Autoritäten und Schulen, in  : VA 5 (1853), S. 3–12, hier  : S. 8 f.

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wird das Bewusstsein, immer mächtiger und freier das Individuum, immer vollständiger beherrscht es das Atom  !147

Seine in der Berliner Singakademie vorgetragenen Ausführungen standen im Zusammenhang einer sich in Deutschland seit den fünfziger Jahren ausbreitenden Stimmung, wonach die durch Naturwissenschaften, Technik und Kommunikation entfesselte Fortschrittsdynamik auf evolutionärem Wege erreichen würde, was auf revolutionärem Wege gescheitert war.148 Im Vertrauen darauf war auch Virchow 1853 in einem Artikel über »Autoritäten und Schulen« ausdrücklich vom Prinzip der Revolution abgerückt  : Die Naturwissenschaften an sich sind nicht revolutionär und wir wollen am allerwenigsten eine Tendenz-Medicin machen (…). Wir wünschen nicht die Revolution, denn wir fordern die Entwicklung, von der wir wissen, dass sie durch Revolutionen höchstens für eine spätere Zeit, aber selten für das lebende Geschlecht gewonnen wird. Denn die Revolution frisst ihre Kinder (…).149

Nachdem sich seine Revolutionsskepsis bereits 1849 angebahnt hatte, unterstrich Virchow seit den 1850er Jahren mehrfach öffentlich den Gegensatz von Revolution und Entwicklung.150 Das nunmehr auch von ihm favorisierte Modell eines evolutionären Fortschritts erklärte er jetzt für die Politik wie für die Wissenschaft gleichermaßen als verbindlich. In der Vorrede zu seiner 1858 veröffentlichten Cellularpathologie beschied er bündig  : »Wir wollen die Reform, und nicht die Revolution. Wir wollen das Alte conserviren und das Neue hinzufügen.«151 Auch wenn sich dies hier auf die Medizin bezog, so war für jeden Leser offenkundig, dass damit auch eine politische Aussage getroffen wurde. Virchow war somit öffentlich auf die ihm von politisch bedächtigeren Freunden schon seit längerem entgegengehaltene Position eingeschwenkt, wonach eine Verbesserung der politischen Verhältnisse lediglich auf dem Wege der evolutionären Veränderung zu erreichen sei.152 Diese für viele ehemalige aktive Revolutionäre charakteristische 147 Ders., Atome und Individuen, S. 75. 148 Siehe dazu die Ausführungen zur »Culture of Progress« bei David Blackbourn, Fontana History of Germany 1780–1918. The Long Nineteenth Century, London 1997, S. 270–283  ; vgl. auch Robert C. Binkley, Realism and Nationalism, 1852–1871, New York 1935  ; Göckenjan, Kurieren und Staat machen, S. 305–314. 149 Virchow, Autoritäten und Schulen, S. 9. Virchow zitierte dabei den von Alphonse de Lamartine in seiner 1847 veröffentlichten Histoire des Girondins überlieferten Satz des französischen Revolutionärs Vergniand (1753–1793) »Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.« 150 1792 hatte Herder den Begriff »Evolution« als Gegenbegriff zu »Revolution« eingeführt. Vgl. dazu Werner Conze, Evolution und Geschichte. Die doppelte Verzeitlichung des Menschen, in  : Historische Zeitschrift 242 (1986), S. 1–30, hier  : S. 15. 151 Virchow, Cellularpathologie, Vorrede, S. VIII. 152 Siehe z. B. Wilhelm v. Wittich an Virchow, 24.10.1848  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2363  ; Georg Reimer an Virchow, 28.2.1851  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1750.

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Entwicklung der politischen Auffassungen in der Restaurationsära bildete eine wichtige Voraussetzung dafür, dass preußische Demokraten und Liberale Anfang der 1860er Jahre in der Fortschrittspartei zusammengingen.153 Bereits in den 1850er Jahren aktualisierte Virchow die Erinnerung an den Terreur der Französischen Revolution, um den Gegensatz von Revolution und Entwicklung beziehungsweise Reform zu begründen. Seit den 1860er Jahren wurden schließlich Fortschritts- und Nationalisierungsdiskurs immer stärker verknüpft. Dabei war auch der Rückgriff auf die Nation, der nach der gescheiterten Revolution als liberale wie demokratische Rückbindungsstrategie des Fortschritts auftrat,154 bei Virchow von der Verbindung mit naturalen Wachstumsvorgängen geprägt. 1864 referierte er in einer Festrede auf dem Märkischen Turntag in der Berliner »Alhambra« vor etwa 500 Besuchern – darunter auch Frauen – über die »Aufgabe der deutschen Turnerei«155. Dabei wollte Virchow nicht zuletzt das Misstrauen der preußischen Behörden gegenüber der Turnbewegung zerstreuen. So betonte er den Gegensatz zwischen dem in Frankreich dominierenden Recht des Einzelnen und dem in Deutschland vorherrschenden Prinzip der Pflicht, wie es von Kant gelehrt worden sei, wobei es an den Turnern sei, diese Grundsätze zu versöhnen. Die von den Turnern zu verwirklichende Synthese des Rechts und der selbständigen Entwicklung des Einzelnen mit dem »Geist der Selbstüberwindung« und der Pflicht der Unterordnung der »eignen Zwecke« unter die »höheren Zwecke der nationalen Entwickelung« kontrastierte er mit dem französischen Geist der »politischen Ueberschreitungen, die gewissermassen die politische Erbschaft der französischen Revolution« seien. Zwar habe der »Geist des eigenen Rechtes«, so Virchow, »dieser sich mächtig regende Geist der französischen Revolution, der auch unter uns lebendig ist, (…) seine Berechtigung, aber doch immer nur bis zu einem gewissen Maasse«156. So sei die Aufgabe, die »grossen Principien« der Französischen Revolution zu verwirklichen, an die deutsche Nation übergegangen, wie Virchow während des deutsch-französischen Krieges 1870 erneut explizierte.157 Nach dem Ende des Krieges brachte er die im deutschen Volk »traditionelle Abneigung gegen die Franzosen, den Erbfeind« schließlich auf 153 Zu den Veränderungen der politischen Haltung und der Fortschrittsvorstellungen unter den ehemaligen »1848ern« vgl. auch Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849–1867, Düsseldorf 1999. 154 Becker, Revolution der Zeit, S. 368. 155 Rudolf Virchow, Die Aufgabe der deutschen Turnerei. Festrede gehalten am 30. April 1864 in der geselligen Zusammenkunft der Berliner Turner am Vorabende des Märkischen Turntages, Berlin 1864  ; siehe dazu auch die Polizeiberichte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv, Rep. 30 Bln C Polizeipräsidium Berlin, Nr. 13705, betr. Turnvereine, Bl. 175–184. 156 Virchow, Die Aufgabe der deutschen Turnerei. Vgl. auch Svenja Goltermann, Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860–1890, Göttingen 1998, S. 103–105  ; Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz von 1860 bis 1918, Göttingen 1999, S. 2. 157 Rudolf Virchow, Der Krieg und die Wissenschaft, in  : VA 51 (1870), S. 1–6, hier  : S. 5.

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folgende Formel  : »Deutschland liebt die Reform, Frankreich die Revolution. Das ist der Gegensatz in der Politik, wie in der Wissenschaft.«158 Auf diese Weise war die Verwirklichung der aufklärerischen Utopie der »Humanität« bereits in den 1860er Jahren zur Angelegenheit eines evolutionär wirkenden Fortschritts geworden. Der Fortschrittsglaube war, so Reinhart Koselleck, »nicht nur Indikator, sondern ebenso ein (…) Faktor der politischen Bewegung geworden. Er wurzelte in der voluntaristischen Selbstgarantie, Vollstrecker desselben Fortschritts zu sein, an den man glaubt.«159 Die Wahl der Bezeichnung »Fortschrittspartei« für die neue aus Demokraten und Liberalen zusammengesetzte Partei kam daher nicht von ungefähr. Die unterschiedlichen Fortschrittskonzeptionen, die dabei zusammenkamen, waren jedoch ein wichtiger Faktor in der Zerreißprobe, der sich die Fortschrittspartei im bald darauf beginnenden preußischen Verfassungskonflikt ausgesetzt sah.160 Für den von Virchow repräsentierten Flügel des Fortschrittsliberalismus spielte eine Theorie der gesetzmäßigen Entwicklung und des Fortschritts eine zentrale Rolle. Eine Mischung aus Macaulayscher Whig-History und Entwicklungsglauben  – wobei letzterer durch die 1859 erfolgte Veröffentlichung von Darwins On the Origin of Species zusätzliche Schubkraft erhielt – bestimmte maßgeblich den Denkhorizont und damit auch die politischen Optionen der Fortschrittsliberalen. Entscheidend war die Prämisse, dass der Existenz und Weiterbildung der Menschheit ein allgemeines Entwicklungsgesetz zugrunde liege. Ernst Haeckel – damals noch ein glühender Bewunderer Virchows wissenschaftlicher und politischer Tätigkeit – hatte dies 1863, auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts, auf die griffige Formel »Fortschritt als Naturgesetz«161 gebracht. Im selben Jahr lobte er Virchow und einige andere fortschrittsliberale Abgeordnete für ihre Haltung im Kampf um das Budgetrecht des Preußischen Abgeordnetenhauses  : Damit 158 Ders., Nach dem Kriege, S. 26 f. 159 Koselleck, Fortschritt, S. 412. 160 Heinrich August Winkler kritisierte Virchow aufgrund seines Verhaltens im preußischen Verfassungskonflikt als ein Musterbeispiel einer naturrechtlich-abstrakt denkenden Linken. (Heinrich August Winkler, Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei 1861–1866, Tübingen 1964.) Diese scharfe Kritik projiziert gewissermaßen Hermann Baumgartens 1866 in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlichte Selbstkritik der fortschrittsliberalen Verweigerungshaltung gegenüber Bismarck über den Umweg der von seinem Neffen Max Weber vorgenommenen Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik zirkulär als normative Folie auf den Ursprungskonflikt zurück. 161 Ernst Haeckel, Ueber die Entwickelungstheorie Darwin’s. Vortrag, gehalten am 19. September 1863 in der ersten allgemeinen Sitzung der 38. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Stettin, in  : ders., Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre, Bd.  1, 2., vermehrte Auflage, Bonn 1902, S. 3–34, hier  : S. 29 f.: »Dasselbe Gesetz des Fortschritts finden wir dann weiterhin in der historischen Entwickelung des Menschengeschlechts überall wirksam. (…) Denn dieser Fortschritt ist ein Naturgesetz, welches keine menschliche Gewalt, weder Tyrannen-Waffen noch PriesterFlüche, jemals dauernd zu unterdrücken vermögen.«

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sei die »Professoren-Politik wieder auf ihre gebührende Höhe gehoben« worden. Wie all dies miteinander korrespondierte, illustriert auch die Bemerkung Haeckels gegenüber Virchow, dass er und seine Frau gegenwärtig sowohl die Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses als auch Macaulays Geschichte der englischen Revolution studierten.162 Hatte Virchow bereits 1849 in der Abschiedsnummer der Medicinischen Reform unter Berufung auf Macaulays Darstellung der englischen Verfassungsentwicklung künftige parlamentarische Konflikte um das Budgetrecht in Militärfragen prognostiziert, so wurde das Werk des englischen Historikers in den 1860er Jahren gleichermaßen linksliberales Textbuch und Interpretationsfolie im preußischen Verfassungskonflikt und ebenso in der Auseinandersetzung um die Verfassung des Norddeutschen Bundes.163 Doch diente nicht allein die Geschichte der englischen Verfassungsentwicklung, sondern auch die Geschichte der Menschheit als Quelle, um empirisch die Frage des Fortschritts zu untersuchen, weshalb sich in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern Fachleute wie Laien mit der Urgeschichte beschäftigten. Virchow legte 1866 in einem Vortrag über »Hünengräber und Pfahlbauten« im Berliner Handwerkerverein die Fragen dar, die ihn bei der Beschäftigung mit solchen vorgeschichtlichen Überresten bewegten  : »Woher stammen wir  ? Wie ist der Weg unserer heutigen Bildung von seinen ersten Anfängen an gewesen  ? Wohin führt er uns und unsere Nachkommen  ?« In seiner Antwort skizzierte er die Geschichte des Menschen als die seines Kulturfortschritts  : Denn im Gegensatz zur Sagengeschichte, die ausgehend von einem goldenen Anfang einen stetigen Rückschritt der Menschheit vorspiegele, lehre die »nicht zu fälschende Naturgeschichte den wenn auch nicht stetigen, so doch ansteigenden Fortschritt zu immer höherer Vollkommenheit«. Indem er dabei auf das in der Altertumsforschung seit Mitte des 19. Jahrhunderts anerkannte Modell der Abfolge von Stein-, Bronze- und Eisenzeit zurückgriff, entwarf er so die Auffassung, dass sich die Menschheit in aufeinander folgenden Stadien fortentwickle.164 Die Fortschrittsmetapher der Spirale und der Leiter vermengten sich damit bei Virchow zum Bild einer Wendeltreppe, deren einzelne Segmente aufeinanderfolgende »Culturstufen« bildeten. Dies bot zugleich eine Lösung für das zentrale Problem liberaler Sozialtheorie, gesellschaftlichen Wandel und gesellschaftliches Gleichgewicht zueinander ins Verhältnis zu setzen165  : Gesellschaftlicher Fortschritt erschien bei Virchow damit als Abfolge verschiedener Stadien mit jeweils eigener Normalität, ausgehend von der Abweichungen als pathologisch begriffen werden konnten. 162 Ernst Haeckel an Virchow, 6.2.1863  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 791, Bl. 2.1.–2.2. 163 Siehe dazu etwa Rudolf Virchow, in  : SBPAH, 5. Sitzung am 7.5.1867, S. 55 f. 164 Rudolf Virchow, Über Hünengräber und Pfahlbauten. Nach zwei Vorträgen im Saale des Berliner Handwerker-Vereins, gehalten am 14. und 18. December 1865, Berlin 1866, S. 8 u. 16. Siehe dazu auch ders., Menschen- und Affenschädel. (Vortrag gehalten am 18.  Febr. 1869 im Saale des Berliner HandwerkerVereins), Berlin 1870, S. 38. Vgl. auch Christian Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 1  : Virchow als Begründer der neueren deutschen Ur- und Frühgeschichtswissenschaft, Berlin 1976, S. 79 f. 165 Smith, Politics and the Sciences of Culture, S. 30 f.

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Zum Kristallisationspunkt, um sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Thesen Charles Darwins. Genau besehen stellt sich der sogenannte Darwinismus als eine Anzahl verschiedener nationaler Aneignungen dar, die ihm jeweils eine unterschiedliche Ausprägung verliehen.166 Auch Virchow, der zugleich darauf insistierte, dass die Überlegungen Darwins vorläufig nur den Status einer Hypothese beanspruchen konnten, eignete sich die Thesen Darwins zunächst nach seinen eigenen Prämissen an und legte ihnen ein lamarckistisches Verständnis zugrunde. Wie die meisten seiner Zeitgenossen verstand Virchow so »die neue Theorie noch einmal in den vertrauten Bahnen von ›Fortschritt‹ und ›Entwicklung‹ zum Höheren«167. In einer 1863 in den Deutschen Jahrbüchern für Politik und Literatur veröffentlichten Rezension von Darwins 1859 erschienenem Werk On the Origin of Species äußerte sich Virchow außerordentlich freundlich. Er hob hervor, diese Theorie habe den nicht zu unterschätzenden Werth, dass sie uns die Möglichkeit eines Fortschrittes in der Zeit gleichsam organoplastisch vor Augen führt. Das Leben soll nicht bloss ein Kreislauf sein, der zur Höhe ansteigt, um wieder zur Tiefe zurückzusinken  ; nein, wir Alle rechnen auf den Fortschritt in der Reihe der Zeitgenossen, und wenn wir selbst endlich müde zurückblicken, so möge doch der Trost uns beschieden sein, dass der weitere Fortschritt der Nachkommen auch unser Werk sei.168

Auch in einem im Februar 1869 vor Berliner Handwerkern gehaltenen populärwissenschaftlichen Vortrag über »Menschen- und Affenschädel« betonte Virchow den moralischen Wert der Thesen Darwins, die bei aller Hypothesenhaftigkeit dennoch eine wichtige Stütze des Fortschrittsglaubens darstellten  : Nichts stärkte den Muth des einzelnen Menschen im Ringen um die höchsten Güter mehr, als das Bewusstsein, dass es einen wirklichen Fortschritt in der Welt giebt, dass die geistige Arbeit keine verlorene ist und dass alle Errungenschaften der Vergangenheit, alle Hoffnungen

166 Thomas Junker, Darwinismus, Materialismus und die Revolution von 1848 in Deutschland. Zur Interaktion von Politik und Wissenschaft, in  : History and Philosophy of the Life Sciences 17 (1995), S. 271–302, hier  : S. 278. Vgl. auch Eve-Marie Engels (Hg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995  ; Paul J. Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870–1945, Cambridge u. a. 1993, S. 25–32  ; Peter J. Bowler, The Non-Darwinian Revolution. Reinterpreting a Historical Myth, Baltimore u. London 1992  ; Alfred Kelly, The Descent of Darwin. The Popularization of Darwinism in Germany, 1860–1914, Chapel Hill 1981. 167 Sieferle, Krise der menschlichen Natur, S. 49  ; vgl. auch Peter J. Bowler, Biology and Social Thought  : 1850– 1914. Five lectures at the International Summer School in History of Science Uppsala, July 1990, Berkeley 1993, S. 18. 168 Rudolf Virchow, Ueber Erblichkeit, in  : Deutsche Jahrbücher für Politik und Literatur 6 (1863), S. 339–358, hier  : S. 358.

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der Zukunft auf der Möglichkeit beruhen, nicht nur auf dem Wege der leiblichen Vererbung, sondern noch mehr auf dem Wege der geistigen Uebermittelung auf die nachkommenden Geschlechter eine immer größere Summe von Vorzügen zu übertragen. Und damit erscheint die Descendenz-Theorie, obwohl an sich unbewiesen und in ihren einzelnen Voraussetzungen vielleicht vielfach irrig, nicht nur als ein logisches, sondern auch ein sittliches Postulat. Nicht als ein neues Dogma, sondern als eine neue Leuchte auf dem dunklen Wege weitergehender Forschung wird sie der Menschheit reichen Segen bringen.169

Dabei gelangte allerdings gerade das Spezifische an Darwins Theorie, nämlich die Annahme, wonach die natürliche Selektion von Individuen als Mechanismus einer nichtteleologischen Evolution fungiere, nicht zum Tragen, wie es für die Darwin-Rezeption im 19. Jahrhundert charakteristisch war. Virchows Interpretation des Darwinismus brachte ihn damit in die Nähe zu den Theorien des kulturellen Evolutionismus, wie sie zur selben Zeit in Großbritannien und Frankreich beispielsweise von Edward  B. Tylor, John Lubbock und Gabriel de Mortillet entwickelt wurden.170 Anders als darwinistische Entwicklungsmodelle, welche die Geschichte der Menschheit als sich verzweigenden Baum darstellten, beschrieben diese die menschliche kulturelle Evolution als eine Leiter. Auf ihrer Spitze standen die Europäer, deren Entwicklungspfad auch für alle anderen Teile der Menschheit das Vorbild darstellte. Damit einher ging die Annahme einer einheitlichen, unveränderlichen Natur des Menschen. So beschrieb Lubbock in seinem 1865 erschienenen Buch Prehistoric Times sowie in seinem fünf Jahre später erschienenen Werk The Origin of Civilization das Leben der gegenwärtigen indigenen Völker als eine Entsprechung zum Leben unserer eigenen Vorfahren. Auch er widersprach der biblischen Auffassung des Menschen als eines ›gefallenen Engels‹ und zeigte vielmehr einen allmählichen Aufstieg der Menschheit auf einer Leiter des sozialen und kulturellen Fortschritts. Beiden Werken verhalf Virchow auf Bitte Ernst Haeckels bei ihrer Veröffentlichung in Deutschland Mitte der 1870er Jahre durch ein Vorwort zu größerer Verbreitung.171 169 Ders., Menschen- und Affenschädel, S. 38. 170 Dazu und zum Folgenden siehe Bowler, Biology and Social Thought, S. 37–43  ; ders., Invention of Progress  ; ders., Herbert Spencers Idee der Evolution und ihre Rezeption, in  : Engels (Hg.), Rezeption von Evolutionstheorien, S. 309–325, hier v. a. S. 320 f.; vgl. auch George W. Stocking, Victorian Anthropology, New York 1987. 171 Siehe John Lubbock, Prehistoric Times  : As Illustrated by Ancient Remnants and the Manners and Customs of Modern Savages, London 1865  ; dt.: Die vorgeschichtliche Zeit, erläutert durch die Ueberreste des Alterthums und die Sitten und Gebräuche der jetzigen Wilden. Mit einleitendem Vorwort von Rudolf Virchow, Jena 1874  ; sowie ders., The Origin of Civilization and the Primitive Condition of Man  : Mental and Social Conditions of Savages, London 1870  ; dt.: Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechts. Erläutert durch das innere und äußere Leben der Wilden von Sir John Lubbock. Nach der 3., vermehrten Auflage aus dem Englischen von A. Passow nebst einleitendem Vorwort von Rudolf Virchow, Jena 1875  ; siehe dazu auch Ernst Haeckel an Virchow, 11.10.1872, Druck  : Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 226 f.

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Die von Virchow maßgeblich beeinflusste Berliner Anthropologie präsentierte zwar im Gegensatz zur britischen evolutionistischen Anthropologie keine Theorie einer linearen und stufenförmigen kulturellen Entwicklung. Doch spielte bei Virchow ein ähnliches Modell des Kulturfortschritts der Menschheit eine wichtige heuristische und moralische Rolle und lenkte somit auch die Richtung der empirischen Einzelforschungen. Der theoretische Unterschied zwischen einem eher linear und einem eher spiralförmig gedachten Aufstieg ergab sich dabei nicht aus einer größeren Nähe Virchows zu zyklischen Geschichtsmodellen, die er ausdrücklich zurückwies. Vielmehr deutet dies auf unterschiedliche nationale Erfahrungen bei der Realisierung liberaler politischer Fortschrittserwartungen hin. Nach der Gründung des Deutschen Reichs übertrug Virchow sein Modell des Fortschritts von der Menschheit auf die deutsche Nation, die für ihn an der Spitze dieser Entwicklung stand. Dagegen sei der Erzrivale Frankreich in dieser Konkurrenz zurückgeblieben, behauptete Virchow 1873 auf der Naturforscherversammlung in Wiesbaden, wofür er hauptsächlich den großen Einfluss des Katholizismus in diesem Land verantwortlich machte.172 Frankreich habe sich »in die Arme des Jesuitismus« geworfen, und die Wunder von Lourdes und Salette belehrten die Welt, »dass für grosse Theile Frankreichs die Cultur eine blosse Maske« sei173, echote er ein gängiges Vorurteil. Die Entwicklung der deutschen Nation verlief für Virchow dagegen gesetzmäßig in Richtung liberaler Prinzipien, woran auch die gegenwärtige Trennung des Liberalismus in Fortschritts- und Nationalliberale nichts ändere. Im Preußischen Abgeordnetenhaus erklärte Virchow 1873, es sei klar, »dass der nationale Gedanke ein liberaler Gedanke« sei, unabhängig davon, ob in der Form, wie ihn Fortschrittsliberale oder Nationalliberale vertraten. Dem mächtigen Wirken der gesetzmäßigen Entwicklung könnten sich nicht einmal die Hohenzollernkönige entgegenstellen, da größere politische Einheiten automatisch liberaler seien  : Aber der wirklich nationale Gedanke, der darauf ausgeht, die Nation als ein sich in einheitlicher Entwicklung darstellendes Glied der Menschheit zu fördern, der muss nothwendigerweise brechen mit allen den kleinen Partei-Gedanken, welche aus dieser oder jener früheren Entwicklung niederer Art ihm noch anklebten. Der deutsche Kaiser muss ein liberalerer Mann sein, als der preußische König, gerade wie der preußische König liberaler sein musste, als der kleine Markgraf von Brandenburg. Ja, meine Herren, sehen Sie sich die Entwicklung der preußischen Geschichte nur an  : Sie werden dann finden, dass die Gedanken unserer Könige größer geworden sind in dem Maasse, als das Gebiet sich erweiterte, in dem sie herrschten.174 172 Rudolf Virchow, Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung der Menschheit, in  : Tageblatt der 46. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Wiesbaden vom 18. bis 24. September 1873, S. 203–213, hier  : S. 206. 173 Ders., Ueber die Methode der wissenschaftlichen Anthropologie. Eine Antwort an Herrn de Quatrefages, in  : ZfE 4 (1872), S. 300–319, hier  : S. 318. 174 SBPAH, 54. Sitzung am 1.3.1873, S. 1322.

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Szientismus und liberale Utopie

In den ersten Jahren nach der Reichsgründung teilte Virchow den auf eine Naturalisierung des Fortschritts gestützten liberalen Enthusiasmus, wonach starke Entwicklungskräfte die zwangsläufige Liberalisierung des Deutschen Reiches bewirkten. Nachdem er die Phase der Restauration als eine Ära des Stillstands der Zeit empfunden hatte, sah er nun wieder eine »Periode ascendirender Entwicklung« angebrochen, wie er 1875 auf der Jahresversammlung der Deutschen anthropologischen Gesellschaft erklärte  : »Dass wir als Deutsche dabei sind, wo es sich um ascendirende Entwicklung handelt«, so Virchow, »brauche ich nicht erst auszusprechen. Das Wort »Fortschritt« ist jedem deutschen Herzen ein wohlklingendes Wort.«175 ›Deutsch sein‹ hieß für Virchow somit, an den Fortschritt zu glauben. Dabei besaß für ihn in diesen Jahren – nach dem Sieg über den ›äußeren Feind‹ Frankreich – die scheinbar im liberalen Fortschrittsglauben geeinte deutsche Nation nur einen ernsthaften Gegner  : die Katholiken. Im Kulturkampf der 1870er Jahre, in dem Virchow eine wichtige Rolle spielte, prallten Fortschrittsglauben und Frömmigkeit176 heftig aufeinander. Innere und äußere Feinde schienen für Virchow insofern vereint, als dies neben den deutschen Katholiken auch das katholische Frankreich einschloss. Doch hatte er, wie er 1875 erklärte, auch von denjenigen, die zeitweise sich als die schlimmsten Feinde des Fortschrittes erwiesen haben, die Meinung, dass sie nur unter dem Drucke zeitweiliger fremdartiger Einflüsse arbeiten  ; so oft sie sich wieder fanden, sobald sie wieder Menschen waren als solche, wurden sie sich auch immer wieder bewusst, dass sie als Deutsche der Richtung der ascendirenden Bestrebungen angehören.177

So reicherte Virchow seinen Fortschrittsglauben zunehmend mit verschwörungstheoretischen Elementen an. Seine universalistische humanistische Utopie hatte sich in der Konfrontation mit einem anderen universalistischen Prinzip – dem Katholizismus – in die manichäische Sichtweise eines Kampfes von ›Menschen‹ und ›Unmenschen‹ verwandelt, wenngleich dies nicht einer biologischen Festsetzung gleichkam  ; durch »Aufklärung« ließ sich der Status der »Menschlichkeit« auch noch für hartnäckige Fortschrittsgegner erlangen. In all dem lässt sich aber vielleicht auch ein Hinweis auf eine Verunsicherung des liberalen Fortschrittsglaubens erkennen, die bereits die Zukunftszuversicht der liberalen Ära überschattete. 175 Rede Virchows auf der 6. allgemeinen Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in München vom 9. bis 11. August 1875, in  : Beilage zum CBDAG, München 1875, S. 14. 176 David Blackbourn, Volksfrömmigkeit und Fortschrittsglaube im Kulturkampf, Wiesbaden 1988. Vgl. auch ders., Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen – Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek b. Hamburg 1997. 177 Rede Virchows auf der 6. allgemeinen Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft 1875, S. 14.

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Fortschritt und Entwicklung

4.2.3 Konservativer Fortschritt und Nostalgie

Ende der 1870er Jahre vollzog Reichskanzler Bismarck einen dramatischen politischen Schwenk  : An die Stelle der von den Liberalen mitgetragenen Bekämpfung der Katholiken, bei der sich auch Virchow stark engagiert hatte, trat nun ein Ausgleich mit dem Katholizismus sowie die Konfrontation mit dem Liberalismus. Diese Entwicklung traf den Fortschrittsliberalismus an einer empfindlichen Stelle. Bereits seit den späten siebziger Jahren war die in den vorangegangenen Jahren so selbstverständliche Gleichsetzung von »fortschrittlich«, »liberal« und »national« zunehmend erschüttert worden.178 In diesem Zusammenhang verloren die mit dem Begriff »Fortschritt« verbundenen Werte an Integrationskraft und die Bedeutung dieses Begriffes als kulturelle Chiffre, die zumindest das Bürgertum unter liberaler Flagge zu vereinigen vermochte, war zunehmend gefährdet. Mitunter diente er nunmehr sogar zur ironischen Kennzeichnung und Diffamierung liberaler Positionen und Personen. Dabei drohte aus liberaler Perspektive die Gefahr von zwei Seiten  : Während einerseits Teile des Bürgertums sich zunehmend vom liberalen Fortschrittsmodell distanzierten, eigneten sich sozialdemokratische Unterschichten den Begriff des Fortschritts auf ihre Weise an. Damit änderte sich auch die Bedeutung des »Fortschritts« im linksliberalen Kontext  : Auf einer Versammlung des Wahlvereins der Fortschrittspartei im 6.  Berliner Reichstagswahlkreis kommentierte Virchow im Juni 1878 die gegenwärtige Lage seiner Partei, die nicht nur durch die Bismarcksche Politik, sondern auch durch sozialdemokratische Wahlerfolge in Bedrängnis geraten war. Nachdem er zunächst die Sozialistengesetze der Reichsregierung scharf kritisierte, da sie auf den Abbau bürgerlicher Freiheiten zielten, rechtfertigte er die zahlreichen politischen Kompromisse der vergangenen Jahre als Versuche, auf dem Weg des Fortschritts wenigstens ein Stück weit voranzukommen. Allerdings seien in der nun bevorstehenden Zeit keine weiteren Fortschritte mehr zu erwarten. Im Hinblick auf die gegenwärtig ungünstigen politischen Kräfteverhältnisse erklärte Virchow, dass nun das Erreichte verteidigt werden müsse  : »Wir haben keinen Weg des Gehens mehr vor uns. Jetzt handelt es sich nur noch darum, wer stehen kann.«179 Der dänische Literaturwissenschaftler und Journalist Georg Brandes registrierte 1881 die Folgen der Herausforderung des liberalen Fortschrittsverständnisses  : Während Bismarck den »moderneren Standpunkt bedeute, mit anderen Worten  : die Umwälzung, vor allem die Initiative, das geniale Wagnis«, so stehe die Fortschrittspartei für »gedankenleeren und unproduktiven Konservativismus«. So habe diese vor den Reichstagswahlen im Oktober 1881 eine politische Broschüre verbreiten lassen, worin sie nachdrücklich 178 Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 135. 179 Rudolf Virchow, Sozialismus und Reaktion. Vortrag des Abgeordneten Prof. Dr. Virchow. Gehalten am 28. Juni 1878 in der Versammlung des Wahlvereins der Fortschrittspartei im 6. Berliner Reichstags-Wahlkreis, Berlin 1878, S. 22.

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erklärt habe, »dass das deutsche Volk nach den politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen der letzten Jahre in erster Linie Ruhe brauche«. Brandes empörte sich  : »Eine Fortschrittspartei, die Ruhe und Stillstand braucht (…) was für eine Fortschrittspartei  !«180 Die Fortschrittspartei, die sich stets als Partei der Bewegung definiert hatte, trat nun als Partei der Beharrung auf. Auch die 1884 erfolgte Umbenennung in »Deutsche Freisinnige Partei« bestätigt diesen Befund. Die damit verbundene Veränderung des liberalen Fortschrittsbegriffes korrespondierte mit der wachsenden Verunsicherung über das ›natürliche Bündnis‹ von Naturwissenschaft und Fortschritt. Der Direktor der Berliner Sternwarte Wilhelm Förster – ein weiteres bedeutendes Mitglied des Berliner naturwissenschaftlich-liberalen Establishments  – brachte dies bei der städtischen Gedenkfeier zur Enthüllung der HumboldtDenkmäler vor der Berliner Universität im Mai 1883 auf den Punkt. Zunächst charakterisierte er den aufklärerischen Enthusiasmus des zurückliegenden Zeitalters, wonach fortschreitende Naturforschung und Naturbeherrschung das äußere menschliche Wohlsein stetig beförderten. Dem hielt er jedoch ein neuartiges Krisenempfinden entgegen und fragte  : »Der Träger aller dieser Fortschritte ist die menschliche Persönlichkeit, aber ist sie nicht gleichzeitig in gewissem Grade auch ihr Opfer  ?«181 Technik und Naturwissenschaft erschienen nun nicht mehr ausschließlich als Garanten einer freiheitlichen Entwicklung, sondern im Gegenteil als Gefährdung der Grundlagen des bürgerlichen Individualismus, der zugleich auch die Basis des Liberalismus bildete.182 Im Zeichen der Hochindustrialisierung stellte sich somit zunehmend die Frage der selbstproduzierten Kosten und Folgelasten des durch die Naturwissenschaften beförderten Fortschritts. Sprachen Liberale vom Fortschritt, beriefen sie sich gerne darauf, »das allgemeine Interesse zu repräsentieren«. Dabei waren sie allerdings wenig »geneigt, sich über die kurzfristig entstehenden Nachteile derer auszulassen, die den Preis für diesen gesellschaftlich bewerkstelligten Fortschritt zu bezahlen hatten«183. Solche Ambivalenzen des Fortschritts hatte Virchow 1866 noch in versöhnlicher Weise beschrieben  : »Denn das ist ja eben der schöne Beruf der Wissenschaft, dass sie die Wunden, die sie schlägt, auch heilt.«184 180 Georg Brandes, Die Gegner des Staatssozialismus, 6.10.1881, in  : ders., Berlin als deutsche Reichshauptstadt. Erinnerungen aus den Jahren 1877–1883, hrsg. v. Erik M. Christensen/Hans-Dietrich Loock, Berlin 1989. 181 Wilhelm Förster, Alexander von Humboldt. Eine Gedächtnisrede zur Feier der Denkmal-Enthüllung am 28.5.1883, Berlin 1883, S. 22. Siehe auch ders., Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen, Berlin 1911, S. 181. 182 Vgl. dazu Gangolf Hübinger, Hochindustrialisierung und die Kulturwerte des deutschen Liberalismus, in  : Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19.  Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 193–208, hier  : S. 196  ; Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge u. a. 1984. 183 Blackbourn, Volksfrömmigkeit und Fortschrittsglaube, S. 44. 184 Rudolf Virchow, Die Lehre von den Trichinen, mit Rücksicht auf die dadurch gebotenen Vorsichtsmaßregeln für Laien und Aerzte dargestellt, Berlin, 3. erhebl. verm. u. umgearb. Aufl., 1866, S. 86.

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Das Bild des »magischen Speers« des Achilles, das der Frühliberale Friedrich Dahlmann einst für den preußischen Staat gebraucht hatte185, war nun von Virchow auf die Wissenschaft übertragen worden. Doch seit den 1870er Jahren wechselte auch bei ihm der Grundton  : Wissenschaft konnte die  – nach wie vor als notwendig angesehenen  – Opfer des Fortschritts nicht mehr heilen, sondern nur noch registrieren. So begründete Virchow seine anthropologische Tätigkeit unter anderem damit, die im Gefolge der kolonialen Expansion unausweichlich zum Untergang verurteilten ›primitiven‹ Völker und Kulturen vor ihrem baldigen Verschwinden noch dokumentieren zu wollen.186 Ähnlich wie für Alfred Russell Wallace oder Herbert Spencer war für ihn der Untergang von »Naturvölkern« Folge einer Konkurrenz, die letztlich auf den Fortschritt der Menschheit zielte und sich naturgesetzlich vollziehe.187 Auf der Naturforscherversammlung in Wiesbaden 1873 erklärte Virchow  : So stellt der Mensch sich in einer räuberischen Weise gegenüber der anderen organischen Natur dar und wir können uns nicht verhehlen, dass alle menschliche Entwickelung, alle Kultur sich immer wieder über Leichen vollzieht  ; jeder Fortschritt der Gesellschaft wird mit zahlreichen Opfern erkauft, nicht blos mit denjenigen, die sich freiwillig in die Schanze schlagen, sondern auch mit den noch viel zahlreicheren Opfern derer, die der neuen Kulturstufe auf unwillkürliche Weise erliegen. Das ist das Bösartige, auf welches der Mensch angewiesen ist, das (…) Diabolische seiner Natur (…)188.

Aus dieser »liberalen Theodizee«, die daraus resultierte, dass das »Naturgesetz des Fortschritts« auch über Leichen ging,189 suchte er jedoch einen versöhnlichen Ausweg, der scheinbar wieder im Einklang mit der liberalen Prämisse der universalen kulturellen Verbesserungsfähigkeit des Menschen stand  : Vor dem Hintergrund seiner zeitgenössischen Erfahrung, wonach die indigenen Völker in Tasmanien, Australien und auf den Fidschi-Inseln, aber auch in Nordamerika zugrunde gingen oder ausgerottet würden, und der Aussicht, dass in denjenigen Teilen Afrikas, in denen eine europäische Einwanderung stattfand, möglicherweise derselbe Prozess ablaufen könnte, widersprach er in den 1870er Jahren mehrfach öffentlich der Auffassung, dass alle »eingeborenen Völker« 185 James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983, S. 49. 186 Siehe etwa Rathschläge für anthropologische Untersuchungen auf Expeditionen der Marine. Auf Veranlassung des Chefs der Kaiserlich Deutschen Admiralität ausgearbeitet von der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Vom 18.7.1872, gez.: Der Vorstand (Virchow, Bastian, Braun, Hartmann, Fritsch, Kuhn, Deegen), in  : ZfE 4 (1872), S. 325 f. 187 Sieferle, Krise der menschlichen Natur, S. 56 f. 188 Virchow, Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung, S. 206. 189 Sieferle, Krise der menschlichen Natur, S. 58.

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notwendigerweise zur Vernichtung bestimmt seien, da ihnen die Entwicklungsfähigkeit abgestritten wurde. Entgegen der gängigen Unterscheidung in »höhere« und »niedrigere« Rassen sprach er diesen Völkern dieselbe Kulturfähigkeit wie den Europäern zu und vertrat die Auffassung, dass bislang einfach noch keine ausreichenden Anstrengungen unternommen worden seien, diese zu erziehen. Gleichwohl  : Sollten diese Völker nicht Anschluss an die europäische zivilisatorische Entwicklung finden, war damit auch für Virchow ihr Untergang als Opfer des »Fortschritts« unabwendbar. »Nur diejenigen retten sich«, bemerkte er 1880 im Hinblick auf die kurz vor der Ausrottung stehende tasmanische Urbevölkerung, »welche in die allgemeine Kulturbewegung eintreten  ; aber deren sind leider sehr wenige«. Daraus leitete er die Verpflichtung ab, »in dem Augenblick, wo noch Repräsentanten dieser Stämme sind, alles zu konstatiren, was zu konstatiren ist«190. Die Erfahrung der mit dem Fortschritt einhergehenden Zerstörung motivierte Virchow deshalb, traditionale Kulturen zu musealisieren. So wurden in dem 1886 eröffneten Berliner Völkerkundemuseum untergehende »Naturvölker« dokumentiert. Andere von Virchow unterstützte Museumsprojekte versuchten dagegen, durch den raschen Wandel bedrohte traditionale deutsche Lebenswelten im Deutschen Reich zu bewahren. Bei dem von ihm seit 1869 erfolglos betriebenen Projekt eines Alexander-von-HumboldtMuseums dominierte noch das Bemühen, den Kräften des »Fortschritts« symbolische Geltung im öffentlichen Raum zu verschaffen.191 Dagegen offenbarte sich bei dem 1889 in Berlin gegründeten Museum für Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes der für die Institution des Museums konstitutive Zusammenhang von Zerstörung durch die Folgen des Fortschritts und Rettung von »funktionslos« gewordenen kulturellen Artefakten. Doch neben der von Hermann Lübbe beschriebenen Kompensation von Verlusterfahrungen192 dokumentierten solche Musealisierungsanstrengungen stets auch mit Fortschrittsgewissheit gepaartes bürgerliches Selbstbewusstsein. In einer Rede anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Berliner Handwerkervereins fasste Virchow 1884 die verschiedenen Aspekte seines Modells des Kulturfortschritts zusammen  : »Die Kultur nivelliert Alles. Die Kultur macht die Menschen mehr und mehr gleich. Je mehr Kultur, um so mehr sind die Einzelnen in der Lage, aufzuwachsen bis in das Niveau, in welchem die Anderen stehen.« Dieser Prozess der kulturellen Nivellierung 190 Rudolf Virchow, Rede auf der 1. Sitzung der 11. allgemeinen Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in Berlin vom 5. bis 12.  August 1880, in  : CBDAG  11 (1880), Nr. 9, 10, 11, S. 8  ; siehe auch ders., Die Ziele und Mittel der modernen Anthropologie. Rede auf der Naturforscher-Versammlung in Hamburg 1876, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 170–181, hier  : S. 171–174. 191 Siehe Virchow an Goldstücker, 19.7.1869  : ABBAW, Nr. 2425  ; vgl. zum Scheitern dieses Museumsprojektes auch Wilhelm Förster an Virchow, 1.7.1870  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 630, Bl. 3. 192 Hermann Lübbe, Der Fortschritt und das Museum, in  : Hermann Auer (Hg.), Bewahren und Ausstellen. Die Forderung des kulturellen Erbes in Museen, München u. a. 1984, S. 227–246, hier v. a. S. 237–240.

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entschärfe, so Virchow, zugleich die soziale Frage, wie er den zuhörenden Handwerkern an alltäglichen Beispielen zu erläutern suchte  : Sehen Sie sich unsere Stadt an, wie sie wächst, wie sie mit jeder Vergrößerung etwas nivelliert wird. Heute dürfen sogar schon die Offiziere in der Pferdebahn fahren (Heiterkeit). Das ist eigentlich nicht viel, aber wenn Sie sich überlegen, was das für Vorbereitungen und Ueberwindungen gekostet hat, daß ein Offizier sich neben einem Arbeiter in eine Pferdebahn setzen darf, so werden Sie ermessen können, eine wie große Nivellierung jenes eine Institut eingeführt hat. (…) Der Unterschied der Stände wird mit jedem Tage geringer. Jede neue Einrichtung, die Wasserleitung, die Kanalisation, die Beleuchtung, falls sie allgemein wird, bringt etwas Demokratisches in die Verhältnisse. (…) Das sind die großen Revolutionen, die man ohne gewaltsame, eruptive Erscheinungen zu Stande bringt. Sie wirken ganz von selbst, sie stellen die Personen auf gleichen Fuß. Aber das läßt sich nicht übereilen  ; das will alles seine Zeit haben, das will Generationen, die allmählich in die neuen Verhältnisse hineinwachsen  ; aber, m. H., es kommt sicher. Es wird immer mehr nivellirt (Heiterkeit)  ; der Klassenunterschied wird immer mehr beseitigt werden, und nichts ist thörichter, als künstliche Unterschiede zu ersinnen und die Gegensätze zu schärfen.193

Damit verteidigte Virchow ein reformistisches Sozialkonzept, das auf dem Vertrauen in die naturwüchsige, evolutionäre Kraft des Kulturfortschritts, den er weiterhin mit dem Fortschritt der Zivilisation gleichsetzte, basierte. Die Trauer über im Zusammenhang solcher »Nivellierungsprozesse« auftretende kulturelle Verluste bildete aber zugleich auch die Grundlage für Nostalgie. So schrieb Virchow anlässlich des Besuches der Milleniums-Ausstellung in Budapest 1896 über ein dort aufgebautes Ausstellungsdorf, in dem die deutsche Volksgruppe und ihre Kultur präsentiert wurden  : Mit einem gewissen Schmerz wird mancher Beschauer daran gedacht haben, wie die fortschreitende Nationalisierung des ganzen Staates alle diese Besonderheiten mit der Vernichtung bedroht. Für den Liebhaber alterthümlicher Formen und Sitten bleibt der Trost, dass doch immer noch recht viel vorhanden ist, was dem Sturme der modernen Civilisation Widerstand geleistet hat.194

Diese nostalgische Spannung zwischen Beschwörung des Fortschritts und Melancholie angesichts seiner Opfer führte überdies dazu, dass sich Virchow gegen die Folgen der industriellen Umgestaltung und Zerstörung historischer Landschaften wandte. So organisierte er 1896 den Protest der Berliner anthropologischen Gesellschaft gegen die

193 Zitiert nach Heinrich Steinitz, Rudolf Virchow. Ein Lebensbild, Berlin 1891, S. 21 f. 194 VBGAEU 28 (1896), S. 501.

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Zerstörung des Schlossbergs von Burg a. d. Spree durch eine geplante Eisenbahnlinie.195 Gleichwohl beharrte Virchow zeitlebens auf den Prämissen eines optimierenden Fortschritts. Ihre klassische Formulierung fand diese Haltung in der auf der Naturforscherversammlung 1886 gehaltenen Rede seines Freundes Werner von Siemens über das »naturwissenschaftliche Zeitalter«196. Krisenstimmung und Fortschrittsoptimismus, die um 1900 kulminierten, gehören gleichermaßen zur Signatur dieser Epoche,197 doch stand Virchow zweifellos bis zum Ende an der Seite der Optimisten. Für ihn bildeten die Schattenseiten des Fortschritts allenfalls zeitweilige Rückschläge auf dem Weg zur Humanität. Ihn zum sensiblen Diagnostiker einer »Krise der Moderne« stilisieren zu wollen, wäre damit ein wenig aussichtsreiches Unterfangen  – aber vielleicht liegt gerade darin ein Stück der historischen Relevanz, an einem solchen Beispiel die Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlicher generationeller Zeitwahrnehmungen deutlich machen zu können. Bei einer Festansprache zum 70. Geburtstag Virchows erklärte Eugen Richter 1891 über den Jubilar  : »Freilich vor seinem Geist ist der politische Fortschritt nur eine Strahlenbrechung des Kulturfortschritts überhaupt. Vor seinem Geist, wie er die Entwicklung der ganzen Menschheit umspannt, bis weit in die prähistorische Zeit zurück, was wollen da bedeuten die politischen Wellenbewegungen einer einzelnen Phase  !«198 Dasselbe quasi-religiöse Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit des optimierenden Fortschritts, dem auch aktuelle Rückschläge nichts mehr anhaben konnten, demonstrierte Virchow selbst nochmals zehn Jahre später in einem Interview mit der liberalen Brüsseler Tageszeitung Independance Belge. Dabei historisierte er sich und seine Generation selbst als eine Stufe der unendlichen Wendeltreppe des Fortschritts, indem er künftigen Generationen die Aufgabe zuwies, seinen Weg – den Weg des Fortschritts – weiterzugehen. Unangefochten von allen zeitgenössischen Krisendebatten erklärte er den Gleichklang von Fortschritt der Wissenschaft und Zunahme der Humanität  ; Zweifler erklärte er kurzerhand für geistesschwach. Zur Begründung verwies er auf die während seiner Lebensspanne erreichte Verbesserung der Lebensbedingungen in den Städten sowie die Fortschritte in der Einigung Europas und drückte damit ein ähnliches optimistisches, europäisches Lebensgefühl aus, wie es Stefan Zweig in seinen Erinnerungen an die im Ersten Weltkrieg untergegangene »Welt von Gestern«199 eindrucksvoll beschrieb. Dabei hatte Virchows 195 Ebenda, S. 579 f. 196 Werner Siemens, Das naturwissenschaftliche Jahrhundert, in  : Tageblatt der 59. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte, 1886, S. 92–96. 197 Vgl. v.  a. Rüdiger vom Bruch/Friedrich Wilhelm Graf/Gangolf Hübinger (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Wiesbaden 1989  ; Hübinger/vom Bruch/Graf (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. 2  : Idealismus und Positivismus, Wiesbaden 1997  ; Volker Drehsen/Walter Sparn (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996. 198 Freisinnige Zeitung, Nr. 241 v. 15.10.1891, »Ansprache des Abg. Eugen Richter zum Virchowkommers«. 199 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (1944), Frankfurt a. M. 1970.

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unsichtbarer Generalplan der Natur eine weitere Metamorphose vollzogen  : Von der demokratischen Republik in der Zeit der Revolution über den deutschen Nationalstaat in der Ära der deutschen Einigung war er nun am Ende des Jahrhunderts beim Ziel der europäischen Einigung angelangt. Ein Rückfall hinter den erreichten Stand des Fortschritts erschien Virchow dabei nicht mehr vorstellbar, da der Entwicklungsstand der öffentlichen Meinung und der allgemeinen Bildung dies nicht mehr zulasse  : »Und tatsächlich bewegen wir uns unaufhörlich fort, wie von einem allmächtigen Antrieb vorwärts geschoben. Der Rückschlag – und ein solcher ereignet sich manchmal – ist stets nur ein momentaner Unfall, eine vorübergehende Abweichung vom Gesetz des Vorwärtsschreitens.« Dabei hatte er sein manichäisches Weltbild, das die Mächte des Lichts und der Finsternis einander gegenüberstellte, eher noch verhärtet als differenziert. Vorurteile, so Virchow, seien dabei eine Art von Unkraut, welches das Wachstum der Vernunft beleidigen, aber nicht wirklich aufhalten könne.200 Allerdings hatten sich in diese Apotheose des Fortschritts und der Wissenschaft am Ende seines Lebens die paternalistischen Züge, die darin schon immer angelegt gewesen waren, eher noch verstärkt, wenngleich sie mittlerweile mit einem kräftigen Schuss Melancholie gemischt waren. So endete Virchow in einer im Dezember 1901 verfassten »Erinnerung. Blätter des Dankes für meine Freunde« mit der Schilderung der Feier seines 80.  Geburtstages im Berliner Handwerkerverein, wo sich ihm »alle Hände« entgegenstreckten, wie die der Kinder aus seiner heimatlichen Schellingstraße. Darin, so Virchow, zeige sich die Dankbarkeit des Volkes gegenüber der Wissenschaft, und er schloss deshalb mit der Aufforderung  : (…) vertraut dem Volke und arbeitet für dasselbe, dann wird euch der Lohn nicht fehlen, wenngleich der Abbruch zahlreicher Einrichtungen, das Verschwinden vieler Menschen, die völlige Umgestaltung des Lebens den Gedanken unserer Vergänglichkeit ganz nahe bringt. Das ist mein Glaubensbekenntnis, und mit diesem hoffe ich, so lange ich lebe, auskommen zu können.201

Zusammengenommen erhält man hier so etwas wie eine Lebensbilanz Virchows, und noch einmal tritt dabei hervor, dass seine Deutung der Moderne in einem Erfahrungsraum verankert war, der von Hunger, Seuchen und unkonstitutioneller Kleinstaaterei geprägt worden war. So interpretierte er den Aufbruch in die Moderne, wie er ihn seit den 1840er Jahren erlebt hatte, als eine allenfalls von vorübergehenden Rückschlägen unterbrochene Erfolgsgeschichte, die sich gesetzmäßig auf die Verwirklichung der aufklärerischen Utopie des »Humanismus« hinbewege. Der Fortschritt der Wissenschaft und der Fortschritt der Menschheit blieben dabei für ihn eng verbunden im gemeinsamen 200 Independance Belge (Bruxelles) v. 17.10.1901, «Chez Rudolf Virchow». 201 Rudolf Virchow, Zur Erinnerung. Blätter des Dankes für meine Freunde, in  : VA 167 (1902), S. 1–5, hier  : S. 5.

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Szientismus und liberale Utopie

Fluchtpunkt der »Humanität«, ohne dass er von dem zivilisationskritischen Unbehagen gegenüber dieser Art von Progressdenken, das sich am Ende des 19. Jahrhunderts in vielen intellektuellen Kreisen ausbreitete, berührt worden wäre. So hielt Virchow an einem Modell des »konservativen Fortschritts« in Wissenschaft und Politik beziehungsweise in Natur und Gesellschaft fest, das sich als »Wachstum ohne Veränderung«202 beschreiben lässt und das die Vorstellung der frühen Positivisten der 1830er und 1840er Jahre bezüglich des wissenschaftlichen Fortschritts ebenso wie das antirevolutionäre Fortschrittsmodell des Liberalismus im Zuge der Entfaltung der Moderne geprägt hatte. Während sich im späten 19. Jahrhundert für zahlreiche Zeitgenossen Virchows der Fortschritt immer mehr als »schwindelnde Gewalt«203 darstellte, hatte sich bei ihm zwar der Erwartungshorizont der liberalen Utopie, an deren Verwirklichung er arbeitete, in zeitlicher Hinsicht erheblich ausgedehnt, aber an der Substanz des zugrunde liegenden Fortschrittsmodells nahm er keine Abstriche vor.

4.3 Vererbung und Verbesserung

Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Gleichklang von »Fortschritt« und »Humanität« offen herausgefordert  : Insbesondere im Gefolge der Diskussion der Thesen Charles Darwins verstärkten sich seit den 1880er Jahren in Europa und USA Befürchtungen, wonach die moderne technisch-industrielle Zivilisation zu kontraselektorischen Auswirkungen führe und letztlich auf Inkompetenz selektiere. Degenerationstheorien stellten das liberalen Anschauungen zugrunde liegende Prinzip der automatischen Selbstperfektion der Menschheit in Frage, und so kollidierten eugenische und humanitäre Utopien immer stärker.204 Den sich hier öffnenden Widerspruch zwischen liberalen Grundsätzen und biologischer Forschung spitzte Wilhelm Bölsche 1896 auf einen »Gegensatz von Fortschritt und Humanität« zu  : In einer Rezension von Alfred Ploetz‹ Werk Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen erklärte er, dass, indem die »Menschheit im Sinne der Humanitätsbestrebungen« dem »Kampf um’s Dasein« sozusagen ins Handwerk pfusche, die Menschheit als organische Art degeneriere anstatt voranzuschreiten.205 202 Lorraine Daston, The Vertigo of Scientific Progress. Unveröffentlichtes Papier des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 1995. 203 Ebenda  ; vgl. auch Victor Leontovitch, Das Wesen des Liberalismus (1957), in  : Lothar Gall (Hg.), Liberalismus, 3., erweit. Aufl., Königstein/Ts. 1985, S. 37–53, hier v. a. S. 40. 204 Sieferle, Krise der menschlichen Natur, hier v. a. S. 77 f. u. S. 91–99  ; Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988  ; Hans-Joachim Salecker, Der Liberalismus und die Erfahrung der Differenz. Über die Bedingungen der Integration der Juden in Deutschland, Berlin u. Bodenheim b. Mainz 1999, S. 173 f. 205 Wilhelm Bölsche, Die Humanität im Kampf mit dem Fortschritt, in  : Neue deutsche Rundschau 7 (1896), S. 125–137, hier  : S. 127. Vgl. dazu auch Sieferle, Krise der menschlichen Natur, S. 98.

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Vererbung und Verbesserung

Damit wurde das liberale Modell des Fortschritts der Menschheit, das auf einer Kombination von Bildung und Verbesserung der äußeren Lebensumstände beruhte, im Kern herausgefordert. Rolf Peter Sieferle warnte davor, alle im 19. Jahrhundert entstandenen Versuche zur biologischen Erklärung historischer und gesellschaftlicher Prozesse von vornherein unter der Perspektive des späteren nationalsozialistischen Rassismus zu interpretieren. Vielmehr seien alle diese Konzepte als Konsequenz des Erfolgs des szientistischen Paradigmas zu betrachten, das sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts fast vollständig durchgesetzt habe und dessen Ziel es gewesen sei, den Bereich des Unerklärlichen in der Welt so weit wie möglich zu verringern. Nachdem der Mensch auf diese Weise in die Reihe der Naturwesen eingerückt war, sei das Interesse an seiner physischen Organisation in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung um die Natur des Menschen getreten. Als zentrales Problem, so Sieferle, resultierte daraus das Verhältnis des kulturellen Prozesses der Zivilisation zum organischen Substrat des Menschen.206 Hieraus folgen auch wichtige Fragen im Hinblick auf die Bedeutung Virchows in der Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen naturwissenschaftlichen Entwicklungstheorien und politischen Zukunftsentwürfen  : In welchem Spannungsverhältnis standen Biologie und Kultur im Rahmen einer liberalen Anthropologie, die versuchte, »Fortschritt« und »Humanität« zu verknüpfen  ? Wie verhielten sich dabei Auseinandersetzungen um biologische und kulturelle Vererbung einerseits zu Auffassungen über die Verbesserung des Menschen andererseits  ? So geht es hier auch um die Konsequenzen aus den Veränderungen des Spannungsfelds von nature und nurture für das liberale Menschenbild und Gesellschaftsmodell. Ein wichtiges Untersuchungsfeld für diese Fragen stellen Bilder der Vergangenheit der Menschheit dar, die innerhalb verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen entworfen wurden. Diese waren im Zeichen von Evolutionstheorien stets zugleich mit Aussagen über die Zukunft der Menschheit aufgeladen,207 und die Frage des menschlichen Fortschritts bewegte viele der Protagonisten der Ur- und Vorgeschichtsforschung in England, Frankreich und Deutschland. Überall dort erwarteten Wissenschaftler und Amateure, darunter auch Virchow, auf diesem Forschungsfeld unter anderem die Frage des Fortschritts empirisch untersuchen zu können, und hofften dabei oft darauf, Aufstieg und Niedergang menschlicher Kultur in Übereinstimmung mit liberalen Grundannahmen über die Verbesserungsfähigkeit der Menschheit erklären zu können.208 Der folgende Abschnitt beschäftigt sich deshalb zunächst mit der Rolle Virchows in der Auseinandersetzung um den Menschen als Natur- und Kulturwesen, die im Zusammenhang des Angriffs des Szientismus auf den Historismus stand.

206 Sieferle, Krise der menschlichen Natur, S. 71 f. 207 Bowler, Invention of Progress  ; Smith, Politics and the Science of Culture, S. 62 f. 208 Smith, Politics and the Science of Culture, S. 62 f.

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Szientismus und liberale Utopie

4.3.1 Naturwissenschaft, Anthropologie und Kulturgeschichte

Am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts verschoben sich in den Wissenschaften einige zentrale, bis dahin gültige Grundannahmen  : Im Zusammenhang umfassender Verzeitlichungstendenzen änderte sich die bisherige Naturgeschichte, der die Vorstellung einer ahistorischen Natur zugrunde gelegen hatte, zu einer temporalisierten Geschichte der Natur. Dieser Übergang vom naturhistorischen zum entwicklungsgeschichtlichen Denken,209 der in der Theorie Darwins lediglich ihren bekanntesten, aber keinesfalls einzigen Ausdruck fand, spielte auch in Deutschland eine wichtige Rolle, nahm dort aber andere Züge an als in Frankreich oder England. In Deutschland spielten seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die auf Schellings Naturphilosophie gegründete Naturlehre von Lorenz Oken und Carl Gustav Carus sowie die von Goethe entwickelte idealistische Morphologie eine zentrale Rolle210 im entwicklungsgeschichtlichen Denken und prägten zum Teil auch die spätere Rezeption der Darwinschen Theorie. Ein zentrales Problem des Deszendenzdiskurses bildete das Verhältnis von biologischer und kultureller Evolution, d. h. die »doppelte Verzeitlichung« des Menschen, für deren Diskussion im 19.  Jahrhundert insbesondere Anthropologie und Rassenkunde große Bedeutung erlangten.211 In den Ideen der Aufklärung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts hatte die Auffassung dominiert, dass »zwischen den Entwicklungsprozessen in der Natur und denen des Menschen ein enger Zusammenhang bestand«, wodurch alle Auffassungen bezüglich der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geprägt wurden.212 Seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts wurden beide Prozesse jedoch immer stärker getrennt, was sich in der disziplinären Unterscheidung von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft niederschlug. Dies war auch eine Reaktion auf die methodische Herausforderung des herrschenden Historismus der deutschen Geschichtswissenschaft durch empirisch (und nomothetisch) orientierte Naturwissenschaftler – darunter auch Virchow –, die ihre Erkenntnismethode selbstbewusst auch der Geschichtswissenschaft als Vorbild anempfahlen. Auf welche Weise beteiligte sich Virchow an der Konkurrenz naturwissenschaftlich orientierter Disziplinen mit der Geschichtswissenschaft um die Rolle als führende Deutungswissenschaft  ?213 In einem Vortrag auf einer Benefizveranstaltung für Ty209 Lepenies, Ende der Naturgeschichte, S. 9–130. 210 Jürgen Rieß, Naturgeschichte und Entwicklungsdenken, in  : Bodo-Michael Baumunk/ders. (Hg.), Darwin und Darwinismus. Eine Ausstellung zur Kultur- und Naturgeschichte, Berlin 1994, S. 33–37, hier  : S. 35. 211 Werner Conze, Evolution und Geschichte. 212 Peter Hanns Reill, Die Historisierung von Natur und Mensch. Der Zusammenhang von Naturwissenschaften und historischem Denken im Entstehungsprozess der modernen Naturwissenschaften, in  : Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.)  : Geschichtsdiskurs, Bd. 2  : Anfänge modernen historischen Denkens, Frankfurt a. M. 1994, S. 48–61, hier  : S. 54 f. 213 Vgl. dazu Zimmerman, Anthropology and Antihumanism  ; sowie ders., Geschichtslose und schriftlose Völ-

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phuskranke in Ostpreußen plädierte er 1868 für eine kulturgeschichtliche Alternative zur »sogenannte(n) Weltgeschichte, wie sie in den Schulen meist gelehrt wird, jene Geschichte, von der kürzlich ein französischer Admiral behauptet hat, sie sei nichts Anderes, als eine Geschichte der Kriege und Friedensschlüsse«214. (Zumindest im Hinblick auf seine eigene Gymnasialzeit in den 1830er Jahren handelte es sich dabei keinesfalls nur um eine polemische Überzeichnung.) Während es sich hier nur um die »äußere Geschichte der Völker« handle, stellte Virchow dem eine »innere Geschichte« entgegen. Diese sei aus zwei Teilen zusammengesetzt, nämlich der »Culturgeschichte« und der »Geschichte der Medicin«, die aufeinander verwiesen  : Erstere verzeichne »die Fortschritte des menschlichen Geistes in der Erkenntnis, jene herrlichsten Siege der Bildung«, letztere dagegen bewahre die Erinnerung an die »Leidensgeschichte der Menschheit«215. Dieses Geschichtsbild war insofern dialektisch, als Leiden und Niederlagen auf dem von Virchow gesehenen unaufhaltsamen Weg des menschlichen Fortschritts lediglich »Störungen« seien, welche »das Umschlagen der Cultur zu neuen Richtungen in gewaltigen Zügen« anzeigten.216 Dabei standen, wie er 1886 in einem Vortrag auf der Berliner Naturforscherversammlung erklärte, am Anfang jeder »neue(n) Epoche der Kulturgeschichte« weiterhin neue »Heroen, aber verwirklicht wird sie durch ein Volk oder einen Stamm oder wenigstens eine Familie«217. Innerhalb des Geschichtsprozesses traten somit auch für Virchow zunächst Individuen als Vorläufer neuer Entwicklungen auf, bevor sie von kollektiven Einheiten fortgetragen wurden. Damit bewegte er sich in einer Mittellage zwischen dem historistischen Individualitätsprinzip und Ansätzen einer kollektiven Geschichtsschreibung, wie sie in der Volkskunde vertreten wurden. Der Konflikt mit der historistisch orientierten deutschen Geschichtswissenschaft entzündete sich dabei vor allem an der unterschiedlichen Bewertung der a­ xiomatischen Unterscheidung zwischen »Naturvölkern«, d. h. Völkern ohne verschriftliche Geschichte, und »Kulturvölkern«, d. h. Völkern, die im Medium der Schriftlichkeit in die »Geschichte« eingetreten waren. Virchow steht für die Probleme der sich in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts etablierenden Vorgeschichtsforschung »mit der ›historistischen‹ Unterscheidung zwischen dem Bereich der Naturgeschichte und dem der Menschengeschichte wie mit der Abschließung der ›Geschichte‹ durch das Kriterium der Schriftlichkeit«218. Dieser Gegensatz gehörte zu den Grundannahmen der etablierten ker.  – Zur Bedeutung von Geschichtswissenschaft als Deutungskultur im 19.  Jahrhundert vgl. v.  a. die Beiträge in Wolfgang Hardtwig, Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990. 214 Rudolf Virchow, Ueber den Hungertyphus und einige verwandte Krankheitsformen. (Vortrag, gehalten am 9. Februar 1868 zum Besten der Typhuskranken in Ostpreussen), in  : Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 1, S. 433–464, hier  : S. 434. 215 Ebenda, S. 434. Sowie ders., Kriegstyphus und Ruhr, S. 3. 216 Ders., Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin, S. 17. 217 Ders., Die Verbindung der Naturwissenschaften mit der Medizin, S. 77. 218 Dirk van Laak, »Am Anfang war das Wort …«. Über die Theorien zum Beginn von Geschichte, in  : Saecu-

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deutschen Geschichtswissenschaft, die am einflussreichsten Johann Gustav Droysen vertrat  : Für ihn besaßen Menschen keine konstante Natur, denn der menschlichen Gattung wesentlich ist das Fortschreiten, ist die Geschichte. Die Geschichte ist ihr Gattungsbegriff  ; und in diesem handelt es sich um die rastlos steigende Bewegung, um die führende Spitze. So vindizieren wir nur für die Kulturvölker die Kulturgeschichte, wenn es uns nicht geniert, eine so absurde Tautologie zu [ge]brauchen.219

Demgegenüber vermochte Virchow zufolge die »Anthropologie der lebenden Stämme« in der Gegenwart die Beschränkung der Geschichtswissenschaft, die sich aus dem Fehlen schriftlicher Quellen für weite Teile der Menschheitsgeschichte ergab, zu überwinden. Diese sei in der Lage, »zugleich ein Stück der Geschichte der Menschheit (…), welches vor aller Historie« liege, aufzubauen.220 So erklärte er 1865 in einem Vortrag über »Hünengräber und Pfahlbauten« vor dem Berliner Handwerkerverein  : Die Geschichtsschreibung hat ihre bestimmten Grenzen, sie ist stumm, wenn wir die Frage aufwerfen über jene Zeiten, wo es noch keine Geschichtsbücher gab (…), wo noch überhaupt nichts geschrieben wurde. An diesem Punkt muss der Geschichtsschreiber seine Rechte an den Naturforscher abtreten, oder wenn er das nicht will, so muss er selbst Naturforscher werden.221

Denn, so Virchow, mit »dem Schädel in der Hand« werde »der Naturforscher zum Geschichtsschreiber des Menschengeschlechts für jene Zeiträume, da noch keine Geschichte war, als die, welche von Mund zu Mund sich forttrug«222. Beruhte der deutsche Historismus auf der Voraussetzung eines kategorialen Unterschiedes zwischen den Erscheinungen der Natur und der Kultur,223 so bildeten für Virchow »Natur«, »Mensch« und »Gesellschaft« noch einen einheitlichen Zusammenhang, womit der Mensch Natur- und Geschichtswesen zugleich war.224 Während also die Definition der »naturwissenschaftlichen Methode« bei ihm – im Gegensatz zum heutigen Begriff der Naturwissenschaft – noch zahlreiche anthropologische Kategorien enthielt, wurden erst nach Virchow die

lum 40 (1989), S. 296–312, hier  : S. 305. 219 Johann Gustav Droysen, Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857), in  : Peter Leyh (Hg.), Historik, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 1–412, hier  : S. 380 f. 220 Virchow, Ziele und Mittel der modernen Anthropologie, S. 174. 221 Ders., Über Hünengräber und Pfahlbauten, S. 6. 222 Ders., Wie der Mensch wächst, S. 103. 223 Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 31978, S. 13. 224 Mann, Medizinisch-biologische Ideen und Modelle, S. 4. Vgl. auch Wilhelm E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, 2., verbess. u. erweit. Aufl., Frankfurt a. M. u. Bonn 1968, S. 87.

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Begriffe »Leben«, »Geschichte« und »Gestalt« aus dem Bereich der Naturwissenschaften verbannt.225 Gleichzeitig zeigen sich bei Virchow die Folgen jenes epistemologischen Bruchs vom taxonomischen zum historistischen Denken, der sich in den Humanwissenschaften um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vollzogen hatte.226 »Alle Kenntniss der Thatsachen ist eine historische«, formulierte er 1847.227 Schon seine 1843 vorgelegte Dissertation hatte gezeigt, welch grundsätzliche Bedeutung Virchow der Verzeitlichung der Natur beimaß. Seine letzte These  – »Pommerianiae petrifacta glacie primordali (Agassiz)« – behauptete programmatisch die Historizität der geologischen Gestalt seiner pommerschen Heimat.228 Dabei bezog er sich auf den Schweizer Naturforscher Louis Agassiz, der 1837 in den Alpen Beweise für die Existenz von Eiszeiten entdeckt hatte. In diese Historisierung der Natur bezog Virchow auch den Menschen ein. Allerdings hatte er bereits in seiner Rede zum 50-jährigen Stiftungsjubiläum der Pépinière am 2. August 1845 erklärt  : »Der Mensch, das jüngste Kind der Schöpfung, scheint den Perioden allgemeiner Erdumwälzung entrückt zu sein  ; nie hat man seine Gebeine in erweislich geschichtetem Erdreich gesehen. (…) Mit dem Menschen ist die Schöpfung fertig  ; es entsteht kein lebendes Wesen mehr, es sei denn gezeugt.«229 Auf diese Weise war für Virchow die Geschichtlichkeit des Menschen unter biologischer Perspektive stillgelegt  ; als biologisches Wesen befand sich der homo sapiens sozusagen im Post-histoire. Damit bestand Virchow auf der jeweiligen Autonomie von menschlicher Kultur und (organischer) Evolution, womit er sich von Ernst Haeckels monistischer Philosophie unterschied.230 Unter historischer Perspektive interessierte ihn somit die Geschichte der Menschheit als Fortschritt der Zivilisation, die in seinem Verständnis mit der menschlichen Kultur in eins fiel. Dabei vertrat Virchow das szientistische Paradigma, wonach nicht allein Naturwissenschaften und Medizin zentrale Gegenstände der menschlichen Kultur seien, sondern zugleich die menschliche Kultur einen legitimen Untersuchungsgegenstand der Naturwissenschaften darstelle. Virchow leistete selbst einige Beiträge zu einer solchen kulturhistorischen Geschichtsschreibung  : Angeregt durch den Historiker Johann Preuss, bei dem er während seines 225 Jacob, Medizinische Anthropologie, S. 202–206 u. 215. 226 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt  a.  M. 1971. 227 Virchow, Die naturwissenschaftliche Methode, S. 8. 228 Ders., De rheumate praesertim corneae, Inauguraldissertation Universität Berlin 1843. – Andrew Zimmerman argumentiert dagegen mit Blick auf die Berliner Anthropologie und namentlich auf Virchow, dass im Gegensatz zu England und Frankreich in Deutschland im 19. Jahrhundert die Natur nicht historisiert, sondern als statisches Kategoriensystem begriffen worden sei. (Zimmerman, Anthropology and Antihumanism, S. 66 ff.). 229 Virchow, Rede am 2ten August 1845, S. 69. 230 Weindling, Health, Race, and German Politics, S. 57.

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Studiums eine Vorlesung über die Kulturgeschichte der europäischen Völker gehört hatte, verfasste er 1843 und 1844 einige heimatgeschichtliche Studien über seine pommersche Heimat, die er ursprünglich den Baltischen Studien zur Veröffentlichung anbieten wollte.231 Am Anfang dieser historischen Untersuchungen stand seine eigene Identitätsproblematik  : die Frage nach der Herkunft der Pommern und ihren Beziehungen zu den umliegenden Völkern.232 Virchows historische Erstlingswerke, die der damalige Unterarzt in der Charité mit 21 Jahren verfasste, verraten die Nachwirkungen seiner humanistischen Gymnasialbildung, wozu sein besonderes Interesse an philologischen Fragen gehörte. Hinzu traten strenge Quellenkritik und empirische Fundierung. Zugleich fanden sich dort bereits wichtige Elemente des szientistischen Weltbildes angelegt, vor allem die Perspektive eines zivilisatorischen Fortschritts, dessen Träger Arbeit, Protestantismus und Wissenschaft waren. Dem lag die szientistische Gleichsetzung von Kultur und Zivilisation zugrunde, die später nicht nur seinen Bericht über die Typhusepidemie in Oberschlesien, sondern auch den in den 1870ern von ihm in die politische Sprache eingeführten Begriff des »Kulturkampfs« prägen sollte. Auch jene spätere Krise des Szientismus, die sich im Kaiserreich in einem semantischen Auseinandertreten von »Kultur« und »Zivilisation« artikulierte,233 ließ ihn dabei unberührt. Wichtig waren in diesem Zusammenhang auch Virchows epidemiologische Untersuchungen, aus denen zum Teil komplexe (im heutigen Sinne) kulturgeschichtliche Arbeiten wie eine Studie über die Geschichte des Fischereiwesens hervorgingen.234 Letztere besaß ihren Ausgangspunkt in seiner These, wonach ein Zusammenhang zwischen Ernährungsmethoden und der Verbreitung von Lepra bestand, wobei er insbesondere unterschiedlichen Methoden der Fischkonservierung eine wichtige Rolle beimaß. Bei dieser Studie, die einen Zeitraum von der Antike bis zur Gegenwart umfasste, unterstützte ihn auch Theodor Mommsen, der ihm Material zu diesem Thema aus dem Altertum lieferte.235 Virchows Untersuchungen über die Geschichte der Seuchen verbanden medizinische Gesichtspunkte mit historischen und geographischen Faktoren und 231 Zur Erinnerung an Rudolf Virchow. Drei historische Arbeiten Virchows zur Geschichte seiner Vaterstadt Schivelbein, von neuem herausgegeben von der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde, Berlin 1903. Zu den historischen Interessen des jungen Virchow vgl. auch Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 1, S. 49 f. 232 Siehe dazu die Ausführungen von Rudolf Virchow, in  : VBGAEU 16 (1894), S. 531. 233 Vgl. dazu Christoph Gradmann, Geschichte als Naturwissenschaft  : Ernst Hallier und Emil du Bois-Reymond als Kulturhistoriker, in  : Medizinhistorisches Journal 35 (2000), S. 31–54, hier  : S. 50  ; Jörg Fisch, Zivilisation, Kultur, in  : Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1990, S. 679–774, hier v. a. S. 746. 234 Rudolf Virchow, Aufsatz über das Fischereiwesen, hs. Ms., o. Dat.: ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2703. 235 Theodor Mommsen an Virchow, o.  Dat., Druck  : Briefe an Rudolf Virchow. Zum hundertsten Geburtstage. Für die Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin herausgegeben, Berlin 1921, S. 32 f.; sowie Virchow an Mommsen, 17.4.1860, Druck  : Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 350.

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knüpften damit an eine bis auf Hippokrates zurückgehende Tradition an.236 Diese seuchengeschichtlichen Arbeiten (die »Geschichte der Medizin« in Virchows Terminologie) hingen eng zusammen mit umfangreichen Studien zur Geschichte der Hospitäler und Krankenhäuser sowie zur Geschichte der ärztlichen Wissenschaft (die Bestandteil der »Culturgeschichte« in seiner Terminologie bildeten). Sie waren insofern eng aufeinander bezogen, als sie beide auf sein Modell des kulturellen Fortschritts bezogen waren und eine Art von liberaler Whig-History begründeten, in deren Zentrum der Aufstieg der modernen Naturwissenschaften stand.237 Doch forderte Virchow die Geschichtswissenschaft nicht allein dadurch heraus, dass er die traditionelle Abgrenzung ihres Gegenstandsbereichs durch das Kriterium der Schriftlichkeit und damit ihre disziplinäre Eigenständigkeit in Frage stellte. Vielmehr griff er ihre Kompetenz auch in ihrem Kernbereich an, behauptete er doch, Historikern wenigstens zu Teilen auch auf ihrem eigenen Feld methodisch überlegen zu sein. Diese, so führte er 1861 in einem in Berthold Auerbach’s deutschem Volkskalender veröffentlichten populärwissenschaftlichen Artikel näher aus, besäßen zwar Zugriff auf die Empirie, verfügten aber im Gegensatz zum Naturforscher nicht über die Kenntnis der Naturgesetze der Entwicklung, die für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gültig seien.238 Damit stimmte er in den Chor der positivistischen Kritiker der historistisch geprägten Geschichtswissenschaft ein. Mit dem nomothetischen Modell der Naturwissenschaften vor Augen bemängelten sie, dass es nicht ausreiche, lediglich empirisch zu verfahren. Ziel müsse vielmehr sein, die Gesetze des menschlichen historischen Verhaltens zu entdecken.239 Zu einem Brennpunkt der Auseinandersetzung zwischen Szientismus und Historismus wurde Buckles 1857 veröffentlichte History of Civilization in England,240 die Vir-

236 Vgl. Owsei Temkin, Studien zum »Sinn«-Begriff in der Medizin, in  : Kyklos 2 (1929), S. 21–105, hier  : S. 85 ff. 237 Vgl. auch Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 125–128  ; Heinz David, Rudolf Virchow und die Medizin des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Werner Selberg/Hans Hamm, München 1993, S. 230–233. – 1860 musste Virchow überdies ein Angebot Heinrich von Sybels ablehnen, einen Beitrag zur Geschichte der Medizin für ein vom bayerischen König initiiertes großes Geschichtswerk zu leisten. Siehe Virchow an Heinrich von Sybel, 1.3.1860  : GStA-PK, I. HA Rep. 92 Heinrich von Sybel, Bd. 1, Nr. XLVI. 238 Virchow, Wie der Mensch wächst, S. 105. 239 Michael Maclean, History in a Two-Cultures World  : The Case of German Historians, in  : Journal of the History of Ideas 49 (1988), S. 473–494, hier  : S. 481. 240 Vgl. dazu vor allem Eckhardt Fuchs, Henry Thomas Buckle. Geschichtsschreibung und Positivismus in England und Deutschland, Leipzig 1994  ; ders., Positivistischer Szientismus in vergleichender Perspektive  : Zum nomothetischen Geschichtsverständnis in der englischen, amerikanischen und deutschen Geschichtsschreibung, in  : Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 3  : Die Epoche der Historisierung, Frankfurt a. M. 1997, S. 396–423, hier  : S. 404–412. Die deutsche Übersetzung von Buckles »History of Civilization in England« stammte von Arnold Ruge, der mit Virchow verschwägert und jahrzehntelang regelmäßiger Gast in seinem Haus war. Zu den persönlichen Beziehungen Virchows

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chow zustimmend rezipierte.241 Buckle hatte die Ausrichtung der Geschichtswissenschaft an naturwissenschaftlich-statistischen Methoden gefordert, da die Geschichte ebenso wie die Natur Gesetzen unterworfen sei, die sich mit Hilfe der Statistik erkennen ließen. Als universales Gesetz erschien bei ihm der Fortschritt, der durch die Entwicklung der Wissenschaft in Europa getragen werde.242 Zwar teilte Virchow die in Deutschland verbreitete Entgegensetzung von Statistik und menschlicher Willensfreiheit, auf der die Buckle-Kritik dort hauptsächlich basierte. Aber ähnlich wie Adolf Bastian offerierte er naturwissenschaftliche Theorien zur Orientierung im Labyrinth der historischen Fakten.243 »Geschichte als Naturwissenschaft« als ein Gegenmodell zum Historismus stand dabei in enger Verbindung mit der liberalen, naturwissenschaftlichen Fortschrittsideologie.244 Im Gründungsjahr der preußischen Fortschrittspartei betrieb Virchow so die szientistische Herausforderung an die Geschichtswissenschaft als Teil einer liberalen Volksbildungsstrategie. Auf der Naturforscher-Versammlung in Dresden 1868 führte Virchow dies näher aus  : An dem Wahne der Unfehlbarkeit hat die Naturforschung nie gelitten, und ihre strenge Methode verschafft sich mehr und mehr Eingang in anderen Gebieten des Wissens, an die sie grenzt, z. B. in die Geschichte. Woher sollte sie also nicht ebenso, wie die letztere, zur Erziehung benutzt werden können, besonders da sie auch Geschichte ist insofern, als sie sich mit dem Werden der Naturkörper, mit ihrer Geschichte befasst  ? Diese genealogische Richtung, die sich jetzt Bahn bricht, ist besonders geeignet, den Verstand zum richtigen und freien Denken heranzubilden.245

Die damit einhergehende Forderung nach einer stärker nomothetischen Fundierung der Geschichtswissenschaft entsprach den Interessen von Naturwissenschaftlern beziehungsweise von Vertretern neuer Disziplinen wie der Anthropologie und der Ethnolomit Arnold Ruge, die bereits Mitte der 1840er im Hause Carl Mayers einsetzten, siehe auch die Korrespondenz in ABBAW, Nl Virchow, Nr. 1838. 241 Siehe etwa Rudolf Virchow, Glaubensbekenntnisse eines modernen Naturforschers (1873), Berlin 21878, S. 6. 242 Alexander Demandt, Natur- und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in  : Historische Zeitschrift 237 (1983), S. 37–66, hier  : S. 47 f.; vgl. auch Fuchs, Henry Thomas Buckle. – Theodore M. Porter hebt hervor, dass Buckle die Gültigkeit der »statistischen Gesetze« noch radikaler als Quetelet auslegte und im Gegensatz zu diesem auch die menschliche Willensfreiheit statistischen Regularitäten unterwarf. (Porter, Rise of Statistical Thinking, S. 60–63 u. 164–171.). 243 Fuchs, Henry Thomas Buckle, S. 286. 244 Ebenda  ; ders., Positivistischer Szientismus, S. 404–412  ; Gradmann, Geschichte als Naturwissenschaft, S. 38 u. 49 f. 245 Rudolf Virchow, Über den naturwissenschaftlichen Unterricht (Auszug aus einer Rede auf der Naturforscher-Versammlung in Dresden 1868), Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen NaturforscherVersammlungen, S. 73–74, hier  : S. 74.

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gie, die sich gleichfalls auf ein naturwissenschaftliches Methodenverständnis stützten.246 Umgekehrt grenzte sich die Geschichtswissenschaft in Deutschland im Zeichen des Historismus gegen die aus ihrer Perspektive drohende Naturalisierung der Geschichte sowie die Gefährdung ihres professionellen und kulturellen Status mehr und mehr vom naturwissenschaftlichen Szientismus ab, allerdings nicht ohne selbst einen empirisch orientierten Methodenbegriff zu entwickeln.247 Die Grundlinien der Ablehnung szientistischer Ansätze durch die deutsche Geschichtswissenschaft entwarf vor allem Droysen, für den Entwicklung in Übereinstimmung mit deutschen Bildungstraditionen nicht Naturgesetz, sondern freibleibende sittliche Entscheidung bedeutete.248 1878 formulierte Ottokar Lorenz in der Historischen Zeitschrift dann die sozusagen offizielle Kritik der deutschen Geschichtswissenschaft an dem im Vorjahr gehaltenen Vortrag Emil du Bois-Reymonds über »Culturgeschichte und Naturwissenschaft«, der noch einmal die Quintessenz des szientistischen Geschichtsbildes präsentiert hatte.249 In seiner Kritik fasste Lorenz die Auffassungen des angesehenen Berliner Physiologen treffend dahingehend zusammen, »daß die Entwicklung der Menschen zusammenfalle mit dem Grade naturwissenschaftlicher Erkenntnis, welche sie im Laufe der Zeiten sich angeeignet haben, und auf deren höchster Entwicklung dasjenige beruht, was man unsere heutige Kultur nennt«250. Damit war zugleich auch Virchows Position präzise umrissen. Sein naturwissenschaftlich geprägtes Geschichtsverständnis bildete dabei nicht nur eine Herausforderung der Naturwissenschaften an eine geistes246 Fuchs, Henry Thomas Buckle, S. 285 f.; Smith, Politics and the Sciences of Culture, hier v. a. S. 26 ff. u. 107 f.; Zimmerman, Geschichtslose und schriftlose Völker. 247 Otto Gerhard Oexle, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Momente einer Problemgeschichte, in  : ders. (Hg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft, S.  101–151  ; vgl. auch Maclean, History in a Two–Cultures World  ; Christoph Gradmann, Naturwissenschaft, Kulturgeschichte und Bildungsbegriff bei Emil du Bois-Reymond. Anmerkungen zu einer Sozialgeschichte der Ideen des deutschen Bildungsbürgertums in der Reichsgründungszeit, in  : Tractrix 5 (1993), S. 1–16  ; Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, v. a. S. 13 f.; Friedrich Jäger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992. 248 Fritz Wagner, Biologismus und Historismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in  : Gunter Mann (Hg.), Biologismus im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973 S. 30–42, hier  : S. 35  ; vgl. auch Maclean, History in a TwoCultures World  ; Oexle, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft, v. a. S. 119 f.; Rüdiger vom Bruch, Von der Sozialethik zur Sozialtechnologie  ? Neuorientierungen in der deutschen Sozialwissenschaft um 1900, in  : Hübinger u. a. (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. II, S. 260–276, hier  : S. 263. 249 Emil du Bois-Reymond, Culturgeschichte und Naturwissenschaft, in  : Reden von Emil du Bois-Reymond, Erste Folge  : Litteratur, Philosophie, Zeitgeschichte, Leipzig 1886, S. 240–306. Vgl. dazu Gradmann, Naturwissenschaft, Kulturgeschichte und Bildungsbegriff  ; sowie ders., Geschichte als Naturwissenschaft, hier  : S. 45 f. 250 Ottokar Lorenz, Die ›bürgerliche‹ Geschichte und die naturwissenschaftliche Geschichte, in  : Historische Zeitschrift  39 (1878), S.  458–485, hier  : S.  463. Vgl. dazu auch Johann Gustav Droysen, Philosophie der Geschichte (1878), Nachdruck  : ders., Texte zur Geschichtstheorie. Mit ungedruckten Materialien zur »Historik«, hrsg. v. Günter Birtsch/Jörn Rüsen, Göttingen 1972, S. 66–78, hier  : S. 72 f.

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wissenschaftliche Deutungskultur,251 sondern zugleich auch eine linksliberale Antwort auf die nationalliberale, borussische Geschichtswissenschaft.252 Virchow trat gleichermaßen als Verfechter eines szientistischen Geschichtsbildes wie als Gegner seiner Institutionalisierung an den medizinischen Fakultäten hervor. Diese Haltung vertrat er sowohl 1863, als die szientistische Herausforderung des Historismus ihren Höhepunkt erreicht hatte, als auch 1898, als diese längst abgeklungen war, wie sich etwa an seiner gleichbleibend negativen Haltung zur Einrichtung medizinhistorischer Lehrstühle ablesen lässt. Doch veränderte sich seine Begründung insofern, als er 1898 den Nutzen solcher medizinhistorischer Forschung generell anzweifelte, da doch »aus der alten Medizin nichts Nützliches für die Menschheit zu lernen sei, allenfalls die Irrwege, auf denen medizinische Abenteurer zu wandeln pflegten«253. Der »Gedanke jenes unbegrenzten Fortschritts«, dem Virchow verpflichtet war, vertrug »einen Rückblick höchstens als historisch-pragmatische Belehrung, wie weit es die Gegenwart gebracht habe, wie weit es die Zukunft noch bringen konnte«254. Damit stützte Virchow einen seit dem zweiten Drittel des 19.  Jahrhunderts anwachsenden Trend, wonach Wissenschaftsgeschichte für die rezente Forschung umso mehr an Bedeutung verlor, als »aus der Zukunftsbezogenheit vor dem Hintergrund früherer Naturforscher von der Renaissance bis zur Romantik (…) bloße Fortschrittsgewissheit geworden«255 war. Während Virchow also die Medizingeschichte weitgehend ablehnte, leistete er zugleich wichtige Beiträge zur Institutionalisierung der Anthropologie und der Urgeschichte. Dies, so lässt sich vermuten, hatte damit zu tun, dass die für ihn entscheidende Frage nach dem Verhältnis von biologischem Substrat des Menschen und kulturellem Prozess der Zivilisation auf diesem Feld zu untersuchen sein würde, während die Geschichtswissenschaft ihre disziplinäre Identität durch die bereits vorausgesetzte Trennung von Natur und Kultur definierte. Entgegen solcher Aufteilungen, die am Anfang des Gegensatzes einer naturwissenschaftlichen und einer geisteswissenschaftlichen Kultur stehen, blieb in der Anthropologie, wie sie von Virchow vertreten wurde, die Spannung zwischen dem Menschen als Kultur- und Naturwesen maßgeblich. Anthropologie in diesem Sinne war nicht lediglich Ergänzung oder gar eine ›arme Verwandte‹ der historistischen Geschichtswissenschaft  ; vielmehr war sie ihr übergeordnet.

251 Vgl. Zimmerman, Geschichtslose und schriftlose Völker  ; sowie ders., Anthropology and Antihumanism. 252 Vgl. dazu auch Wolfgang Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in  : ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, S. 103–160. 253 SBPAH, 44. Sitzung am 11.3.1898, S. 1350. 254 Hirschfeld, Virchow, S. 113. 255 Engelhardt, Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft, S. 211.

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4.3.2 Ursprung und Entwicklung der Menschheit

Im 19. und teilweise noch im 20. Jahrhundert wurde Anthropologie vielfach als Subdisziplin der Medizin studiert und deshalb meist als »physische Anthropologie« betrieben. Auch Virchow gelangte über die Medizin zur Anthropologie. Für sein öffentliches Bild spielt seine Anfang der 1850er Jahre während seiner Beschäftigung mit dem Kretinismus in Franken aufgenommene und später auf dem Gebiet der physischen Anthropologie fortgeführte phrenologische Tätigkeit bis heute eine prägende Rolle  : In Gedichten, Gesängen und Karikaturen wurde Virchow, der »Schädelmesser«, popularisiert. Dabei standen für ihn bei dieser Tätigkeit zwei Fragen im Mittelpunkt  : Einmal die Suche nach den Germanen, die eng mit der Frage nach den Slawen verbunden war, woran Virchow, der sich selbst einmal als einen »Slawisch-Deutschen« bezeichnete256, ein starkes persönliches Interesse besaß. Die andere Hauptfrage war die nach der Abstammung und Entwicklung des Menschen. Virchows Untersuchungen basierten auf dem durch den schwedischen Phrenologen Anders Retzius entwickelten Schädelindex, der eine Formel für das Verhältnis von Höhe und Umfang des Schädels entworfen hatte und diese als Indikator für geistige Fähigkeiten und rassische Zugehörigkeit gebrauchte.257 Auf dieser Grundlage erfolgte die Einteilung in zwei Haupttypen, in die sogenannten »Langschädel« (Dolichocephale) und »Rundschädel« (Brachycephale),258 wobei diese Unterscheidung oftmals normativ aufgeladen wurde. Mit diesen Untersuchungen verbanden sich zwei eng verbundene Bemühungen  : erstens, festzustellen, ob sich auf diese Weise Kriterien zur Bestimmung von Rassen ergeben würden, und zweitens, zu klären, inwieweit sich von diesen Schädeln Rückschlüsse auf intellektuelle und kulturelle Fähigkeiten und Entwicklungen ziehen lassen würden. Anfänglich standen Virchows phrenologische Untersuchungen auf dem Boden der verbreiteten Annahme, wonach zwischen Größe des Schädels und geistiger und kultureller Entwicklung von Menschen ein direkter Zusammenhang bestand. In einem populärwissenschaftlichen Vortrag im Berliner Handwerkerverein erklärte er 1861 zur Verbindung von Schädel, Geist und menschlicher Kulturentwicklung  :

256 So Virchow 1895 in einem Gespräch mit J. J. Walsh, in  : J. J . Walsh, Makers of Modern Medicine, New York 1915, S. 361, zitiert nach Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 173. 257 Weindling, Health, Race and German Politics, S. 50. 258 Vgl. dazu Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 162–197  ; Robert Proctor, From Anthropology to Rassenkunde in the German Anthropological Tradition, in  : George W. Stocking (Hg.), Bones, Bodies, Behaviour  : Essays on Biological Anthropology, Madison 1988, S. 138–179, hier  : S. 141  ; Benoit Massin, From Virchow to Fischer  : Physical Anthropology and «Modern Race Theories” in Wilhelmine Germany, in  : George  W. Stocking (Hg.), Volksgeist as Method and Ethic. Essays on Boasian Ethnography and the German Anthropological Tradition, London 1996, S. 79–154  ; Zimmerman, Anthropology and Antihumanism, S. 86–107.

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Die alten Schädel erzählen es uns noch immer, ob das Volk eine stattliche Entwickelung des Gehirns erlangte, ob es in die Reihe der Culturvölker gezählt werden darf, ob es für die Geschichte des menschlichen Geistes eine Bedeutung gehabt haben mag, oder ob es eben nur war, nur bestand, um anderen Culturvölkern als ein Fussschemel ihres Aufsteigens zu dienen.259

Zu dieser Zeit interpretierte Virchow die organische und kulturelle Entwicklung von »Naturvölkern« zu »Kulturvölkern« ähnlich wie britische Evolutionisten noch als parallel verlaufende Vorgänge. Dabei fanden sich bei ihm überdies auch Anklänge an die Akzentuierung des Visuellen und insbesondere des Gesichts, wie sie insbesondere durch den Begründer der Physiognomik, Johann Kaspar Lavater, vertreten worden war.260 Denn auch für Virchow ließ die ästhetische Qualität des Schädels Rückschlüsse auf den darin enthaltenen Geist zu  : Ist es denn eine blosse Manier, dass die Bildhauer noch immer an den Köpfen der altgriechischen Meister studiren  ? Und ist es eine reine Täuschung der Naturforscher, wenn sie schreiben, dass die alten Griechen so prächtige Menschen gewesen sind, weil sie so vortreffliche Köpfe gehabt haben  ? O gewiss nicht (…),

beantwortete er seine rhetorische Frage selbst. Die materialistische Grundstruktur seines Arguments ähnelte dem berühmten Diktum Karl Vogts, wonach die Gedanken in derselben Beziehung zum Gehirn stünden wie der Urin zu den Nieren,261 wenngleich Virchow einen ästhetisch weniger anstößigen Vergleich wählte  : So werde auch das Gehirn kräftig, wenn die Knorpel und Knochen des Schädelgewölbes sich zur rechten Zeit ausweiten durch Wachsthum an ihren Rändern, und nachher gehen Gedanken hervor, gleich einem mächtigen Wohlgeruch (…) Und das mag man, wenn man auch kein Phrenolog ist, doch einem Schädel ansehen (…).262

Schon seit den 1860er Jahren hatten sich jedoch für Virchow Probleme mit seiner bisherigen Annahme ergeben  : Je mehr Schädel er untersuchte, desto fraglicher erschien ihm der Zusammenhang zwischen Größe des Schädels beziehungsweise des Gehirns und kultureller Entwicklung. Zwar bestätigten die Ergebnisse aus der Erforschung von 259 Virchow, Wie der Mensch wächst, S. 103. 260 George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a. M. 1990, S. 48–51. 261 Karl Vogt, Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolf Wagner in Göttingen, Gießen 1855. 262 Virchow, Wie der Mensch wächst, S. 103 f. Das Gehirn wurde damit in Analogie zu einem Muskel gesetzt, der durch Zug und Druck das Knochenwachstum anrege. Diese materialistische Erklärung des Bewusstseins steht im Gegensatz zu Virchows früherer Abgrenzung von Karl Vogt. Siehe Rudolf Virchow, Empirie und Transzendenz, in  : VA 7 (1854), S. 1–29, hier  : S. 16  ; vgl. auch Wittkau-Horgby, Materialismus, S. 119.

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Hünengräbern und Pfahlbauten auch für ihn, wie er 1866 in einem öffentlichen Vortrag erklärte, ein progressivistisches Konzept, wonach »der Gang menschlicher Entwicklung im Großen überall nach demselben Gesetz fortschreitender Bildung« erfolge. Zugleich äußerte er jedoch Zweifel am Zusammenhang beziehungsweise Parallelismus von organischer und geistiger Entwicklung  : »Ob diese Entwickelung, die nach unserer Auffassung wesentlich das geistige Leben des Menschen betrifft, auch eine entsprechende körperliche mit sich bringt, ist mindestens zweifelhaft. Die Gräber lehren uns darüber wenig.«263 Zudem veränderte sich die Bedeutung der Frage nach dem Zusammenhang von organischer und kultureller Entwicklung unter dem Einfluss der Auseinandersetzung um den Darwinismus. Seit den 1880er Jahren wurde die Frage, ob auch Völker mit kleinen Gehirnen am kulturellen Fortschritt teilnehmen konnten oder ob sie im Zuge des Fortschritts der Menschheit selektiert werden müssten, zu einer Haupttrennungslinie zwischen Neo-Lamarckisten und Neo-Darwinisten.264 Die Beantwortung solcher theoretischer Streitfragen vertagte Virchow vielfach unter Hinweis auf fehlende empirische Belege. Dies hinderte ihn nicht daran, die Entscheidung oftmals mit Hilfe seiner Autorität zu suchen, wie es etwa in der Auseinandersetzung über den 1856 entdeckten Neandertaler der Fall war. Doch erklärte er vorderhand, dass der Weg aus solchen Konflikten nicht über Hypothesen- und Theoriebildung, sondern über Materialsammlung führe  : »Sammeln wir zunächst rüstig fort«, forderte er deshalb immer wieder, die nötigen Antworten würden sich dann schon einstellen.265 Darauf gründete ein positivistisches Forschungsprogramm, an dessen Institutionalisierung Virchow maßgeblich beteiligt war. Dieses wurde mit beträchtlichem Aufwand etwa 30 Jahre lang verfolgt, ohne jedoch am Ende die erhofften Erfolge hervorbringen zu können. Wilhelm Waldeyer, sein Nachfolger als Vorstand der Berliner anthropologischen Gesellschaft, kommentierte deshalb 1903 in einer Gedächtnisrede auf Virchow, dass der Hauptertrag seiner jahrzehntelangen Beschäftigung »des Beschreibens einzelner Schädel verschiedener Völker, einer Arbeit, die man vielfach als eine nutzlose bezeichnet hat«, darin gelegen habe, eine bedeutende Sammlung zu produzieren.266 Doch blieben diese im Nachhinein als so fruchtlos angesehenen empirischen Arbeiten theoretisch nicht folgenlos  : Virchow zog daraus den Schluss, dass die Entwicklungsgeschichte der Menschheit einen doppelten Weg verfolge, nämlich einerseits den der physischen Entwicklung und andererseits den der »Culturgeschichte, deren Anfänge in die Archäologie und in die Paläontologie zurückführen«267. Diese Entkoppelung von biologischer und kultureller Entwicklung bildete den zentralen Gegensatz zur britischen 263 Virchow, Ueber Hünengräber und Pfahlbauten, S. 33. 264 Massin, From Virchow to Fischer, S. 121. 265 Virchow, Ueber Hünengräber und Pfahlbauten, S. 35. 266 Wilhelm Waldeyer, Gedächtnisrede auf Rudolf Virchow, Berlin 1903, S. 13. 267 Rudolf Virchow, Anthropologie und prähistorische Forschungen, in  : G. Neumayer (Hg.), Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen, Berlin 1875, S. 571–590, hier  : S. 571 f.

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Variante des Evolutionismus, aber auch zu deutschen Adaptionen des Darwinismus. Sie basierte auf der »Thesis von der Unveränderlichkeit der menschlichen Rassen«, die der Baseler Anatom und Anthropologe Julius Kollmann – ein ehemaliger Schüler Virchows – maßgeblich formulierte  : Demnach sei beim Menschen, der organisch einen »Dauertypus« darstelle, seit dem Pleistozän, d. h. dem Eiszeitalter, die Fähigkeit zur Bildung neuer Formen erloschen und seine Natur »in Bezug auf Rassenmerkmale unbeugsam geworden«. Der »Fortschritt der Gesittung«, so Kollmann, der trotzdem stattfinde, entspringe allein »den Fähigkeiten des Gehirns«268 – die weitere Evolution des Menschen sei somit von organischen Entwicklungen losgelöst und spiele sich ausschließlich in kultureller Dimension ab. Virchow unterstützte diesen Standpunkt, wenngleich er mit Blick auf die Gesamtheit der menschlichen Entwicklung die Notwendigkeit der Veränderlichkeit akzeptierte und somit nicht von einer absoluten Permanenz des Menschen ausging.269 Permanenz und Mutabilität der menschlichen Rassen bewegten sich damit in verschiedenen Zeitdimensionen, denen er auch unterschiedliche Erkenntnisperspektiven zuordnete  : Erstere fiel für ihn in die Zuständigkeit der Naturwissenschaft, letztere in die der naturphilosophischen Spekulation. Folglich gewann für Virchow neben der »leiblichen Vererbung« die »geistige Uebermittlung« eine ausschlaggebende Rolle für den Fortschritt der Menschheit.270 Hinter dieser Alternative stand die brisante Frage nach einem biologischen Substrat der Kultur, nach »Kulturträgern«, beziehungsweise die Frage nach solchen Individuen oder Gruppen von Menschen, die lediglich zu geringeren Kulturleistungen befähigt seien. Damit war das Problem des Zusammenhangs von physischen Eigenschaften und Kultur aufgeworfen. Als ein zentrales theoretisches Konstrukt, mit dessen Hilfe diese Fragen diskutiert wurden, diente im 19. Jahrhundert der Begriff der »Rasse«. Dieser war in Deutschland seit dem letzten Viertel des 18.  Jahrhunderts in Gebrauch gekommen und hatte sich in der wissenschaftlichen Anthropologie wie in der historisch-politischen Publizistik schnell ausgebreitet.271 Dabei beteiligte sich die physische Anthropologie im 19. Jahrhundert an dem letztlich gescheiterten Versuch, eine klare Definition dieses Begriffs zu liefern. In einem Vortrag vor der liberalen »Freien Wissenschaftlichen Vereinigung« in Berlin erläuterte Virchow 1895 seine Auffassung, wonach eine Rasse »eine Abweichung in gewissem Umfang innerhalb der von Cuvier dargestellten ›Species‹« sei, nicht 268 Julius Kollmann, Hohes Alter der Menschenrassen, in  : ZfE 16 (1884), S. 181–211, hier  : S. 208 u. 210  ; siehe auch ders., Die Autochtonen Amerika’s, in  : ZfE 15 (1883), S. 1–45, hier  : S. 2. 269 Rudolf Virchow, Rede auf der 3. gemeinsamen Versammlung der Deutschen und Wiener anthropologischen Gesellschaft, zugleich 30. allgemeine Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in Lindau vom 4. bis 7. September 1899, in  : CBDAG 30 (1899), S. 80 f. 270 Ders., Menschen- und Affenschädel, S. 38. 271 Zur Begriffsgeschichte vgl. Antje Sommer/Werner Conze, Rasse, in  : Brunner u.  a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, S. 135–178, hier v. a. S. 147 ff. Vgl. auch Weindling, Health, Race and German Politics, S. 48–59.

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ohne darauf hinzuweisen, dass erhebliche Schwierigkeiten bestünden, die Grenzen der Rassen festzustellen. Dabei hatte er schon früher hervorgehoben, dass Rassen ebenso wie Species lediglich »klassifikatorische Konstruktionen« seien, während sie als reales Objekt für ihn gar nicht existierten  : »die einzige reale Erscheinung« so Virchow, sei »das lebende Individuum. Alles andere ist nur gedacht«272. In seinen späteren Jahren löste sich für ihn der Begriff der Rasse schließlich mehr und mehr in den des Typus auf, womit das Moment der aktiven Konstruktion dieser Kategorie betont wurde.273 Vertrat Virchow für die historische und prähistorische Zeit die Permanenz der gegebenen Rassen, so erkannte er zugleich an, dass sich im Zuge der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen Veränderungen ergeben haben müssten, die zur Ausbildung der modernen Rassen geführt hätten. Dabei gebrauchte er den Begriff der »pathologischen Rasse«  : Jede Abweichung vom normalen »Typus oder, ganz allgemein ausgedrückt, von dem Normalleben, ist pathologisch«274 – womit für ihn letztlich jede Rasse pathologischen Ursprungs war. Diese Begriffsbildung provozierte Verwirrung und Kritik, an der nicht zuletzt die Verbreitung eines normativen Verständnisses des Begriffes »pathologisch« deutlich wird. So schrieb der deutsche Darwinist Ludwig Büchner 1895  : »Die Wissenschaft selbst freilich wird sich dadurch, dass man in consequenter Richtung des Virchow’schen Gedankens den ganzen Fortschritt des Menschengeschlechts in körperlicher wie geistiger Beziehung für ›pathologisch‹ erklären müsste, in ihrem Gange nicht aufhalten lassen.«275 Zudem kritisierte er, Virchow habe seit 1870 keine Gelegenheit ausgelassen, sich öffentlich dagegen auszusprechen, dass durch fortschreitende Entwicklung aus Affen Menschen entstehen könnten und alle Beweise für die Existenz eines Missing Link beharrlich abgelehnt – »woraus dann die Tagespresse nicht versäumte, den Schluss zu ziehen, dass es mit dem Affenmenschen und dem Darwinismus nichts sei«. Büchner klagte, man sei von jeher gewohnt gewesen sei, Virchow »als Vorkämpfer freisinniger und alte Vorurtheile bekämpfender Ideen in Wissenschaft und Politik zu erblicken. Wie kann es nun kommen, dass er gerade in dieser Frage einem so retrograden Standpunkt huldigt  ?«276 Und tatsächlich griffen katholische Blätter seine Thesen immer wieder dankbar auf, um

272 Virchow, Ueber den Transformismus. Rede Virchows auf der Naturforscher-Versammlung in Wiesbaden 1887, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S.  277–298, hier  : S. 279. Zur wachsenden Skepsis der Berliner Anthropologen gegenüber dem Begriff der »Rasse« vgl. auch Massin, From Virchow to Fischer, S.  114 f.; Ackerknecht, Rudolf Virchow, S.  171  ; Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, S. 99. 273 New Yorker Staatszeitung, Sonntagsblatt, Nr. 27. v. 7.7.1895, »Prähistorische Rassen«. 274 Virchow, Rassenbildung und Erblichkeit, S. 7. Siehe auch ders., Deszendenz und Pathologie, in  : VA 103 (1886), S. 1–14, 205–215 u. 413–436. 275 Ludwig Büchner, Virchow und der Darwinismus, in  : Die Gegenwart, 1895, Nr. 5, S. 70–72, hier  : S. 72. 276 Ebenda.

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damit die zeitgenössische Umkehrung des Menschenbildes vom »gefallenen Engel« zum »aufgestiegenen Affen« zurückzuweisen.277 Ähnlich wie die christliche Lehre vertrat auch die Berliner Anthropologie im Allgemeinen – anders als ihre britischen und französischen Kollegen – den Standpunkt der monogenetischen Abstammung des Menschen.278 Virchows Position blieb auch hier vage, da er aus weltanschaulich-sentimentalen Gründen zwar ebenfalls mit der monogenetischen Abstammung des Menschen sympathisierte, zugleich aber die Möglichkeit einer polygenetischen Abstammung prinzipiell nicht ausschließen mochte. Doch war dies, seiner Auffassung nach, letztlich unerheblich  : Während die Frage nach dem Ursprung des Menschen in den Bereich philosophischer Spekulation gehöre, kam es für ihn in erster Linie auf die der Beobachtung zugänglichen Vorgänge an. Dementsprechend akzeptierte er die Deszendenztheorie prinzipiell als Hypothese, während er zugleich für die Gegenwart beziehungsweise die historische Zeit auf der beobachtbaren Stabilität der menschlichen Rassen insistierte.279 Hier lag auch der wesentliche Grund für Virchows starre Haltung in der Auseinandersetzung um das Missing Link, die im 19.  Jahrhundert einen Brennpunkt der Auseinandersetzung um die Entwicklung und den »Fortschritt« der Menschheit bildete.280 Gegenüber Versuchen, die Abstammung des Menschen vom Affen zu beweisen, die in Deutschland insbesondere von Karl Vogt popularisiert wurde, beharrte Virchow auf einer scharfen Grenze zwischen Menschen und Tieren.281 So lehnte er auch die Schlussfolgerung des Bonner Anatomen und Anthropologen Hermann Schaaffhausen ab, der die 1856 im Neandertal entdeckten Überreste als ein Zwischenstück der Entwicklung vom Affen zum Menschen interpretierte. Virchow ordnete diesen Fund als Jetztzeitmenschen mit pathologischen Befunden ein282 und ließ sich darin auch nicht erschüttern, als immer neue Funde seine Position schwächten. Ähnlich ablehnend verhielt er sich gegenüber der Entdeckung des Pithecanthropus erectus, des sogenannten »Java-Menschen«, 277 Siehe dazu die Presseausschnitte im Anhang zu Ernst Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre. Eine Entgegnung auf Rudolf Virchow’s Münchener Rede über »Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat«, Stuttgart 1878. 278 Massin, From Virchow to Fischer, S. 86 ff. 279 Siehe Rudolf Virchow, Rede auf der 2. allgemeinen Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte am 22. September 1871 in Schwerin, in  : CBDAG 2 (1871), S. 43–47  ; ders., Über den Transformismus, S.  294 f.; ders., Rassenbildung und Erblichkeit. Dort versuchte er, den Konflikt durch die Aussage aufzuheben, dass sich im Lichte der Entwicklungstheorie monogenetischer und polygenetischer Ursprung der Rassen prinzipiell nicht unterschieden  : »Denn im ersten Falle würden wir alle Rassen auf den Urmenschen, im zweiten Falle auf einen Proanthropos zurückführen können, beidemale unter der Voraussetzung der Vererbung«. Siehe ebenda, S. 5. 280 Vgl. dazu Bowler, Biology and Social Thought, S. 47–52. 281 Vgl. auch Zimmerman, Anthropology and Antihumanism, S. 83. 282 Außerordentliche Sitzung der BGAEU am 27.1872, in  : VBGAEU 4 (1872), S. 157–165  ; sowie am 14.12.1895, in  : VBGAEU 27 (1895), S. 744–747.

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den Eugene Dubois in den 1890er Jahren ebenfalls als ein Missing Link präsentiert hatte. Virchow glaubte, hier einen riesenhaften Gibbonaffen zu erkennen. Und im Gegensatz zur Behauptung Vogts, wonach es sich bei Mikrocephalen um einen atavistischen Rückschlag zu Affenmenschen handle, identifizierte er diese als eine pathologische Variation des Menschen. Virchow wies so zugleich alle Versuche zurück, bestimmten gegenwärtigen Menschengruppen die Rolle eines solchen Missing Link zuzuweisen. Auf der Naturforscherversammlung in Wiesbaden 1887 untermauerte er diesen Standpunkt mit Schlussfolgerungen, die er aus der Untersuchung zahlreicher auf Völkerschauen in Berlin ausgestellter Angehöriger sogenannter »Naturvölker« gezogen hatte  : Genug, die diluvialen Menschen, soweit wir von ihnen wissen, hatten keine unvollkommenere Organisation, als die heutigen Wilden. Nachdem wir in den letzten Jahren Eskimos und Buschmänner, Araukaner und Kirgisen in Europa gesehen haben, nachdem von allen den als niederste bezeichneten Rassen wenigstens Schädel zu uns gebracht sind, kann keine Rede mehr davon sein, dass irgendein Stamm jetziger Wilden wie ein Zwischenglied zwischen dem Menschen und irgendeinem Tier angesehen werden dürfe.283

So kollidierte Virchows prinzipielle Sympathie für die Darwinsche Deszendenztheorie einerseits mit seinen weltanschaulichen Prämissen und andererseits mit den beschränkten Möglichkeiten, die Umwandlung bestehender Arten und Rassen zu beobachten, wie er immer wieder am Beispiel des Vergleichs altägyptischer Darstellungen von »Rassentypen« mit der modernen ägyptischen Bevölkerung demonstrierte.284 Vor allem aber existierten, so Virchow, zwar Mischungen, aber keine Übergänge zwischen einzelnen Rassen. Damit unterschied er sich von der Auffassung des Göttinger Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach, demzufolge Rassen ein Kontinuum bildeten. Und auch in der Gegenwart ließen sich solche Übergänge nicht beobachten. Auf der Naturforscherversammlung in Straßburg 1885 kritisierte Virchow das von Haeckel aufgestellte Deszendenzschema  : (…) leider hat noch kein Mensch beobachtet, dass eine Rasse in eine andere übergegangen ist, kein Mensch hat gesehen, dass etwa eine weiße Bevölkerung, welche sich unter den Tropen angesiedelt hat, schwarz geworden wäre, noch niemand hat beobachtet, dass eine Negerbevölkerung, die sich in Polargegenden oder wenigstens nach Kanada, ein kaltes Land begeben hat, weiß geworden wäre.285 283 Virchow, Über den Transformismus, S. 291 f. 284 Ders., Ueber Erblichkeit, S. 347  ; siehe auch den Bericht über einen Vortrag Virchows über Menschenrassen im Heim der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung zu Berlin in  : New Yorker Staatszeitung, Sonntagsblatt, Nr. 27 v. 7.7.1895, »Prähistorische Rassen«. 285 Ders., Über Akklimatisation, in  : Tageblatt der 58. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Straßburg, 18.–23. September 1885, S. 540–550, hier  : S. 544.

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Die Grundlage von Rassenmerkmalen bildete für Virchow die Erblichkeit, wobei er Rassen als Chancenvarianten, d. h. als erworbene Abweichungen vom ursprünglichen Typus, verstand.286 Schwierigkeiten bereitete die Frage, inwieweit Erbanlagen beim Erbgang verändert werden konnten und inwieweit sie sich in veränderten Rassen niederschlugen. Die Auseinandersetzungen um diese Fragen spielten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – vor der Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze – auf dem Hintergrund noch weitgehend ungeklärter Mechanismen der biologischen Vererbung ab. Zumindest in Deutschland entwickelte sich erst seit den 1880er und 1890er Jahren – vor allem als Folge der Arbeiten August Weismanns – ein Gegensatz zwischen Lamarckismus und Darwinismus.287 Weismann postulierte die Trennung von Soma, d. h. Körper, und Keimbahn und stellte damit die bisher allgemein akzeptierte Erblichkeit erworbener Eigenschaften in Frage. Dies enthielt zugleich eine Herausforderung an das liberale Modell der ›Verbesserung durch Verbürgerlichung‹, die sich vor allem auf Bildung und Hygiene stützte. Auf der Grundlage der Weismannschen Thesen ließ sich dagegen ›Verbesserung‹ als Folge einer Selektion von Erbanlagen begründen, wie es in eugenischen Überlegungen erfolgte. Die Diskussion der Thesen Weismanns markiert somit eine Zäsur in der Geschichte der liberalen Auseinandersetzung mit biologischen Gesellschaftstheorien. Virchow, der sich wiederholt mit seiner ganzen Autorität gegen Weismann stellte,288 verteidigte die lamarckistische Auffassung, derzufolge die Übertragung erworbener Eigenschaften eine zentrale Rolle spielte, womit zugleich die Bedeutung von Lebensführung und Milieu dominierte. In seinen 1873 veröffentlichten Glaubensbekenntnissen eines modernen Naturforschers hatte Virchow erklärt  : Da sich alle wesentlichen Eigenschaften bei Menschen, Thieren und Pflanzen fortvererben (wie das Beispiel der erblichen Instinkte und Dressuren bei Jagd- und Schäferhunden, bei den Kanarienvögeln u. s. w. lehrt), – so erben sich auch die vom Menschengeschlecht nach und nach erworbenen intellektuellen und moralischen Fähigkeiten und Denkformen weiter fort  ; so dass 286 Ders., Ueber Erblichkeit  ; ders., Rassenbildung und Erblichkeit, v. a. S. 43. 287 Engels, Rezeption von Evolutionstheorien, S. 39. 288 Siehe zu dieser Kontroverse August Weismann, Über die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung für die Selektionstheorie (1885), Druck  : Hansjochem Autrum (Hg.), Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822–1958), Berlin u. a. 1987, S. 109–142  ; Virchow, Über Akklimatisation  ; sowie die Entgegnung Weismanns in  : Tageblatt der 58. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Straßburg, 18.–23. September 1885, S. 550 f.; Virchow, Deszendenz und Pathologie  ; ders., Ueber die künstlichen Verunstaltungen des menschlichen Körpers, Vortrag auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Köln, 1888, in  : Berliner klinische Wochenschrift, Nr. 41 v. 8.10.1888, S. 836 f. Vgl. auch Frederick B. Churchill, Rudolf Virchow and the Pathologist’s Criteria for the Inheritance of Acquired Characteristics, in  : Journal of the History of Medicine 31 (1976), S. 117–148, hier v. a. S. 132–137  ; Sieferle, Krise der menschlichen Natur, S. 81–91.

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der Sohn meist ähnlich denkt und fühlt wie sein Vater, und dass endlich ganze Familien oder Volksstämme bestimmten Gedankengängen mehr als Andere huldigen.289

Im Mittelpunkt stand somit für ihn die Vererbung kultureller Merkmale. Doch interessierte sich Virchow zugleich für die Vererbung erworbener körperlicher Merkmale, wozu er sich intensiv mit »künstlichen Verunstaltungen« des menschlichen Körpers, d. h. mit »durch Sitte, Mode und Tradition erzeugten Verunstaltungen der normalen Körperform«, beschäftigte. Seine kulturellen Wertmaßstäbe beziehungsweise gesundheitsreformerischen Anliegen prägten in hohem Maße sein Erkenntnisinteresse, mündeten doch seine Ausführungen zu diesem Thema gelegentlich in eine »Philippika gegen die vielerlei herrschenden Modetorheiten – Stöckelschuhe, Corsetts etc.«290 Virchow versuchte seine Auffassung auch experimentell zu bestätigen und unternahm deshalb Tierversuche an Katzen, um die Vererbung der Schwanzlosigkeit zu untersuchen.291 Aus ähnlichen Überlegungen heraus betrachteten Anthropologen, darunter auch Virchow, die USA als ein spannendes Studienobjekt, ließen sich doch die dortigen Verhältnisse als Experiment betrachten, ob sich eine neue »amerikanische Rasse« bilden würde. Sein Schüler Franz Boas ging dieser Frage 1908 in einem anthropometrischen Forschungsprojekt mit Einwandererkindern systematisch nach und setzte dabei »der Ideologie von unüberbrückbaren Rassenunterschieden die Ideologie ihrer planbaren Formbarkeit« entgegen. Damit knüpfte Boas an ideologiekritische Bestrebungen Virchows an, liberale Werte gegen rassistische Interpretationen auf dem Boden des Rassendiskurses zu verteidigen.292 Welche Probleme daraus bei Virchow resultierten, soll im Folgenden untersucht werden. 4.3.3 »Kulturkampf« oder »Rassenkampf«  ?

Der Rassendiskurs basiert auf der Grundannahme der biologischen Ungleichheit von Menschengruppen, und so lässt sich prinzipiell jede Position innerhalb desselben auch zur Rechtfertigung von Minderwertigkeit gebrauchen. Dies machte die Schwierigkeit aus, innerhalb des Rassendiskurses gegen rassistische Interpretationen zu argumentieren, wie sich an Virchow zeigen lässt. Indem er also argumentierte, dass zumindest in den historisch überschaubaren Zeiträumen Rassen stabil blieben, widersprach er zunächst dem impliziten Imperialismus der britischen progressivistischen Anthropologie, die auch in Deutschland ihre Entsprechung besaß  : Dieser zufolge verliefen mentale und soziale Evolution parallel, mit der Konsequenz, dass die menschlichen Vorfahren als 289 Virchow, Glaubensbekenntnisse eines modernen Naturforschers, S. 26. 290 Ders., Ueber die künstlichen Verunstaltungen des menschlichen Körpers. 291 Ders., Rassenbildung und Erblichkeit, S. 35. 292 Christian Geulen, Blonde bevorzugt. Virchow und Boas  : Eine Fallstudie zur Verschränkung von ›Rasse‹ und ›Kultur‹ im ideologischen Feld der Ethnizität um 1900, in  : Archiv für Sozialgeschichte  40 (2000), S. 147–170, hier  : S. 165.

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wilde, grausame Bestien vorgestellt wurden.293 In diesen Zusammenhang gehörte auch die von Virchow ausdrücklich zurückgewiesene These, wonach die Entwicklung der Menschheit notwendigerweise ein Stadium der Menschenfresserei durchlaufen müsse.294 Er sah bei dieser Theorie die Gefahr, dass aus den diachronen Stufen des Fortschritts des Menschengeschlechts – vom Affen über den Neandertaler bis zum viktorianischen Engländer oder wilhelminischen Deutschen  – ein synchrones Schema werden konnte, das zeitgenössischen »eingeborenen Völkern« eine minderwertige Position zuschob und damit eine rassistische Logik unterstützte. Allerdings ließ sich auch das von Virchow vertretene Argument der Stabilität von Rassen dazu verwenden, bestehende Ungleichheit und Rassentrennung zu rechtfertigen, wie er selbst erkannte  : »Das ist der Standpunkt eines richtigen christlichen Prosklavereimannes.«295 Er selbst widersprach dieser Schlussfolgerung vehement und wies etwa vor dem nationalen Forum der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte ausdrücklich die Auffassung zurück, dass es niedere Rassen gebe.296 Doch blieb Virchow argumentativ auf dem Boden des Rassendiskurses, zumal die Berufung auf spezifische Rassenqualitäten auch Teil einer anti-imperialistischen Argumentation bilden konnte. So führte er die mangelnde Akklimatisationsfähigkeit von Angehörigen der »weißen Rasse« an, um vor einer deutschen Auswanderung nach Afrika zu warnen. Die Unfähigkeit deutscher Afrika-Kolonialisten, langfristig in tropischen Ländern zu überleben, begründete er physiologisch mit ihrer Zugehörigkeit zu einer »vulnerablen Rasse«, zu denen er neben den Deutschen auch Holländer und Engländer zählte.297 Allerdings gerieten gerade bei der Frage der Akklimatisation von Einwanderern in tropische Länder die Grenzen zwischen organischer Ausstattung und kulturellen Faktoren ins Schwimmen, wie sich an der Diskussion über die angeblich größere Immunität der Juden bei der Kolonisation zeigte  : Ob dies auf eine andersgeartete physische Ausstattung oder bestimmte Hygienepraktiken zurückzuführen sei, betrachtete Virchow als offene Frage.298 Das von Virchow vertretene Paradigma einer liberalen Anthropologie widersprach somit Auffassungen eines Kampfes zwischen höheren und niederen Rassen, in dessen Gefolge die letzteren verdrängt würden. Der »Kampf um’s Dasein« wurde hier nicht als »Rassenkampf«, sondern als »Kulturkampf« im weiteren Sinne verstanden  : Der kulturelle Aufstieg stand prinzipiell allen menschlichen Rassen offen, sei es auf dem Wege ei293 Bowler, Biology and Social Thought, S. 44–50. 294 Virchow, Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung, S. 206  ; ders., Anthropologie und prähistorische Forschungen, S. 576. 295 Ders., Ueber Erblichkeit, S. 347. Vgl. auch Smith, Politics and the Sciences of Culture, S. 65 f. 296 Virchow, Ziele und Mittel der modernen Anthropologie, v. a. S. 172. 297 Ders., Über Akklimatisation, S. 546 ff.; VBGAEU 19 (1885), S. 212 ff. Siehe auch ders., Akklimatisation und Kolonisation, in  : Die Nation, Nr. 34, 35 u. 39 vom 23.5., 30.5. u. 27.6.1885. 298 Ders., Ueber Akklimatisation, S. 545. Vgl. dazu auch Wolfgang U. Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus, Deutschland 1884–1945, Paderborn u. a. 1997, v. a. S. 74 ff.

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gener Entwicklung, sei es auf dem der kulturellen Überlieferung. Zugleich entschied sich Virchow jedoch nicht zwischen einem evolutionistischen und einem diffusionistischen Modell des kulturellen Fortschritts. Theoretisch erklärte er beide Optionen für möglich, solange noch keine ausreichenden empirischen Forschungen vorlägen  : »Warum sollte nicht, was ein Mensch erfindet, von hundert anderen in gleicher Weise erfunden werden  ? Und warum sollte nicht, was einmal erfunden ist, auf dem Wege der Ueberlieferung sich im Laufe langer Zeiträume zu allen Menschen verbreiten können  ?« So ging es Virchow zufolge »darum, die Merkmale zu ermitteln, an welchen die spontane Erfindung und die bloss traditionelle Mittheilung erkannt und unterschieden werden können«299. Allerdings besaß die Eigenart verschiedener Kulturen in diesem Modell keinen Eigenwert. Nur wer sich an die Spitze der modernen Kulturbewegung anschloss, an der – so ließe sich ergänzen – die Deutschen (unter Führung ihrer Naturwissenschaftler) vorne mitmarschierten, würde in der modernen Welt, an deren Einrichtung Liberale wie Virchow arbeiteten, eine Überlebenschance besitzen. Mit dem liberalen Menschenbild, wonach die individuelle Entwicklungsfähigkeit bei allen Menschen gleich sei, verband sich somit die Forderung nach Angleichung, und diese galt gleichermaßen nach außen für fremde Völker und Kulturen, aber auch nach innen, wie sich – in unterschiedlichem Ausmaß – an dem Verhältnis zu Katholiken, Polen und Juden zeigen lässt. Für den Liberalismus des 19. Jahrhunderts war dies insofern ein drängendes Problem, als er seine politischen Herrschaftsansprüche nicht zuletzt mit einem hegemonialen Kulturbegriff verband. So basierte der Kulturkampf gegen die katholische Kirche, den Virchow vor allem in den 1870er Jahren unterstützte, auf der Weigerung, kulturelle Differenz zu akzeptieren, sofern diese nicht einer nationalen ›Kultur des Fortschritts‹ untergeordnet wurde. Zugleich wurde Virchow jedoch durch die Erfahrung des Kulturkampfs deutlich skeptischer gegenüber dem Einsatz staatlicher Machtmittel, um nationale Homogenität und kulturelle Identität herzustellen. Dies zeigt sein Widerstand gegen die gewaltsame Germanisierungspolitik, welche die preußische Regierung seit den 1880er Jahren unter dem Vorzeichen einer inneren Kolonisation in den preußischen Teilen Polens in Gang zu setzen suchte und der er »eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem, was in den schlimmsten Zeiten des Kulturkampfes in Beziehung auf die Konfession geschehen« sei300, bescheinigte. 1886 erklärte Virchow im Preußischen Abgeordnetenhaus  : Die Frage, welche uns hier berührt, ist meiner Meinung nach eben die, ob wir berechtigt sind, von den Bürgern des deutschen Reiches, und speziell von den Bürgern unseres Königreichs Preußen zu verlangen, daß sie sich in allen Stücken als Deutsche verhalten. (…) ich halte es nicht für einen Ausdruck des Gefühles der Gerechtigkeit, wenn wir jetzt gewissermaßen es als die nächste Aufgabe der Deutschen bezeichnen, die Polen zu zwingen, gänzlich aus ihrer 299 Virchow, Anthropologie und prähistorische Forschungen, S. 572. 300 SBPAH, 58. Sitzung am 7.4.1886, S. 1718.

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Haut zu fahren und sich gänzlich soweit zu metamorphisieren, daß kein Mensch sie als Polen erkennen kann.301

Im Falle der Polen verteidigte Virchow somit das Recht auf kulturelle Differenz. Dabei setzte er zugleich die Bereitschaft zur Annahme bestimmter verbindlicher Kulturtechniken wie die Beherrschung der deutschen Sprache in Wort und Schrift voraus, die den Polen die aktive ökonomische, kulturelle und politische Teilnahme in der deutschen Gesellschaft ermöglichen sollte. Dagegen forderte er im Falle der Juden, die er gegen die von den Antisemiten geforderte Aufhebung ihrer bürgerlichen Gleichheit zu verteidigen suchte, die Überwindung kultureller Eigenarten, womit er an die Tradition des Projekts der »bürgerlichen Verbesserung der Juden« anschloss. So hielt er 1880 den antisemitischen Beschwerden über den ausgeprägten jüdischen Gruppengeist im Preußischen Abgeordnetenhaus entgegen  : (…) die schnellste Assimilation dieser Fremden ist das Rettungsmittel  ; je schneller wir sie ganz und gar germanisiren, je mehr wir alles wegräumen, was sie dazu bringt, sich gegenseitig stützen zu müssen, um so eher werden wir auch dahin kommen, jenes Gefühl der vollen Gleichheit zu erzielen, welches in anderen Staaten Europas in der That durchgedrungen ist.302

An Virchow treten so die Eigenarten der liberalen Position im Hinblick auf kulturelle Differenz und bürgerliche Gleichheit deutlich zutage  : Auch er verband mit der Forderung nach staatsrechtlicher Gleichheit der Juden die Erwartung der kulturellen Angleichung, d. h. der Aufhebung einer eigenen jüdischen Identität. Wird der Liberalismus so einerseits als eine Bewegung interpretiert, die eng mit der Emanzipation der Juden verknüpft ist, so wird andererseits auch eine innere Ambivalenz dieses Verhältnisses behauptet.303 Zum Teil geht dies so weit, einen inneren Zusammenhang zwischen Liberalismus und Antisemitismus zu behaupten, der vor allem auf die Nichtanerkennung der Differenz, d. h. der eigenen kulturellen Identität der Juden abhebt.304 Dies zielt auf die oft 301 Ebenda, S. 1724. 302 SBPAH, 20. Sitzung am 3.12.1880, S. 514. Siehe auch die Rede Virchows in  : Bericht über die allgemeine Versammlung der Wahlmänner aus den vier Berliner Landtags-Wahlkreisen am 12. Januar 1881 im oberen Saale der Reichshallen, Berlin 1881. 303 Vgl. dazu Werner E. Mosse, Deutsches Judentum und Liberalismus, in  : Das deutsche Judentum und der Liberalismus. Dokumentation eines internationalen Seminars der Friedrich-Naumann-Stiftung, SanktAugustin 1986, S. 15–21  ; George L. Mosse, Deutsche Juden und der Liberalismus. Ein Rückblick, in  : ebenda, S. 173–190  ; Norbert Kampe, Von der ›Gründerkrise‹ zum ›Berliner Antisemitismusstreit‹  : Die Entstehung des modernen Antisemitismus in Berlin 1875–1881, in  : Jüdische Geschichte in Berlin  : Essays und Studien, Berlin 1995, S. 85–100  ; Dieter Langewiesche, Liberalismus und Judenemanzipation im 19. Jahrhundert, in  : Peter Freimark u. a (Hg.), Juden in Deutschland, Hamburg 1991, S. 148–163. 304 Siehe Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992  ; Lawrence Rose, Revolutionary Antisemitism in Germany from Kant to Wagner, Princeton 1990  ; Daniel J. Gold-

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beschriebene Dialektik von jüdischer Emanzipation und modernem Antisemitismus,305 wobei die Urteile weit auseinandergehen, inwieweit der Liberalismus selbst als Teil des Entstehungszusammenhangs des Antisemitismus betrachtet werden kann. Die unterschiedlichen Bewertungen ergeben sich weniger aus der Anerkennung des sachlichen Zusammenhangs von jüdischer Emanzipation und Liberalismus, sondern vielmehr aus gegensätzlichen Ansichten über das Verhältnis von Minderheits- und Mehrheitskultur und speisen sich damit aus aktuellen Debatten über Universalismus und Relativismus von Werten und Kulturen. Am deutlichsten wird dies in den USA, wo die »neue Ethnizität« eine Vielzahl von Forschungen inspirierte, denen es in identitätspolitischer Absicht um die Verteidigung von »Differenz« geht. So lautet der Vorwurf an Virchow  – und damit zugleich an den Liberalismus insgesamt –, dass er sich unter dem Vorwand des Ziels der staatsbürgerlichen Gleichheit der gewaltsamen Aufhebung kultureller Differenz und damit der Infragestellung partikularer Identitäten schuldig gemacht habe. Umgekehrt wird jedoch ein anderer Vorwurf erhoben, wonach sich Virchow durch die Etablierung anthropologischer Praktiken, die der Identifikation von Rassenmerkmalen dienten, an der Verallgemeinerung von Techniken beteiligt habe, die der Feststellung solcher Differenz gedient hätten.306 Kritisiert wird also einerseits die Infragestellung und andererseits die Feststellung von Differenz. So sind diejenigen, die am entschiedensten gegen die Verwendung der Kategorie der »Rasse« argumentieren, oft auch dieselben, die für die Anerkennung des Eigenwerts von »Ethnie« eintreten. Dies resultiert daraus, dass zwischen den Kategorien der »Rasse« und der »Ethnie« ein strenger Gegensatz behauptet wird, der auf ersterer Seite lediglich »Biologie«, auf letzterer dagegen ausschließlich »Kultur« sieht. Doch ging der Begriff »Rasse« im Kaiserreich »nicht in seiner heute angenommenen rein biologischen Bedeutung« auf, sondern diente primär dazu, »komplexe historische und soziale Entwicklungen zu rationalisieren, sie den Anforderungen ihrer wissenschaftlichen Untersuchung entsprechend zu ordnen und zum Zwecke der allgemeinen Bildung ebenso wie der politischen Identitätsbildung zu gestalten«. So handelte es sich eher um einen historisch-politischen als um einen ausschließlich biologischen Begriff, der in vielem der heutigen Verwendung von »Ethnie« entspricht.307 Innerhalb des Rassendiskurses, auf dessen Boden sich auch hagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996  ; Salecker, Liberalismus und die Erfahrung der Differenz, S. 13–15 u. S. 392. 305 Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur ›Judenfrage‹ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975  ; ders., German Liberalism and the Emancipation of the Jews, in  : Leo Baeck Institute Year Book 20 (1975), S. 59–68  ; Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 22000. 306 Andrew Zimmerman, Anti-Semitism as Skill  : Rudolf Virchow’s Schulstatistik and the Racial Composition of Germany, in  : Central European History 32 (1999), S. 409–429  ; ders., Anthropology and Antihumanism, S. 135–146. 307 Geulen, Blonde bevorzugt, S. 162  ; vgl. auch Walter Benn Michaels, Race into Culture  : A Critical Genealogy of Cultural Identity, in  : Critical Inquiry 18 (1991/92), S. 655–685.

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Virchow bewegte, wurden somit grundsätzliche Probleme moderner Gesellschaften und insbesondere moderner Nationalstaaten verhandelt, die vor allem mit der Spannung von Gleichheitsversprechen und Differenzforderungen zu tun haben. 4.3.4 Blonde, Braune und Juden  : Die Schulkinderuntersuchung

Der umfassendste Versuch, den Nationalstaat im 19.  Jahrhundert mit Hilfe von Rassenkriterien zu erfassen, war die anthropologische Untersuchung von etwa 6,76 Millionen Schulkindern im deutschsprachigen Raum, welche die Deutsche anthropologische Gesellschaft seit 1876 unter Virchows Leitung durchführte. Diese inspirierte überdies einer Reihe ähnlicher Untersuchungen in anderen europäischen Ländern, darunter das cisleithanische Österreich, die Schweiz und Belgien, so dass sich die Gesamtzahl der untersuchten Schulkinder auf über zehn Millionen erhöhte.308 Die deutsche Schulkinderuntersuchung dient oft als Beleg dafür, dass Virchow und andere liberale Anthropologen den Versuch zurückgewiesen hätten, Rassenkonzepte in Geschichte und Politik einzuführen.309 Anderswo wird dagegen »die klassisch ideologiekritische Position einer funktionalen Einordnung des ›Wissens‹ in die politischen Positionen seiner Produzenten« umgedreht  : So habe Virchow den Rassendiskurs weitergeführt, indem er interveniert habe.310 Kritik an der traditionellen Einschätzung Virchows als Bollwerk gegen die Ausbreitung antisemitischer Stereotypen setzt überdies nicht nur an der Untersuchung von Diskursen und Ideologien an, sondern stützt sich auch auf die Analyse von Praktiken  : So habe die Schulkinderuntersuchung durch die Popularisierung anthropologischer Unterscheidungskriterien ein »stummes Wissen« verbreitet, und auf diese Weise seien Rassismus und Antisemitismus auch durch Virchow indirekt gefördert worden.311 Diese gewichtigen Einwände lassen sich jedoch ihrerseits kritisch diskutieren  : Zunächst einmal wirft das tendenziell fatalistische Argument, wissenschaftlichen wie intellektuellen Interventionen die Rolle der Diskurs-Komplizenschaft zuzuweisen, die Frage auf, welche Möglichkeit dann überhaupt existiert, aus einem solchen scheinbar unentrinnbaren Zusammenhang auszubrechen. Letztlich kollidieren bei diesem Konflikt unterschiedliche Auffassungen von »Diskurs«  : einerseits als potenzielles Medium 308 Kleinere Untersuchungen fanden darüber hinaus auch in England, Griechenland, Russland und schließlich auch in der italienischen Provinz Bologna sowie in Persien statt. Siehe Gesammtbericht über die von der deutschen anthropologischen Gesellschaft veranlassten Erhebungen über die Farbe der Haut, der Haare und der Augen der Schulkinder in Deutschland, erstattet von Rudolf Virchow, in  : Archiv für Anthropologie 16 (1886), S. 275–475, hier  : S. 284 f. 309 Vgl. z. B. Ackerknecht, Rudolf Virchow, S.  177 f.; Werner Kümmel, Rudolf Virchow und der Antisemitismus, in  : Medizinhistorisches Journal 3 (1968), S. 165–179  ; Weindling, Health, Race and German Politics, S. 48–59  ; Mosse, Geschichte des Rassismus, S. 113 ff.; Massin, From Virchow to Fischer. 310 Geulen, Blonde bevorzugt, S. 153 f. 311 Zimmerman, Anti-Semitism as Skill.

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kommunikativen Handelns, andererseits als eigentlicher Akteur, der durch die Sprecher hindurch spricht. Im Hinblick auf die Frage, was die Verallgemeinerung anthropologischer Praktiken bedeutete, müssen dagegen die aktive Rolle der Adressaten des damit verbundenen »stummen Wissens« und die damit verbundenen Aneignungsprozesse stärker berücksichtigt werden, um die Wirkungen im Hinblick auf die Geschichte des Antisemitismus und Rassismus beurteilen zu können. Diese Einwände zielen nicht darauf ab, Virchow im Folgenden einfach wieder unkritisch als eine Heldengestalt des AntiAntisemitismus einzusetzen. Vielmehr geht es darum, am Beispiel der Schulkinderuntersuchung einige Aporien der liberalen Abwehr von Rassismus und Antisemitismus im Kaiserreich auszuleuchten. Am Anfang der deutschen Schulkinderuntersuchung stand zum einen das kraniologische Interesse an der Verteilung der Lang- und der Kurzschädeligen und zum anderen die Politisierung dieser anthropologischen Frage nach dem deutsch-französischen Krieg  :312 1871 veröffentlichte der französische Anthropologe Armand de Quatrefages ein Buch über La race prussienne. In seiner Verbitterung über die deutsche Kriegsführung  – ein Urteil, das sich insbesondere auf die Bombardierung des Museums im Jardin des Plantes während der Belagerung von Paris stützte  – sprach er von einem von Deutschland gegen Frankreich geführten »Rassenkrieg« mit dem Ziel der Herrschaft über die lateinische Rasse. Zugleich bezeichnete Quatrefages die unter Preußens Führung durchgeführte deutsche Einigung als anthropologischen Irrtum, denn die Preußen seien eine Mischrasse vor allem finnischen Ursprungs, die sich gegenüber den übrigen Deutschen, einer überwiegend blonden Gruppe, als Fremde verhielten.313 Doch schon in den 1860er Jahren hatte sich Virchow für die Herkunft und Zusammensetzung der Germanen interessiert. Dies hing damit zusammen, dass die prähistorische Anthropologie in dieser Zeit den historischen durch einen rassenanthropologischen Germanenbegriff ersetzte und diesen zum neuen Leitbild erhob.314 Als Grundlage diente die Schilderung der Germanen aus Tacitus’ Germania, in der von hochgewachsenen, blonden, blauäugigen Gestalten die Rede ist. Schon in seinen 1849 veröffentlichten »Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie« hatte Virchow über die oberschlesischen »Wasserpolacken« geschrieben, dass zwar das Bewusstsein 312 Rudolf Virchow, Berichterstattung über die statistischen Erhebungen bezüglich der Farbe der Augen, der Haare und der Haut. Bericht über die 7. allgemeine Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zu Jena am 9. bis 12. August 1876, in  : CBDAG 7 (1876), H. 10, S. 91–102, hier  : S. 91–93. 313 Armand de Quatrefages, La race prussienne, Paris 1871, hier v. a. S. 5–8. Siehe dazu auch Rudolf Virchow, Ueber die Methode der wissenschaftlichen Anthropologie, in  : ZfE 4 (1872), S. 300–319  ; ders., Nachruf auf Quatrefages, in  : Die Nation 9 (1891/92), Nr. 17 v. 23.1.1892, S. 256–259. 314 Ingo Wiwjorra, Die deutsche Vorgeschichtsforschung und ihr Verhältnis zu Nationalismus und Rassismus, in  : Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871– 1918, München u. a. 1996, S. 186–207, hier  : S. 192.

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ihrer Nationalität zerstört sei, aber ihre ganze Erscheinung noch immer deutlich ihre Abstammung zeige  : »Ueberall findet man schöne Gesichter, lichte Haut, blaue Augen, blondes Haar, freilich frühzeitig durch Sorgen und Schmutz verändert, aber bei den Kindern häufig in seltener Lieblichkeit vorhanden.«315 Virchow wählte diese Merkmale, die er als »klassische Eigenschaften« der Germanen bezeichnete, zum methodischen Ausgangspunkt der Schulkinderuntersuchung, die her­ ausfinden sollte, »wie viel ist jetzt noch davon da  ?« Die zweite Frage war, wie es gekommen sei, »dass die klassischen Erscheinungen der Germanen sich mehr und mehr« verminderten. Vor dem Hintergrund seiner Überzeugung, wonach Rassen zwar nicht absolut, aber relativ stabile Gebilde seien, ging er der Hypothese nach, ob bei späterer Vermischung der aus gemeinschaftlicher Urquelle hervorgegangenen Rassen die eine Rasse die mächtigere wird, oder ob nicht wie bei den Tieren schließlich eine Rasse hervorgeht und die andere den Sieg davonträgt ohne irgendwelchen Kampf, ohne eigentliche Vernichtung der Individuen, sondern so dass die Deszendenz eine andere wird.

Es handelte sich somit für Virchow darum zu entscheiden, aus welcher Richtung die »braunen Leute« gekommen seien, die sich dann immer stärker mit der ursprünglich dominierenden Rasse vermischt hätten.316 Ausgehend von der Vorstellung unveränderbarer Rassen, sollte diese Untersuchung somit die einzelnen Bestandteile der in der Gegenwart anzutreffenden »Rassenmischung« identifizieren, d. h. die aktuellen Mischungsverhältnisse der Bevölkerung auseinanderdividieren. Die Anthropologie, so Virchow, könne »die zeitliche Aufeinanderfolge der lebenden Geschlechter mit Sicherheit nur an bestimmten Oertlichkeiten feststellen, indem sie gleichsam Schicht um Schicht eine Einwanderung nach der anderen (…) abschält, um endlich den Untergrund der Urbevölkerung bloss zu legen«317. Diese Suche nach einem ›Anfang‹ ähnelt in gewisser Weise der methodischen Vorgehensweise Heinrich Schliemanns, den Virchow bei seinen Grabungen zeitweise unterstützte. Schliemann räumte bekanntlich  – zum Entsetzen späterer Archäologen  – alle jüngeren Horizonte beiseite, um das ›ursprüngliche‹ Troja freizulegen. Virchow ging nun bei der Schulkinderuntersuchung von der Vorannahme aus, dass dort, wo wir die reinste blondhaarige, blauäugige und weißhäutige Bevölkerung finden, der allerreinste Typus, die Urgermanen seien, und da wo wir die meisten braunhaarigen, braunäugigen

315 Rudolf Virchow, Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie, in  : VA 2 (1849), S. 143–322, hier  : S. 151. 316 Ders., Ziele und Mittel der modernen Anthropologie, S. 177. 317 Ders., Anthropologie und prähistorische Forschungen, S. 573.

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und braunhäutigen anträfen, da müssten die Mongoloiden, oder, wenn Sie wollen, die turanische oder sarmato-slavische Bevölkerung sitzen.318

Bei der Wahl von Untersuchungsobjekten waren die Anthropologen in der Regel darauf angewiesen, dass ihre Untersuchungsobjekte einem disziplinierenden Zwang unterworfen waren. Bevorzugt handelte es sich, zumindest innerhalb Europas oder der europäischen Kolonien, um Insassen von Hospitälern und Gefängnissen, die derartige Messungen, wie Virchow registrierte, gelegentlich auch als »Ankündigung neuer Strafe« empfanden.319 Da es das preußische Militär ablehnte, Rekruten in Reihenuntersuchungen vermessen zu lassen, wichen die Organisatoren der Erhebung auf Schulkinder aus, wobei auch die Kultusministerien der deutschen Staaten oft erst nach mehr oder weniger langer Überzeugungsarbeit einwilligten.320 Auch die Untersuchung der Farbe der Haare, der Augen und der Haut, die, so die Hypothese, in einer Beziehung zur Verteilung der Schädelformen stehen würde, war zunächst eine Verlegenheitslösung beziehungsweise das Resultat eines methodischen »Verzweiflungsaktes«, da systematische Schädelsammlungen, wie die Anthropologen klagten, nicht vorhanden waren.321 So hatte am Anfang der Schulkinderuntersuchung der auf der Generalversammlung der Deutschen anthropologischen Gesellschaft in Schwerin im September 1871 gefasste Beschluss gestanden, eine Statistik der Schädelformen für ganz Deutschland vorzubereiten.322 Erst im Jahr darauf wurde auf Antrag Alexander Eckers beschlossen, ergänzend Körpergröße und Farbe der Haare und Augen zu untersuchen.323 Als Folge wurde Rasse von einer esoterischen Kategorie, die lediglich von Experten bestimmt werden konnte, zu einer exoterischen Kategorie, deren nunmehr äußerlich festzustellende Merkmale sich auch von Laien bestimmen ließen.324 Während die lange Schädelform einem blonden Typus zugeordnet wurde, sollte die kurze Schädelform mit einem brünetten Typus korrespondieren – diese Analogisierung übersetzte also tradierte Stereotypen in ein anthropologisches Untersuchungsdesign. Zunächst war geplant gewesen, mit Hilfe dieser Untersuchung die »blonden« und »braunen« Bezirke zu identifizie318 Ders., Berichterstattung über die statistischen Erhebungen, S. 93. 319 Siehe dazu etwa R. Virchow an Rose Virchow, 27.8.1874  : PLM, Greifswald, Slg. Rabl-Virchow, A II, Nr. 125. Siehe auch Virchow, Anthropologie und prähistorische Forschungen, S. 582. Aufschlussreich ist auch die Formulierung, mit der Virchow den Besuch einer Gruppe von Menschen aus dem Kilimandscharo-Gebiet mit ihrem Impressario im Berliner Anthropologischen Museum ankündigte  : »Er ist bereit, sie einer Photographierung zu unterwerfen. Würden Sie die Güte haben, das vorzubereiten u. aufzuführen  ?” (Virchow an Luschan, 27.5.1889  : StBB-PK, Nachlaß Felix von Luschan.). 320 Siehe dazu die Korrespondenz Virchows mit verschiedenen deutschen Ministerien in  : Nl Virchow, Nr. 2643. 321 Virchow, Berichterstattung über die statistischen Erhebungen, S. 93. 322 Siehe 2. allgemeine Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft 1871, S. 53. 323 Siehe 3. allgemeine Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte am 9.8.1872, in  : CBDAG 2 (1872), S. 511. 324 Zimmerman, Anti-Semitism as Skill, S. 412 f.

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ren und anschließend zu überprüfen, »in wie weit in dem einen oder andern dieser oder jener Schädel-Typus vorwiegt«325. Dass Schullehrer derartige Untersuchungen durchführen sollten, war insofern nicht ungewöhnlich, als die Anthropologie als noch im Aufbau befindliche Disziplin auch sonst gerne auf die Mithilfe von Laien zurückgriff. Um die Untersuchung methodisch zu vereinheitlichen, wurde Anfang des Jahres 1875 eine Instruktion verschickt. Als Untersuchungszweck benannte das Rundschreiben dasselbe Ziel, »welchem auch die Schule zustrebt«, nämlich die »Selbsterkenntnis«, bleibe doch »die Frage nach der Abstammung (…) immerdar ein wichtiges Glied in der Erforschung unseres natürlichen Wesens«326. Zugleich wurde hier die Vorgehensweise der Untersuchung festgelegt. Ursprünglich war vorgesehen gewesen, auch die Konfession mit zu erfassen, um damit die jüdischen Schulkinder, die als Quelle einer möglichen Verfälschung des Datenmaterials angesehen wurden, eigens ausweisen zu können. Dies hatte zu Protesten von katholischer Seite geführt, die hierin vor dem Hintergrund des Kulturkampfs den Anfang einer neuen Inquisition sah.327 Virchow rechtfertige demgegenüber diesen Schritt damit, man wolle lediglich vermeiden, dass der Gesichtspunkt, von dem man ausging, die Trennung der blonden und brünetten Rasse, dadurch gefälscht werde, dass das jüdische Element in vielleicht größerer Zahl irgendwo eingeschoben würde. Da die Juden hier nicht der Confession, sondern ihrer Origo nach als Nation unterschieden werden sollten, so fällt damit wohl jede gehässige inquisitorische Maassregel weg, die es als ungehörig erscheinen lassen könnte, in unsere Untersuchung die Religionsfrage einzumengen.328

Deshalb wurde die Frage nach der Religion wieder fallen gelassen und stattdessen festgelegt, dass die Juden als eine getrennte Kategorie aufzuführen seien und überdies zusätzlich auch die Hautfarbe erfasst werden solle. Virchow, der den Antisemitismus als verkappten religiösen Konflikt definierte und sich deshalb in politischen Auseinandersetzungen beharrlich weigerte, diesen innerhalb des Rassendiskurses zu behandeln, definierte hier die Juden nicht als Angehörige einer Religionsgemeinschaft, sondern einer Ethnie  : »Die Ausscheidung der jüdischen Schüler«, so das Rundschreiben an die Lehrer, habe »natürlich keinen Bezug auf ihre Religion, sondern nur auf ihre Abstammung«. Um 325 Rede Virchows auf der 6. Allgemeinen Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft 1875, S. 47. 326 Der Vorstand der deutschen anthropologischen Gesellschaft an die Lehrer der höheren Unterrichtsanstalten und der Volksschulen (Rundschreiben o.  Dat.)  : ABBAW, Nl Virchow, Nr.  2642. Der Text der Instruktion ist abgedruckt in  : Virchow, Gesammtbericht. – Zur Konzeption, Durchführung und Ausführung dieser Untersuchung unter praxeologischen Gesichtspunkten vgl. Zimmerman, Anti-Semitism as Skill. 327 Virchow, Gesammtbericht, S. 276. 328 Ebenda.

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aber festzustellen, wer in dieser Untersuchung überhaupt als Jude erfasst werden sollte, blieb weiterhin nur der Rückgriff auf das Merkmal der Religion,329 womit für dieses Problem schließlich dieselbe Lösung gefunden wurde, auf die 60 Jahre später auch die Nürnberger Gesetze zurückgriffen. Einschränkend hieß es dazu in dem Rundschreiben, dass bei der gegenwärtig hohen Zahl der Übertritte von Juden zum Christentum »der jetzige Stand des Religions-Bekenntnisses keine ausreichende Scheidung« gestatte, doch sei zu erwarten, dass das Gesamtergebnis dadurch nicht allzu stark betroffen werde. Auch im Kontext einer liberalen Anthropologie war also der Gedanke der physischen Besonderheit der Juden fest verankert, doch war diese dort nicht normativ belegt. Einzig die Hansestadt Hamburg weigerte sich, bei dieser zwangsweisen Reihenuntersuchung mitzuwirken, da es sich hier um einen Eingriff in die persönliche Freiheit handle, »welcher sich nicht mit den herkömmlichen Traditionen des Staates vertrage  ; diese Aufgabe könne nur im Wege der Privatthätigkeit gelöst werden«330. Dies lässt sich als Abgrenzungsversuch gegen preußische Hegemonie wie vielleicht auch als Ausdruck eines anderen Verständnisses von Liberalismus interpretieren.331 Ironischerweise stellte so lediglich die jüdische Talmudschule in Hamburg die gewünschten anthropologischen Angaben bereit  : Ein Oberlehrer an dieser Schule lieferte bereitwillig die von ihm 1876 erstellte anthropologische Tabelle der jüdischen Schulbuben für die Zwecke der Schulkinderuntersuchung.332 Dies bestärkt Zweifel an der Vermutung, dass diese Untersuchung in besonderer Weise Bedrohungsgefühle unter Juden hervorgerufen habe beziehungsweise ihnen »ihren Minderheitsstatus und ihre andere Herkunft bewusst gemacht haben«333 müsse. Eine solche Annahme setzt überdies voraus, dass ein solches Bewusstsein unter jüdischen Schulkindern vor der Untersuchung nicht vorhanden gewesen sei, was aller überlieferten Erfahrung widerspricht. Dass in Sachsen diejenigen Schulen, auf denen ausschließlich jüdische Schüler waren, von der Untersuchung ausgenommen wurden,334 spricht überdies dafür, die von den Initiatoren der Erhebung gegebene Begründung ernst zu nehmen, wonach es nicht darum gegangen sei, einen jüdischen Rassentypus zu bestimmen, sondern soweit wie möglich die »Reinheit« der übrigen Daten zu garantieren.335 In den meisten anderen Ländern wurden jü329 Siehe dazu ebenda, S. 329. 330 Zit. nach ebenda, S. 283 f. Virchow kommentierte die Ablehnung Hamburgs  : »(…) es wird für den künftigen Geschichtsschreiber eine Erinnerung mehr sein, wie inmitten einer solchen Arbeit die Caprice eines Staatsmannes genügt, um die besten Absichten auf Vollständigkeit zu kreuzen.« (Ebenda, S. 283.). 331 Zum Liberalismus in Hamburg vgl. Evans, Tod in Hamburg  ; sowie Jennifer Jenkins, Provincial Modernity. Local Culture and Liberal Politics in Fin-de-Siècle Hamburg, Ithaca 2003. 332 Virchow in VBGAEU 9 (1877), S. 40 f. 333 Mosse, Geschichte des Rassismus, S. 114. 334 Victor Böhmert, Die sächsischen Erhebungen über die Farbe der Haut, der Haare und der Augen der schulpflichtigen Jugend, in  : Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung, 23.11.1876. 335 Die Untersuchungen in der Schweiz und in Belgien scheinen auf die gesonderte Verzeichnung der Juden

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dische Schulkinder allerdings gesondert erfasst, was mit ihrer Funktion als statistische Kontrollgruppe im Rahmen dieser Untersuchung gerechtfertigt wurde.336 So ist aus heutiger Perspektive zwar bemerkenswert, dass eine Differenz von Juden und NichtJuden methodisch vorausgesetzt wurde, doch wurde diese keineswegs erst durch die Schulkinderuntersuchung hergestellt. Bezüglich der Frage, inwieweit die Schulkinderuntersuchung den Auftakt zu einer auch subjektiv empfundenen rassistischen Diskriminierung gab, fällt auf, dass diese Studie anscheinend weniger Juden als Katholiken verängstigte. Insbesondere Eltern im katholischen Oberschlesien und Westpreußen waren äußerst beunruhigt, und so berichtete Virchow seinen Fachkollegen 1875 sogar von »revolutionären Bewegungen, Weiberaufstände(n) und Tumulte(n) in großer Ausdehnung«. So sei dort das Gerücht entstanden, »dass ein preussischer Prinz mit einer Tochter des Sultans verheirathet und zu diesem Zwecke blondhaarige und blauäugige Kinder in die Hand der Schwarzen geliefert werden sollten, gleichsam um eine neue Race zu bilden«337. Solche Schilderungen bündelten die liberalen Vorbehalte gegen weibliche Katholikinnen, die ohnehin als notorische Fortschrittsfeinde angesehen wurden. Aber auch im »fortschrittlichen« Berlin wurde gelegentlich die zuletzt noch zusätzlich in den Fragenkatalog aufgenommene Unterscheidung nach Hautfarben als diskriminierend empfunden  : Denn obwohl die Initiatoren der Untersuchung ausdrücklich bestritten, dass mit ihrer Einteilung Wertungen verbunden seien, wurde die Einteilung nach »weißem« und »braunem« Typus von den Betroffenen sehr wohl in dieser Weise verstanden. So war es an Berliner Schulen, vor allem den höheren, »wiederholt vorgekommen, dass einzelne Schüler und Schülerinnen petitionierend eingekommen sind, sie doch noch von der braunen Liste abzusetzen. Indess«, so Virchows verständnislose Reaktion auf die hier sichtbar werdenden Auswirkungen des Alltagsrassismus, »wird sich diese Antipathie wohl überwinden lassen.«338 Neben solchem individuellen Protest existierten auch amtliche Formen der Subversion  : So war es in Bayern vorgekommen, dass die zuständigen Erhebungsorgane kurzerhand die Auskunft erteilten  : »In unserem Bezirke gehört Alles zur kaukasischen Race, hat also weisse Haut.«339 Umgekehrt gab es aber auch Zeichen kollektiver Zustimmung  : Die Berliner Victoriaschule sandte Virchow als Geschenk eine Sammlung mit Haarproben ihrer 700 Schülerinnen.340 verzichtet zu haben, während sie in Österreich mit besonderer Gründlichkeit erfolgte. Siehe dazu Virchow, Gesammtbericht, S. 374. 336 Geulen, Blonde bevorzugt, S. 154 f. 337 Protokoll der 6. allgemeinen Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft 1875, S. 90. 338 Ebenda, S. 54. 339 Zitiert nach dem Vortrag des Chefs des königlichen bayerischen statistischen Bureaus in München Mayr, ebenda, S. 54. 340 Protokoll der 6. allgemeinen Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft 1875, S. 55  ; Virchow auf der 4. Sitzung der 11. allgemeinen Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie,

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Insgesamt nahm die Ablehnung jedoch kein Ausmaß an, das die Durchführung des Projektes gefährdet hätte. Als 1886 schließlich ein Gesamtbericht vorgelegt wurde, waren insgesamt in Deutschland 6,76 Millionen, in Österreich 2,30 Millionen, in der Schweiz 0,41 Millionen und in Belgien 0,61 Millionen Schulkinder untersucht worden.341 Der Anteil der untersuchten jüdischen Schulkinder betrug in Deutschland 1,1 Prozent, d. h. in absoluten Zahlen 75.377. Insbesondere unter Mithilfe des von Ernst Engel geleiteten preußischen statistischen Landesamts wurden die Ergebnisse schließlich in Karten umgesetzt, in denen der jeweilige Anteil der »Blonden« und »Braunen« dargestellt wurde. Dazu mussten nach der für Deutschland zugrunde gelegten Berechnungsweise jeweils alle drei untersuchten Merkmale übereinstimmen, um einem der beiden »reinen« Typen zugeordnet zu werden, d. h. entweder blonde Haare, blaue Augen, helle Haut oder braune Haare, braune Augen, dunkle Haut. Alle übrigen wurden den »Mischformen« zugeschlagen. Zu Virchows Verdruss wurde die Typenbildung nicht in allen teilnehmenden Staaten gleich gehandhabt, d. h., nicht überall mussten alle drei Merkmale zusammenstimmen, um zu einem der beiden »reinen« Typen gezählt zu werden. Auf diese Weise war der jeweilige Anteil der »Blonden« und »Braunen« zwischen den verschiedenen nationalen Erhebungen nicht vergleichbar. Insgesamt gehörten nach dieser Zählung in Deutschland 31,80 Prozent dem blonden Typus, 14,05 Prozent dem brünetten Typus und 54,15 Prozent, d. h. mehr als die Hälfte, den »Mischformen« an. Die Ergebnisse schienen die Vorwürfe Quatrefages’ auf den Kopf zu stellen  : Der Anteil des blonden Typus nahm nach Süden und Westen hin deutlich ab. Darüber hinaus stellte Virchow fest, dass »der ethnologische Gegensatz« zu den jüdischen Schulkindern »bemerklich« sei  : »[D]as Verhältnis des blonden zum brünetten Typus ist bei den Juden gerade umgekehrt, mit noch gesteigerten Zahlenwerten.«342 So betrug der Anteil des blonden Typus unter den jüdischen Schulkindern nach diesen Berechnungen 11,17  Prozent, der des brünetten Typus 42,00  Prozent und derjenige der Mischformen 46,83 Prozent. Dabei hatte Virchow bereits nach den ersten Auswertungen als überraschendes Ergebnis formuliert, dass der Anteil der jüdischen Schulkinder mit blonden Haaren und blauen Augen wesentlich höher lag als es den Erwartungen entsprochen hatte  : »Nahezu 1/3 der jüdischen Schuljugend ist blond«343, hatte Virchow 1876 der Berliner anthropologischen Gesellschaft nach den ersten Auswertungen mitgeteilt. Es war die schon erwähnte Untersuchung der Hamburger jüdischen Schulkinder, die ihn schließlich zu der Beobachtung führte, dass die Augen ein genaueres Kriterium darstellten als die Haare  : »Denn während fast 1/3 der Knaben blonde Haare hatte, zeigten nur Ethnologie und Urgeschichte vom 5. bis 12. August 1880 in Berlin, in  : CBDAG 11 (1880), Nr. 9, 10, 11, S. 68. 341 Siehe zum Folgenden Virchow, Gesammtbericht, hier v. a. S. 298–410. 342 Ebenda, S. 298. 343 Ders., Über den Abschluss der Schulerhebungen in Betreff der Farbe der Augen, der Haare und der Haut in Preussen, in  : VBGAEU 8 (1876), S. 16–18, hier  : S. 17.

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wenig über 1/8 blaue Augen.«344 So hatte dieses Ergebnis möglicherweise auch Einfluss darauf, dass – anders als etwa in Belgien – der »blonde Typus« in Deutschland durch das Zusammentreffen der Merkmale blonde Haare, blaue Augen, helle Haut definiert wurde, was die Zahl der potenziell dazugehörigen Juden deutlich verringerte. Unaufgefordert hatte Oberlehrer Deckert aus Dresden, der die Untersuchung der Hamburger jüdischen Schulkinder vorgenommen hatte, auch noch die zusätzlichen Informationen mitgeliefert, »dass das von ihm bezeichnete Braun allgemein ziemlich dunkel war und dass die jüdische Nase, welche unter den Erwachsenen in Hamburg so typisch sei, auf dieser Alterstufe sich ganz selten, Prognathie (sci., Vorstehen des Oberkiefers) fast niemals finde«345. Damit stießen hier zwei unterschiedliche Konzepte im Umgang mit dem »jüdischen Körper« aufeinander  : Deckert fasste die Untersuchung in dem Sinne auf, dass es dabei um die Erfassung eines jüdischen Typus ginge. Ganz offensichtlich präsentierte er das im späten 19. Jahrhundert auftauchende Bild des »schwarzen Juden«, dessen Merkmale in seiner Mitteilung nahezu vollständig präsent sind  : dunkle Haut, jüdische Nase, Prognathie (als weitere Elemente umfasste dieses Stereotyp Kraushaare, dicke Lippen und Plattfüße)346. Auch unter den deutschen Anthropologen war die Auffassung verbreitet, wonach die Juden mit der »braunen Rasse« gleichzusetzen seien. Dies zeigte sich bei der Diskussion des Befundes, wonach der Anteil der »Braunen« in den Städten höher lag. Als Virchow dies 1875 auf der 6. Allgemeinen Versammlung der Deutschen anthropologischen Gesellschaft vortrug, provozierte dies Zwischenrufe  : »die Juden  !«. Virchow widersprach jedoch sofort der damit ausgedrückten Behauptung, wonach der Zuzug einer braunen, jüdischen Rasse auf dem Wege der Vermischung die Zahl der »Braunen« in den Städten erhöht habe  :347 Für ihn bewiesen die Ergebnisse zwar die Annahme, dass die Juden sich körperlich unterschieden, nicht aber einen »jüdischen Typus«. Vielmehr, so schloss Virchow aus den Ergebnissen der Untersuchung, fanden sich unter den Juden dieselben Typen wie unter Nicht-Juden, wenngleich sich diese anders verteilten. Die Juden waren damit für ihn ein  – aus verschiedenen Rassen zusammengesetztes  – Volk beziehungsweise eine Ethnie – ähnlich wie die Deutschen auch. Trug also die Schulkinderuntersuchung dazu bei, Juden durch rassische Stereotypisierung oder Stigmatisierung sichtbar zu machen  ? Es scheint, dass dieser Prozess ge344 Sitzung der BGAEU vom 10.2.1877, in  : VBGAEU 9 (1877), S. 41. 345 Ebenda. 346 Sander L. Gilman, Der »jüdische Körper«. Gedanken zum physischen Anderssein der Juden, in  : Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.), Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, Frankfurt a. M. 1995, S. 167–179, hier v. a. S. 167 ff.; ders., Einführung. Was sind Stereotype, und wie können Texte bei ihrer Untersuchung dienen  ?, in  : ders., Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Reinbek b. Hamburg 1992, S. 7–36, hier v. a. S. 25. 347 Rede Virchows auf der 6. allgemeinen Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft 1875, S. 78 f.

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rade umgekehrt verlief  : Das Wissen darum, wer Jude war oder nicht, bestand bereits vor dieser Untersuchung. Zugleich stellten weder die Untersuchungspraktiken noch die Ergebnisse der Auswertung Kriterien bereit, die eine Identifizierung von Juden anhand äußerer Merkmale ermöglicht hätten. Auch lässt sich nicht erkennen, dass sich der Fokus der Untersuchung im Verlaufe der Untersuchung mehr und mehr auf die Juden verschoben und sie als Rasse konstituiert hätte.348 Wie Virchow bei der Vorstellung des Abschlussberichtes nochmals betonte, kam es »nicht so sehr auf die jüdischen, als vielmehr auf die nicht jüdischen Theile der Bevölkerung an«349. So wurde in erster Linie die Unterscheidung zwischen »Blonden« und »Braunen« und nicht zwischen Juden und Nicht-Juden in die Körper der untersuchten Schulkinder ›eingeschrieben‹, womit jedoch gleichfalls alltagsrassistisch aufgeladene Kategorien wissenschaftlich befestigt wurden. Allerdings vergrößerte sich als ein Nebeneffekt der Schulkinderuntersuchung auch das Interesse an den somatischen Merkmalen der Juden  : Es scheint, dass die Daten über diese Bevölkerungsgruppe, die zunächst nur erhoben worden waren, um ›statistische Verunreinigungen‹ auszuschließen, im Verlauf der Untersuchung eine Eigendynamik entwickelten, d. h., ein genuines Forschungsinteresse begründeten, das sich auf die physische Besonderheit der Juden richtete. So schrieb Johannes Ranke, der Generalsekretär der Deutschen anthropologischen Gesellschaft, 1885 nach der abgeschlossenen Auswertung der Erhebung an Virchow  : »Darf ich Sie bitten, die Tabellen womöglich nicht aus der Hand zu lassen und sie mir seiner Zeit wieder zu zustellen, sie sind ja doch Eigenthum der d[eutschen] anthr[opologischen] Gesellschaft. Es liegt doch gewiss nicht im Interesse der Sache, die über die Juden gesammelten Thatsachen einfach zu vernichten.«350 Für eine Gesamtbewertung der Bedeutung der Schulkinderuntersuchung müssen also die Intentionen Virchows beziehungsweise seiner Mitarbeiter, die nichtintendierten Folgen der Untersuchung sowie der damit verbundenen Praktiken und schließlich die Rezeption des Materials wie der Ergebnisse der Studie auseinandergehalten werden. So stand diese Studie zwar »in ihrer rationalen Stoßrichtung (…) jenseits eines traditionellen Rassismus der Vorurteile«, doch machte sie »in genau dieser Art von ›Ideologiekritik‹ denjenigen, die nach einer wissenschaftlichen Begründung der Höherwertigkeit des Eigenen suchten« vor, »wie man sie ›wissenschaftlich gesichert‹ erreichen konnte«351. Beispielsweise stützten sich später Houston Stewart Chamberlain in seinen Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, aber auch etwa Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz in ihrem zeitweiligen Standardwerk über Menschliche Erblehre und Rassenhygiene empirisch auf Virchows Schulkinderuntersuchung, um damit ihre 348 So dagegen Zimmerman, Anti-Semitism as Skill, S. 424. 349 Virchow, Gesammtbericht, S. 374. 350 Johannes Ranke an Virchow, 9.1.1885, Druck  : Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 2, S. 372. 351 Geulen, Blonde bevorzugt, S. 160.

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jeweiligen Rassenkonzepte zu belegen, während sie zugleich seine Schlussfolgerungen verwarfen.352 Dagegen hatte Virchow bereits während der laufenden Untersuchung mehr und mehr Zweifel an der zugrunde liegenden Prämisse einer ursprünglichen einheitlichen germanischen Rasse entwickelt, die schließlich in eine allgemeine Unsicherheit über den Begriff der Rasse überhaupt und zuletzt in eine Grundlagenkrise der deutschen physischen Anthropologie einmündeten. Bereits eine 1874 nach Finnland unternommene anthropologische Forschungsreise Virchows, die unmittelbar an die Behauptung Quatrefages’ anknüpfte, wonach die Preußen-Deutschen ursprünglich von den Finnen abstammten, hatte sein Vorurteil über eine dort angeblich lebende kurzköpfige, kleinwüchsige und dunkle Bevölkerung erschüttert und zugleich die Gleichung ›germanisch ist gleich blond‹ in Frage gestellt.353 Auch der methodische Weg, ausgehend von der Frage nach den Schädelformen über die ›Verlegenheitslösung‹ der Untersuchung von Haar-, Augenund Hautfarbe schließlich wieder zurück zu den Schädelformen zu gehen, erwies sich schließlich als Sackgasse, als neue Forschungsergebnisse immer wieder die Hypothesen zertrümmerten. Nachdem sich gar Langköpfe in Reihengräbern, die lange als Germanen gehandelt worden waren, aufgrund von anderen Befunden als Slawen entpuppten, kam Virchow am Ende des Jahrhunderts, nach etwa vierzigjähriger Beschäftigung mit diesen Fragen, schließlich zu dem Ergebnis, »dass uns im Norden und Osten Deutschlands trotz aller Zeugnisse der klassischen Schriftsteller von der Bewohnung durch germanische Stämme das ›germanische Grab‹ abhanden gekommen ist«354. Den Versuch, Rassen anhand von Schädeln einzuteilen, erklärte er damit als gescheitert, auch wenn der »Schädel, als der Repräsentant des Kopfes und als Behälter des Gehirns, (…) immer seine hervorragende Bedeutung behalten (wird), so viel Verirrungen in der Deutung auch begangen werden«355. Aber man sei ebenso wenig in der Lage, einen »Germanenschädel« zu identifizieren, wie man den Typus eines »Judenschädels« 352 So schrieb etwa Houston Stewart Chamberlain  : »Wie rein die jüdische Rasse noch am heutigen Tage ist, hat Virchow’s grosse anthropologische Untersuchung sämtlicher Schulkinder Deutschlands ergeben, hierüber berichtet Ranke, Der Mensch, 2. Aufl., II, 293  : ›Je reiner die Rasse, desto geringer ist die Zahl der Mischformen. In dieser Hinsicht ist es gewiss eine sehr wichtige Thatsache, dass bei den Juden die geringste Zahl der Mischlinge angetroffen wurde, woraus sich ihre entschiedene Absonderung als Rasse den Germanen gegenüber, unter denen sie wohnen, auf das deutlichste zu erkennen giebt.‹« (Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, T.  I, München 91909, S.  385.) Siehe auch etwa Erwin Baur/Eugen Fischer/Fritz Lenz, Menschliche Erblehre und Rassenhygiene, Bd. 1  : Menschliche Erblehre, 4., neubearb. Aufl., München 1936, S. 297  : Auf Grundlage der mittlerweile bekannten Mendelschen Gesetze korrigierten sie die Zahlen der Blonden, wie sich sie in Virchows Schulkinderuntersuchung für Deutschland ergab, beträchtlich nach oben, da ein beträchtlicher Anteil an blondem Erbmaterial, das als rezessiver Faktor aufgefasst wurde, noch in der Bevölkerung verborgen sei. 353 Virchow, Berichterstattung über die statistischen Erhebungen, S. 93–95. 354 Ders., Rassenbildung und Erblichkeit, S. 24. 355 Ebenda, S. 26.

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festzustellen vermöge,356 hielt er den grassierenden diesbezüglichen Versuchen entgegen. Alternativ plädierte er in seinen späten Jahren für die Untersuchung kultureller Kriterien. Während viele andere Forscher die Germanen anhand sprachlicher Untersuchungen aufzuspüren gedachten, förderte er die Untersuchung materialer Überreste, insbesondere die Verbreitung bestimmter Haustypen, womit er einen relativ stabilen Indikator zur Verbreitung germanischer Stämme zu erhalten glaubte. Zugleich hoffte er auf diese Weise  – besonders bei der Altersbestimmung  – einen naturwissenschaftlichen Methodenzugriff beibehalten zu können.357 Vor allem aber ließ sich damit auch ein Konzept des menschlichen Fortschritts stützen, das auf kultureller Assimilation und nicht auf biologischer Entwicklung basierte, wie im Folgenden gezeigt werden soll. 4.3.5 Die Fermente des Fortschritts

Als ein Hauptergebnis der Schulkinderuntersuchung hoben Virchow, Kollmann und andere Exponenten der liberalen Anthropologie hervor, dass es sich bei den Deutschen, ebenso wie bei den Nachbarvölkern, überwiegend um Mischrassen handle. Die Zurückweisung des Versuchs, Nationsbildung mit den Mitteln der Ethnologie zu betreiben, indem Nationen mit Rassen gleichgesetzt wurden, untermauerten sie durch ihre Forschungsergebnisse, wonach alle europäischen Völker aus Rassenmischungen bestünden. »Das moderne Deutschland ist nicht das alte Germanien«358, folgerte Virchow aus seinen Untersuchungen. Stattdessen habe im Zuge des Aufstiegs auf der ›Spirale des Fortschritts‹ ständig eine Vermischung von Völkern beziehungsweise Rassen stattgefunden. Dabei unterschieden er und andere liberale Anthropologen zwischen Rassen und Völkern  : »Rasse«, so Kollmann 1883, bezeichne lediglich eine anatomische Variante des menschlichen Geschlechts, »Volk« dagegen eine ethnische Einheit, die aus einer anatomischen Vielheit von Rassen bestünde. »Ethnie« schließe daher »nur den Begriff politischer und socialer Verwandtschaft in sich, nicht auch den der Rassenreinheit«359. Ähnlich erklärte Virchow auf dem anthropologischen Kongress in Wien 1889  : Die Nationalitäten, die uns am nächsten berühren, die deutsche und die slavische, sind so zusammengesetzter Natur, dass heute noch kein Mensch sagen kann, von welchem Urstandpuncte aus sie sich zusammengesetzt haben. Ich kann nur vom Standpuncte der objectiven Wissenschaft aus erklären, dass sich bei den deutschen Stämmen ebenso grosse Verschieden356 Rudolf Virchow, Eröffnungsrede, in  : Bericht über die 27. allgemeine Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in Speyer vom 3. bis 7. August 1896, in  : CBDAG 27 (1896), Nr. 9, S. 75–84, hier v. a. S. 77–80. 357 Ders., Weitere Untersuchungen über das deutsche und schweizerische Haus, in  : VBGAEU  22 (1890), S. 553–558, hier v. a. S. 553 f. Vgl. dazu auch Ackerknecht, Rudolf Virchow, S. 186. 358 Ders., Ueber die Methode der wissenschaftlichen Anthropologie, S. 317. 359 Kollmann, Die Autochtonen Amerika’s, S. 24.

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heiten zeigen wie bei den slavischen, und dass Niemand sagen könne, von welchem Urstamme sich die Einzelnen zusammengefügt haben. (…) Vorläufig müssen wir mit Mischrassen arbeiten. Das ist der Grundzug, der uns ein wenig kühl von der Nationalität denken lässt. Unsere Aufgabe wird es sein, die Elemente der Mischungen bei verschiedenen Nationalitäten gerade zu fixieren.360

Was Virchow und andere liberale Anthropologen innerhalb des Rassendiskurses im 19.  Jahrhundert auszeichnete, war damit vor allem, dass die Vermischung von Rassen als positiv angesehen wurde361  – wobei die Feststellung der diesem Prozess zugrunde liegenden ursprünglichen ›reinen Rassentypen‹ bei ihnen immer mehr verschwamm. »Rasse« als Schlüsselbegriff einer humanistischen Fortschrittsutopie hatte sich schon 1848 im Rotteck-Welckerschen Staatslexikon362 und bei Julius Fröbel gefunden. Letzterer hatte damals die Auffassung vertreten, wonach der große Trieb der Geschichte nicht auf Absonderung, sondern auf Verschmelzung der Rassen gehe, bevor er sich in späteren Jahren unter Einfluss seiner Erfahrungen in den USA zum Sozialdarwinismus bekehrte.363 Auf einer solchen Gleichsetzung von Rassenmischung und kulturellem Fortschritt gründete auch die liberale Berliner Anthropologie ihr Verhältnis zur Rassentheorie. So argumentierte Adolf Bastian 1878, dass in der Völkergeschichte nicht das von Haeckel und anderen Darwinisten behauptete »Dictat einer allgemein fortschreitenden Entwicklung« gelte  : Das beherrschende Element der Völkergeschichte liegt eben in der geeigneten Völkermischung und den daraus hervorgehenden Resultaten, da der mit der Umgebung seines Milieus ins Gleichgewicht gelangte Stamm dort stabil verharren wird, wenn er nicht der geographischen Configuration seiner Heimath gemäss, in neue Berührung mit fremden Reizen gelangt, wodurch die Spirale für geschichtliche Entwicklung höher getrieben wird und meist in der vorhandenen Rasse neue Elemente absorbirt werden.

Nicht in der Abstammung, sondern in der Verwandtschaft sei damit die »Einheit der menschlichen Gesellschaft« gegeben, erklärte Bastian.364 Damit verband ihn mit Koll360 Germania, Nr. 180 vom 9.8.1889, »Ueber den Stand der Anthropologie und des Darwinismus«. 361 Dagegen argumentiert Christian Geulen, dass in Virchows Studie die »Unterscheidung zwischen Reinheit und Unreinheit« eine zentrale Rolle gespielt habe, die als »qualitative Bestimmung einer eigentlich bloß quantitativen Differenz« funktioniert habe. (Geulen, Blonde bevorzugt, S. 158.). 362 Siehe Georg Friedrich Kolb, Racen der Menschheit, in  : Carl von Rotteck/Carl Welcker (Hg.), Staats-Lexikon oder Encyclopaedie der Staatswissenschaften, Bd. 13, Altona 1842, S. 389–408, hier v. a. S. 408. 363 Conze, Rasse, S. 156  ; siehe auch Rainer Koch, Demokratie und Staat bei Julius Fröbel. 1805–1893. Liberales Denken zwischen Naturrecht und Sozialdarwinismus, Wiesbaden 1978. 364 Bastian, Abstammung und Verwandtschaft, S.  50 ff. Siehe dazu auch Smith, Politics and the Sciences of Culture, S. 107.

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mann und Virchow die Vorstellung, dass es nicht darum gehe, Stammbäume zu entwickeln, wie es Haeckel und andere Evolutionisten unternahmen, sondern die Bevölkerungsmischungen und die sich daraus ergebenden Verwandtschaftsverhältnisse zu untersuchen.365 Gegen die Absicht Quatrefages’, der 1870 mit seiner These, wonach die Preußen eine Mischung aus Slawen, Finnen und Borussen seien, die deutsche Einigung als anthropologischen Irrtum hatte diffamieren wollen, erklärte Kollmann 1883 auf Grundlage der Schulkinderuntersuchung  : Vielleicht wird man aber bei genauerer Untersuchung einsehen lernen, dass gerade in dieser starken Penetration der Rassen untereinander ein Vorzug liegt. Bringt doch jede Rasse ein bestimmtes Erbtheil nicht allein körperlicher, nein auch geistiger Eigenschaften als Vermögen mit in die Ehe. Und nachdem, wie nach einem Naturgesetz, die edleren Eigenschaften des Geistes allmählich die Oberhand gewinnen, so muss diese Penetration günstig wirken. Ferner ist es bekannt, dass nicht die Ehe unter Blutsverwandten, sondern diejenige unter Fremden die besser organisierten Nachkommen liefert. So ist es im Leben der Familien und im Leben der Völker. Ja man könnte den Satz mit guten Beispielen belegen, dass eine hohe Culturstufe von dem Grad der Rassenmischung abhängig ist.366

Kollmanns Ausführungen machen zum einen deutlich, dass auch die liberale Anthropologie Rassen als Träger spezifischer geistiger und kultureller Fähigkeiten betrachtete. Doch war dies zugleich mit einer Apotheose des Wettbewerbs und des Marktes als Ausleseprinzip und Motor des Fortschritts gekoppelt. In dieser harmonischen Vorstellung schlug sich das liberale Vorurteil nieder, wonach prinzipiell jeder gleiche Chancen zum Marktzugang besitze. Bereits 1863 hatte Virchow in einer Auseinandersetzung mit den Thesen Darwins argumentiert, Kasten und Zünfte seien überwunden, weil man endlich eingesehen habe, »dass der wirthschaftliche Verkehr in vollkommenerer Weise die befähigten Personen zur Geltung gelangen lässt, als das Erbrecht. Die ausgezeichneten Familien sind ausgestorben, nachdem von Geschlecht zu Geschlecht eine fortschreitende Verschlechterung der Personen eingetreten war.«367 Damit wurden zugleich die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft mit Grundsätzen der biologischen Vererbung begründet. Im Gegensatz zur liberalen und soziallamarckistischen Fortschrittsphilosophie Herbert Spencers, die in ähnlicher Weise den Markt als Motor eines auf indi-

365 Siehe dazu insbesondere Kollmann, Die Autochtonen Amerika’s, hier v. a. S. 8 f. – In seiner Rede auf der Naturforscherversammlung 1873 in Wiesbaden erklärte Virchow mit Bezug auf Haeckel  : »Vorderhand sind diese Stammbäume sämtlich spekulative Arbeit. Wer uns lehrt, aus einem Spaltpilz einen Schimmelpilz zu züchten, der wird mehr getan haben als alle Heraldiker des Stammbaums der Menschen.« (Virchow, Ueber den Transformismus, S. 298.). 366 Kollmann, Die Autochtonen Amerika’s, S. 32 f. 367 Virchow, Ueber Erblichkeit, S. 352.

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vidueller Selbstverbesserung beruhenden Fortschritts betrachtete,368 waren aber für Virchow und die Berliner Anthropologie biologischer und kultureller Fortschritt nicht miteinander verbunden. Dieser liberale ›rassische Kosmopolitismus‹ schleppte jedoch Rassenstereotypen mit sich, die seinem methodischen Anspruch widersprachen, unvoreingenommene Tatsachen herstellen zu wollen. So vermied Virchow zwar einerseits, äußere Merkmale mit inneren Eigenschaften zu verknüpfen. Deshalb distanzierte er sich auch von den kriminalanthropologischen Bemühungen Cesare Lombrosos, von bestimmten physiognomischen Eigentümlichkeiten, die sich besonders häufig bei Verbrechern und »Naturvölkern« fänden, auf eine kriminelle Natur zurückzuschließen, und bezeichnete diese als »reine Karikatur der Wissenschaft«369. Lombrosos Theorien widersprachen sowohl Virchows Auffassung, wonach der Mensch Produkt äußerer Umstände sei, was ihn bereits 1848 gegen die Todesstrafe hatte eintreten lassen,370 als auch seiner Auffassung, dass »Naturvölker« gleichermaßen bildungsfähig seien wie »Kulturvölker«. Andererseits hing Virchow aber trotz aller immer wieder zum Ausdruck gebrachten Skepsis gegenüber dem Herumspuken des »Urgermanen«371 in anthropologischen Diskussionen selbst dem Stereotyp des »Germanen« und damit Elementen einer Rassenmythologie an.372 So beschrieb er seinen 1892 verstorbenen französischen Kollegen Quatrefages, dessen Thesen einen wichtigen Impuls für die Organisation der Schulkinderuntersuchung gegeben hatten, in einem Nachruf in folgender Weise  : »[S]eine Statur war groß und kräftig, seine Bewegungen gemessen, seine Complexion hell, ja seine blauen Augen ließen die Frage aufkommen, ob er nicht von jenen germanischen Völkern abstamme, welche zur Zeit der Völkerwanderung auch die alte Narbonensie eingenommen hatten.«373 Die bei Tacitus beschriebenen Germanen blieben ein festes Element in Virchows Vorstellungswelt. Die Suche nach Rassenelementen in der vielbeschworenen modernen europäischen Völkermischung verband er zugleich mit historischen Prozessen wie der Staatsbildung. Virchow schloss dabei an die Metaphorik Theodor Mommsens an, der 1880 in seiner Auseinandersetzung mit dem Berliner Historiker Heinrich von Treitschke geschrieben hatte, dass die Juden, »wie einst im römischen Staat, ein Element 368 Peter J. Bowler, Herbert Spencers Idee der Evolution und ihre Rezeption, in  : Engels (Hg.), Rezeption von Evolutionstheorien, S. 309–325. 369 Rudolf Virchow, Ueber Criminalanthropologie, Rede in der 3. Sitzung der 27. allgemeinen Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in Speyer vom 3. bis 7. August 1896, in  : CBDAG 27 (1896), Nr. 11, 12, S. 157–162, hier  : S. 162  ; siehe auch die Erwiderung von Cesare Lombroso, Virchow und die Kriminalanthropologie, in  : Die Zukunft 16 (1896), S. 391–396. 370 Rudolf Virchow, Die öffentliche Gesundheitspflege, in  : MR, Nr. 7 vom 18.8.1848, S. 37. 371 Siehe dazu vor allem Virchows Eröffnungsrede auf der 27. allgemeinen Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft in Speyer 1896. 372 Vgl. auch Massin, From Virchow to Fischer, S. 100. 373 Virchow, Nachruf auf Quatrefages.

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der nationalen Dekomposition, so in Deutschland ein Element der Dekomposition der Stämme« seien.374 Mommsen sprach den Juden eine wichtige Rolle im Nationsbildungsprozess zu, da sie den notwendigen Abbau von Stammesloyalitäten beschleunigten und auf diese Weise den Integrationsprozess beförderten. In einem ähnlichen Gedankengang pries Virchow die einst während der Völkerwanderung auf die iberische Halbinsel gelangten »germanische(n) Elemente« als Fermente der dortigen Staatsbildung  : Diese Gebiete sind jetzt von einer Mischrasse eingenommen, und auch wir haben unseren Teil dazu beigegeben  ; auch die Westgoten sind verschwunden in Spanien, ohne dass ein Rest von ihnen übriggeblieben wäre, sie stecken mit darin, sie haben ihr geistiges Kapital für die Entwicklung geliefert, und die besseren heutigen Spanier erkennen mit Dank an, dass ein grosser Teil ihrer inneren staatsbildenden Tätigkeit auf diese deutschen Elemente zu beziehen ist.375

Als solche ›Fermente des Fortschritts‹ bezeichnete Virchow aber auch die Hugenotten und die aus Polen und Russland nach Deutschland kommenden Juden  : »Sie (sci., Die Hugenotten) sind germanisiert, wie die zahllosen Juden, welche wir zu einem beträchtlichen Theile aus Polen und Russland aufnehmen, und von denen wir nie in Abrede gestellt haben, dass auch sie ein mächtiges Ferment der fortschreitenden Cultur für uns geworden sind.«376 Für die liberalen Anthropologen bildeten Rassenunterschiede somit kein Hindernis für kulturelle Assimilation,377 sondern im Gegenteil die Voraussetzung des kulturellen Fortschritts. Virchow vertrat im Rahmen der von ihm maßgeblich gestalteten liberalen Anthropologie den universalen Anspruch, wonach prinzipiell alle Menschen am Fortschritt der Menschheit teilhaben könnten. Doch stand er zugleich für liberale Tendenzen, kulturelle Differenzen einem Homogenitätsanspruch zu unterwerfen, der durch das liberale Bildungskonzept eingelöst werden sollte. »Humanität« war damit nicht Voraussetzung, sondern Ziel eines Prozesses, dessen Träger Kultur und Wissenschaft waren. Die europäischen »Kulturnationen« wurden dabei zugleich als Produkte vielfältiger Verwandtschaftsbeziehungen angesehen, womit das liberale Konzept des kulturellen Fortschritts durch Rassenmischung verbunden war. Dieses wurde allerdings gegen Ende des 19. Jahrhunderts sowohl aufgrund theoretischer Schwierigkeiten als auch unter Einfluss 374 Theodor Mommsen, Auch ein Wort über unser Judentum, Berlin 1880, hier zit. nach Abdruck in  : Adelheid Mommsen, Mein Vater. Erinnerungen an Theodor Mommsen, München 1992, S. 160–183, hier  : S. 169 f. 375 Rudolf Virchow, Über Akklimatisation, S.  546. Vgl. dazu auch die Rede Theodor Mommsens zur Feier des Geburtstages des Kaisers am 19.3.1885, Sitzungsberichte der K. P. Akademie der Wissenschaften 1885, S. 215–223, Nachdruck  : A. Mommsen, Mein Vater, S. 143–159. Diese Rede zielte gleichfalls darauf ab, vor der räumlichen Expansion des Deutschen Reiches zu warnen und bediente sich dabei ebenfalls der Lehren aus der Geschichte der Westgoten. 376 Virchow, Ueber die Methode der wissenschaftlichen Anthropologie, S. 317. 377 Massin, From Virchow to Fischer, S. 90.

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einer verschärften nationalistischen und imperialistischen Prägung des biologischen Diskurses mehr und mehr an den Rand gedrängt.378 Das Dilemma der von Virchow repräsentierten liberalen Anthropologie am Fin de Siècle bestand somit darin, dass sie die Kriterien verloren hatte, um den Begriff der »Rasse« bestimmen zu können, zugleich aber das Stereotyp ›ursprünglicher‹ Rassen weiter mitschleppte. Dies war umso bedeutsamer, als dem liberalen Modell des ›Fortschritts durch Rassenmischung‹ in der Zwischenzeit starke Konkurrenz erwachsen war  : Zum einen wurden Degenerationstheorien immer populärer, die, wie beispielsweise bei Gobineau, die Vermischung ursprünglich reiner Rassen als einen negativen Prozess ansahen. Zum anderen wurden Auffassungen einflussreicher, wonach die »höheren Rassen« als erst im Werden begriffen wurden. Beispiele dafür fanden sich sowohl – etwa bei Ploetz und Bölsche – in einer eugenischen379 als auch – etwa bei Chamberlain – in einer holistischen Variante. Letzterer kritisierte in seinen 1899 erschienenen Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts am Beispiel einer Studie Felix von Luschans über die ethnographische Stellung der Juden das von diesem ausdrücklich begrüßte völlige »Ineinandergehen und Verschmelzen« der verschiedenen Menschenrassen  :380 Man traut seinen Augen und Ohren nicht, sobald diese Herren aus der Schule Virchow’s von Thatsachen zu Gedanken übergehen. Die gesamte Geschichte der Menschheit zeigt uns ihren Fortschritt an progressive Differenzierung und Individualisierung gebunden  ; Leben und Streben finden wir nur dort, wo scharf charakterisierte Volkspersönlichkeiten im Kampfe nebeneinander stehen (…).381

Zugleich verurteilte Chamberlain Virchows 1893 gehaltene Berliner Rektoratsrede, in der dieser den Antisemitismus verurteilt und als »mystische Bewegung« bezeichnet ­hatte.382 378 Dies steht im Zusammenhang der Frage, inwieweit es um die Jahrhundertwende zu einem Bruch mit der liberalen Anthropologie kam. Den scharfen Bruch betonen Proctor, From Anthropologie to Rassenkunde  ; Massin, From Virchow to Fischer  ; Weindling, Health, Race and German Politics  ; Smith, Politics and the Sciences of Culture  ; dagegen relativiert Zimmerman, Anthropology and Antihumanism, die Schärfe dieser Zäsur. 379 Die Eugenik muss man jedoch nicht in jedem Falle als radikalen Bruch mit liberalen Traditionen ansehen, war diese doch mit verschiedenen politischen Weltbildern vereinbar  : Unter liberalen Vorzeichen blieb die eugenische Entscheidung eine individuelle Sache des Einzelnen, im Gegensatz zu solchen Modellen, die diese einem übergeordneten Kollektiv übertrugen. 380 Siehe Felix von Luschan, Die anthropologische Stellung der Juden, Vortrag in der 2. Sitzung der 28. allgemeinen Versammlung der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in Ulm vom 1. bis 3. August 1892, in  : CBDAG 23 (1892), Nr. 9, 10, S. 94–100, hier  : S. 100. 381 Chamberlain, Grundlagen des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 375. 382 Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter. Rede am 3. August 1893 in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehalten von dem derzeitigen Rector Rudolf Virchow, Berlin 1893, S. 30.

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Rasse, so Chamberlain, lasse sich nicht empirisch messen, sondern lediglich intuitiv erfassen.383 Doch hing auch Virchow, der den Rassenantisemitismus als Aberglauben und Atavismus zurückwies, einem solchen intuitiven Rassenbegriff an, insofern er zwar einerseits die Unmöglichkeit hervorhob, Rassen empirisch nachzuweisen, andererseits aber am Stereotyp des Urgermanen festhielt. Der Rassendiskurs des 19. Jahrhunderts erwies sich damit als eine gemeinsame Grundlage für unterschiedlichste wissenschaftliche und politische Schlussfolgerungen. Bei Virchow, der einen »biologisch erweiterten Kulturbegriff« vertrat, welcher biologische Prozesse »als Funktion der kulturell-historischen Entwicklung bestimmte«384, waren »Vererbung« und »Verbesserung«  – und damit der Fortschritt der Menschheit – in ein liberales Konzept der »Bildung« und des »Wissens« einbettet, mit dem sich der nächste Abschnitt beschäftigen wird.

4.4 Wissen und Bildung

»Liberalismus als Weltanschauung und Lebenshaltung«, so Dieter Langewiesche, »wurde vor allem mit Hilfe von Bildung definiert.«385 Vor dem Hintergrund der liberalen Grundannahme des durch Erziehung entwicklungsfähigen, rationalen Individuums gehörten im liberalen Denken bereits seit dem letzten Drittel des 18.  Jahrhunderts politischer Fortschritt und geistige Aufklärung eng zusammen. Die Bildung von Individuen sollte dabei helfen, die latente Vernunft der Gesellschaft zu entfalten, und war so ein Eckstein der meisten liberalen Reformprogramme.386 Wurde Bildung für den Liberalismus »ganz im emphatischen Sinne von Aufklärung und Neuhumanismus als Persönlichkeitsbildung verstanden«387, hoben demokratische Bildungskonzeptionen stärker auf die Funktion von Bildung als Speerspitze des sozialen Strukturwandels ab.388 Bildung war somit zugleich Ziel individueller Entwicklung und Mittel zur Verwirklichung politischer Visionen in der Tradition der Philosophie der Aufklärung. Ein zentrales Merkmal liberaler Bildungskonzeptionen ist der enge Zusammenhang von Bildung und politischer Partizipation, der im europäischen Gesamtkontext im Verlauf des 19.  Jahrhunderts allerdings zunehmend problematisch wurde.389 So wird mit 383 Chamberlain, Grundlagen des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 264–275. 384 Geulen, Blonde bevorzugt, S. 168. 385 Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 161  ; vgl. auch Sheehan, Der deutsche Liberalismus, S. 21– 25  ; Jan Palmowski, Urban Liberalism in Imperial Germany. Frankfurt a. M., 1866–1914, Oxford u. New York 1999, S. 147–151. 386 Smith, Politics and the Sciences of Culture, S. 22–26. 387 Gangolf Hübinger, Liberalismus und Individualismus im deutschen Bürgertum, in  : Zeitschrift für Politik 40 (1993), S. 60–78, hier v. a. S. 67. 388 Koch, Demokratie und Staat bei Julius Fröbel, hier v. a. S. 105. 389 Pierre Rosanvallon, Le moment Guizot, Paris 1985, S. 13 ff. u. 242.

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Blick auf Deutschland vielfach argumentiert, dass die liberale Bildungsidee zwar zunächst die Ausweitung politischer Partizipation intendiert, sich davon aber im letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts mehr und mehr verabschiedet habe. So sei der Liberalismus insbesondere mit den Folgen der zunehmenden Fundamentalpolitisierung und der Entstehung der »Massengesellschaft« kaum zurechtgekommen. Nach dem Scheitern der nach der Jahrhundertmitte aufblühenden, besonders auf Handwerker zielenden integra­ tiven Bildungsideologie habe Bildung für den Liberalismus am Ende des Kaiserreichs in erster Linie nur noch als wahlpolitisches Defensivinstrument gedient.390 Andere Interpretationen heben demgegenüber hervor, dass seit den 1890er Jahren liberale Neuansätze zur Gesellschaftsreform mit Hilfe von Bildung entstanden seien, die sich nicht in lediglich defensiver Weise mit den entstehenden Realitäten der modernen »Massengesellschaft« auseinandergesetzt hätten. In dieser »erneuerten Bildungsideologie« der »liberalen Revisionisten« sei ein »wiedererstarktes liberales Selbstbewusstsein« zum Ausdruck gekommen.391 Im Zuge dieser »kulturellen Wende« des Liberalismus seien ästhetische Erziehung und Kulturarbeit zur Grundlage einer neuen Strategie geworden, Gesellschaft durch nicht-politische Mittel zu reformieren.392 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Rolle der Naturwissenschaften bei diesen Veränderungen der liberalen Bildungsidee. Welche Bedeutung besaß die Ordnung des Wissens, wie sie von liberalen Naturwissenschaftlern wie Virchow im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, und welche kulturellen Ansprüche vertraten die Naturwissenschaften im Kontext der liberalen Bildungsidee  ? Resultierten daraus Konflikte mit den konkurrierenden Ansprüchen der Geistes- und Kulturwissenschaften  ? Und in welcher Weise verlief schließlich die Auseinandersetzung mit der entstehenden modernen »Massengesellschaft« im Rahmen der naturwissenschaftlichen Bildungsidee  ? Der folgende Abschnitt untersucht deshalb zunächst die Rolle Virchows in der Auseinandersetzung um die kulturelle Bedeutung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert sowie die damit verbundenen Grenzkonflikte um die Ordnung des Wissens.

390 So pointiert Dieter Langewiesche, Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19.  Jahrhundert, in  : Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 4  : Politischer Einfluss und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 95–121, hier  : S. 113  ; vgl. auch ders., Liberalismus in Deutschland, S. 161  ; Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt  a.  M. u. Leipzig 1994, hier v. a. S. 11–15. 391 Hübinger, Hochindustrialisierung und die Kulturwerte, S. 204. 392 Jenkins, Provincial Modernity  ; dies., The kitsch collections and The Spirit in the Furniture  : Cultural Reform and National Culture in Germany, in  : Social History 21 (1996), S. 123–141. Während Hübinger und Jenkins zwar beide die auf »Kultur« abhebende Revitalisierung des Liberalismus um die Jahrhundertwende betonen, unterscheiden sie sich jedoch in der Einschätzung der Tragweite dieser Bemühungen. Hübingers Sicht läuft dabei auf eine Scheinblüte hinaus, während Jenkins in stärkerem Maße der im Hinblick auf den Liberalismus vielfach verbreiteten Niedergangsperspektive widerspricht.

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4.4.1 Naturwissenschaft und liberale Wissensgesellschaft

Einen zentralen Zugang zum Selbstverständnis der Naturwissenschaftler im 19.  Jahrhundert als auch zu der Art und Weise, wie diese das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Gesellschaft wahrnahmen, bietet jener Diskurs, der sich um die auf den englischen Naturforscher und Politiker Francis Bacon zurückgehende These »Wissen ist Macht« organisierte. Dieser Diskurs besaß seinen institutionellen Ort vor allem in der seit 1822 jährlich stattfindenden Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte. Bereits 1847 schrieb Virchow  : »Erst eine genaue Kenntnis der Bedingungen des Lebens der Einzelnen und des Lebens der Völker wird es möglich machen, die Gesetze der Medicin und der Philosophie als allgemeine Gesetze des Menschengeschlechtes geltend zu machen, und erst dann wird der Spruch ganz erfüllt sein  : Scientia est potentia  !«393 Solche expliziten Machtansprüche der Naturwissenschaften, die sich auf einen vorgeblich privilegierten Zugang zur Wirklichkeit stützten, traten seit den fünfziger Jahren zugunsten einer »realpolitischen« Haltung zurück. Neben Hermann Helmholtz und Emil du Bois-Reymond zählte Virchow zu den wichtigsten Exponenten der aus postrevolutionärer Desillusionierung über die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse auf direktem Wege erwachsenen Ideologie einer »zivilisierenden Macht der Naturwissenschaft«. Im dritten Viertel des 19.  Jahrhunderts gediehen somit starke Erwartungen, dass die modernen Naturwissenschaften nicht allein in utilitaristischer, sondern auch in ästhetischer, sozialer und politischer Hinsicht relevant seien. Die Vertreter dieser Ideologie hofften, dass der weitere Fortschritt der Naturwissenschaften dazu führen würde, liberale Grundsätze in der deutschen Gesellschaft und Politik durchzusetzen.394 In seiner Antrittsrede als Prorektor der Universität Heidelberg erklärte Helmholtz 1862, ein wichtiger Aspekt von »Wissen ist Macht« bestehe in dem durch die Naturwissenschaften verkörperten befreienden Prinzip, das aus ihrer Fähigkeit resultiere, die allgemeinen Gesetze der Natur zu enthüllen und damit die Autorität des eigenen Verstandes zu stärken. Während Helmholtz aber noch die kulturelle Deutungsmacht der Geisteswissenschaften anerkannte und die Bedeutung der Naturwissenschaften in erster Linie aus ihrer Rolle bei der Naturbeherrschung ableitete,395 erklärte Virchow nach dem 393 Rudolf Virchow, Ueber die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin (1847), (Gelesen in der Jahressitzung der Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin zu Berlin am 5.12.1846). Druck  : RVSW, Bd. 4, Abt. I  : Medizin, Bern 1992, S. 13–24, hier  : S. 15. 394 David Cahan, Helmholtz and the Civilizing Power of Science, in  : ders. (Hg.), Hermann von Helmholtz and the Foundation of Nineteenth-Century Science, Berkeley u. a. 1993, S. 559–601. Vgl. dazu auch Arleen Garcia Tuchman, Science, Medicine, and the State in Germany  : The Case of Baden, 1815–1871, New York u. Oxford 1993  ; Lenoir, Soziale Interessen  ; Pierangelo Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 41–69. 395 Hermann von Helmholtz, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaf-

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deutschen Sieg über die französischen Armeen auf der Naturforscherversammlung in Rostock 1871  : Ich, meine Herren, lege nun freilich einen höheren Werth, als auf diese mehr materielle Seite, auf die ideelle Seite des Fortschritts, welche die Naturwissenschaften anbahnen, und ich frage mich immer wieder, sowohl als Naturforscher, als auch als Politiker  : welchen Einfluss wird und muss in Zukunft die Naturwissenschaft auf das ideelle Leben der Nation ausüben  ?396

Hatten viele Zeitgenossen den deutschen militärischen Triumph über Frankreich gleichermaßen auf die Erfolge der Technik wie des Bildungswesens zurückgeführt, so behauptete Virchow in beiderlei Hinsicht einen entscheidenden Beitrag der Naturwissenschaften und versuchte damit, ähnlich wie andere deutsche Naturwissenschaftler, einen Anteil an der Siegesdividende zu sichern. Von einem gleichberechtigten, arbeitsteiligen Verhältnis zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, wie noch bei Helmholtz, war hier nicht mehr die Rede. Vielmehr sei die Naturforschung mit ihren Sprösslingen Technik und Medizin, so Virchow 1873, »in alle Gebiete eingedrungen  ; sie gestaltet alle anderen Wissenschaften um, sie beherrscht unser ganzes Familien- und Staatsleben. Sie herrscht nicht blos in Fabrik, Werkstätte und Küche, sondern auch in der Kriegsführung und Diplomatie, in der Kunst und im Handel  : – sie herrscht überall  !«397 Die kulturelle Bedeutung der Naturwissenschaften begründete Virchow zudem durch sein Modell der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, indem er von einem Wechselverhältnis beider ausging. Als ein weiterer Partner in diesem Bündnis fungierte der Protestantismus, während dem Katholizismus die Rolle des Gegenspielers zugewiesen wurde. Die anti-katholischen Affekte des protestantisch geprägten deutschen Bildungsbürgertums im 19.  Jahrhundert bündelten sich in den Schlachtrufen »Canossa« und »Galileo« (alternativ auch »Giordano Bruno«), die Virchow in seinen öffentlichen Reden immer wieder aufgriff. Der angeblich wissenschaftsfeindlichen Haltung des Katholizismus, die er vor allem mit dem Beispiel Österreich zu belegen suchte, stellte er den »Geist der protestantischen Forschung, der Forschung ohne Autorität« gegenüber.398 So seien die deutschen Städte in der Neuzeit Träger von Freiheit und Wissenschaft geworden, nachdem die von der katholischen Kirche garantierte mittelalterliche Einheit des Denkens gesprengt worden sei  : ten (1862), in  : ders., Vorträge und Reden, 2 Bde., Braunschweig 51903, Bd. 1, S. 158–185, hier v. a. S. 179– 183  ; vgl. dazu auch du Bois-Reymond, Culturgeschichte und Naturwissenschaft, S. 247 f. 396 Virchow, Über die Aufgaben der Naturwissenschaften im neuen nationalen Leben Deutschlands, S. 77. 397 Ders., Glaubensbekenntnisse eines modernen Naturforschers, S. 8. 398 Ders., Die Jubelfeier der Wiener Universität, in  : VA 34 (1865), S. 1–11, hier  : S. 8. Siehe auch ders., Über die nationale Entwickelung und Bedeutung der Naturwissenschaften. Rede gehalten in der zweiten allgemeinen Sitzung der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Hannover am 20. September 1865, Berlin 1865, S. 9 f.

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Ein freies Bürgertum erwuchs, und auch die Wissenschaft ward bürgerlich. Die Einheit des Glaubens ging damit unwiederbringlich verloren, und der moderne Staat, der bürgerliche Staat würde vergeblich danach streben, dem Volke eine Weltanschauung aufzuzwingen, welche der wissenschaftlichen Erkenntnis widerstrebt. Unwiderstehlich dringt die naturwissenschaftliche Wahrheit in das Volk ein, und am Staate ist es, die neue Bildung möglichst allgemein zugänglich zu machen.399

Die These eines Zusammenhangs zwischen dem Protestantismus und dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaft wirkte auch in der modernen Wissenschaftsgeschichte nach.400 Während Robert  K. Merton jedoch »nicht direkt nach der wechselseitigen Beeinflussung von wissenschaftlichem Wissen und kulturellen Vorstellungen«401 fragt, richtet sich das wissenschaftshistorische Interesse schon seit einiger Zeit vermehrt auf den engen Zusammenhang zwischen epistemologischen und politischen Arrangements. Besonders interessiert dabei die konstitutive Rolle einer durch die Bevorzugung allgemein überprüfbarer Daten gegenüber der Bildung von Theorien gekennzeichneten Epistemologie für die modernen Naturwissenschaften.402 Wichtige Elemente dieser Auffassung fanden sich wiederum bereits in der Ideologie führender Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. So hob Virchow zwei für ihn miteinander in Zusammenhang stehende Elemente hervor, die verdeutlichen, dass für ihn Denkmethoden und die damit verbundenen sozialen Formen nicht zu trennen waren  : Die modernen Naturwissenschaften basierten für ihn erstens auf dem Prinzip des Denkens ohne Autorität  : »Die Naturwissenschaften haben nur ein haltendes, wirklich eini399 Siehe vor allem ders., Über den Einfluß des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf die Volksbildung, in  : Beilage zum Tageblatt der 36.  Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Speyer vom 17. bis 24. September 1861, S. 70–72, hier  : S. 70. 400 Siehe Robert K. Merton, Puritanismus und Wissenschaft, in  : ders., Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, übersetzt v. Reinhard Kaiser, mit einer Einleitung v. Nico Stehr, Frankfurt a. M. 1985, S. 59–85. Zur Kontroverse um diese These vgl. John Hedley Brooke, Science and Religion, in  : Olby u. a. (Hg.), Companion to the History of Modern Science, S. 763–782, hier v. a. S. 767 f.; Joseph-Ben David, Puritanism and Modern Science. A Study in the Continuity and Coherence of Sociological Research, in  : ders., Scientific Growth. Essays on the Social Organization and Ethos of Science. Edited and with an Introduction by Gad Freudenthal, Berkeley u. a. 1991, S. 343–360. 401 Nico Stehr, Robert K. Mertons Wissenschaftssoziologie, in  : Merton, Entwicklung und Wandel, S.  7–30, hier  : S. 15. 402 David Zaret, Religion, Science, and Printing in the Public Spheres in Seventeenth-Century England, in  : Craig Calhoun (Hg.)  : Habermas and the Public Sphere, Cambridge, Mass., u. London 1992, S. 212–235, hier v. a. 229–235  ; Joseph Ben-David, The Scientists’s Role in Society  : A Comparative Study, Englewood Cliffs 1971, S.  74  ; Steven Shapin/Simon Schaffer, Leviathan and the Air-Pump  : Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton 1985  ; vgl. dazu auch Latour, wir sind nie modern gewesen, S. 25  ; Jan Golinski, Making Natural Knowledge. Constructivism and the History of Science, Cambridge 1998, S. 52 f.; Zimmerman, Anthropology and Antihumanism, S. 111–134.

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gendes Band  : das ist ihre Methode. Zuerst die Beobachtung und der Versuch, dann das Denken ohne Autorität, die Prüfung ohne Vorurtheil.«403 Hinzu trat zweitens das Moment der Öffentlichkeit, das eng mit dem gesellschaftlichen Prinzip der Assoziation verbunden war.404 Demzufolge bildete das Argument, wonach die experimentelle Methode der modernen, empirischen Naturwissenschaften ein wichtiges Moment der Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft sei, ein Kernelement der von Virchow vertretenen Ideologie, wonach die Naturwissenschaften gleichermaßen ein Motor des Fortschritts und des Liberalismus seien. Die angestrebte Herrschaft der »naturwissenschaftlichen Methode« zielte auf das Projekt einer ›liberalen Wissensgesellschaft‹. Diese beruhte auf einer naturwissenschaftlichen Variante der liberalen Bildungskonzeption im 19. Jahrhundert, die im Gegensatz zu der auf dem Prinzip der verbindlichen kulturellen Autorität des Kanons basierenden neuhumanistisch-idealistischen Bildungsidee405 stand. Daraus folgte ein tiefgreifender Konflikt mit den Geistes- und Kulturwissenschaften. Virchow gehörte, wie schon am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit den Geschichtswissenschaften gezeigt wurde, zu den führenden Protagonisten der szientistischen Herausforderung, die in der Forderung nach Übertragung der Methoden der Naturwissenschaften auf das Gebiet der Kulturwissenschaften bestand. Als Ergebnis dieser Auseinandersetzung kam es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einer ausgeprägten Trennung der Methoden und der Gegenstandsbereiche der Natur- und der Kulturwissenschaften.406 Dieser Prozess wurde nicht nur von Werner von Siemens, sondern auch von Virchow durchaus einseitig als Siegeszug der Naturwissenschaften über die Philosophie wahrgenommen.407 Die Ausdehnung des Erklärungsanspruchs der Naturwissenschaften produzierte gleichzeitig auch einen Grenzkonflikt mit der Religion. Das naturwissenschaftliche Establishment hatte sich im 19.  Jahrhundert auf einer Position eingerichtet, die ihre klassische Formulierung 1872 in der »Ignorabimus«-Rede du Bois-Reymonds408 fand. Demnach wurde ein der Naturwissenschaft zugänglicher Bereich der Erkenntnis von einem Bereich letzter Fragen, in dem sie keine Antworten zu finden vermochte, getrennt. 403 Virchow, Atome und Individuen, S. 61 f. Siehe als ein weiteres markantes Beispiel ders., Autoritäten und Schulen, in  : VA  5 (1853), S.  5–12.  – Zum »Diskurs der Methode« im 19.  Jahrhundert vgl. auch Angela Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914), Stuttgart 1999, S. 60–64. 404 Siehe dazu etwa Rudolf Virchow, Gedächtnisrede auf Carl Mayer gehalten am 25.  Juni 1868 von Rudolf Virchow, Berlin 1869, v. a. S. 26 f. 405 Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a. M. u. New York 1993, S. 13. 406 Vgl. dazu Oexle, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. 407 Siehe dazu Siemens, Das naturwissenschaftliche Jahrhundert  ; Virchow, Gründung der Berliner Universität. 408 Emil du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens. Ein Vortrag in der zweiten öffentlichen Sitzung der 45. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872, 4., erweit. u. verbess. Auflage, Leipzig 1876.

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Zu solchen Problemen außerhalb seiner naturwissenschaftlichen Erklärungskompetenz zählte auch Virchow insbesondere die Frage nach dem »Räthsel der Schöpfung« und des Bewusstseins.409 Diese Selbstbeschränkung ging jedoch mit dem enormen Selbstbewusstsein der Naturwissenschaftler einher, die gerade »die Unbescheidenheit zum Programm« erhoben, indem sie sich ihrer Erkenntnis innerhalb der so abgesteckten Grenzen umso sicherer waren.410 Der von den führenden Naturwissenschaftlern des 19.  Jahrhunderts vertretene naturwissenschaftliche Agnostizismus, der mit den »Grenzen der Wissenschaft« argumentierte, war »viel mehr als eine philosophische Position  : Er war gleichermaßen ein politisches Aktionsprogramm, eine moralische Vision und eine soziale Theorie«411. Virchow widersprach ausdrücklich der etwa durch Adolf Stoecker zu Wahlkampfzwecken verbreiteten Behauptung, wonach er die Naturwissenschaften an die Stelle der Religion setzen wolle.412 Vielmehr ging es ihm um eine klare Grenzziehung zwischen den jeweiligen Gebieten der »Rationalität« und des »Wissens« einerseits und des »Glaubens« andererseits. Dahinter verbarg sich eine Machtfrage  : So hatte Virchow vor dem Hintergrund von Angriffen des Münchener katholischen Medizinprofessors Johann Nepomuk Ringseis schon 1854 erklärt, dass das »Dogma die Zulässigkeit der Erfahrung« nicht beschränken dürfe und die volle Freiheit der Wissenschaft gegenüber allen Herrschaftsansprüchen der Kirche gefordert.413 Zwar zielte dies zunächst gegen die Autorität der Religion, besonders der katholischen. Zugleich bestätigt sich aber an Virchow, dass gegenüber dem romantisch-pantheistischen Denkstil »das dogmatische Denken des Katholizismus als auch das generelle, Gesetze suchende, positivistische naturwissenschaftliche Denken« eine innere Verwandtschaft aufwiesen  : Für beide Denkweisen existierte die immanente Welt als »ein gereinigtes Gebiet der Durchrationalisierbarkeit«414. Anders als viele »Gebildete«, die der Kantschen Konzeption eines »reinen Vernunftglaubens« zuneigten,415 bevorzugte Virchow deshalb auch Offenbarungsreligionen ge409 Virchow, Empirie und Transzendenz, S. 9 u. 27. 410 Wolf Lepenies, Ein Rückblick. Die klagende Klasse und die Entstehung des guten Gewissens, in  : ders., Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa, Frankfurt a. M. u. New York 1992, S. 9–45, hier  : S. 41  ; vgl. auch Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918, München 1988, S. 128 f. 411 Keith M. Anderton, The Social, Political and Moral Agenda for Epistemology in Nineteenth Century Germany, Ph.D. thesis, Harvard University 1993, S. 21. 412 SBPAH, 27. Sitzung am 17.12.1879, S. 690. 413 Virchow, Empirie und Transzendenz, S. 14. Siehe auch ders., Ueber die mechanische Auffassung des Lebens. Nach einem frei gehaltenen Vortrage aus der dritten allgemeinen Sitzung der 34. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte. (Carlsruhe, am 22. Septbr. 1858), in  : ders., Vier Reden über Leben und Kranksein, Berlin 1862, S. 1–34  ; ders., Ueber den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaft, Rede auf der Naturforscher-Versammlung in Stettin 1863, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 25–38. 414 Mannheim, Konservativismus, S. 150 f. 415 Vgl. dazu Hans Erich Bödeker, Die Religiosität der Gebildeten, in  : Karlfried Gründer/Karl Heinrich Rengst-

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genüber Vernunftreligionen, die ihm »am meisten Bedenken« erzeugten416, denn auf diese Weise ließen sich die Bereiche des ›subjektiven Glaubens‹ und des ›objektiven Wissens‹ für ihn am konsequentesten trennen. Damit kämpfte er für eine Wissensordnung, die dem naturwissenschaftlichen Wissen jenen Status der ›Objektivität‹ und ›Interessenfreiheit‹ zubilligte, die diesem in politischen Auseinandersetzungen einen scheinbar unanfechtbaren Wert verliehen.417 So lässt sich Virchows Rede auf der Münchener Naturforscherversammlung 1877, in der er sich in für einige Zeitgenossen irrtierender Weise manchen Positionen der katholischen Kirche annäherte, auch als ein epistemologischer Waffenstillstand zwischen Naturwissenschaft und Religion betrachten. Virchow rechtfertigte sich privat für seinen scharfen Angriff auf die von Haeckel geforderte Popularisierung des Darwinismus an den Schulen damit, dass er auf seine doppelte Rolle als Wissenschaftler und Politiker Rücksicht nehmen müsse  : Haeckel vergesse, dass er »als Volksvertreter auch den Empfindungen der anders Denkenden Rechnung tragen müsse«418. Seit Beginn seiner »öffentlichen Wirksamkeit« behandele er »die Religion als eine Angelegenheit des Individuums (…), und nur insofern als der Einzelne mit seiner Religion anderen lästig fällt«, halte er »es für geboten, sich mit ihm zu beschäftigen«419. Aus der freundlichen Aufnahme, die Virchows Position in seiner Auseinandersetzung mit Haeckel in katholischen Kreisen fand, wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass »Virchows Abwehr von Haeckels Mythisierung der Darwinschen Lehre die kulturelle Position der Naturwissenschaften in Deutschland eher geschwächt und der klerikalen Gegenaufklärung Auftrieb gegeben«420 habe. Dieses Argument bleibt jedoch dem Deutungsrahmen eines Kampfes der aufklärerischen Naturwissenschaften gegen den anti-aufklärerischen Katholizismus, wie er im 19. Jahrhundert etabliert wurde, verhaftet. Zudem schlug Virchow in seiner Münchener Rede nicht nur einen versöhnlicheren Ton gegenüber der Religion an, sondern beharrte zugleich auf der von ihm verteidigten Ordnung des Wissens. Einerseits lehnte er es also ab, die Darwinsche Theorie im Schulunterricht zu behandeln, andererseits bekämpfte er den zeitgenössischen Wunderglauben  : Beides sollte die Grenze zwischen ›objektivem Wissen‹ und ›subjektivem Glauben‹, zwischen der in das Gebiet der Naturwissenschaft fallenden immanenten Welt und der dem

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dorf (Hg.), Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1989, S. 145–195, hier v. a. S. 172  ; Paul Guyer, Introduction  : The Starry Heavens and the Moral Law, in  : ders. (Hg.), The Cambridge Companion to Kant, Cambridge u. a. 1992, S. 1–25. Briefentwurf von Virchow, Empfänger unbekannt, 14.9.1875  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2434. Siehe dazu Steven Shapin, The Scientific Revolution, Chicago u. London 1996, S. 164. Oscar Israel, Rudolf Virchow, 1821–1902, in  : Deutsche Rundschau 29 (1902), H. 3, S. 361–379, hier  : S. 370. Briefentwurf von Virchow, Empfänger unbekannt, 14.9.1875  : ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2434. Jutta Kolkenbrock-Netz, Wissenschaft als nationaler Mythos. Anmerkungen zur Haeckel-Virchow-Kontroverse auf der 50.  Jahresversammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München (1877), in  : Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991, S. 212–236, hier  : S. 235.

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Bereich der Religion zugewiesenen Transzendenz stabilisieren – und damit die Autorität der Naturwissenschaft innerhalb dieser Grenze. Sie trennte überdies zwei höchst unterschiedlich aufgeladene semantische Bereiche  : Auf der einen Seite dieser Grenze standen ›Aufklärung‹, ›Bildung‹ und ›Männlichkeit‹, auf der anderen das ›Vulgäre‹, ›ungebildete Massen‹ und ›Weiblichkeit‹421. Diese diskursiven Oppositionen durchziehen zugleich das liberale Selbstverständnis im 19. Jahrhundert. Während Wunder als Element der Elitenkultur seit der Aufklärung ihre Bedeutung verloren hatten, spielten sie eine umso größere Rolle in der Volkskultur, insbesondere in Krisenzeiten. Dazu gehörten auch Marienerscheinungen wie etwa 1876 in Marpingen, das damals auf dem besten Wege zu einem deutschen Lourdes war. Wunder besaßen eine potentiell anarchische Qualität, indem sie einen Bruch mit der normalen Ordnung des Wissens und der Welt symbolisierten. Für Virchow bedeuteten sie deshalb einen Angriff auf die universale Gültigkeit der als unveränderlich gedachten Naturgesetze und damit zugleich auf die Autorität wie die Freiheit der Naturwissenschaft sowie die damit verbundene liberal geprägte Fortschrittsperspektive.422 Er befand sich bei der Bekämpfung solcher Phänomene zwar im Gegensatz zum katholischen Kirchenvolk, doch verhielt sich auch die kirchliche Hierarchie gegenüber solchen Erscheinungen meist reserviert. Was beide dabei verband, war die Skepsis gegenüber der Herausforderung naturwissenschaftlicher beziehungsweise amtskirchlicher Autorität durch Laien. So bedrohten Wunder, Marienerscheinungen und Spiritisten den epistemologischen Waffenstillstand, den moderne Naturwissenschaft und Religion im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu beiderseitigem Vorteil geschlossen hatten.423 Ein Beispiel dafür geben die Vorgänge um Louise Lateau, die angeblich wochenlang keine Nahrung zu sich nahm und Stigmata aufwies. 1874 wurde Virchow von katholischer Seite aufgefordert, nach dem im wallonischen Teil Belgiens gelegenen kleinen Dorf Bois d’Haine zu reisen, um den Fall zu überprüfen. Doch lehnte er dies ab, da ihm nicht gestattet wurde, Louise Lateu in einer von ihm kontrollierten Situation zu untersuchen. Virchow forderte somit die experimentelle Kontrolle des Wunders im epistemologischen Raum des Labors, was seiner Meinung nach unweigerlich zu dessen Entlarvung als Be-

421 Lorraine Daston/Katharine Park, Wonders and the Order of Nature 1150–1750, New York 1998, S. 343. Vgl. auch Daston, Wunder und Beweis im frühneuzeitlichen Europa, in  : dies., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. 2001, S. 29–76. 422 Vgl. David Blackbourn, Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen – Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek b. Hamburg 1997, hier v. a. S. 451–468  ; Daston/ Park, Wonders and the Order of Nature, S. 363. 423 Vgl. dazu Corinna Treitel, The Culture of Knowledge in the Metropolis of Science  : Spiritualism and Liberalism in Fin-de-Siècle Berlin, in  : Constantin Goschler (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, 1870–1930, Stuttgart 2000, S. 127–154  ; sowie Ulrich Linse, Geisterseher und Wunderwirker  : Heilssuche im Industriezeitalter, Frankfurt a. M. 1996  ; Anderton, Limits of Science.

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trug führen würde.424 Zugleich verteidigte er damit seine wissenschaftliche Autorität, die darauf beruhte, dass sein Wissen als ›objektiv‹ und ›rational‹ galt. Letzterem entsprach eine andere Art des Wunders, die Virchow dem mystischen Wunder entgegensetzte  : Aber auch in der Wissenschaft gibt es Wunder (…)  ; das sind jene plötzlichen Inspirationen, wo irgendein hervorragender Geist plötzlich eine neue Wahrheit findet. (…) Aber (…) dieses Wunder ist ein ganz anderes, als das, was hier prätendiert wird. Es ist nämlich die plötzliche Offenbarung des Gesetzes selbst, welches sich hier darstellt.425

Auf einer der vorangegangenen Naturforscherversammlungen hatte Virchow das (naturwissenschaftliche) Wunder als das »Gesetz, das sich in mechanischer Art auf dem Wege der Causalität und Notwendigkeit« vollziehe,426 definiert. Doch verband er diese mechanistische Erklärung des Wunders mit Beschreibungen, die an Adalbert Stifters »sanftes Gesetz« erinnern, dessen Kern in der »Bewußtmachung einer noch im Kleinsten zu beobachtenden Gesetzlichkeit des Lebensganzen«427 bestand. Dabei versuchte Virchow zugleich die Entfremdung zwischen Imagination und Empirie beziehungsweise zwischen idealistischem und naturalistischem Zugriff zu überwinden, um der mit dem Materialismusvorwurf verbundenen Behauptung entgegenzuwirken, dass die Naturwissenschaften die Empfindungen für das Edle, Schöne und Wahre abtöteten  : Nein, die Naturforschung verwischt nicht das Gefühl für das Schöne, sie schwächt nicht den Eindruck des Erhabenen, sie ertödtet nicht die Rührung, welche die Erkenntnis des Guten, des Zweckmäßigen in uns erregt. (…) Der Naturforscher bedarf nicht des Unwetters, nicht des Kometen, nicht der ungewöhnlichen Naturerscheinung, um dieser Gefühle theilhaftig zu werden. Auch der trübe Himmel des Herbsttages, das tägliche Auf- und Niedergehen der Sonne, die allergewöhnlichsten und niedrigsten Vorgänge des eigenen Daseins bieten ihm unaufhörlichen Stoff nicht blos für den Verstand, sondern auch für das Gemüth. Und wenn das Wunder den Charakter der Illusion verliert, wenn es nur als die Offenbarung des Gesetzes selbst erscheint, ist darum das Gesetz weniger wunderbar  ? das Wunder weniger staunenswürdig  ?428

Virchow unterschied somit zwei Arten des »Wunders«, nämlich das mystische Wunder einerseits und das ›naturwissenschaftliche‹ Wunder des Gesetzes andererseits. In seiner Kritik an den Vorgängen um Louise Lateau verdeutlichte er, worin für ihn der Gegensatz 424 Rudolf Virchow, Ueber Wunder. Rede Virchows auf der Naturforscher-Versammlung in Breslau 1874, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 151–166. 425 Ebenda, S. 162 f. 426 Ders., Ueber die mechanische Auffassung des Lebens, S. 20. 427 Andreas Huyssen, Bürgerlicher Realismus (Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung, hrsg. v. Otto F. Best/Hans-Jürgen Schmitt, Bd. 11), Stuttgart 1974, S. 46. 428 Virchow, Ueber die mechanische Auffassung des Lebens, S. 18 f.

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beider bestand  : »Jedes Wunder ist tendenziös, und ich behaupte, jedes wirkliche Naturereignis ist nicht tendenziös. In dieser Tendenz liegt der Wert des Wunders, nicht in der Erscheinung als solcher. (…) Das Wunder hat objektiv keinen Wert, aber es wird p ­ ublik zu einem bestimmten Zweck.«429 Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten des Wunders, dem mystischen und dem naturwissenschaftlichen, bestand somit darin, dass es sich in einem Fall um ein ›interessiertes‹ und im anderen um ein ›desinteressiertes‹ Wunder handelte. Im ›interessierten‹ Wunder besaßen die Abweichungen der Natur stets eine moralische Bedeutung, »ob als Warnungen eines zornigen Gottes, Laune einer spielerischen Natur oder als Verunstaltungen der Einheitlichkeit des Universums«430. Damit stellten diese zugleich auch die moderne Grenzziehung zwischen Natur und Gesellschaft in Frage. Das ›desinteressierte‹ Wunder, das auf der unveränderlichen und gleichmäßigen Gültigkeit von Naturgesetzen basierte, klammerte dagegen diese moralische Dimension aus. Dies entsprach im Allgemeinen zugleich dem Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaften, die das Wissen über das »Sein« und das »Sollen« trennten und damit auch eine Kluft zwischen Naturwissenschaft und Philosophie herstellten.431 Wie aber verhielt sich Virchows plakatives Selbstverständnis als ›desinteressierter‹ Naturwissenschaftler zu seinem Anspruch, mit Hilfe der Naturwissenschaften auch Aussagen über das ›Sollen‹ treffen zu können  ? Inwieweit war also die Entmoralisierung des Naturdiskurses im 19. Jahrhundert wirklich schon abgeschlossen  ? Dazu wendet sich der folgende Abschnitt seinen Ansätzen einer Ethik im »naturwissenschaftlichen Zeitalter« zu. 4.4.2 »Humanistische« Ethik im »naturwissenschaftlichen Zeitalter«

Indem der Liberalismus – mit materieller und kultureller Unterstützung der Naturwissenschaften – an der Auflösung oder Umformung traditionaler Ordnungen und Orientierungen arbeitete, verschärfte sich zugleich die Frage nach den Bindekräften der modernen Gesellschaft. Deshalb zielt auch eine grundsätzliche Kritik am Liberalismus darauf, dass er die ethischen Ressourcen verbrauche, von denen sein eigenes politisches Modell zehre.432 Virchow setzte sich mit diesem liberalen Dilemma als Wissenschaftler wie als Politiker intensiv auseinander. Während die Mehrzahl der deutschen Naturwissenschaftler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss des Neukantianismus eine scharfe Grenze zur Ethik zog,433 repräsentierte er eine gegensätzliche Tendenz  : Er Ders., Ueber Wunder, S. 164 f. Daston/Park, Wonders and the Order of Nature, S. 363. Shapin, Scientific Revolution, S. 162 f. Siehe dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in  : ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 92–104, hier  : S. 112. Vgl. auch Axel Honneth, Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlage moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1993. 433 Nipperdey, Religion im Umbruch, S. 129. 429 430 431 432

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vertrat einen naturwissenschaftlichen »Humanismus«, der sich als die ›bessere Variante‹ des neuhumanistisch-idealistischen Ansatzes präsentierte. Damit gehört Virchow in den Zusammenhang jener zahlreichen aus dem Geist der Aufklärung geborenen Versuche, »die Rücksicht, ohne welche Zivilisation nicht existieren kann«, ohne Rückgriff auf die Religion zu begründen.434 Die Erörterung ethischer Fragen unter Naturwissenschaftlern aus Virchows Generation bewegte sich im Horizont der Auseinandersetzung mit Kant beziehungsweise mit der von Schiller und Goethe geführten Auseinandersetzung mit dessen Moralphilosophie. Dabei geht es im Folgenden nicht um die Frage nach etwaigen originellen philosophischen Beiträgen Virchows, sondern um seine Rolle in einem breiten bildungsbürgerlichen Diskurs, d. h. vor allem um die Rezeptionsgeschichte der idealistischen Philosophie. Die in Kants berühmter Formulierung getroffene Entgegensetzung des »bestirnten Himmels« in der äußeren Welt und des »moralischen Gesetzes« im Inneren des Menschen435 lieferte dabei die »Koordinaten der bürgerlichen Selbst- und Weltauffassung«436. In der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts »verband sich das Streben nach Wahrheit, Gesetz und Ordnung in der äußeren Welt mit der Vergewisserung des bürgerlichen Subjekts, daß das Erkennen der Weltordnung im Prinzip nichts anderes als die Bildung einer eigenen in Vervollkommnung begriffenen Moral sei«437. Aus dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaften resultierte jedoch zugleich das Problem, wie das mit der Formulierung kausaler Naturgesetze verbundene naturwissenschaftliche Wissen und die Möglichkeit des freien Willens miteinander zu vereinbaren seien. Fern davon, lediglich ein theoretisches Problem zu sein, wirkte diese im Bildungsbürgertum vor allem als Konflikt von Freiheit und Notwendigkeit thematisierte Frage438 nicht nur als Wasserscheide 434 Horkheimer/Adorno, Juliette oder Aufklärung und Moral, in  : dies., Dialektik der Aufklärung, S.  88–127, hier  : S. 92. 435 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in  : Kants Werke, Akademieausgabe, Bd. 5, Berlin 1968, S.  161  : »Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt  : der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« 436 Geulen, »Center Parcs«, S. 260  ; vgl. auch J. B. Schneewind, Autonomy, Obligation, and Virtue  : An Overview of Kant’s Moral Philosophy, in  : Paul Gruyter (Hg.), The Cambridge Companion to Kant, Cambridge, Mass., 1992, S. 309–341. – In Virchows intellektuellem Horizont spielte die ältere Schule des Neukantianismus eine wichtige Rolle, die nach der Revolution großen Einfluss gewann  : 1848 zählte er den Hegelschüler Karl Rosenkranz, der seit 1838 Herausgeber einer Kantausgabe war, zu seinen engsten Freunden. Später rezipierte er auch die Arbeiten Kuno Fischers, der das allgemeine Kant-Verständnis des 19. Jahrhunderts maßgeblich prägte. Zu Virchows Verhältnis zum Neukantianismus siehe insbesondere seine Auseinandersetzung mit Hermann Lotze in ders., Empirie und Transzendenz, v. a. S. 17–28. Vgl. dazu auch Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M. 51994, S. 134. 437 Geulen, »Center Parcs«, S. 260. 438 Vgl. auch Svenja Goltermann, Figuren der Freiheit, in  : Hettling/Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel, S. 149–168.

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in Auseinandersetzungen der politischen Philosophie, sondern besaß auch erhebliche praktische Auswirkungen bis hinein in Sozialpolitik und Strafrecht. Virchow griff 1858 auf der Naturforscherversammlung in Karlsruhe unmittelbar in diese Auseinandersetzung ein  : »Gilt das Gesetz von der Causalität auch für das geistige Leben  ? ist hier wenigstens nicht Freiheit, wenn in der ganzen Natur sonst die Nothwendigkeit herrscht  ? (…) Was ist Freiheit  ? Ist es die Willkür  ? Bin ich völlig frei, wenn ich thue, was ich will  ? und kann ich wirklich wollen, wie die Menschen es sich einbilden  ?«439 Das Gesetz der Kausalität, beantwortete Virchow seine Frage, sei auch auf dem Gebiet des geistigen Lebens gültig, und so versuchte er, den Konflikt von Freiheit und Notwendigkeit zu versöhnen, indem er Freiheit nicht als »Willkür beliebig zu handeln, sondern die Fähigkeit, vernünftig zu handeln«, definierte. Selbstbeherrschung und Affektkon­ trolle seien daher Kennzeichen des wirklich freien Menschen, der seine »Leidenschaften durch die Gewalt sittlicher Gründe« beherrsche  : Die Freiheit des Handelns bedeutet nichts anderes als die Freiheit des Denkens, und diese wiederum bezeichnet nicht das willkürliche, sondern im Gegentheil das mit gesetzmäßiger Nothwendigkeit geschehende Denken, dasjenige, wo alle Hemmnisse am vollkommensten beseitigt sind, wo das Gesetz am reinsten und schönsten zur Erscheinung kommt. Auch im Gebiete des Sittlichen ist das höchste Wunder nur die einfachste, die unmittelbarste Offenbarung des Gesetzes.440

Auf der von Schiller angestoßenen Suche nach dem »ästhetischen Zustand«, in dem der Gegensatz von Pflicht und Neigung aufgehoben sein sollte, so Virchow bei Gelegenheit einer öffentlichen Rede in der Berliner Singakademie 1861, sei Goethe letztlich zu der »wahrhaft physiologischen Erkenntnis« vorgedrungen, »das Rechte sei das, was uns, unserer Natur, dem Gesetze unseres Wesens gemäss ist«441. So setzte er schließlich moralisches Gesetz und Naturgesetze in eins.442 Auf diese Weise bemühte sich Virchow, zugleich die Naturwissenschaften von dem vor allem in der Restaurationsära erhobenen Vorwurf zu befreien, wonach diese die Sittlichkeit der Gesellschaft untergrüben. Nach der Reichsgründung wechselte er allerdings von der Defensive in die Offensive  : Nunmehr bezeichnete er die Naturwissenschaften als das eigentliche sittliche Fundament der Gesellschaft, und so zielten seine Bemühungen 439 Virchow, Ueber die mechanische Auffassung des Lebens, S. 21. 440 Ebenda, S. 21 f. Zum Thema positivistisch-liberaler Antworten auf das Kantsche Problem von Freiheit und Notwendigkeit vgl. auch Fuchs, Henry Thomas Buckle, S. 98 ff. Zur Auseinandersetzung Virchows mit der Frage der Willensfreiheit vgl. auch Wittkau-Horgby, Materialismus, S. 123 ff. 441 Rudolf Virchow, Göthe als Naturforscher und in besonderer Beziehung auf Schiller. Eine Rede von Rudolf Virchow, Berlin 1861, S. 59. Der am 7.2.1861 gehaltene Vortrag war Teil einer von einem Komitee zur Errichtung eines Goethe-Denkmals veranstalteten Vortragsreihe. 442 Siehe auch Geulen, Blonde bevorzugt, S. 161.

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darauf, die Naturwissenschaften als Quelle moralischer Autorität zu etablieren.443 Vor allem in den 1860er und 1870er Jahren entwickelte Virchow in zahlreichen öffentlichen Reden ein Programm, wonach die Naturwissenschaften eine Schlüsselstellung bei der »sittlichen Erziehung der Menschheit« einnehmen sollten.444 Dabei stellte er sich in eine Reihe mit zahlreichen älteren und zeitgenössischen Bemühungen, den Zusammenhang von Kirchen und Moral zu delegitimieren und kritisierte die verbreitete Auffassung, wonach die Kirche als »Hüterin des Gewissens« erforderlich sei.445 Grundlage seiner Argumentation bildete die Historisierung der Moral. Das »sogenannte Sittengesetz«, schrieb Virchow in seinen Glaubensbekenntnissen eines modernen Naturforschers, »ist keineswegs angeboren, sondern ein Erzeugnis vieler Tausender von Generationen. Daher ist es auch bei den verschiedenen Völkern verschieden.«446 In einer Wahlrede im »Berliner Verein für öffentliche Angelegenheiten« skizzierte er 1874 eine ›Genealogie der Moral‹, die er in vier Phasen unterteilte  : Die Entwicklung, die von der steigenden Komplexität der menschlichen Gesellschaft angetrieben werde, verlaufe über die Stationen »instinctive Moral«, »Sitte«, »Recht« hin zur »freien Selbstbestimmung«447  : Virchow unterschied somit – im Anschluss an Rousseau und Kant – zwischen äußerlicher und innerlicher Moral, d. h. sozusagen zwischen ›Sitte‹ und ›Sittlichkeit‹. Die am Modell der Zehn Gebote orientierte spezifisch kirchliche Moral repräsentiere lediglich eine »äußere Sittlichkeit«. Die »innerliche Sittlichkeit« sei dagegen ein Produkt »freier, sittlicher Selbstbestimmung«. Letztere war ihm zufolge notwendig für den Bestand der durch ein hohes Maß an Individualisierung gekennzeichneten modernen Gesellschaften. Der Kern der naturwissenschaftlichen Ethik Virchows bestand somit darin, dass im Gegensatz zu der »äußeren Moral« der Kirchen das der Naturwissenschaft eigene »Streben nach Wahrheit als das eigentliche Objekt der sittlichen Erziehung der Menschheit zu fixieren« sei.448 In einer Rede über die »Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung der Menschheit« auf der Naturforscherversammlung in Wiesbaden 1873 forderte er deshalb, »die Moral als eine empirische Wissenschaft nach den Regeln zu entwickeln, welche die allgemeine Naturwissenschaft constituirt«449 hätte. Auf diese 443 Bowler, Biology and Social Thought, S. 15. 444 Siehe vor allem Virchow, Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung. 445 Notiz von Rudolf Virchow (undatiert), Druck  : RVSW, Bd. 33, Abt. 2  : Politik. Politische Tätigkeit im Preussischen Abgeordnetenhaus, 14. Februar 1870 bis 13. Dezember 1874, sowie dazugehörige Dokumente, bearb. v. Christian Andree, Bern 1997, S. 746. Siehe dazu auch Owen Chadwick, The Secularization of the European Mind in the Nineteenth Century, Cambridge u. a. 1975, S. 229–232. 446 Virchow, Glaubensbekenntnisse eines modernen Naturforschers, S. 27. 447 Siehe zum Folgenden Virchow, Staat und Kirche, Wahlrede im Verein für öffentliche Angelegenheiten, Berlin, 11.12.1874, Druck  : RVSW, Bd. 33/2, S. 718–736, hier  : S. 729–731  ; SBPAH, 54. Sitzung am 1.3.1873, S. 1322. 448 Virchow, Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung, S. 203. 449 Ebenda, S. 207.

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Weise sollten die Naturwissenschaften letztlich auch verbindliche Maßstäbe der Lebensführung bereitstellen. So hatte Virchow 1869 bei der Einweihungsfeier des »HumboldtVereins« in Breslau Alexander von Humboldt als Beispiel dafür aufgeführt, dass »die nothwendige, unerschütterliche Wahrheitsliebe des Naturforschers und Naturfreundes« zugleich auch eine »Bürgschaft für die Sittlichkeit« desselben sei  : »Und dass er ein solch guter Mensch sein konnte, dass er wesentlich sittlichen und freisinnigen Gedanken nachgelebt, das verdankt er nicht am wenigsten der Wahrheit, mit welcher er in seinem ganzen Leben in natürlichen Dingen gearbeitet hat.«450 Im Zuge seines Angriffes auf die moralische Autorität der Kirche versah er somit den Naturwissenschaftler mit Zügen des Heiligen. Zum Rollenmodell des Naturwissenschaftlers erhob Virchow implizit den in der zeitgenössischen populären Darstellung als unbeugsamen Verfechter wissenschaftlicher Wahrheit stilisierten Galileo Galilei. Der Bezug auf den sozusagen zum ›Luther der Naturwissenschaften‹ erhobenen italienischen Astronomen unterstützte die professionelle Identität der Naturwissenschaftler und Ärzte. Zugleich sollte das hier formulierte wissenschaftliche Ethos, das vor allem um den Begriff der »Wahrheit« herum konzipiert war, auch als universelle Norm gelten. Der Forschungsimperativ, d. h. das unabschließbare Streben nach Wahrheit und Erkenntnis, der sich beginnend mit Virchows Generation in Preußen im Bereich der Wissenschaft als verpflichtende Norm durchsetzte, rückte dabei an die Stelle einer zentralen moralischen Kategorie auch für Laien. Allerdings räumte Virchow auf der Naturforscherversammlung 1873 einen »Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis« ein  : konnte doch auch »der tüchtigste Naturforscher möglicherweise der größte Schuft sein«, wie er am Beispiel Bacons verdeutlichte.451 Dies lässt sich als Reaktion auf die sich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich ausbreitende Umkehrung in der Bewertung Bacons vom Gründervater der modernen, empirisch verfahrenden Naturwissenschaften zum amoralischen Unhold verstehen.452 Virchows Antwort auf diese Infragestellung seines Konzepts, wonach aus naturwissenschaftlicher Haltung gleichermaßen Moral und politischer Liberalismus resultierten, war die Forderung nach einem »Exercitium« sittlicher Regeln  : Moralische Regeln sollten zuerst empirisch erforscht und damit bewusst gemacht sowie anschließend eingeübt werden. Dies war notwendig, da für ihn das menschliche Gewissen nicht angeboren, sondern Produkt der Erziehung war,453 wodurch moralisches Handeln in der Gesellschaft mit der Idee des

450 Rudolf Virchow., Rede bei der Eröffnungsfeier der Volksakademie des Humboldt-Vereins für Volksbildung in Breslau, in  : Der Hausfreund, Nr. 48 vom 27.11.1869. 451 Ders., Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung, S. 212. 452 Markku Peltonen, Introduction, in  : ders. (Hg.), The Cambridge Companion to Bacon, Cambridge, Mass., 1996, S. 1–24, hier  : S. 1. 453 Virchow, Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung, S. 203 u. 212 f. Damit griff Virchow an dieser Stelle auf die in Lockes empirischem Sensualismus enthaltene Vorstellung des Kindes

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Trainings moralischer Reflexe eng verknüpft wurde.454 Die Grundlage des daraus vorgeblich resultierenden naturgesetzlichen moralischen Fortschritts der Menschheit lieferte dabei für Virchow, dass es der Menschheit beschieden ist, immer näher zum Lichte, immer näher zur Wahrheit zu dringen  ; darum fordern wir von jedem Naturforscher, nach Kräften hieran mitzuwirken. Wir haben den Glauben, dass die Menschheit berufen ist, diese Entwicklung durchzumachen, und wenn wir nicht sagen können, was das für einen Zweck hat. Für uns ist die Anschauung der Wahrheit das höchste Glück (…) einen Glauben haben auch wir  : den Glauben an den Fortschritt in der Erkenntnis der Wahrheit. Und ein Zeichen haben wir, an dem man den wahren Naturforscher erkennen kann und soll  : dass er nie müde wird in dem Streben nach Wahrheit und nie feige in dem Bekennen der Wahrheit.455

Virchows Genealogie der Moral war somit eng mit seinem Fortschrittskonzept verknüpft. Für ihn stand die in der Philosophie der Aufklärung verankerte Auffassung, wonach mit dem Fortschritt der Herrschaft des Menschen über die Natur zugleich die Moral zunehmen müsse, außer Frage. So hielt er dem konservativen Leitmotiv, wonach mit der Entfaltung der Moderne ein Verfall der Sitten und der Moral einhergehe, auf der Versammlung der Deutschen anthropologischen Gesellschaft in München 1875 die optimistische These entgegen  : Man mag über die Verschlechterung der Zeiten denken, wie man will, (…)  : immer wird man anerkennen müssen, dass, was die Entwicklung des Gewissens, was die moralische Erziehung des Menschengeschlechts betrifft, keine Zeit größere Resultate aufzuweisen gehabt hat als die unsere. Man wird zugestehen müssen, (…) dass wir uns in einer Periode ascendirender Entwicklung befinden.456

Dass einer der führenden Repräsentanten der deutschen Naturwissenschaft öffentlich die Forderung erhob, diese nicht allein als wohltätige Förderin der materiellen Produktivkräfte anzuerkennen, sondern auch gleich noch als Quelle der ethischen Bindekräfte der Gesellschaft, zeugte von dem in dieser Gruppe Anfang der 1870er Jahre herrschenden Selbstbewusstsein. Dies rief zum einen philosophische Kritiker auf den Plan, von denen wohl am schärfsten Friedrich Nietzsche den Anspruch auf »Wahrheit« – des letzten Mythos der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts – als verkappten »Willen zur Macht« als tabula rasa zurück. Vgl. auch Heinz  D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M. 1991, S. 275. 454 Vgl. dazu auch Winter, Mesmerized, S. 302 f. 455 Virchow, Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung, S. 213. 456 Rede Virchows auf der 6. allgemeinen Versammlung der deutschen anthropologischen Gesellschaft 1875, S. 14.

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kritisierte.457 Zugleich breitete sich jedoch gerade unter hart gesottenen Positivisten im letzten Viertel des 19.  Jahrhunderts Unsicherheit über die eigenen epistemologischen Grundlagen aus, die dazu führte, dass »Wahrheit« sowohl als wissenschaftliches Ideal wie als Garant kultureller Autorität durch mechanische Objektivität ersetzt wurde.458 Während so der Wahrheitsdiskurs im späten 19.  Jahrhundert allmählich verblasste, hielt Virchow zugleich daran fest, dass Religion und Moral nicht identisch seien und beharrte auf einer rein »menschlichen Moral, einer Moral, welche beruht auf der inneren Stimmung des Menschen, ganz abgesehen davon, welches seine Konfession oder seine Religion ist«. Zum Beleg verwies er ausdrücklich auf die »Moral der Wilden«, wobei er entsprechenden Einwänden gegenüber argumentierte, dass es sich bei der Menschenfresserei schließlich um eine religiöse Institution handle.459 Deshalb forderte er 1892 bei den Beratungen des umstrittenen preußischen Volksschulgesetzes, das den konfessionellen Unterricht stärken sollte, stattdessen die Volksschulerziehung auf »diese natür­ liche Moral, vermöge deren das Gute und das Wahre und das Schöne auch gut und wahr und schön bleibt, gleichviel unter welchen Umständen es hervortritt«, zu gründen  : »[W]a­rum sollte es denn nicht möglich sein, eine Erziehung zu machen, welche sich auf die Natur des Menschen stützt, die natürlichen Eigenschaften desselben ausbildet und von ihnen aus das Handeln des Menschen zu bestimmen sucht  ?«460 In dieser Frage berührten sich die Grenzkämpfe der Naturwissenschaften mit der Religion einerseits und den Geisteswissenschaften andererseits. Virchow verteidigte hier gleichermaßen den Bildungswert der Naturwissenschaften wie das liberale Konzept der »Persönlichkeit«. In seiner Rektoratsrede anlässlich des Stiftungsfests der Berliner Universität 1893 fasste er dies nochmals zusammen  : Freilich giebt es eine sittliche Erziehung, welche die Gewohnheit, recht zu handeln und Unrecht zu meiden, die eigentliche Sitte, lehrt und stärkt, aber in Wahrheit kann keine Erziehung den sittlichen Trieb hervorbringen, wo er nicht vorhanden ist. Darum gewährt unsere akademische Erziehung dem Studirenden ein Maass von persönlicher Freiheit, welches ihm die eigene Verantwortlichkeit ohne Einschränkung zuweist und ihm gestattet, sich nach seiner Art selbständig zu entwickeln. Er ist nicht verpflichtet zu bestimmten Religionshandlungen  ; er empfängt keinen Codex der Ethik, der nur für ihn geschaffen ist. Was wir von ihm erwarten

457 Friedrich Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe Werke, Abt. VII, Bd. 3, Tübingen 1994, S. 226  : »Wahrheit ist eine Art von Irrthum ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte.« Siehe dazu Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 117. 458 Daston, The Vertigo of Progress. Dort beschreibt sie den Rückzug der Fin-de-Siècle-Positivisten zu einem Ideal der mechanischen Objektivität, welche »Wahrheit« sowohl als wissenschaftliches Ideal wie als Garant kultureller Autorität ersetzt habe. Symbol und Substanz dieses Prozesses sei die Fotografie. 459 SBPAH, 8. Sitzung am 29.1.1892, S. 189. 460 Ebenda, S. 190. Vgl. dazu auch schon Virchow, SBPAH, 22. Sitzung am 12.12.1868, S. 723.

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und fordern, jetzt wie ehedem, das ist die freie Ausbildung einer in sich selbst ruhenden, ehrlichen und schönen Persönlichkeit.461

Die Beschwörung des liberalen Konzepts von »Persönlichkeit« ging hier somit mit der Annahme eines universalen »sittlichen Triebs« einher. Wurden also bei den liberalen Revisionisten am Ende des 19. Jahrhunderts »Wirtschaftsfortschritt und Kulturfortschritt (…) entkoppelt und die beiden Eckpfeiler liberaler Weltanschauung, Fortschrittsprinzip und Persönlichkeitsprinzip (Theodor Barth), in ihrem Spannungsverhältnis neu überdacht«462 – bis hin zu Konsequenzen, die schließlich in der Weimarer Republik zu einer Abkehr vom liberalen Individualismus führten463  –, blieb Virchow von solchen Veränderungen unberührt. Damit bewahrte er zugleich die utopische Erwartung, dass der »Hiatus zwischen dem Fortschritt der Naturwissenschaften und dem daraus abgeleiteten Nachhinken der Moral«464 überwindbar sei. Bei diesem Versuch, liberale Gesellschaftsprinzipien unter Verzicht auf die traditionelle, von der Religion gestützte Moral zu verwirklichen und dazu alternativ Elemente einer naturwissenschaftlichen Ethik anzubieten, handelte es sich keinesfalls nur um ein theoretisches Problem  : Auf der »Berliner Konferenz der Frauen-Vereine« im Oktober 1869, auf der zunächst der Begründer des liberalen Genossenschaftswesens Hermann Schulze-Delitzsch gesprochen hatte, unterbreitete Virchow einen Plan zur Ausbildung von Frauen und Männern zu Krankenpflegern oder -pflegerinnen.465 Damit wollte er vor allem den kirchlichen und adeligen Einfluss auf Krankenhäuser und Krankenpflege zurückdrängen. Beide sollten künftig genuin »bürgerliche« Einrichtungen werden, in denen nicht mehr eine sachfremde, d. h. vor allem religiöse, sondern allein medizinische Rationalität herrschen sollte  : »Organisiren wir ganz und gar ausserhalb der kirchlichen Organisation, organisiren wir ganz innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft als solcher, nach rein menschlichen Aufgaben, ohne irgend einen weiteren Nebenzweck.«466 Bereits bei einem früheren Vortrag vor dem Berliner Handwerkerverein hatte Virchow die Bedeutung privater Initiativen für die Verbesserung der Verwundetenversorgung im ame461 Virchow, Die Gründung der Berliner Universität, S. 30 f. Siehe dazu auch ders., Lernen und Forschen. Rede beim Antritt des Rectorats an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehalten am 15. October 1892, Berlin 1892. 462 Hübinger, Hochindustrialisierung und die Kulturwerte, S. 196. Vgl. auch ders., Liberalismus und Individualismus  ; sowie Marcus Llanque, Der Untergang des liberalen Individuums. Zum «fin de siècle» des liberalen Denkens in Weimar, in  : Karsten Fischer (Hg.), Neustart des Weltlaufs  ? Fiktion und Faszination der Zeitenwende, Frankfurt a. M. 1999, S. 164–183, S. 164  ; Geulen, »Center Parcs«, S. 265–270. 463 Llanque, Der Untergang des liberalen Individuums. 464 Koselleck, Fortschritt, S. 395. 465 Rudolf Virchow, Die berufsmässige Ausbildung zur Krankenpflege, auch ausserhalb der kirchlichen Organisationen. (Rede, gehalten am 6. Nov. 1869 in der Conferenz der Frauen-Vereine zu Berlin.), Druck  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 2, S. 47–56. 466 Ebenda, S. 49.

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rikanischen Bürgerkrieg und im Krimkrieg hervorgehoben und Florence Nightingale als Modell bürgerlicher Humanität gerühmt. Dem stellte er die deutschen Verhältnisse im Einigungskrieg 1866 als Negativbeispiel entgegen, denn dort seien die privaten Hilfsmaßnahmen unter die Leitung des adligen Johanniterordens gestellt worden.467 Deshalb schlug er vor, Krankenpflegerinnenschulen nach dem Muster der 1860 von Nightingale in London geschaffenen Einrichtung zu gründen. Dies war sozusagen eine bürgerliche Antwort auf den von König Friedrich Wilhelm IV. unternommenen Versuch, durch die 1843 erfolgte Wiederbegründung des »Schwanenordens«, der zehn Jahre später in die Johanniter-Schwesternschaft eingegliedert wurde, private Initiative und christliche Nächstenliebe zur Grundlage der weiblichen Krankenpflege zu machen.468 Dabei stieß Virchow allerdings auf die ungelöste Frage, wodurch sich die selbstlose Aufopferungsbereitschaft, die bei christlichen Ordensangehörigen vorausgesetzt wurde, bei weltlichen Pflegekräften ersetzen ließ. Hier sah er sich also mit einer spezifischen Problematik der von ihm angestrebten Ausschaltung der Kirchen im Bereich der Medizin konfrontiert  : Wie konnten bestimmte für das Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft für wichtig gehaltene Wertorientierungen, die bislang religiös verbürgt gewesen waren, auf einer säkularen Grundlage gesichert werden, ohne dabei den marktgesellschaftlich naheliegenden Ausweg, nämlich eine angemessene Bezahlung, zu wählen  ? Wird man jemals in der Lage sein, den Grad von Entsagung, den Verzicht auf Genüsse, welchen man von Krankenpflegern und Pflegerinnen verlangt, durch Geld aufzuwiegen  ? (…) Ja, meine geehrten Damen, meiner Meinung nach ist allerdings darauf hinzuarbeiten, dass ein Stamm von Personen, welcher, nicht gerade ohne Lohn, – denn das würde ja eine sonderbare Zumuthung sein,  – aber ohne entsprechenden Lohn, hauptsächlich mit der inneren Befriedigung, mit dem Zweck, ihrer Kraft und Thätigkeit ein dankbares Feld zu schaffen, in diese Arbeit eintritt.469

Virchow realisierte, dass es sich hierbei um eine entscheidende Frage bei der Organisation der bürgerlichen Gesellschaft nach liberalen Prinzipien handelte. Bereits bei einem früheren Vortrag vor dem Berliner Handwerkerverein hatte er zu bedenken gegeben  : Aber ein solches Maass, ich möchte sagen, eine solche Freiheit des Wollens, eine solche Wärme des Empfindens aus rein humanen Motiven, wie sie hier vorausgesetzt werden, sind nur zu finden bei einer ganz ungewöhnlichen Gesundheit und Güte der Natur oder bei einem solchen 467 Rudolf Virchow, Ueber Hospitäler und Lazarette, Vortrag, gehalten im December 1866 im Saale des Berliner Handwerker-Vereins, Druck  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 2, S. 6–22. 468 Vgl. dazu, Ludovica Scarpa, Gemeinwohl und lokale Macht. Honoratioren und Armenwesen in der Berliner Luisenstadt im 19. Jahrhundert, München u. a. 1995, S. 125–133. 469 Virchow, Berufsmäßige Ausbildung zur Krankenpflege, S. 49 f.

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Maasse sittlicher Erziehung, wie sie die Mehrzahl nicht besitzt, welche sich gegenwärtig dem Krankendienste zuwenden. Andere Kreise der Gesellschaft müssen bewogen werden, an der Krankenpflege Theil zu nehmen  ; andere Ansprüche müssen an die Leistungen unserer Krankenwärterschulen gemacht werden, wenn die bürgerlichen Krankenpfleger die Concurrenz der geistlichen auf die Länge aushalten, wenn die Krankenhäuser zu reinen Humanitäts-Anstalten umgeschaffen werden sollen.470

Virchow ahnte jedoch bereits die Schwierigkeiten eines Appells an eine Ethik der Selbstlosigkeit inmitten einer liberalen Marktgesellschaft und sorgte sich zu Recht auch um das von ihm erhoffte Interesse sozial höher stehender Frauen an diesem Beruf. Die Probleme zeigten sich deutlich, als das auf seine Initiative hin eingerichtete Pflegerinnenhaus, das im Zusammenhang des Baus des städtischen Krankenhauses am Friedrichshain in Berlin eingerichtet wurde, seinen Lehrbetrieb aufnahm  : Die ursprünglich auf Wunsch der liberal beherrschten Berliner Stadtverordnetenversammlung absichtsvoll hoch gesetzten Anforderungen an den sozialen Stand der Bewerberinnen mussten bald wieder reduziert werden. Das ursprüngliche Statut hatte unter anderem vorgesehen, dass nur ledige Frauen zwischen 21 und 35 Jahren »von guter Gesundheit, gesittetem Lebenswandel und einer Schulbildung, wie sie auf einer Berliner Gemeindeschule erreicht werden kann«, zur Ausbildung zugelassen werden sollten. Eine entscheidende soziale Hürde bestand überdies darin, dass sie bei Ausbildungsbeginn 100 Mark hinterlegen mussten, die sie erst zurückerhielten, nachdem sie nach abgeschlossener Ausbildung einen zweijährigen Dienst als Pflegerinnen absolviert hatten.471 Die Erwartung, dass ›sittliche Antriebe‹ allein Frauen des höheren Bürgertums zu schlecht bezahlten Krankenpflegerinnenkarrieren motivieren könnten, erwies sich jedoch als Irrtum.472 Der aus der Entmachtung religiöser Leitbilder resultierende Wegfall jenseitiger Strafen und Belohnungen warf für Virchow ähnliche Probleme auf, wie sie Auguste Comte durch das Konzept des »Altruismus« zu bewältigen suchte, der die Motive guten Handelns durch die Einführung eines entsprechenden Triebes naturalisierte.473 Doch trotz solcher praktischer Schwierigkeiten bei der Begründung ethischer Kohäsionskräfte in einer liberalen Marktgesellschaft blieb Virchow auf Distanz zur religiösen Moral und schlug auch nicht den naheliegenden Weg zu einer utilitaristischen Ethik ein, wie sie 470 Virchow, Ueber Hospitäler und Lazarette, S. 19 f. 471 Siehe Statut für das Pflegerinnenhaus im städtischen allgemeinen Krankenhaus im Friedrichshain, Druck  : Virchow, Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 2, S. 114–117. 472 Siehe den Kommentar Virchows zu den Erfahrungen mit diesem Statut (ebenda, S. 117)  : »Es hat einigermaassen schwer gehalten, geeignete Personen heranzuziehen. Anfangs waren nur vereinzelte Töchter aus höheren Ständen, welche sich meldeten  ; erst in letzter Zeit ist es gelungen, etwas mehr Theilnahme zu erwecken. Auch hat man sich genöthigt gesehen, die in dem Statut aufgestellten pecuniären Bedingungen und persönlichen Verpflichtungen zu ermässigen.« 473 Zu Comte vgl. Chadwick, Secularization of the European Mind, S. 232–237.

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vor allem der angelsächsische Liberalismus entwickelte. Seine Lösung, die den Naturwissenschaften kulturelle Deutungsmacht und dem Liberalismus eine Antwort auf die Frage nach den ethischen Ressourcen der Gesellschaft liefern sollte, bestand vor allem darin, sich das humanistisch-idealistische Konzept der »Bildung« anzueignen und unter naturwissenschaftlichen Vorzeichen umzuformen. Dies führt schließlich zu der Frage nach der Rolle von Naturwissenschaft für die Bildung des ›liberalen Selbst‹. 4.4.3 Naturwissenschaftliche Bildung und das ›liberale Selbst‹

Bereits in seinem Bericht über die oberschlesische Typhusepidemie aus dem Jahr 1848 hatte Virchow die Grundlagen einer naturwissenschaftlich geprägten Bildungskonzeption formuliert, derzufolge an »die Stelle pfäffischer Überlieferung« ein »freisinniger Unterricht« treten solle, »dessen Grundlage die positive Naturanschauung« bilde. Auf diese Weise sollten die Grundlagen einer bürgerlichen Gesellschaft entwickelt werden, deren Maßstäbe sich der Natur entnehmen ließen. »Sinnliche Anschauung«, »Kritik«, »selbständige Denktätigkeit«, »gesunder Menschenverstand« neben einem »reichen Material positiver, naturwissenschaftlicher und historischer Erkenntnisse«474 waren die Stichworte dieses Bildungsmodells, das ganz auf den sich wechselseitig legitimierenden Zusammenhang von Naturwissenschaft, »Wahrheit« und Demokratie abgestellt war. Der leitende Mitarbeiter der medizinischen Abteilung des preußischen Kultusministeriums Hermann Lehnert glossierte dies in dem von Virchow vorgelegten Exemplar des Berichts spöttisch  : »Der oberschlesische Bauer und positive Naturanschauung  !  ! Virchow sollte dort Lehrer werden  !«475 Lehnerts Spott zielte vor allem auf die ausgeprägte paternalistische Komponente dieser naturwissenschaftlich-demokratischen Bildungsutopie, innerhalb derer die Ärzte während der Revolution die Rolle einer reformistischen Elite einnehmen sollten. Auf diese Weise fielen für Virchow die angestrebte Emanzipation der Gesellschaft und die Professionalisierung des Ärztestandes in eins  : War das »Hauptmittel der Demokratie«, so Virchow 1849, »die Bildung«, so sollte die naturwissenschaftlich geprägte Bildung gleichzeitig eine liberale Alternative zur Forderung nach Schutz der Ärzte vor unliebsamer Konkurrenz seitens nicht-akademischer »Quacksalber« mit Hilfe gesetzlicher Beschränkungen liefern. Anstelle staatlicher Zwangsmaßnahmen und Verbote würden, wie er glaubte, gebildete Laien von selbst den wissenschaftlichen Ärzten den Vorzug geben.476 Nach der Revolution rückte Virchow jedoch Bildung stattdessen in eine langfristige Reformperspektive ein  : Nunmehr sollte der Staat nicht länger als Bündnispartner für ein 474 Rudolf Virchow, Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie, in  : VA 2 (1848), S. 143–322, hier v. a. S. 314 f. 475 Hs. Bemerkungen Lehnerts auf dem von Virchow eingesandten Exemplar der »Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie«  : GStA-PK, I.  HA Rep.  76 VIII  A Kultusministerium, Nr. 3006 (M), Bl. 169. 476 Rudolf Virchow, Der Staat und die Aerzte, Teil 2, in  : MR, Nr. 38 vom 23.3.1849, S. 217 f., hier  : S. 217.

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Erziehungsmodell von oben angerufen werden  ; vielmehr sollte dieser selbst durch die evolutionäre Wirkung langfristiger Bildung reformiert werden. Ende der 1850er Jahre, mit dem Beginn der »Neuen Ära« in Preußen, bewegte Virchows Interesse an Bildungsfragen diesen dazu, wieder in die Politik zurückzukehren. Mit seinen Aktivitäten für das Berliner und preußische Schulwesen, aber auch für Ausstellungen, Vereine, Museen und andere Volksbildungsaktivitäten leistete er einen gewichtigen Beitrag zu jener ›Kultur des Fortschritts‹, in der eine enge Verbindung zwischen der Verbreitung des Modells der Naturwissenschaft und einer langfristigen liberalen Reformperspektive hergestellt wurde. Ähnlich wie Helmholtz in den 1860er Jahren betrachtete Virchow die rationale Reform der Gesellschaft, die sie in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen bringen sollte, als ein Resultat »naturwissenschaftlichen Denkens« und »unvoreingenommener Beobachtung«. Eine zentrale Voraussetzung einer solchen Erziehung zum »naturwissenschaftlichen Denken« bildete das »Sehen Lernen«, wie es in der medizinischen Ausbildung an Virchows Pathologischem Institut fest verankert worden war. Umkämpft war dagegen die Rolle der Naturwissenschaften an den Schulen. Bereits 1849 hatte Virchow geschrieben  : »Die Naturwissenschaften, die Prodrome und Grundlagen des Humanismus, haben sich in die Schulen hineinzuschieben angefangen.«477 Zwischen 1856 und 1872 waren diese jedoch weitgehend aus preußischen Volksschulen und bis 1882 auch aus der höheren Schulbildung verbannt. Dem lag die Überzeugung der herrschenden Kreise zugrunde, dass naturwissenschaftlicher Unterricht die Aufsässigkeit in den Köpfen gewöhnlicher Leute vermehrt und damit zum revolutionären Aufruhr 1848 beigetragen habe.478 Umgekehrt betrachteten Demokraten wie Liberale die Verbreitung des naturwissenschaftlichen Denkens an Schulen als ein Instrument der langfristigen Gesellschaftsreform. In seiner 1861 gehaltenen Rede »Ueber den Einfluss des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf die Volksbildung« entwickelte Virchow daher seine schon während der Revolution entwickelte Idee eines »freisinnigen Unterrichts« weiter. Der dort propagierte naturwissenschaftliche Bildungsbegriff drehte die von Georg Wilhelm Friedrich Hegel als Direktor eines Nürnberger humanistischen Gymnasiums 1812 formulierte Maxime um, wonach der Jugend beim Philosophieunterricht das »Sehen und Hören vergehen« solle und sie deshalb »vom konkreten Vorstellen abgezogen, in die innere Nacht der Seele zurückgezogen werden« müsse. War es für Hegel also »ein völliger Irrthum, jenen naturgemäßen, beim konkreten Sinnlichen anfangenden und zum Gedanken fortgehenden Weg für den leichtern zu halten« 479, so lautete Virchows schulisches Programm umgekehrt »Sehen Lernen« und »Denken Lernen« entsprechend der 477 Ebenda. 478 Walter Schöler, Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts im 17. bis 19. Jahrhundert. Erziehungstheoretische Grundlegung und schulgeschichtliche Entwicklung, Berlin 1970, S. 221–239  ; Kelly, The Descent of Darwin, S. 64 ff.; Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 44–50. 479 Georg Wihelm Friedrich Hegel, Ueber den Vortrag der Philosophischen Vorbereitungswissenschaften auf Gymnasien. Privatgutachten an Immanuel Niethammer vom 23. Oktober 1812, in  : Gesammelte Werke. Bd.

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»naturwissenschaftlichen Methode«. Statt wie bei Hegel vom Abstrakten zum Konkreten verlief der vorgeschlagene Weg des Denkens bei Virchow also gerade umkehrt  : Mit Hilfe einer »Erziehung der Sinne« sollten die Schüler zur genauen Naturbeobachtung befähigt werden, um damit unabhängiges Denken zu erlernen, sich von Vorurteilen und der Unterwerfung unter Dogmen zu befreien und die gleichermaßen die Gesellschaft bestimmenden Gesetze der Natur zu erkennen.480 Nicht mehr die Philosophie, sondern die Naturwissenschaft sollte künftig die Grundlage des Schulunterrichts darstellen und dadurch aufgeklärte Geister heranbilden. Virchow wollte somit die Denkmethode der modernen empirischen und experimentellen Naturwissenschaften verallgemeinern,481 die, wie er 1865 auf der Naturforscherversammlung in Hannover erklärte, ohnehin die »eigentliche Methode des menschlichen Geistes« sei. Dieser universalistische Anspruch rieb sich allerdings mit seiner Feststellung, dass dieser Geist vor allem in Deutschland wehe.482 Demgegenüber verbreitete sich etwa in England in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Modell der professionellen Rolle von Naturwissenschaftlern, wonach wissenschaftliches Denken lediglich eine disziplinierte Form des Common Sense sei und umgekehrt wissenschaftliches Denken ein Modell für gutes Denken darstelle.483 Dass Virchow die Verbindung von empiristischem Erkenntnismodell und antiideologischer Wirkung, den Anspruch auf »Wahrheit« gegenüber »Spekulation«, wenigstens phasenweise in ein nationales Projekt umdeutete, verweist darauf, dass sich die auf das 19. Jahrhundert zurückgehenden Ansätze, einen deutschen Sonderweg im Bereich des Geistes und der Innerlichkeit zu konstruieren, auch auf die Naturwissenschaften erstreckten. Im Zuge der Nationalisierung der »naturwissenschaftlichen Methode« seit den 1860er Jahren wurde aus der Opposition ›preußische Bürokratie‹ und ›katholische Erziehung‹ gegen ›naturwissenschaftliche Erziehung‹ und ›Demokratie‹, die Virchows Oberschlesienbericht geprägt hatte, nunmehr der Gegensatz von »römischem« und »deutschem« Denken. Für Virchow entsprach dies zugleich dem Gegensatz von Autoritätsglauben und »naturwissenschaftlicher Methode«484. Auf der Naturforscherversammlung 1871 in Ros10,2  : Nürnberger Gymnasialkurse und Gymnasialreden (1808–1816), hg. v. Klaus Grotsch, Hamburg 2006, S. 823–832, hier  : S. 830 f. 480 Rudolf Virchow, Über die neueren Fortschritte in der Pathologie, in  : Beilage zum Tageblatt der 41. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Frankfurt a. M. 1867, S. 33–40  ; ders., Über den naturwissenschaftlichen Unterricht  ; ders., Über Aufgaben und Bedeutung der Versammlungen der deutschen Naturforscher und Ärzte. Eröffnungsrede auf der Naturforscher-Versammlung in Berlin, 18.  September 1886, in  : Tageblatt der 59. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin vom 18. bis 24. September 1886, S. 77–87. 481 Siehe dazu v. a. Virchow, Über den Einfluß des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf die Volksbildung. 482 Virchow, Über die nationale Entwickelung und Bedeutung der Naturwissenschaften, Berlin 1865, S. 19 f. 483 Winter, Mesmerized, S. 301. 484 Virchow, Über die nationale Entwickelung und Bedeutung der Naturwissenschaften.

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tock kontrastierte er schließlich die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte und die regelmäßig 14 Tage vor den Naturforschern tagenden katholischen Vereine, um damit das Bild einer zerrissenen deutschen Nation zu zeichnen. Daraus resultierte für ihn die »Gefahr, dass sich im Laufe der Zeit in immer schärferer Weise inmitten der Nation zwei Kreise von Vorstellungen nebeneinanderher entwickeln, die natürlich zu immer größeren Differenzen führen«. Demgegenüber forderte er nunmehr, dass die Wissenschaft Gemeingut wird, und zwar nicht bloß auf dem nun allerdings schon weitverfolgten, und zwar segensreich verfolgten Wege der sogenannten Popularisierung, sondern vielmehr auf dem Wege der rationellen Erziehung. Alle bloß populäre Bildung hat den Grundmangel, Stückwerk zu sein. (…) Unsere Aufgabe muss es sein, dafür zu sorgen, dass das Wissen wieder ein gleichmäßiges, ein homogenes, ein aus gleichmäßiger Quelle fließendes werde. Dazu gehört eben eine allgemein geübte Methode des Denkens und gewisse Formen der Auffassung und Deutung der Naturerscheinungen.485

So griff er den im Jahr der Reichsgründung aufkommenden Ruf nach ›innerer Einheit‹ auf, indem er unter dem Applaus der versammelten Naturforscher und Ärzte naturwissenschaftliche Bildung als einigende Kraft anbot  : »Wenn es gelingt, unsere Methode zu der Methode der ganzen Nation zu machen, sie nicht bloß in immer größerer Ausdehnung den materiellen Arbeitsleistungen zugrunde zu legen, sondern sie auch allmählich zu erheben zu der eigentlichen Maxime des Denkens, des sittlichen Handelns, so wird die wahre Einheit der Nation gewonnen sein.«486 Die Naturwissenschaften sollten also entscheidend zur Entwicklung eines nationalen Konsenses beitragen  : Als Grundlage einer »deutschen Wissenschaft« boten sie, so Virchow, eine gemeinsame Methode des Denkens und der richtigen Beobachtung und schließlich sogar eine nicht mehr länger an das Christentum gebundene Grundlage für die Ethik. Virchows Bemühungen, »naturwissenschaftliche Prinzipien« der Anschauung und des Denkens zum Instrument nationaler kultureller Homogenisierung sowie zur Organisation des nationalen Konsenses zu erheben, gipfelten in den 1860er und 1870er Jahren. Sie bildeten ein Gegenstück zu dem von ihm intensiv geförderten »deutschen Turnen«, das in den sechziger Jahren gleichfalls zum Politikum wurde. 1864, bei einer Ansprache anlässlich einer geselligen Zusammenkunft der Berliner Turner, erklärte er es zu seinem »Glaubensbekenntnis (…), dass wo möglich die Schulzeit nur bis auf die 485 Virchow, Über die Aufgaben der Naturwissenschaften im neuen nationalen Leben Deutschlands, S. 78 f. Vgl. auch Kolkenbrock-Netz, Wissenschaft als nationaler Mythos. 486 Virchow, Über die Aufgaben der Naturwissenschaften im neuen nationalen Leben Deutschlands, S.  81  ; siehe auch ders., Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung, S. 207. Vgl. auch Wolfgang Jacob, Virchows Begriff »naturwissenschaftliche Methode«. Deutung und Grenzen, in  : Hans Querner/Heinrich Schipperges (Hg.), Wege der Naturforschung 1822–1872, Hamburg 1972, S.  88–100  ; Schmiedebach, Virchow und die Zellularpathologie.

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Hälfte für den Unterricht verwendet und die andre für Turnen und Spielen bestimmt werde«487. Auch das Turnen war insofern auf Naturwissenschaft gestützt, als die zu erlernenden Bewegungsabläufe nach physiologischen Grundsätzen gestaltet sein sollten. Neben Virchow spielte so auch du Bois-Reymond, ein überzeugter Barrenturner, eine wichtige Rolle im Kampf für das »deutsche Turnen« gegen die »schwedische Gymnastik«, die Teil der preußischen Militärausbildung geworden war. Dabei konkurrierten zwei unterschiedliche Körperkonzepte  : Auf der einen Seite stand der freie, »liberale« Körper, der zur selbständigen und doch koordinierten Bewegung seiner einzelnen Körperteile ausgebildet werden sollte. Ähnlich wie in der Metapher des »Zellenstaats« spiegelten sich hier liberale Körper- und Gesellschaftskonzepte gegenseitig. Auf der anderen Seite stand der durch »Massen-Uebung und in der Zusammengewöhnung Vieler zu gemeinschaftlichem Zweck« einer kollektiven Disziplin unterworfene Körper, wie es die preußische Regierung bevorzugte und Virchow für verderblich hielt.488 In seinen Glaubensbekenntnissen eines modernen Naturforschers fasste Virchow seine Kriterien einer auf die »Fortentwicklung des Menschengeschlechts zu immer vollkommneren Wesen« zielenden Erziehung zusammen, die auch die Basis der Schulbildung darstellen sollte. In dieser populären Schrift spitzte er die von ihm behauptete Dichotomie zwischen naturwissenschaftlichem und philosophischem beziehungsweise religiösem Denken radikal zu  – heraus kam eine platte, naturwissenschaftliche Variante des humanistischen Dünkels der »Gebildeten«, die hier auch auf zeitgenössische rassistische Stereotypen zurückgriff. Zu seinem Bildungskonzept gehörten in körperlicher Hinsicht die »Turnkunst« und die »Gymnastik« und in geistiger Hinsicht die Entwicklung der »höheren, den Menschen vom Thier unterscheidenden Hirnthätigkeiten«. Darunter verstand er die »nach mathematischen und naturwissenschaftlich-logischen Formen auf Thatsächliches gerichteten und aus Thatsachen abgeleiteten, klaren Gedankengänge«. Zu unterdrücken seien dagegen die niederen, »mehr thierische[n] Hirnfunktionen«, die aus Trieben, dunklen Gefühlen, Ahnungen, Einbildungen, poetischen Stimmungen, Launen, Wünschen, u. dgl. hervorgegangenen, halb- oder ganz unbewussten Ideen. Sie stellen uns auf die Rangstufe der Neger und Botokuden, wenngleich sie jetzt noch oft als besonders erhabene, dichterische oder theologische Offenbarungen höherer übermenschlicher Vernunft betrachtet und aus Kinderstuben, Schulen, Kirchen u. s. w. systematisch unter das Volk verbreitet werden.489 487 Virchow, Aufgabe der deutschen Turnerei, S. 14. Ähnlich äußerte er sich bereits in seiner Rede »Über die Fortschritte in der Entwicklung der Humanitäts-Anstalten«, in  : Amtlicher Bericht über die 35. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Königsberg im September 1860, Königsberg 1861, S. 41 f., hier  : S. 42. 488 SBPAH, 56. Sitzung vom 1.10.1862, S.  1938. Siehe dazu auch die Unterlagen in ABBAW, Nl Virchow, Nr. 2796  ; sowie Emil du Bois-Reymond, Das Barrenturnen und über die sogenannte rationelle Gymnastik. Erwiederung auf zwei dem Königlichen Ministerium abgegebene ärztliche Gutachten, Berlin 1862. Vgl. auch Goltermann, Körper der Nation. 489 Virchow, Glaubensbekenntnisse eines Naturforschers, S. 28 f.

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»Deutsche Wissenschaft« und »deutsches Turnen« bildeten somit den Kern des von Virchow seit den 1860er Jahren popularisierten Bildungskonzepts. Dieses zielte gleichermaßen auf die Entwicklung eines ›liberalen Selbst‹ und der deutschen Nation,490 die als Produkt eines spezifischen Bildungsprozesses definiert wurde. »Deutsche Naturwissenschaft« und »deutsches Turnen« lieferten somit einen wesentlichen Beitrag zu einer kulturellen Matrix, die eine deutsche nationale Identität hervorbringen sollte. Damit entwarf Virchow das Konzept einer naturwissenschaftlich geprägten Kulturnation, die Inklusion über die Bereitschaft und Fähigkeit zum naturwissenschaftlichen Wahrnehmen und Denken herstellte – was im Kulturkampf zum Ausschluss der Katholiken führte. Der hiermit verbundene rigide Anspruch auf nationale Homogenität und Konsens war vermutlich auch dafür mit verantwortlich, dass es der mit Virchow verbundenen Form des Liberalismus so schwer fiel, sich auf die mit der Modernisierung der deutschen Gesellschaft einhergehende Pluralisierung einzulassen. Zusammen mit dem Verlust der liberalen Besetzung des Begriffs »Nation« trug dieses Unvermögen seit den späten 1870er Jahren im Deutschen Reich zu einer manifesten Krise des Liberalismus bei. So wurde Virchows Projekt einer Liberalisierung durch naturwissenschaftliche Bildung angesichts der sich verdüsternden Perspektiven des politischen Liberalismus seit den späten siebziger Jahren immer defensiver  : Zunächst wurde es immer mehr Bestandteil der liberalen Verteidigung gegen die Herausforderung der sozialen Frage, die, wie Eugen Richter 1879 auf dem ersten Parteitag der Fortschrittspartei in Berlin erklärte, nichts weiter als ein Bestandteil der größeren Kulturfrage sei.491 Ähnlich äußerte sich auch Virchow und hob 1884 in einer Rede vor Berliner Handwerkern zugleich die Bedeutung von Bildung als zentrales Element der liberalen Selbsthilfekonzeption hervor  : Aber in jeder Zeit, mag nun diese oder jene Generation heranwachsen, wird es die erste und wichtigste Aufgabe sein müssen, daß jeder Einzelne ein möglichst großes Maß von Befähigung erlangt, sich selbst seine Stellung zu erkämpfen in der nivellirenden Masse. Wer das nicht leisten will, dem wird keine Bewegung helfen, der wird immer unter die Füße getreten werden und ein Paria bleiben. Nur durch eigene Entwicklung und Erziehung ist es möglich, daß der Mensch sich seine Stelle erkämpft und sichert.492

Aber zu diesem Zeitpunkt hatte die liberale Arbeiterbildungsbewegung ihren Höhepunkt bereits längst überschritten, und insbesondere der Versuch, naturwissenschaft490 Vgl. auch Siegfried Weichlein, »Qu’est-ce qu’une Nation  ?« Stationen der statistischen Debatte um Nation und Nationalität in der Reichsgründungszeit, in  : Wolther von Kieseritzky/Klaus-Peter Sick (Hg.), Demokratie in Deutschland. Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Essays, München 1999, S. 71–90. 491 Siehe Eugen Richter, in  : Der erste Parteitag der deutschen Fortschrittspartei. Verhandlungen derselben, Programm und Organisation der Partei, Berlin 1879, S. 30. 492 Zitiert nach Steinitz, Rudolf Virchow, S. 22.

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liche Bildungsinhalte als Teil einer liberalen Sozialreformstrategie zu vermitteln, stieß vielfach auf Ablehnung. »Man sei nicht daran interessiert zu erfahren, ›wie viele Beine die Spinne habe‹, sondern ›wie der Ausbeutung der Arbeiter Einhalt gethan werden könne‹«, protestierten viele Mitglieder liberaler Arbeiterbildungsvereine schon in den 1860er Jahren.493 Auf welche Weise bürgerliche Appelle an die Selbstbildung und Selbsterziehung an Klassengrenzen scheiterten, zeigt aber auch das Schicksal einer Initiative Virchows, der den deutschen Soldaten während des Deutsch-Französischen Krieges in einer Erstauflage von 120.000 Exemplaren detaillierte Maßregeln für Ernährung, Bekleidung und Verhalten zukommen ließ. Dort warnte er besorgt vor nassen Füßen, aber auch vor zu kalt genossenem Bier. Angesichts der Realität an der Front empfanden die Soldaten solche fürsorglichen Vorschläge zur Hygienisierung des Krieges als Hohn, was sich in sarkastischen Briefen an Virchow niederschlug.494 Der zunehmend defensive Charakter, den Virchows Konzept der naturwissenschaftlichen Bildung im Kaiserreich annahm, äußerte sich schließlich auch darin, dass er dem naturwissenschaftlichen Denken nun insbesondere die spezielle Fähigkeit zusprach, gegen Dogmatismus und antiliberale Ideologien zu immunisieren, die eine Folge ›unsauberen‹, deduktiven Denkens seien. Damit sollte die »naturwissenschaftliche Methode«, ähnlich wie in dem 1892 veröffentlichten Werk The Grammar of Science des britischen Eugenikers und Mathematikers Karl Pearson,495 zur Grundlage der Erziehung zum Staatsbürger werden. Die Hoffnungen Virchows auf antiideologische Immunisierung durch naturwissenschaftliche Bildung bezogen sich insbesondere auf die am Ende des 19. Jahrhunderts erstarkende antisemitische Bewegung, womit er diese vor allem auf kognitivem Wege zu bekämpfen suchte. Mit Blick auf diese Bewegung insistierte er darauf, dass Erziehung nicht hauptsächlich der Vermittlung von Wissen, sondern von Methode dienen solle. In erster Linie müsse die »verlorengegangene Fähig­ keit zur Beobachtung« wiederhergestellt werden. Dies sei auch eine Vorbedingung des »gesunden Menschenverstands«. Als Konstante blieb in seinem Bildungskonzept somit die entscheidende Rolle der »naturwissenschaftlichen Methode«. Die Gewöhnung von Knaben im Rahmen der Gymnasialbildung »zu doktrinären, abstrakten Betrachtungen«, erklärte er 1890 auf der preußischen Schulkonferenz, führe »zu krausen Urtei­len, 493 Christiane Eisenberg, Arbeiter, Bürger und der »bürgerliche Verein« 1820–1870. Deutschland und England im Vergleich, in  : Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. III  : Verbürgerlichung, Recht und Politik, Göttingen 1995, S. 48–80, hier  : S. 71. 494 Siehe Rudolf Virchow, Gesundheitsregeln für die Soldaten im Felde, in  : ders., Gesammelte Abhandlungen auf dem Gebiet der öffentlichen Medicin, S. 143–145  ; Feldpostbriefe über die »Gesundheitsregeln«, ebenda, S. 195–197. 495 Karl Pearson, The Grammar of Science (1892), London 1951  ; siehe dazu Frank M. Turner, Public Science in Britain, 1880–1919, in  : Isis 71 (1980), S. 589–608, hier  : S. 596. Vgl. auch Theodore M. Porter, Statistics, Social Science, and the Culture of Objectivity, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1986), S. 177–191, hier  : S. 184–187.

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die allzu leicht in das geistige Leben übertragen werden und zu verheerenden Wirkungen in weitesten Kreisen der Bevölkerung führen«496. Virchow spielte damit darauf an, dass wichtige Gruppen der Gesellschaft dem liberalen Bildungskonzept entglitten waren, wovon die wachsende Stärke von Sozialdemokraten und Antisemiten, aber auch der zunehmende akademische Illiberalismus zeugten. Sein Anspruch, durch die Verbreitung der naturwissenschaftlichen Methode als universalem Denkstil einen liberalen gesellschaftlichen Konsens organisieren zu können, entfernte sich so immer mehr von den tatsächlichen Verhältnissen. Der österreichische Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler thematisierte diese Entwicklung in einem in der Internationalen Klinischen Rundschau veröffentlichten Rückblick auf das Jahr 1888. Der Aufstieg des Antisemitismus hatte auch bei ihm das Vertrauen in eine Konvergenz von naturwissenschaftlicher Medizin und Liberalismus in einer humanitären Aufklärungsutopie erschüttert. Schnitzler zweifelte deshalb am Erfolg einer Erziehung des »gesunden Menschenverstands« auf dem Wege der Schulung der empirischen Wahrnehmung  : Sogar Ärzte, die aufgrund ihrer akademischen Ausbildung beispielhaft für das »Sehen Lernen« seien, erwiesen sich ihm zufolge keineswegs als immun gegenüber antisemitischen Vorurteilen.497 Damit fasste Schnitzler die im späten 19.  Jahrhundert rapide anwachsende Verunsicherung über den Wert des von Virchow unbeirrt weiter vertretenen naturwissenschaftlichen und liberalen Bildungskonzepts präzise zusammen. Zu dieser Zeit häuften sich Diagnosen, in denen die »Symbiose von Welterkenntnis und Selbstbefreiung«, auf der diese Konzeption beruhte, radikal in Zweifel gezogen wurden.498 Dem ›liberalen Selbst‹, auf das Virchows naturwissenschaftliches Bildungskonzept zielte, wurde auf diese Weise der Boden unter den Füßen entzogen. Gangolf Hübinger zufolge lautete die liberale Grundfrage am Ende des 19. Jahrhunderts »neuformuliert, wie kann im Zeitalter der industriellen Riesenbetriebe und des allgewaltigen bürokratischen Machtstaates Persönlichkeit erhalten werden«  ?499 Dagegen lautete für Virchow die Grundfrage am Fin de siècle ebenso wie schon im Vormärz, wie »Persönlichkeit aus traditionalen Ordnungen entbunden werden«500 könne. Naturwissenschaft496 Rudolf Virchow in der 2. Sitzung am 5. Dezember 1890, in  : Deutsche Schulkonferenzen, vol. 1  : Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin, 4.–17. Dezember 1890 (Nachdruck  : Glashütten i. Ts., 1972), S. 121 f.; vgl. auch Christoph Führ, Die preußischen Schulkonferenzen von 1890 und 1900. Ihre bildungspolitische Rolle und bildungsgeschichtliche Bewertung, in  : Peter Baumgart (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, Stuttgart 1980, S. 189–223  ; Fritz Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, München 1987, S. 247 f.; Margret Kraul, Das deutsche Gymnasium 1780–1980, Frankfurt a. M. 1984, S. 88 f. u. 111–114. 497 Arthur Schnitzler, Silvesterbetrachtungen, 31.12.1888, in  : Internationale Klinische Rundschau  3 (1889), Druck  : ders., Medizinische Schriften, mit einer Einführung von Horst Thomé, Darmstadt 1988, S. 173–176, hier  : S. 174 f. 498 Geulen, »Center Parcs«, S. 260. 499 Hübinger, Hochindustrialisierung und die Kulturwerte, S. 196. 500 Ebenda.

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liche Bildung blieb für ihn das wesentliche Mittel, um dieses Ziel zu erreichen  – und zugleich auch, um neue gesellschaftliche Bindekräfte herzustellen. Zumindest Letzteres nahmen ihm seine Zeitgenossen jedoch immer weniger ab. Wie verhielt sich dieses Modell somit gegenüber den Ansätzen zur Revitalisierung des Liberalismus am Ende des 19.  Jahrhunderts  ? 1889 forderte der Nationalökonom und Historiker Ignaz Jastrow in einer historischen Betrachtung über den »Liberalismus und die Wissenschaft«, dass der Liberalismus seine verlorengegangene intellektuelle Vitalität und kulturelle Hegemonie durch eine erneute Verbindung mit der Wissenschaft wiederzugewinnen versuchen solle. Dabei richteten sich seine Hoffnungen allerdings nicht mehr länger auf die Naturwissenschaften  : Zwar sah er den Ursprung der einst so wichtigen und seit der Reichsgründung abgerissenen Verbindung zwischen Wissenschaft und Liberalismus darin, dass Adam Smith »die Nationalökonomie zu einer Naturwissenschaft gemacht« habe.501 Für die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus und Sozialismus, die sich, so Jastrow, beide mittlerweile wissenschaftlicher Rückendeckung versichert hätten, sollte sich der Liberalismus hingegen vor allem auf die Gesellschaftswissenschaften stützen.502 Dies hing auch damit zusammen, dass sich die Probleme, auf die der Liberalismus reagieren müsse, gewandelt hätten  : Der ältere Liberalismus hat das grosse Verdienst gehabt, gegenüber dem bevormundenden Polizeistaate den Wert des individuellen Willens betont zu haben. (…) Jetzt ist dieser Methode eine andere zur Seite getreten, welche das Individuum nicht nur für sich, sondern auch im Zusammenhang der menschlichen Gemeinschaft betrachtet, welche den wirtschaftlichen Vorgang nicht nur isoliert, sondern im Zusammenhange mit den sittlichen und gesellschaftlichen Beziehungen, in deren Mitte er sich vollzieht, zum Gegenstand der Erforschung macht. Diese beiden Methoden muss auch der liberale Mann, wenn er eine wissenschaftlich begründete Staatsanschauung gewinnen will, sich zu eigen machen.503

An der Schwelle des 20.  Jahrhunderts sei der Liberalismus seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen, »wenn er in der Staatswissenschaft des 18.  Jahrhunderts stehen geblieben ist«504, beendete Jastrow seinen Appell. Dies schloss indirekt auch ein Verdikt gegen den Wert der Naturwissenschaften für den Liberalismus ein, die er allerdings nur in ihrer in das 18.  Jahrhundert zurückreichenden aufklärerischen Tradition  – wie sie Virchow in vielerlei Hinsicht exemplarisch vertrat  – vor Augen hatte  : »Indem die naturwissenschaftliche Philosophie den Menschen als Naturobjekt fasst, ist die einzige Gemeinschaft, 501 Ignaz Jastrow, Der Liberalismus und die Wissenschaft. Historische Betrachtungen, in  : Vierteljahrschrift für Volkswirtschaft, Politik und Kulturgeschichte 26 (1889), Bd. 4, Teil 1, S. 1–41, hier  : S. 3. 502 Ebenda, S. 28 u. 39 ff. 503 Ebenda, S. 40 f. 504 Ebenda, S. 41.

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in welcher sie denselben denkt, die Menschheit überhaupt.«505 Naturwissenschaft, so lässt sich diese zeitgenössische liberale Problemdiagnose zusammenfassen, biete keine Handhabe zur Beschreibung von Gesellschaft und ihrer Werteproblematik und damit keine Möglichkeit, Antworten zu aktuellen Problemlagen des Liberalismus beizusteuern. Als neue liberale Leitdisziplin tauchte dagegen die Soziologie am Horizont auf. Diese Tendenz brachte Georg Simmel 1904 auf den Punkt  : Er ging über das bislang in der Nachfolge Kants angenommene Konzept des vernunftbegabten Individuums hinaus und forderte, »das Individuum in seinem gesellschaftlichen Dasein und den dort wirksamen Abhängigkeiten zu berücksichtigen«. Damit wies er dem Liberalismus gleichfalls den Weg zur Soziologie.506 Demgegenüber versuchte Virchow, den Aufstieg der modernen, empirischen Naturwissenschaften und die Verwirklichung seiner gesellschaftlichen und politischen Ziele miteinander zu verbinden. In Anlehnung an Überlegungen Bruno Latours ließe er sich somit einer »ersten Modernisierung« zurechnen, die gestützt auf die Naturgesetze einen Gegensatz von Rationalität und Obskurantismus behauptete und damit »die unbegründeten Einbildungen der menschlichen Vorurteile« zu zerstören suchte. So wurde Virchow im Zusammenhang einer »zweiten Modernisierung« selbst zum Objekt einer neuen Kritik, die durch die Unterscheidung von Wissenschaft und Ideologie die Auswüchse der Naturalisierung von Gesellschaft bekämpfte.507 Indem er auch unter den Bedingungen des Reflexivwerdens der Moderne508 an der ›Gleichzeitigkeit‹ von materiellem und moralischem Fortschritt festhielt, erwies er sich als eine Gestalt des Übergangs, deren Projekt es war, den »Fortschritt« zu befördern, ohne dabei jedoch einen Sinn für die damit verbundenen Spannungen und Ambivalenzen zu entwickeln. Dieses fehlende Gespür für die Veränderungen und inhärenten Spannungen der Moderne ist eine wesentliche Ursache dafür, dass die szientistisch geprägte liberale Utopie bald nach der Reichseinigung in eine Krise geriet  : Virchows Antworten, die er auf den im Kaiserreich stark anwachsenden gesellschaftlichen Orientierungsbedarf zu geben versuchte, blieben einem immer mehr als überholt angesehenen Problem- und 505 Ebenda, S. 1. 506 Llanque, Der Untergang des liberalen Individuums, S. 164. Siehe dazu Georg Simmel, Kant und der Individualismus, in  : ders., Gesamtausgabe, hrsg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1995, S. 273–282. Vgl. dazu auch Michael Walzer, Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus, in  : Honneth (Hg.), Kommunitarismus, S. 157–180, hier  : S. 178 ff. 507 Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 50 ff. 508 Vgl. Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand, Berlin 1988, S. 84  ; sowie Stefan Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1993, S. 15 ff. Diese verorten das Aufkommen einer reflexiven Modernität bereits im späten Kaiserreich, während Ulrich Beck und Anthony Giddens den Übergang von einer »einfachen« zu einer »reflexiven« Moderne als Zukunfts- bzw. als Gegenwartsprojekt beschreiben. Vgl. auch Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt  a.  M. 1986, S.  14  ; Anthony Giddens, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft der radikalen Demokratie, Frankfurt a. M. 1997, S. 118–127  ; Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 50 ff.

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Deutungshorizont verhaftet. Seinen Zeitgenossen erschien er in zunehmenden Maße in wissenschaftlicher und politischer Hinsicht als ›altmodisch‹, und sogar sein Beharren auf »Wahrheit« geriet in den Geruch einer liberalen Ideologie. So vereinten sich hier individuelle Faktoren, d. h. die zunehmende altersbedingte Starrheit seiner Auffassungen, mit strukturellen Faktoren, d. h. die mangelnde Entwicklungs- und Anschlussfähigkeit an moderne Tendenzen, die der szientistischen, liberalen Utopie anhaftete. Das Projekt einer ›naturwissenschaftlichen Wissensgesellschaft‹, die sich vor allem auf die gleichermaßen liberalisierende wie einen nationalen Konsens begründende »naturwissenschaftliche Methode« stützte, verlor dabei gleichermaßen an intellektueller Überzeugungskraft wie an politischer und sozialer Attraktivität. Damit endete selbstverständlich weder die Geschichte der Naturwissenschaften noch die des Liberalismus, aber eine spezifische und vergängliche Konstellation  : Die Wahlverwandtschaft von Naturwissenschaft und Liberalismus war spätestens im wilhelminischen Deutschland zu einem historischen Auslaufmodell geworden – und Rudolf Virchow zu ihrem teils gefeierten, teils verhöhnten Symbol.

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5 Fazit Wenn wir im 21. Jahrhundert auf das Leben Rudolf Virchows zurückblicken, so stellt sich die Frage, wie sich bei ihm Wissenschaft und Politik in Lebenswelt, Karriere und Denkstil aufeinander beziehen lassen. Ein wiederkehrendes Leitmotiv ist der Befund seines allmählichen »Unzeitgemäßwerdens«, auch wenn man diese Geschichte nicht zu sehr von ihrem Ende her betrachten sollte. Gehörte Virchow Mitte des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich und politisch zur Avantgarde, so verkörperte er im Deutschen Kaiserreich zunehmend den Stil einer bereits überlebt erscheinenden Epoche. Immer mehr wurde er zum erratischen Repräsentanten einer »vergangenen Zukunft« (Reinhart Koselleck), die zugleich eine nichtverwirklichte, liberalere Alternative der deutschen Geschichte beinhaltet. Es geht somit um die Chancen, die Ambivalenzen und auch das Scheitern des zeitweiligen Bündnisses von Naturwissenschaften und Liberalismus, das in einer »Kultur des Fortschritts« (David Blackbourn) verankert war. Dass sich die Welt schneller zu ändern begann als die Menschen, die in ihr lebten, wurde in einem Jahrhundert, das von rasanter Modernisierung geprägt war, zu einer neuen Grunderfahrung. Virchow blieb zeitlebens dem Erfahrungsraum des Vormärz verhaftet, aus dem sich auch seine Wahrnehmung der Problemlagen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts speiste. Er selbst verstand sich nach der Revolution von 1848 als Angehöriger einer »rationellen Generation«, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisanspruch und politische Zukunftshoffnungen miteinander zu verbinden suchte. Dazu gehörte ein spannungsvolles Verhältnis zur neuhumanistisch-idealistischen Tradition, von der Virchows Gymnasialbildung in den 1830er Jahren geprägt war. Sein Beispiel verweist auf die persönlichkeitsbildenden Züge dieses Bildungsmodells, das insbesondere einen Modus der ›unpersönlichen Subjektivität‹ einübte  : Individualisierung ging einher mit Normierung und Selbstkontrolle.509 Neben königstreuer staatsbürgerlicher Erziehung und protestantischer – und dies hieß zugleich radikal anti-katholischer – religiöser Unterrichtung vermittelte die preußische Gymnasialbildung vor allem die Hochschätzung von »Wissenschaft«, die in der protestantischen Arbeitsethik einen Spitzenplatz einnahm. Das neu entstehende Modell des »Naturwissenschaftlers« – ein europaweites Phänomen zu Beginn des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts – fand somit im neuhumanistischen Schulsystem eine wichtige Stütze. 509 Vgl. dazu Suzanne Marchand, Foucault, die moderne Individualität und die Geschichte der humanistischen Bildung, in  : Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 323–348, hier  : S. 339.

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Fazit

Im Rahmen seiner 1839 aufgenommenen Ausbildung als Stipendiat an der Pépinière, einer militärmedizinischen Ausbildungsanstalt in Berlin, erwarb Virchow als Schüler von Johannes Müller und Johannes Lucas Schönlein ein naturwissenschaftliches Methodenverständnis der Medizin. Zugleich wurde er in einen Wandel der Wissenschaftskultur einbezogen. Initiiert von der preußischen Kultusbürokratie setzte dieser seit den 1830er Jahren den Forschungsimperativ als Leitwert durch. Virchows rasanter wissenschaftlicher Aufstieg seit Mitte der 1840er Jahre verdankte sich nicht nur Talent, Fleiß und dem sozialen sowie kulturellen Kapital seiner Berliner Onkel, sondern auch den Karrieremöglichkeiten, die aus der »defensiven Modernisierung« (Hans-Ulrich Wehler) des preußischen Staates resultierten. Virchow begriff die für viele seiner Zeitgenossen noch ungewohnte wissenschaftliche Öffentlichkeit und die Marktförmigkeit der Wissenschaft als Chance, die er geschickt nutzte  : Er trat als wissenschaftlicher Neuerer auf und inszenierte sich als jugendliches Genie und Bilderstürmer. Zugleich protegierte ihn die preußische Militärmedizin, die sein Potential für das Projekt einer kontrollierten und begrenzten Reform von oben sehr schätzte. Während sich das vormärzliche Berlin zunehmend politisierte, ließ sich auch Virchow von der aufkommenden Proteststimmung erfassen, die auf Veränderung drängte. Eine erste wichtige Zäsur erfolgte 1847/48, als in Oberschlesien eine Typhusepidemie ausbrach. Nachdem die neue Macht der öffentlichen Meinung das Versagen der preußischen Bürokratie skandalisierte, entsandte das preußische Medizinalministerium eine Untersuchungskommission, darunter auch Virchow, in das Krisengebiet. Was jedoch als erfolgreiche, tatkräftige Krisenkommunikation geplant war, wurde zum Katalysator politischer Radikalisierungen  : Als während der laufenden Enquete die Revolution ausbrach, nahm Virchow die neuartige Rolle des »engagierten Wissenschaftlers« (Everett Mendelsohn) ein. Dieser neue Typus nahm die Revolution als Herausforderung, wissenschaftliche Theorie in Praxis und naturwissenschaftliche Autorität in politische Gestaltungsansprüche zu überführen. War das vor der Revolution entwickelte Programm der »naturwissenschaftlichen Medizin« zunächst darauf gemünzt gewesen, mittels des neu installierten Paradigmas im wissenschaftlichen Feld zu reüssieren, so wurde der damit verbundene Autoritätsanspruch nunmehr auf die ganze Gesellschaft ausgedehnt. In seinen 1848 verfassten Berichten über die Typhusepidemie richtete Virchow den Blick des Pathologen auf die oberschlesische Natur und Gesellschaft und verband seine sozialmedizinische Diagnose mit umfangreichen politischen Reformvorschlägen. Sein Entwurf zielte auf eine paternalistische Demokratisierung, die von modernen, naturwissenschaftlichen Ärzten gesteuert werden sollte. Indem Virchow während der Revolution alle Lebensbereiche politisierte, negierte er die Trennung von Wissenschaft und Politik ebenso wie die von «öffentlich« und «privat«. Damit näherte er sich vorübergehend dem Typus des Denken und Tat vereinigenden »totalen Intellektuellen« (Christophe Charle) an. Seine medizinischen und politischen Unternehmungen gingen in dieser Zeit also 485

Fazit

gänzlich ineinander auf, wobei er die Partikularinteressen einer Intellektuellengruppe mit den universalen Interessen der Menschheit gleichsetzte. Mit dem Umschwung der Revolution drehte sich das Blatt für Virchow  : Inzwischen war eine konservative Gegenöffentlichkeit entstanden, die ihrerseits darauf drängte, den Gegensatz von »öffentlich« und »privat« aufzuheben, und politisches Verhalten wurde verstärkt zum Kriterium für wissenschaftliche Karrieren. Für Virchow, der sich während der Revolution auf konservativer Seite als radikaler Demokrat verhasst gemacht hatte, entstand damit eine bedrohliche Situation. Da aber das preußische Kultusministerium den ehemaligen wissenschaftlichen Hoffnungsträger nur ungern verlieren wollte, kam ein Strafarrangement zustande, das hauptsächlich symbolische Bedeutung hatte. Virchows Position als Leiter des Leichenhauses der Charité blieb weitgehend geschont, allerdings musste er sich zu politischer Abstinenz verpflichten – eine Abmachung, die wegen seiner Ende 1849 erfolgten Berufung nach Würzburg wenig praktisches Gewicht erlangte. Dennoch zeigt sie, dass es am Ende der Revolution 1849 prinzipiell noch möglich war, auf die absolutistische Unterscheidung von Staatsraison und Privatraison zurückzugreifen, um damit dem seitens der konservativen Öffentlichkeit erhobenen totalisierenden Zugriff – der das revolutionäre Modell nachahmte – zu entkommen. Der spätere Umgang mit Virchows politischer Dissidenz im Kaiserreich unterstreicht dagegen, dass dies immer schwieriger wurde. Hier stellte sich eine der Kehrseiten des Aufstiegs der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert heraus  : die Ideologisierung politischer Konflikte. Nach dem Ende der aus Sicht Virchows und seiner Freunde gänzlich gescheiterten Revolution trennte er öffentliche und private Sphäre, und damit auch Wissenschaft und Politik, wieder streng voneinander. Das Jahr 1849/50 verdichtete sich zugleich zur tiefsten biographischen Zäsur seines Lebens, in der er in depressiver Stimmung an Auswanderung und sogar an Freitod dachte. Am Ende dieser Phase erfand er sich gewissermaßen neu, wie auch sein veränderter Habitus signalisierte  : Aus dem stutzerhaften Revolutionär wurde ein altväterlich zugeknöpfter Professor und Familienvater, und aus dem »totalen Intellektuellen«, der alle Lebensbereiche einer Einheit unterwarf, wurde – wenigstens zeitweise  – ein streng auf die Wissenschaft konzentrierter Akademiker, der sich jeder öffentlichen politischen Äußerung oder Betätigung enthielt. Den Prozess seiner Identitätskonstitution scheint er damit endgültig abgeschlossen zu haben – zumindest stellte er sein damals gezeichnetes Selbstbild nie wieder in Frage, auch wenn er seine politische Tätigkeit Ende der 1850er Jahre unter anderen Vorzeichen wieder aufnahm. Das folgende halbe Jahrhundert stellt deshalb im Hinblick auf Virchows Selbstverständnis wie Lebensführung eine Einheit dar und bietet das Bild einer naturwissenschaftlich geprägten Bürgerlichkeit. In seiner im Jahr nach der Revolution vollzogenen biographischen Passage gewährte ihm sein nunmehr gesichertes Einkommen endlich die im bürgerlichen Wertehorizont so wichtige finanzielle Unabhängigkeit. Dennoch blieb die Sicherung des Lebensstandards seiner Familie beziehungsweise die intergenerationelle 486

Fazit

Weitergabe seines sozialen Status im Kontext professoraler Lebensführung des 19. Jahrhunderts stets problematisch. Trug Virchows vorteilhafte Einkommenssituation erheblich dazu bei, den ehemaligen Revolutionär mit dem preußischen Staat auszusöhnen, so sind symbolische Gratifikationen – neben Orden und Titeln gehörte dazu besonders die Nähe zum Hof – aufschlussreich für die Frage seines bürgerlichen Selbstverständnisses. Die Kontroversen um derartige Ehrungen seiner Person verdeutlichen einmal mehr die schrittweise Ideologisierung politischer Auseinandersetzungen, die sich in einer über die Jahrzehnte hinweg verschärfenden negativen Haltung der preußischen Regierung in Virchows Ordensangelegenheiten äußerte. Zugleich entwickelte sich aber neben dem feudalen Statussystem ein davon unabhängiges bürgerliches System der symbolischen Auszeichnungen, das vor allem auf kommunalem Selbstbewusstsein basierte. Die Universitäten fanden sich hier allerdings eher auf der Seite des Staates ein. Virchow entwickelte einen gutbürgerlichen und gleichwohl bescheidenen Lebenszuschnitt. Aber besser als der gelegentlich herangezogene Topos des Asketen passt wohl der Begriff der »Mäßigkeit«. Diese bis in antike Gesundheitslehren zurückreichende Haltung verband Virchow mit dem spezifisch modernen Zug, das rechte Maß auf physiologisch exakte Weise zu berechnen, worin sich ein wichtiger Beitrag der Naturwissenschaften für den bürgerlichen Lebensstil des 19.  Jahrhunderts sehen lässt. Auch Haushalt und Erziehung der sechs Kinder des Ehepaars Virchow standen im Zeichen einer rationalen, hygienischen Lebensführung. In diesem naturwissenschaftlichen Lebensstil gingen Physiologie und Romantik eine eigenartige Verbindung ein. Dies trifft besonders auf Virchows Verhältnis zu seiner Ehefrau Rose zu, die er gleichermaßen mit dem lebendigen Blick des Liebhabers wie dem physiologischen Blick des Mediziners betrachtete. Die Ordnung der Geschlechter und die Ordnung der Gesellschaft hingen auch für Virchow eng zusammen, und so kreuzten sich hier bevorzugt das Private und das Öffentliche. Dies erwies sich vor allem an der in den 1860er Jahren aufkommenden »Frauenfrage«, die auch Virchow diskutierte. Das auf einer nach öffentlicher und privater Sphäre getrennten, polaren Geschlechtsidentität basierende bürgerliche Geschlechtermodell führte in Virchows eigener Ehe zu großen Spannungen. Seine Frau litt unter der Rollenzuteilung, die ihr ein Leben im Schatten eines im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehenden Gatten bescherte. An diesem ehelichen Konflikt wird jedoch zugleich deutlich, in welcher Weise Virchow Geschlechteridentität und professionelle Identität aufeinander bezog. Vor dem Hintergrund der im Geschlechterdiskurs fest verankerten Polarität von weiblicher Subjektivität und männlicher Objektivität entwarf er ein Bild des Naturwissenschaftlers als Super-Mann, bei dem ein Maximum an Objektivierung auf ein Minimum an Subjektivität traf. Daraus folgte für ihn, dass die Frau an der Seite des Naturwissenschaftlers die Aufgabe habe, sein Leiden an der Unfähigkeit zur Empathie in jene äußere Natur, die sein Untersuchungsobjekt darstellte, zu mildern. Virchow unterstützte die polare Trennung von öffentlicher und privater Sphäre und gestaltete sein Geselligkeitskonzept und seine sozialen Kreise entsprechend. Zumal in 487

Fazit

seiner Würzburger Zeit von 1849 bis 1856 unterschied er streng zwischen der professionell-öffentlichen Sphäre und seinem privaten Familienidyll. Die politische Repression der Restaurationsära erwies sich als ein stabilisierendes Element dieses Modells  : Die Familie wurde zum Trostraum der gescheiterten männlichen Revolutionäre. Hinzu kamen Fremdheitserfahrungen als Protestant und Demokrat in der bayerischen Diaspora. Nach seiner Rückkehr als Ordinarius und Institutsdirektor in Berlin intensivierte Virchow sein gesellschaftliches Leben, zumal er sich seit Ende der 1850er Jahre auch wieder politisch betätigte. Ein halbes Jahrhundert lang spielte er eine wichtige Rolle in einem in der Regel politisch liberal und sozial bürgerlich geprägten sozialen Netzwerk, das in Berlin durch private Geselligkeit sowie durch wissenschaftliche, politische und philanthropische Vereine getragen wurde. Gegenüber einer zwanglosen Mischung sozialer Kreise bevorzugte er die formalisierte Geselligkeit, wie sie besonders in Vereinen gegeben war, denen er viel Zeit widmete. Virchows Zeitkultur war von einer wissenschaftlichen Arbeitsethik geprägt, die auf einem älteren moralischen Diskurs über Arbeit fußte, dem Müßiggang als Bedrohung galt. Virchow thematisierte die Erschöpfung des eigenen Körpers noch in den Kategorien der Pflichterfüllung, an deren Stelle im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts Kategorien der Energieerhaltung traten. Die mit »wissenschaftlicher Arbeit« verbundene rastlose Suche nach »Wahrheit« konnte ihre theologisch-mystischen Wurzeln nicht verbergen, und somit bildete sie eine wichtige Alternative zur bildungsbürgerlichen Kunstreligion beziehungsweise zur Politik als Ersatzreligion. Für den Agnostiker Virchow spielte Religion als Dimension persönlicher Sinndeutung freilich keine Rolle. Vielmehr entwickelte er eine unter Naturwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts verbreitete Haltung, wonach Religion die angemessene Form der Kontingenzbewältigung für Frauen darstellte, während Männer in der Arbeit selbst, die in der Wissenschaft gipfelte, die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Daseins sahen. Der Tod war damit in erster Linie nur noch Mahnung, die verbleibende Zeit gut zu nutzen. Bereits einige Jahre bevor Virchow 1902 an den Folgen eines Unfalls starb, begann seine Verwandlung zum Symbol. Vor allem den Liberalen sowie den Ärzten diente seine Person zur Selbstvergewisserung ihrer politischen beziehungsweise professionellen Identität. In Virchows letzten Lebensjahrzehnten war das »Star-System« (Richard Sennett) in die Wissenschaft eingezogen und zeigte nun seine Wirkung. Virchow selbst begriff sich mehr und mehr als öffentliche Person. Damit veränderte sich auch die Trennung von öffentlich und privat, wie sie ganz allgemein für die bürgerliche Gesellschaft und insbesondere für Virchows Selbstverständnis galt. Seine symbolische Metamorphose kam 1910 mit der Enthüllung eines Virchow-Denkmals in Berlin zu einem vorläufigen Abschluss. Die mit seiner Biographie eng verbundenen Aspekte der »politischen Bürgerlichkeit« (Manfred Hettling) wurden dabei allerdings ausgeblendet, während sich die Stilisierung zum Symbol des professionellen Experten durchsetzte, die den Arzt als Helden im Kampf gegen die Krankheit auffasste. Doch die Ärzte, die die Auseinandersetzung über 488

Fazit

die Frage »Wem gehört Rudolf Virchow  ?« gewonnen hatten, vermochten sich an ihrem Sieg nicht recht zu erfreuen  : Der mit der Schaffung des Denkmals beauftragte Künstler weigerte sich, das »große Individuum« Virchow auf den Sockel zu stellen und entschied sich stattdessen für eine allegorische Darstellung. Virchows biographischer Selbstentwurf, der auf der Entwicklung von »Persönlichkeit« wie auf der Verbindung von Wissenschaft und Politik beruhte, war damit gleichermaßen in Frage gestellt. Um das Spannungsverhältnis von »Wissenschaft als Beruf« und »Politik als Pflicht«, das Virchows Leben prägte, zu verstehen, ist es hilfreich, tiefer in die sozialen Handlungslogiken dieser beiden Tätigkeitsfelder vorzudringen. So wirft sein erstaunlicher wissenschaftlicher Karrierestart zunächst Licht auf eine Kontroverse, die unter dem verkürzenden Gegensatz von »Markt« und »Modernisierung« geführt wird und die Entwicklung der deutschen Wissenschaftslandschaft im 19.  Jahrhundert einzuordnen versucht. Virchows Berufungen 1849 nach Würzburg und 1856 nach Berlin zeigen ein übereinstimmendes Bild  : Sowohl in Bayern wie in Preußen stand die Kultusbürokratie unter starkem Druck einer konservativen Öffentlichkeit, die die Berufungen politisierte. Dies kam allerdings den Wünschen der Universitäten in die Quere, die vor allem ihre wissenschaftliche Position stärken wollten. Die bayerischen und preußischen Universitätsverwaltungen und Kultusbürokratie handelten in den 1850er Jahren also schlicht in Konkurrenz um Studenten. Ausschlaggebend waren Marktfaktoren – und nicht ein irgendwie geartetes Bemühen, die Naturwissenschaften und die Medizin mit dem Zweck zu fördern, die Gesellschaft zu modernisieren. Virchow beförderte wesentlich das in der Mitte des 19. Jahrhunderts attraktive neue disziplinäre Programm der pathologischen Anatomie. Damit oblag ihm auch der Kampf um akademische Institutionalisierung sowie materielle und kulturelle Ressourcen, den er in den 1850er Jahren erfolgreich führte. Entscheidend war die 1856 erfolgende Gründung des Pathologischen Institutes in Berlin, das zunächst dem Würzburger Institut nachempfunden wurde, das Virchow ebenfalls geleitetet hatte. Im Berliner Institut entwickelte er eine spezifische disziplinäre Kultur, die ebenso wie die spätere Platzierung seiner Schüler auf Lehrstühlen dazu diente, die einmal erlangte Position der pathologischen Anatomie zu sichern. Konnte Virchow bei der Gründung seines Pathologischen Instituts noch erfolgreich mit der nationalen und internationalen Konkurrenz um Studenten argumentieren, gelang es ihm nicht, auch an die mit der Errichtung vergleichsweise luxuriöser naturwissenschaftlicher und medizinischer Institute verbundene »institutionelle Revolution« (David Cahan) anzuknüpfen, die Mitte der 1860er Jahre einsetzte. Nun wurden andere Motivationen relevanter, namentlich, dass diese Institute den Bedürfnissen einer aufsteigenden Industrienation dienen würden. Virchow musste dagegen vor allem auf die drohende Baufälligkeit seines Instituts verweisen, um überhaupt noch finanzielle Zuwendungen zu erhalten. Insbesondere der Aufstieg der Bakteriologie seit den 1880er Jahren stellte sein disziplinäres Programm zunehmend in den Schatten, was sich auch 489

Fazit

auf den hart umkämpften Zugang zu Forschungsressourcen auswirkte. Für die pathologische Anatomie handelte es sich neben Gebäuden und Personal vor allem um Kranke, Leichen und Versuchstiere. Der Umgang mit solchen Forschungsressourcen betraf immer auch die Frage, was Wissenschaft eigentlich tun dürfe  : Diese Norm musste zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit kontinuierlich ausgehandelt werden. Auch bei der Institutionalisierung der Anthropologie, deren Disziplinbildungsprozess noch am Anfang stand, spielte Virchow eine zentrale Rolle, vor allem als Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender der Berliner sowie der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Dieser Prozess oszillierte zwischen gesellschaftlicher Selbstorganisation und Anlehnung an den Staat, vor allem in finanzieller Hinsicht. Daneben war aber auch das Verhältnis zur Öffentlichkeit enorm wichtig. Einerseits war die Grenzziehung zwischen Laien und Experten eine Voraussetzung, um den Status einer anerkannten Wissenschaft zu erlangen. Andererseits basierte der Aufbau der Anthropologie auf der aktiven Mitwirkung von Laien. Wenig verwunderlich also, dass Virchow sich im Rahmen seiner wissenschaftlichen Arbeit gleichermaßen intensiv der spezialisierten Expertenöffentlichkeit und einer nichtspezialisierten Laienöffentlichkeit widmete. Virtuos und effizient bewegte er sich auf dem im 19. Jahrhundert entstehenden wissenschaftlichen literarischen Markt. Dies war nicht nur für die zunehmend dem Forschungsimperativ unterworfene individuelle Karriere wichtig, die mit dem Grundsatz Publish or perish einherging. Der wissenschaftliche literarische Markt wurde zudem immer bedeutsamer, wenn es darum ging, disziplinäre Felder zu etablieren und zu sichern. Virchow organisierte und publizierte zahlreiche Zeitschriften und Bücher sowie unzählige Artikel auf den Gebieten der Medizin und der Anthropologie. Strategisch versiert wog er dabei sehr genau ab, welche Kosten und Erträge verschiedene Publikationsformen und -orte mit sich brachten. Virchow, der auf dem publizistischen Markt mit einem diffusionistischen Verständnis von Wissenschaftskommunikation agierte, betrachtete sich selbst als Verteiler von Wissen und handelte zugleich im Rahmen seiner weitreichenden Möglichkeiten tatkräftig als wissenschaftlicher Torwächter. So gelang es ihm, die disziplinäre Entwicklung der Medizin wie der Anthropologie für einige Jahrzehnte intensiv mitzugestalten. Allerdings war die Herstellung gesicherten Wissens auch in seinem Fall von Aushandlungsprozessen zwischen Produzenten und Konsumenten beeinflusst. Dafür stehen insbesondere Prägnanz und Erfolg seines zentralen theoretischen Gebäudes, der Zellularpathologie. Dafür steht insbesondere sein berühmtestes Buch, die 1858 erschienene Cellularpathologie, das aus einer öffentlichen Vortragsserie hervorging. Dieser Erfolg verdeutlicht zugleich exemplarisch Virchows Anliegen  : Seine vielfältigen Aktivitäten auf dem Feld der Wissenschaftspopularisierung sollten gleichermaßen kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen Laien und Experten herstellen sowie die Autorität der modernen Naturwissenschaften in der Öffentlichkeit sichern. 490

Fazit

Diese Autorität verknüpfte Virchow eng mit dem Anspruch auf »Wahrheit«. Am Beispiel des Pathologischen Instituts zeigt sich, inwiefern sich diese Allianz zugleich in einer Kultur der »Wahrheit« und schließlich in einem spezifischen Habitus niederschlug. So vermittelten die dortigen Ausbildungspraktiken das Prinzip des »Sehen Lernens«, wobei die angehenden Mediziner spezifische Techniken verinnerlichten, um diszipliniert zu beobachten und wahrzunehmen. Auf diese Weise wurde ein empiristisches epistemologisches Programm, das eng mit Grundsätzen der Aufklärung verbunden war, zur Grundlage des Unterrichts. Virchow selbst lieferte in persona das Anschauungsbeispiel eines naturwissenschaftlichen Habitus, der für die professionelle Selbstdarstellung des modernen, naturwissenschaftlichen Mediziners wichtig wurde. Zugleich bildete dieser Habitus die Grundlage naturwissenschaftlicher Autorität, die auch im politischen Feld eingesetzt werden konnte. Damit stellt sich die Frage, inwieweit sich an Virchow Merkmale einer spezifisch naturwissenschaftlichen Gelehrtenpolitik identifizieren lassen. Und in welcher Spannung standen seine wissenschaftliche und politische Karriere zueinander  ? Im Gegensatz zur Zeit der Revolution, als Virchow wissenschaftliche und politische Tätigkeit in eins gesetzt hatte, definierte er später Politik dezidiert als Nebentätigkeit  – auch wenn diese phasenweise erhebliche zeitliche Ausmaße annehmen konnte. Sein politisches Revival Ende der 1850er Jahre setzte einen politischen Kompromiss des einstigen radikalen Demokraten mit dem Liberalismus voraus. Mit seinen politischen Ideen veränderte sich auch sein Politikmodell. Virchows Rückkehr in die Politik  – zunächst als Stadtverordneter und wenig später auch als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses – stand im Zeichen eines honoratiorenpolitischen Modells, das dem des »totalen Intellektuellen« entgegenstand, wie er ihn in der Revolution verkörpert hatte. Die Honoratiorenpolitik war fest im Berliner fortschrittsliberalen Milieu verankert, das sich auf ein dichtes Vereinsnetzwerk stütze – Virchow gehörte zu den Namen, die dort immer wieder auftauchten. Vor allem die Berliner Bezirksvereine spielten zunächst eine wichtige Rolle, um eine idealisierte Einheit zwischen fortschrittsliberalen Abgeordneten und dem »Volk« herzustellen, eine Vorstellung, die bald nach der Gründung des Kaiserreichs endgültig ihren Halt verlor. An Virchow ist das liberale kommunalpolitische Paradox exemplarisch abzulesen  : Sah er in der Berliner Kommunalpolitik einerseits ein Schaufenster des Fortschrittsliberalismus, beharrte er andererseits darauf, Kommunalpolitik als »unpolitische Politik« (James Sheehan) zu bewerten. Es gelang den Fortschrittsliberalen seit den 1880er Jahren jedoch immer weniger, ihre Selbststilisierung zu einer politischen Kraft, die über den gegensätzlichen Klasseninteressen stände, aufrechtzuerhalten. Zudem veränderte sich die Verwaltung  : Sie professionalisierte und bürokratisierte sich, die Entscheidungsgewalt zentralisierte sich bei den Bürgermeistern. Diese Neuerungen wirkten sich auch auf die Strukturen der Honoratiorenpolitik auf kommunaler Ebene aus. Doch vermochte Virchow seine honoratiorenpolitische Legitimation teilweise durch die Anerkennung als wissenschaftlicher Experte zu ersetzen, indem er 491

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seine naturwissenschaftliche und medizinische Kompetenz in zahlreichen städtischen Gremien einsetzte. Virchows Einstieg in die Landespolitik Anfang der 1860er Jahre fiel mit dem preußischen Verfassungskonflikt zusammen, der nicht nur eine zentrale Episode liberaler Erfahrungsbildung darstellte, sondern auch wesentlich dazu beitrug, schrittweise das Rollenverständnis des modernen Parlamentariers zu klären. Virchow ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr die Intensität dieses Konflikts das honoratiorenpolitische Modell an die Grenzen seiner Belastbarkeit führte. Bereits in der Mitte dieses Jahrzehnts sah Virchow im Berufspolitiker das Modell der Zukunft, aber sein Pflichtgefühl und der Nachwuchsmangel der Linksliberalen hielten ihn vor dem immer wieder erwogenen Ausstieg aus der Politik zurück – ein Spannungsverhältnis, das mit der Parlamentarisierung des Deutschen Reiches nach der Reichsgründung 1871 noch stärker unter Druck geriet. Das honoratiorenpolitische Modell überlebte im Linksliberalismus zwar noch bis zum Ersten Weltkrieg, die individuellen Kosten blieben jedoch außerordentlich hoch. Worin bestand nun der spezifische Beitrag Virchows zu einem liberalen Politikstil  ? Virchow begriff Demokratie prinzipiell als »Wahrheitspolitik«, wobei dieses Konzept den Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften auch dem Politischen als Maßstab zugrunde legte. Dies spielte für den Bruch zwischen den beiden liberalen Lagern am Ende des preußischen Verfassungskonflikts Mitte der 1860er Jahre eine wichtige Rolle. Auf nationalliberaler Seite setzte sich eine strenge Unterscheidung von Wissenschaft und Politik durch, sodass sich innerhalb des Liberalismus ein deliberatives und ein dezisionistisches Politikmodell gegenüberstanden, dem Virchow jedoch eine technokratische Variante hinzufügte. »Wahrheit« als politisches Kriterium sollte gemäß Virchow jedoch nicht allein zur Begrenzung der Macht traditionaler Eliten, sondern auch zur Eindämmung der Macht der ungebildeten »Massen« dienen. Dieser Konflikt trat insbesondere im »Kulturkampf« zutage, der in den 1870er und 1880er Jahren ausgefochten wurde. Dem metaphysischen Wahrheitsanspruch der Katholiken stellte Virchow den naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruch entgegen, wobei er auch für das Unvermögen des Liberalismus stand, mit der Pluralität unterschiedlicher Konzeptionen des »Guten« und »Wahren« umzugehen. Zu einer spezifisch naturwissenschaftlichen Gelehrtenpolitik gehörte vor allem die Tendenz, politische Fragen in unpolitische Sachverhalte umzudefinieren. Besonders gut zeigt sich diese Handhabe am Projekt der stadthygienischen Sanierung Berlins seit den 1860er Jahren. Hier arbeiteten sich die Akteure an dem Problem ab, wie wissenschaftliche Expertise und demokratische Legitimation von Entscheidungen ins Verhältnis zu bringen seien. Konkret stellte sich bei der Kontroverse um den Bau einer Berliner Kanalisation die Frage, wie diverse kollidierende Standpunkte in legitimer Weise zu einer politischen Entscheidung gebracht werden sollten. Virchow zufolge sollten nicht Mehrheiten, sondern ein rationaler wissenschaftlicher Diskurs zu einer Lösung führen. Mit der Ideologie des Expertentums stand er dafür ein, dass Wissenschaft auch angesichts 492

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konkurrierender Wertorientierungen in der Lage sei, übergeordnete, objektive Wertstandpunkte zu bestimmen. Die Legitimierung durch die Kraft des besseren – und das hieß hier zugleich wissenschaftlichen  – Arguments trat bei ihm an die Stelle der Legitimierung durch politisch-demokratische Mehrheiten. Zugleich flossen in Virchows wissenschaftliche Expertise zum Bau einer Kanalisation aber Elemente liberaler Wertstandpunkte ein. Das interventionistische Potenzial der Naturwissenschaften stellte er damit in den Dienst einer liberalen Sozialreform. Auch bei späteren Auseinandersetzungen um die Fleischbeschau und die Einrichtung von Schlachthöfen in Berlin berief sich Virchow einerseits auf die universalistische »Wahrheit« des Experten, um sich zugleich situativ mit derjenigen politischen Macht zu verbünden, die seine Ziele durchzusetzen vermochte. Insofern verkörpert die von ihm vertretene »Wahrheitspolitik« zugleich janusköpfig einen Aspekt der vielbeschworenen Schwäche des Parlamentarismus im Deutschen Kaiserreich  : Die Verlagerung politischer Autorität auf Experten höhlte einerseits die Macht traditionaler Eliten aus und beförderte damit einen stillen Verfassungswandel. Andererseits schmälerte sie im Namen einer universalistischen Vernunft zugleich die Rolle demokratisch legitimierter Volksvertretungen. Die Verbindung von naturwissenschaftlicher Expertenkompetenz und liberaler Gelehrtenpolitik scheint somit im Vergleich zu den Frustrationserscheinungen politischer Bürgerlichkeit im Lager der Geisteswissenschaften, wie sie etwa an Theodor Mommsen deutlich werden, resilienter gewesen zu sein. Doch sollte man hierin nicht lediglich die erfolgreiche Kombination von Erkenntnisanspruch und Orientierungsverzicht510 erblicken. Vielmehr ist Virchow ein herausragendes Beispiel dafür, dass die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert auch kulturelle Deutungsansprüche erhoben. Damit ist die Frage nach seiner Rolle als naturwissenschaftlicher Intellektueller aufgeworfen, die nicht ohne die Wissenschaftspopularisierung gedacht werden kann. Diese diente als ein Medium zur Verbreitung eines modernen, auf naturwissenschaftlichen Grundlagen beruhenden Lebensstils. Zugleich ging sie mit der Erwartung einher, dass sie auf indirektem Wege auch politische Reformen befördern würde. Die Wissenschaftspopularisierung bildete somit ein wichtiges Element in einer »Kultur des Fortschritts«, an der Virchow großen Anteil hatte. Zugleich ging es um die »Erweiterung der Definitionsmacht von Wissenschaftlern« auf das Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.511 Virchow zufolge beruhte die öffentliche Autorität des wissenschaftlichen Experten nicht nur auf seiner Fachkompetenz, sondern auch auf seiner Aura  : Diese erlangte der Sachkundige seines Erachtens vor allem, indem er unablässig die Reichweite seiner Aussagen kontrollierte. 510 Wolf Lepenies, Ein Rückblick. Die klagende Klasse und die Entstehung des guten Gewissens, in  : ders., Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa, Frankfurt a. M./New York 1992, S. 9–45. 511 Ulrike Felt, »Öffentliche« Wissenschaft. Zur Beziehung von Naturwissenschaften und Gesellschaft in Wien von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik, in  : Zeitschrift für österreichische Geschichtsforschung 7 (1996), S. 45–66, hier  : S. 65.

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Vor allem die Herausforderung des Antisemitismus seit den 1880er Jahren brachte Virchow wiederholt dazu, aus der Rolle eines Honoratiorenpolitikers herauszutreten, um stattdessen öffentlich zu intervenieren, wozu ihn später insbesondere auch Fragen der europäischen Friedenspolitik veranlassten. Zugleich weigerte er sich, den Antisemitismus auf dem Gebiet der Anthropologie, auf dem er seinerzeit selbst die führende Autorität war, zu behandeln. Stattdessen nutzte er für seine öffentliche Intervention die Aura des Experten und agierte somit als »inkompetenter Kritiker« (M. Rainer Lepsius). Angesichts seiner zunehmenden politischen Vereinsamung und der parlamentarischen Schwäche des deutschen Linksliberalismus im Kaiserreich veränderte sich also auch die Form, in der er seine politischen Auffassungen zur Geltung brachte. Hatte er bis dahin zumeist als Naturwissenschaftler und Parlamentarier in der Rolle eines kompetenten Kritikers agiert, griff er nun zunehmend – zumeist mittels Zeitungsinterviews – in gesellschaftliche Debatten ein, indem er sich direkt an die deutsche und europäische öffentliche Meinung wandte. Hierbei legte er statt wissenschaftlicher Kompetenz wissenschaftliches Prestige in die Waagschale und berief sich auf universale Wertmaßstäbe. Damit schlug Virchow zuletzt noch den Weg vom deutschen Gelehrtenpolitiker zum europäischen Intellektuellen ein. Vor dem Hintergrund der deutungskulturellen Rolle der Naturwissenschaften, die im 19. Jahrhundert immer wichtiger wurde, stellt sich schließlich die Frage nach Virchows »Denkstil«, das heißt seinen untereinander vernetzten Ideen über Natur, Gesellschaft und Kultur. Es geht also um die intensiven Beziehungen zwischen naturwissenschaftlichen und sozialen Modellen. Auf welche Weise waren in diesem Denkstil individuelle und kollektive Ordnungen von Natur und Gesellschaft aufeinander bezogen und welche Vorstellungen von zeitlicher Veränderung waren damit verbunden  ? Wie hingen szientistisches Weltbild der Naturwissenschaften und demokratisch-liberale Utopien zusammen  ? Ein wichtiges Medium der Vermittlung biologischer und sozialer Vorstellungen bilden Interdiskurse und Metaphernzirkulationen, innerhalb derer Bedeutungen zwischen verschiedenen Spezialdiskursen ausgetauscht werden und wechselseitige Beeinflussungen stattfinden. Bei Virchow fallen vornehmlich die Beziehungen zwischen Pathologie und Gesellschaftstheorie auf. Besonders an der Zellularpathologie lässt sich zeigen, wie sich biologische Theorie und Gesellschaftstheorie in seinem Denken gegenseitig beeinflussten und Wortbedeutungen beider Bereiche sich wechselseitig konstituierten. In der Beschreibung der Organisation des biologischen Körpers als eines »Zellenstaats« – das heißt eines föderalistischen Zusammenschlusses zugleich autonomer und harmonisch kooperierender Individuen  – erklärten sich Biologie und Gesellschaft wechselseitig  : Biologische Körper dienten Virchow zur Beschreibung von Staat und Gesellschaft und umgekehrt. Dabei dominierten Metaphern des Gleichgewichts und nicht etwa ein Modus der Konfliktaustragung und des Wandels. Die konservative Struktur dieses Modells 494

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spitzte sich im Zuge der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie anti-revolutionär weiter zu  : Revolution wurde in den Kategorien der Krankheit erklärt und umgekehrt. Virchows Krankheitsbegriff vermittelte nicht einfach nur biologische und gesellschaftliche Körper metaphorisch – vielmehr war sein Begriff der Krankheit per se biologisch und gesellschaftlich zugleich. Seit den 1840er Jahren favorisierte Virchow zunächst ein Krankheitsmodell, wonach pathologische Phänomene lediglich Variationen normaler physiologischer Abläufe seien  : Krankheit war somit ein veränderter Lebensvorgang und kein eigenes Wesen. Nach der Reichsgründung 1871 passte er sich jedoch stärker dem herrschenden biologisch-sozialen Krankheitsdiskurs an. Dazu gehörte vor allem die Vorstellung, wonach biologische beziehungsweise soziale Körper einer äußerlichen Bedrohung durch Krankheitserreger gegenüberständen, wofür vor allem die neu entdeckten Bakterien standen. Im gesellschaftlich-politischen Kontext waren es dagegen zum einen die rapide wachsenden Großstädte, die ein schwer kontrollierbares Gefährdungspotential darstellten, und zum anderen übernahm der Osten die Rolle eines nie versiegenden Ansteckungsherdes. Auch in Virchows Zellularpathologie wurde nun die Metapher des Kampfes zentral  : Der »Zellenstaat« wurde zur bedrohten Festung, womit die äußere wie die innere Gefährdung der Ordnung in den Mittelpunkt dieser Metaphorik rückte. Wie verhielt sich diese Verschiebung vom Konsens zum Kampf in Virchows Krankheitskonzeption zur normativen Aufladung der Unterscheidung des Normalen und des Pathologischen, die sich im 19. Jahrhundert zunehmend durchsetzte  ? Dieser Diskurs war eng mit dem Aufstieg der Statistik verbunden. Während der belgische Sozialstatistiker Adolphe Quetelet das Normale als das Resultat eines statistischen Durchschnitts definierte, hielt Virchow daran fest, dass es sich dabei um einen Idealtypus handle. Dies zeigte sich insbesondere an seinem Umgang mit Monstrositäten, die im Zentrum des Diskurses über Normalität und Anormalität standen  : Ihr Anderssein war für ihn kein Makel, sondern Variation. Im medizinischen Diskurs vermied es Virchow somit, an der normativen Aufladung des Gegensatzes von normal und pathologisch mitzuwirken. Statistik diente ihm vor allem dazu, gegenwärtige Störungen in der Ordnung biologischer wie sozialer Körper zu diagnostizieren. Anders als im medizinischen Diskurs praktizierte er allerdings im politischen Diskurs selbst jene Vermengung von Beschreibung und Bewertung, mit der diese Begrifflichkeit zunehmend beladen wurde. Die bei Virchow miteinander korrespondierenden Konzeptionen von Natur und Gesellschaft bündelten sich insbesondere im Begriff des »Fortschritts«, der eine wichtige Brücke zwischen szientistischem Weltbild und demokratischen beziehungsweise liberalen Utopien darstellte. Vorstellungen über den Fortschritt der Menschheit, der Wissenschaft und der Gesellschaft waren in Virchows Denken eng verbunden. Als er Ende der 1830er Jahre von Hinterpommern nach Berlin zog, wurde sein zyklisches Zeitbild, das von regelmäßigen Ereignissen wie Ernten und Herrscherwechseln geprägt war, von einem zunächst noch vagen linearen Fortschrittsbegriff abgelöst, der im Berliner Vormärz als kulturelle Chiffre weitverbreitet war. Mit der Revolution differenzierte sich die495

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ser Fortschrittsbegriff aus, und Virchow übernahm jene für Deutschland eigentümliche Kombination eines linearen und zyklischen Geschichtsbildes, die sich zu einem Bild der Spirale verbanden. Teilte er damals die übliche Wahrnehmung einer beschleunigten Zeit, so rückten nach dem Scheitern der Revolution Erfahrungsraum und Erwartungshorizont für ihn wieder weit auseinander. Im Zeichen seiner postrevolutionären Depression trennte Virchow »Geschichtszeit« und »Naturzeit« (Ernst Bloch). Dabei dehnten sich nicht nur die Spiralen des Fortschritts, sondern der Fortschritt der Wissenschaft wurde zum Garanten einer evolutionären Dynamik. Seit den 1860er Jahren stand der liberale Fortschrittsdiskurs schließlich immer stärker im Schatten eines deutsch-französischen Gegensatzes  : Virchow setzte diesen nun mit einem Gegensatz von Reform und Revolution gleich, der gleichermaßen für die Wissenschaft wie für die Politik gültig sei. Dieser veränderte, evolutionäre Fortschrittsbegriff ermöglichte, dass Demokraten und Liberale, die beiderseits in den 1860er Jahren ihre politischen Hoffnungen auf den »Fortschritt als Naturgesetz« (Ernst Haeckel) setzten, nun in der Fortschrittspartei zusammengingen. Dass der Fortschrittsglaube für Virchow im Zeichen des »Kulturkampfes« zu einem Kriterium der nationalen Inklusion und Exklusion wurde, verweist jedoch zugleich auf die Fragilität der Fortschrittsgewissheit der liberalen Ära. Bereits in den 1870er Jahren verblasste die Gleichsetzung von »fortschrittlich«, »liberal« und »national«, und die Fortschrittspartei büßte am Ende der liberalen Ära auch ihr Selbstverständnis als Bewegungspartei ein. Diese Erschütterung der politischen Fortschrittshoffnungen korrespondierte mit einem neuartigen Krisenempfinden, wonach der Fortschritt von Technik und Naturwissenschaften die Grundlagen des bürgerlichen Individualismus und damit auch des Liberalismus untergrabe. Virchow dagegen sah die Ambivalenzen des Fortschritts optimistisch  : Die Wissenschaft sei der magische Speer, der die Wunden, die sie schlage, auch wieder heile, formulierte er 1866512. Die »liberale Theodizee« (Rolf Peter Sieferle), die daraus resultierte, dass der Fortschritt über Leichen ging, führte bei Virchow vor allem seit den 1880er Jahren zur Musealisierung der Opfer des Fortschritts. Dies schloss gleichermaßen fremde wie heimische Kulturen ein. Seine nostalgischen Bemühungen um die Konservierung verschwindender Lebenswelten zielten jedoch weniger auf die Kompensation von Verlusterfahrungen (Hermann Lübbe), sondern bildeten vor allem die Kehrseite eines unerschütterlichen Glaubens an den optimierenden Fortschritt, dessen Bedeutung gerade angesichts verbreiteter kulturpessimistischer Stimmungen um 1900 betont werden muss. Dieser Kulturpessimismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte auch das liberale Modell des Fortschritts der Menschheit in Frage, das auf einer Kombination von Bildung einerseits und Verbesserung der Lebensumstände andererseits beruhte. Da für Virchow 512 Rudolf Virchow, Die Lehre von den Trichinen, mit Rücksicht auf die dadurch gebotenen Vorsichtsmaßregeln für Laien und Aerzte dargestellt, Berlin, 3. erhebl. vermehrte u. umgearbeitete Aufl. 1866, S. 86.

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der Mensch in biologischer Hinsicht im Post-histoire angekommen war, interessierte ihn vor allem die kulturelle Dimension seiner Entwicklung. Mit seinem Konzept einer Kulturgeschichte verfolgte er nicht nur eine liberale Volksbildungsstrategie, sondern forderte damit zugleich den Historismus der nationalliberalen, borussischen Geschichtswissenschaft szientistisch heraus. So trieb Virchow auch die Institutionalisierung der Anthropologie voran, da dort die Spannung zwischen dem Menschen als Natur- und Kulturwesen maßgeblich war, womit sie sich in Virchows Augen der historistischen Geschichtswissenschaft als überlegen erwies. Im Mittelpunkt der anthropologischen Beschäftigung Virchows stand die brisante Frage nach dem Zusammenhang von biologischen Eigenschaften und Kultur. Diese Frage wurde im 19. Jahrhundert vor allem mittels der Kategorie der »Rasse« diskutiert, bei der es sich für ihn lediglich um eine Abstraktion, einen Typus handelte. Die Grundlage von Rassen bildete für ihn die Erblichkeit, wobei er in lamarckistischer Tradition die Vererbung erworbener physischer und vor allem auch kultureller Eigenschaften vertrat. Das von Virchow wesentlich mitgestaltete Paradigma der liberalen Anthropologie widersprach Auffassungen, die eine Konkurrenz zwischen höheren und niederen Rassen voraussetzten  : An die Stelle des sozialdarwinistischen »Kampfs ums Dasein« setzte diese den »Kulturkampf«. Demzufolge waren zwar prinzipiell alle Menschengruppen zum kulturellen Fortschritt befähigt, doch besaß die Differenz verschiedener Kulturen in diesem emanzipatorischen Modell keinen Eigenwert im Sinne heutiger Identitätspolitik, der gerade die Auslöschung von Differenz als eigentlicher Frevel gilt. Dies galt gleichermaßen nach außen – für indigene Völker in den Kolonien – als auch nach innen – vor allem für Katholiken und Juden. Bei der Auseinandersetzung um die ›innere Kolonisierung‹ der Polen im Deutschen Reich widersprach Virchow dagegen der völligen Auflösung von kultureller Differenz. Mit diesem Befund verbindet sich die Frage nach der ambivalenten Rolle des Liberalismus gegenüber Rassismus und Antisemitismus. Ein geeigneter Prüfstein dafür ist die von Virchow in den 1870er und 1880er Jahren geleitete Schulkinderuntersuchung, bei der Haar-, Haut- und Augenfarbe von etwa 6,76 Millionen Schulkindern erfasst wurden. Juden wies diese Untersuchung als »Kontrollgruppe« getrennt aus, da vorausgesetzt wurde, dass es sich bei ihnen um eine eigene Ethnie handle. Eine subjektive Bedrohung durch die Durchführung der Untersuchung empfanden jedoch vor allem Katholiken. Die Ergebnisse der Untersuchung führten dazu, dass die deutsche Bevölkerung in »Blonde«, »Braune« und Mischformen eingeteilt wurde, wobei die Juden nicht als ein eigener Typus erschienen, sondern lediglich andere Mischungsverhältnisse festgestellt wurden. Lässt sich damit im Forschungsdesign und in den Intentionen Virchows und seiner Mitorganisatoren kein rassistischer Impetus erkennen, so produzierte die Untersuchung gleichwohl nichtintendierte Nebeneffekte  : Ergebnisse und Methoden waren gleichermaßen anschlussfähig an den Rassendiskurs und konnten auch unabhängig von seinen eigenen Schlussfolgerungen verwendet werden. 497

Fazit

Virchow selbst folgerte aus den Untersuchungsergebnissen vor allem, dass es sich bei allen existierenden Nationen, namentlich auch bei der deutschen, um Mischrassen handle. Dabei unterschied sich seine Position, die er mit anderen Liberalen teilte, vom zeitgenössischen Rassendiskurses vor allem dadurch, dass sie die Vermischung von Rassen als positiv bewertete. Dies implizierte allerdings die Vorstellung spezifischer Rassequalitäten, auch wenn seine anthropologischen Praktiken nicht darauf zielten, äußere Merkmale mit inneren Eigenschaften von Menschen zu verknüpfen. Zugleich blieb Virchow dem Mythos des blonden, blauäugigen Urgermanen verhaftet, auch wenn er ihm mangels empirischer Belege notgedrungen skeptisch gegenüberstand. Die von ihm in der Gegenwartsbevölkerung gesuchten Nachfahren der Urgermanen verkörperten für ihn – ebenso wie Hugenotten und Juden – Fermente des Fortschritts  ; auf diese Weise bildeten Rassenunterschiede geradezu die Voraussetzung des kulturellen Fortschritts. Zwar konnte Virchow damit seinen Fortschrittsbegriff nicht ganz aus den Prämissen des Rassendiskurses herauslösen. Doch setzte er den Fortschritt der Menschheit nicht am organischen Substrat des Menschen (das er für unveränderlich hielt), sondern an der Kultur an. So lässt sich bei Virchow das Konzept einer auf Naturwissenschaft begründeten liberalen Wissensgesellschaft finden, das zur Grundlage des Fortschritts der Menschheit – und zunächst einmal der deutschen Nation – werden sollte, womit sie sich auch als deutsche Variante der französischen mission civilisatrice interpretieren ließe. Im Gegensatz zu der auf der verbindlichen kulturellen Autorität des Kanons basierenden neuhumanistisch-idealistischen Bildungsidee513 beruhte dieses Konzept auf der angestrebten Herrschaft der »naturwissenschaftlichen Methode«, die über Jahrzehnte hinweg zu seinem Mantra wurde. Virchow erkannte in der Ablösung der Philosophie durch die Naturwissenschaften die Signatur seines Jahrhunderts. »Wissen ist Macht«, dieser mächtige Diskurs, in dem sich das Selbstverständnis der Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts artikulierte, war zwar mit dem paradigmatisch von Emil du Bois-Reymond formulierten Ignorabimus gekoppelt, doch verbarg sich hinter solcher scheinbarer Selbstbeschränkung in erster Linie ein ungebremstes Selbstbewusstsein. Neben den Geistes- und Kulturwissenschaften betraf dies vor allem die Religion als eine weitere Institution, deren Deutungskompetenz die Naturwissenschaften herausforderten. Virchow, der das Wort »Kulturkampf« in die politische Sprache eingeführt hatte, schloss nach heftigen Konflikten um die Herrschaftsansprüche des jeweiligen »Wissens« einen epistemologischen Waffenstillstand zwischen Naturwissenschaft und Religion, der auf einer strengen Grenzziehung beruhte. Gefährdet wurde dieser vor allem durch Wunder, die einen Bruch mit der normalen Ordnung des Wissens und der Welt symbolisierten.514 513 Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a. M./New York 1993, S. 13. 514 David Blackbourn, Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen – Auf-

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Fazit

Wunder forderten die Entmoralisierung des Naturdiskurses heraus, auf deren Grundlage Naturwissenschaftler im 19. Jahrhundert zumeist eine scharfe Grenze zur Ethik zogen. Davon abweichend vertrat Virchow einen naturwissenschaftlichen »Humanismus«, der eine naturwissenschaftliche Antwort auf die Frage nach den Bindekräften einer liberalen Marktgesellschaft zu geben suchte und die Naturwissenschaften als Quelle moralischer Autorität etablieren wollte. Er sah in der Naturwissenschaft ein Instrument, um die Menschen aus traditionalen Bindungen zu befreien und ihnen neue – auf Naturgesetzen beruhende – Bindungen zu verschaffen. Den Kern einer naturwissenschaftlichen Ethik bildete für Virchow das den Naturwissenschaften zugrunde liegende »Streben nach Wahrheit«. Moralische Regeln sollten mit naturwissenschaftlichen Methoden empirisch erforscht und anschließend durch Einübung internalisiert werden. Seine naturwissenschaftliche Ethik hängt eng mit einem Wahrheitsdiskurs zusammen, dessen epistemologische Grundlage im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von verschiedener Seite fundamental erschüttert wurde. Ungeachtet dessen hielt er an der utopischen Erwartung fest, wonach die Fortschritte der Naturwissenschaft und der Moral parallel verliefen. Auch angesichts praktischer Begründungsschwierigkeiten, die sich etwa bei seinen Bemühungen zur Organisation einer weltlichen Krankenpflege zeigten, blieb er so gleichermaßen auf Distanz zu religiösen wie utilitaristischen Konzepten von Moral und Ethik. Während der Revolution zielte Virchows naturwissenschaftliches Bildungskonzept auf einen wechselseitigen Zusammenhang von Naturwissenschaft, »Wahrheit« und Demokratie. Später diente es immer mehr dazu, langfristige Gesellschaftsreformen wie auch das liberale Selbst zu entwickeln. Die Kernelemente dieses Konzepts waren die Vermittlung der »naturwissenschaftlichen Methode« als universeller Denkstil sowie die auf physiologischen Erkenntnissen gestützte Leibeserziehung. Als Virchow dieses Modell in den 1860er und 1870er Jahren schließlich nationalisierte, sollte es mit »deutscher Naturwissenschaft« und »deutschem Turnen« eine kulturelle Matrix liefern, mit der sich eine deutsche nationale Identität generieren ließe. Seit den 1880er Jahren wurde dieses naturwissenschaftliche, liberale Bildungskonzept jedoch zum Kern seiner Defensivstrategie gegen Sozialdemokratie und Antisemitismus, mit der er auf staatsbürgerliche Erziehung und antiideologische Imprägnierung zielte. Das liberale Selbst, das aus Virchows naturwissenschaftlicher Bildungsidee hervorging, fand sich am Ende des 19. Jahrhunderts von vielen Seiten angefochten. Virchow stellte dagegen weder seine Überzeugungen noch sich selbst jemals in Frage – sieht man von der Episode seiner postrevolutionären Depression einmal ab. Selbstzweifel waren ihm ebenso fremd wie Selbstironie. Dabei handelt es sich vielleicht um mehr als einen individuellen Zug seines Charakters, zu dem eine vielfach bezeugte Bärbeißigkeit gehörte. Zum von Virchow gelebten liberalen Selbst gehörte ein unerschütterlicher Fortstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek b. Hamburg 1997, hier  : v. a. S. 451–468, Lorraine Daston/Katharina Park, Wonders and the Order of Nature 1150–1750, New York 1998, S. 343.

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schrittsglaube, der mit dem Gefühl verbunden war, in einer Zeit zu leben, die sich ständig erneuert und nach vorne schreitet. Diese Vorstellung steht im Gegensatz zu einem konservativen, zyklischen Lebensgefühl des ›Alles-war-schon-einmal-da‹ und kontrastiert erst recht scharf mit dem uns heute vertrauten postmodernen Lebensgefühl, in dem Geschichte, Kultur und auch das eigene Selbst Gegenstände eines ironischen Spiels mit Verweisen und Zitaten sind und dabei vielfachen Brechungen unterworfen werden. Dieses gänzlich unironische Beharren auf Persönlichkeit und Prinzipien bewirkt vielleicht auch, dass uns der Lebensentwurf Virchows heute sehr fremd erscheinen mag. Zwölf Jahre nach Rudolf Virchows Tod begann der Erste Weltkrieg, in dem jene Welt, in der er gelebt und die er mitgestaltet hatte, krachend unterging. Zugleich dementierte dieser Krieg endgültig seine optimistische Vorstellung eines auf naturwissenschaftliche Welterkenntnis gegründeten unaufhaltsamen liberalen Fortschritts. Die Biographie Virchows verweist jedoch auf die vielfältigen Möglichkeiten der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert, die nicht zwangsläufig in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts münden musste, sondern auch das Potential für eine weniger gewaltsame Zukunft bereithielt. Dieses Buch trägt hoffentlich dazu bei, beides besser zu verstehen  : die möglichen, weniger gewaltsamen Alternativen der deutschen Geschichte, aber auch die Gründe dafür, warum sich diese am Ende nicht durchsetzen konnten.

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6 Dank Die Arbeit an diesem Buch hat mein Leben ein gutes Stück begleitet, und dabei haben mir viele Menschen und Institutionen Unterstützung zukommen lassen. Umso mehr freue ich mich über die Gelegenheit, einigen von ihnen an dieser Stelle danken zu können. An der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin, wo ich von 1992 bis 1998 wissenschaftlicher Assistent war, fand ich ein gleichermaßen forderndes und inspirierendes Umfeld, das von der dort in den neunziger Jahren herrschenden Aufbau- und Aufbruchstimmung geprägt war. Besonders dankbar denke ich auch an mein akademisches Jahr am Minda de Gunzburg Center for European Studies der Harvard Universität 1998/99 zurück. Dieser privilegierte Ort schenkte mir die Gelegenheit zu zahllosen anregenden Diskussionen und gewann auf diese Weise erheblichen Einfluss auf die Gestalt dieses Buches. Und schließlich danke ich auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Niederschrift dieses Buches durch ein großzügiges Habilitationsstipendium ermöglichte. Zu den hilfreichen Institutionen gehören vor allem aber auch die von mir besuchten Archive und Bibliotheken, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ich gleichfalls meinen herzlichen Dank abstatten möchte. Darunter befinden sich vor allem das Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, das Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem, das Pommersche Landesmuseum Greifswald (vormals Stiftung Pommern, Kiel) und nicht zuletzt die Zweigbibliothek Wissenschaftsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Damit komme ich zu einigen Menschen, die ich besonders hervorheben möchte, wobei ich alle diejenigen ausdrücklich in meinen Dank einschließe, die ich nicht namentlich erwähnen kann. Ich möchte mit Peter Burger (München) beginnen, der mich auf den Geschmack an Rudolf Virchow brachte und mich in vielen Diskussionen dabei unterstützte, intellektuelle Schneisen durch dieses umfängliche Thema zu schlagen, wenn ich in Gefahr lief, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. Von meinen anderen Kollegen und Freunden möchte ich insbesondere Eric Engstrom (Berlin), Christoph Gradmann (Heidelberg), Angela Matyssek (Berlin), Paul Erker (München), Peter Helmberger (München), Arne Hessenbruch (Cambridge, Mass.) und Siegfried Weichlein (Berlin) hervorheben, die mir immer wieder fachlichen und menschlichen Rückhalt gewährten. Ich hatte das Glück, meine Arbeit auf vielen Stufen ihrer Entstehung in Seminaren und Kolloquien vorstellen zu dürfen und dabei ein interessiertes und fachkundiges Publikum zu finden. Ich möchte hier insbesondere das Seminar Rüdiger vom 501

Dank

Bruchs (Berlin) erwähnen, das über viele Jahre hinweg alle Hakenschläge meiner Arbeit geduldig mitverfolgte. Inspirierend waren aber auch die Diskussionen in den Seminaren von Wolfgang Hardtwig (Berlin), Dieter Langewiesche (Tübingen), Wolfgang U. Eckart (Heidelberg), Peter Lundgreen (Bielefeld), Norbert Frei (Bochum), Everett  E. Mendelsohn (Harvard), Rolf Winau (Berlin) sowie beim Arbeitskreis für Liberalismusforschung (Saarbrücken) und im Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Berlin). Bei den Recherchen zu diesem Buch unterstützten mich zeitweise Johannes Leicht und Hartmut Schleiff, auch ihnen möchte ich herzlich danken. Teile oder auch das vollständige Manuskript lasen und kommentierten Rüdiger Graf, Juliana Goschler und Christa Möhring. Ihre Mühen haben sehr zur besseren Gestalt dieses Buches beigetragen, was an Fehlern und Schwächen übrig geblieben ist, bleibt selbstverständlich in meiner Verantwortung. Die Philosophische Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin nahm diese Arbeit, die für den Druck überarbeitet wurde, im Wintersemester 2001/02 als Habilitationsschrift an. An dieser Stelle möchte ich deshalb schließlich auch meinem langjährigen akademischen Lehrer Ludolf Herbst und seinem Seminar herzlich danken. Und schließlich danke ich auch dem Böhlau-Verlag dafür, dass er sich entschlossen hat, ein fast 20 Jahre altes Buch noch einmal neu aufzulegen. Neben Dorothee Rheker-Wunsch möchte ich besonders meine ausgezeichnete Zusammenarbeit mit Julia Beenken hervorheben, die den Text gründlich durchgesehen hat. In meine eigene umfangreiche Überarbeitung ist vor allem die sehr bereichernde Zusammenarbeit mit meinen Promovierenden eingeflossen, aus der ich viel gelernt habe. Auch ihnen möchte ich daher ausdrücklich danken. Die Interpretation von Einleitungen und Danksagungen hat sich mittlerweile zu einer eigenen akademischen Subdisziplin entwickelt. Während man sich dort bislang vor allem auf einflussreiche akademische Peers, entsagungsvolle Partner*innen und trostspendende Haustiere zu stürzen pflegt, möchte ich hier einen neuen Baustein anbieten  : Ich danke also zunächst meiner Exfrau Juliana Goschler, die die Entstehung dieses Buches lange Zeit begleitet und sehr viel zu seinem Gelingen beigetragen hat. Und ich danke Tanja Ruzicska, die meinen Sinn für Text und Außertextliches gleichermaßen geschärft hat. Widmen möchte ich dieses Buch erneut meinem Sohn Jannes, der seit der ersten Veröffentlichung dieses Buches erwachsen geworden ist und jetzt seinen eigenen Weg geht.

502

7 Abkürzungsverzeichnis ABBAW AHUB BGAEU BrLHA CBDAG

Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte DGAEU Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte GStA-PK Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz, Dahlem MR Die medicinische Reform NDB Neue Deutsche Biographie PLM Pommersches Landesmuseum, Greifswald PTR Physikalisch-Technische Reichsanstalt RVSW Rudolf Virchow. Sämtliche Werke SBDR Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages SBPAH Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses StBB-PK Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz VA Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin (= irchows Archiv) VBGAEU Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte ZfE Zeitschrift für Ethnologie

503

8 Quellen und Literatur

8.1 Ungedruckte Quellen Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin

Nachlass Rudolf Virchow

Archiv der Humboldt-Universität, Berlin

Akten der Charité-Direktion Akten der Medizinischen Fakultät Nachlass Rudolf Virchow

Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Berlin

Schulberichte des Gymnasiums Köslin

Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam

Bestand Rep. 30 Berlin C Polizeipräsidium

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem

1. Ministerium für Wissenschaft, Kunst- und Volksbildung 1.1. Hochschul- und Wissenschaftsverwaltung (V)  : Rep. 76 V a 1.2. Medizinalverwaltung (VIII)  : Rep. 76 VIII A u. Rep. 76 VIII B 1.3. Charité  : Rep 76 VIII D 2. Geheimes Zivilkabinett  : Rep. 89 3. Preußischer Landtag  : Rep. 169 C 4. Nachlässe  : Rep. 92 Althoff  ; Rep. 92 (M), Nr. 34, Nl Adalbert Falck Rep. 92 (M), Bd. XLVI, Nl Heinrich von Sybel 504

Quellen und Literatur

Landesarchiv Berlin, Stadtarchiv

Rep. 00-02/1, Nr. 1634, 1635, 1636

Pommersches Landesmuseum, Greifswald

Sammlung Rabl-Virchow

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

Sammlung Darmstädter 3, Rudolf Virchow, K. 1, 2 Diverse Autographen von Rudolf Virchow

8.2 Gedruckte Quellen Ägyptenreise 1888. Rudolf Virchows Briefe an seine Frau, in  : Die Waage 13 (1974), S. 1–20. Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin, hrsg. von Rudolf Virchow und B. Reinhardt (bis Bd. 4), Bd. 1–169, 1847 ff. Aschoff, Ludwig  : Das Leben und der Zellenstaat, Freiburg 1934 –, Rudolf Virchow. Wissenschaft und Weltgeltung, Hamburg 1940 Bastian, Adolf  : Abstammung und Verwandtschaft, in  : ZfE 10 (1878), S. 43–74 Baumgarten, Hermann  : Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, in  : Preußische Jahrbücher 18 (1866), Teil I  : S. 454–515  ; Teil II  : S. 575–628 Baur, Erwin/Eugen Fischer/Fritz Lenz  : Menschliche Erblehre und Rassenhygiene, Bd. 1  : Menschliche Erblehre, 4., neubearb. Aufl., München 1936 Bericht über die allgemeine Versammlung der Wahlmänner aus den vier Berliner Landtags-Wahlkreisen am 12. Januar 1881 im oberen Saale der Reichshallen, Berlin 1881 Bismarck, Otto von  : Erinnerung und Gedanken, in  : ders., Die gesammelten Werke, Bd. 15, Kritische Neuausgabe auf Grund des gesamten schriftlichen Nachlasses von Gerhard Ritter u. Rudolf Stadelmann, Berlin 1932 Blind, Karl  : Personal Recollections of Virchow, in  : The North American Review 175 (1902), H. 5, S. 613–624 Boeck, Richard  : Rudolf Virchow und die Berliner Statistik, in  : Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 26. Jg., enthaltend die Statistik des Jahres 1899 nebst Theilen von 1900 einschließlich der Volkszählung, i. A. d. Magistrats hrsg. v. R. Boeck, Berlin 1902, S. III–VIII Boerner, Paul  : Rudolf Virchow bis zur Berufung nach Würzburg, in  : Nord und Süd  21 (1881), S. 105–130 Bois-Reymond, Emil du  : Culturgeschichte und Naturwissenschaft, in  : Reden von Emil du BoisReymond, Erste Folge  : Litteratur, Philosophie, Zeitgeschichte, Leipzig 1886, S. 240–306 505

Quellen und Literatur

Bölsche, Wilhelm  : Die Humanität im Kampf mit dem Fortschritt, in  : Neue deutsche Rundschau 7 (1896), S. 125–137 Brandes, Georg  : Berlin als deutsche Reichshauptstadt. Erinnerungen aus den Jahren 1877–1883, hrsg. v. Erik M. Christensen u. Hans-Dietrich Loock, Berlin 1989 Brauns, Otto  : Akademische Erinnerungen eines alten Arztes an Berlins klinische Größen, Leipzig 1901 Briefe an Rudolf Virchow. Zum hundertsten Geburtstage. Für die Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin herausgegeben, Berlin 1921 Brunn, Walter von (Hg.)  : Jugendbriefe Theodor Billroths an Georg Meissner, Leipzig 1941 Büchner, Ludwig  : Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien, Leipzig 1867 –, Virchow und der Darwinismus, in  : Die Gegenwart, 1895, Nr. 5, S. 70–72 Cahan, David (Hg.)  : Letters of Hermann von Helmholtz to his Parents. The Medical Education of a German Scientist 1837–1846, Stuttgart 1993 Chamberlain, Houston Stewart  : Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, Teil I, München 91909 Correspondenzblatt der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Jg. 1 (1870) ff. Daude, D.: Die Königliche Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Systematische Zusammenstellung der für dieselbe bestehenden gesetzlichen, statuarischen und reglementarischen Bestimmungen, Berlin 1887 Der erste Parteitag der deutschen Fortschrittspartei. Verhandlungen derselben, Programm und Organisation der Partei, Berlin 1879 Der kleine Virchow, Berlin o. J. Deutsche Schulkonferenzen, vol. 1, Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin, 4.–17. Dezember 1890 (Nachdruck  : Glashütten i. Ts., 1972) Die Anstalten der Stadt Berlin für die öffentliche Gesundheitspflege und für den naturwissenschaftlichen Unterricht, Berlin 1886 Die Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow 1876–1890, bearb. u. hrsg. von Joachim Herrmann und Evelin Maaß in Zusammenarbeit mit Christian Andree und Luise Hallof, Berlin 1990 Die medicinische Reform. Eine Wochenzeitschrift, erschienen vom 10. Juli 1848 bis zum 29. Juni 1849, hrsg. v. Christa Kirsten u. Kurt Zeisler, Berlin 1983 Die Verurtheilung der antisemitischen Bewegung durch die Wahlmänner von Berlin. Bericht über die allgemeine Versammlung der Wahlmänner aus den vier Berliner Landtags-Wahlkreisen am 12. Januar 1881 im oberen Saale der Reichshallen, Berlin 1881 Dilthey, Wilhelm  : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Mit einer Einleitung von Manfred Riedel, Frankfurt a. M. 51997 Dohrn, Anton und Rudolf Virchow. Briefwechsel 1864–1902, bearb. und mit einer wissenschaftshistorischen Einleitung versehen von Christiane Groeben u. Klaus Wenig, Berlin 1992 Dokumente aus geheimen Archiven, Bd. 5. Die Polizeikonferenzen deutscher Staaten 1851–1866. Präliminardokumente, Protokolle und Anlagen, eingeleitet und bearbeitet von Friedrich Beck u. Walter Schmidt, Weimar 1993 Droysen, Johann Gustav  : Philosophie der Geschichte (1878), Nachdruck  : ders., Texte zur Ge-

506

Quellen und Literatur

schichtstheorie. Mit ungedruckten Materialien zur »Historik«, hrsg. von Günter Birtsch u. Jörn Rüsen, Göttingen 1972, S. 66–78 –, Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857), in  : Peter Leyh (Hg.), Historik, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 1–412 Ein Gegner Bismarcks. Dokumente zur Neuen Ära und zum preußischen Verfassungskonflikt aus dem Nachlaß des Abgeordneten Heinrich Beitzke (1798–1867), hrsg. u. eingel. v. Horst Conrad, Münster 1994 Einige Briefe von Rudolf Virchow an Adolf von Bardeleben aus den Jahren 1847–1853, in  : VA 223 (1917), S. 1–9 Elster, Ludwig  : Die Gehälter der Universitätsprofessoren und die Vorlesungshonorare unter Berücksichtigung der in Aussicht genommenen Reformen in Preussen und Oesterreich, in  : Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 13 (1897), S. 193–227 Foerster, Wilhelm  : Alexander von Humboldt. Eine Gedächtnisrede zur Feier der Denkmal-Enthüllung am 28.5.1883, Berlin 1883 –, Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen, Berlin 1911 Frantz, Constantin  : Die Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft, Leipzig u. Heidelberg 1871 –, Die Staatskrankheit, Berlin 1852 –, Vorschule zur Physiologie der Staaten, Berlin 1857 Friedemann, Edmund  : Virchow als Stadtverordneter, in  : Berliner Tageblatt, Nr. 518 v. 13.10.1891 Gegenbaur, Carl  : Erlebtes und Erstrebtes, Leipzig 1901 Gneist, Rudolf  : Berliner Zustände. Politische Skizzen aus der Zeit vom 18. März 1848 bis 18. März 1849, Berlin 1849 Griesinger, Wilhelm (anonym)  : Medicinische Gespräche aus dem alten Hellas, in  : Archiv für physiologische Heilkunde, N. F. 2 (1858), S. 567–570 Haeckel, Ernst  : Die heutige Entwicklungslehre im Verhältnis zur Gesammtwissenschaft. Vortrag in der ersten öffentlichen Sitzung der fünfzigsten Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in München am 18. September 1877, Stuttgart 1877 –, Entwicklungsgeschichte einer Jugend. Briefe an die Eltern 1852–1856, Leipzig 1921 –, Freie Wissenschaft und Lehre. Eine Entgegnung auf Rudolf Virchow’s Münchner Rede über »Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat«, Stuttgart 1878 –, Ueber die Entwickelungstheorie Darwin’s. Vortrag, gehalten am 19. September 1863 in der ersten allgemeinen Sitzung der 38. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Stettin, in  : ders., Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre, Bd. 1, 2., vermehrte Auflage, Bonn 1902, S. 3–34 Hegel, Georg Wihelm Friedrich  : Ueber den Vortrag der Philosophischen Vorbereitungswissenschaften auf Gymnasien. Privatgutachten an Immanuel Niethammer vom 23. Oktober 1812, in  : Gesammelte Werke. Bd. 10,2  : Nürnberger Gymnasialkurse und Gymnasialreden (1808–1816), hg. v. Klaus Grotsch, Hamburg 2006, S. 823–832 Helmholtz, Anna von  : Ein Lebensbild in Briefen, hrsg. v. Ellen von Siemens-Helmholtz, Bd.  2, Berlin 1929 Helmholtz, Hermann von  : Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaften (1862), in  : ders., Vorträge und Reden, Bd. 1, Brunswick 1903, S. 159–185 Hermann, Alfred  : Berliner Demokraten. Ein Buch der Erinnerung an das Jahr 1848, Berlin 1848 507

Quellen und Literatur

Hermes, Otto  : Zu den Stadtverordnetenwahlen, Berlin 1887 Hobrecht, James  : Die Canalisation von Berlin, Berlin 1884 Horn Wilhelm (Hg.)  : Das Preussische Medizinalwesen. Aus amtlichen Quellen dargestellt, Bd. II, 2. vermehrte Aufl., Berlin 1863 Hörz, Herbert  : Physiologie und Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Briefe an Hermann von Helmholtz, Marburg 1994 Israel, Oskar  : Virchow und sein Archiv  : in  : VA 170 (1902), S. 2–9 Jastrow, Ignaz  : Der Liberalismus und die Wissenschaft. Historische Betrachtungen, in  : Vierteljahrschrift für Volkswirtschaft, Politik und Kulturgeschichte 26 (1889), Bd. 4, Teil 1, S. 1–41 Kisch, Enoch Heinrich  : Erlebtes und Erstrebtes. Erinnerungen, Stuttgart u. Berlin 1914 Kochhann, Heinrich Eduard  : Aus den Tagebüchern des Heinrich Eduard Kochhann, Bd. 1–3, Mitteilungen aus den Jahren 1848–1863, Berlin 1905–1908 Kolb, Georg Friedrich  : Racen der Menschheit, in  : Carl von Rotteck/Carl Welcker (Hg.), StaatsLexikon oder Encyclopaedie der Staatswissenschaften, Bd. 13, Altona 1842, S. 389–408 Kölliker, Albert  : Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1899 Kollmann, Julius  : Die Autochtonen Amerika’s, in  : ZfE 15 (1883), S. 1–45 –, Hohes Alter der Menschenrassen, in  : ZfE 16 (1884), S. 181–211 Köpke, Rudolf  : Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1860 Kußmaul, Adolf  : Erinnerungen eines alten Arztes, Bonn u. Stuttgart 1899 Lamartine, Alphonse de  : Histoire de la révolution de 1848, Paris 1848 (dt.: Geschichte der Revolution von 1848. Übers. v. Friedrich Funck, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1849 Lange, Friedrich Albert  : Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Zweites Buch  : Geschichte des Materialismus seit Kant, hrsg. u. eingeleitet v. Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 1974 Lombroso, Cesare  : Virchow und die Kriminalanthropologie, in  : Die Zukunft 16 (1896), S. 391– 396 Lorenz, Ottokar  : Die ›bürgerliche‹ Geschichte und die naturwissenschaftliche Geschichte, in  : Historische Zeitschrift 39 (1878), S. 458–485 Lubbock, John  : Prehistoric Times  : As Illustrated by Ancient Remnants and the Manners and Customs of Modern Savages, London 1865 (dt.: Die vorgeschichtliche Zeit, erläutert durch die Ueberreste des Alterthums und die Sitten und Gebräuche der jetztigen Wilden. Mit einleitendem Vorwort von Rudolf Virchow, Jena 1874) –, The Origin of Civilization and the Primitive Condition of Man  : Mental and Social Conditions of Savages, London 1870 (dt.: Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechts. Erläutert durch das innere und äußere Leben der Wilden von Sir John Lubbock. Nach der 3., vermehrten Auflage aus dem Englischen von A. Passow nebst einleitendem Vorwort von Rudolf Virchow, Jena 1875) Luschan, Felix von  : Die anthropologische Stellung der Juden, in  : CBDAG 23 (1892), S. 94–100 –, Gustav Schwalbe (1844–1916), in  : CBDAG 47 (1916), S. 15–18 Marx, Karl u. Friedrich Engels  : Werke, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 34, Berlin 1966 Moleschott, Jacob  : Physiologie der Nahrungsmittel. Ein Handbuch der Diätetik, 2. umgearb. Aufl., Giessen 1859 508

Quellen und Literatur

Mommsen, Adelheid  : Mein Vater. Erinnerungen an Theodor Mommsen, München 1992 Mommsen, Theodor  : Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 410–426 Mommsen, Wilhelm (Hg.)  : Deutsche Parteiprogramme, München 1960 Naunyn, Bernhard  : Die Berliner Schule vor 50 Jahren, Leipzig 1908 –, Erinnerungen, Gedanken und Meinungen, München 1925 Neumann, Salomon  : Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigenthum. Kritisches und Positives mit Bezug auf die preußische Medizinalverfassungs-Frage, Berlin 1847 Nietzsche, Friedrich  : Kritische Gesamtausgabe Werke, Abt. VII, Bd. 3, Tübingen 1994 Orth, Johannes  : Das pathologische Institut, in  : Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd. 3, S. 165–176 –, Rudolf Virchow vor einem halben Jahrhundert, Persönliche Erinnerungen, in  : VA 235 (1921), S. 31–44 Osler, William  : Berlin Correspondence, 25.11.1873, in  : Canada Medical and Surgical Journal  2 (1874), S. 308–315 –, Rudolf Virchow. The Man and the Student. Remarks made at the Virchow Celebration, John Hopkins University, Baltimore, October 13, 1891, Baltimore 1891 Paasch, Carl  : Geheimrath Professor Dr. Rudolph Virchow aus Schievelbein. Unser großer Gelehrter. Eine psychologische Skizze, Leipzig 1892 Parisius, Ludolf  : Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck. Ein Beitrag zur vaterländischen Geschichte mit einem Vorwort über die gegenwärtige Kanzlerkrisis, Berlin 1878 –, Die Deutsche Fortschrittspartei von 1861–1878. Eine geschichtliche Skizze, Berlin 1879 –, Leopold Freiherr von Hoverbeck. Ein Beitrag zur vaterländischen Geschichte, Bd.  1, Berlin 1897  ; Bd.  2/1  : Verfassungskampf und budgetloses Regiment. Von 1862 bis zum dänischen Kriege, Berlin 1898  ; Bd. 2/2  : Ende des Verfassungskampfes und Reichstag. Von 1864 bis 1875, Berlin 1900 Petersen, Hans  : Zellenstaat und Lebensgemeinschaft, Rudolf Virchows Lehre und wir, in  : Deutsche Allgemeine Zeitung (Reichsausgabe), 1.12.1940 Phillips, Dr. A. (Hg.)  : Statistik der Wahlen in Berlin mit einer Karte der Reichstagswahlen von 1884 nach Stadtbezirken, Berlin 1884 Quatrefages, Armand de  : La race prussienne, Paris 1871 Quetelet, Adolphe  : Ueber den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, oder Versuch einer Physik der Gesellschaft. Deutsche Uebersetzung von V. A. Ricke, Stuttgart 1838 Rabl, Marie geb. Virchow  : Meine Mutter Rose Virchow, in  : Die Waage 7 (1973), Bd. 11–12, S. 289– 292 Reiwald, Hugo  : Geschichte des fortschrittlichen Vereins »Waldeck« zu Berlin im ersten Vierteljahrhundert seines Bestehens, Berlin 1903 Richter, Eugen  : Im alten Reichstag, 2 Bde., Berlin 1894–1896 –, Rudolf Virchow als Politiker. Festrede des Abgeordneten Eugen Richter bei der 80jährigen Geburtstagsfeier am 15. Oktober zu Berlin in der Brauerei Friedrichshain, Berlin 1902 Riehl, Wilhelm Heinrich  : Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart, 2., neu bearbeit. Aufl. 1854. –, Die Familie, Stuttgart 1861 Rosenkranz, Karl  : Briefe 1827 bis 1850, hrsg. v. Joachim Butzlaff, Berlin u. New York 1994. Schlegel, Friedrich v.: Lucinde. Ein Roman, 2. unveränderte Aufl., Stuttgart 1835 509

Quellen und Literatur

Schleich, Carl Ludwig  : Besonnte Vergangenheit, Lebenserinnerungen (1859–1919), Berlin 1921 –, Erinnerungen an Rudolf Virchow, in  : Tagebuch 1 (1920) 9, S. 21–32 Schmidt, Joseph Hermann  : Die Reform der Medicinal-Verfassung Preussens, Berlin 1846 Schnitzler, Arthur  : Medizinische Schriften, mit einer Einführung von Horst Thomé, Darmstadt 1988 Seydel, Friedrich  : Unsere Familie. Gesammeltes und Erlebtes, Halle a. d. S., als Ms. gedruckt (um 1907) Siegmund, Gustav  : Preußen, seine Revolution und die Demokratie. Eine Skizze, Berlin 1849 Siemens, Werner von  : Lebenserinnerungen, Berlin 1901 –, Das naturwissenschaftliche Jahrhundert, in  : Tageblatt der 59. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte, 1886, S. 92–96 Simmel, Georg  : Kant und der Individualismus, in  : ders., Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1995, S. 273–282 Springer, Robert  : Berlin’s Strassen, Kneipen und Clubs im Jahre 1848, Berlin 1850 (Reprint der Originalausgabe, Leipzig 1985) Steinitz, Heinrich  : Eine deutsche Volksakademie, in  : Die Gartenlaube, Leipzig 1882, S. 428-430 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 4. Legislaturperiode (1880/81) – 8. Legislaturperiode (1890 ff.) Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses, 6. Legislaturperiode (1862) – 19. Legislaturperiode (1901 ff.) Stenographischer Bericht der Verhandlung über die Trichinen-Frage in der Versammlung des Berliner Schlächtergewerks (am 15. December 1865) unter Betheiligung der Herren Prof. Dr. Virchow, Prof. Dr. Hertwig, Dr. Cohnheim, Thierarzt Urban u. a., Berlin 1866 Stürzbecher, Manfred  : Deutsche Ärztebriefe des 19. Jahrhunderts, Göttingen u. a. 1975 Sudhoff, Karl  : Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, Leipzig 1922 Twesten, Karl (anonym)  : Lehre und Schriften Auguste Comte’s, in  : Preußische Jahrbücher  4 (1859), S. 279–307 Unruh, Hans Victor von  : Erinnerungen, Stuttgart u. Leipzig 1885 Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, redigiert von R. Virchow, Berlin 1 (1869) ff. Virchow, Hans  : Die Abstammung Rudolf Virchows, in  : Mitteilungen zur Geschichte der Medizin, der Naturwissenschaften und der Technik 32 (1933), S. 220–222 Virchow, Rudolf  : Abschluß der Schulerhebungen in Betreff der Farbe der Augen, der Haare und der Haut in Preussen, in  : VBGAEU 8 (1876), S. 16 –, Akklimatisation und Kolonisation, in  : Die Nation, Nr. 34, 35 u. 39 vom 23.5., 30.5. u. 27.6.1885 –, Alter und neuer Vitalismus, in  : VA 9 (1856), S. 3–55 –, Ansprache Virchows zur Eröffnung des X. internationalen medizinischen Kongresses in Berlin, in  : Berliner Klinische Wochenschrift, Nr. 32 vom 11.8.1890, S. 721–724 –, Anthropologie und prähistorische Forschungen, in  : G. Neumayer, Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen, Berlin 1875, S. 571–590 –, Atome und Individuen. Vortrag, gehalten im wissenschaftlichen Vereine der Singakademie zu Berlin am 12. Februar 1859, in  : ders., Vier Reden über Leben und Gesundheit, S. 25–75 –, Autoritäten und Schulen, in  : VA 5 (1853), S. 3–12 –, Barbarismen in der medicinischen Sprache, in  : VA 91 (1883), S. 1–11 510

Quellen und Literatur

–, Beiträge zur Geschichte der internationalen Beziehungen deutscher und französischer Gelehrter, in  : VA 54 (1872), S. 566–570 –, »Bericht des Prof. Dr. Rud. Virchow über die von Dr. Mackenzie exstirpirten Theile aus dem Kehlkopfe Seiner K. K. Hoheit des Kronprinzen«, in  : Berliner Klinische Wochenschrift, Nr. 25 vom 20.6.1887 (Separat-Abdruck) –, Berichterstattung über die statistischen Erhebungen bezüglich der Farbe der Augen, der Haare und der Haut, in  : CBDAG 7 (1876), H. 10, S. 91–102 –, Briefe an seine Eltern 1839–1864, hrsg. v. Marie Rabl, Leipzig 1906 –, Cellular-Pathologie, in  : VA 8 (1855), S. 3–39 –, Darstellung der Lehre von den Trichinen, mit Rücksicht auf die dadurch gebotenen Vorsichtsmaßregeln, für Laien und Aerzte, Berlin (2. Aufl. 1864) –, Das Karthaus vor Schivelbein, in  : Baltische Studien 9 (1843), S. 51–94  ; Nachdruck  : Zur Erinnerung an Rudolf Virchow, S. 1–38 –, Das pathologische Institut, in  : Die naturwissenschaftlichen und medicinischen Staatsanstalten Berlins. Festschrift für die 59. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte, bearb. v. Albert Guttstadt, Berlin 1886, S. 288–300 –, Der erste Sanitätszug des Berliner Hülfsvereins für die deutschen Armeen im Felde, Berlin 1870 –, Der hundertste Band des Archivs, in  : VA 100 (1885), S. 1–14 –, Der internationale Congress und die Hetzereien in der französischen Presse, in  : VA 121 (1890), S. 188 –, Der Kampf der Zellen und Bakterien, in  : VA 101 (1885), S. 1–13 –, Der Krieg und die Wissenschaft, in  : VA 51 (1870), S. 1–6 –, Deszendenz und Pathologie, in  : VA 103 (1886), S. 205–215 –, Die Anstalten der Stadt Berlin für die öffentliche Gesundheitspflege und den naturwissenschaftlichen Unterricht, (zus. mit Guttstadt), Berlin 1890 –, Die Aufgabe der deutschen Turnerei. Festrede gehalten am 30. April 1864 in der geselligen Zusammenkunft der Berliner Turner am Vorabende des Märkischen Turntages, Berlin 1864 –, Die Besetzung der Assistentenstellen am Berliner pathologischen Institut mit Beziehung auf das Glaubensbekenntnis der Bewerber, in  : VA 64 (1868), S. 138 –, Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. (Zwanzig Vorlesungen, gehalten während der Monate Februar, März und April 1858 im pathologischen Institute zu Berlin), Berlin 1858 –, Die Deutschen und die Germanen, in  : VBGAEU 13 (1881), S. 68 –, Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin. (Inhalt  : Der Mensch. Das Leben. Die Medicin. Die Krankheit. Die Seuche.) Berlin 1849 –, Die Eröffnung des pathologischen Museums der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität am 27. Juni 1899, Berlin 1899 –, Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staatsleben, in  : Amtlicher Bericht über die 50. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte, München 1877, S. 65–77 –, Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter. Rede am 3. August 1893 in der Aula der Königlichen FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1893 –, Die krankhaften Geschwülste. Dreissig Vorlesungen gehalten während des Wintersemesters 1862–1863, Bd. 1–3, Berlin 1862–1867 511

Quellen und Literatur

–, Die Kritiker der Cellularpathologie, in  : VA 18 (1860), S. 1–14 –, Die Lehre von den Trichinen, mit Rücksicht auf die dadurch gebotenen Vorsichtsmaßregeln für Laien und Aerzte dargestellt, 2. Aufl. 1864 –, Die medicinische periodische Presse in Deutschland, in  : VA 33 (1864), S. 1–15 –, Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung der Menschheit, in  : Tageblatt der 46. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Wiesbaden vom 18. bis 24. September 1873, S. 203–213 –, Die naturwissenschaftliche Methode und die Standpunkte in der Therapie, (gelesen bei der Jahressitzung der Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin zu Berlin am 20.  Decbr. 1847), in  : VA 2 (1849), S. 3–37 –, Die Sections-Technik im Leichenhause des Charité-Krankenhauses mit besonderer Rücksicht auf gerichtsärztliche Praxis, Berlin 1876  ; (engl.: A Description and Explanation of the Method of Performing Post-Mortem Examinations in the Dead-House of the Berlin Charite Hospital, with especial Reference to Medico-Legal Practice. London 1876  ; sowie Philadelphia 1877) –, Die Verbindung der Naturwissenschaften mit der Medizin, in  : Tageblatt der 59.  Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin vom 18. bis 24. September 1886, Nr. 3 vom 19.9.1886, S. 77–87 –, Die Ziele und Mittel der modernen Anthropologie. Rede auf der Naturforscher-Versammlung in Hamburg 1876, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 170–181 –, Ein alter Bericht über die Gestaltung der pathologischen Anatomie in Deutschland, wie sie ist und wie sie werden muss (1846), in  : VA 159 (1900), S. 24–39 –, Ein Sendschreiben an die Redaction des Monthly Journal of Medical Science in Edinburg, in  : VA 6 (1854), S. 427–432 –, Einige internationale Gedanken, in  : Die Nation, Nr. 51 vom 17.9.1892, S. 760 f. –, Empirie und Transzendenz, in  : VA 7 (1854), S. 1–29 –, Erinnerungen an Karl Vogt, in  : Die Nation 1895, Nr. 35, S. 498–500 –, Erinnerungen an Schliemann, in  : Die Gartenlaube 39 (1891), S. 299–303 –, Erinnerungsblätter (an Reinhardt), in  : VA 4 (1852), S. 541–548 –, Erwiderung auf die Begrüssung gelegentlich des 50jährigen Doctorjubiläums in der Berliner Anthropologischen Gesellschaft, in  : ZfE, Bd. 25, Berlin 1893, S. 360 ff. –, Feldpostbriefe über die »Gesundheitsregeln«, in  : VA 51 (1870), S. 436–438 –, Gedächtnisfeier für Heinrich Schliemann und Rede zur Bewilligung Schliemanns als Ehrenbürger Berlins, geh. am 7.7.1881, in  : ZfE 23 (1891), S. 41 –, Gedächtnisrede auf Carl Mayer, gehalten am 25. Juni 1865, Berlin 1868 –, Gedächtnisrede auf Johann Lucas Schönlein, gehalten am 23. Jan. 1865, dem Jahrestage seines Todes, in der Aula der Berliner Universität. Mit zahlreichen erläuternden Abbildungen, Berlin 1865 –, Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, 2 Bde., Berlin 1879 –, Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin, Frankfurt a. M. 1856 –, Gesammtbericht über die von der deutschen anthropologischen Gesellschaft veranlassten Erhebungen über die Farbe der Haut, der Haare und der Augen der Schulkinder in Deutschland, erstattet von Rudolf Virchow, in  : Archiv für Anthropologie 16 (1886), S. 275–475 512

Quellen und Literatur

–, Gesundheitsregeln für die Soldaten im Felde, in  : VA 51 (1870), S. 127–136 –, Glaubensbekenntnisse eines modernen Naturforschers (1873), Berlin 21878 –, Göthe als Naturforscher und in besonderer Beziehung auf Schiller. Eine Rede von Rudolf Virchow, Berlin 1861 –, Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie, hrsg. von Prof. Dr. R. Virchow, 6 Bde., 1854– 1876 –, Heinrich Schliemann, in  : Die Nation, Nr. 14, 1891, S. 211 f. –, In Nubien, in  : Die Nation, Nr. 45 v. 4.8.1888, S. 628–630 –, Instruction für die Krankenwärter des Reserve-Lazaretts des Berliner Hülfsvereins für die Armeen im Felde, Berlin 1863 –, Krieg und Frieden. Vortrag, gehalten von dem Landtagsabgeordneten Dr. Virchow im Oranienburger Thor-Bezirks-Verein am 17. Mai 1877, Berlin 1877 –, Lernen und Forschen. Rede beim Antritt des Rectorats an der Friedr. Wilhelms-Universität zu Berlin, gehalten am 15.10.1892 –, Medizin und Naturwissenschaft. Zwei Reden 1845. Mit einer Einführung von Werner Scheler, Dokumente der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. Christa Kirsten/Kurt Zeisler, Berlin 1986 –, Menschen- und Affenschädel. Vortrag, gehalten am 18.  Februar 1869 im Saale des Berliner Handwerker-Vereins, Berlin 1870 –, Mittheilung des Herausgebers an die Herren Mitarbeiter, in  : VA 159 (1900), S. 572–574 –, Mittheilungen über das Forterben von Schwanzverstümmelung bei Katzen, in  : VBGAEU  19 (1887), S. 724 –, Nach dem Kriege, in  : VA 53 (1871), S. 1–27 –, Nachruf für Ernst Reimer, in  : VA 150 (1897), S. 388 ff. –, Neue Namen und neue Begriffe in der Pathologie, in  : Berliner klinische Wochenschrift  37 (1900), Nr. 1, S. 1–3 –, Quatrefages, in  : Die Nation 9 (1892), Nr. 17, S. 256–259 –, Rassenbildung und Erblichkeit, in  : Festschrift für Adolf Bastian zu seinem 70. Geburtstage, Berlin 1896, S. 3–43 –, Rede des Geheimrath Prof. R. Virchow bei der Gedächtnisfeier für Kaiser Friedrich  III. am 7. Juli 1888, Berlin 1888 –, Rede zur Grundsteinlegung des Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses am 20. Juni 1890, gehalten von dem Vorsitzenden des Comités Rudolf Virchow, in  : Berliner Klinische Wochenschrift, Nr. 26 v. 30.6.1890, S. 599 f. –, Sämtliche Werke, hrsg. von Christian Andree  : Bd. 4, Abt. I, Medizin  : Beiträge zur wissenschaftlichen Medizin aus den Jahren 1846–1850, Bern u. a. 1992 Bd.  21, Abt. I, Medizin  : Vorlesungs- und Kursnachschriften aus Würzburg. Wintersemester 1852/53 bis Sommersemester 1854, Berlin u. a. 2000 Bd. 30, Abt. II, Politik  : Politische Tätigkeit im Preußischen Abgeordnetenhaus, 28. Okt. 1861 bis 25. Jan. 1864, Bern u. a. 1992 Bd. 31, Abt. II, Politik  : Politische Tätigkeit im Preußischen Abgeordnetenhaus, 17. Jan. 1865 bis 6. Feb. 1867, Bern u. a. 1995 Bd. 32, Abt. II, Politik  : Politische Tätigkeit im Preußischen Abgeordnetenhaus, 1. Mai 1867 bis 11. Feb. 1870, Bern u. a. 1995 513

Quellen und Literatur

Bd. 33, Abt. II, Politik  : Politische Tätigkeit im Preußischen Abgeordnetenhaus, 14. Feb. 1870 bis 13. Dez. 1874, Bern u. a. 1997 Bd. 34, Abt. II, Politik  : Politische Tätigkeit im Preußischen Abgeordnetenhaus, 6. Feb. 1875 bis 7. Mai 1877, Berlin u. a. 1999 Bd. 35, Abt. II, Politik  : Politische Tätigkeit im Preußischen Abgeordnetenhaus, 23. Okt. 1877 bis 22. Feb. 1881, Berlin u. a. 2000 Bd. 36, Abt. II  : Politik. Politische Tätigkeit im Preußischen Abgeordnetenhaus, 24. März 1881 bis 26. April 1887, Berlin u. a. 2001 Bd. 59, Abt. IV  : Briefe. Der Briefwechsel mit den Eltern 1839–1864, Berlin u. a. 2001 –, Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge. Begründet von R. Virchow und Fr. v. Holtzendorff, hrsg. von Rudolf Virchow, Berlin 1866 ff. –, Schivelbeiner Altertümer, in  : Baltische Studien 21, S. 179–196, Nachdruck  : Zur Erinnerung an Rudolf Virchow, S. 67–83 –, Sozialismus und Reaktion. Vortrag des Abgeordneten Prof. Dr. Virchow. Gehalten am 28. Juni 1878 in der Versammlung des Wahlvereins der Fortschrittspartei im 6.  Berliner ReichstagsWahlkreis, Berlin 1878 –, Transformismus und Descendenz, in  : Berliner klinische Wochenschrift 30 (1893), S. 1–5 –, Über Akklimatisation, in  : Tageblatt der 58. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Straßburg, 18. bis 23. September 1885, S. 540–550 –, Über den Abschluss der Schulerhebungen in Betreff der Farbe der Augen, der Haare und der Haut in Preussen, in  : VBGAEU 8 (1876), S. 16–18 –, Über den Einfluß des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf die Volksbildung, in  : Beilage zum Tageblatt der 36. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Speyer vom 17. bis 24. September 1861, S. 70–72 –, Über den Unterricht in der pathologischen Anatomie, in  : Klinisches Jahrbuch 2 (1890), S. 75– 100 –, Über die Aufgaben der Naturwissenschaften im neuen nationalen Leben Deutschlands, in  : Tageblatt der 44. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Rostock 1871, Nr. 5 vom 22.9.1871, S. 73–81 –, Über die nationale Entwickelung und Bedeutung der Naturwissenschaften. Rede gehalten in der zweiten allgemeinen Sitzung der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Hannover am 20. September 1865, Berlin 1865 –, Über die neueren Fortschritte in der Pathologie, Beilage zum Tageblatt der 41. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Frankfurt a. M. 1867, S. 33–40 –, Über Fleischessen und Fleischbrühe, in  : Berthold Auerbach’s deutscher Volks-Kalender auf das Jahr 1862, Leipzig 1861, S. 81–90 –, Über Hünengräber und Pfahlbauten. Nach zwei Vorträgen im Saale des Berliner HandwerkerVereins, gehalten am 14. und 18. December 1865, Berlin 1866 –, Ueber Acclimatisation, in  : VBGAEU 17 (1885), S. 202 –, Ueber Bekleidungsstoffe, in  : Berthold Auerbach’s deutscher Volks-Kalender auf das Jahr 1863, Leipzig 1862, S. 39–53 –, Ueber Cretinismus, namentlich in Franken und über pathologische Schädelformen (1851), erweiterte Fassung in  : ders., Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin, S. 891– 939 514

Quellen und Literatur

–, Ueber den Fortschritt in der Entwicklung der Humanitätsanstalten, Rede auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Königsberg, 1860, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 11–15 –, Ueber den Hungertyphus und einige verwandte Krankheitsformen. (Vortrag, gehalten am 9. Februar 1868 zum Besten der Typhuskranken in Ostpreussen), in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 1, S. 433–464 –, Ueber den naturwissenschaftlichen Unterricht, Rede auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Dresden, 1868, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 73 f. –, Ueber den Transformismus. Rede Virchows auf der Naturforscher-Versammlung in Wiesbaden 1887, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 277–298 –, Ueber den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaft. Rede Virchows auf der Naturforscher-Versammlung in Stettin, 1863, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 25–38 –, Ueber den Werth des pathologischen Experiments. Vortrag, gehalten in der 2. allgemeinen Sitzung des 7. internationalen medicinischen Congresses zu London 1881. Neuer Abdruck, nebst einem Nachworte des Verfassers, Berlin 1899 –, Ueber die angemessenste Art, die Stadt Berlin von den Auswurfstoffen zu reinigen. Gutachten über die Kanalisation von Berlin (1868), Nachdruck u. Zusätze  : Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. II, S. 203–227, 458, 460 –, Ueber die Erziehung des Weibes für seinen Beruf. Vorlesung, gehalten im Hörsaale des Grauen Klosters, Berlin 1865 –, Ueber die Fortschritte in der Entwicklung der Humanitäts-Anstalten, in  : Amtlicher Bericht über die 35. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Königsberg in Preußen im September 1860, Königsberg 1860, S. 41–43 –, Ueber die künstlichen Verunstaltungen des menschlichen Körpers. Vortrag auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Köln, 1888, in  : Berliner klinische Wochenschrift, Nr. 41 v. 8.10.1888, S. 836 f. –, Ueber die mechanische Auffassung des Lebens. Nach einem frei gehaltenen Vortrage aus der dritten allgemeinen Sitzung der 34. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte. (Carlsruhe, am 22. Septbr. 1858), in  : ders., Vier Reden über Leben und Kranksein, Berlin 1862, S. 1–34 –, Ueber die Methode der wissenschaftlichen Anthropologie. Eine Antwort an Herrn de Quatrefages, in  : ZfE 4 (1872), S. 300–319 –, Ueber die nationale Entwicklung und Bedeutung der Naturwissenschaften, Berlin 1865, Nachdruck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 41–55 –, Ueber die neueren Fortschritte in der Pathologie mit besonderer Beziehung auf öffentliche Gesundheitspflege und Aetiologie, Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Frankfurt a. M., 1867, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 57–72 –, Ueber die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medicin (1847), Gelesen in der Jahressitzung der Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin zu Berlin am 5.12.1846, Druck  : Rudolf Virchow. Sämtliche Werke, Bd. I/4, S. 13–24 –, Ueber Erblichkeit, in  : Deutsche Jahrbücher für Politik und Literatur 6 (1863), S. 339–358. 515

Quellen und Literatur

–, Ueber Hospitäler und Lazarette, Vortrag, gehalten im December 1866 im Saale des Berliner Handwerker-Vereins, in  : ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin, Bd. 2, S. 6–22 –, Ueber Kriminalanthropologie, in  : Correspondenz-Blatt der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft, 1896, S. 157–162 –, Ueber Lorenz Oken und die Aufgaben der Naturforscherversammlung. (=  Über den Einfluß des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf die Volksbildung). Rede auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Speyer, 1861, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 17–22 –, Ueber Nahrungs- und Genussmittel. Vortrag, gehalten im Saale des Berliner Handwerker-Vereins, Berlin 1868 –, Ueber Wunder. Rede auf der Naturforscher-Versammlung in Breslau 1874, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 151–166 –, Unser Jubelband, in  : VA 150 (1897), S. 1–15 –, Unser Programm, in  : VA 50 (1870), S. 1–12 –, Unsere Aufgaben, in  : VA 11 (1857), S. 1–7 –, Vier Reden über Leben und Kranksein, Berlin 1862 –, Vor- und Rückblicke, in  : VA 21 (1861), S. 1–6 –, Wie der Mensch wächst. Eine Erinnerung, in  : Berthold Auerbach’s deutscher Volks-Kalender auf das Jahr 1861, Leipzig 1860, S. 95–105 –, Ziele und Mittel der modernen Anthropologie. Tageblatt der 49. Versammlung deutschen Naturforscher und Ärzte, Hamburg 1876, S.  51–55, Druck  : Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscher-Versammlungen, S. 170–181 –, Zum neuen Jahrhundert. Ein Gruss, in  : VA 159 (1900), S. 1–23 –, Zur Erinnerung. Blätter des Dankes für meine Freunde, in  : VA 167 (1902), S. 1–15 –, Zur Geschichte von Schivelbein, in  : Baltische Studien 13 (1847), H. 2, S. 1–33  ; Nachdruck  : Zur Erinnerung an Rudolf Virchow, S. 39–66 Vogt, Carl, Jacob Moleschott, Ludwig Büchner, Ernst Haeckel. Briefwechsel, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert v. Christoph Kockerbeck, Marburg 1999 Vogt, Carl  : Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitsschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Göttingen, Gießen 31855 Waldeyer-Hartz, Wilhelm von  : Lebenserinnerungen, Bonn 1920 Weber, Ernst von  : Die Folterkammern der Wissenschaft, Berlin u. Leipzig 1879 Weismann, August  : Über die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung für die Selektionstheorie (1885), Druck  : Hansjochem Autrum (Hg.), Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822–1958), Berlin u. a. 1987, S. 109–142 Wenig, Klaus  : Rudolf Virchow und Emil du Bois-Reymond. Briefe 1864–1894, Marburg/Lahn 1995 Wentzcke, Paul/Julius Heyderhoff (Hg.)  : Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. Eine politische Briefsammlung, 2 Bde., Bonn 1925/26 Whewell, William  : History of the Inductive Sciences. From the Earliest to the Present Time, 2 Bde., 3., erweit. Aufl., New York 1866

516

Quellen und Literatur

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Quellen und Literatur

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553

9 Abbildungsnachweis Umschlagabbildung  : Pommersches Landesmuseum, Greifswald, Slg. Rabl-Virchow (DI 20) Abb. 1  : Medizinhistorisches Museum der Charité, Berlin Abb. 2  : Medizinhistorisches Museum der Charité, Berlin Abb. 3  : Ullstein Bild, Berlin Abb. 4  : Pommersches Landesmuseum, Greifswald, Slg. Rabl-Virchow (DI 6) Abb. 5  : Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin Abb. 6  : Kriegszerstört. Photographie nach dem Original Berlin, Hochschule der Künste, Zentrale Hochschulbibliothek Abb. 7  : Medizinhistorisches Museum der Charité, Berlin Abb. 8  : Medizinhistorisches Museum der Charité, Berlin Abb. 9  : Pommersches Landesmuseum, Greifswald, Slg. Rabl-Virchow (DI 32) Abb. 10  : Ludolf Parisius, Leopold Freiherr von Hoverbeck. Ein Beitrag zur vaterländischen Geschichte, Bd. 2/1  : Verfassungskampf und budgetloses Regiment. Von 1862 bis zum dänischen Kriege, Berlin 1898 Abb. 11  : Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nl R. Virchow, Nr. 2756 Abb. 12  : Humboldt-Universität zu Berlin, Kustodie Abb. 13  : Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, Ex 15600-3 Abb. 14  : Pommersches Landesmuseum, Greifswald, Slg. Rabl-Virchow (DI 18) Abb. 15  : Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

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10 Personenregister Agassiz, Louis 417 Althoff, Friedrich 40, 133, 148, 158, 184, 202, 217, 219 Arons, Leo 117 Auerbach, Berthold 77, 165, 261, 262 Bacon, Francis 455, 467 Baer, Carl Ernst von 214 Bamberger, Ludwig 99 Barth, Theodor 298, 357 Bastian, Adolf 253, 370, 371, 420, 448 Baumgarten, Hermann 317 Baur, Erwin 445 Bayrhofer, Karl Theodor 99 Becker, Nikolas 73 Benekendorff, 47 Berend, Wolff 103 Bernstein, Aaron 261 Billroth, Theodor 207, 260 Bismarck, Otto von 20, 21, 31, 131, 236, 288, 295, 298 – 300, 304, 305, 307, 313 – 317, 321, 405 Bizoin, Glais 356 Blumenbach, Johann Friedrich 429 Boas, Franz 431 Bölsche, Wilhelm 412, 452 Bosse, Robert von 134, 135 Brandes, Georg 70, 141, 145, 178, 179, 405, 406 Brücke, Ernst 66, 104 Bucher, August Leopold 52, 53 Bucher, Lothar 118, 169 Büchner, Ludwig 427 Buckle, Henry Thomas 390, 419, 420 Buschoff, Adolf 351 Carus, Carl Gustav 414 Castan, Louis 241 Chadwick, Edwin 323, 326 Chamberlain, Houston Stewart 445, 452, 453 Churchill, John 257 Collmann, Julius August 98, 102 Comte, Auguste 365, 373, 472

Curtius, Ernst 176 Daege, Eduard 76 Dahlmann, Friedrich 407 Dann, Edmund 102 Darwin, Charles 344, 369, 399, 401, 402, 412, 414, 449 Deckert, E. 444 Delbrück, Adelbert 176, 177, 293, 294 Dohrn, Anton 173 Dohrn, Heinrich 357 Döring, Ferdinand 170 Droysen, Johann Gustav 262 Dubois, Eugene 429 du Bois-Reymond, Emil 66, 104, 148, 176, 215, 216, 219, 233, 421, 455, 458, 477 Dunant, Henri 262 Duncker, Franz 177, 285, 290, 293, 304 Ecker, Alexander 439 Eck, Gottlieb Wilhelm 72 Engel, Ernst 262, 443 Engels, Friedrich 292 Escher, Alfred 205 Esse, Carl Heinrich 114, 227, 231, 270 Falk, Adelbert 132 Favre, Jules 356 Fein, Georg 77 Fischer, Eugen 445 Fischer, Kuno 464 Fontane, Theodor 145 Forckenbeck, Max von 133, 295, 296, 304, 347 Förster, Bernhard 232 Förster, Wilhelm 176, 351, 406 Fraas, Oscar 236 Frantz, Constantin 362 Frantzius, Alexander von 169, 170, 236, 243, 251, 393 Freiligrath, Ferdinand 74 Friedrich III. 133

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Personenregister

Friedrich Wilhelm III. 135 Friedrich Wilhelm IV. 73, 76, 77, 189, 471 Fröbel, Friedrich 166 Fröbel, Julius 98, 107, 166, 393, 448 Froriep, Robert 71, 78, 82 Gantzkow, Ludwig 47 Garnier-Pagès, Louis-Antoine 356 Gneist, Rudolf 209 Gobineau, Arthur de 452 Goercke, Johann 72 Goethe, Johann Wolfgang 51, 192, 414, 464, 465 Goldstücker, Theodor 111, 113, 118 – 120, 122, 123, 132, 133, 149 – 151, 169, 171, 182, 192, 201, 258, 259, 281, 302 Goßler, Gustav von 254 Griesinger, Wilhelm 67, 260 Grimm, Heinrich Gottfried 208 Grysanowski, Ernst 232, 233 Gurlt, Ernst Friedrich 230 Habel, Carl 263 Haeckel, Ernst 170, 191, 197, 209, 265, 273, 344, 399, 400, 402, 417, 429, 448, 449, 460 Hagenbeck, Carl 241 Haller, Albrecht von 55 Hänel, Albert 173, 179 Hartmann, Robert 239, 253 Haussmann, George Eugène Baron 326 Heck, Ludwig 241 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 374, 474, 475 Helmholtz, Anna von 148, 162, 326 Helmholtz, Hermann von 56, 66, 104, 134, 135, 144, 148, 149, 176, 219, 268, 269, 455, 456, 474 Henle, Jacob 66, 267 Henning, Rudolf 158, 159 Herder, Johann Gottfried 397 Hermes, Otto 241 Hesse, Johanna Maria 44 Hesse, Karl 168 Hesse, Ludwig Ferdinand 59 Hinkeldey, Carl von 111 Hirsch, August 216, 252, 290 Hirschwald, August 259 Hobrecht, James 328 Hofmann, August Wilhelm von 219 Hollweg-Bethmann, Moritz August 216 Holtzendorff, Friedrich von 262, 263

556

Hooke, Robert 214 Hoverbeck, Leopold von 307 Humboldt, Alexander von 176, 208, 250, 292, 342, 467 Illaire, Emile 76 Illaire, Henry 76 Israel, Oscar 40, 127 Jacoby, Johann 283 Jastrow, Ignaz 481 Kant, Immanuel 374, 398, 464, 466 Kastan, Isidor 288 Keller, Gottfried 261 Kiepert, Heinrich 262 Kirmss, Paul 194 Kirschner, Martin 194 Kiwisch, Franz von 170, 204 Klimsch, Fritz 196 Kochhann, Heinrich Eduard 176, 177, 293, 294 Koch, Robert 20, 128, 135, 157, 220, 229, 378 Kölliker, Rudolf Albert 170, 202 – 204, 206, 209, 253, 270, 281, 282 Kollmann, Julius 426, 447, 449 Körte, Friedrich 77 Krausnick, Wilhelm 295 Kröner, Adolf 130 Ladenberg, Adalbert von 87, 113, 114, 116, 201 Lamartine, Alphonse de 120, 395, 397 Langenbeck, Bernhard von 168, 215 Langerhans, Paul jun. 158, 172 Langerhans, Paul sen. 77, 158, 172, 293 Langerhans, Robert 172 Lateau, Louise 461, 462 Lavater, Johann Kaspar 424 Leeuwenhoeck, Antony van 214 Lehnert, Hermann 87, 88, 111, 116, 209, 473 Lenz, Fritz 445 Lette, Adolf 177 Leubuscher, Rudolf 102, 103, 109, 249 Liebig, Justus von 328 Lippe, Hermann Graf zur 118 Locke, John 268 Löher, Franz 77 Lombroso, Cesare 450 Lorenz, Ottokar 421

Personenregister

Löwenstein, Rudolf 97 Lubbock, John 402 Ludwig, Carl 104, 169 Luschan, Felix von 174, 237, 452 Luther, Martin 52, 53, 374, 467 Macaulay, Thomas Babington 394, 395, 400 Manteuffel, Edwin Baron von 250, 282, 315 Marr, Wilhelm 347 Marx, Karl 107 Maximilian II., König von Bayern 203 Mayer, Carl 76, 121, 153, 207, 262 Meckel, Johann Friedrich 386 Meckel von Hembsbach, Heinrich 206 Mendelssohn, Alexander 176 Menzel, Adolph 261 Mohr, Bernhard 200 Mommsen, Theodor 136, 180, 181, 338, 339, 351, 418, 450 Montesquieu, Charles de Secondat 107 Morgagni, Giovanni Battista 212 Mortillet, Gabriel de 402 Mosse, Rudolf 130, 173, 174, 179, 287 Mühler, Heinrich von 132, 216 Müller, Johannes 60, 62, 63, 66, 67, 71, 79, 102, 198, 206, 215, 223, 245, 267, 268, 343, 368 Müller, Otto Moriz 51 Nassauer, Max 369 Naunyn, Bernhard 225 Neumann, Salomon 105, 109, 110, 172, 293, 348 Newton, Isaac 354 Nietzsche, Friedrich 468 Nightingale, Florence 471 Oken, Lorenz 414 Oppenheim, Heinrich Bernhard 98, 102, 103 Ortega y Gasset, José 345 Osler, William 180 Parey, Paul 253, 254 Parisius, Ludolf 240, 308 Pearson, Karl 479 Pettenkofer, Max von 378 Picard, Ernest 356 Picard, Paul 258 Pius IX. 320 Ploetz, Alfred 412, 452

Posner, Carl 252 Pratt, Hodgson 356 Preuss, Johann David Erdmann 61, 417 Quatrefages, Armand de 437, 443, 446, 449, 450 Quetelet, Adolphe 387 – 390, 420 Rabl, Carl 159 Ranke, Johannes 237, 445 Raumer, Karl Otto von 207 – 209, 223, 227, 228 Reichert, Carl Bogislaus 223, 224 Reimer, Georg Andreas 246 Reimer, Georg Ernst 176, 206, 246 – 250, 255, 258, 260 Reimer, Siegfried Johannes 246 Reinhardt, Benno 76, 245 – 247 Remak, Robert 95, 101, 102, 109, 110, 208, 214 Retzius, Anders 423 Richter, Eugen 177, 263, 308 – 310, 354, 370, 410, 478 Rickert, Heinrich 173 Riehl, Wilhelm Heinrich 75, 163 Rinecker, Franz von 170, 203, 204, 226, 270 Ringseis, Johann Nepomuk 459 Rodbertus, Karl 118, 283 Rodenberg, Julius 130 Rokitansky, Carl von 212 Rosenkranz, Karl 149, 464 Roser, Wilhelm 67, 245 Rousseau, Jean-Jacques 160, 373, 392, 466 Rückert, Friedrich 61 Ruge, Arnold 74, 77, 103, 107, 283 Ruge, Ludwig 76 Sachs, Albert 299 Salomon, E. 179 Schaaffhausen, Hermann 428 Scherer, Johann Joseph 252, 253 Schiller, Friedrich 51, 52, 161, 464, 465 Schlegel, Friedrich 152 Schleich, Carl 273 Schleiden, Matthias Jakob 214 Schliemann, Heinrich 47, 130, 136, 137, 139, 143, 157 – 159, 184, 239, 264, 307, 438 Schmidt, Josef Hermann 76, 152 Schnitzler, Arthur 480 Schoenlein, Johannes Lucas 66, 67, 126

557

Personenregister

Schulze-Delitzsch, Hermann 176, 283, 289, 292, 470 Schwann, Theodor 66, 214 Seydel, Karl Theodor 77, 240, 293, 295, 304 Siemens, Werner von 40, 173, 176, 177, 216, 285, 294, 410, 458 Sigismund, Berthold 261 Simmel, Georg 482 Sombart, Werner 310 Spencer, Herbert 407, 449 Steinbrück, Eduard 76 Steinert, Wilhelm 290 Stifter, Adalbert 462 Stoecker, Adolf 295, 307, 309, 347, 348, 350, 351, 459 Strassmann, Wolfgang 176, 194 Studt, Konrad von 135, 136 Swammerdam, Jan 214 Sybel, Heinrich von 262, 304, 419 Thadden, Adolf von 42 Thaer, Albrecht 44 Traeger, Albert 173 Traube, Hans 173 Traube, Ludwig 246 Treitschke, Heinrich von 347, 450 Twesten, Karl 177, 293, 304, 315 Tylor, Edward B. 402 Uhland, Ludwig 49 Unruh, Hans Victor von 177, 283, 285, 293 Urban, Friedrich-Ludwig 334 Varrentrapp, Georg 323, 324 Vetter, Friedrich Christian 228

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Victoria, Königin von Großbritannien 133 Victoria, Prinzessin von Großbritannien 133 Virchow, Adelheid 156, 157, 159 Virchow, Carl 155, 156, 158, 170 Virchow, Carl Christian Siegfried 44 – 47, 56, 58 – 60, 62 – 65, 71, 73 – 75, 79, 80, 82, 85, 92, 93, 96, 99, 124, 125, 145 – 147, 150, 153, 187, 190, 193 Virchow, Ernst 156, 158, 193 Virchow (geb. Mayer), Rose (Ferdinande Amalie Rosalie) 121, 133, 143, 147, 150, 151, 153 – 156, 159, 162 – 164, 166, 173, 187, 192 – 194 Virchow, Hans 156, 158, 159 Virchow, Johanna 156, 158, 159, 192 Virchow, Johann Christoph 57, 59, 77, 97, 147, 168 Virchow, Marie 142, 156 – 159, 166 Vogt, Karl 201, 236, 424, 429 Waldeck, Benedikt 92, 96, 176, 292 Waldeyer-Hartz, Wilhelm von 144, 173, 194, 425 Wallace, Alfred Russell 407 Wattenbach, Wilhelm 263 Weber, Ernst von 232 Weber, Max 277, 301, 317 Wegscheider, Hans 77 Weismann, August 430 Werner, Anton von 173 Wiebe, Eduard 327 Wilhelm I. 76, 132 Wilhelm II. 133 – 135, 196 Windthorst, Ludwig 179 Wittich, Wilhelm von 92, 99, 149, 153, 203, 393, 395 Wunderlich, Carl August 67, 245, 260 Zedlitz-Trützschler, Robert Graf von 229

Neue Biographie mit modernem Anspruch zeichnet ein neues Bild von Wilhelm I.

Robert-Tarek Fischer Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser 2020. 404 Seiten, mit 12 farb. und 13 s/w Abb., gebunden € 35,00 D | € 36,00 A ISBN 978-3-412-51926-1 E-Book | E-Pub € 27,99 D | € 28,80 A

Wilhelm I. (1797-1888) herrschte 30 Jahre über Preußen, davon 17 Jahre über ganz Deutschland – und hinterließ in der Geschichte tiefere Fußspuren als weithin angenommen. Wilhelm, dessen Popularität im Lauf seines Lebens heftig schwankte, bewirkte bei seinem Machtantritt einen tiefgreifenden politischen Umbruch in Preußen. Er stürzte sein Land in den Verfassungskonflikt und machte mit seinen Armeereformen Preußens Siege in den deutschen Einigungskriegen möglich. Bislang kaum bekannt: Wilhelm I. entfaltete zunächst als Oberster Kriegsherr und dann als Deutscher Kaiser beträchtliche Wirkungsmacht. Einigen Einfluss nahm er auch auf die „Judenfrage“. Die Biographie zeigt: Ohne das Vorgehen Wilhelms I. wäre die preußisch-deutsche Geschichte in mancherlei Hinsicht anders verlaufen.

Preisstand 17.6.2021

Spiritus Rector der modernen Soziologie

Hans-Peter Müller Max Weber Werk und Wirkung 2., aktualisierte und erweiterte Auflage 2020. 301 Seiten, mit 25 s/w-Abb., gebunden € 35,00 D | € 36,00 A ISBN 978-3-412-51855-4 E-Book € 27,99 D | € 28,80 A

Neben politischer und sozialer Theorie inspirierte Max Weber die ökonomische Soziologie, die politische Soziologie, die Soziologie des Staates und des Rechts, darüber hinaus die Kultur- und Religionssoziologie. Sein Studium der Weltreligionen hat Maßstäbe gesetzt. Max Weber gilt heute als der wichtigste soziologische Klassiker weltweit. Die leitende Problemstellung wie die Einheit seines Werkes sind indes nicht leicht auszumachen. Das Buch setzt sich zum Ziel, das Charakteristische in Max Webers Werk anschaulich herauszuarbeiten und den Zusammenhang zwischen Theorie, Methode, Analyse und Gesellschaftskritik aufzuzeigen. Auch die Beschäftigung mit seiner Wirtschaftssoziologie kommt in der 2. Auflage neu hinzu. Damit liegt eine Gesamtschau auf Max Weber vor, die die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Leben und Werk verständlich macht.

Preisstand 17.6.2021