Rousseau und die Physiokraten: Politische Ideengeschichte im begrifflichen Wandel zwischen Aufklärung und Revolution [1 ed.] 9783412500214, 9783412500191

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Rousseau und die Physiokraten: Politische Ideengeschichte im begrifflichen Wandel zwischen Aufklärung und Revolution [1 ed.]
 9783412500214, 9783412500191

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Reinhard Bach

ROUSSEAU UND DIE PHYSIOKRATEN POLITISCHE IDEENGESCHICHTE IM BEGRIFFLICHEN WANDEL ZWISCHEN AUFKL ÄRUNG UND REVOLU TION

Reinhard Bach

Rousseau und die ­Physiokraten Politische Ideengeschichte im begrifflichen Wandel ­z wischen Aufklärung und Revolution

Böhlau Verlag wien köln weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek    : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie    ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Jean-Jacques Rousseau, Pastell von Maurice Quentin de Latour, ca. 1753 (© akg-images, Erich Lessing) Korrektorat  : Rainer Landvogt, Hanau Einbandgestaltung    : Guido Klütsch, Köln Satz  : Michael Rauscher, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-50021-4

Für Lena-Maria Bach

Inhalt

Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

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Quesnay und die Grundlegung des modernen Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorläufer der Wirtschafts- und Sozialtheorie Quesnays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aspekte der Naturrechtslehre und ihres kognitiven Umfeldes vor Quesnay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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 36  38  39  41  47

4 Eine Naturwissenschaft vom Menschen  : Weitere signifikante Entwicklungen im Vorfeld des Aufkommens der politischen Philosophie Rousseaus und der physiokratischen Sciences morales et politiques . . . . . .

 49

3.1 3.2 3.3 3.4

5

5.1 5.2 5.3 6

7

Hugo Grotius (1583–1645) . . . . . . . Thomas Hobbes (1588–1679) . . . . . . Samuel von Pufendorf (1632–1694). . . Jean-Jacques Burlamaqui (1694–1748) .

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Rousseaus Fortschrittskritik  : Conscience vs. Science . . .

Bemerkungen zu den Hauptthesen des Discours sur l’inégalité . . . Anthropologie und Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . Homme und Citoyen  : Die Erziehung zum Menschen und die politische Vision des Citoyen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die Weiterentwicklung der physiokratischen Lehre  : Eine neue Lesart des Droit naturel . . . . . . . . . . . . . . Le Mercier de la Rivière  : L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.1 Einführende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Die leitmotivische Bezugnahme auf Malebranche. . . . . . . . .

 68  72  84  89

 99

111 111 120 120

8

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Inhalt

7.2.2 Bemerkungen zum Aufbau des Textes und einem damit verbundenen Rezeptionsproblem . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Der Discours préliminaire. . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Von der Physik zur Moral . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Despotismus, öffentliche Meinung und politische Bildung . . 8

8.1 8.2 8.3 9

9.1

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Die publizistische Verbreitung der politischen Doktrin der Physiokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Instruction politique. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Droit naturel zwischen moralphilosophischer und physiokratischer Lesart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Beobachtungen zum Profil der Ephémérides du citoyen.. .

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125 127 132 141

147 148 151 156

Weitere Formen der Verbreitung physiokratischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

166

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166 174

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176 189 194

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201 203

Weitergehende Anpassungen an den Sprachcode der politischen Philosophie Rousseaus  : Le Merciers Traktat De l’Instruction Publique von 1774 . . . . . . . . . . . . . .

207

Von der spirituellen Verankerung der politischen Ethik Rousseaus zum kategorischen Imperativ bei Immanuel Kant. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

214

Catéchismes als Mittel physiokratischer instruction publique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

232

Dupont de Nemours  : De l’origine et du progrès d’une Science nouvelle.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 D’Holbach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 D’Holbach/Diderot  : Le Système de la nature, ou des lois du monde physique et du monde moral (1770) . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Abschließende Bemerkungen zu d’Holbach. . . . . . . . . . . 9.3 Helvétius  : De l’Homme (1773) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Condillac  : Le commerce et le gouvernement considérés relativement l’un à l’autre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Nicolas Baudeau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

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Inhalt 

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Die Sprache der Revolution  : Zu den Auswirkungen der Ethikdebatte auf die Französische Revolution.. . . . . . .

13.1 Zur Anatomie der Revolution .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Das Dilemma des discours républicain  : Zur sprachlichen Krise der Revolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Zur Genesis semantischer Widersprüche in der Sprache der Revolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.1 Der revolutionäre Diskurs des physiokratischen Liberalismus. . . 13.3.2 Der revolutionäre Diskurs des republikanischen Egalitarismus .. 13.4 Der Sieg des Liberalismus unter demokratischer Flagge.. . . . . 14

Epilog  : Die Ethikdebatte als Brückenschlag zwischen Aufklärung und Romantik oder das romantische Erbe der Aufklärung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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245 245 248 255 255 282 294

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315 315 320 321 327

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Quellentexte . . . . . . . . . Sonstige Quellen. . . . . . . 2 Sekundärliteratur.. . . . . . Sonstige Sekundärliteratur. .

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Zur Einführung

Das vorliegende Buch entstand im Ergebnis jahrzehntelanger Forschungen zur Geschichte politischer Begriffsprägungen und der sie formenden Ideen in der französischen Aufklärung, wobei die widerspruchsvolle Verbreitung und Rezeption der Schriften Jean-Jacques Rousseaus den Ausgangspunkt und eine ständige Bezugsebene bildete. Insofern bestand eine unabdingbare Voraussetzung dieses Anliegens zunächst in dem Versuch einer Synthese des begrifflichen Kernbereichs der politischen Philosophie Jean-Jacques Rousseaus, einschließlich ihrer anthropologischen, pädagogischen und geschichtsphilosophischen Weiterungen. Von dieser Bezugsebene ausgehend, stellte sich bald heraus, dass die Sprache Rousseaus, insbesondere seine neuartigen philosophischen und republikanischen Begriffsprägungen, im Zuge ihrer allgemeinen Verbreitung, und speziell anlässlich ihrer Verwendung in Kontexten, die eine alternative politische Ethik vertraten, erheblichen Veränderungen unterlagen, bis hin zur völligen Sinnverkehrung jeweils gleicher oder auch ähnlich klingender Bezeichnungen, Termini und Redewendungen. Nahezu durchweg handelte es sich dabei um physiokratisch inspirierte Texte, die dem discours républicain, wie ihn vor allem Rousseaus Contrat social entscheidend geprägt hatte, einen alternativen, der aufkommenden Strömung des ökonomischen Liberalismus zuzuordnenden Inhalt unterlegten. Damit aber erwies sich auch eine gründliche Erforschung der politischen Ideengeschichte des physiokratischen Liberalismus – jenseits klassischer Lehrmeinungen  – als weitere notwendige Voraussetzung für eine umfassende Aufdeckung der besonderen sprachlichen Phänomene, die sich in der politischen Ideengeschichte der französischen Spätaufklärung entwickeln, schließlich den politischen Diskurs der Französischen Revolution entscheidend beeinflussen und die bis heute zu unzähligen Widersprüchen und Missdeutungen im Rahmen der einschlägigen Historiographie geführt haben. Diese Forschungen, die auch das kognitive Umfeld der relevanten zeitgenössischen Denkhorizonte, einschließlich ihrer erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Dimensionen zu berücksichtigen hatten, führten unter anderem zu der Feststellung, dass auch die traditionelle Naturrechtslehre, wie sie bereits durch Pufendorf ihre vorläufige Vollendung gefunden hatte, vom politischen Diskurs der völlig neuartigen, nämlich ökonomisch begründeten physiokratischen Gesellschaftsphilosophie regelrecht usurpiert und als reformierte Grundlage für die wissenschaftshistorische Legitimation der physiokratischen Science nouvelle instrumentalisiert wurde.

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Zur Einführung

Eine Tatsache, die bisher ebenfalls historiographisch unbeachtet geblieben ist. Das resultierende sprachliche Amalgam des politischen Diskurses der Aufklärung erschwerte nun zwar eine Freilegung der begrifflichen Paradigmen alternativer Ideologien, doch darf dieser Umstand keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass der physiokratische Anspruch auf gleichberechtigte Anerkennung im Kanon der zeitgenössischen politischen Theorien zu Recht bestand und besteht. Denn jenseits gewisser sprachlicher Besonderheiten des republikanischen Diskurses der Physiokraten und der ihnen unmittelbar nachfolgenden so genannten Ideologen um Sieyès, Condorcet, Cabanis und Destutt de Tracy entwickelt diese Denkschule Quesnays eine sozialökonomische und politische Gesellschaftslehre, die für das achtzehnte Jahrhundert nicht weniger revolutionär war als die unmittelbar zuvor entwickelte, auf einer ganz anderen politischen Ethik gründende Philosophie Jean-Jacques Rousseaus. In beiden Fällen handelt es sich um die Entwicklung grundlegender politischer Prinzipien einer bürgerlichen Rechtsordnung, die sich in erster Linie als Alternative zur feudalen Ständeordnung des ancien régime begreifen. Da sich jedoch diese beiden – gleichermaßen revolutionären – politischen Strömungen ihrerseits, wie schon angedeutet, auf nicht zu vereinbarende Grundsätze einer jeweils alternativen politischen Ethik berufen, kommt es nach der gemeinsamen Überwindung der alten Ordnung im Jahre 1789 zu jenen lang anhaltenden Kämpfen und blutigen Auseinandersetzungen, die hellsichtige Zeitgenossen bereits damals als das eigentliche Dilemma der Französischen Revolution charakterisiert haben  : Ces deux principes se nomment, et vous ne pouvez vous empêcher de les reconnaître, car vous en sentez la légitimité dans votre cœur  ; mais vous sentez en même temps que, né tous deux de la justice, ils vont se faire une guerre atroce. Aussi Robespierre et la Convention n’ont-ils pu que les proclamer tous deux, et ensuite la Révolution a été le sanglant théatre de leur lutte  : les deux pistolets chargés l’un contre l’autre avaient fait feu.1

Bedeutsam im Sinne der Bestätigung unserer Beobachtungen zur Rezeption der politischen Ideen Rousseaus, wie auch derjenigen des physiokratischen Libera1 »Diese beiden Prinzipien unterscheiden sich, und Sie können nicht umhin, sie beide anzuerkennen, denn Sie spüren ihre Legitimität in Ihrem Herzen. Aber Sie spüren gleichzeitig, dass sie einander einen furchtbaren Krieg liefern werden, da sie beide der Gerechtigkeit entspringen. So konnten Robespierre und der Konvent nicht umhin, sie beide zu proklamieren, und schließlich wurde die Revolution zur blutigen Bühne ihres Kampfes  ; die beiden geladenen Pistolen, eine gegen die andere gerichtet, hatten das Feuer eröffnet.« P. Leroux, De l’individualisme et du socialisme (1834), Paris, Genf 1996, S. 66/67 (Übersetzung R. Bach).

Zur Einführung 

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lismus, ist hier, in dieser durchaus noch als zeitgenössisch einzustufenden Stellungnahme, dass dabei auch auf die Ambivalenz des revolutionären Diskurses verwiesen wird, wie sie in der einen oder anderen Weise von allen Zeitgenossen der Revolution – meist als Sprachverwirrung – beobachtet wurde und wie sie sich zwangsläufig durch die begrifflichen Umprägungen politischer Ideen unter partieller oder vollständiger Beibehaltung ihrer lexikalischen Formen ergeben hat  : Denn dem einen republikanischen Diskurs der Französischen Revolution liegen zwei alternative und hinsichtlich ihrer politischen Ethik vollkommen inkompatible ideologische Positionen zugrunde. Hier sei am Rande erwähnt, dass es sich im Grunde um ein sehr modernes Phänomen handelt, welches seither – und bis in unsere Tage – zu den gängigsten Erscheinungen im Widerstreit politischer Diskurse und weltanschaulicher Debatten zählt. Da nun eine inhaltlich und methodisch vergleichbare Untersuchung bisher nicht existiert, insbesondere was die Einbeziehung des Wechselspiels der Ideen Rousseaus mit der für die Spätaufklärung und die Französische Revolution so bedeutsamen politischen Philosophie der Physiokraten betrifft, versteht sich die vorliegende Arbeit auch als Beitrag zu einer längst überfälligen Fortsetzung der inzwischen zum Klassiker der Rousseauforschung gereiften Monographie Robert Derathés, Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps.2 Denn während diese sich in vergleichbarer Breite um Einsichten zur Genesis der politischen Philosophie Rousseaus (und seiner politischen Terminologie) bemüht hatte, soll hier, gestützt auf onomasiologische Analysen3, nicht nur eine neue Sicht auf Rousseaus politisches Denken vorgestellt, sondern vor allem auch dessen zeitgenössische Rezeption bis in die Zeit der Französischen Revolution betrachtet werden. Denn in Wahrheit, und auch dies zeigt unsere Untersuchung, beginnt mit der Verbreitung der Ideen Jean-Jacques Rousseaus und der nur wenig später einsetzenden Entfaltung  – man könnte auch sagen, dem Siegeszug  – der physiokratischen Science nouvelle (auch science du gouvernement und seit Ende der sechziger Jahre sciences morales et politiques) eine tiefe weltanschauliche Spaltung der Aufklärungsbewegung, die sich vor allem als Auseinandersetzung um die politische Ethik einer künftigen bürgerlichen Rechtsordnung entlädt und für 2 Gemeint ist die seit 1950 in unzähligen Neuauflagen erschienene Monographie von R. Derathé, Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps, Paris 1974. 3 Gemeint ist ein für begriffsgeschichtliche Erhebungen unabdingbares semantisches Analyseverfahren. Vgl. R. Bach, Weichenstellungen des politischen Denkens, 1995.

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Zur Einführung

die wir – mangels bisheriger historiographischer Wahrnehmung – den Terminus Ethikdebatte der Spätaufklärung gewählt haben. Getragen wird diese Debatte, wie unsere Untersuchungen zeigen, im Grunde von allen an der politischen Diskussion der Spätaufklärung beteiligten Autoren, und sie erst erklärt übrigens auch den Kontext und den eigentlichen Anlass, aus dem heraus Immanuel Kant, in bewusster Anknüpfung an die ethischen Grundpositionen Rousseaus, zur Formulierung seiner Sittenlehre gelangt, in deren Mittelpunkt bekanntlich der berühmte kategorische Imperativ steht. Es ist der von Kant auch im Rahmen seiner Anthropologie unternommene ultimative Versuch, der sensualistisch (physio-kratisch) ausgerichteten Naturwissenschaft vom Menschen, damit auch der am »wohlverstandenen Eigeninteresse« orientierten Glückseligkeitslehre, eine Ethik des Gewissens und der sozialen Verantwortung, der Selbstlosigkeit und der Pflicht entgegenzusetzen. In dieser Perspektive erweist sich die Ethikdebatte der Spätaufklärung auch als Brückenschlag zur Romantik, die sich  – wie unsere Untersuchungen ebenfalls belegen – zuerst in der Verpflichtung auf Rousseau und Kant als ethische Protestbewegung gegenüber der Egomoral des ökonomischen Liberalismus versteht und deren ästhetische Ausrichtung, nach dem Urteil der Madame de Staël, erst durch diese ethische Begründung zu erschließen ist.

1 Quesnay und die Grundlegung des modernen Liberalismus

Der Mediziner, Wirtschafts- und Gesellschaftstheoretiker François Quesnay (20. Juni 1694–16. Dezember 1774), Leibarzt der Madame de Pompadour und Ludwigs  XV., gilt gemeinhin als Begründer der Physiocratie, einer besonderen Strömung der französischen Aufklärung, die sich seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mit Aufsehen erregenden Vorschlägen den Möglichkeiten tief greifender wirtschaftlicher und politischer Reformen zuwandte. Ihr philosophischer Ansatz überträgt die in der naturwissenschaftlichen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts wurzelnde Idee eines ordre naturel, einer von wenigen Naturgesetzen geregelten physikalischen Ordnung des Universums, auf die Suche nach einem adäquaten ordre naturel der menschlichen Gesellschaft. In deren ökonomischer Existenzgrundlage, die man erstmals als Reproduktionszyklus beschreibt, scheinen Marktgesetze, allen voran die Unantastbarkeit des Eigentums und die allgegenwärtige Konkurrenz, die Existenz eines ordre naturel für Mensch und Gesellschaft zu bestätigen. Gleichzeitig ist man überzeugt, mit dieser Entdeckung eines ordre naturel der politischen Ökonomie die schon von Locke in seinem programmatischen Essay Concerning Human Understanding  – später auch von Helvétius – geforderte Experimentalwissenschaft von Mensch, Politik und Moral endlich gefunden zu haben.1 In diesem Sinn werden, dem Vorbild der materialistischen Anthropologie von Thomas Hobbes folgend, natürliche menschliche Antriebe, wie das Bestreben der Selbsterhaltung, das Vermeiden von Schmerz und die Suche nach Wohlbefinden, sowie daraus abgeleitete Muster eines ebenfalls für natürlich befundenen Sozialverhaltens, wie Besitzstreben und Tauschhandel, als physische Gesetzmäßigkeiten eines ordre naturel der menschlichen Gesell1 Vgl. J. Locke, Essai philosophique concernant l’entendement humain (1690), Paris 1998 (Faksimile der Ausgabe Amsterdam, Leipzig 1755), S. 454  : »élever la Morale au rang des Sciences capables de démonstration.« S. 456  : »si les Hommes vouloient s’appliquer à la recherche des Vérités Morales selon la même méthode, & avec la même indifférence qu’ils cherchent les Vérités Mathématiques (…) quels progrès peut-on attendre de ce côté-là, quelle nouvelle lumière peut-on espérer dans les Sciences qui concernent la Morale  ?« S. 467  : »la connoissance des Vérités Morales est aussi capable d’une certitude rélle que celle des Vérités Mathématiques.« – Helvétius, De l’Esprit (1758), Paris 1988, S. 59  : »Si l’Univers physique est soumis aux lois du mouvement, l’Univers moral ne l’est pas moins à celles de l’intérêt.« »J’ai cru qu’on devoit traiter la Morale comme toutes les autres Sciences, et faire une Morale comme une Physique expérimentale.«

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Quesnay und die Grundlegung des modernen Liberalismus

schaft angenommen, was letztlich in dem selbst gewählten Namen PHYSIOKRATIE2 zum Ausdruck kommen sollte. Bahnbrechend für die politische Ideengeschichte ist dabei aber vor allem das konsequente Zusammendenken von Ökonomie und Politik dergestalt, dass Politik nicht mehr als Teil der Moralphilosophie betrachtet wird, sondern als Teilgebiet der Ökonomie, der sie sich unterordnet. Aus der politischen Ökonomie wird durch diese Wandlung gewissermaßen eine ökonomische Politik, das eigentliche Markenzeichen des (Wirtschafts-)Liberalismus. Die traditionelle Naturrechtslehre, derer sich die Physiokraten seit 1765 bemächtigen, erfährt vor diesem Hintergrund ebenfalls eine Wandlung, die sich propagandistisch in einer ökonomisch begründeten Doktrin der so genannten Menschenrechte manifestiert. Auf diese Neuformulierung der Naturrechtslehre verweisen die Physiokraten mit großem Stolz, und in vollem Bewusstsein ihrer innovativen Leistung, in ausgedehnten Artikeln ihrer Zeitschrift Ephémérides du citoyen.3 Ihre moralphilosophische Legitimation erhält die neuartige politische Doktrin schließlich in Gestalt einer Lehre vom wohlverstandenen Eigeninteresse  : Individuelles Besitzstreben, als Glücks- und Genussstreben verstanden, sowie Konkurrenzverhalten im allgegenwärtigen Tauschhandel werden gleichsam zu Quellen des sozialen Wohlstandes erklärt, was wiederum ihre Einstufung als gesellschaftliche Tugendnormen im Sinne des wohlverstandenen Eigeninteresses begründet. Letztendlich entsteht daraus eine Soziologie des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus, der gesellschaftlichen Wohlstand, in einem neuartigen Verständnis von richesses, auf ökonomisches Wachstum gründet, dabei einen marktwirtschaftlichen Ausgleich konkurrierender Interessengruppen (so genannter Klassen) propagiert und aus diesem Grund die Sicherheit des Eigentums und die freie Konkurrenz politisch dogmatisiert. Die besondere Rolle Quesnays für die ebenso erfolgreiche wie umstrittene, nicht selten als »philosophische Sekte« verspottete Denkschule,4 findet ihren 2 Physio-cratie (»Herrschaft der Physis«) in Analogie zu der dem Griechischen entlehnten Wortschöpfung Demo-cratie (»Volksherrschaft«). Vgl. Dupont de Nemours, Physiocratie, ou Constitution naturelle du gouvernement le plus avantageux au genre humain, Paris 1768. 3 Ephémérides du citoyen ou Bibliothèque raisonnée des Sciences morales et politiques, 1767, Tome second, S. 117–120. 4 Zu den heftigen Angriffen der russischen Zarin, Katharina II., die in einem Brief an Grimm vom 28. Februar 1776 von einer »für den Staat gefährlichen Sekte« spricht, vgl. George Dulac, Pour considérer l’histoire des Observations sur le Nakaz (à partir des réflexions de 1775 sur la physiocratie). In  : Studies on Voltaire and the eighteenth century, 254 (1988), S. 467–514. Das entsprechende Zitat auf S. 468. – Die etwas dogmatisierende und in dieser Hinsicht auch durchaus stereotype Sprache der Physiokraten hatte dieser Gruppierung spätestens seit Mablys Doutes proposés aux philosophes éco-

Quesnay und die Grundlegung des modernen Liberalismus 

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Niederschlag in der für die Anhänger dieser Science nouvelle5 häufig verwendeten Bezeichnung Quénistes. Oft anzutreffen ist darüber hinaus die Bezeichnung économistes, die allerdings aus heutiger Sicht eine inhaltliche Verkürzung darstellt. Ein wichtiger Biograph Quesnays ist Gustave Schelle, der 1907 eine umfang­ reiche Studie unter dem Titel Le Docteur Quesnay, chirurgien, médecin de Mme. de Pompadour et de Louis  XV, physiocrate veröffentlichte.6 In Fortsetzung seiner bereits 1888 erschienenen Arbeit Du Pont de Nemours et l’école physiocratique7 werden hier zusätzlich wichtige Einsichten in das Umfeld und das Schicksal der physiokratischen Schule vermittelt. Ebenfalls 1888 erschien unter Bezugnahme auf den seinerzeit bevorstehenden hundertsten Jahrestag der Französischen Revolution die von Auguste Oncken besorgte wichtigste Gesamtausgabe der Werke Quesnays unter dem Titel Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, fondateur du système physiocratique.8 Dabei nennt Oncken die »Doktrin Quesnays« das »erste strikt wissenschaftliche System der Politischen Ökonomie, (das) bis dato auf überraschende Weise unbeachtet« geblieben sei,9 verweist aber gleichzeitig auf dessen besondere Wertschätzung durch Tocqueville. Dieser hatte die Französische Revolution und ihre Ergebnisse in erster Linie in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Lehre und den politischen Forderungen der Physiokraten gebracht.10 nomistes sur l’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, Paris 1768 (einer Replik auf Le Merciers L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, Paris, London 1767) den Spottnamen einer »Sekte« eingetragen, der historiographisch vor allem durch die Arbeiten von G. Weulersse, Le mouvement physiocratique. Bd. I und II, Paris 1910 (sowie weitere posthum erschienene Monographien) zur Standardsichtweise einer ideologisierenden Betrachtungsweise avancierte und wesentlich zu einer anhaltenden Forschungsblockade beitrug. Vgl. dazu unsere Ausführungen zur Rezeption der physiokratischen Lehre in den folgenden Abschnitten.  5 Dupont de Nemours veröffentlicht im Jahre 1768 in London unter anonymer Autorschaft einen Abriss des 1767 in Paris und London erschienenen Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier de la Rivière unter dem Titel  : De l’origine et des progrès d’une Science nouvelle. Einleitend wird auf die Initiierung der »neuen Wissenschaft« durch die Schriften des Begründers der physiokratischen Schule, Quesnay, verwiesen und der mit Le Merciers Buch erreichte Entwicklungsstand dieser Science nouvelle den sciences exactes, also den Naturwissenschaften, gleichgestellt.   6 G. Schelle, Le Docteur Quesnay, chirurgien, médecin de Mme. de Pompadour et de Louis XV, physiocrate, Paris 1907.   7 G. Schelle, Du Pont de Nemours et l’école physiocratique, Paris 1888.  8 Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, fondateur du système physiocratique. Publiées avec une introduction et des notes par Auguste Oncken, Frankfurt am Main, Paris 1888.   9 Ebenda, S. XI. 10 Oncken zitiert aus Tocquevilles berühmter Abhandlung L’Ancien Régime et la Révolution, die dieser 1856 veröffentlicht hatte.

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Quesnay und die Grundlegung des modernen Liberalismus

Im Dezember 1758 hatte François Quesnay seinen berühmten Tableau économique11 veröffentlicht, der eine detaillierte Analyse gesellschaftlicher Wertschöpfungsprozesse aus marktwirtschaftlicher Sicht unternimmt. Die Schaffung von »Reichtum« wird dabei, im Unterschied zu herkömmlichen, insbesondere auf das Finanzwesen fixierten Vorstellungen, in die Sphäre der landwirtschaftlichen Produktion (als des Hauptwirtschaftsfaktors des Agrarstaates Frankreich) verlegt. Und anders als in der Geschichtsschreibung immer wieder behauptet, wird der dem Reproduktionszyklus zugrunde liegende Faktor Arbeit von Quesnay sowohl in seiner Wertschöpfungs- wie in seiner Tauschwertfunktion beschrieben und zunächst in die Bilanz des Binnenmarktes einbezogen. Wie bereits erwähnt, gilt der Text als Grundlegung der modernen Politischen Ökonomie. In der von Quesnay entwickelten und von Le Mercier de la Rivière in seinem 1767 erscheinenden Hauptwerk L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques12 weitgehend vollendeten Form sollte sie – ausdrücklich mit dem Anspruch einer politischen Philosophie  – ab 1768 den Namen PHYSIOKRATIE erhalten.13 Ihre im Grunde zukunftsweisende Originalität besteht, wie bereits erwähnt, auch in einem Herauslösen der politischen Philosophie aus dem Denkhorizont der traditionellen Moralphilosophie, damit auch in einer Neufassung des traditionellen Naturrechts und in dessen Zurückführung auf eine Soziologie wirtschaftlicher Interessen. Unter dem Eindruck einer sich stets verschärfenden wirtschaftlichen Krise und der damit einhergehenden politischen Ohnmacht des feudalabsolutistischen Staates soll ein radikales Umdenken hinsichtlich politischer, wirtschaftlicher und demographischer Prioritäten eingeleitet werden. Dieser neuartige Ansatz der politischen Philosophie, die von nun an zuerst den Ergebnissen marktwirtschaftlicher Analysen untergeordnet wird, verändert die Sicht auf die Zusammenhänge von Gesellschaft, Staat und Menschenbild. So 11 Die ausführlichsten Hinweise zu Entstehung und textlichen Datierungen des Tableau économique sowie zu Originalität und Veränderungen seiner verschiedenen Begleittexte (Extrait des économies royales de M. de Sully, Maximes générales du gouvernement économique d’un royaume agricole, Analyse du Tableau économique) finden sich in den unzähligen Anmerkungen von Auguste Oncken im Korpus der von ihm herausgegebenen und umfangreich kommentierten Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, insbesondere S. 125–129  : laufende Anmerkung (1). 12 Le Mercier de la Rivière, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques (1767), Paris 2001. 13 Dupont de Nemours, Physiocratie. Zur Entstehungsgeschichte der modernen Politischen Ökonomie einschließlich kritischer Betrachtungen zum Verhältnis der physiokratischen Lehre zum Wealth of nations von Adam Smith vgl. u. a. Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. IX–X XVII (INTRODUCTION), sowie die in dieser Textsammlung enthaltene, im Jahre 1769 von Dupont de Nemours verfasste Notice abrégée des différents écrits modernes qui ont concouru en France à former la science de l’économie politique. Ebenda, S. 145–158.

Quesnay und die Grundlegung des modernen Liberalismus 

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tritt unter anderem das Verhältnis sozialer Interessengruppen, so genannter Klassen, zu Gesellschaft und Staat an die Stelle der bisher in allen Gesellschaftsentwürfen der Naturrechtslehre als grundlegend erachteten Beziehung des Individuums zur Gesellschaft beziehungsweise zur staatlichen Ordnung. Bereits in seinem Enzyklopädieartikel Grains,14 der ein Jahr zuvor erschienen war, hatte Quesnay wesentliche Gedanken seiner auf die Beförderung ökonomischen Wachstums zielenden politischen Philosophie formuliert. In scharfer Form kritisierte er hier die auf Colbert zurückgehende Vernachlässigung der Landwirtschaft zugunsten des Manufakturwesens, das heißt der verarbeitenden Industrie, da hierdurch die eigentliche Basis produktiver Wertschöpfung des Agrarstaates Frankreich zerstört würde. »Seit langem«, schreibt Quesnay, »haben die Manufakturen des Luxus die Nation verführt (…)  ; das Königreich wurde entvölkert und die Landschaften verödeten. (…) Menschen und Reichtümer sammelten sich in den Städten  ; die Landwirtschaft, der fruchtbarste und edelste Teil unseres Handels, die Quelle der Einkommen des Königreiches wurde nicht als ursprünglicher Fonds unseres Reichtums begriffen.«15 Doch nicht allein die Vernachlässigung der Landwirtschaft als solcher habe die Prosperität des Staates untergraben. Vielmehr gelte es auch, dem Faktor menschliche Arbeit eine völlig neue Wertschätzung zuzumessen. Denn »der wirtschaftliche Ertrag ist das Produkt der Ländereien und der Menschen. Ohne die Arbeit der Menschen haben die Ländereien keinerlei Wert. Das Grundvermögen eines großen Staates besteht in den Menschen, den Ländereien und dem Vieh.«16 Wie bereits angedeutet, prägt Quesnay damit auch einen neuartigen Begriff des Reichtums. An die Stelle des herkömmlichen rein pekuniären Verständnisses tritt eine marktwirtschaftlich orientierte, dem modernen Begriff des Kapitals nahestehende Definition dessen, was Reichtum künftig bedeuten soll  : Der Reichtum einer Nation wird nicht über die Masse an pekuniären Reichtümern geregelt. Diese können ansteigen oder sich verringern, ohne dass man es bemerkt. (…) Es ist also nicht das Mehr oder Weniger pekuniärer Vermögen, das über den Reichtum eines Staates entscheidet. (…) Zum Unterhalt eines Staates braucht es echte Reichtümer, das heißt Reichtümer, die stets neu entstehen, immer nachgefragt und immer bezahlt

14 GRAINS (Econ. Polit.) Article de M. Quesnay Le Fils in  : Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 192–249. 15 Quesnay, ebenda, S. 193/194 (Übersetzung R. Bach). 16 Quesnay, ebenda, S. 220 (Übersetzung und Hervorhebungen R. Bach).

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werden, weil man sie benötigt für die Bequemlichkeiten des Lebens und zur Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse.17

Zu ergänzen bleibt, dass sich die gezeigte Begriffsprägung durchaus nicht in diesem noch sehr allgemeinen Bezug auf ein marktwirtschaftliches Modell der Wertbildung erschöpft. In ausführlichen Erörterungen und konkreten Berechnungen präzisiert Quesnay seine diesbezüglichen Überlegungen in einem durchaus modernen volkswirtschaftlichen Verständnis. Ein Umstand allerdings, der in der späteren Rezeptionsgeschichte seiner Ideen zur Umdeutung des physiokratischen Ansatzes in eine lediglich wirtschaftswissenschaftliche Lehre beitragen sollte. Hinsichtlich der nationalen Wertschöpfung betont Quesnay die marktwirtschaftlich und sozial bedeutsame Rolle des Binnenmarktes mit dem Ziel einer durch den Breitenbedarf (consommation générale) zu stärkenden Konjunktur. Derjenige Verbrauch (consommation), der zu großen staatlichen Einnahmen führt und das Glück der Untertanen befördert, ist dieser allgemeine Konsum zugunsten alltäglicher Bedürfnisse des Lebens (consommation générale qui satisfait aux besoins de la vie)… Alle Menschen arbeiten, um sich gute Nahrung und gute Kleidung leisten zu können. Man kann diese Anstrengungen gar nicht genug befördern, denn es sind die Einnahmen des Königreichs, Gewinne und Ausgaben des Volkes, die den staatlichen Reichtum ausmachen.18

Darüber hinaus soll eine kreislaufartige Vernetzung der Binnenkonjunktur mit dem Außenhandel erfolgen, um auf diese Weise ein stetig steigendes Wachstum der Produktion (Quesnay verwendet hierbei stets den Begriff des »Fortschritts«), ein steigendes Bevölkerungswachstum und eine staatliche Gewinnmaximierung miteinander zu verbinden.19 In einer Art Zusammenfassung seiner Gedanken, die Quesnay unter der Überschrift Maximes de gouvernement économique dem Artikel Grains beifügt, wird vor allem das Prinzip des Freihandels zur wichtigsten Aufgabe der Politik erklärt.20 In diesem Sinne gelte es auch, Kommunikationsund Transportwege ständig zu verbessern21 sowie die Sicherheit der nationalen 17 Quesnay, ebenda, S. 238/239 (Übersetzung R. Bach). 18 Quesnay, ebenda, S. 194/195 (Übersetzung und Hervorhebung R. Bach). 19 Vgl. u. a. Quesnay, ebenda, u. a. S. 207 und 242. 20 Vgl. u. a. ebenda, S. 237. 21 Vgl. u. a. ebenda, S. 241.

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Einnahmen, das heißt der Einnahmen aller Bürger, aller Unternehmer und des Staates zu garantieren.22 Berühmt im Sinne eines öffentlichen Durchbruchs wurden diese Ideen Quesnays indessen erst durch den bereits genannten Tableau économique des Jahres 1758.23 Die hierin erweiterte Fassung der Maximen (gegenüber dem Text von 1757 steigt ihre Anzahl von XIV auf zunächst XXIV, nach weiterer Überarbeitung etwas später auf die endgültige Zahl XXX24), bekannt geworden unter ihrem späteren Titel Maximes générales du gouvernement économique d’un royaume agricole,25 ist ideengeschichtlich vor allem in zweifacher Hinsicht bedeutungsvoll. Zum einen stellt sie den Versuch dar, die neu begründete Theorie einer Wirtschaftsregierung, die tatsächlich erstmals konsequent eine politische Doktrin auf ökonomische Überlegungen gründet, mit dem Anspruch wissenschaftlicher Allgemeingültigkeit auszustatten und in diesem Sinne zu propagieren. Zum anderen soll die politische Wertigkeit der neuen Lehre als umfassende Gesellschaftstheorie, dem Verständnis der Aufklärung folgend, naturwissenschaftlich befestigt werden. So betont Quesnay in der (ursprünglich letzten) Maxime XXIV den allgemeinen Geltungsanspruch der neuen Lehre zunächst gegenüber herkömmlichen ökonomischen Betrachtungen und ihren rein finanzpolitischen Erhebungen, die er als »science triviale des opérations spécieuses de finance«26 abtut. Es handele sich hier stattdessen um die wahren Prinzipien der Wissenschaft von der ökonomischen Regierung (»les vrais principes de la science du Gouvernement économique«27). Eine Formulierung, die im Übrigen der Wissenschaftseuphorie der zeitgenössischen Aufklärung entspringt und mit der Quesnay ganz bewusst auf die Erwartungshaltung hinsichtlich eines naturwissenschaftlichen Durchbruchs für 22 Vgl. u. a. ebenda, S. 237. 23 Auch Dupont de Nemours, einer der wichtigsten Gefolgsleute Quesnays und Multiplikator der PHYSIOCR ATIE, betont die besondere Originalität des Artikels Grains gegenüber dem berühmter gewordenen Tableau économique, wenn er in seiner bereits 1769 veröffentlichten Notice abrégé des différents écrits modernes qui ont concouru en France à former La Science de L’Economie Politique betont  : »Le mot FERMIERS présentait quelques vérités mères d’une grande science. Dans le mot GRAINS, on voit cette science formée et presque complète.« Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 150. 24 Sie erscheinen hier (unter Bezugnahme auf Sully, Berater des Königs Henri IV., und dessen 1604 veröffentlichte 36 Maximen) zunächst mit der etwas irreführenden Überschrift Extraits des économies royales de M. de Sully und werden später von Quesnay weiter überarbeitet und auf die Zahl dreißig (XXX) angehoben. Vgl. dazu u. a. Oncken, ebenda, S. 329. 25 Ebenda, S. 329–358. 26 Quesnay, Physiocratie. Droit naturel, Tableau économique et autres textes, Paris 1991, S. 126. 27 Ebenda, S. 125.

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die exakte Erklärung der Grundlagen von Wirtschaft, Moral und Politik reflektiert. Denn seit dem Beginn der Drucklegung von Diderots großer Encyclopédie raisonnée des Sciences et des Arts war ebendiese Erwartungshaltung prinzipiell erneuert und befestigt worden.28 Doch es geht Quesnay durchaus um mehr als nur die Überwindung herkömmlicher ökonomischer Betrachtungen. Die viel weiter reichende Absicht seiner »Wissenschaft von der ökonomischen Regierung« zielt stattdessen auf einen elementaren Erkenntnisfortschritt auf dem Gebiet der politischen Philosophie, wie bereits die folgenden Bemerkungen unterstreichen  : In der Kenntnis der wirklichen Quellen des Reichtums und der Mittel, sie zu vermehren und dauerhaft zu befestigen, besteht die Wissenschaft der ökonomischen Regierung des Königreichs. Die ökonomische Regierung öffnet die Quellen des Reichtums  ; der Reichtum zieht die Menschen an  ; die Menschen und der Reichtum lassen die Agrarwirtschaft prosperieren, erweitern den Handel, fördern die Industrie, steigern den Reichtum und machen ihn dauerhaft. Die ökonomische Regierung verhindert den Verfall des Wohlstandes und der Kräfte der Nation. Von ihren Ressourcen hängen die Erfolge der anderen Teile der Administration des Königreichs ab  : Die ökonomische Regierung festigt die Macht des Staates, steigert sein internationales Ansehen, sichert den Ruhm des Monarchen und das Glück des Volkes. Ihr Blick umfasst alle wesentlichen Prinzipien einer perfekten Regierung, wo die Macht immer beschützend und wohltätig, vormundschaftlich und bewunderungswürdig ist  ; gegen Fehltritte ist sie gewappnet, sie könnte sich nicht über Gebühr ausdehnen, könnte nicht Verunsicherung hervorrufen  ; überall unterstützt sie die Interessen der Nation, die gute Ordnung, das öffentliche Recht, die Macht und Herrschaft des Souveräns.29

Das »Glück des Volkes« und »die Interessen der Nation« sowie »Ordnung« und »öffentliches Recht« stehen also neben »Macht« und »internationalem Ansehen« des Staates sowie dem Ruhm seines ausschließlich »beschützenden« (im Klartext also ›frei von absolutistischer Willkür‹ agierenden) Souveräns im Fokus jener 28 Vgl. allgemein hierzu d’Alemberts berühmten Discours préliminaire de l’Encyclopédie, der ganz konkret im synoptischen Strukturplan des neuen Wissenschaftskanons die Schaffung einer politisch-ökonomischen Naturwissenschaft forderte. Vgl. auch die 1753 veröffentlichten Pensées sur l’interprétation de la nature von Diderot, in denen dieser von einer unmittelbar bevorstehenden »großen Revolution in den Wissenschaften« spricht, deren Erkenntnisse endgültig sein werden, um – ähnlich den ägyptischen Pyramiden – auch künftige Jahrhunderte zu überdauern  : »On n’ira point au-delà …« Diderot, Pensées sur l’interprétation de la nature (1753), Paris 2005, S. 63. 29 Quesnay, Physiocratie, S. 127 (Übersetzung R. Bach).

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»perfekten Regierung«, deren Aufgaben und Möglichkeiten Quesnay hier umreißt. Weiter vertieft werden diese Überlegungen schließlich im Rahmen der endgültigen Fassung jener (dann) dreißig Maximen, die den Text des Tableau économique fortan begleiten und in denen verkürzend und selbstbewusst von der »Allgemeinen Regierungswissenschaft« (science générale du gouvernement) die Rede ist. Von besonderem Interesse ist nun, dass Quesnays Veröffentlichung, wie auch sein Schüler Dupont de Nemours später betonen wird,30 gezielt auf Montesquieu und seinen Esprit des lois Bezug nimmt. Da es sich hierbei aber um die seit 1748 in Sachen politische Philosophie am meisten etablierte Autorität handelt, wird so der Anspruch erhoben, die eigentlich umfassende und der Lehre Montesquieus überlegene politische Philosophie zu vertreten. Bereits in der ersten seiner Thesen, mit der Quesnay die Maximes générales eröffnet, wird genau in diesem Sinne der Montesquieu’sche Kerngedanke der politischen Gewaltenteilung (hier von Quesnay richtiger als System der Gegenkräfte bezeichnet) angegriffen  : (»Que l’autorité souveraine soit unique et supérieure à tous les individus de la société  …«) Dass die souveräne Gewalt ungeteilt sei und über allen Individuen der Gesellschaft sowie über allen unrechten Unternehmungen partikularer Interessen stehen möge  ; denn das Ziel von Herrschaft und Unterordnung ist die Sicherheit aller und das zulässige Interesse aller. (»Le système des contreforces dans un gouvernement est une opinion funeste …«) Das System der Gegenkräfte in einer Regierung ist eine verhängnisvolle Meinung, die lediglich Zwietracht unter den Großen sät und zur Unterdrückung der Kleinen führt …31

Montesquieus philosophischer Kerngedanke, wonach dem grundsätzlich expansiven Charakter der politischen Macht32 auf allen Ebenen ihrer Entfaltung mit 30 Dupont de Nemours, Notice abrégée des différents écrits modernes qui ont concouru en France à former la Science de l’économie politique. In  : Ephémérides du citoyen ou Bibliothèque raisonnée des Sciences morales et politiques, 1769, Tome premier bis Tome sixième. Der unter diesem Titel von Januar bis Juni 1769, mit jeweils ca. 50 Seiten pro Zeitschriftenband, fortlaufend erscheinende Text enthält – in chronologischer Reihenfolge bis zur »Gegenwart« von 1769  – eine ausführliche Würdigung all jener Werke, die von Dupont als Beiträge zur Entstehung und Vervollkommnung der Science nouvelle anerkannt werden, wobei der Esprit des lois von Montesquieu, als Teil dieser Chronologie, den Anfang bildet. 31 Quesnay in Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 329/330 (Übersetzung R. Bach). 32 »C’est une expérience éternelle que tout homme qui a du pouvoir est porté à en abuser  ; il va jusqu’à ce qu’il trouve des limites«. Montesquieu, De l’esprit des lois (1748), Bd. I und II, Paris 1995, Bd. I,

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einer entsprechenden politischen Gegenkraft zu begegnen sei,33 um repressive Entwicklungen eines politischen Systems auszuschließen, damit auch die Spielräume individueller Freiheit zu garantieren, wird damit konterkariert. Genau dies aber integriert den Text Quesnays in die durch Montesquieus Werk entfachte politische Debatte der zeitgenössischen Aufklärung. Die Bedeutung dieses Umstandes, wie übrigens auch die besondere Wertigkeit der dabei von Quesnay vertretenen Position, wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass die hier verwendete Formulierung »système des contreforces«, einschließlich der verbalen Herabwürdigung der Idee Montesquieus als »opinion funeste«, sich in den kommenden Jahrzehnten stereotyp in allen physiokratisch inspirierten Texten wiederfindet. Besonders aufschlussreich für den tatsächlich innovativen soziologischen Ansatz Quesnays und seine im Vergleich zu Montesquieu ganz und gar anders geartete politische und soziale Betrachtung der Gesellschaft und ihrer staatlichen Ordnung ist darüber hinaus die weitere Begründung des hier vorgetragenen machtpolitischen Gebots. Quesnay schreibt  : Die Teilung der Gesellschaften in verschiedene Stände von Bürgern (différents ordres de citoyens), von denen die einen die souveräne Gewalt über die anderen ausüben, zerstört das Gemeininteresse der Nation (l’intérêt général de la nation) und befördert den Konflikt partikularer Interessen zwischen den verschiedenen Klassen der Bürger (différentes classes de citoyens)  : Diese Teilung würde die Ordnung der Verwaltung (Regierung) eines agrarwirtschaftlichen Königreiches beeinträchtigen, deren Aufgabe darin besteht, alle Interessen auf ein Hauptziel zu vereinigen, nämlich auf die Prosperität der Landwirtschaft als Quelle des staatlichen Reichtums und des Reichtums aller Bürger.34

Zum besseren Verständnis der Begrifflichkeit, die Quesnay mit dem Terminus classes de citoyens bezeichnet, genügt ein Blick in die von ihm später veröffentlichte Analyse du Tableau économique.35 Bereits im ersten Satz dieser Erläuterung zum Tableau économique wird der politische Begriff der Nation auf eine marktwirtschaftlich begründete Klassentheorie zurückgeführt. Die Nation besteht demS. 326 (Hervorhebung R. Bach). 33 »Il faut que, par la disposition des choses, le pouvoir arrête le pouvoir«, ebenda (Hervorhebung R. Bach). 34 Quesnay in Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 331 (Übersetzung R. Bach). 35 Quesnay, ebenda, S. 305

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nach aus insgesamt drei nach ökonomischen Kriterien unterschiedenen Klassen, nämlich der classe productive, der classe des propriétaires und der classe stérile.36 Aufgabe der classe productive ist die landwirtschaftliche Produktion auf allen nutzbaren Territorien des Landes, mithin die jährliche Erwirtschaftung des nationalen Reichtums (»les richesses annuelles de la nation«), einschließlich der dafür notwendigen finanziellen Vorleistungen sowie der Gewinnabführung an die classe des propriétaires. Alle mit sonstigen Dienstleistungen und anderen Arbeiten befassten Bürger, die ihrerseits von den Ausgaben der zuvor genannten Klassen leben, bilden die classe stérile.37 Was also in dem gezeigten Kontext der Abgrenzung gegenüber Montesquieu stattfindet, ist nichts Geringeres als die Ablösung einer an Geburt und Herkunft orientierten politischen Soziologie durch eine an wirtschaftlichen Interessen orientierte Soziologie der bürgerlichen Klassengesellschaft. Der moderne Klassenbegriff tritt damit im politischen Diskurs an die Stelle des feudalen Standesbegriffs, das statische Modell der Ständehierarchie wird abgelöst beziehungsweise überzeichnet durch ein an marktwirtschaftlichen Aufgaben und Interessen orientiertes Modell arbeitsteilig verbundener, aber um salaires und profits miteinander konkurrierender Klassen.38 Gleichzeitig wird mit der Zielvorgabe einer am Gemeininteresse der Nation (»l’intérêt général de la nation«) und dem Reichtum aller Bürger orientierten Politik ein dem Wesen nach egalitärer Gedanke in die Diskussion gebracht, der dem ständischen Hierarchiemodell ebenfalls widerspricht. Noch in der grundlegenden Definition seines Gesetzesbegriffs39 hatte Montesquieu das ewige Bestehen der Ständehierarchie als unverrückbar, daher »naturgesetzlich« angenommen und daher auch die Existenz von Privilegien, als »der Natur der Dinge« entsprechend, für unabdingbar gehalten. »Zu allen Zeiten«, hatte Montesquieu geschrieben,

36 »La nation est réduite à trois classes de citoyens  : la classe productive, la classe des propriétaires et la classe stérile.« Quesnay, ebenda, S. 305 (Hervorhebungen im Original). 37 Ebenda, S. 306–309. Der tatsächlich irreführende Ausdruck classe stérile, der die historiographischen Fehleinschätzungen hinsichtlich der Beachtung des Faktors »Arbeit« im physiokratischen System begünstigte, muss vor dem Hintergrund der gezeigten Ausführungen Quesnays zur zentralen Bedeutung der ›Arbeit‹ im Wertschöpfungsprozess relativiert werden. 38 Zur politischen Forderung einer auch über Ländergrenzen hinausgehenden freien Konkurrenz vgl. Quesnay, ebenda, S. 318–328. 39 »Gesetze, in der allgemeinsten Bedeutung, sind notwendige Beziehungen, die sich aus der Natur der Dinge ergeben.« Montesquieu, De l’esprit des lois, Bd. I, S. 87 (Übersetzung R. Bach).

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gibt es im Staat Menschen, die sich durch ihre Geburt, ihren Reichtum oder (andere) Ehrbezeigungen auszeichnen  ; aber würden sie dem Volk gleichgestellt, hätten sie nur eine Stimme, wie alle anderen, dann wäre die allgemeine Freiheit ihre Versklavung … weil die Mehrzahl der Resolutionen gegen sie verliefe. (…) Ihr Anteil an der Gesetzgebung muss also proportioniert werden auf alle anderen Vorzüge, die sie im Staate genießen.40

Die politische Hierarchie folgte auf diese Weise der sozialen Hierarchie und Montesquieus Definition des droit politique, des politischen Rechts, spiegelte diesen für »natürlich« befundenen Zustand  : Die Beziehung, die »diejenigen, die regieren« (»ceux qui gouvernent«), mit »denjenigen, die regiert werden« (»ceux qui sont gouvernés«), unterhalten, das ist das Politische Recht.41 Erst vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass die von Montesquieu geforderte Machtbalance lediglich auf die Ebene »derjenigen, die regieren«, begrenzt bleiben soll, die Ständehierarchie also keineswegs  – etwa im Sinne eines Demokratieentwurfs – in Frage stellt. Montesquieu, dies ist bekannt, war es politisch vielmehr um die Wiederherstellung der im siebzehnten Jahrhundert verlorengegangenen politischen Privilegien des Hochadels gegangen. Nur auf diese Weise, glaubte er, sei der politische Absolutismus auszubremsen und das Gleichgewicht der Monarchie wiederzugewinnen. Der von dieser politischen Philosophie gänzlich verschiedene Ansatz Quesnays beharrt einerseits auf der Unteilbarkeit der politischen Souveränität, beschränkt sie jedoch andererseits von vornherein, im Namen des ordre naturel, auf die Garantie der Einhaltung jener Rahmenbedingungen, die eine funktionierende Marktwirtschaft erfordert. Im Einzelnen wird dies durch die in den anderen Generalmaximen dargelegten politischen Grundsätze erläutert. So betont die zweite Generalmaxime Quesnays die Notwendigkeit, dass alle Menschen, also die gesamte Nation, über die allgemeinen Gesetze der natürlichen Ordnung unterrichtet sein sollen, und dass es – diese Bildung vorausgesetzt – der Nation obliegt, im Rahmen der natürlichen Ordnung, ein politisches Gegengewicht zur Macht des Souveräns zu bilden. Dieses Gegengewicht manifestiere sich in den

40 Ebenda, Bd. I, S. 333 (Übersetzung R. Bach). 41 »[L]e rapport qu’on ceux qui gouvernent avec ceux qui sont gouvernés, c’est le Droit Politique«, ebenda, Bd. I, S. 93 (Übersetzung R. Bach).

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durch Erfahrung und Reflexion erworbenen praktischen und leuchtenden Kenntnissen der Nation, die diese zur Allgemeinen Regierungswissenschaft (science générale du gouvernement) beiträgt, auf dass die souveräne Autorität, stets erleuchtet von der Evidenz, die besten Gesetze erlässt und deren exakte Einhaltung überwacht zum Wohle der Sicherheit aller und zur Erreichung des größtmöglichen Wohlstandes der Gesellschaft.42

Es ist dies die erste, noch rudimentäre Verbalisierung der physiokratischen Theorie einer opinion publique als Regulativ staatlicher Macht. Im Rahmen der Weiterentwicklung der politischen Philosophie des Liberalismus durch die physiokratische Schule, insbesondere durch Le Mercier de la Rivière, wird diese opinion publique als Regina d’el mundo apostrophiert und in den Rang der eigentlich staatstragenden Gewalt befördert werden.43 Ebendiese politische Kontrollfunktion der Öffentlichkeit (im Sinne der Nation) überhaupt erst zu ermöglichen ist aber das Ziel einer weiteren, quasi dogmatischen Priorität, die alle Vertreter der physiokratischen Lehre einfordern  : der nationalen Bildung (l’instruction publique). Quesnay selbst hatte genau deshalb die bereits angesprochene »nationale Bildung« an den Anfang seiner zweiten Maxime gestellt, da erst hierdurch die gewünschte Kontrollfunktion der Nation gegenüber der souveränen Gewalt denkbar wird  : »Dass die Nation gebildet werde zur Einsicht in die allgemeinen Gesetze der natürlichen Ordnung, die der perfektesten Regierung zugrunde liegen.«44 Nicht zu übersehen ist allerdings der von Anfang an einseitige, auf die Anerkennung der allgemeinen Gesetze des ordre naturel, das heißt auf die Einsicht in die »Naturgesetzlichkeit« einer marktwirtschaftlichen Ordnung ausgerichtete Charakter dieser »nationalen Bildung«. Stereotyp wiederholt werden in diesem Sinn auch in fast allen späteren der instruction publique gewidmeten physiokratischen Schriften die Formulierungen Quesnays vom »ordre naturel qui constitue le gouvernement évidemment le plus parfait«, »l’ordre naturel le plus avantageux aux hommes réunis en société« und so weiter.45 Die als évidence bezeichnete »Einsicht« in den ordre naturel der société politique ist dabei ihrerseits Gegenstand und Ergebnis der science générale du gouvernement46, der »Wissenschaft vom Re42 Quesnay in Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 331 (Übersetzung und Hervorhebungen R. Bach). 43 Vgl. auch R. Bach, Conduire l’opinion publique en 1796  : Roederer et les métamorphoses de la physiocratie. In  : Opinion, ed. par P.-E. Knabe, Berlin 2000, S. 265–275. 44 Quesnay in Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 331 (Übersetzung R. Bach). 45 Ebenda (Hervorhebung im Original). 46 Ebenda (Hervorhebung R. Bach).

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gieren«. Der politische Souverän seinerseits hat sich, sofern er der science folgt und durch ebendiese Einsicht erleuchtet ist, auf den Erlass entsprechender Gesetze zu beschränken, die im Sinne des ordre naturel die Sicherheit aller und die größtmögliche Wohlfahrt der Gesellschaft verbürgen.47 Generalmaxime III erinnert sowohl den Souverän als auch die Nation daran, dass aller Reichtum des Landes und aller Wohlstand der Gesellschaft auf einer prosperierenden Landwirtschaft beruhen. Erst hiervon werde auch das Wachstum von Handel und Industrie getragen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass die in der Geschichtsschreibung bis in die jüngste Zeit kolportierte Kritik an der vermeintlichen Engstirnigkeit dieses physiokratischen Gedankens vom Primat der Landwirtschaft nur selten der Tatsache gedachte, dass das zeitgenössische Frankreich eben ein Agrarstaat war, dass jede durchgreifende Wirtschaftsreform diesen produktiven Sektor zuerst mobilisieren musste und dass im Übrigen die Bedeutung des Faktors Arbeit für die Wertschöpfung nahezu gleichrangig in allen physiokratischen Diskursen hervorgehoben wird. Und entgegen allen historiographischen Wahrnehmungen im Gefolge der Weulersse-Arbeiten hatte Quesnay bereits im Enzyklopädieartikel Grains betont, dass der »Boden ohne die Arbeit der Menschen keinerlei Wert« besitze.48 Explizit gilt dies für alle mit dem Wort industrie bezeichneten Produktionsformen, deren Anteil an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung stets betont wird.49 Die wichtigste Aufgabe des Souveräns, auch hier lässt die évidence des ordre naturel keinerlei politischen Spielraum, ist es, für die »Sicherheit des Eigentums als essentieller Grundlage der ökonomischen Ordnung der Gesellschaft«50 zu sorgen. In Großbuchstaben formuliert Quesnay daher diesen Grundsatz als Ker47 Ebenda. »Il est encore nécessaire que les connaissances pratiques et lumineuses que la nation acquiert par l’expérience et la réflexion, se réunissent à la science générale du gouvernement, afin que l’autorité souveraine, toujours éclairée par l’évidence, institue les meilleures lois et les fasse observer exactement pour la sûreté de tous et pour parvenir à la plus grande prospérité possible de la société.« 48 Ebenda, S.  220  : »Sans le travail des hommes, les terres n’ont aucune valeur« (Hervorhebung R. Bach). 49 Ebenda, S. 234  : »Les travaux d’industrie contribuent à la population et à l’accroissement des richesses«. 50 Ebenda, S.  331/332  : »LA SÛRETÉ DE LA PROPRIÉTÉ EST LE FONDEMENT ESSENTIEL DE L’ORDRE ÉCONOMIQUE DE LA SOCIÉTÉ (…) C’est la sûreté de la possession permanente qui provoque le travail et l’emploi des richesses à l’amélioration et à la culture des terres et aux entreprises du commerce et de l’industrie. Il n’y a que la puissance souveraine qui assure la propriété des sujets.« (Hervorhebung im Original).

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naussage seiner vierten Generalmaxime und verweist dabei auf die nur unter diesen Umständen gegebene Bereitschaft zur Investition in Landwirtschaft, Handel und Gewerbe.51 Nicht unterschätzt werden darf aus heutiger Sicht auch die für die Zeitumstände Quesnays ohne Zweifel revolutionäre politische Bedeutung der Forderung nach uneingeschränkter Handelsfreiheit und vollständiger Freiheit der Konkurrenz, wie sie ebenfalls als Generalmaxime wissenschaftlicher Politik dargelegt wird.52 Denn politisch bedeuten diese Forderungen nichts anderes als eine Zurücknahme des Staates gegenüber der Wirtschaft, die ihrerseits ausschließlich von den (Natur-)Gesetzen des Marktes regiert werden soll. Auch aus diesem Grund kann es im Modell Quesnays keinen separaten Spielraum für eine politische Gegengewalt oder eine staatlich organisierte Gewaltenteilung nach dem Muster der politischen Philosophie des Esprit des lois von Montesquieu geben. Allerdings eröffnet sich im Gegenzug eben auch kein Spielraum für politischen Absolutismus im herkömmlichen Sinn, was von den zeitgenössischen Gegnern und späteren Kritikern der Physiokraten, insbesondere im Rahmen ihrer Polemik gegen den von Quesnay und Le Mercier de la Rivière kurzzeitig verwendeten Despotismusbegriff gern ignoriert wurde. Erwähnt sei an dieser Stelle ergänzend auch jene im gleichen Zusammenhang von Quesnay entwickelte Position, wonach ein Zusammenschluss derjenigen Staaten, die sich zu den oben genannten beiden politischen Prämissen, also zum Schutz des Eigentums und zur freien Konkurrenz, bekennen, zur Bildung einer über Ländergrenzen hinausgehenden »universellen Handelsrepublik« (»la république commerçante universelle répandue dans les différents pays«, »cette république immense«53) führen sollte.

51 Ebenda, S. 332  : »C’est la sûreté de la possession permanente qui provoque le travail et l’emploi des richesses à l’amélioration et à la culture des terres et aux entreprises du commerce et de l’industrie.« 52 Ebenda, S. 336  : »Qu’on maintienne l’entière liberté du commerce  ; car LA POLICE DU COMMERCE INTÉRIEUR ET EXTÉRIEUR LA PLUS SÛRE  ; LA PLUS EX ACTE  ; LA PLUS PROFITABLE A LA NATION ET A L’ÉTAT  ; CONSISTE DANS LA PLEINE LIBERTÉ DE LA CONCURRENCE.« (Hervorhebung im Original). 53 Ebenda, S. 326.

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2 Vorläufer der Wirtschafts- und Sozialtheorie Quesnays

Es bleibt an dieser Stelle nachzutragen, dass ein Kernbereich der von Quesnay vorgetragenen ökonomischen Gesellschaftsanalyse durch eine Reihe früherer Autoren vorbereitet wurde, die um die Wende vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert mit wirtschafts- und finanztheoretischen Arbeiten hervorgetreten waren. Ihre wichtigsten Werke wurden 1843 durch den Wirtschaftswissenschaftler Eugène Daire in einer einzigartigen und gut kommentierten Collection des principaux économistes zusammenfassend neu herausgegeben.1 Dabei handelt es sich um folgende Autoren und Titel  : Sébastien Le Prestre, seigneur de Vauban (Dîme Royale, 1707), Pierre Le Pesant, seigneur de Boisguillebert (Le détail de la France, 1697  ; Factum de la France, 1707  ; Traité des grains, 1707  ; Nature des richesses, 1707), Jean Law (Considérations sur le numéraire et le commerce, Mémoires sur les banques, Lettres sur les banques, Lettre sur le nouveau système des finances, Mémoire sur l’usage des monnaies),2 Jean-François Melon (Essai politique sur le commerce, 1734), Dutot (Réflexions politiques sur les finances et le commerce, 1735). Quesnay selbst verweist in einer seiner außerordentlich umfangreichen Fußnoten zu den Maximes générales auf seine Kenntnis des Textes Le détail de la France von Boisguillebert,3 ohne jedoch auf den Umfang der hier bereits entwickelten wirtschaftstheoretischen Positionen der physiokratischen Lehre einzugehen. Allerdings tut dies der spätere Herausgeber Eugène Daire, wenn er Boisguillebert als wichtigsten Vorläufer der Sience4 und als »den Christoph Kolumbus der ökonomischen Welt« bezeichnet. Boisguillebert habe bereits ein halbes Jahrhundert vor der Schule Quesnays »die grundlegenden Prinzipien der Science« benannt und damit dem menschlichen Geist eine neue Perspektive eröffnet.5 1 E. Daire, Collection des principaux économistes. Tome 1  : Économistes financiers du XVIIIe siècle. Paris 1843. 2 Leider enthält die Edition Daire für diese Texte nur unvollständige und widersprüchliche Angaben über Ort und Zeit der Publikation. 3 Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 357. 4 Spätestens seit dem Erscheinen der physiokratischen Programmschrift von Dupont de Nemours, De l’origine et des progrès d’une sciene nouvelle (Paris 1768), wird die Bezeichnung »la Science« in entsprechenden Kontexten zum Synonym für die gesellschaftspolitische, je nach Verständnis mitunter auch nur für die ökonomische Lehre der Physiokraten. 5 Daire, Économistes financiers du XVIIIe siècle, S. 169.

Vorläufer der Wirtschafts- und Sozialtheorie Quesnays 

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Tatsächlich enthält Boisguilleberts Analyse der wirtschaftlichen Situation Frankreichs am Ende des siebzehnten Jahrhunderts nicht nur eine schonungslose Abrechnung mit dem zeitgenössischen politischen und ökonomischen System. Sie ist auch der Versuch, einen grundlegend neuen Ansatz für das Verständnis ökonomischer Zusammenhänge und Wertschöpfungsprozesse zu entwickeln. Die erlebte wirtschaftliche und politische Situation des Landes kritisiert Boisguillebert in vielfacher Hinsicht als désordre. Ausdruck dieses désordre sei unter anderem die Tatsache, dass sich die Gesellschaft infolge der Zerstörung ihrer natürlichen Ordnung in zwei Klassen spaltete, von denen die eine »im Müßiggang schwelgt und über alle Annehmlichkeiten verfügt«, während die andere »von morgens bis abends arbeitet, ohne auch nur das Notwendigste zu besitzen«.6 Dem Zustand ursprünglicher innocence sei infolge der sozialen Entwicklung und proportional zur historischen Entfernung vom Urzustand eine stetig wachsende allgemeine corruption gefolgt. Gold und Silber, die einst die Sklaven des Handels gewesen seien, hätten sich im Zuge dieses historischen Verfalls zu dessen Tyrannen entwickelt.7 Darin spiegle sich auch die Verachtung und Entwertung der für das Gemeinwohl unentbehrlichen Arbeit sowie der Mangel eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen gesellschaftlicher Produktion und gesellschaftlicher Konsumtion. Dies aber stehe letztlich in krassem Widerspruch zu den naturgegebenen »Gesetzen der ökonomischen Ordnung«, die man niemals ungestraft verletzen könne.8 Die Schwerpunkte einer grundlegenden Wirtschafts- und Sozialreform sieht Boisguillebert folgerichtig in einer Aufwertung der Arbeit, der Landwirtschaft und des Handels, in sozialer Gerechtigkeit, die es jedem ermöglichen soll, von seiner Arbeit zu leben, und schließlich in einer strikten Beachtung der Naturgesetze des Marktes, das heißt in einer Garantie der freien Konkurrenz, des freien Handels und der freien gewerblichen Produktion. Was den Faktor Arbeit angeht, so handele es sich um »die notwendige Bedingung für die Existenz der Gesellschaft«.9 Dies aber schließe ein, so Boisguillebert, 6 Ebenda, S. 399  : »deux classes (…), une qui ne fait rien et jouit de tous les plaisirs et l’autre qui, travaillant depuis le matin jusqu’au soir, se trouve à peine en possession du nécessaire, et en est même privé entièrement.« 7 Ebenda, S. 395–398. 8 Ebenda, S. 232. 9 Boisguillebert  : Dissertation sur la nature des richesses. In  : Daire, Économistes financiers du ­XVIIIe siècle, S. 408  : »L’état social étant le premier besoin de l’homme, et le travail la condition nécessaire de l’ecistence de la société, il en résulte que tout travailleur doit pouvoir vivre commodémment dans une société qui ne déroge pas aux lois de la nature.«

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dass – sofern die Gesellschaft den Naturgesetzen folge – auch jeder Einzelne von seiner Arbeit auskömmlich zu leben vermag.10 Da jedoch die Menschen gegen die Gesetze der Gerechtigkeit verstießen, indem sie von morgens bis abends einander betrögen und versuchten, ihren Reichtum auf den Ruin ihrer Nachbarn zu gründen, sei es an der Natur selbst, für Ordnung und Frieden zu sorgen. Jegliche andere Autorität würde, auch wenn sie wohlwollend wäre, die Situation verschlimmern. Denn es sei die »erste Absicht der Natur«, dass alle Menschen bequem von ihrer Arbeit oder der ihrer Vorfahren leben könnten.11 Und so sei denn die erste von der Natur selbst vorgeschriebene »Regel der Gerechtigkeit«, dass der für alle Menschen unentbehrliche Austausch von Arbeitsleistungen, der notwendigerweise jeden Einzelnen gleichermaßen zwinge, zu »kaufen« und zu »verkaufen«, stets »ausbalanciert« erfolge, so dass jedermann auf seine Kosten komme, jedermann gleichermaßen »profitiere«. Der Natur zu folgen (»laisse(z) faire la nature«) bedeute in diesem Sinn, den gegenseitigen Vorteil zur »Seele allen Austausches« zu machen. Dies allein sei Gerechtigkeit auch im Sinne des Evangeliums, das von jedem fordere, das Maß für die anderen auch an sich selbst zu legen.12 Es ist kaum zu übersehen, dass in diesen Ausführungen Boisguilleberts nicht nur grundlegende physiokratische Positionen vorweggenommen werden. Auch Aspekte der Sozialphilosophie und Gesellschaftskritik Jean-Jacques Rousseaus 10 Ebenda. 11 Ebenda, S.  408/409  : »Il faut une police pour faire observer la concorde et les lois de la justice parmi un si grand nombre d’hommes, qui ne cherchent qu’à les détruire, et qu’à se tromper et à se surprendre depuis le matin jusqu’au soir, et qui aspirent continuellement à fonder leur opulence sur la ruine de leurs voisins. Mais c’est à la nature seule à y mettre cet ordre, et à y entretenir la paix  ; toute autre autorité gâte tout en voulant s’en mêler, quelque bien intentionnée qu’elle soit. La nature même, jalouse de ses opérations, se venge aussitôt par un déconcertement général, du moment qu’elle voit que, par un mélange étranger, on se défie de ses lumières et de la sagesse de ses opérations. Sa première intention est que tous les hommes vivent commodémment de leur travail, ou de celui de leurs ancêtres  ; en un mot, elle a établi qu’il faut que chaque métier nourrisse son maître.« 12 Ebenda, S. 409  : »Il est nécessaire que chacun, tant en vendant qu’en achetant, trouve également son compte, c’est-à-dire que le profit soit justement partagé entre l’une et l’autre de ces deux situations. (…) cette règle de justice (…) La nature donc, ou la Providence, peut seule faire observer cette justice, pourvu encore une fois que qui que ce soit autre ne s’en mêle  ; et voici comme elle s’en acquitte. Elle établit d’abord une égale nécessité de vendre et d’acheter dans toutes sortes de traffics, de façon que seul le désir de profit soit l’âme de tous les marchés, tant dans le vendeur que dans l’acheteur  ; et c’est à l’aide de cet équilibre ou de cette balance, que l’un et l’autre sont également forcés d’entendre raison, et de s’y soumettre. (…) Tant, encore une fois, qu’on laisse faire la nature, on ne doit rien craindre …«

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werden hier zumindest antizipiert, wie etwa die als Korruption des Naturzustandes interpretierte, der sozialen Gerechtigkeit zuwiderlaufende Gesellschaftsentwicklung. In der gleichen kritischen Perspektive erörtert Boisguillebert das Verhältnis der privaten Einkommensstruktur des Landes zum volkswirtschaftlichen Gewinn. Demnach wäre das soziale Gefälle zwischen einer kleinen Anzahl äußerst wohlhabender Bürger und der überwältigend großen Zahl von Menschen, die in schlimmster Armut leben müssten, durch den damit einhergehenden Ausfall der Konsumtion (»la ruine de la consommation«) ein Hauptgrund für die gesamte volkswirtschaftliche Misere, für den désordre der Gesellschaft.13 Konsumtion und volkswirtschaftlicher Gewinn seien ein und dieselbe Sache, der Ruin der Konsumtion daher gleichzeitig auch der Ruin des volkswirtschaftlichen Gewinns.14 Es liege daher im Interesse des Königs, die Konsumtion zu stärken, denn beide – die Landwirtschaft wie auch der Handel  – seien die beiden »Milchbrüste der Republik«.15 Die »natürliche« und »kontinuierliche Zirkulation« zwischen privaten Ausgaben und volkswirtschaftlichen Einnahmen entspreche den »Gesetzen der ökonomischen Ordnung« und befördere den gesellschaftlichen Wohlstand (»le progrès de la richesse publique«). Daher sei auch die Wissenschaft der Finanzen nichts anderes als die genaue Kenntnis der Interessen der Landwirtschaft und des Handels.16 Boisguilleberts Ansichten und zentrale Forderungen, die gesamte Volkswirtschaft, und damit den Reichtum der Nation, vor allem auf eine prosperierende Landwirtschaft und die Kaufkraft der Bürger zu gründen, erfolgen mehrfach unter Bezugnahme auf Sully, dessen ökonomische Vordenkerrolle in dieser Hinsicht auch durch Quesnay und andere Physiokraten hervorgehoben wird.17 Einen weiteren wichtigen Punkt, in dem Boisguillebert den Wirtschafts- und Sozialanalysen der Physiokraten vorgreift, bildet seine Beschreibung der Sozialstruktur, die ausgehend von ökonomischen Abhängigkeiten und Interessenlagen 13 In diesem Zusammenhang entwickelt Boisguillebert eine äußerst scharfe Form der Sozialkritik, in der er auf das maßlose Elend großer Bevölkerungsteile Frankreichs hinweist und u. a. von jährlich zwei- bis dreihunderttausend Kindern und Erwachsenen spricht, die dem Hunger und der allgemeinen Notlage zum Opfer fielen. Vgl. ebenda, S. 260–262. 14 Ebenda, S. 193  : »consommation et revenu sont une seule et même chose (…) la ruine de la consommation est la ruine du revenu«. 15 Ebenda, S. 215  : »l’agriculture et le commerce sont les deux mamelles de la république«. 16 Ebenda  : S. 241  : »la science financière n’est que la connaissance approfondie des intérêts de l’agriculture et du commerce«. Die gesamte Thematik ist Gegenstand der Erörterungen Bois­guil­leberts auf den Seiten 177–264. 17 Ebenda, S. 260, 261, 264.

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sowie von Arbeits- und Besitzteilungen ein nach sozialen Klassen differenziertes Gesellschaftsbild entwirft und damit in ersten Umrissen den Klassenbegriff der Politischen Ökonomie des neunzehnten Jahrhunderts begründet. Die dabei von Boisguillebert verwendete Bezeichnung »les classes de citoyens« ist für die zuletzt getroffene Einschätzung nicht ausschlaggebend. Wohl aber deren begriffliche Untersetzung, wie sie im Détail de la France18 und im Traité des grains19 mittels unterschiedlicher lexikalischer Einheiten und Definitionen vorgenommen wird. Insgesamt vier Klassen sozialökonomisch unterschiedlich gestellter Bürger unterscheidet Boisguillebert im Détail de la France. Dabei handelt es sich um die Landarbeiter (les laboureurs), die Handwerker (les artisans), die Bürger der freien Städte (les bourgeois des villes franches, les bourgeois des grandes villes, un marchand, les habitants des villes) und den Adel und die privilegierten Grundbesitzer (les nobles et privilégiés de la campagne, les propriétaires de fonds, les gentilshommes et privilégiés de la campagne, possesseurs de fonds, les maîtres des fonds). Die zahlenmäßig stärkste Klasse bilden die Landarbeiter  – wobei Boisguillebert hier auch den eher sozialpolitisch relevanten Terminus der Körperschaft verwendet (les laboureurs, comme le corps le plus étendue) –, gefolgt von den wegen ihrer besonderen Abhängigkeit am untersten sozialen Rand angesiedelten Handwerkern. Für die Einstufung der davon zu unterscheidenden Klasse der Stadtbewohner oder Bourgeois nutzt Boisguillebert die Beispielanalyse der Einnahmen- und Ausgabenstruktur im bürgerlichen Haushalt eines Pariser Händlers. Auch in diesem Zusammenhang verweist er auf die wirtschaftliche Abhängigkeit vom produktiven Sektor der Landwirtschaft. Schließlich wird die Interessenlage der adligen Grundbesitzer untersucht, um insbesondere die wechselseitige ökonomische Konditionierung von Grundbesitzern und Landarbeitern hervorzuheben. Die Theorie einer »balance égale« im ständigen Austausch von Leistung und Gegenleistung, der die einzelnen Klassen verbindet und ihre gemeinsame Prosperität oder aber ihren gemeinsamen Ruin begründet, wird in unterschiedlichen Zusammenhängen, jedoch stets unter Betonung marktwirtschaftlicher Abhängigkeiten und Wechselwirkungen dargestellt.20 So ergibt sich, trotz arbeits- und besitzteiliger Differenzierung der Klassen in »quatre sortes de personnes intéressées«, ein übergreifendes, allen gemeinsames Interesse daran,

18 Ebenda, S. 229 ff. 19 Ebenda, S. 358–359. 20 Ebenda, vgl. auch S. 358–359.

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»den jeweils eigenen Beruf zur größtmöglichen Geltung zu bringen«.21 Genau aus diesem Grund wird Boisguillebert nicht müde, die Einhaltung der Prinzipien freier wirtschaftlicher Konkurrenz und uneingeschränkter Gewerbefreiheit als elementare Voraussetzung jener »utilité réciproque« einzufordern, auf der allein der »intérêt général«, das Gemeininteresse der Gesellschaft gedeihen kann.22 Den Physiokraten wird es vorbehalten bleiben, diese breitgefächerte ökonomische Analyse in den politischen Kontext der Naturrechtslehre zu stellen und sie darüber hinaus unter Einbeziehung der verschiedenen Ansätze materialistischer Erkenntnistheorie und der Moralphilosophie der Aufklärung zur Gesellschaftslehre des modernen Liberalismus weiterzuentwickeln.

21 Ebenda, S. 229  : »(Ils) n’ont tous qu’un même intérêt de faire valoir chacun leur profession le plus qu’il est possible«. 22 Ebenda, S. 403  : »Utilité réciproque que tirent les unes des autres toutes les professions de la vie sociale. – Tout vendeur doit être acheteur, et vice versa  ; nécessité, dans l’intérêt général, que tout échange profite aux deux parties entre lesquelles il a lieu. – Ce résultat, de même que le perfectionnement de l’industrie, ne peut être amené que par la concurrence et la liberté des producteurs.«

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3 Aspekte der Naturrechtslehre und ihres kognitiven Umfeldes vor Quesnay

Die für das Verständnis der Lehre Quesnays tatsächlich essentielle Zuordnung des Tableau économique sowie seiner Maximes zur Problemebene der politischen Philosophie der Aufklärung wird von einem der Anhänger Quesnays, dem Herausgeber der im Januar 1767 speziell für die Verbreitung dieser Lehre neu begründeten Zeitschrift Ephémérides du citoyen ou Bibliothèque raisonnée des Sciences morales et politiques, Abbé Baudeau, bereits in deren erstem Heft betont. In einer Anmerkung der dort abgedruckten Analyse du Gouvernement des Incas de Pérou, die ebenfalls der Feder Quesnays entstammt, nennt Baudeau den Tableau économique ein »Meisterwerk der politischen Philosophie«, das inzwischen vergriffen sei. Eine erste explication dieses Textes finde man aber, so Baudeau weiter, im sechsten Teil des 1760 gedruckten Ami des hommes des Marquis de Mirabeau. Dessen 1763 veröffentlichte Philosophie rurale sei darüber hinaus eine äußerst bedeutungsvolle Fortentwicklung, die von »allen Gebildeten und staatsbürgerlich Gesinnten« ernsthaft studiert werden sollte.1 Quesnay selbst widmete unter anderem die 1765 erschienene Abhandlung Le Droit Naturel 2 sowie die von Januar bis Juni 1767 in den Ephémérides veröffentlichten Aufsätze Analyse du Gouvernement des Incas du Pérou und Despotisme de la Chine der Weiterentwicklung seiner Lehre im Sinne einer umfassenden politischen Philosophie. Ein wesentlicher Teil dieser Strategie, die in beiden Aufsätzen verfolgt wird, ist dabei die ideengeschichtliche Verankerung des physiokratischen Liberalismus in der seit dem frühen siebzehnten Jahrhundert geführten Naturrechtsdebatte. Denn erst mit diesem Schritt wird eine Art kanonischer Legitimation der neuen Lehre bewirkt, die nun als wissenschaftliche Weiterentwicklung der mit zahlreichen großen Namen verbundenen Naturrechtslehre gelten konnte. Herkömmliche Auffassungen vom Wesen der Politik als einer Teildisziplin der Moralphilosophie werden dabei mehr oder weniger pauschal verworfen3 und durch neuartige Konzepte ersetzt, die in der von Quesnay propagierten markt1 Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 360. 2 Quesnay, Le Droit Naturel, in  : Journal de l’agriculture, du commerce et des finances, September 1765 (auch in  : Quesnay, Physiocratie). 3 Quesnay, Physiocratie, S. 69  : »C’est faute d’avoir remonté jusqu’à ces premières observations, que les philosophes se sont formé des idées si différentes et même contradictoires du droit natu­rel de l’homme …«

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wirtschaftlichen Logik des Zusammenspiels ökonomischer, soziologischer und politischer Faktoren liegen. Dies aber verschaffte nun auch der Naturrechtslehre selbst – in Abgrenzung zu deren Protagonisten von Grotius über Hobbes und Pufendorf bis zu Burlamaqui – ein neues Profil, dessen physiokratische Prägung der modernen Historiographie weitgehend entgangen ist. In Wahrheit aber spiegelt die unter dem Namen Sciences morales et politiques seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts weiterentwickelte Naturrechtslehre überaus deutlich ebendiese nunmehr physiokratische Prägung wider. Im Avertissement der Ephémérides du citoyen wird Quesnay aus diesem Grund als der Konfuzius Europas (le Conficius d’Europe)4 gefeiert, da es seinem Tableau économique zu danken sei, dass nun »die Sciences Morales et Politiques mit großen Schritten ihrer Vollendung zustrebten« (»Le Tableau Economique fait marcher les Sciences Morales & Politiques, à grand pas vers leur perfection«).5 Ein begrenzter Exkurs in die Gedankenwelt der von Quesnay pauschal kritisierten Vorläufervarianten der Naturrechtslehre und ihres kognitiven Umfeldes soll vor allem einige der Anknüpfungspunkte dieser besonderen Legitimationsebene des physiokratischen Liberalismus aufzeigen. Unter dem Einfluss der naturwissenschaftlichen Revolution, die sich seit Beginn des siebzehnten Jahrhunderts vollzogen hatte, war es in der Debatte des Naturrechts zunächst um eine Abschaffung des religiös begründeten Gottesgnadentums gegangen. An seine Stelle trat eine ausschließlich der menschlichen Vernunft verpflichtete, insofern säkularisierte Moralphilosophie als naturrechtlich begründeter Legitimationsrahmen zeitgenössischer Staats- und Rechtslehren. Inspiriert wurden die einschlägigen Theorien unter anderem von der naturwissenschaftlichen Vorstellung, die Welt im Sinne Galileis in ihrer Totalität als physikalische Ordnung zu begreifen. Dies bedeutete aber auch, die Schöpfung selbst und die Rolle Gottes neu zu definieren. So entstand, dem Schlüsselbegriff des ORDRE folgend, die Vorstellung eines »Dieu physicien«, dessen Schöpfung – einem kosmischen »Uhrwerk« gleich – in ihren Bestandteilen und konstanten Abläufen berechenbar wurde. Der damit verbundene Erkenntnisfortschritt ließ nun seinerseits die menschliche Vernunft in stetiger Vervollkommnung erscheinen, getrieben vom praktischen Geist des Nutzens. So konnte sich der Genius menschlicher Schöpferkraft in Entdeckungen und Erfindungen beweisen und die Nutzung der Naturgesetze als göttlichen Auftrag verstehen. Neben den Säkularisierungsgedanken tritt auf diese Weise der Fortschrittsglaube. In erstaunlicher Weise werden diese Zusammenhänge, ins4 Ephémérides du citoyen, 1767, Tome premier, S. 23. 5 Ebenda.

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besondere der neuzeitliche Gedanke des wissenschaftlichen Fortschritts, bereits 1605 in Bacons Abhandlung The Two Bookes of Francis Bacon of The Proficience and Aduancement of Learning, Diuine and Humane. To the King6 vorweggenommen. Stetiger Fortschritt sollte in der Folge jedoch nicht nur auf naturwissenschaftlichem und technischem Gebiet zu einer selbstverständlichen Erwartung werden, sondern erlangte für alle Ebenen der menschlichen Existenz Geltung. Schließlich erschien vor diesem Hintergrund auch die Höherentwicklung der Staatskunst letztlich als wissenschaftliche Herausforderung, der die Naturrechtsdebatte auf dem Niveau der fortgeschrittenen Naturwissenschaften zu genügen suchte  : »Né du vouloir humain, l’État ressemble à une machine que l’on peut perfectionner à l’infini …«7 3.1 Hugo Grotius (1583–1645) Nach eigenem Bekunden war es Hugo Grotius in seiner Schrift Le droit de la guerre et de la paix zunächst um eine allgemeingültige Begründung des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit zueinander gegangen.8 Dem Naturrecht, das er als »eine vom gesunden Menschenverstand suggerierte Regel« bestimmt, sollte dabei gewissermaßen die Rolle einer Vermittlungsebene zwischen dem Willen Gottes und der menschlichen Vernunft im Sinne des ›gesunden Menschenverstandes‹ zukommen, um »herauszufinden, (…) was Gott, der Schöpfer der Natur, verbietet oder befiehlt«.9 Der dennoch eigentlich säkulare Charakter dieser Auffassung vom Naturrecht wird deutlich, wenn Letzteres gleichwohl, in Analogie zu den physikalischen Naturgesetzen, als unwandelbar und unabhängig vom Willen Gottes qualifiziert wird  : »Das Naturrecht«, schreibt Grotius, »ist so unwandelbar, dass selbst Gott es nicht verändern kann.«10 Dagegen seien alle 6 F. Bacon, Du progrès et de la promotion des savoirs (1605), Paris 1991. 7 F. Rouvillois, L’invention du progrès. Aux origines de la pensée totalitaire (1680–1730), Paris 1996, S. 346. 8 H. Grotius, Le droit de la guerre et de la paix (1625), Paris 1999  : »Ce livre (…) a été écrit en vue de la justice«, ebenda, S. 3  ; »Le mot droit ne signgifie autre chose ici que ce qui est juste«, ebenda, S. 34  ; »Le droit est une qualité morale attaché à l’individu pour posséder ou faire justement quelque chose.« Ebenda, S. 35. 9 Ebenda, S.  38  : »Le droit naturel est une règle que nous suggère la droite raison, qui nous fait connaître qu’une action, suivant qu’elle est ou non conforme à la nature raisonnable, est entachée de difformité morale, ou qu’elle est moralement nécessaire et que, conséquemment, Dieu, l’auteur de la nature, l’interdit ou l’ordonne.« 10 Ebenda, S. 39  : »Le droit naturel est tellement immuable, qu’il ne peut pas même être changé par Dieu.«

Thomas Hobbes (1588–1679) 

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Formen des positiven Rechts, die Grotius im Begriff des droit humain subsumiert, allein und ausschließlich Sache der jeweiligen Staatsgewalt.11 Sie gelten demnach als politisch autonom und haben das Naturrecht lediglich im Sinne einer durch die menschliche Vernunft gebotenen Instanz zu respektieren. 3.2 Thomas Hobbes (1588–1679) Eine ausschließlich säkularisierte, gleichsam von philosophischem Materialismus geprägte Form des Naturrechts diskutiert dann Thomas Hobbes, der sich wesentlich an Galilei und Mersenne orientiert.12 Insbesondere verbindet Hobbes in seiner 1640 erfolgten Niederschrift der Elements of Law, ebenso wie im Leviathan (1651), die Herangehensweise des naturwissenschaftlichen Empirismus mit einer erkenntnistheoretischen Reflexion, die der Sprache als unabdingbarem Instrument menschlicher Erkenntnis eine konstitutive Rolle zuweist. Demnach ordnet die korrekte Verwendung sprachlicher Zeichen, so genannter Marques, die Assoziation und Verallgemeinerung der empirisch gewonnenen Erkenntnis. So bildet die Sprache in ihrer kognitiven und kommunikativen Funktion für Hob­bes auch eine Voraussetzung für die Existenz der Wissenschaft.13 Ein Gedanke, der auf unterschiedliche Weise – bis hin zum Nachdenken über manipulativen Missbrauch sprachlicher Zeichen – auch die politische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts beeinflussen sollte. Moralphilosophische Reflexionen gründet Hobbes, seinem materialistischen Ansatz folgend, konsequenterweise auf die Erfahrungsdichotomie des körperlich Angenehmen (plaisir), als Ursprung des Guten, und des körperlich Unangenehmen (peine), als Ursprung des Bösen. Mittel und Wege, das Angenehme und Gute im Sinne der Idee des »Glücks« (félicité) zu erreichen, gelten als nützlich und begründen die Zweckbindung von Moral und Politik.14 Ein Ansatz, der im physiokratischen Utilitarismus – bis hin zu Jeremy Bentham – seine volle moralphilosophische Entfaltung finden sollte.

11 Ebenda, S. 43  : »Nous commencerons par le droit humain (…) Ce droit est donc ou civil, ou plus étendu que civil (…) Le droit civil est celui qui émane de la puissance civile. La puissance civile est celle qui est à la tête de l’État.« 12 Vgl. T. Hobbes, Eléments de la loi naturelle et politique (1640), Paris 2003, Notes, S. 60. 13 Ebenda, S. 51/52  : »grace aux noms nous sommes capables de science«. 14 Ebenda, S. 60 ff. sowie Kap. VII–IX  ; S. 61  : »Les choses qui plaisent, en tant que voie qui mène à une autre fin, et moyens de l’atteindre, s’appellent UTILES« (Hervorhebung im Original).

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Erst diese Voraussetzungen in ihrer Kombination ermöglichen es nach Hob­ bes, die naturgesetzlichen Grundlagen der menschlichen Existenz zu erkennen und daraus tragfähige politische Konzepte abzuleiten. Durchaus auf der Höhe der Methodik zeitgenössischer Naturwissenschaft formuliert Hobbes auf diese Weise einen originellen Entwurf der Science politique,15 dessen moralphilosophische Inhalte, ganz ähnlich dem Schicksal der Ansichten Machiavellis, in der politischen Theoriegeschichte zumeist ablehnender Kritik unterlagen. In aller Regel  – und dies beginnt bereits bei seinen Zeitgenossen Descartes und Grotius – unterstellte man Hobbes moralphilosophischen Pessimismus. Er habe die Natur des Menschen als ursprünglich böse und gewalttätig angenommen und davon ausgehend eine Legitimation staatlicher Unterdrückungssysteme begünstigt.16 Vernachlässigt wird dabei oft, dass Hobbes – wohl nicht zuletzt angesichts der heraufziehenden Gefahr und schließlich der erlebten Realität eines Bürgerkrieges in England  – der grundsätzlichen Verhinderung des »Krieges aller gegen alle« oberste Priorität einräumte, ihn gewissermaßen zur Antithese aller Zivilisation und Politik erhob. Die Vernunft (raison), die Hobbes im Unterschied zu den Gemütsbewegungen (passions) als den kalkulierbaren Teil der Natur des Menschen betrachtet, wird daher – entsprechend seiner Überzeugung – mit naturgesetzlicher Notwendigkeit den Weg zum Frieden weisen  : La raison ne fait pas moins partie de la nature de l’homme que la passion, et elle est identique en tout homme, parce que tous les hommes s’accordent à vouloir être dirigés et gouvernés sur la voie qui mène à ce qu’ils désirent atteindre, c’est-à-dire leur propre bien, auquel travaille la raison. Il ne peut par conséquent y avoir aucune autre loi naturelle que la raison, ni aucun autre précepte de la LOI NATURELLE que ceux qui montrent les voies qui mènent à la paix, là où elle peut être obtenue, et les manières de se défendre, là ou elle ne le peut pas.17

Denn weil die ebenfalls zur Natur des Menschen zählenden passions gleichzeitig für erhebliche Unterschiede im menschlichen Verhalten sorgen (»à quel point les passions différencient les hommes«18) und eine dem Naturrecht folgende 15 Hobbes selbst bezeichnet Kopernikus, Galilei und Harvey als die Väter der modernen Wissenschaft und stellt seine eigene Arbeit an ihre Seite. »C’est bien dans la perspective de refondation générale de la science que Hobbes entend se situer lui-même, en jetant les fondements de la véritable philosophie civile«. Introduction, in  : Hobbes, Eléments de la loi naturelle et politique, S. 22/23. 16 Ebenda, S. 20 und 59. 17 Ebenda, S. 100 (Hervorhebung im Original). 18 Ebenda, S. 96.

Samuel von Pufendorf (1632–1694) 

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Unbegrenztheit der Freiheit, insbesondere der Besitzansprüche jedes einzelnen Menschen Konflikte hervorrufen müsse, wäre – ohne das Walten der raison – ein Zustand des Krieges aller gegen alle die notwendige Folge. Eingedenk dessen nun, was Hobbes, dem Erfahrungsgrundsatz folgend, nach eigener Beobachtung die »natürliche Aggressivität« der Menschen nennt (»l’aggressivité naturelle dont font preuve les hommes«19), gelangt er mit innerer Notwendigkeit zu jenem Schluss, der seinen Ruf als vermeintlicher Verächter der menschlichen Moral begründete  : »Cette liberté naturelle instaure un état de guerre.«20 Doch der raison in Gestalt des Naturgesetzes zur Erhaltung des Friedens folgend (vgl.: »La paix est la loi naturelle générale«21), begründet Hobbes in Wahrheit die seiner Meinung nach zwingende Notwendigkeit freiwilliger Unterordnung des Einzelnen unter eine dem Gemeinwesen dienstbare absolute staatliche Gewalt. Nur unter dieser Bedingung scheint ihm ein friedliches Zusammenleben der Menschen gesichert. Das Konzept einer absoluten Souveränität, verkörpert durch einen absoluten Herrscher, das Hobbes so viel Widerspruch eintrug, ist in der Logik des Hobbes’schen Systems – vereinfachend gesagt – im Grunde nichts anderes als ein Gebot politischer Vernunft. Sie allein bildet, dem Naturgesetz folgend, die Grundlage des Staates. 3.3 Samuel von Pufendorf (1632–1694) Ihre klassische Form – die nachweislich am stärksten auf Quesnays physiokratische Neuprägung wirkte – erhält die Naturrechtslehre indessen durch Samuel von Pufendorf. 1672 erscheint sein Grundlagenwerk De iure naturae et gentium libri octo,22 das trotz religiöser Bekundungen die Säkularisierung des Droit naturel fortsetzt, dessen cartesianisch geprägte Systematisierung und konzeptionelle Vertiefung entscheidend vorantreibt.23 Verbreitung fanden Pufendorfs Ideen jedoch vor allem durch einen Abriss dieses Grundlagenwerkes, nämlich seine 1673 im schwedischen Lund erschienene, ausdrücklich für die studentische Jugend aller Länder bestimmte Abhandlung über die Pflichten des Menschen und 19 Ebenda, S. 98. 20 Ebenda. 21 Ebenda, S. 111. 22 Samuel von Pufendorf, Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte, Frankfurt am Main 1711. 23 J. Terrel, Les théories du pacte social. Droit naturel, souveraineté et contrat de Bodin à Rousseau, Paris 2001, S.  23. Vgl. auch  : Thomas Behme, Samuel von Pufendorf  : Naturrecht und Staat, Göttingen 1995.

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des Bürgers, wie sie durch das Naturgesetz vorgeschrieben sind.24 Deren berühmt gewordene französische Übersetzung durch Jean Barbeyrac erschien im Jahre 1707 in Amsterdam unter dem Titel Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen, tels qu’ils lui sont préscrit par la Loi Naturelle. Pufendorf nimmt hier sowohl Themen als auch konkrete Positionen und zahlreiche Schlüsselbegriffe der physiokratisch orientierten Sciences morales et politiques, das heißt der Naturrechtslehre der Spätaufklärung, vorweg. Barbeyrac, selbst eine europäische Berühmtheit als Jurist und Vertreter der akademischen Naturrechtslehre, ordnet Pufendorf  – im Sinne der zeitgenössischen Unterscheidung anciens/modernes  – bereits der »modernen« Autorengeneration zu. Diese verfüge im Unterschied zu den »anciens« vor allem über eine ungleich höher entwickelte Erkenntnismethode, wie sie erst das gerade vergangene Jahrhundert hervorgebracht habe. Von den seither veröffentlichten »Livres de Morale«, so Barbeyrac, gebe es wiederum keines, das ein annähernd vergleichbar solides, vollständiges und methodisches System der »Science des Mœurs« vorgestellt habe wie Pufendorfs Abriss über die Pflichten des Menschen und des Bürgers. Dass selbst die späteren Autoren der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1789, beispielsweise mit der Unterscheidung von Mensch und Bürger, Homme und Citoyen, auf Gedanken und Formulierungen zurückgreifen werden, die Pufendorf als Erster in die zeitgenössische Naturrechtsdebatte hineingetragen hatte, geht wiederum auf dessen physiokratische Vermittlung und deren besonderen Einfluss auf die revolutionären Ereignisse von 1789 zurück. Auch Pufendorfs liberale Forderung einer »feierlich zu vollziehenden Veröffentlichung der Zivilgesetze«, mit der alle Staatsbürger (»citoiens … bien instruits«) »klar und deutlich« über die tatsächliche Politik des Souveräns zu informieren wären,25 sollte durch die physiokratische Schule des politischen Liberalismus zu einem Zentrum des Zusammenhangs von instruction publique und opinion pub24 S. Pufendorf, Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen, tels qu’ils lui sont prescrits par la Loi Naturelle (1673). Traduits du Latin de feu Mr. le baron de Pufendorf par Jean Barbeyrac, Amsterdam 1707. 25 Ein Gedanke, der bereits im modernen Sinn die Kontrolle politischer Macht dem Korrektiv einer »öffentlichen Meinung« anheimstellt und mit dem Aufkommen des modernen Liberalismus in Gestalt der physiokratischen Lesart des Droit naturel endgültig wieder aufgenommen und später zu einem der Fundamente der revolutionären Umgestaltung gemacht werden sollte. Vgl. Pufendorf, Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen, S. 32  : »Pour ce qui est des Loix Civiles, les Sujets de l’État en sont instruits par la Publication claire et distincte qui s’en fait solennellement.« Und S. 288  : »Comme chacun se conduit selon les Opinions où il est (…) il est de l’intérêt de l’Etat, que l’on y enseigne publiquement des Doctrines conformes au but naturel et à l’utilité bien entendue des Sociétés Civiles, et que les Citoiens soient bien instruits de ces Principes dès leur Enfance.«

Samuel von Pufendorf (1632–1694) 

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lique weiterentwickelt werden.26 Es ist schließlich dieser physiokratisch geprägte ideengeschichtliche Impuls, nämlich die Kontrolle der Staatsgewalt über die  – allerdings via instruction publique gesteuerte – opinion publique, der an der Wiege aller Deklarationen der Menschen- und Bürgerrechte stand, die die Französische Revolution hervorbrachte. Doch bereits Pufendorf thematisiert wiederholt, ganz ähnlich den Physiokraten, die Forderung einer staatlich getragenen und staatlich gelenkten öffentlichen Bildung, die den Bürgern von Kindesbeinen an das öffentliche Wohl sowie die Prinzipien und Ziele einer bonne Politique und den »wohlverstandenen Nutzen« der Zivilgesellschaft vermitteln sollte.27 Schließlich hatte Pufendorf – auch hierin ein Vorläufer Quesnays – sehr viel deutlicher als Grotius die für die Bürgergesellschaft relevanten Zivilgesetze (Loix Civiles) unter die Autorität der für das Menschengeschlecht relevanten Naturgesetze (Loix Naturelles) gestellt, von denen sie abzuleiten wären und denen sie nicht widersprechen dürften.28 Auch diese ihrem Wesen nach deterministische Position sollte im Rahmen der erwähnten physiokratischen Lesart des Droit naturel übernommen und später in Abgrenzung zu Rousseaus voluntaristisch begründeter Theorie des politischen Gemeinwillens radikalisiert werden. Für die Annahme, dass sich die Verknüpfung von marktwirtschaftlichem Liberalismus und politischer Philosophie des Naturrechts bei Quesnay nicht unerheblich an einer kritischen Rezeption der Ideen Pufendorfs orientiert, sprechen darüber hinaus zahlreiche weitere Indizien. Hierzu zählt unter anderem auch der außergewöhnliche Stellenwert, den Pufendorf der produktiven Arbeit für die Bindung des Einzelnen an die Gesellschaft beziehungsweise deren Zusammenhalt beimisst. Alle Vorteile des zivilen Lebens verdanken die Menschen demnach der gegenseitigen Hilfe (secours mutuels), dem im Tauschhandel (Echange) wechselseitig realisierten Nutzen (utilité), der seinerseits auf Wertschöpfung und Arbeit beruht. Der physiokratische Diskurs wird die hierbei von Pufendorf verwendeten Begriffe im gleichen Sinnzusammenhang reproduzieren. Arbeit und Tauschhandel begründen demnach eine den Menschen eigene sociabilité universelle, die sie zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft macht. Doch im Unterschied zur physiokratischen Sichtweise, die eine natürliche Ungleichheit individueller Talente und Arbeitsleistungen zur notwendigen Voraussetzung der Arbeitsteilung 26 Vgl. Bach, Conduire l’opinion publique en 1796. 27 Pufendorf, Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen, S. 32 und 288. 28 Ebenda, S. XXIV und 41  : »LA LOI NATURELLE, c’est celle qui convient si invariablement à la Nature Raisonnable & Sociable de l’Homme, que, sans l’observation de ses Maximes, il ne saurait y avoir parmi le Genre Humain de Société honnête & paisible.« (Hervorhebungen und Orthographie dergestalt im Original).

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und des Tauschhandels erheben wird, betont Pufendorf die ursprüngliche und naturgegebene Gleichheit (Égalité Naturelle) der Menschen. Sie entspreche den »Gesetzen der Soziabilität, wie sie ihrerseits in der allen Menschen gemeinsamen menschlichen Natur begründet« liege.29 Dessen ungeachtet gelte das Prinzip der UTILITE D’AUTRUI  : Nur im Austausch gegenseitiger Nützlichkeiten sind die Annehmlichkeiten des zivilen Lebens zu realisieren.30 All dies folgt in der Logik Pufendorfs dem eigentlichen Grundgesetz des Naturrechts (la Loi Fondamentale du Droit Naturel), wonach jedermann zur Arbeit verpflichtet ist, um auf diese Weise dem Wohl der menschlichen Gesellschaft zu dienen. Alle anderen Maximen des Naturrechts seien nichts weiter als Konsequenzen dieser allgemeinen Gesetzlichkeit, deren évidence sich der natürlichen Vernunft aller Menschen ohne Weiteres erschließe.31 Unverkennbar ist auch hier die Nähe zum physiokratischen Wertesystem, das den zivilen und politischen Aufbau der Gesellschaft ebenfalls aus der arbeitsteiligen Wertschöpfung, dem Tauschhandel und der Unverletzlichkeit des Eigentums erklärt. Und auch Pufendorf spricht in diesem Sinn bereits von der politischen Bedeutung einer weisen Wirtschaftsstrategie (sage Economie), die nichts unversucht lassen sollte, den Wohlstand der Bürger zu mehren, den Ländereien und Gewässern allen vorstellbaren Profit abzuringen sowie Industrie, Handwerk und Handel nach Kräften zu fördern.32 Dennoch verbleibt die Naturrechtslehre in ihrer Prägung durch Pufendorf immer noch zweifelsfrei im Bereich der Moralphilosophie, geht sie noch längst nicht auf in einer umfassenden Economie Politique, wie dies erst seit Quesnay bei den Physiokraten der Fall sein wird. So ist es für Pufendorf noch immer die herkömmliche Moralphilosophie, die ihrerseits den Kodex der politischen Ethik vorgibt. In diesem Sinn erhebt er auch die Kategorien des Gewissens (la Conscience droite) und die moralische 29 Ebenda, S. 124  : »(…) les Loix de la Sociabilité étant fondées sur la constitution de la Nature Humaine commune à tous les Hommes.« 30 Ebenda, S. 125–129. 31 Ebenda, S. 48  : »§ VIII. Les Loix de cette Sociabilité, ou les Maximes qu’il faut suivre pour être un Membre commode et util de la Société Humaine, sont ce que l’on appelle Loix Naturelle. § IX. Voici donc la Loi Fondamentale du Droit Naturel  ; c’est que CHACUN DOIT TR AVAILLER, AUTANT QU’IL DÉPEND DE LUI, A ROCURER ET A MAINTENIR LE BIEN DE LA SOCIÉTÉ HUMAINE EN GÈNÈR AL. (…) cette Sociabilité universelle est préscrit par le Droit Naturel. (…) Toutes les autres Maximes ne sont que des Conséquences de cette Loi Générale.« (Alle Hervorhebungen im Originaltext). – Vgl. auch ebenda, S. 6  : »Les Maximes générales du Droit Naturel sont évidentes par elles-mêmes.« 32 Ebenda, S. 316  : »rien négliger pour procurer l’entretien et l’augmentation des Biens des Particuliers. (…) qu’ils tirent de leurs Terres et de leurs Eaux tout le profit imaginable« (Alle Hervorhebungen im Originaltext).

Samuel von Pufendorf (1632–1694) 

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Verantwortlichkeit (devoirs mutuels, Devoir Absolu) zu fundamentalen Prinzipien des politischen Handelns.33 Nur auf dieser Ebene erklärt sich auch die Tatsache, dass Pufendorf die Grundlegung der politischen Gesellschaft in Analogie zum herkömmlichen Kontraktualismus als voluntaristischen Akt versteht.34 Dabei folgt er im Übrigen der Hobbes’schen Auffassung von der Notwendigkeit einer repressiven Staatsgewalt, die der moralischen Schwäche der Bürger durch ein Motiv der Furcht beizukommen vermag.35 Gleichwohl, und durchaus im Einklang mit einem auf die freie Willensbildung aller Bürger zurückgreifenden Modell einer politischen Ordnung, entwickelt Pufendorf eine den Formulierungen Rousseaus im Ansatz bereits sehr nahe kommende Idee eines Gesellschaftsvertrages und einer auf kollektiver Selbstbestimmung gründenden politischen Souveränität. Demnach ist es die Vereinigung der Willenserklärungen aller Beteiligten (»L’UNION des Volontez de plusieurs personnes distinctes«),36 beziehungsweise der freiwillige Zusammenschluss des Wollens, der Kräfte und Möglichkeiten aller Gesellschaftsmitglieder, die eine politische Körperschaft (Corps Politique) entstehen lässt. Sie ist gleichzeitig die mächtigste unter allen gesellschaftlichen Gruppierungen und trägt den Namen Staat.37 Dieser allgemeinen Darstellung lässt Pufendorf eine genaue Aufschlüsselung der formation régulière de tout Etat folgen. Sie besteht demnach aus zweierlei Übereinkommen und einer Verordnung.38 In einem ersten Übereinkommen verbindet sich ein jeder allen anderen und für alle Zeit zur Bildung einer gemeinsamen Körperschaft, deren Ziel in der einvernehmlichen und gemeinschaftlichen Sorge um die Sicherheit aller Beteiligten und im gemeinsamen Nutzen besteht. Jeder Einzelne und alle gemeinsam müssen an dieser grundlegenden Übereinkunft beteiligt sein, 33 Ebenda, S. 16  : »Principe constant et fondamental dans les Sciences Morales QU’ON EST RESPONSABLE DE TOUTE ACTION DONT L’EXISTENCE OU LA NON-EXISTENCE A ÉTÉ EN NOTRE POUVOIR. (…).« Ebenso S. 5  : »IL FAUT S’EMPECHER D’AGIR, TANT QUE L’ON NE SAIT PAS SI L’ON FER A BIEN OU MAL.« S. 111  : »Chap. VI  : Des Devoirs Mutuels des Hommes …« S. 112  : »Le premier Devoir Absolu, IL NE FAUT FAIRE DU MAL A PERSONNE« (alle Hervorhebungen im Originaltext). 34 Vgl. ebenda, S. 278–282. 35 Ebenda, S. 273  : »réprimer la Malice Humaine« und S. 277  : »comprendre la nature et la nécessité de cet accord soûtenu d’un motif de Crainte.« 36 Ebenda, S. 278. 37 Ebenda, S. 279  : »Lorsque cette union de volontez et de Forces est entièrement faite, elle produit le Corps Politique, que l’on appelle un Etat, et qui est la plus puissante de toutes les societez.« 38 Ebenda, S.  279/280  : Pufendorf verwendet nicht den Begriff des Vertrages (Contrat), sondern spricht von Übereinkommen (Convention) und Verordnung (Ordonnance), »deux Conventions et une Ordonnance«.

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da sie anderenfalls außerhalb der entstehenden Gesellschaft stehen.39 Darauf aufbauend regelt eine allgemeine Verordnung (Ordonnance générale) die Errichtung einer Regierungsform, ohne die keinerlei Maßnahmen für die gemeinsame Sicherheit durchzusetzen wären.40 Ein zweites Übereinkommen soll festlegen, dass diejenigen, welchen die Staatsmacht (le Pouvoir de gouverner l’Etat) anvertraut wurde, diese höchste Autorität (Autorité Suprême) umsichtig im Sinne der gemeinsamen Sicherheit und des öffentlichen Nutzens einsetzen, während sich die anderen, soweit das öffentliche Wohl dies erfordert, den Chefs de la Société unterwerfen und treuen Gehorsam versprechen.41 Dass sich die mit diesem zweiten Teil des Gesellschaftsvertrages geforderte Unterwerfungsklausel gleichwohl dem Rousseau’schen Gedanken eines politischen Allgemeinwillens annähert, ergibt sich aus Pufendorfs weitergehender Qualifizierung des Staates als einer Personne Morale Composée, deren mehrheitlich gebildeter politischer Wille als repräsentative politische Äußerung aller ihrer Mitglieder (volonté de tous généralement) aufgefasst und im Sinne gemeinsamer Kraftanstrengung auf den Frieden, die Sicherheit und den gemeinsamen Nutzen gerichtet werden soll.42 Rousseau wird diesen Gedanken Pufendorfs durch die qualitative Unterscheidung einer volonté génerale gegenüber einer bloßen Bündelung partikularer Interessen in der hier konzipierten volonté de tous weiterentwickeln, was sich letztlich auch in der von beiden Autoren unterschiedlich beantworteten Frage der Repräsentierbarkeit des politischen Gemeinwillens niederschlagen wird.43 Dessen ungeachtet gilt 39 Ebenda, S. 279  : »(…) chacun s’engage d’abord avec tous les autres à se joindre ensemble pour toûjours en un seul Corps, et à régler d’un commun consentement leur Sûreté et leur Utilité commune. Tous en général et chacun en particulier doivent avoir part à cet Engagement primitif  ; et ceux qui n’y sont pas entrez demeurent hors de la Société naissante.« 40 Ebenda, S. 279/280  : »Il faut ensuite faire une Ordonnance générale, par laquelle on établisse la forme du Gouvernement  ; sans quoi il n’y auroit pas moien de prendre aucunes mesures fixes pour travailler utilement et de concert à la Sûreté commune.« (Hervorhebungen im Original). 41 Ebenda, S. 280  : »Enfin il doit y avoir encore une autre Convention, par laquelle, après qu’on a coisi une ou plusieurs personnes à qui l’on confére le Pouvoir de gouverner l’Etat, ceux qui sont revêtus de cette Autorité Suprême s’engagent à veiller avec soin à la Sûreté et à l’Utilité Publique  ; et les autres, en même tems, leur promettent une fidele Obéissance  ; ce qui renferme une soûmission des forces et des volontez de chacun, autant que le demande le Bien Public, à la volonté des Chefs de la Société.« (Hervorhebungen im Original). 42 Ebenda, S. 281  : »Pour donner donc une définition exacte de l’Etat, il faut dire, que c’est une Personne Morale Composée, dont la volonté formée par l’union des Volontez de plusieurs réunies en vertu de leurs Conventions, est regardée comme la volonté de tous généralement, afin qu’elle puisse se servir des forces et des facultez de chaque Particulier pour procurer la Paix, la Sûreté et l’Utilité Commune.« 43 Pufendorf konzipiert die Notwendigkeit der Vertretung des politischen Gemeinwillens, unabhän-

Jean-Jacques Burlamaqui (1694–1748) 

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für Pufendorf, wie später für Rousseau und für die physiokratische Staatsdoktrin gleichermaßen, die Unteilbarkeit der politischen Souveränität.44 Einem für möglich gehaltenen Missbrauch der souveränen Gewalt durch einen absoluten Herrscher begegnet Pufendorf mit dem Vorschlag einer durch das Volk in »bestimmten Regeln und grundlegenden Gesetzen« festzulegenden Limitation du Pouvoir Souverain.45 Diese notwendige Begrenzung der Souveränität folgt ihrerseits dem obersten Gesetz des Naturrechts, wonach das Wohl des Volkes als Generalmaxime den Mächtigen ständig vor Augen zu führen und dem Volk in öffentlichen Schulen als integere Politik zu vermitteln ist.46 3.4 Jean-Jacques Burlamaqui (1694–1748) Eine recht ausführliche Einschätzung des Beitrages, den der bekannte Schweizer Rechtsgelehrte J.-J. Burlamaqui um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, also im unmittelbaren Vorfeld der Arbeiten Quesnays, für die Naturrechtslehre leistete, gibt Robert Derathé in seiner berühmt gewordenen Monographie Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps unter Bezugnahme auf Arbeiten des italienischen Historikers Del Vecchio.47 Burlamaqui habe demnach mit seinen zuerst 1747 und danach in mehreren weiteren Auflagen veröffentlichten Principes du Droit Naturel 48 insbesondere für die Verbreitung der Ansichten Pufendorfs gesorgt. Eine eigenständige Originalität sei dabei allerdings nicht auszumachen, dennoch wird ihm eine Systematisierung der Lehre Pufendorfs zugeschrieben. Tatsächlich findet sich in Burlamaquis Darlegungen sehr häugig von der jeweiligen Staatsform. Vgl. S. 281  : »représenter la volonté de tout le Corps«  ; S. 282  : »représenter la volonté de tout le Corps« etc. 44 Ebenda, S. 290  : »(…) la Souveraineté, sans être divisée ni imparfaite (…) réside dans un seul sujet, en sorte qu’elle s’exerce par une seule et même volonté dans toutes les parties et dans toutes les affaires de l’Etat.« 45 Ebenda, S.  301  : »Cette LIMITATION DU POUVOIR SOUVER AIN consiste en ce que le Peuple, pour empêcher plus efficacement que le Roi ne prit des mesures désavantageuses à L’Etat (…) a stipulé de lui en l’élevant sur le Throne, qu’il se conformeroit à certaines Régles ou Loix Fondamentales dans l’exercices des Parties de la Souveraineté.« (Hervorhebungen und Orthographie dergestalt im Original). 46 Ebenda, S. 310/311  : »Le Bien du Peuple est la Souveraine Loi  : c’est aussi la Maxime générale que les Puissances doivent toujours avoir devant les yeux. (…) établir des Ecoles Publiques, où l’on enseigne des choses conforme au but de la bonne Politique.« 47 Ebenda, S. 86/87. 48 J.-J. Burlamaqui, Principes du Droit Naturel, Genf 1747.

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fig der Versuch, präzisierende Aussagen durch terminologische Festlegungen zu generieren. Doch tragen sie in Wahrheit nur unwesentlich zu theorierelevanten Begriffsbildungen beziehungsweise zu weitergehender begrifflicher Klarheit bei.49 Erhebliche Unterschiede zwischen Pufendorf und Burlamaqui ergeben sich allerdings dadurch, dass Letzterer bestimmte Gegenstände des politischen Rechts, wie die Frage eines Gesellschaftsvertrages, Natur und Grenzen der politischen Souveränität, bürgerliche Freiheit und politische Willensbekundung etc., nahezu vollständig ausblendet. Auch zur komplexen Frage der Entstehung und der politischen Qualität der Zivilgesellschaft, die lediglich beiläufig als Corps, Corps Politique und Personne(s) morale(s) bezeichnet wird, beschränken sich Burlamaquis Darlegungen auf wenige Sätze im Stil der folgenden »Definition«  : La SOCIÉTÉ CIVILE (…) c’est la Société Naturelle elle-même, modifiée de telle sorte, qu’il y a un Souverain qui commande, et de la volonté duquel tout ce qui peut intéresser le bonheur de la Société dépend en dernier ressort  ; afin que sous sa protection et par ses soins les hommes se puissent procurer d’une manière plus sûre le bonheur auquel ils aspirent naturellement.50

Vergleichbare Bezüge zum wichtigsten sozialen Integrationsfaktor Arbeit, dessen Bedeutung Pufendorf im Sinne eines »fundamentalen Gesetzes« ins Zentrum der Naturrechtslehre gestellt hatte, fehlen bei Burlamaqui vollständig. Sehr viel breiteren Raum nehmen dafür moralphilosophische Erörterungen zur göttlichen Urheberschaft der Schöpfung, zu Güte und Unfehlbarkeit Gottes im Bereich des monde physique wie des monde moral sowie zu den folgerichtig durch die menschliche Vernunft zu erschließenden göttlichen Absichten in Bezug auf das Menschengeschlecht ein. Darüber hinaus reflektieren Burlamaquis häufige und zentral platzierte Erörterungen zu dem zeitgenössisch viel diskutierten Thema menschlicher Glückssuche, ebenso wie seine Darlegungen zum sens moral,51 den Einfluss Hutchesons. Glück, la recherche du bonheur, le vrai bonheur, le véritable et solide bonheur gelten demnach als wahre menschliche Bestimmung und Ziel des gottgegebenen Naturrechts.52 49 J.-J. Burlamaqui, Principes du Droit Naturel. Nouvelle Edition, Genf, Kopenhagen 1756, S. 7  : »on appelle EVIDENCE, cette vüe claire et distincte des choses et des rapports qui sont entr’elles«  ; S. 70  : »Je définis la LOI une Régle prescrite par le Souverain d’une Société à ses Sujets« (Hervorhebungen im Original). 50 Ebenda, S. 172 (Hervorhebungen im Original). 51 Ebenda, S. 128/129  ; S. 182. 52 Ebenda, S. 12, 43/44, 50, 172.

4 Eine Naturwissenschaft vom Menschen  : Weitere signifikante Entwicklungen im Vorfeld des Aufkommens der politischen Philosophie Rousseaus und der physiokratischen Sciences morales et politiques Die folgenden Betrachtungen widmen sich, einer inneren Logik unseres Gegenstandes entsprechend, dem etwas weiter zu steckenden kognitiven Umfeld des naturrechtlichen Denkens, wie es insbesondere durch die erkenntnistheoretischen Positionen John Lockes maßgeblich beeinflusst werden sollte. Denn mit seiner Abhandlung über den menschlichen Verstand, dem Essay Concerning Human Understanding1 von 1690, eröffnete Locke ein neues Kapitel der Projektion naturwissenschaftlichen Denkens auf die Ebene der Moral- und Sozialwissenschaften. Der unmittelbar konkrete Beitrag, den Locke mit seinen Two Treatises of Government zu den politischen Positionen der damaligen Naturrechtsdebatte leistete, steht nicht im Fokus dieser Betrachtungen, da er in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle spielt. Zwar gehen Impulse des politischen Liberalismus unzweifelhaft auf ebendiese politischen Schriften Lockes zurück. Irreführend kann es aber sein, Locke rundweg als den geistigen Vater des modernen Liberalismusgedankens zu betrachten. Denn dieser entsteht erst auf der Grundlage einer vollkommen neuartigen politischen Ökonomie, wie sie um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts von der Schule der französischen Physiokraten entworfen, mit einer Neufassung des Naturrechtsdenkens verbunden und zur politischen Philosophie erhoben wurde, um schließlich  – nach begrifflichen Annexionen aus der Terminologie des Rousseau’schen Contrat social – in dessen republikanischer Sprache, etwa in Gestalt der Menschen- und Bürgerrechtserklärungen der Französischen Revolution, die uns vertraute heutige Gestalt anzunehmen. Simplifizierungen dieser Zusammenhänge sind in der Ideengeschichtsschreibung bekanntlich weit verbreitet, gar an der Tagesordnung, weshalb ein gründlicheres Eingehen gerade auf das kognitive Umfeld des Naturrechtsdenkens im Vorfeld des Aufkommens der politischen Philosophie Rousseaus und der physiokratischen Sciences morales et politiques an dieser Stelle geboten schien. 1 Locke, Essai philosophique concernant l’entendement humain.

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Lockes erkenntnistheoretische Gedankenwelt, wie sie in seinem Essay Concerning Human Understanding umfassend niedergelegt wurde, beeinflusst zunächst nicht auf direktem Weg die politische Philosophie des Naturrechts, etwa im Sinne der Übertragung naturwissenschaftlicher Denkmodelle oder -methoden. Neuland für die Moralphilosophie und die Naturrechtsdebatte beschreitet Locke aber auf dem Umweg einer Hilfswissenschaft, der bereits Thomas Hobbes eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt hatte  : Er systematisiert und vertieft dessen erkenntnistheoretische Überlegungen und begründet damit die für das Jahrhundert der Aufklärung schließlich maßgebliche Erkenntnislehre des Sensualismus. Konkret widerspricht er der im Bereich der Metaphysik und der Morallehre immer noch vorherrschenden deduktiven Erkenntnismethode des cartesianischen Rationalismus, wie sie etwa durch seinen Zeitgenossen Malebranche zu neuem Ansehen gelangt war, und ersetzt auch sie durch eine  – dem Grunde nach – materialistische Sichtweise. Insbesondere weist Locke die mit naturwissenschaftlicher Beobachtung unvereinbare Annahme eingeborener Ideen zurück und vervollkommnet stattdessen das seit Aristoteles überkommene Modell einer ausschließlich auf Sinneswahrnehmungen beruhenden Genesis der Ideen anhand einer kritischen Reflexion der kognitiven und kommunikativen Funktion sprachlicher Zeichen. Die Tatsache, dass er dabei auf ganz ähnlich gelagerte Überlegungen seines Landsmanns Thomas Hobbes zurückgreifen kann, bleibt durch ihn selbst unerwähnt. Es muss aber angemerkt werden, dass Lockes materialistischer Ansatz zur Erklärung des Denkens unter einem Vorbehalt steht. Dieser betrifft die menschliche Entscheidungsfreiheit gegenüber dem sinnlichen Begehren. Locke glaubt, diese erhebe den Menschen zum agent libre und sei demnach die Quelle aller menschlichen Freiheit überhaupt.2 Es ist letztlich die gleiche Formel, mit der bereits Descartes die Grenze zwischen raison und passion, dem geistigen und dem körperlichen Prinzip des Menschen gezogen hatte, um an der Spiritualität des Menschen festhalten zu können. Und es ist jener Vorbehalt, den auch Rousseau übernehmen wird und der seither in der durch Immanuel Kant geprägten Rezeptionslinie Rousseaus die Ethik des Idealismus beeinflussen sollte. Locke selbst war vom bahnbrechenden Charakter seiner erkenntnistheoretischen Bemühungen, insbesondere im Hinblick auf den dadurch angeblich möglich werdenden Durchbruch zu einer Naturwissenschaft der Moral, zutiefst überzeugt. Immer wieder hebt er in seinem Essay über den menschlichen Verstand die durch seine Erkenntnismethode möglich werdende Gleichrangigkeit von Moral 2 Ebenda, S. 204.

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und Mathematik hervor  : »(…) élever la Morale au rang des Sciences capables de démonstration.«3 »La connaissance de Vérités Morales est aussi capable d’une certitude réelle que celle des Vérités Mathématiques.«4 Und ganz im Geiste der späteren Enzyklopädisten beschwört Locke bereits den zu erwartenden Nutzen, den die Übertragung mathematischer Erkenntnismethoden auf den Bereich der moralischen Wissenschaften für den gesellschaftlichen Fortschritt haben würde, wenn er unter anderem schreibt  : (…) si les Hommes voulaient s’appliquer à la recherche des Vérités Morales selon la même méthode, et avec la même indifférence qu’ils cherchent les Vérités Mathématiques (…) quels progrès peut-on attendre de ce côté-là, quelle nouvelle lumière peut-on espérer dans les Sciences qui concernent la Morale  ?5

So überrascht es nicht, wenn die Enzyklopädisten um Diderot und d’Alembert in John Locke schließlich denjenigen verehren werden, der die Metaphysik – verstanden als science de l’homme – als exakte Wissenschaft begründet und sie damit der Physik Newtons gleichwertig an die Seite gestellt hat. Im Discours préliminaire, der wissenschaftlichen Programmschrift der Encyclopédie, lässt d’Alembert keinen Zweifel an der epochalen Bedeutung dieser vermeintlichen Pioniertat Lockes, wenn er unter anderem schreibt  : »Locke (…) créa la métaphysique à peu près comme Newton avait crée la physique (…) Il réduisit la métaphysique à ce quelle doit être, la physique expérimentale de l’âme.«6 Diese für das Wissenschaftsverständnis der Enzyklopädisten so entscheidende Aussage bezüglich einer »Experimentalphysik der menschlichen Seele« hatte allerdings schon Voltaire in seinen Lettres anglaises mit der berühmt gewordenen Hommage an Locke sinngemäß vorweggenommen  : »Nachdem so viele Denker den Roman der Seele ersonnen hatten, kam ein Weiser, der einfach ihre Geschichte schrieb.«7 Ein ohne Zweifel entscheidendes Moment für die der Locke’schen Erfindung von den Zeitgenossen beigemessene Bedeutung dürfte auch die Tatsache sein, dass die Hoffnung auf einen wirklichen Durchbruch zur Erschließung allgemeiner mathematisch-naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten von Moral und 3 Ebenda, S. 454. 4 Ebenda, S. 467. 5 Ebenda, S. 456. 6 D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie (1751), Paris 1947, S. 62. 7 Voltaire, Philosophische Briefe. In  : Voltaire, Streitschriften, Berlin 1981, S. 49.

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Politik um die Mitte des Jahrhunderts, das heißt zum Zeitpunkt des Erscheinens von d’Alemberts Discours préliminaire allgegenwärtig ist. Repräsentativ für diese Feststellung mag an dieser Stelle das Urteil Diderots stehen, der 1753 in seinen Pensées sur l’interprétation de la nature unter anderem schreibt  : Nous touchons au moment d’une grande révolution dans les sciences. Au penchant que les esprits me paraissent avoir à la morale, aux belles-lettres, à l’histoire de la Nature et à la physique expérimentale, j’oserais presque assurer qu’avant qu’il soit cent ans, on ne comptera pas trois grands géomètres en Europe. Cette science s’arrêtera tout court, où l’auront laissé les Bernoulli, les Euler, les Maupertuis, les Clairaut, les Fontaine et les d’Alembert. Ils auront posé les colonnes d’Hercule. On n’ira point au-delà. Leurs ouvrages subsisteront dans les siècles à venir, comme ces pyramides d’Égypte dont les masses chargées d’hiéroglyphes réveillent en nous une idée effrayante de la puissance, et des ressources des hommes qui les ont élevées.8

Eine science de l’homme, die durch Lockes Verdienst prinzipiell möglich schien und die auch angesichts einer Flut jüngerer Publikationen aus den Federn Shaftesburys, Hutchesons, Montesquieus, Condillacs, La Mettries  … um die Jahrhundertmitte offenbar in greifbare Nähe gerückt war, würde damit endgültig auf eine ebenso solide Grundlage gestellt werden, wie dies im Bereich der science de la nature mit Newton gelungen war. Denn die wissenschaftliche Weichenstellung genau dieser Entwicklung, diesen Erkenntnisfortschritt, hatte Locke nach eigenem Bekennen vorbereiten wollen, als er die Erkenntnismethodik der Naturwissenschaft verallgemeinerte, um sie für den universellen Einsatz im Bereich der Metaphysik und der Moral tauglich zu machen. Doch trotz dieses festen Glaubens an den Erkenntnisfortschritt, den d’Alembert mit Locke teilt, hatte zum Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Bände der Enzyklopädie ein wirklicher Durchbruch zu einer als naturwissenschaftlich-mathematisch eingestuften science de l’homme, die einen moralischen und politischen ordre naturel begründen konnte, immer noch nicht stattgefunden. Und so steht d’Alemberts nüchterne Feststellung dieser Tatsache in einem bemerkenswerten Widerspruch zu seinem strategischen Entwurf eines gänzlich neuartigen, in die Zukunft weisenden Systems der Wissenschaften. Skepsis und die Obsession, im Besitz des einzig möglichen Schlüssels für den wissenschaftlichen Fortschritt zu sein, halten einander die Waage, wenn d’Alembert schreibt  :

8 Diderot, Pensées sur l’interprétation de la nature, S. 63.

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La métaphysique raisonnable ne peut consister, comme la physique expérimentale, qu’à rassembler avec soin tous ces faits, à les réduire en un corps, à expliquer les uns par les autres, en distinguant ceux qui doivent tenir le premier rang et servir comme de base. En un mot les principes de la métaphysique, aussi simples que les axiomes, sont les mêmes pour les philosophes et pour le peuple. Mais le peu de progrès que cette science a fait depuis si longtemps, montre combien il est rare d’appliquer heureusement ces principes.9

Wie verbreitet und offenbar unabwendbar die zeitgenössische Vorstellung einer naturwissenschaftlichen science morale et politique tatsächlich war, illustrieren auch die einschlägigen Bemühungen Montesquieus und David Humes. Beide hatten im unmittelbaren historischen Vorfeld der Abfassung des Discours préliminaire versucht, die Geschichtsschreibung zum Gegenstand empirischer Forschung zu machen, um über eine den Naturwissenschaften entlehnte Methode wissenschaftlicher Beobachtung und Schlussfolgerung die Naturgesetze der politischen und moralischen Ordnung zu entdecken. Montesquieu hatte diesen Anspruch nicht nur verbal formuliert, als er der Hoffnung Ausdruck gab, »die Gesellschaft (möge letztlich) ebenso gut regiert werden wie die physikalische Welt« (»que le monde intelligent soit aussi bien gouverné que le monde physique«).10 Er hatte darüber hinaus auch einen naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff an den Anfang seiner Überlegungen zum Geist der Gesetze gestellt, als er im Sinne Newtons von den »rapports nécessaires qui découlent de la nature des choses« sprach. Die Klimatheorie des Esprit des lois hatte diese Überlegungen fortgesetzt. Unschwer ist der naturwissenschaftliche Ansatz schließlich auch hinter jener als bahnbrechend eingestuften Erkenntnis Montesquieus auszumachen, die unter dem irreführenden Namen der »Gewaltenteilung« ihren Einzug in die Geschichte der politischen Theorien halten sollte. Denn die Idee einer notwendigen Ausbalancierung der Macht, mit der Montesquieu auf seine eigene Beobachtung des in der Geschichte immer wiederkehrenden Machtmissbrauchs reagiert (»c’est une expérience éternelle que tout homme qui a du pouvoir est porté à en abuser«),11 kommt nur indirekt in seiner Forderung nach der wechselseitigen Unabhängigkeit der staatstragenden Gewalten zum Ausdruck. Sehr viel direkter findet sie sich in der zeitlos anwendbaren Formel, »dass die Macht

 9 D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 62. 10 Montesquieu, De l’esprit des lois, Bd. I, S. 89. 11 Ebenda, S. 326.

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der Macht Einhalt gebiete« (»… que le pouvoir arrête le pouvoir«),12 die tatsächlich einen Analogieschluss aus dem Bereich der Physik, nämlich der Bewegungsund Trägheitsgesetze der Materie, erkennen lässt. Auch David Hume hatte bereits in seinem Essay Des principes premiers du gouvernement 13 von 1741 beiläufig von einer »balance de pouvoir« gesprochen und in einem weiteren Essay aus dem Jahr 1752 den direkten Vergleich der Begriffe »monde physique« und »monde moral« im Sinne der Erkenntnisstrategie des Esprit des lois verwendet.14 Im Unterschied zu Montesquieu hatte sich Hume jedoch skeptisch gezeigt, was die ausreichende empirische Absicherung wissenschaftlicher Schlussfolgerungen im Bereich des »monde moral« angeht  : »J’incline toutefois à penser que le monde est encore trop jeune pour établir en politique un grand nombre de vérités générales qui resteraient vraies jusqu’à la postérité la plus reculée.«15 Doch von dieser Skepsis unbeeinflusst, bestärkten auch die Überlegungen Humes die grundsätzliche Annahme eines zu erwartenden wissenschaftlichen Durchbruchs, der den Weg in eine umfassende Naturwissenschaft vom Menschen im Sinne exakter Berechenbarkeit moralischer, sozialer und politischer Belange eröffnen sollte. Ähnlich ambitioniert waren auch die prinzipiell in die gleiche Richtung weisenden Beiträge Shaftesburys und Hutchesons. Shaftesbury hatte nämlich bereits 1699 mit dem moralphilosophischen Traktat An Inquiry concerning Virtue16 unmittelbar an entsprechende Überlegungen Lockes angeknüpft und dabei nicht nur die Emanzipation eines auf der Harmonie von Eigennutz und Gemeinwohl beruhenden Tugendkonzepts vorangetrieben. Er hatte darüber hinaus den Begriff einer sittlichen Arithmetik begründet und diesem Ansatz – ganz im Sinne Lockes – eine »ebenso große Evidenz (bescheinigt), wie man sie in Zahlenrechnungen oder in der Mathematik findet.«17 Die Anregung für den Begriff einer sittlichen Arithmetik entstammte offenbar einer Abhandlung, die schon 1691 unter dem Titel L’Arithmetique politique erschienen war. J.-F. Melon, Autor des 1734 erschienenen Essai politique sur le commerce und Sekretär des berühmten Finanzexperten John Law, nennt William Petty als ihren Verfasser und glaubt, 12 Ebenda. 13 D. Hume, Des principes premiers du gouvernement (1741). In  : D. Hume, Essais moraux, politiques et littéraires et autres essais, Paris 2001, S. 147. 14 Ebenda, S. 544. 15 Ebenda, S. 227. 16 Shaftesbury, An Inquiry concerning Virtue (1699), Stuttgart 1984. 17 Ebenda, S. 160.

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dass hier erstmalig der Versuch unternommen wurde, die Macht eines Staates über dessen Handelsbilanz mathematisch zu erfassen.18 Bemerkenswert an den Überlegungen Shaftesburys ist gleichzeitig das Bemühen um eine klare Trennung von Moralphilosophie und Religion. Die von ihm explizit behauptete Vereinbarkeit von Atheismus und Moral stützt sich auf den bereits hinlänglich bekannten Topos eines universalen Ordre, dessen Anerkennung sowohl im ethischen, wie auch im ästhetischen Bereich letztlich für alles Positive, das heißt konkret für alles Gute und Schöne, stünde. Tugend bedürfe demnach insofern keiner religiösen Weihe, als sie »selbst nichts anderes ist, als die Liebe zu Ordnung und Schönheit in der Gesellschaft.«19 Indem sie Harmonien und Proportionen entdeckten, würden daher auch Wissenschaft und Freie Künste letztlich auf den göttlichen Ursprung der Ordnung zurückverweisen.20 Es ist diese Spiegelung einer offenbar rational organisierten Schöpfung in den mathematisch definierbaren Ordnungskonzepten menschlichen Verstehens und Empfindens, die es einerseits, wie hier im Falle Shaftesburys, ermöglicht, eine (in Wirklichkeit nur scheinbar) atheistische Moraldoktrin zu entwickeln, die aber andererseits, wie im Falle Malebranches, gleichzeitig für den Nachweis einer göttlichen Inspiration ethischer und ästhetischer Anschauungen steht. Der berühmte Oratorianer Malebranche, der auf seine Weise als einer der wichtigsten Kolporteure der Ordnungsmetapher ebenfalls – wenn auch auf Umwegen – zu den Vorläufern der Sciences morales et politiques des achtzehnten Jahrhunderts zählt, hatte nämlich seinerseits die der Naturwissenschaft entlehnte Ordnungsmetapher zur Grundlage einer auf die göttliche Schöpfung, mithin auf Gott, verweisenden theologischen Moraldoktrin gemacht. Sein Traité de Morale aus dem Jahre 1683 ebenso wie sein Traité de l’amour de Dieu von 1697, die uns später als direkte Bezugspunkte physiokratischer Argumentation wiederbegegnen werden, kreisen um eine in ihrer Art bis dato einmalige Théorie de l’Ordre als zentrale Reflexionsebene moralphilosophischer Argumentation. Doch im Unterschied zu Shaftesbury verfolgt Malebranche nicht nur das Ziel, eine im Grunde zutiefst rationalistische Moralphilosophie theologisch auszulegen. Als getreuer Cartesianer unterscheidet er überdies einen mit Fehlern behafteten ordre de la nature von einem Ordre immuable, der  – seinerseits unwandelbar  – die göttliche Un18 Vgl. J.-F. Melon, Essai politique sur le commerce (1734). In  : Daire, Économistes financiers du XVIIIe siècle, S. 701–836, der entsprechende Verweis auf S. 810. – Der Begriff der politischen Arithmetik steht seit dem achtzehnten Jahrhundert für statistische Erhebungen im Rahmen der ›économie politique‹. 19 Shaftesbury, An Inquiry concerning Virtue, S. 93. 20 Ebenda.

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fehlbarkeit spiegelt, ergo auch die menschliche Vernunft leitet. Nur dieser Ordre immuable – ein Begriff, der später in der Argumentation der Physiokraten eine prägende Rolle spielen sollte – verweist als Ausdruck göttlicher Vollkommenheit auch auf den spirituellen – in der Lesart der Physiokraten den naturgesetzlichen – Charakter menschlicher Moral. Trotz formaler Ähnlichkeit dürfen daher die Bekenntnisse Malebranches, wie sie in Gestalt der folgenden Äußerungen vielfältig in seinen Traktaten anzutreffen sind, nicht zu Verwechslungen mit gleich klingenden Formulierungen Shaftesburys verleiten  : »Il n’y a point d’autre vertu que l’amour de l’Ordre.«21 »La vertu consiste dans l’amour habituel et dominant de l’Ordre immuable.«22 Der Unterschied zu Shaftesbury wird dagegen sichtbar, wenn Malebranche, wie im folgenden Kontext zu erkennen, die beiden für seine Überlegungen relevanten Ordre-Konzeptionen gegenüberstellt  : »La perfection ou la vertu ne consiste donc pas à suivre l’ordre de la nature, mais à se soumettre en toutes choses à l’Ordre immuable et nécessaire, loi inviolable de toutes les intelligences et de Dieu même.«23 Gleichwohl ist aber auch in der ambivalenten Ordnungstheorie Malebranches das Nachwirken jener von Rouvillois24 gezeigten mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltanschauung unverkennbar. Der bekannte Malbranche-Spezialist F. Alquié nennt Malebranche in diesem Zusammenhang zu Recht einen »philosophe qui, tout en voulant demeurer fidèle à Descartes, s’éfforce d’être à la fois chrétien avec la tradition et naturaliste avec son siècle.«25 Shaftesburys Gedanke einer sittlichen Arithmetik, wie er letztlich durch die Überlegungen Lockes inspiriert war, wird indessen vor allem durch Hutchesons 1725 erschienenen Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue unmittelbar weitergetragen und fortentwickelt. Hutcheson gelangt hier gar zu einem komplexen mathematischen Modell, das der exakten Berechnung einer moralischen Werteskala dienen soll. Die mathematischen Algorithmen seines so genannten »Universalkanons für die Berechnung der Moralität jeglicher Handlung«26 verweisen mit ihren Buchstabensymbolen auf ein festgelegtes Inventar moralphilosophischer Begriffe, die zueinander in mathematische Relationen ge21 N. Malebranche, Traité de la Morale (1683). In  : Malebranche, Œuvres, Bd. II, Paris 1992, S. 435. 22 Ebenda, S. 423. 23 Ebenda. 24 Rouvillois, L’invention du progrès. 25 F. Alquie, Le cartésianisme de Malebranche, Paris 1974, S. 307. 26 F. Hutcheson, An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue, In Two Treatises, London 1729, S. 186–191.

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setzt werden. (B.: M = Moment of Good  ; m = Moment of Evil  ; S = Self-Love  ; A = Abilitys  ; B = Benevolence  ; useful  ; private Interest  ; und so weiter und so fort) Doch während all diese hier genannten Bemühungen um eine mathematisch-naturwissenschaftliche Erschließung der Moralphilosophie letztlich in Entwürfen verharren, sollte es wiederum auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie zu einer Entwicklung kommen, die von den Zeitgenossen als unmittelbare Fortsetzung der Bemühungen Lockes verstanden wurde und die der Euphorie des Fortschrittsdenkens in der Wissenschaft einen völlig neuen Impuls verleiten sollte. Diese Entwicklung und dieser Impuls nehmen ihren Ausgang in den sehr schnell zu Einfluss gelangenden Arbeiten Condillacs, vor allem dem Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746), der bereits durch seinen Titel auf die Verwandtschaft zu Lockes berühmten Essay Concerning Human Understanding hinweist. 1749 erscheint Condillacs eher anwendungsorientierter Traité des systèmes. In beiden Schriften wird nicht nur die cartesianische Theorie der eingeborenen Ideen nochmals angegriffen und unter Zuhilfenahme sensualistischer Erkenntnisprinzipien verworfen. Es findet darüber hinaus eine kritische Aufarbeitung der Argumentation Lockes statt, an deren Stelle eine konsequent materialistische Erkenntnsitheorie des Sensualismus tritt. Angesichts der Bedeutung, die Condillacs Arbeiten für die ideengeschichtliche Entwicklung des materialistischen Denkens, insbesondere aber auch für die Entfaltung und Verbreitung des physiokratischen Ansatzes im weiteren Verlauf der Spätaufklärung zukommt, erscheint eine etwas nähere Betrachtung an dieser Stelle geboten. Die Grundüberzeugungen Condillacs decken sich zunächst mit den Positionen Lockes und seiner Nachfolger, wonach eine mathematisch-naturwissenschaftliche Erschließung der Metaphysik und der Moral allein eine Frage adäquaten erkenntnismethodischen Vorgehens sei. »Il me parut«, schreibt Condillac in diesem Sinn, »qu’on pouvoit raisonner en métaphysique et en morale avec autant d’exactitude qu’en géométrie«.27 Der wichtigste Schritt jedoch, so Condillac weiter, sei hierfür die Analyse des menschlichen Geistes, insbesondere die Analyse der Genesis menschlicher Ideen, beginnend bei den ersten Sinneseindrücken. »Notre premier objet, celui que nous ne devons jamais perdre de vue, c’est l’étude de l’esprit humain. (…) Il faut remonter à l’origine de nos idées, en développer la génération.«28

27 Condillac, Essai sur l’origine des connoissances humaines. Ouvrage où l’on réduit à un seul principe tout ce qui concerne l’entendement humain, Paris 1746, S. IV. 28 Ebenda, S. XI.

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Diese Analyse aber sei die Wissenschaft bisher schuldig geblieben. Selbst Locke, der, an Bacon anknüpfend, die Sinneswahrnehmungen als Grundlage der menschlichen Erkenntnis anerkannt habe, sei diesem Weg nicht konsequent gefolgt. Dies gelte insbesondere auch für seine prinzipiell richtige Wahrnehmung zur Funktion der Wörter im Erkenntnisprozess. Stattdessen herrsche Unordnung in seinem Essay, die zu beseitigen sich Locke geweigert habe.29 Das wahre Geheimnis der menschlichen Erkenntnis aber, das Condillac gefunden zu haben glaubt, bestehe in einem kontinuierlichen Prozess der Verknüpfung von Ideen mit sprachlichen Zeichen, auf die wiederum die Verknüpfung der Ideen untereinander folge  : J’ai, ce me semble, trouvé la solution de tous ces problèmes dans la liaison des idées, soit avec les signes, soit entr’elles. (…) Les idées se lient avec les signes, et ce n’est que par ce moyen, comme je le prouverai, qu’elles se lient entr’elles.30

Diese grundlegende Betrachtung zur Funktion der Zeichen im Prozess der menschlichen Erkenntnis bezieht Condillac einerseits auf deren historische Genealogie im Sinne der wechselseitig einander bedingenden Herausbildung von Sprache und Denken. Andererseits soll daraus eine allgemeingültige Methode wissenschaftlicher Erkenntnis abgeleitet werden, die auf alle Bereiche des menschlichen Wissens anwendbar ist. Auf diese Weise würde gleichzeitig eine erkenntnistheoretische Verbindung aller Wissenschaftszweige untereinander entstehen und es würden künftige Irrtümer im Voranschreiten der Wissenschaften verhindert. Als Schlüsselgedanke für diesen ehrgeizigen Plan taucht hier erneut der Ordre-Begriff auf, mit dem Condillac die strengstens zu respektierende Abfolge im Sinne der Kausalität aller Erscheinungen bezeichnet. Die Strategie seines Vorgehens, die gleichzeitig als Anleitung zum Verständnis seiner Erkenntnistheorie dienen soll, erläutert Condillac im Essai sur l’origine des connaissances humaines wie folgt  : D’un côté, je suis remonté à la perception, parce que c’est la première opération qu’on peut remarquer dans l’ame  ; et j’ai fait voir comment, et dans quel ordre, elle produit toutes celles dont nous pouvons acquérir l’exercice. D’un autre côté, j’ai commencé au langage d’action. On verra comment il a produit tous les arts qui sont propres à exprimer nos pensées  ; l’art des gestes, la danse, la parole, la déclamation, l’art de la 29 Ebenda, S. XVII. 30 Ebenda, S. XII–XIII (Hervorhebung R. Bach).

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noter, celui des pantomimes, la musique, la poësie, l’éloquence, l’écriture et les différens caractères des langues. Cette histoire du langage montrera les circonstances où les signes ont été imaginés, elle en fera connoître le vrai sens, apprendra à en prévenir les abus, et ne laissera, je pense, aucun doute sur l’origine de nos idées. Enfin, après avoir développé les progrès des opérations de l’ame et ceux du langage, j’essaye d’indiquer par quels moyens on peut éviter l’erreur, et de montrer l’ordre qu’on doit suivre, soit pour faire des découvertes, soit pour instruire les autres de celles qu’on a faites. Tel est en général le plan de cet essai.31

In unterschiedlichen Zusammenhängen verweist Condillac auf die nach seinem Ermessen wichtigste Entdeckung seiner sensualistischen Erkenntnistheorie, nämlich die für elementar erachtete Bedeutung des Zeichengebrauchs, mithin die konstitutive Funktion der Sprache für das menschliche Denken. Und es ist in der Tat diese Überlegung, die Condillacs nicht zu überschätzenden Einfluss auf die Wissenschaftskonzeptionen seiner Zeit, von der Enzyklopädie über die Sciences morales et politiques der Physiokraten bis hin zur Idéologie Destutt de Tracys begründen sollte. »Je suis convaincu«, betont er im Essai, »que l’usage des signes est le principe qui développe le germe de toutes nos idées.«32 Und in demselben Sinn an anderer Stelle  : »l’usage des signes est la vraie cause des progrès de l’imagination, de la contemplation et de la mémoire«.33 So ist es auch kein Zufall, wenn sich die hier von Condillac sukzessive genannten Ebenen des Erkenntnisfortschritts, nämlich imagination, contemplation und mémoire, als die drei grundlegenden Kategorien im Wissenschaftssystem der Encyclopédie wiederfinden. Die synoptische Übersicht der Wissenschaftszweige, wie sie von d’Alembert unter der Überschrift Système figuré des connaissance humaines im Discours préliminaire der Enzyklopädie präsentiert wird, gliedert die Wissenschaften entsprechend in die Rubriken Mémoire, Raison und Imagination.34 Die Tatsache, dass d’Alembert in diesem Zusammenhang die Reihenfolge der wissenschaftlichen Rubriken gegenüber der Vorgabe Condillacs vertauscht, bedeutet indessen kein wirkliches Abrücken von Condillacs Erkenntnistheorie. Und um daran keinen Zweifel aufkommen zu lassen, liefert d’Alembert eine ausführliche Begründung, die der Argumentation Condillacs hinsichtlich des »natürlichen Fortschreitens der Operationen des Geistes« detailliert folgt. Al31 Ebenda, S. XIII–XV. 32 Ebenda, S. XXI. 33 Ebenda, S. 65. 34 D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 40–41.

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ternativ zu Condillac wird lediglich angenommen, dass die Einbildungskraft (imagination) als kreative Fähigkeit des Geistes den Geist als solchen (raison, contemplation) voraussetzt  : Ces trois facultés forment d’abord les trois divisions générales de notre système, et les trois objets généraux des connaissances humaines  ; l’Histoire, qui se rapporte à la mémoire  ; la Philosophie, qui est le fruit de la raison  ; et les Beaux-Arts, que l’imagination fait naître. Si nous plaçons la raison avant l’imagination, cet ordre nous paraît bien fondé et conforme au progrès naturel des opérations de l’esprit  : l’imagination est une faculté créatrice  ; et l’esprit, avant que de songer à créer, commence par raisonner sur ce qu’il voit et ce qu’il connait. Un autre motif qui doit déterminer à placer la raison avant l’imagination, c’est que dans cette dernière faculté de l’âme, les deux autres se trouvent réunies jusqu’à un certain point, et que la raison s’y joint à la mémoire.35

Für den hier unter anderem angesprochenen ästhetischen Bereich gilt es festzuhalten, dass d’Alemberts Argumentation einerseits das Bemühen erkennen lässt, der für grundlegend erachteten Argumentation Condillacs zu folgen. Andererseits aber reflektiert sie gleichzeitig das Festhalten an jener Doctrine classique, die in Boileaus unsterblichen Versen besungen wurde und die trotz ihres streng rationalistischen Charakters auch im Jahrhundert der Aufklärung ihre prinzipielle Gültigkeit behalten sollte  : »Rien n’est beau que le vrai, le vrai seul est aimable …«36 In einem anderen Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass der Discours préliminaire de l’Encyclopédie zunächst als ein zentrales und repräsentatives Dokument der Selbstverständigung für die gesamte Aufklärungsbewegung angesehen werden muss. Er steht also nicht nur für deren gültige Denkmodelle und Zielvorstellungen im Allgemeinen, sondern stellt auch Bilanz und Perspektiven der Wissenschaft in einer völlig neuartigen und systematischen Gesamtkonzeption gegenüber. Unter Bezugnahme auf Newton und Locke bestätigt d’Alembert dabei auch jene für die Zeitgenossen so faszinierende Vorstellung einer methodologischen Verschmelzung von Physik und Metaphysik, indem er der science de l’homme, zu deren Kernbereichen Moral und Politik gehören, im Rahmen der Neuordnung des Systems der Wissenschaften eine paritätische Gleichrangigkeit an der Seite der science de la nature einräumt. Tatsächlich erscheinen science de l’homme und science de la nature in d’Alemberts systematischer Übersicht der 35 Ebenda, S. 36. 36 N. Boileau, Epitres IX 43. In  : N. Boileau, Œuvres poétiques (1666), Paris 1896, S. 165.

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Wissenschaften als gleichrangige Säulen der Philosophie, die ihrerseits dem methodischen Bereich der raison angehören. Im Unterschied hierzu repräsentieren die historischen Wissenschaften den methodischen Bereich der mémoire, während Poesie und schöne Künste dem methodischen Bereich der imagination zugeordnet werden. Ihre eigentliche Bedeutung erfährt die erwähnte Form einer symmetrischen Anordnung von Physik und Metaphysik, science de la nature und science de l’homme allerdings erst im Gesamtkontext des Discours préliminaire, der den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt selbst in den Rang eines Naturgesetzes erhebt  : »Quant on considère les progès de l’esprit (…), on trouve que ces progrès se sont faits dans l’ordre qu’ils devaient naturellement suivre.«37 Damit werden letztlich alle wissenschaftlichen Entdeckungen der Vergangenheit und der Zukunft in der von Condillac geforderten notwendigen Abfolge eines lückenlosen »enchaînement des connaissances humaines« verbunden, was schließlich auch künftige wissenschaftliche Entwicklungen vorhersagbar macht. Die Physiokraten werden diese erkenntnistheoretische Herangehensweise, einschließlich ihrer Schlüsseltermini, vom Erscheinen der Arbeiten Le Merciers an, das heißt ab dem Jahr 1767, akribisch übernehmen, um ihre Ansichten damit auch sprachlich auf der Höhe zeitgenössischer Standards des wissenschaftlichen Diskurses zu präsentieren. Schließlich verweist diese Vorstellung eines »enchaînement des connaissances humaines«, verstanden als gesetzmäßiges Fortschreiten menschlicher Erkenntnis, auch darauf, dass der erwartete wissenschaftliche Erkenntniszuwachs im Bereich der science de l’homme, also ein Ausgleich des von d’Alembert beklagten Ungleichgewichtes zum Pendant der science de la nature, nur eine Frage der Zeit, nicht aber eine Frage prinzipieller Möglichkeiten ist. Was in diesem Zusammenhang oft als Fortschrittsoptimismus der Aufklärungsbewegung reflektiert und mit dem zeitgenössischen Konzept der »perfectibilité« verbunden wurde, erweist sich vor diesem spezifischen Hintergrund in erster Linie als Ausdruck eines inzwischen fest etablierten »totalitären« Modells wissenschaftlicher Erkenntnis.38 Dessen Kernmetapher eines ordre naturel bleibt nun aber nicht mehr auf die universale Ordnung der Natur im Sinne einer Harmonie der Schöpfung beschränkt, sondern bezeichnet darüber hinaus eine »natürliche«, das heißt der raison genügende Ordnung in der Schrittfolge der Erkenntnis  :

37 D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 44. 38 Vgl. Rouvillois, L’invention du progrès.

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»les progrès de l’esprit (…) dans l’ordre qu’ils devaient naturellement suivre«.39

Beide Aspekte folgen, in Analogie zu den Gesetzen der Natur, dem Anspruch universeller Gültigkeit. Dem physiokratischen Diskurs, der diese Formulierungen übernehmen wird, sollte dies zusätzliches Gewicht, gleichzeitig aber auch ein dogmatisches Gepräge verleihen. In der Sache spiegelt sich jedoch hierin einerseits die cartesianische Idee der Übereinstimmung von Vernunft und göttlicher Ordnung, wie wir sie vor allem bei Malebranche vorfanden.40 Andererseits lässt der Bezug auf die Ordnungsmetapher im Erkenntnisprozess den Einfluss der sensualistischen Sprach- und Erkenntnistheorie Condillacs erkennen.41 Doch statt einander auszuschließen, wie angesichts des zeitgenössischen Meinungsstreits zwischen den Anhängern Lockes und den Anhängern Descartes’ und Malebranches zu vermuten wäre,42 ergänzen und bedingen beide Aspekte einander in der Überschneidung der Konzepte von »ordre« und »progrès«. Denn in Wahrheit verbirgt sich hier die sensualistische Weiterführung des cartesianischen Anspruchs, die Erkenntnis selbst in den Rang einer Wissenschaft zu erheben, um die Unfehlbarkeit wissenschaftlicher Befunde gegen Spekulationen aller Art abzusichern. D’Alembert würdigt denn auch genau in diesem Sinn die von seinen Zeitgenossen häufig verkannte, in Wahrheit aber bahnbrechende Leistung Descartes’, den er schließlich – gleichwohl in der Folge Francis Bacons – als den eigentlichen Begründer des Zeitalters der Aufklärung verehrt  : Si Descartes qui nous a ouvert la route, n’y a pas été aussi loin que ses sectateurs le croient, il s’en faut beaucoup que les sciences lui doivent aussi peu que le prétendent ses adversaires. Sa méthode seule aurait suffi pour le rendre immortel.43

Es ist diese Sichtweise d’Alemberts, die es ermöglicht, in der sensualistischen »Überwindung« des Gegensatzes von res extensa und res cogitans lediglich einen wissenschaftlichen Perspektivwandel zu erkennen. Dieser hebt das (in dieser Hinsicht) wesentlichste Element des cartesianischen Vorlaufs, nämlich den wechselseitigen Ausschluss der Ordnungsbegriffe »Physik« und »Metaphysik«, in der Perspektive des Sensualismus auf. Nur so ergibt letztlich auch der durch 39 D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 44 (Hervorhebungen R. Bach). 40 Rouvillois, L’invention du progrès, S. 57–58 und 66. 41 Vgl. hierzu auch U. Ricken, Sprache, Anthropologie, Philosophie in der französischen Aufklärung, Berlin 1984. Und ders., Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Aufklärung, Berlin 1990. 42 Vgl. auch Rouvillois, L’invention du progrès, S. 69. 43 D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 58.

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Montesquieus Esprit des lois populär gewordene Versuch einen Sinn, Gesetzmäßigkeiten des monde intelligent in der Perspektive der Gesetzmäßigkeiten des monde physique zu suchen. Mag also der Weg zu vernunftgemäßer Erkenntnis deduktiv, über die Annahme »eingeborener Ideen« verlaufen, wie der Mathematiker Descartes vermutete, oder aber, der Überzeugung Lockes folgend, auf Sinneseindrücken gründen und daher induktiv über verschiedene Stufen der Verallgemeinerung verlaufen, im Mittelpunkt aller »geordneten« Erkenntnis steht die kritische Vernunft. Dies ist die Schnittmenge von Rationalismus und Sensualismus der Aufklärung, die in ganz unterschiedlicher Ausprägung die zeitgenössischen Denkmodelle prägt und den eigentlichen geistigen Hintergrund ihres oben erwähnten totalitären Erkenntnisanspruchs bildet. Rouvillois, der die Ursprünge der »pensée totalitaire« zwischen 1680 und 1730 mit der Entstehung des »progressisme« verbindet, bemerkt daher vollkommen zu Recht zur Synthese rationalistischer und sensualistischer Ansätze  : L’opposition entre le malebranchisme issu de Descartes et l’empirisme lockien se situe dans une perspective complexe qui en intègre toutes les composantes (…). Cependant, si l’on change de point de vue pour considérer l’idée de Progrès en tant que telle, on observe que, loin de s’opposer, ces deux systèmes s’avèrent également (quoique diversement) favorables à son émergence – de même que la théorie et l’expérience doivent s’entendre finalement comme deux modes complémentaires du développement scientifique.44

So besteht denn die Aufgabe der Encyclopédie, wie bereits angedeutet, weniger in einer bloßen Sammlung und Dokumentation des zeitgenössischen Wissens als vielmehr darin, den auf den verschiedensten Gebieten erreichten Zuwachs der Kenntnisse und Fertigkeiten, der sciences et arts, als Ausdruck eines extrapolierbaren Paradigmas progressiv fortschreitender Ideenverknüpfung darzustellen. L’ouvrage que nous commençons (…) a deux objets  : comme Encyclopédie, il doit exposer autant qu’il est possible, l’ordre et l’enchaînement des connaissances humaines  ; comme Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, il doit contenir sur chaque science et sur chaque art (…) des principes généraux qui en sont la base …45

44 Rouvillois, L’invention du progrès, S. 69. 45 D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 7 (Hervorhebungen R. Bach).

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Dem Anspruch, eine dem Kausalitätsprinzip folgende, hierarchische Ordnung linear fortschreitender Erkenntnis zu dokumentieren, folgt konsequenterweise das Ziel, die »allgemeinen Prinzipien« jedes einzelnen Wissenschaftszweiges als zusammenhängenden Subcode aller menschlichen Wissenschaft zu erschließen  : »Réduire à un petit nombre de règles ou de notions générales, chaque science ou chaque art en particulier (…) renfermer dans un système qui soit un, les branches infiniment variées de la science humaine …«46 Ihren verbalen Ausdruck findet diese »Totalvision« eines neuartigen Systems der Wissenschaften, wie bereits gezeigt, in der ständigen Hervorhebung des Gedankens einer alle Entdeckungen und Erkenntnisse gleichermaßen durchdringenden kausalen Kette  : »la liaison que les découvertes ont entre elles …  ; les sciences et les arts se prêtent mutuellement des secours …  ; une chaîne qui les unit …«47 Und getreu der Vorgabe Condillacs, der die Rekonstruktion des Ursprungs der menschlichen Erkenntnis zur Bedingung für die konsequente Erneuerung der Wissenschaft erhoben hatte, überträgt d’Alembert diese Forderung in nahezu wörtlicher Übernahme auf das Konzept der Enzyklopädie  : Condillac  : Il faut remonter à l’origine de nos idées, en développer la génération, les suivre jusqu’aux limites que la nature leur a prescrites  ; par-là, fixer l’étendue et les bornes de nos connoissances, et renouveller tout l’entendement humain.48 D’Alembert  : Examiner (…) la généalogie et la filiation de nos connaissances, les causes qui ont dû les faire naître et les caractères qui les distinguent  ; en un mot, (de) remonter jusqu’à l’origine et à la génération de nos idées.49

Diese Schlussfolgerung zielt nicht nur auf den Ursprung menschlicher Erkenntnis, um diesen in das Ordnungsgefüge der dargestellten Genealogie des Wissens einzuordnen. Sie bekräftigt vielmehr den mit einer lückenlosen Kette logischer Schritte unterlegten Anspruch der Totalerkenntnis und der Unanfechtbarkeit des enzyklopädischen Paradigmas, das letztlich auch die Schlüssigkeit der darin enthaltenen Fortschrittsidee unter Beweis stellen soll. Dass die von d’Alembert im Discours préliminaire der Enzyklopädie proklamierten Ansichten, weit über diesen Text hinaus, um 1750 durchaus den Status 46 Ebenda, S. 8. 47 Ebenda. 48 Condillac, Essai sur l’origine des connoissances humaines, S. XI. 49 D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 8.

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geistigen Allgemeingutes erlangt hatten, belegt unter anderem ein am 11. Dezember desselben Jahres vor einer akademischen Versammlung der Sorbonne gehaltener Vortrag zum Thema Tableau philosophique des progrès successifs de l’esprit humain. Sein Autor, Turgot, entwirft ein in weiten Teilen mit den Ausführungen d’Alemberts übereinstimmendes Bild eines stetigen Erkenntnisfortschritts (»le fil des progrès de l’esprit humain«50), der sich als eine die Zyklen der Natur und die Abfolge menschlicher Generationen überwindende Akkumulation des Wissens darstellt. Auch in diesem historischen Prozess der Weitergabe von Wissen sind es – analog zu den elementaren Vorgängen der menschlichen Erkenntnis nach Condillac – die arbiträren Zeichen der Sprache und der Schrift (»les signes arbitraires du langage et de l’écriture«51), die den Fortschritt des menschlichen Geistes erst ermöglichen. Und dieser geistige Fortschritt wird in dem von Turgot entworfenen Tableau von einem kulturellen Fortschritt begleitet, der sich nicht nur in einer wachsenden Zivilisierung der Sitten äußert, sondern darüber hinaus mittels Handel und Politik alle Teile des Globus miteinander vereint. Solcherart getragen vom allgemeinen Fortschritt, geht das Menschengeschlecht demnach einer immer höheren Vervollkommnung entgegen.52 Doch der an den Erkenntnisfortschritt und seine kulturellen Folgen gekoppelten Höherentwicklung der Moral stellt Turgot einen durch die »Vorsehung« gelenkten, gleichsam der »raison« vorgelagerten Instinkt an die Seite  : »Cet instinct, ce seniment du bon et de l’honnête que la Providence a gravé dans tous les cœurs, qui devance la raison.«53 Im Grunde handelt es sich dabei um jenen »moral sense«, den Hutcheson in der Nachfolge Shaftesburys als Reserve gegenüber jeder ausschließlich materialistischen Moralphilosophie systematisch begründet hatte.54 Eine ebenso bemerkenswerte wie logische Konsequenz des Tableau philosophique des progrès successifs de l’esprit humain ist dessen Weiterentwicklung zu einer Universalgeschichte der Menschheit, deren Entwurf Turgot nur etwa ein Jahr später55 in seinem Plan d’un premier Discours sur l’Histoire Universelle präsentiert. 50 Turgot, Tableau philosophique des progrès successifs de l’esprit humain (1750). In  : Turgot, Formation et distribution des richesses. Textes choisis, Paris 1997, S. 71. 51 Ebenda, S. 70. 52 Ebenda, S. 71. 53 Ebenda, S. 81. 54 F. Hutcheson, Essai sur la nature et la conduite des passions et affections avec Illustrations sur le sens moral (1728), Paris, Budapest, Turin 2003. Vgl. auch L. Jaffro, Le sens moral. Une histoire de la philosophie morale de Locke à Kant, Paris 2000. 55 »[V]ers 1751«. Turgot, Plan d’un Premier Discours sur l’Histoire Universelle (1751). In  : Turgot, Formation et distribution des richesses, S. 95.

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Auch für dieses Projekt bildet die Erkenntnislehre Condillacs die gedankliche Grundlage, insofern auch hier die Rolle der sprachlichen Zeichen sowie der erst durch ihren Einsatz möglichen Kommunikation zum Dreh- und Angelpunkt der stetig fortschreitenden Entwicklung erhoben wird. Possesseur du trésor des signes qu’il (l’homme) a eu la faculté de multiplier presqu’à l’infini, il peut s’assurer la possession de toutes ses idées acquises, les communiquer aux autres hommes, les transmettre à ses successeurs comme un héritage qui s’augmente toujours. Une combinaison continuelle de ses progrès avec les passions et avec les événements qu’elles ont produits, forme l’Histoire du genre humain, òu chaque homme n’est plus qu’une partie d’un tout immense qui a, comme lui, son enfance et ses progrès. Ainsi l’Histoire universelle embrasse la considération des progrès successifs du genre humain et le détail des causes qui y ont contribué. Les premiers commencements des hommes  ; la formation, le mélange des nations  ; l’origine, les révolutions des gouvernements  ; les progrès des langues, de la physique, de la morale, des mœurs, des sciences et des arts (…) en suivant à peu près l’ordre historique de ses progrès …56

Die dabei ebenfalls ins Visier geratende Frage der Ursprünge menschlicher Kultur auf der Ebene eines so genannten Naturzustandes – ein üblicher Topos der Naturrechtslehre – verbindet Turgot elegant mit dem biblischen Mythos der Sintflut.57 So kann, im äußerlichen Einklang mit der Heiligen Schrift, die historische Ordnung des Fortschritts an ihrem frühesten Punkt, der Stufe nomadisierender Jäger, ansetzen.58 Der moralische Fortschritt bedarf in diesem universalgeschichtlichen tableau offenbar nicht mehr der von Shaftesbury und Hutcheson entwickelten Hypothese eines der Vernunft und der gesellschaftlichen Entwicklung vorgelagerten moral sense. Er stellt sich vielmehr ein als eine bereits greifbare, in ihrer inneren Notwendigkeit nicht mehr zu bezweifelnde Folge des allgemeinen wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts. Il est des passions douces qui sont toujours nécessaires et qui se développent d’autant plus que l’humanité est perfectionnée. Les hommes, instruits par l’expérience, deviennent plus et mieux humains. Aussi paraît-il que, dans ces derniers temps, la générosité, les vertus, les affections douces 56 Ebenda, S. 96/97 (Hervorhebungen R. Bach). 57 Ebenda, S. 98/99. 58 Ebenda, S. 97.

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s’étendent toujours, du moins en Europe, diminuent l’empire de la vengeance et des haines nationales.59

Diesen Gemeinplätzen der Aufklärung, wie sie sich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich darstellen und wie sie im zurückliegenden Abschnitt in ihrer Entstehungsgeschichte, ihrem Zusammenhang und ihrer Kompatibilität erläutert wurden, sollte indessen mit der Ideenwelt Jean-Jacques Rousseaus eine Herausforderung entgegentreten, deren historische Tragweite zunächst nicht absehbar erscheint.

59 Ebenda, S. 105.

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5 Rousseaus Fortschrittskritik  : Conscience vs. Science Bereits in seinem 1750 veröffentlichten Discours sur les sciences et les arts1, der zu spektakulärer Berühmtheit gelangen sollte, problematisiert Rousseau das Vertrauen in die moralisierende Wirkung der Wissenschaften und Künste. Er konfrontiert das Selbstverständnis der république des lettres, wie es gerade im Wissenschaftskonzept der Enzyklopädie verdichtet wurde, mit folgenschweren Einlassungen zu sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde und stellt mit seiner Kritik am zeitgenössischen Fortschrittsdenken nichts Geringeres in Frage als den geistigen Lebensnerv einer vom Bildungsideal getragenen Aufklärung. Entsprechend heftig fallen die Reaktionen aus, die sogleich über die Grenzen Frankreichs hinausgehen. Von Anfang an wird der in erster Linie sozialkritisch inspirierte Ansatz Rousseaus als »Kulturpessimismus« oder auch als Anhäufung von Paradoxien missverstanden. Unmittelbarer Anlass für die Abfassung des Discours war die auf den Prix de Morale des Jahres 1750 zielende Preisfrage der Académie de Dijon  : Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs. Der allseits erwarteten Bejahung dieser Frage, wie sie durch die gezeigten Darlegungen d’Alemberts oder Turgots nahegelegt wurde und letztlich dem Geist des gesamten enzyklopädischen Unternehmens, der gesamten zeitgenössischen Wissenschafts- und Fortschrittsideologie entsprochen hätte, folgt Rousseau nicht. Sein nüchterner Blick auf die sozialen Realitäten ergibt eine andere Bilanz des Fortschritts, die sich insbesondere der aus einer fatalen Innenansicht geborenen Wissenschaftseuphorie der Enzyklopädisten entzieht. Anstelle einer Parallelität von wissenschaftlichem, sozialem und moralischem Fortschritt, beobachtet Rousseau eine historische Asymmetrie, wie sie bereits Boisguillebert antizipiert hatte  : Je weiter sich Wissenschaften und Künste entwickelten, desto größer würde auch die gesellschaftliche Entfremdung und desto unmoralischer verhielten sich die Menschen  : »(…) l’effet est certain, la dépravation réelle, et nos ames se sont corrompuës à mesure que nos Sciences et nos Arts se sont avancés à la perfection.«2

1 J.-J. Rousseau, Discours sur cette Question (…) Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs (1750). In  : J.-J. Rousseau, Œuvres complètes, Bd. III, Paris 1966. 2 Ebenda, S. 9.

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Geradezu vernichtend ist Rousseaus Urteil über den moralischen Zustand der »hoch entwickelten« Gesellschaft seiner Zeit. Es sei die Kunst des Sich-Verstellens, der gegenseitigen Täuschung, die dominiere. Die Kunst, zu gefallen (l’Art de plaire) und eine unaufrichtige Rede zu führen (parler un langage apprêté), hätte wirkliche Freundschaft und gegenseitige Achtung aus der Gesellschaft verbannt (»Plus d’amitiés sincères  ; plus d’estime réelle  ; plus de confiance fondée«). Und so zerstöre der Gegensatz von Sein und Scheinen (»On n’ose plus paroître ce qu’on est«) – ein zentraler Topos in Rousseaus politischer Philosophie3 – schließlich den Zusammenhalt der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die Rousseau aus ebendiesem Grund als »troupeau qu’on appelle société«4 verspottet. Doch nicht der Wissenschaft oder dem Erkenntnisfortschritt als solchem lastet Rousseau diese Entwicklung an. Wohl aber ihren Verstrickungen in soziales Unrecht, in die soziale Ungleichheit, die die Menschen entzweit. »D’où naissent tous ces abus, si ce n’est de l’inégalité funeste introduite entre les hommes.«5 Deutlich sichtbar werde diese Ungleichheit durch die dominierende Rolle des Geldes. In einer Gesellschaft, die vom Geld regiert werde, könne man alles kaufen, besitze aber in Wahrheit keine Staatsbürger mehr und keine Tugenden (»on a tout avec de l’argent, hormis des mœurs et des citoyens«).6 Denn diejenigen, die als Staatsbürger noch gelten könnten, die täglich für Milch und Brot sorgten, verkämen selbst im Elend und in der allgemeinen Verachtung  : Nous n’avons plus de citoyens  ; ou s’il nous en reste encore, dispersés dans nos campagnes abandonnées, ils y périssent indigens et méprisés. Tel est l’état où sont réduits, tels sont les sentimens qu’obtiennent de nous ceux qui nous donnent du pain, et donnent du lait à nos enfans.7

Wirkliche Tugend aber, die »erhabene Wissenschaft der einfachen Seelen« (»Vertu  ! Science sublime des ames simples«8), die allein der »Stimme des Gewissens« folge (»la voix de la conscience«), sie genüge sich selbst, sei weder käuflich noch diene sie dem höheren Ansehen oder der Macht. Die hier aufscheinende Polarität von science und conscience (Wissen und Gewissen) markiert ebenfalls einen Topos in Rousseaus sozialem Protest, der in bestimmten Zusammenhängen 3 Ebenda, S. 8. Vgl. auch J. Starobinski, Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle, Paris 1971. 4 Rousseau, Discours sur cette Question, S. 8. 5 Ebenda, S. 25. 6 Ebenda, S. 20. 7 Ebenda, S. 26. 8 Ebenda, S. 30.

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auch als Entgegensetzung von korrumpierendem Wissen und tugendhafter Einfalt (»heureuse ignorance«9) seine Fortschreibung findet. Ein Reizmotiv, das angesichts der Bildungsoffensive der Aufklärung im zeitgenössischen Kontext durchaus missverständlich aufgefasst und im Sinne eines historischen Rückschritts als Einbruch des Irrationalen verstanden werden konnte und verstanden wurde. Und dies umso mehr, als Rousseaus Kritik auf eine Umdeutung des Fortschritts hinauslief. Denn in der Perspektive Rousseaus handelte es sich um einen Fortschritt, der das versunkene Zeitalter der Einfalt und Tugend (»la simplicité des premiers temps … les hommes innocens et vertüeux …«10  ; »l’ignorance et la rusticité de nos Pères …«11) in das gegenwärtige Zeitalter der Wissenschaft, der Korruption und der Untugend verwandelt hatte. Les anciens Politiques parlaient sans cesse de mœurs et de vertu  ; les nôtres ne parlent que de commerce et d’argent.12 Si la culture des sciences est nuisible aux qualités guerrières, elle l’est encore plus aux qualités morales. C’est dès nos premières années qu’une éducation insensée orne notre esprit et corrompt notre jugement.13 Le progrès des sciences et des arts n’a rien ajoûté à nôtre véritable félicité  ; (…) il a corrompu nos mœurs, et (…) la corruption des mœurs a porté atteinte à la pureté du goût.14

Der Verwegenheit seiner Angriffe auf die Fortschrittsideologie seiner Zeitgenossen, damit auch auf ein Kulturverständnis, das die soziale Schieflage der Gesellschaft nahezu vollständig aus seinem Blick verdrängt hatte, ist sich Rousseau durchaus bewusst, wenn er seinem Discours pauschalisierend die Worte voranstellt  : »Heurtant de front tout ce qui fait aujourd’hui l’admiration des hommes, je ne puis m’attendre qu’à un blâme universel.«15 Er ist sich mithin der Tatsache bewusst, dass seine polemisch formulierte Anklage sowohl auf die sozialen Missstände selbst wie auch auf die dem Feudalstaat kritisch gegenüberstehende république des lettres, die Gemeinde der Aufklärer und Enzyklopädisten, zielt. Die unter diesen Umständen dringend gebotene philosophische Vertiefung seiner Ansichten nimmt Rousseau daher anlässlich einer weiteren Preisfrage der Akademie zu Dijon in Angriff, die interessanterweise auf die   9 Ebenda, S. 15. 10 Ebenda, S. 22. 11 Ebenda, S. 28. 12 Ebenda, S. 19. 13 Ebenda, S. 24. 14 Ebenda, S. 28. 15 Ebenda, S. 3.

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Schlüsselthese seines Discours sur les sciences et les arts Bezug nimmt, nämlich auf die Frage nach Ursprung und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. In dieser fünf Jahre nach dem spektakulären Erfolg seines »ersten Discours«16 veröffentlichten Abhandlung entfaltet Rousseau bereits die wichtigsten Ideen und Ansätze seiner einzigartigen Philosophie, die den geistigen Horizont der Aufklärung entschieden erweitern und ihren politischen Reformbemühungen mit einer auf staatsbürgerliche Rechte und Volkssouveränität abzielenden Ethik eine demokratische Richtung hinzufügen sollte. Dabei zwingt ihn die Neuartigkeit seiner Perspektiven und Begriffsbildungen, die gleichzeitig einen Umbruch in der Geschichte des politischen Denkens einleiten, zu stetiger Abgrenzung gegenüber herkömmlichen sprachlichen Ausdrucksformen, herkömmlichen Begriffen. So entsteht mit der Sprache Rousseaus ein ebenso neuartiger politischer Diskurs, der allerdings bald darauf nun seinerseits von dem ebenfalls in republikanisches Denken mündenden Diskurs der physiokratischen Lehre konterkariert, das heißt in wesentlichen Formulierungen übernommen und dabei tief greifend verfälscht, werden sollte. Ein Umstand, der – trotz seiner elementaren Bedeutung für das Verständnis der politischen Ideengeschichte der Aufklärung und der Französischen Revolution – in der traditionellen Historiographie bisher keine Beachtung gefunden hat. Zu den Schlüsselelementen des Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, mit denen Rousseau die Weichen für sein gesamtes philosophisches Werk stellen sollte, zählen insbesondere eine Anthropologie der gesellschaftlichen Entfremdung des Menschen, Ansatzpunkte einer die Naturrechtslehre überwindenden Philosophie des politischen Rechts sowie Umrisse einer Geschichtsphilosophie, die die Perspektive eines revolutionären Umbruchs, einer radikalen menschlichen und sozialen Erneuerung eröffnet. Die bereits im Discours sur les sciences et les arts formulierte Zurückweisung jener einseitigen Fortschrittseuphorie, die Rousseau zur kritischen Gegenüberstellung von science und conscience, Wissenschaft und Ethik, veranlasst hatte, mündet auf diese Weise in die philosophische Suche nach den Perspektiven eines alternativen Fortschritts. Dieser sollte auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit und politischer Selbstbestimmung den Entfremdungsprozess des Menschen beenden, seine moralische Integrität wiederherstellen und damit auch politische Ethik und Wissenschaft, conscience und science, miteinander versöhnen. Das philosophische Hauptwerk Rousseaus, Emile, 16 In der Rousseauforschung ist es üblich, vom »ersten« (Discours sur les sciences et les arts, 1750) und »zweiten Discours« Rousseaus (Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, 1755) zu sprechen.

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ou de l’éducation, lotet in diesem Sinne die prinzipiellen Möglichkeiten einer auf dem Wege der Erziehung zu erlangenden moralischen Regeneration des Menschen aus, ohne dabei die Frage einer moralischen Regeneration der Gesellschaft aufzuwerfen oder das eine mit dem anderen zu verbinden. Doch quasi parallel hierzu untersucht Rousseau – ebenfalls in einer Perspektive alternativen Fortschrittsdenkens  – in seinem Du Contrat social ou principes du droit politique die noch komplexer anmutende Problematik einer politischen Rechtsordnung, die das oberste Gebot der Freiheit des Einzelnen (»renoncer à sa liberté, c’est renoncer à sa qualité d’homme«17) unmittelbar mit der Idee der freien Selbstbestimmung eines ganzen Volkes verbindet. Aufgehoben ist diese weit in die Zukunft weisende Vorstellung einer wahrhaft aufgeklärten Gesellschaft in solch komplexen philosophischen Begrifflichkeiten wie etwa einer aliénation totale oder einer volonté générale, die ihrerseits auf einer dem kategorischen Imperativ Immanuel Kants nahestehenden Idee der Verknüpfung von Freiheit und Gewissen, Verantwortung und Pflicht beruhen. Zeitlebens musste sich Rousseau für dieses alternative Fortschrittsdenken rechtfertigen, zeitlebens sich dem Vorwurf eines der persönlichen Eitelkeit geschuldeten paradoxen Schreibstils erwehren. Eine sehr persönliche Bilanz dieser immerwährenden geistigen Verfolgung, gepaart mit dem schließlich zur letzten Lebensaufgabe erhobenen Versuch einer Rechtfertigung des eigenen Denkens, findet sich in den häufig als unpolitisch verkannten, in Wahrheit jedoch hochbrisanten autobiographischen Schriften Les Confessions und Les Rêveries du promeneur solitaire. Beide Texte können als Schlüssel zum Verständnis der theoretischen Hauptwerke Rousseaus gelesen werden, wie Heinrich Meier dies jüngst auf eindrucksvolle Weise am Beispiel der Rêveries bewiesen hat.18 5.1 Bemerkungen zu den Hauptthesen des Discours sur l’inégalité Erinnert sei zunächst an die Tatsache, dass Rousseau die zeitgenössische Verklärung von Wissenschaften und Künsten19 als vermeintliche Indikatoren oder Triebkräfte moralischen und sozialen Fortschritts zurückgewiesen und stattdessen 17 Rousseau, Du Contrat social ou principes du droit politique (1762). In  : J.-J. Rousseau, Œuvres complètes, Bd. III, S. 356. 18 Vgl. H. Meier, Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries, München 2011. 19 Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ist es in Frankreich üblich, die Begriffe Künste und Wissenschaften stets in einem Atemzug als Begriffspaar zu nennen (les sciences et les arts).

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die Frage aufgeworfen hatte, welche Rolle den Wissenschaften und Künsten in einer sozial zutiefst gespaltenen Gesellschaft zukäme, ob sie am Ende nicht gar das Zustandekommen sozialer Ungleichheit beförderten und im Sinne der Vertiefung gesellschaftlichen Unrechts missbraucht würden. Insofern, es mag ein Zufall sein oder nicht, folgte die Akademie von Dijon mit ihrer neuerlichen Preisfrage nach Ursprung und Legitimität der Ungleichheit unter den Menschen genau derjenigen Wendung, die Rousseau seiner Abhandlung über die Rolle der Wissenschaften und Künste gegeben hatte. Tatsächlich nutzt er nun diese mit allen großen Fragen der Zeit verbundene und seinem ureigensten sozialkritischen Anliegen entgegenkommende Thematik zur Entfaltung einer philosophischen Plattform, die – übrigens nach eigenem Bekennen in den später entstandenen Confessions20 – bereits alle wesentlichen Elemente und Positionsbestimmungen seines Lebenswerkes antizipiert, auf die sich mithin alle folgenden Arbeiten in der einen oder anderen Form zurückführen lassen. Im Mittelpunkt steht dabei ein anthropologischer Ansatz, der den natürlichen Menschen, eingebunden in die Zwänge einer naturwidrigen Zivilisation, in stetigem Konflikt mit seiner eigenen Entfremdung sieht. Ein Ansatz, der alle bisherige Moralphilosophie, alle Wissenschaft der so genannten Naturrechtslehre in Frage stellt21 und der ausgehend von einem alternativen Geschichtsentwurf auch eine neuartige Sicht auf die Grundlagen des politischen Rechts entwirft. Ein Ansatz schließlich, der die Weichen für ein alternatives Fortschrittsdenken stellt  ; ein Fortschrittsdenken, das auf eine Überwindung der diagnostizierten naturwidrigen Entfremdung des Menschen abzielt. Nach vielfältigem eigenen Bekunden ist es vor allem die als widernatürlich empfundene soziale Spaltung der Gesellschaft, der extreme Gegensatz von Reichtum und Macht auf der einen, Armut und Elend sowie politischer Entmündigung auf der anderen Seite, die Rousseau zeitlebens an allen diesen Zustand befestigenden Institutionen der zivilisierten Gesellschaft zweifeln lässt.22 Ausdrücklich zählt er die akademische Lehre, Religion und Wissenschaften und selbst die Sprache (»la première institution sociale«) zu diesen Institutionen einer

20 J.-J. Rousseau, Les Confessions (1782). In  : J.-J. Rousseau, Œuvres complètes, Bd. I, Paris 1969, S. 388. 21 »Laissant donc tous les livres scientifiques  …« Häufig diskutierter Ausspruch Rousseaus in der Préface des Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes. In  : Rousseau, Œuvres complètes, Bd. III, S. 125. 22 »Nos sotes institutions civiles où le vrai bien public et la véritable justice sont toujours sacrifiés à je ne quel ordre apparent, destructif en effet de tout ordre …« Rousseau, Œuvres complètes, Bd. I, S. 327.

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Zivilisation, die auf Unrecht und Lüge gründet.23 Daher unter anderem auch seine immerwährende Auseinandersetzung mit der Sprache als einer das Bewusstsein formenden und steuernden Institution, schließlich als Werkzeug politischer Manipulation. Den Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes nutzt Rousseau aus diesem Grund in erster Linie für eine Generalabrechnung mit den Institutionen des Unrechts. Und er bekundet dies in aller Unbefangenheit, indem er die Fragestellung der Akademie nach dem Ursprung der Ungleichheit mit rhetorischer Schärfe in die Frage nach dem Ursprung des Unrechts wandelt  : De quoi s’agit il donc précisement dans ce Discours  ? De marquer dans le progrès des choses le moment où le Droit succedant à la Violence, la Nature fut soumise à la Loi  ; d’expliquer par quel enchaînement de prodiges le fort put se résoudre à servir le foible, et le Peuple à acheter un repos en idée au prix d’une félicité reelle.24

Mit dieser Formulierung, die den Zusammenhang zwischen Rousseaus fundamentaler Sozialkritik und der eigentlich zu beantwortenden Frage herstellt, ist nicht nur ein erster Fokus auf die Revision aller bisherigen Auffassungen von Naturzustand und Naturrecht gelenkt. Es wird auch erkennbar, dass Rousseau von einem Bruch der Entwicklung ausgeht, einem Umschlagen der natürlichen in eine widernatürliche Entwicklung. Und die eigentliche Frage ist nun diejenige nach den Gründen und den Voraussetzungen für diesen zunächst als Hypothese formulierten Bruch, der den Menschen trotz seiner intellektuellen Fortschritte in einen immerwährenden Konflikt mit seiner angeborenen Menschennatur bringen sollte. Um den Ursprung dieser menschlichen Veränderungen sowie deren Rückwirkung auf die Gesellschaft erschließen zu können, diskutiert Rousseau ausführlich die verschiedenen in der zeitgenössischen Naturrechtslehre vertretenen Auffassungen über einen vorgesellschaftlichen Naturzustand des Menschen. Doch allen einschlägigen Autoren, von Grotius über Hobbes, Pufendorf und Locke bis zu Burlamaqui, hält er schließlich entgegen, dass sie mitnichten den ursprünglichen, nur der Natur geschuldeten Zustand des Menschen erfasst hätten, da sie lediglich Vorstellungen und Ideen des zivilisierten Menschen auf sei-

23 Vgl. auch R. Bach, Rousseaus Verhältnis zu den Institutionen in ideengeschichtlicher Perspektive. In  : K. Baron/H. Bluhm (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau. Im Bann der Institutionen, Berlin, Boston 2016, S. 267–287. 24 Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité, S. 132.

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nen »état de Nature« übertrügen.25 Es sei ebendieses Unwissen über die wahre Natur des Menschen, das seinen Niederschlag in den widersprüchlichen Definitionen des Naturrechts finde.26 Abstraktes Denken, Begriffe wie Eigentum, Recht oder Gesetz seien jedoch – wie die Sprache selbst – soziale Institutionen. Sie dürften daher, angesichts einer auf riesige Zeiträume zu bemessenden gemeinsamen Geschichte von Gesellschaft, Sprache und Denken, nicht ohne Weiteres auf den Naturzustand projiziert werden. Die Frage nach dem Sprachursprung, den frühesten Formen menschlicher Kommunikation und menschlichen Denkens sowie nach den äußeren Umständen und Zwängen, die diese Entwicklung bewirkten und begleiteten, erhält ebendadurch für Rousseau ihr besonderes Gewicht. Denn genau hier vermutet er den eigentlichen Schlüssel zum Verständnis all derjenigen widersprüchlichen Veränderungen, die aus ersten Formen sozialer Ungleichheit, einer inégalité naturelle,27 die der Natur entfremdete inégalité d’institution28 werden ließen und damit Ungleichheit in institutionalisiertes Unrecht verwandelten. Erst der sprechende, mithin denkende homme de l’homme,29 der im Laufe einer anfangs natürlich verlaufenden Entfaltung seiner perfectibilité an die Stelle des sprachlosen, lediglich eines cri de la Nature mächtigen homme de la nature getreten war, konnte zu dieser seiner Natur zuwiderlaufenden Entwicklung gedrängt und das heißt durch den eigentlichen ersten Sündenfall der Geschichte, nämlich die begrifflich sanktionierte Institutionalisierung des Eigentums an Grund und Boden, verführt werden. Rousseau schildert dieses Szenario, entsprechend seiner Bedeutung, in subtilster Eindringlichkeit und mit größtem rhetorischen Geschick. Neben einem Panorama recht konkreter Vorstellungen über die langwierige und wechselvolle Herausbildung frühester Formen menschlicher Kommunikation, menschlichen Denkens und arbeitsteiliger Gemeinschaften betonen dramatisierende Sequenzen  – die jedoch, wie die eingefügten Relativierungen zeigen, in dieser Form nicht wörtlich genommen werden sollen  – jene welthistorische Zäsur, die mit der Institutionalisierung des Eigentums den Naturzustand beendet. Die bekannteste unter ihnen eröffnet in eindrucksvoller Weise den zweiten und systematischeren Teil des Discours sur l’inégalité  :

25 »[T]ransporté à l’état de Nature, des idées qu’ils avoient pris dans la société«, ebenda, S. 132. 26 »C’est cette ignorance de la nature de l’homme qui jette tant d’incertitude et d’obscurité sur la véritable définition du droit naturel«, ebenda, S. 124. 27 Ebenda, S. 123 und 160–161. 28 Ebenda. 29 Ebenda, S. 122, 123.

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Le premier qui ayant enclos un terrain, s’avisa de dire, ceci est à moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile. Que de crimes, de guerres, de meurtres, que de miséres et d’horreurs, n’eût point épargnés au Genre-humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fossé, eût crié à ses semblables. Gardez-vous d’écouter cet imposteur  ; Vous êtes perdus, si vous oubliez que les fruits sont à tous, et la Terre n’est à personne.30

Hervorzuheben in diesem Kontext ist die wörtliche Rede, mithin die Rolle der Sprache, der Rousseau mit der konkreten Wendung »ceci est à moi« (»das gehört mir«) eine Schlüsselstellung für den Akt der Verführung jener »einfältigen Menschen« zuspricht. Der nur als Wunschtraum hinzugesetzte Ruf »Hütet euch, diesem Betrüger zu folgen  ; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen, die Erde aber niemandem gehört  !« unterstreicht die dramatische Bedeutung des in Szene gesetzten Vorgangs und hebt dabei das besondere Verhängnis des betrügerischen Gebrauchs der Sprache hervor. Der Topos des Missbrauchs höherer Intelligenz oder Bildung, der sich dem Missbrauch der Sprache verbindet, findet ebenhier seinen Ursprung. In noch schärferen Konturen zeichnet Rousseau wenig später die erste politisch relevante Form des Sprachmissbrauchs in einer vergleichbar dramatisierenden Sequenz, die die Errichtung der Herrschaft der »Reichen« mithilfe eines ersten Gesellschaftsvertrages imaginiert. Vorauf ginge diesem politischen Akt demnach  – infolge der Aufhebung der sozialen Gleichheit – eine immer stärkere Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche. Dies wiederum führe in einem gesetzlosen Klima der Angst und des Misstrauens schließlich zu Raub und Plünderungen und die erst entstehende Gesellschaft würde in Chaos und einer Art Bürgerkrieg versinken  : l’égalité rompüe fut suivie du plus affreux désordre  : c’est ainsi que les usurpations des riches, les Bringandages des Pauvres, les passions effrénées de tous étouffant la pitié naturelle, et la voix encore foible de la justice, rendirent les hommes avares, ambitieux, et méchans. Il s’élevoit entre le droit du plus fort et le droit du premier occupant un conflict perpetuel qui ne se terminoit que par des combats et des meurtres. La Société naissante fit place au plus horrible état de guerre.31 30 Ebenda, S. 164. Die durch den Kontext bereits erfolgte Relativierung dieser Art von Zuspitzung des Sündenfalls auf einen einzelnen »vrai fondateur de la société civile« fasst Rousseau nochmals in einer ähnlich prägnanten Formulierung zusammen, wonach nicht »Gold und Silber«, sondern »Getreide und Eisen« die Menschen zivilisiert haben  : »Ce sont le fer et le blé qui ont civilisé les hommes et perdu le Genre-humain«, ebenda, S. 171. 31 Ebenda. S. 176.

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Erst vor diesem Hintergrund, eingedenk der bereits in Gang gesetzten Entfremdung des Menschen, kann es im fiktiven Geschichtsbild Rousseaus zu dem erwähnten ersten Gesellschaftsvertrag, einer Recht setzenden und die Gesellschaft als Ganzes umschließenden Übereinkunft kommen. Und auch hier wiederum fällt der sprachlichen Manipulation die entscheidende Rolle zu. »Vereinigen wir uns«, lässt er einen fiktiven Vertreter der Reichen rufen, »um die Schwachen vor Unterdrückung zu schützen, die Ehrgeizigen zu zügeln und jedermanns Besitz zu sichern …«32 Denn dieser erste Gesellschaftsvertrag ist in Wahrheit ein Herrschaftsvertrag der Reichen – die bald zu den Mächtigen werden – über die Armen, die sich bald in Unterdrückte wandeln. Rousseau bezeichnet diese Übereinkunft, auf der die Gesellschaft seither ruht, als »das am meisten ausgeklügelte Projekt, das jemals ein menschlicher Geist ersinnen konnte«, da es – aus der Sicht jenes fiktiven Reichen  – ebendarin bestand, »gerade die Kräfte derjenigen zu seinen Gunsten zu nutzen, die ihn attackierten, aus seinen Gegnern seine Verteidiger zu machen und ihnen andere Maximen einzuflößen, andere Institutionen zu geben, die ihm ebenso nützlich sein würden, wie das Naturrecht gegen ihn stand«.33 Damit ist genau jener Punkt erreicht, den Rousseau in seiner Präzisierung der Ausgangsfrage bereits beschrieben hatte, der Augenblick der Wandlung von sozialer Ungleichheit in politisch sanktioniertes Unrecht. Die Einbeziehung eines fiktiven wörtlichen Vorschlages, der diesem Akt der Verführung plastische Realität verleiht, soll auch in diesem Zusammenhang die verhängnisvolle Rolle der Sprache als eines Instruments der politischen Manipulation unterstreichen. Denn was seither als Recht galt, war in Wirklichkeit Unrecht. Und wieder waren es »einfache, leicht zu verführende Menschen«,34 die sich um ihr wirkliches Recht betrügen ließen und die »allesamt zu ihren Ketten liefen, während sie glaubten, ihre Freiheit zu sichern.«35 Eine weitere im Zusammenhang mit dem Thema Sprachmissbrauch erwähnenswerte und ganz ähnlich aufgebaute Sequenz schildert die Erfindung des Adels  : C’est ainsi qu’il dut venir un tems où les yeux du Peuple furent fascinés à tel point, que ses conducteurs n’avoient qu’à dire au plus petit des hommes, sois Grand toi et toute 32 Ebenda, S. 177. 33 »[D]’employer en sa faveur les forces même de ceux qui l’attaquoient, de faire ses défenseurs de ses adversaires, de leur inspirer d’autres maximes, et de leur donner d’autres instituitions qui lui fussent aussi favorables que le Droit naturel lui étoit contraire«, ebenda, S. 177. 34 »[D]es hommes grossiers, faciles à séduire«, ebenda, S. 177. 35 Ebenda (Übersetzung R. Bach).

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ta race, aussi-tôt il paroissoit grand à tout le monde, ainsi qu’à ses propres yeux, et ses Descendans s’élevoient encore à mesure qu’ils s’éloignoient de lui  ; plus la cause étoit reculée et incertaine, plus l’effet augmentoit  ; plus on pouvoit compter de fainéans dans une famille, et plus elle devenoit illustre.36

Rousseau steigert an diesem Beispiel das von ihm gezeichnete Bild einer durch die Obrigkeit betriebenen Manipulation des ungebildeten und einfältigen Volkes bis zur Groteske. Dabei stellt die Sprache, in ihrer das Bewusstsein steuernden Funktion, die Wahrnehmung der Wirklichkeit auf den Kopf. Eine Darstellung, deren gesellschaftskritische Schärfe gegenüber Rousseaus Zeitgenossen kaum zu überbieten war. Doch zurück zu derjenigen Aussage, die Rousseau mit dieser eindringlichen Darstellung der auf die Institutionalisierung des Eigentums zurückgehenden Zäsur der natürlichen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft verbinden wollte. Es ist die Kernaussage seiner Anthropologie, die alle dieser Zäsur folgenden Fortschritte als »scheinbar ebenso viele Schritte zur Perfektionierung des Individuums wie tatsächlich zum Verfall der Gattung« qualifiziert. »Tous les progrès ulterieurs ont été en apparence autant de pas vers la perfection de l’individu, et en effet vers la décrépitude de l’espéce.«37 Von dieser in ihrer philosophischen Bedeutung kaum zu überschätzenden Fortschrittskritik ausgehend, fügen sich alle wesentlichen Gedanken der Anthropologie Rousseaus zu einer in sich geschlossenen Theorie, die sein im Emile entwickeltes Konzept einer éducation négative ebenso begründet wie die politische Ethik des Contrat social. Und so erklärt sich auch die geradezu leidenschaftliche Gründlichkeit, mit der Rousseau das Thema des Naturzustandes behandelt  : Seine dialektische Sicht auf die Ambivalenz des gesellschaftlichen Fortschritts, wonach die Zivilisation die menschliche Entwicklung in eine widernatürliche Richtung trieb, hatte der Bestimmung dessen, was nun den eigentlich ursprünglichen und damit natürlichen Zustand des Menschen ausmachen würde, im philosophischen Sinn außerordentliches Gewicht verliehen. Denn obwohl Rousseau die äußeren Zwänge der Entwicklung, die stattgefunden hat, ebenso anerkennt wie ihre innere Notwendigkeit, einschließlich der mit dem Fortschritt einhergehenden Vertiefung der Ungleichheit, und dies durchaus im Sinne des zeitgenössisch vorherrschenden Sensualismus auch mit materialistischen Argumenten begründet, bildet doch eine in die Zeitlosigkeit entrückte Projektion der wahren, gewissermaßen gottgewollten menschlichen Natur, wie Rousseau sie 36 Ebenda, S. 188. 37 Ebenda, S. 171.

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letztendlich rein intuitiv zu erschließen vermag, den entscheidenden Fixpunkt seines Geschichtsbildes, damit auch die Grundlage jeglicher auf eine Regeneration des Menschen wie auch der Gesellschaft zielenden Philosophie, sei es diejenige der Erziehung oder auch diejenige der Staatskunst und eines von Grund auf alternativen politischen Rechts. Was also zeichnet die wahre Natur des Menschen aus, welches sind seine ursprünglichsten Veranlagungen, auch im Unterschied zu all den vermeintlichen Fehldeutungen der livres scientifiques38 der etablierten Naturrechtslehre  ? Rousseaus Antwort auf diese Frage lenkt den Blick von Beginn an über die Sphäre des Individuellen hinaus und bezieht stattdessen einen Impuls sozialer Bindungsfähigkeit in die ursprüngliche, dem rationalen Denken voraufgehende Konstitution des Menschen ein  : (…) méditant sur les premiéres et plus simples opérations de l’Ame humaine, j’y crois appercevoir deux principes antérieurs à la raison, dont l’un nous intéresse ardemment à nôtre bien-être et à la conservation de nous mêmes, et l’autre nous inspire une répugnance naturelle à voir périr ou souffrir tout être sensible et principalement nos semblables.39

Es ist diese zweite, über den einfachen Selbsterhaltungstrieb hinausgehende, ebenfalls für ursprünglich gehaltene menschliche Veranlagung des Mitgefühls, einer pitié naturelle, deren Verlust er zuerst im Zusammenhang mit der in einen chaotischen Bürgerkrieg stürzenden menschlichen Gemeinschaft beklagt hatte. Und es ist ebendiese für ursprünglich gehaltene Veranlagung der pitié naturelle,40 der Rousseau letztlich auch die Begründung und die Berechtigung entlehnen wird, dem spontanen Gerechtigkeitsempfinden des ungebildeten Volkes einen höheren ethischen Wert beizumessen und mehr Glaubwürdigkeit als dem reflektierten Verhalten des Philosophen. Bildung, so Rousseaus These seit dem Discours sur les sciences et les arts, ist in einer Gesellschaft des sozialen Unrechts gerade kein Garant für moralische Gesinnung. Eher verleitet sie, den Gesetzen der Konkurrenz folgend, zur Abwägung des eigenen Vorteils als etwa zu Selbstlosigkeit und bedingungsloser Hilfe. In einer weiteren, wunderbar bildhaften

38 Ebenda, S. 125. 39 Ebenda, S. 125/126. 40 »Tel est le pur mouvement de la Nature, antérieur à toute réflexion  : telle est la force de la pitié naturelle, que les mœurs les plus dépravées ont encore peine à détruire.« Ebenda, S. 155.

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und ironischen Textsequenz nimmt Rousseau diese These seines ersten Discours wieder auf, wenn er schreibt  : C’est la raison qui engendre l’amour propre, et c’est la réflexion qui le fortifie  ; C’est elle qui replie l’homme sur lui-même  ; c’est elle qui le sépare de tout ce qui le gêne et l’afflige  : C’est la Philosophie qui l’isole  ; c’est par elle qu’il dit en secret, à l’aspect d’un homme souffrant, peris si tu veux, je suis en sureté. Il n’y a plus que les dangers de la société entiére qui trouble le sommeil tranquille du Philosophe, et qui l’arrachent de son lit. On peut impunément égorger son semblable sous sa fenestre  ; il n’a qu’à mettre ses mains sur ses oreilles et s’argumenter un peu, pour empêcher la Nature qui se revolte en lui, de l’identifier avec celui qu’on assassine. L’homme Sauvage n’a point cet admirable talent  ; et faute de sagesse et de raison, on le voit toujours se livrer étourdiment au premier sentiment de l’Humanité. Dans les Emeutes, dans les querelles des Rües, la Populace s’assemble, l’homme prudent s’éloigne  : C’est la canaille, ce sont les femmes des Halles, qui séparent les combattants, et qui empêchent les honnêtes gens de s’entr’égorger. Il est donc bien certain que la pitié est un sentiment naturel, qui modérant dans chaque individu l’activité de l’amour de soi même, concourt à la conservation mutuelle de toute l’espéce. C’est elle, qui nous porte sans réflexion au secours de ceux que nous voyons souffrir  : c’est elle qui, dans l’état de Nature, tient lieu de Loix, de mœurs, et de vertu, avec cet avantage que nul n’est tenté de désobéir à sa douce voix.41

Hier lohnt sich ein Blick auf die besondere Semantik dieses leidenschaftlichen Plädoyers, mit dem Rousseau die vermeintliche Arroganz der Gebildeten angreift. Ihr zynisches Abwägen des eigenen Vorteils bringt die Stimme des Gewissens und den Impuls des natürlichen Mitgefühls zum Schweigen. Im Gegenzug wird ebendieses spontane Mitgefühl in den ungebildeten Schichten des Volkes als immer noch lebendig und fortwirkend dargestellt. Auf der semantischen Ebene ergibt dies ein Paradigma, das die lexikalischen Bedeutungsstrukturen des Textes – entsprechend der besonderen Wertungsperspektive Rousseaus – in signifikanter Weise verändert. Die Bezeichnungen raison, réflexion, philosophe bilden semantische Oppositionen zu Nature, Populace, canaille, femmes des Halles, während lexikalisierte Konnotationen ihr wertendes Vorzeichen umkehren  : So wandeln sich die negativen Konnotationen der Bezeichnungen Populace und canaille in ihr Gegenteil, während umgekehrt die umgangssprachlich positiv oder wenigstens neutral konnotierten Bezeichnungen philosophe, philosophie, réflexion, sagesse, raison, homme prudent, cet admirable talent und honnêtes gens hier für ne41 Ebenda, S. 156 (Hervorhebung R. Bach).

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gatives Verhalten stehen. Verstärkt durch die szenische Originalität, entsteht auf diese Weise eine ironisierende Form praktisch angewandter Sprachkritik, mit der Rousseau seine Zeitgenossen bewusst und bei vielen Gelegenheiten provoziert. Eine Kritik, die herkömmliches Denken in seinen sprachlich institutionalisierten Vorurteilen angreift, um jene alternativen Ansätze hervorzuheben, die sich seinem anthropologischen Modell verbinden. Dabei wird nochmals deutlich, dass Rousseau nicht nur von einem historischen Bruch zwischen Naturzustand und Zivilisation, das heißt zwischen natürlicher und widernatürlicher Entwicklung von Mensch und Gesellschaft, ausgeht, sondern außerdem davon, dass dieser Bruch in Gestalt eines sich stetig vertiefenden inneren Konfliktes im zivilisierten Menschen fortbesteht. Natur und Zivilisation befinden sich, so gesehen, in einem immerwährenden Widerstreit. Den Werdegang dieses ambivalenten Fortschritts, der die Divergenz von geistiger und moralischer Entwicklung der Menschen untrennbar mit der Entstehung und Vertiefung der sozialen Ungleichheit und des sich etablierenden Unrechts verknüpft, beschreibt Rousseau wiederholt in eindringlichen Formen. Die sich verstärkende wechselseitige Abhängigkeit und Konkurrenz zwinge die Menschen in diesem Prozess, um der Wahrung ihres jeweiligen Vorteils willen, einander zu belügen und zu betrügen, wodurch sich – wie im Discours sur les sciences et les arts als Sittenbild der zeitgenössischen Gesellschaft bereits ausgeführt – in den Menschen selbst ein tiefer Riss zwischen Sein und Scheinen, Handlung und Rede, être und paraître herausbilde  : Il falut pour son avantage se montrer autre que ce qu’on étoit en effet. Etre et paroître devinrent deux choses tout à fait différentes, et de cette distinction sortirent le faste imposant, la ruse trompeuse, et tous les vices qui en sont le cortége. D’un autre côté, de libre et independant qu’étoit auparavant l’homme, le voilà par une multitude de nouveaux besoins assujéti, pour ainsi dire, à toute la Nature, et surtout à ses semblables dont il devient l’esclave en un sens, même en devenant leur maître42  … Enfin l’ambition dévorante, l’ardeur d’élever sa fortune relative, moins par un veritable besoin que pour se mettre au-dessus des autres, inspire à tous les hommes un noir penchant à se nuire mutuellement, une jalousie secrete d’autant plus dangereuse que, pour faire son coup plus en sûreté, elle prend souvent le masque de la bienveillance  ; en un mot, concurrence et rivalité d’une part, de l’autre opposition d’intérêt, et toujours le désir caché de faire son profit aux depends d’autrui.43 42 Vgl. dieselbe Wendung auch auf der ersten Seite des Contrat social  : »Tel se coit le maître des autres, qui ne laisse pas d’être plus esclave qu’eux.« Rousseau, Du Contrat social, S. 351. 43 Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité, S. 174/175.

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Auch hier ist es aufschlussreich, wenigstens zu einigen der verschiedenen Formulierungen zurückzukehren, mit denen Rousseau bereits in der thematischen Eingrenzung der Fragestellung des Discours den neuralgischen Punkt der Gegenüberstellung von menschlicher Natur und gesellschaftlicher Entfremdung konkretisiert hatte  : (…) comment l’homme viendra-t-il à bout de se voir tel que l’a formé la Nature, à travers tous les changemens que la succession des temps et des choses a dû produire dans sa constitution originelle, et de démêler ce qu’il tient de son propre fond d’avec ce que les circonstances et ses progrès ont ajoûté ou changé à son Etat primitif  ?44 C’est dans ces changemens successifs de la constitution humaine qu’il faut chercher la première origine des différences qui distinguent les hommes, lesquels d’un commun aveu sont naturellement aussi égaux entr’eux que l’étoient les animaux de chaque espèce.45 Car ce n’est pas une légére entreprise de démêler ce qu’il y a d’originaire et d’artificiel dans la Nature actuelle de l’homme, et de bien connoître un Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais, et dont il est pourtant necessaire d’avoir des Notions justes pour bien juger de nôtre état présent.46 Or sans l’étude serieuse de l’homme, de ses facultés naturelles, et de leurs développemens successifs, on ne veindra jamais à bout de faire ces distinctions, et de séparer dans l’actuelle constitution des choses, ce qu’a fait la volonté divine d’avec ce que l’art humain a prétendu faire.47

Diese Formulierungen verdeutlichen insbesondere auch, dass sich Rousseau der hypothetischen Form dieser durch seine Anthropologie aufgeworfenen Frage vollauf bewusst ist und dass die gesellschaftskritisch motivierte Hypothese einer Fehlentwicklung des Menschen ebenjene Hypothese eines dem Schöpfungswillen Gottes gerecht werdenden Naturzustandes erst hervorbringt. Was also berechtigt ihn, trotz dieses auch für das Denken des achtzehnten Jahrhunderts wissenschaftlich fragwürdigen Hintergrundes, das gesamte Gebäude seiner Anthropologie auf diese Hypothesen zu gründen  ? Angesichts der Anfeindungen und Missdeutungen, etwa als »Naturphilosoph« und »Kulturfeind«, deren sich Rousseau zeitlebens zu erwehren hatte, erscheint eine Beantwortung dieser Frage durchaus angezeigt. Hier ist nun zum einen auf die zeitgenössische 44 Ebenda, S. 122. 45 Ebenda, S. 123. 46 Ebenda. 47 Ebenda, S. 127.

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Kenntnis über frühzeitliche Kulturen zu verweisen, die durch zahlreiche überseeische Expeditionsberichte genährt wurde und die lange vor Rousseau das Bild des bon Sauvage und einer friedfertigen Zivilisation der Wilden ins europäische Bewusstsein brachte.48 Rousseau bezieht sich direkt auf diese Berichte, wenn er schreibt  : »L’exemple des Sauvages qu’on a presque tous trouvés à ce point sembler confirmer que le Genre-humain étoit fait pour y rester toujours, que cet état est la véritable jeunesse du Monde.«49 Doch die weitaus wichtigere Stütze seiner Argumentation, die ihren hypothetischen Teil in besonderer Weise rechtfertigt, ist ethischer Natur und mit einem Glaubensbekenntnis verbunden. Der ins Bewusstsein drängende innere Konflikt von Natur und Zivilisation findet seinen geistigen Dreh- und Angelpunkt in der moralischen Instanz des Gewissens, der sich der Mensch am Ende ebenso wenig entziehen kann wie der Freiheit des Denkens. Beides verbindet Rousseau im Sinne einer ethischen Verpflichtung des Menschen, die – obgleich seiner eigenen Verantwortung anheimgegeben – einem göttlichen Plan entspringt. Während die seit Hobbes verbreitete, rein materialistisch begründete Zurückführung menschlicher Willensentscheidung auf die sinnliche Alternative von plaisir oder douleur zwangsläufig in eine utilitaristische Moralphilosophie mündet, der die gesamte Glückseligkeitsdebatte der Aufklärung folgt, stellt Rousseau ganz bewusst eine alternative Weiche. Den freien Willen des Menschen, ebenso wie sein Gewissen, gründet er auf das Konzept des agent libre, das heißt einer der Sinnlichkeit überhobenen und daher nur der menschlichen Natur eigenen Entscheidungsfreiheit  : La Nature seule fait tout dans les opérations de la Bête, au-lieu que l’homme concourt aux siennes, en qualité d’agent libre. L’un choisit ou rejette par instinct, et l’autre par un acte de liberté (…). La Nature commande à tout animal, et la Bête obéït. L’homme éprouve la même impression, mais il se reconnoît libre d’acquiser, ou de resister  ; et c’est surtout dans la conscience de cette liberté que se montre la spiritualité de son ame  : car la Physique explique en quelque manière le mécanisme des sens et la formation des idées  ; mais dans la puissance de vouloir ou plûtôt de choisir, et dans le sentiment de cette puissance on ne trouve que des actes purement spirituels, dont on n’explique rien par les Loix de la Mécanique.50 48 Selbst Montaigne, dessen Werk Rousseau sehr gut kannte, rühmt in seinen Essais das naturverbundene Leben der Indianer Nordamerikas mit Bezugnahme auf Augenzeugen. Vgl. M. de Montaigne, Les Essais (1580), Paris 1962, Livre I, Chap. XXXI, S. 230–245. 49 Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité, S. 171. 50 Ebenda, S. 141, 142.

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Die in seiner Suche nach der ursprünglichen Natur des Menschen verwendete Formulierung ce qu’a fait la volonté divine51 findet hier ihre Entsprechung im Wort von der spiritualité de son ame und den actes purement spirituels. Dies ist der Punkt, von dem aus Rousseau in den folgenden Schriften, insbesondere in Emile, ou de l’éducation, eine idealistische, dem Utilitarismus eines sensualistisch geprägten Menschenbildes von Grund auf widersprechende Ethik begründen wird. In seiner 1785 veröffentlichten Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wird Immanuel Kant diesen Gedanken aufnehmen und im Rahmen der Begründung des kategorischen Imperativs auch den Gegensatz zwischen der utilitaristischen Glückseligkeit einerseits und der durch Rousseau inspirierten Ethik des deutschen Idealismus andererseits, mithin den Kern der Ethikdebatte der Spätaufklärung, verdeutlichen. 5.2 Anthropologie und Geschichtsphilosophie Das Hauptaugenmerk der anthropologischen Überlegungen Rousseaus gilt letztlich der Hypothese eines durch die wachsende soziale Ungleichheit hervorgerufenen inneren Konfliktes, der die in Konkurrenz zueinander stehenden Menschen scheinbar stärkt, gleichzeitig aber ihre soziale Bindungsfähigkeit und damit den Zusammenhalt der Gesellschaft schwächt. Dabei greift er, wie wir sahen, zunächst einige Topoi der herkömmlichen Naturrechtslehre und Moralphilosophie auf, wie beispielsweise die Hypothese eines der zivilen Gesellschaft voraufgehenden Naturzustandes, die Vorstellung ursprünglicher Gleichheit und Freiheit, die Idee logisch rekapitulierbarer Prozesse der Sprachentstehung, des Beginns der Arbeitsteilung, der Entstehung ziviler Rechte und Pflichten, einschließlich des Eigentums und schließlich die Hypothese eines ursprünglichen Gesellschaftsvertrages, mit dem sich die zivile Gesellschaft politisch konstituiert. In Wahrheit ist keine dieser von Rousseau aufgegriffenen Ideen zunächst einmal neu, nicht einmal die für die Zeitgenossen eher ungewöhnliche Hypothese, es handele sich beim Übergang vom Naturzustand zur gesellschaftlichen Ordnung in Wahrheit um einen moralischen Verfall. Denn wie wir sahen, hatte beispielsweise bereits fünfzig Jahre zuvor der Ökonom Boisguillebert, in erstaunlicher Vorwegnahme einiger Aspekte der Sichtweise Rousseaus, Verbrechen, Gewalt und Korruption zu den Geburtshelfern der Zivilisation erklärt und das Abrü-

51 Ebenda, S. 127.

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cken von den »Gesetzen der Natur« und der »Unschuld der Welt« zum Gradmesser der wachsenden »allgemeinen Misere« erhoben  : tant que l’innocence du monde dura, c’est-à-dire tant qu’il n’y eut aucune différence de condition et d’états  : (…) toute l’ambition et tout le luxe se réduisaient à se procurer la nourriture et le vêtement. Les deux premiers ouvriers du monde, qui en étaient en même temps les deux monarques, se partagèrent ces deux métiers  : l’un laboura la terre pour avoir des grains, et l’autre nourrit des troupeaux pour se couvrir, et l’échange mutuel qu’ils pouvaient faire les faisait jouir réciproquement du travail l’un de l’autre. Mais, le crime et la violence s’étant mis, avec le temps, de la partie, celui qui fut le plus fort ne voulut rien faire, et jouir des fruits du travail du plus faible, en se rebellant entièrement contre les ordres du Créateur  ; et cette corruption est venue à un si grand excès, qu’aujourdhui les hommes sont entièrement partagés en deux classes, savoir l’une qui ne fait rien et jouit de tous les plaisirs, et l’autre qui, travaillant depuis le matin jusqu’au soir, se trouve à peine en possession du nécessaire, et en est même souvent privée entièrement.52

Auch er hatte den Erkenntnisfortschritt in die Perspektive eines moralischen Verfalls gestellt und daraus eine grundlegende Sozialkritik abgeleitet. Aber die sich daran anschließenden Überlegungen Boisguilleberts sind letztlich vor allem finanzökonomischer Art. Sie verfolgen eine Neubewertung der Rolle des Geldes im Verhältnis zu Güterproduktion und Warenaustausch und sie münden in eine Theorie liberalisierter Marktwirtschaft, was ihn zum geistigen Vater der physiokratischen Lehre werden ließ. Sein späterer Biograph und Herausgeber Eugène Daire nennt Boisguilbert deshalb zu Recht, wie wir bereits erwähnt hatten, den »Christophe Colomb du monde économique«.53 Dans ses écrits se trouve déposée l’expression des principes fondamentaux de la science, qui devaient rester à l’état latent pendant un demi-siècle encore, jusqu’à ce que l’école de Quesnay les eût fait revivre dans son noble et brillant langage.54

52 Boisguillebert, in  : Daire, Économistes financiers du XVIIIe siècle, S. 399  ; Vgl. auch die verblüffende Ähnlichkeit zum Schlusssatz des Discours sur l’inégalité von Rousseau  : »Puisqu’il est manifestement contre la Loi de Nature, de quelque manière qu’on la définisse, (…) qu’une poignée de gens regorge de superfluités, tandis que la multitude affamée manque du nécessaire.« Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité, S. 194. 53 Daire, Économistes financiers du XVIIIe siècle, S. 169. 54 Ebenda.

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Ein Fortbestehen des Gegensatzes von Natur und Gesellschaft als fortschreitende Entfremdung des Menschen von seiner sozialen Natur, wie sie der Sichtweise Rousseaus entspricht, ist nicht das Thema des physiokratischen Vordenkers Boisguillebert. Für Rousseau aber hatte sich gerade aus dieser Überlegung eine vollkommen neue Sicht auf all die genannten Topoi der Naturrechtsdebatte ergeben. Eine Sicht, die den Sinn jener Hypothesen erst begründet hatte, die Rousseau auf einen vorgeschichtlichen Zustand richtete. Denn nur an diesem erträumten Ort, dessen reale Existenz Rousseau selbst nie behauptet hatte, der für ihn selbst nur ein spekulativer Fluchtpunkt ist, nur hier war es möglich, im Sinne einer alternativen Anthropologie menschliches Dasein im Einklang mit der Natur zu postulieren. Nur hier war ein Menschenbild zu entwerfen, das an einem zukünftigen Horizont der Geschichte die Möglichkeit einer alternativen politischen Ethik, eines alternativen Fortschritts eröffnen sollte. Dieser zukünftige Horizont der Geschichte ist der zweite spekulative Fluchtpunkt Rousseaus. Er wird am Ende des Discours sur l’inégalité sichtbar als zwingend notwendiges Ergebnis eines gegen die menschliche Natur gerichteten Fortschritts, als gewaltsame Aufhebung55 sozialer Ungleichheit und politischer Hierarchie, als gesetzmäßiger Untergang der alten Ordnung  : Si nous suivons le progrès de l’inégalité dans ses différentes révolutions, nous trouverons que l’établissement de la Loi et du Droit de propriété fut son premier terme  ; l’institution de la Magistrature le second  ; que le troisiéme et dernier fut le changement du pouvoir légitime en pouvoir arbitraire  ; en sorte que l’état de riche et de pauvre fut autorisé par la premiere Epoque, celui de puissant et de foible par la seconde, et par la troisiéme celui de Maître et d’Esclave, qui est le dernier dégré de l’inégalité, et le terme auquel aboutissent enfin tous les autres, jusqu’à ce que de nouvelles révolutions dissolvent tout à fait le Gouvernement, ou le rapprochent de l’institution légitime.56

Rousseau betont »die Notwendigkeit dieses Fortschritts« (»la nécessité de ce progrès«),57 den er, wie hier gezeigt, in drei »Epochen« gliedert, und bekräftigt damit den geschichtsphilosophischen Anspruch seiner Analyse. Denn diese Analyse, die die gegenwärtige politische und soziale Situation als eigentlichen Ausgangspunkt aller Überlegungen ausdrücklich einschließt, bezeichnet auch – in dialektischer 55 Rousseau verwendet in diesem Zusammenhang mehrfach die Bezeichnung révolutions. Vgl. Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité, S. 191. 56 Ebenda, S. 187. 57 Ebenda.

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Weise – den Weg zur Überwindung der widernatürlichen Entwicklung in einer hier mit »le rapprochement de l’institution légitime« angedeuteten Richtung. Die Geschichte dieser widernatürlichen Entwicklung, die Geschichte der sozialen Ungleichheit und der daraus folgenden politischen Verwerfungen wie auch die Geschichte der sozialen Entfremdung des Menschen werden durch diese dialektische Sichtweise zu notwendigen Vorbedingungen für eine erst nach ihrer »revolutionären Aufhebung« mögliche politische Befreiung der menschlichen Gesellschaft. In diesem Sinn unterscheidet Rousseau sehr klar zwischen einem vorgeschichtlichen »Etat de Nature dans sa pureté« und einem zweiten, erst durch den gewaltsamen Umsturz der alten Ordnung »sur les ruines de la République« erstehenden »nouvel Etat de Nature«,58 der alle Rechtsordnung aufhebt und die ursprüngliche Gleichheit ebenso wiederherstellt wie das »Recht des Stärkeren«. Ein Umstand, der bestimmte, immer wieder auftauchende Interpretationen des Contrat social ad absurdum führt, wonach dessen politische Prinzipien als Entwurf eines alternativ zur historischen Entstehung der Ungleichheit gedachten Projektes zu verstehen wären und die ihn daher mit dem homme sauvage und einer alternativen Menschheitsentwicklung in Verbindung bringen. Folgt man aber den in dieser Hinsicht völlig unmissverständlichen Aussagen Rousseaus, so ergibt die hier gezeigte geschichtsphilosophische Perspektive eine tragende geistige Verbindungslinie zwischen dem Discours sur l’inégalité auf der einen und den auf die individuelle wie auf die politische Ebene des menschlichen Daseins zielenden Zukunftsvisionen des Emile und des Contrat social auf der anderen Seite. Die Eindringlichkeit, mit der Rousseau sowohl das Szenario einer durch konkurrierende Interessen am Ende völlig zerrütteten Gesellschaft als auch deren notwendiges Abgleiten in einen politischen Despotismus und schließlich den vom Recht des Stärkeren getragenen revolutionären Zusammenbruch der alten Ordnung zeichnet, bestätigt ebendiese Perspektive  : De l’extrême inégalité des Conditions et des fortunes, de la diversité des passions et des talens, des arts inutiles, des arts pernicieux, des Sciences frivoles sortiroient des foules de préjugés, également contraires à la raison, au bonheur, et à la vertu  ; on verroit fomenter par les Chefs tout ce qui peut affoiblir des hommes rassemblés en les désunissant  ; tout ce qui peut donner à la Société un air de concorde apparente et y semer un germe de division réelle  ; tout ce qui peut inspirer aux différens ordres une défiance et une haîne mutuelle par l’opposition de leurs Droits et de leurs intérêts, et fortifier par-conséquent le pouvoir qui les contient tous. 58 Ebenda, S. 191.

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C’est du sein de ce désordre et de ces révolutions que le Despotisme élevant par degrés sa tête hideuse et dévorant tout ce qu’il auroit apperçu de bon et de sain dans toutes les parties de l’Etat, parviendroit enfin à fouler aux pieds les Loix et le Peuple, et à s’établir sur les ruines de la République.59 C’est ici le dernier terme de l’inégalité, et le point extrême qui ferme le Cercle et touche au point d’où nous sommes partis  : C’est ici que tous les particuliers redeviennent égaux parce qu’ils ne sont rien (…) C’est ici que tout se ramene à la seule Loi du plus fort, et par conséquent à un nouvel Etat de Nature différent de celui par lequel nous avons commencé, en ce que l’un étoit l’Etat de Nature dans sa pureté, et que ce dernier est le fruit d’un excès de corruption. (…) (…) le Despote n’est le Maître qu’aussi longtemps qu’il est le plus fort, et que sitôt qu’on peut l’expulser, il n’a point à réclamer contre la violence. (…) La seule force le maintenoit, la seule force le renverse  ; toutes choses se passent ainsi selon l’ordre Naturel  ; et quel que puisse être l’événement de ces courtes et fréquentes révolutions, nul ne peut se plaindre de l’injustice d’autrui, mais seulement de sa propre imprudence, ou de son malheur.60

Es liegt nahe, diese Darstellung eines gewaltsamen Endes der beschriebenen sozialen und politischen Ordnung, die ausdrücklich auf die zu erwartende Rückkehr zum Recht des Stärkeren Bezug nimmt, mit der zentralen Ausgangsformulierung zu vergleichen, in die Rousseau die akademische Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit gekleidet hatte. Denn seine Präzisierung »Worum handelt es sich also genau in diesem Discours  ?« hatte er münden lassen in die Frage, »durch welche Verkettung von Wundern« es denn möglich wurde, dass »der Starke sich entschließen konnte, dem Schwachen zu dienen, und das Volk (bereit sein konnte), einen scheinbaren Frieden um den Preis realer Glückseligkeit zu erkaufen.«61 Im Zusammenspiel geschichtsphilosophischer Ausgangsüberlegungen und Schlussfolgerungen des Discours sur l’inégalité wird damit letztlich dem Volk die historische Aufgabe einer gewaltsamen Überwindung des Despotismus nahegelegt. Dies wiederum steht im Einklang mit der von Rousseau bezeichneten politischen Richtung eines »rapproche(ment) de l’institution légitime«, die er mit dem Sturz der alten Ordnung in Verbindung gebracht hatte62 und die er in 59 Ebenda, S. 190/191 (Hervorhebungen R. Bach zur Sichtbarmachung des leitmotivischen Themas sein/scheinen, être/paraître). 60 Ebenda, S. 191 (Hervorhebungen R. Bach). 61 Ebenda, S. 132 (Hervorhebungen R. Bach). 62 Vgl. Fußnote 245 bzw. Textstelle ebenda, S. 187.

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anderen Kontexten synonym zu dem Begriff einer »Volksregierung« verwendet (»gouvernement populaire ou légitime«63). Darüber hinaus steht es im Einklang mit Rousseaus Verklärung des Volkes als ebenso ungebildetem wie unverdorbenem, am wenigsten seiner Menschennatur entfremdetem Teil der Gesellschaft. Einer Verklärung, der wir in dieser wie auch in allen anderen Schriften Rousseaus begegnen, die er darüber hinaus im moralischen Sinn für seine ganz persönliche Identitätsstiftung in Anspruch nimmt64 und der in der späteren Rezeptionsgeschichte seiner Gedankenwelt ein außergewöhnlicher Platz beschieden sein sollte.65 5.3 Homme und Citoyen  : Die Erziehung zum Menschen und die politische Vision des Citoyen Eine durchaus dem Zeitgeist entsprechende Frage Rousseaus, die seiner radikalen Analyse der gesellschaftlichen Gegenwart entsprang, war diejenige nach dem Ursprung des Übels. In seinem öffentlichen Brief an den Erzbischof von Paris, in dem er – nach der Verurteilung und dem Verbot seines Emile, ou de l’éducation – erstmals eine umfassende Strategie der Verteidigung seines gesamten philosophischen Ansatzes entwickelt, liest sich dieser Zusammenhang wie folgt  : Sitôt que je fus en état d’observer les hommes, je les regardois faire, et je les écoutois parler  ; puis, voyant que leurs actions ne ressembloient point à leurs discours, je cherchai la raison de cette dissemblance, et je trouvai qu’être et paroître étant pour eux deux choses aussi différentes qu’agir et parler, cette deuxième différence étoit la cause de l’autre, et avoit elle-même une cause qui me restoit à chercher. Je la trouvai dans notre ordre social, qui, de tout point contraire à la nature que rien ne détruit, la tirannise sans cesse, et lui fait sans cesse réclamer ses droits. Je suivis cette 63 J.-J. Rousseau, Sur l’économie politique. In  : Rousseau, Œuvres complètes, Bd. III, S. 260/261. 64 »Et qu’on n’objecte pas que n’étant qu’un homme du peuple, je n’ai rien à dire qui mérite l’attention des lecteurs.« (»Und man halte mir nicht entgegen, dass ich  – weil ich nur ein Mann des Volkes bin – nichts zu sagen hätte, was die Aufmerksamkeit der Leser verdient.«) J.-J. Rousseau, Ebauche des Confessions. In  : Rousseau, Œuvres complètes, Bd. I, S. 1150 (Übersetzung und Hervorhebung R. Bach). 65 Vgl. L. Vincenti, L’autoinstitution du pouvoir populaire, http://www.luc-vincenti.fr/conferences/ rouss_voix_peuple.html (letzter Zugriff  : 10. April 2018). Und R. Bach, »La révolution au nom du peuple«, http://www.penser-la-transformation.org/colloque/2012-04-27%20bach.htm (letzter Zugriff  : 10. April 2018). Ferner zum Mythos des Begriffes ›Volk‹ vgl. H. Desbrousses/B. Peloille/G. Raulet (Hrsg.), Le Peuple. Figures et concepts entre identité et souveraineté, Paris 2003.

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contradiction dans ses conséquences, et je vis qu’elle expliquoit seule tous les vices des hommes et tous les maux de la société. D’où je conclus qu’il n’étoit pas nécessaire de supposer l’homme méchant par sa nature, lorsqu’on pouvoit marquer l’origine et le progrès de sa méchanceté.66

Das Besondere an dieser Neubeantwortung der Theodizeefrage, mit der Rousseau den Ursprung des Bösen, die so genannte Erbsünde, von der Schöpfung (»Tout est bien sortant des mains de l’Auteur …«) in die Geschichte und damit in die menschliche Verantwortung verlegt (»… tout dégénère entre les mains des hommes«),67 liegt nicht allein in der theologischen Brisanz des Themas. Es liegt vor allem auch in der daraus resultierenden Verschiebung im Verhältnis der philosophischen Abstraktionen von Natur und Gesellschaft. Denn herkömmliche Fragestellungen der Naturrechtslehre oder der Moralphilosophie nach dem Ursprung sozialer Institutionen, dem Ursprung der gesellschaftlichen Ordnung, bedurften der Hypothese eines so genannten Naturzustandes vor allem im Sinne der Markierung eines Ausgangspunktes der Entwicklung, der als solcher nicht nur historisch fixiert war, sondern gleichzeitig als Definitionsbezug des Naturrechts und eines ordre naturel auch die Grundlage für die Sinnfälligkeit sozialer Ordnungssysteme bildete. Imaginäre Herrschafts- und Gesellschaftsverträge, die letztlich die bestehende soziale Ordnung zumindest ihrem Wesen nach erklären sollten, erfuhren so ihre naturrechtliche Legitimation.68 Doch durch Rousseaus moralisches Postulat einer in die soziale Entwicklung eingebetteten Genesis des Bösen ergibt sich eine gänzlich andere Sicht. Eine Sicht, die zwar Naturzustand und Gesellschaft ebenfalls in zeitlicher Abfolge betrachtet, sie aber – wie wir bereits sahen – gleichzeitig als fortwirkenden Gegensatz behandelt, ihre wechselseitige Negation der Zeitlichkeit enthebt. Entsprechend diesem Kerngedanken der Anthropologie Rousseaus dauert dieser Gegensatz an als ständige Auflehnung des Natürlichen gegen das Künstliche, als Hilferuf des Gewissens gegenüber der Wissenschaft und als fortdauernder Kampf der Gerechtigkeit gegen das bestehende Recht, wie dies der Schlusssatz des Discours sur l’inégalité noch einmal betont hatte  : 66 J.-J. Rousseau, Lettre à C. de Beaumont. In  : J.-J. Rousseau, Œuvres complètes, Bd. IV, Paris 1969, S. 966/967 (Hervorhebungen R. Bach). 67 Hierbei handelt es sich um den programmatisch einleitenden ersten Satz des philosophischen Hauptwerkes von Rousseau, Emile, ou de l’éducation (1762)  : »Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht  ; alles verdirbt unter den Händen des Menschen.« (Übersetzung nach Stefan Zweig, Jean-Jacques Rousseau. Émile oder Über die Erziehung, Potsdam 1919). 68 Vgl. dazu u. a. Terrel, Les théories du pacte social.

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Puisqu’il est manifestement contre la Loi de Nature, de quelque manière qu’on la définisse, qu’un enfant commande à un vieillard, qu’un imbécille conduise un homme sage, et qu’une poignée de gens regorge de superfluités, tandis que la multitude affamée manque du nécessaire.69

Die Entstehung des ländlichen Eigentums und seine rechtliche Sanktionierung durch einen Gesellschaftsvertrag war in dieser geschichtsphilosophischen Perspektive zum Sündenfall der menschlichen Geschichte geraten. Ein Sündenfall auch des menschlichen Geistes, der Bildung und der Sprache, weil die Lüge im Gewand der Redlichkeit das Unrecht besiegelt, der Kluge über den Einfältigen und der Betrug über die Gerechtigkeit ein für alle Mal triumphiert hatten.70 Der im Fortschrittskonzept der Enzyklopädie verankerten Überzeugung von der Linearität des Zusammenhangs von Wissenschaft und Moral, Bildung und Weltverbesserung war damit widersprochen worden. Denn in der gezeigten Logik brachte der Fortschritt soziale Unterdrückung und politisches Unrecht hervor, die ihrerseits mit der Freiheit des Einzelnen (Rousseau nennt sie die »edelste der menschlichen Eigenschaften«71) schließlich auch dessen menschliche Würde und jegliche Moral untergraben sollten. Denn moralisches Handeln als oberstes Gebot der Menschenwürde72 war für Rousseau untrennbar an die Freiheit des Willens und der Willensentscheidung gebunden  : »C’est ôter toute moralité à ses actions que d’ôter toute liberté à sa volonté.«73 Ein Verzicht auf diese Freiheit sei daher unverträglich mit Menschenwürde und Menschenrecht  : »Renoncer à sa liberté c’est renoncer à sa qualité d’homme, aux droits de l’humanité.«74 Dennoch aber ist Rousseaus Sozialphilosophie kein anarchischer, kein historisch rückwärtsgewandter Akt, wie es von zeitgenössischen und späteren Spöttern und Gegnern Rousseaus mit der stigmatisierenden Formel »Zurück zur Natur« häufig unterstellt wurde.75 Denn die Suche nach den Möglichkei69 Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité, S. 194 (Hervorhebung R. Bach). 70 Ebenda, S. 177. 71 Ebenda, S. 183  : »la liberté étant la plus noble des facultés de l’homme«. 72 »Hommes, soyez humains, c’est votre premier devoir.« Rousseau, Œuvres complètes, Bd. IV, S. 302. 73 Rousseau, Du Contrat social, S. 356. 74 Ebenda. 75 Einer der bekanntesten Spötter in diesem Sinne war Voltaire. In einem Brief vom 30. August 1755, mit dem er sich für die Übersendung eines Exemplars des Discours sur l’inégalité bedankt, schreibt er u. a.: »Ich habe, Monsieur, Ihr neues Buch gegen das menschliche Geschlecht erhalten, ich danke Ihnen dafür. (…) Man hat niemals so viel Geist darauf verwandt, uns zu dummen Tieren zu erklären. Wenn man Ihr Buch liest, bekommt man Lust, auf allen Vieren zu laufen.« (Übersetzung R. Bach). Quelle  : http://tecfa.unige.ch/proj/rousseau/voltaire.htm (letzter Zugriff  : 10. April 2018).

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ten einer gerechteren sozialen Ordnung, das Bemühen um eine Demokratisierung der Aufklärung und um eine nach modernem bürgerlichen Verständnis der Würde und Freiheit des Menschen angemessene Erziehung, die Rousseau wie kein anderer Zeitgenosse mit revolutionären Ideen und Konzepten befruchtete, machte diesen Kritiker der Aufklärung in letzter Konsequenz zu ihrem wichtigsten Verbündeten. Kein »Zurück zur Natur  !« im anachronistischen Sinn wird daher dem philosophischen Bemühen Rousseaus gerecht, wohl aber ein »Zurück zur Menschennatur  !« als wesentliches Ziel der Erziehung und Bildung des Einzelnen und der Errichtung einer auf Solidarität statt auf Egomoral gründenden gesellschaftlichen Ordnung. Der enge Zusammenhang der pädagogischen und der politischen Philosophie Rousseaus liegt hier begründet. Platon gilt ihm in dieser Hinsicht als Vorbild  : Si l’on veut prendre une juste idée de l’institution publique il faut lire la Republique de Platon. Ce livre n’est point un ouvrage de politique comme le pensent ceux qui ne jugent des livres que par leurs titres, c’est le plus beau traitté d’éducation qui jamais ait été fait.76

Gleichwohl aber ist Rousseau gezwungen, seinen auf eine umfassende menschliche und gesellschaftliche Regeneration zielenden Ansatz in zwei gänzlich verschiedenen Grundlagenwerken, dem Emile und dem Contrat social, zu verhandeln, deren inhaltliche Korrelation erst unter Bezugnahme auf seine anthropologischen und geschichtsphilosophischen Grundsätze erkennbar wird. Zwar enthalten beide Texte gleichermaßen Überlegungen zur politischen Philosophie wie auch zu Fragen der Erziehung und Bildung der Menschen, doch im zeitgenössisch angesiedelten Emile kann es nicht um staatsbürgerliche Erziehung gehen, ebenso wenig wie in der Zukunftsvision des Contrat social um zeitgenössische Politik. Denn was einen aktuellen Zusammenhang von staatsbürgerlicher Erziehung und Politik angeht, urteilt Rousseau mit der stets gleichen schonungslosen Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft  : »L’institution publique n’existe plus ni ne peut plus exister. Parce qu’il n’y a plus de patrie, il ne peut plus y avoir de Citoyens. Il faut rayer ces deux mots des langues modernes.«77 »J’ai reçu, Monsieur, votre nouveau livre contre le genre humain  ; je vous en remercie (…). On n’a jamais employé tant d’esprit à vouloir nous rendre Bêtes. Il prend envie de marcher à quatre pattes quand on lit votre ouvrage.« 76 J.-J. Rousseau, Emile (Manuscrit Favre). In  : Rousseau, Œuvres complètes, Bd. IV, S. 58–59. 77 Ebenda, S. 59. (Interessant ist dabei, dass Rousseau die Bezeichnung »institution publique« mit der gleichen Semantik, im Sinne einer »öffentlichen Erziehung«, verwendet wie Montaigne in seinen

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Auch hier setzt Rousseau also dem auf einen linearen Zusammenhang zwischen Bildung und gesellschaftlicher Veränderung zielenden Selbstverständnis der Aufklärung eine deutlich differenzierende Alternative entgegen. Der scheinbare Widerspruch, der sich in seiner Philosophie schließlich zwischen der politischen Freiheit des Staatsbürgers und einem in puncto Erziehung vormundschaftlichen Staat ergibt, ist ebenfalls nur ein Ausdruck dieser differenzierenden Herangehensweise Rousseaus. Seinem bereits erwähnten prinzipiellen Bekenntnis, wonach der Verzicht auf Freiheit dem Verzicht auf Menschenwürde und Menschenrecht gleichkäme,78 steht die angestrebte Verwandlung des Menschen (homme) in den Staatsbürger (citoyen) und Patrioten nicht im Wege. Vielmehr bilden beide Zielsetzungen eine unauflösliche Einheit. Denn im gleichen Maße, wie sich der Staat mit der Verwirklichung der Volkssouveränität zum Vaterland (patrie) wandelt, wird aus dem einstigen Untertanen (sujet) der moderne Staatsbürger (citoyen) und Vaterlandsverteidiger (patriote). Rousseau formuliert dieses Ziel im Bewusstsein einer revolutionären, gar mit der Schöpfung selbst vergleichbaren Herausforderung  : Celui qui ose entreprendre d’instituer un peuple doit se sentir en état de changer, pour ainsi dire, la nature humaine  ; de transformer chaque individu, qui par lui-même est un tout parfait et solitaire, en partie d’un plus grand tout dont cet individu reçoive en quelque sorte sa vie et son être  ; d’altérer la constitution de l’homme pour la renforcer  ; de substituer une existence partielle et morale à l’existence physique et indépendante que nous avons tous reçue de la nature. Il faut, en un mot, qu’il ôte à l’homme ses forces propres pour lui en donner qui lui soient étrangeres et dont il ne puisse faire usage sans le secours d’autrui.79 Essais. Vgl. Montaigne, Les Essais, Livre I, Chap. XXVI, S. 154.) (Hervorhebungen R. Bach). 78 »[R]enoncer à sa liberté, c’est renoncer à sa qualité d’homme, aux droits de l’humanité«. Rousseau, Du Contrat social, S. 356. 79 Ebenda, S. 381/382. Karl Marx zitiert die gesamte Passage in seiner philosophischen Schrift Zur Judenfrage, beginnend mit den Worten  : »Die Abstraktion des politischen Menschen schildert Rousseau richtig also  : Celui qui ose  …« Und er kommentiert sie wie folgt  : »Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. (…) Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ›forces propres‹ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.« (Hervorhebungen im Original). In  : Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 370.

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Das utopisch anmutende Ziel, die Natur des Menschen durch seine Verwandlung in ein bewusst solidarisch denkendes, dabei seinem Gewissen folgendes Mitglied der Gesellschaft (gedacht als sich selbst verwaltende, im politischen Sinn hierarchiefreie Ordnung) zu verändern, wie es Rousseau in den verschiedensten Zusammenhängen und Formulierungen beschwört, kann folglich nur sehr bedingt mit der Bildungsoffensive der Aufklärung verglichen werden. Dies gilt insbesondere, wie noch zu zeigen ist, für den Gegensatz zwischen der physiokratisch inspirierten instruction publique, die – mit Blick auf Rousseaus Theorie  – erklärtermaßen keine politische Verwandlung des Menschen anstrebt,80 und der ethisch motivierten éducation, wie sie Rousseau, Kant, Fichte und andere Kritiker des Utilitarismus fordern. Dabei ergibt sich Rousseaus Abgrenzung vom Konzept der bloßen instruction aus seiner bereits im ersten Discours geäußerten Überzeugung, wonach die bloße Ausdehnung des Wissens nur das jeweils partikulare Selbstbewusstsein stärkt, das sozialpolitisch bedingte Gegeneinander partikularer Interessen jedoch nicht in Frage stellt. In Wahrheit handelt es sich also auch hier um eine moralphilosophische Zäsur, die die Aufklärung spaltet. Doch der eigentliche Sinn der visionären Zielsetzung Rousseaus erklärt sich erst vor dem Hintergrund seiner Theorie der menschlichen Entfremdung. Denn die Richtung, in die alles reformerische Bemühen um eine moralische Veredelung des Menschen und eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft zielen musste, konnte nur im Sinne einer in die Zukunft weisenden Aufhebung der als widernatürlich empfundenen Entfremdung des Menschen, im Sinne einer moralischen Renaissance, einer Freisetzung der Menschennatur definiert werden. Insofern kann dieser Prozess auch unter Bezugnahme auf die in Rousseaus Anthropologie und Geschichtsphilosophie als historisch notwendig definierten Fluchtpunkte der Menschheitsentwicklung erklärt werden. Ebenso erklärt sich auf diese Weise das Konzept der éducation négative, der »negativen Erziehung«, wie es im Emile entwickelt wird, und nichts anderes meint deren Fortentwicklung  : sei es auf der zeitgenössisch-individuellen Ebene durch die moralischen Unterweisungen des Vicaire savoyard im vierten Buch des Emile, sei es auf der visionär-politischen Ebene durch den philosophischen Kerngedanken des Contrat social über den Begriff der aliénation totale  : Beide Konzepte verweisen in der Perspektive Rousseaus – eingedenk seines Glaubens an die moralische Unfehl80 So lesen wir in der wichtigsten politischen Programmschrift des physiokratischen Liberalismus, bei Le Mercier de la Rivière, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 62  : »Ainsi ne croyez pas que pour établir cet ordre essentiel, il faille changer les hommes et dénaturer leurs passions  ; il faut au contraire intéresser leur passions, les associer à cet établissement« (Hervorhebungen R. Bach).

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barkeit der Schöpfung, also das ursprünglich Gute im Menschen – auf den unauflösbaren Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Prägung des Menschen und der menschlichen Prägung der Gesellschaft. »Les clauses de ce contract«, scheibt Rousseau im Kapitel VI des Contrat social, sont tellement déterminées par la nature de l’acte, que la moindre modification les ren­droit vaines et de nul effet (…). Ces clauses bien entendues se réduisent toutes à une seule, savoir l’aliénation totale de chaque associé avec tous ses droits à toute la communauté.81

Auf der Ebene des politischen Rechts soll die hier geforderte Wandlung des homme in den citoyen insofern als eigentliche Befreiung im Sinne politischer Selbstbestimmung verstanden werden, als sie – wie bereits mehrfach betont – jegliche politische Hierarchie, damit auch alle Formen politischer Unterdrückung beendet. Der Gleichheitsbegriff in seiner politischen Dimension wird auf diese Weise zum integralen Bestandteil und zur conditio sine qua non des politischen Freiheitsbegriffs, wie er sich im Contrat social präsentiert. Entsprechend eindeutig sind Formulierungen, mit denen Rousseau diesen Zusammenhang bekräftigt  : Si l’on recherche en quoi consiste précisément le plus grand bien de tous, qui doit être la fin de tout sistême de législation, on trouvera qu’il se réduit à ces deux objets principaux, la liberté, et l’égalité. La liberté, parce que toute dépendance particuliere est autant de force ôtée au corps de l’Etat  ; l’égalité, parce que la liberté ne peut subsister sans elle. J’ai déjà dit ce que c’est que la liberté civile  ; à l’égard de l’égalité, il ne faut entendre par ce mot que les degrés de puissance et de richesse soient absolument les mêmes, mais que, quant à la puissance, elle soit au dessous de toute violence et ne s’exerce jamais qu’en vertu du rang et des loix, et quant à la richesse, que nul citoyen ne soit assez opulent pour en pouvoir acheter un autre, et nul assez pauvre pour être contraint de se vendre.82

Letztendlich geht es Rousseau um die grundlegenden Prinzipien politischer Selbstbestimmung, die mit der Zurückweisung jeglicher politischer Hierarchie den Begriff des Volkes als einer politischen Körperschaft neu konstituieren und damit den modernen Begriff der Volkssouveränität überhaupt erst begründen. Selbstbestimmt, autonom agierend, ist im Sinne des Rousseau’schen Freiheitsbegriffs demnach ein Volk, das nur denjenigen Gesetzen folgt, denen es sich in 81 Rousseau, Du Contrat social, S. 360 (Hervorhebung R. Bach). 82 Ebenda, S. 391/392 (Hervorhebungen im Original).

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freier Selbstbestimmung unterworfen hat  : »Le Peuple soumis au loix en doit être l’auteur.«83 Der legislative Akt ist folglich eine souveräne Entscheidung im politischen Sinn des Wortes und er begründet den Gesetzesbegriff als eine jeglichem Partikularinteresse überhobene Kategorie  : »Quand tout le peuple statue sur tout le peuple c’est cet acte que j’appelle une loi.«84 Was sich in diesem Verständnis des legislativen Aktes als uneingeschränkte Selbstbestimmung umsetzt, folgt somit ebenfalls der grundlegenden Absicht Rousseaus, die Freiheit in einem zutiefst moralischen Sinn als politische Bedingung der Menschenwürde zu etablieren  : »(…) la liberté morale (…) seule rend l’homme vraiment maitre de lui  ; car l’impulsion du seul appetit est esclavage, et l’obéissance à la loi qu’on s’est prescritte est liberté.«85 Auch die Festlegung des Staatsbürgers (citoyen) auf seine Teilhabe an der politischen Souveränität einerseits, das Befolgen der eigenen Willensentscheidung andererseits, illustriert dieses Konzept  : »(…) ces mots de sujet et de souverain86 sont des correlations identiques dont l’idée se réunit sous le seul mot de Citoyen.«87 Ihre logische Verknüpfung im Sinne eines begrifflichen Zentrums finden diese Überlegungen Rousseaus im Entwurf der so genannten volonté générale, das heißt im Konzept eines Gemeinwillens, der das Volk in eine autonom handelnde, insofern moralisch zu fassende, politisch souveräne Körperschaft (»corps moral et collectif«88) verwandelt. Ein wesentlicher Unterschied gegenüber allen herkömmlichen Ideen einer Bündelung partikularer Interessen, Stimmen oder Einzelwillen, das heißt gegenüber jeglicher ›Mehrheitsphilosophie‹, besteht hierbei darin, dass die volonté générale in einer dem Gesetzesbegriff Rousseaus vergleichbaren Weise ausschließlich dem Gemeininteresse (»intérêt général«) Ausdruck verleiht. Das Gemeininteresse spiegelt in der Sichtweise Rousseaus aber ebenso wenig eine bloße Addition partikularer Interessen wider, wie die volonté générale eine Summe partikularer Willen verkörpert. Letztere fasst Rousseau im Begriff der volonté de tous, die ihrem Wesen nach lediglich eine Vervielfältigung partikularer Interessen darstellt. Zu ihrer Bildung bedürfte es keiner aliénation totale, das heißt keiner Entfremdung des im Partikularinteresse befangenen homme in den vom intérêt général inspirierten citoyen. Doch trotz dieses qualitativen Unterschieds, den Rousseau zwischen einem egoistisch getriebenen 83 Ebenda, S. 380. 84 Ebenda, S. 379. 85 Ebenda, S. 365. 86 (Hervorhebung im Original). 87 Ebenda, S. 427. 88 Ebenda, S. 361.

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Partikularinteresse und einem der Vaterlandsliebe und dem Gemeinwohl verpflichteten intérêt général entwickelt, folgt die organizistische Vorstellung des peuple als einer moralisch handelnden politischen Körperschaft (corps politique) letztlich dem Modell individueller Willensbildung. Denn genau daraus leitet Rousseau die politisch brisante Eigenart der volonté générale ab, nämlich ihre Unteilbarkeit und ihre Unveräußerlichkeit. Je dis donc que la souveraineté n’étant que l’exercice de la volonté générale ne peut jamais s’aliéner, et que le souverain, qui n’est qu’un être collectif, ne peut être représenté que par lui-même  ; le pouvoir peut bien se transmettre, mais non pas la volonté. (…) Par la même raison que la souveraineté est inaliéanble, elle est indivisible. Car la volonté est générale, ou elle ne l’est pas  ; elle est celle du corps du peuple,89 ou seulement d’une partie. Dans le premier cas cette volonté déclarée est un acte de souveraineté et fait loi  : Dans le second, ce n’est qu’une volonté particuliere, ou un acte de magistrature  ; c’est un décret tout au plus.90

Die Folgen einer in dieser Weise konzipierten Herleitung und philosophischen Bestimmung der politischen Macht sind äußerst weitreichend. Zum einen ergibt sich aus diesem Ansatz die prinzipielle Unmöglichkeit der Repräsentation, das heißt einer Stellvertretung der politischen Macht, des souveränen Willens. Daraus folgt zum anderen eine ebenso prinzipielle Trennung der Begriffe Regierung und politische Souveränität, wobei die Regierungsebene lediglich mit dem Befug der exekutiven Gewalt ausgestattet wird, während die legislative Gewalt beim politischen Souverän, das heißt im Volk verbleibt. Damit widerspricht Rousseau auch in dieser Hinsicht all denjenigen politischen Theorien, die Legislative und Exekutive – ob als getrennte oder vereinte Gewalten  – stets als Teile der politischen Souveränität gefasst hatten. Ebenso neuartig ist die Zurücknahme jeglichen Gedankens an eine politische Hierarchie, die bis dato unverzichtbare Grundlage aller existierenden Konzeptionen des politischen Rechts gewesen war. In dieser Tradition hatte auch Montesquieu noch den Begriff des droit politique, des politischen Rechts, als »loi dans le rapport qu’ont ceux qui gouvernent avec ceux qui sont gouvernés«,91 das heißt als gesetzliches Regelwerk zwischen Regierenden und Regierten definiert. Doch ein von politischer Gleichheit getragener Zusammenschluss freier Staatsbürger, deren Ge89 Hervorhebung R. Bach. 90 Ebenda, S. 368, 369. 91 Montesquieu, De l’esprit des lois, Bd. I, S. 93 (Hervorhebungen R. Bach).

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meinwille – wie von Rousseau im Contrat social gefordert – die politische Souveränität, das heißt die gesetzgebende und staatstragende Gewalt verkörpert, bietet keinerlei Raum für eine Hierarchisierung des politischen Rechts. Vielmehr eröffnet er, als legitime Konsequenz, die praktische Möglichkeit der zu jeder Zeit denkbaren Amtsenthebung einer Regierung  : A l’instant que le Peuple est légitimement assemblé en corps Souverain, toute jurisdiction du Gouvernement cesse, la puissance éxécutive est suspendue, et la personne du dernier Citoyen est aussi sacrée et inviolable que celle du premier Magistrat, parce qu’où se trouve le Réprésenté, il n’y a plus de Réprésentant.92

Es erscheint müßig, auf die revolutionäre Brisanz dieses theoretischen Ansatzes zu verweisen, der unter gegebenen Umständen eine immer wiederkehrende Aktualität besitzt. Denn ohnehin wird die politische Philosophie Rousseaus ständig neu auch als Herausforderung für das Selbstverständnis moderner Zivilgesellschaften begriffen beziehungsweise findet die Debatte zu diesen Themen und Positionen ihren Niederschlag in der modernen Rousseauforschung.93

92 Rousseau, Du Contrat social, S. 427/428. 93 Ein Beispiel hierfür liefern die Arbeiten des Friedensforschers Gabriel Galice, dessen 2012 veröffentlichtes (und mit dem berühmten Prix de l’Académie de Dijon geehrtes) Buch Penser la République, la guerre et la paix sur les traces de Jean-Jacques Rousseau die globalen Herausforderungen unserer Zeit im Lichte der politischen Philosophie Rousseaus analysiert. Vgl. auch  : R. Bach/T. L’Aminot (Hrsg.), Rousseau et l’Allemagne à l’époque contemporaine. (De Cassirer à Jünger et Hentig). Actes du Colloque international de l’Université de Greifswald (23–25 avril 2009), Montmorency 2010. Und  : R. Bach/C. Labro/T. L’Aminot (Hrsg.), Rousseau et la Guerre froide (1945–1991). Actes du Colloque international de l’Université de Greifswald (04.–05. Oktober 2012). Rousseau Studies, No. 4. Genf 2016. Ferner  : Modernités de Rousseau. In  : Lumières, No. 15, 2010. L. Vincenti (Éd.), Rousseau et le marxisme. Actes du colloque du 16 mai 2009, Publications de la Sorbonne, Série Philosophie 31, Paris 2011.

6 Die Weiterentwicklung der physiokratischen Lehre  : Eine neue Lesart des Droit naturel

Mit dem Auftauchen und der raschen Verbreitung der Ideen Rousseaus entstand spätestens in den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts ein nachhaltig wirkender demokratischer Impuls im politischen Diskurs der Aufklärung. Zwar waren der traditionellen Naturrechtslehre, wie sie mit Burlamaquis Principes du Droit Naturel1 im Jahre 1747 einen vorläufigen Abschluss gefunden hatte, in Gestalt des Esprit des lois von Montesquieu und der zehn Jahre später proklamierten Science générale du gouvernement von Quesnay bereits eine aristokratische und eine liberale Alternative entgegengetreten. Doch die radikaldemokratischen Vorstellungen Rousseaus sollten den politischen Blickwinkel der Aufklärung von Grund auf verändern und sich gleichsam gegenüber jedweder Doktrin der zeitgenössischen Science politique als eine Herausforderung der besonderen Art erweisen. Und wieder ist es die äußerst flexible Denkschule Quesnays, die – jenseits der bereits gezeigten Zurückweisung der wichtigsten politischen These Montesquieus  – sowohl auf den Einbruch der radikalen Ideen Rousseaus antwortet als auch Lesart und Geltungsbereich der traditionellen Naturrechtslehre neu definiert. In umfassender Weise geschieht dies zwar erst mit der Publikation des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques im Jahre 1767 aus der Feder von Le Mercier de la Rivière. Doch einen wichtigen Schritt in diese Richtung unternimmt bereits der Begründer des physiokratischen Liberalismus selbst mit der schon erwähnten, 1765 erscheinenden Abhandlung Le Droit Naturel 2. Wie der Titel bereits ahnen lässt, verbindet Quesnay damit keinen geringeren Anspruch als den einer Integration der Naturrechtslehre in die Perspektive der von ihm entwickelten Science générale du gouvernement. Zum einen zielt dieses Vorhaben auf eine Weiterentwicklung seiner im Grunde sozialökonomischen Theorie zu einer umfassenden politischen Philosophie, die als solche Anerkennung einfordert  : Eine reformierte Naturrechtslehre schien sich hierfür anzubieten. Zum anderen folgt aus dieser fachlichen Vereinnahmung aber auch eine radikale Umgestaltung naturrechtlicher Begriffe und Vorstellungen. Tatsächlich entsteht auf diese Weise 1 J.-J. Burlamaqui, Principes du Droit Naturel, Genf 1747. 2 Vgl. zur Geschichte und den Editionsumständen dieses Textes die außergewöhnlich reichhaltige Dokumentation von Auguste Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 359– 363.

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zunächst ein theoretisches Konglomerat, das sich jedoch in kürzester Zeit unter wechselnden Namen (Science nouvelle, Physiocratie, Sciences morales et politiques) zur umfassenden Gesellschaftslehre des modernen ökonomischen und politischen Liberalismus weiterentwickeln sollte. Den wichtigsten Zwischenschritt dorthin bildet ohne Zweifel die erwähnte, auf fünf Kapitel bemessene Abhandlung Le Droit Naturel aus dem Jahre 1765. Quesnay rückt hierin den Begriff der »natürlichen Menschenrechte« erstmals ins Zentrum der Argumentation, begründet von diesem Punkt ausgehend eine neue, ganz bewusst auch als neuartig ausgegebene Lesart des Naturrechts. Er führt den Begriff der »natürlichen Menschenrechte«, der Droit(s) naturel(s) de(s)(l’) homme(s) zuerst zurück auf die naturgegebene Legitimität der Befriedigung elementarer, das heißt lebenserhaltender menschlicher Bedürfnisse  : »Le Droit Naturel de l’homme peut être défini vaguement le droit que l’homme a aux choses propres à sa jouissance«3 … und spricht konkretisierend vom »droit naturel à la subsistance«4. Alle herkömmlichen Definitionen des Naturrechts werden dagegen im gleichen Zusammenhang als absurde »Paralogismen« verworfen.5 Hieran anschließend erläutert Quesnay den abstrakten Grundbegriff eines ordre naturel, den er – unter Bezugnahme auf die Lebensrechte eines Kindes und die daraus resultierenden elterlichen Pflichten  – mit dem ebenfalls naturgesetzlich verstandenen Begriff eines ordre de la justice verbindet. Die solcherart definierte Grundlage eines Naturrechts wird schließlich unmittelbar auf das Zivilrecht übertragen. Dass damit bewusst der Rahmen überkommener Definitionen des Naturrechts gesprengt werden soll, belegt die nachfolgende Präzisierung eines zivilrechtlich verorteten Begriffs der Gerechtigkeit  : »Si on me demande ce que c’est que la justice, je répondrai que c’est une règle naturelle et souveraine, reconnue par les lumières de la raison, qui détermine évidemment ce qui appartient à soi-même ou à un autre.«6 Gerechtigkeit, als moralische Grundlage aller zivilen Rechtsordnung, wird so als eine »natürliche Regel« definiert, die mit dem ebenfalls als »natürlich« angenommenen Eigentumsbegriff kurzgeschlossen ist. Wie bei allen Naturgesetzen üblich, hat die praktische Umsetzung dieser Regeln und Begriffe eines Naturrechts lediglich deren »evidente« Wahrnehmung zur Voraussetzung. Diese Art einer in Teilen cartesianisch an3 Quesnay, Le Droit Naturel. In  : Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 359 (Hervorhebung im Original). 4 Ebenda, S. 365. 5 Ebenda, S.  364  : »Ainsi les philosophes se sont arrêtés au paralogisme, ou argument incomplet, dans leurs recherches sur cette matière importante, qui est le principe naturel de tous les devoirs de l’homme réglés par la raison.« 6 Ebenda, S. 365 (Hervorhebung im Original).

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mutenden Argumentation sollte sich fortan als beispielgebend für die stereotyp doktrinäre Sprache der Physiokraten erweisen. Kapitel II der Neubegründung des Droit naturel wendet sich dem Geltungs­ bereich der natürlichen Menschenrechte zu.7 Im Unterschied zum angeblich willkürlichen droit légitime (oder droit décerné par les lois humaines), das sich, so Quesnay, in einer Vielzahl widersprüchlicher und absurder Gesetze (la multitude des lois contradictoires et absurdes) darstelle, behalte das droit naturel de l’homme, das »natürliche Menschenrecht«, prinzipiell seine Gültigkeit in Gestalt bestimmter règles immuables de la justice et de l’ordre naturel le plus avantageux à la société. Auch diese Formulierung Quesnays, mit der seine Auffassung des Naturrechts, wie bereits gezeigt, – ähnlich den Naturgesetzen selbst – zur unabwendbaren Grundlage jeder von Vernunft und Evidenz getragenen gesellschaftlichen Rechtsordnung erhoben wird, sollte in der Folge zu einem Stereotyp des physiokratischen Diskurses werden. Kritisiert werden im gleichen Atemzug all diejenigen Philosophen, die den Naturzustand, wie auch das Naturrecht, zeitlich begrenzt und durch die gesellschaftliche Existenz der Menschen sowie deren staatliche Rechtsetzung abgelöst oder eingeschränkt sähen. Denn die entscheidende Frage der Legitimität von Eigentum stelle sich in der Zivilgesellschaft auf genau die gleiche Weise wie im Naturzustand, nämlich ausschließlich in Abhängigkeit von der geleisteten Arbeit. »Le droit naturel de chaque homme se réduit dans la réalité à la portion qu’il peut se procurer par son travail.«8 Hier ist zu bemerken, dass es sich nicht nur gegenüber der herkömmlichen Naturrechtslehre um eine Antithese hinsichtlich des Verhältnisses von Naturzustand und Zivilgesellschaft handelt, sondern auch gegenüber der Anthropologie Rousseaus. Denn die von Quesnay und Rousseau gleichermaßen angenommene Koexistenz von Natur und Gesellschaft folgt voneinander verschiedenen, genauer gesagt gegensätzlichen ethischen Prämissen. Rousseaus Vision einer von Solidarität und staatsbürgerlicher Gesinnung geprägten Gesellschaft gründete, trotz der Annahme einer durch die soziale Ungleichheit verursachten Entfremdung, auf dem Fortbestand der ursprünglichen sociabilité des Menschen. Dieser Position ist der strategische Ansatz einer éducation négative ebenso geschuldet wie die in die Zukunft weisende Idee einer durch staatsbürgerliche Erziehung zu erreichenden Verwandlung des im Partikularinteresse befangenen homme in den politisch emanzipierten citoyen. So entspringt Rousseaus Konzept der aliénation totale im Contrat social letztlich der Idee einer zukünftigen Versöhnung von 7 Ebenda, »Chapitre II, De l’étendue du droit naturel des hommes«. 8 Ebenda, S. 366.

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Natur und Gesellschaft durch die Wiedergewinnung des natürlichen Gemeinschaftsgeistes der Menschen auf einer geschichtlich geläuterten, daher moralisch höher stehenden Stufe der menschlichen Zivilisation.9 Die physiokratische Vision hingegen, die ebenfalls von einem Fortbestand natürlicher Veranlagungen des Menschen ausgeht und daher ihrerseits die Wiedervereinigung von Natur und Zivilgesellschaft über die Durchsetzung eines ordre naturel anstrebt, unterstellt ein gänzlich anderes Menschenbild. Es erklärt individuelles Vorteils- und Besitzstreben zur eigentlich natürlichen Veranlagung des Menschen und sieht im gesellschaftlichen Zusammenschluss lediglich ein notwendiges Instrument zur gegenseitigen  – und schließlich staatlich sanktionierten – Wahrung partikularer Interessen auf der Grundlage des Eigentumsrechts. So gilt den Physiokraten der Schutz des Eigentums als natürlicher und sogar letztendlicher Zweck jeder Gesellschaft. Freie Konkurrenz aller partikularen Interessen sowie eine marktwirtschaftliche Ordnung erscheinen auf diese Weise als zivilgesellschaftliche Umsetzung des in der Schöpfung angelegten ordre naturel. Kapitel III setzt diese Logik der Argumentation Quesnays fort, indem hier die soziale Ungleichheit als logische Folge des droit naturel des hommes festgestellt wird. Sie ergebe sich aus der Ungleichheit legitimen Besitzes, die ihrerseits zunächst auf der Ungleichheit körperlicher und geistiger Voraussetzungen der Menschen gründe. Quesnay nennt diesen Zusammenhang auch »une grande inégalité relativement à la jouissance du droit naturel des hommes«.10 So seien physisches und moralisches Wohl und Weh gleichermaßen eine unerbittliche Folge der Schöpfung, des »(…) ordre des lois physiques qui constituent l’univers. Le bien physique et le mal physique, le bien moral et le mal moral ont donc évidemment leur origine dans les lois naturelles.«11 Als einen weiteren Grund für die dem ordre naturel entsprechende und entspringende Ungleichheit unter den Menschen nennt Quesnay den richtigen oder falschen Gebrauch, den die Menschen von ihrer Freiheit, dem »attribut constitutif de l’homme«12 machten. Denn da die Gesellschaft auf Konventionen gründe, die den gegenseitigen Vorteil zum Ziel hätten (»conventions pour leur avantage réciproque«13), sei es dem Gebrauch der eigenen Intelligenz und des eigenen Fleißes, das heißt also dem »richtigen« Gebrauch der Freiheit anheimgestellt, den größtmöglichen Vorteil   9 Vgl. Abschnitt 5.2 in diesem Buch. 10 Quesnay, Le Droit Naturel. In  : Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 368. 11 Ebenda, S. 370. 12 Ebenda, S. 369. 13 Ebenda, S. 368.

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aus diesen Konventionen zu ziehen  : »retirer le plus grand avantage possible«.14 Dies aber setze voraus, dass die gesellschaftlichen Konventionen tatsächlich dem ordre naturel der hier vertretenen Naturrechtslehre folgen  : »(…) si la constitution de la société est conforme à l’ordre évidemment le plus avantageux aux hommes relativement aux lois fondamentales de leur droit naturel.«15 Mit dieser Argumentation wird ein Freiheitsbegriff begründet, der ökonomische und politische Aspekte miteinander verschränkt und seinerseits im Gedanken der Konkurrenz wurzelt. Es ist der Freiheitsbegriff des modernen Liberalismus, dem die Idee der commercial society innewohnt und der sich deutlich von vergleichbaren Auffassungen der herkömmlichen Naturrechtslehre und Moralphilosophie unterscheidet, übrigens auch von den Freiheitsbegriffen John Lockes und Montesquieus. Zwar hatte Locke, im Unterschied zur ausschließlich politischen Argumentation Montesquieus, die individuelle Glückssuche durchaus auch in einem ökonomisch aufzufassenden Sinn mit der Reflexion über den Freiheitsbegriff verbunden.16 Doch der Gedanke der Konkurrenz ist nicht Bestandteil seines Freiheitsbegriffs, der stattdessen eine moralphilosophische Ergänzung im Begriff des agent libre17 findet. Dieser von Locke wie von Rousseau gleichermaßen verwendete Begriff gründet die Idee der Freiheit auf das Konzept der freien Willensentscheidung. Für Rousseau verbindet sich mit diesem Aspekt des Freiheitsbegriffs gar der Ursprung aller Moralität und Menschenwürde, sofern diese freie Willensentscheidung keiner partikularen Zweckbindung unterliegt, keinem egoistischen Interesse folgt. Genau hier aber liegt einer der entscheidenden Reibungspunkte mit dem utilitaristischen Freiheitsbegriff Quesnays. Eine essayistisch ausgedehnte Anmerkung zu ebendieser Problematik unterschiedlicher beziehungsweise inkompatibler Auffassungen zum Freiheitsbegriff, die sich an dieser Stelle im Originaltext des Droit Naturel findet,18 lässt erkennen, dass sich Quesnay durchaus der philosophischen Dimension dieses Streitpunktes im Kontext der sich bereits abzeichnenden Ethikdebatte der Spätaufklärung bewusst war. Seine weit ausgreifenden Erläuterungen zum Freiheitsbegriff der von ihm vertretenen Naturrechtslehre lassen daher genau in die14 Ebenda, S. 371. 15 Ebenda, S. 368. 16 Locke, Essai philosophique concernant l’entendement humain, S. 206  : »la recherche du véritable et solide Bonheur … est le fondement nécessaire de notre liberté« und S. 209  : »le plus grand bonheur consiste dans la jouïïssance des choses qui produisent le plus grand plaisir…« 17 Ebenda, S. 206. 18 Quesnay, Le Droit Naturel. In  : Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, Anmerkung, S. 369–370.

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sem Sinne bereits den philosophischen Dissens erkennen, der den Utilitarismus Quesnays vom voluntaristisch-idealistischen Freiheitsgedanken Rousseaus und der daraus abgeleiteten Ethik Kants unterscheidet.19 So muss die Möglichkeit einer selbstlosen, also nicht am eigenen Vorteil orientierten Willensentscheidung, wie sie den ethischen Kern der Vorstellungen Rousseaus bildet, in der marktwirtschaftlich geprägten Logik Quesnays als Absurdität erscheinen. Denn der ›richtige‹ Gebrauch der Freiheit besteht für diese Logik eben im zielgerichteten Einsatz der eigenen Intelligenz zur Sicherung des »größtmöglichen Vorteils«  : »l’homme doué d’intelligence a la prérogative de pouvoir les contempler (les lois physiques qui constituent l’univers) et les connaître pour en retirer le plus grand avantage possible«.20 Wie später auch alle anderen Verfechter des Liberalismus, kritisiert Quesnay daher das Konzept einer über allen Zweckmotiven oder Interessen stehenden Freiheit des menschlichen Willens als unsinnige und absurde Vorstellung  : La LIBERTÉ est une faculté relative à des motifs excitants et surmontables, qui se contrebalancent et s’entr’affaiblissent les uns les autres, et qui présentent des intérêts et des attraits opposés que la raison plus ou moins éclairée et plus ou moins préoccupée examine et apprécie. (…) une faculté intellectuelle entre les motifs et la décision. (…) Dépouiller la volonté de l’homme de toutes causes déterminantes, pour le rendre libre, c’est annuler la volonté  ; car toute acte de la volonté est de vouloir une chose qui, elle-même, détermine la volonté à vouloir. Anéantir les motifs, c’est anéantir la liberté même (…).21

Zu politischen Schlussfolgerungen im engeren Sinn leitet Kapitel IV des Droit Naturel über. Natur und Gesellschaft werden hier zunächst als état de solitude und état de multitude gegenübergestellt. Diese ungewöhnliche Wortwahl, die die ansonsten übliche qualitative Entgegensetzung von Naturzustand und Gesellschaft vermeidet, unterstreicht auf ihre Art die beiden Zuständen innewohnende Kontinuität des Wirkens der Naturgesetze im Sinne des ordre naturel. So erscheint die physische Notwendigkeit der Selbsterhaltung22 als logisches Bindeglied zum familiären und gesellschaftlichen Zusammenschluss. Die sich daraus wiederum ergebende Frage der Verteilungsgerechtigkeit (»justice distributive«) stellt Ques19 Vgl. Kapitel 9 des vorliegenden Buches. 20 Quesnay, Le Droit Naturel. In  : Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 370/371 (Hervorhebung R. Bach). 21 Ebenda, S. 369/370 (Hervorhebungen im Original). 22 Ebenda, S. 371  : »Tout homme est chargé de sa conservation sous peine de souffrance.«

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nay – Familie und Gesellschaft als »Interessengemeinschaft« (»ceux qui vivent en communauté d’intérêts«) gleichsetzend und dem ordre naturel folgend – dem Recht des Stärkeren anheim. Il est de l’ordre naturel que le plus fort soit le chef de la famille  ; mais il n’est pas de l’ordre de la justice qu’il usurpe sur le droit naturel de ceux qui vivent en communauté d’intérêts avec lui. Il y a alors un ordre de compensation dans la jouissance du droit naturel de chacun qui doit être à l’avantage de tous les individus de la famille, et qui doit être réglé par le chef selon l’ordre même de la justice distributive, conformément aux devoirs préscrits par la nature, et par la coopération où chacun contribue selon sa capacité aux avantages de la société.23

Diese Argumentation Quesnays ebenso wie die darauf folgenden politisch relevanten Schlussfolgerungen sind exemplarisch für die zu diesem Zeitpunkt noch unausgereifte physiokratische Lehre. Erst in den zwei Jahre später erscheinenden Texten, insbesondere im Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier de la Rivière wird durch die Einbeziehung verfremdeter Begriffe aus Rousseaus Contrat social ein sehr viel höheres philosophisches Niveau erreicht sein. Indes leitet Quesnay die hier gezeigten Überlegungen zum Entstehen einer öffentlichen Ordnung unmittelbar über in die Begründung einer durch eine autorité tutélaire dominierten politischen Ordnung. Deren Legitimation sei gegeben durch das Anwachsen der Besitztümer und des Reichtums, deren Schutz allein durch Gesetze gesichert und von einer autorité souveraine garantiert werden könne  : Si leurs richesses de propriété étaient plus considérables et plus dispersées, (…) il leur faudrait alors des lois positives écrites ou de convention, et une autorité souveraine pour les faire observer (…) Ainsi les hommes qui se mettent sous la dépendance, ou plutôt sous la protection des lois positives et d’une autorité tutélaire, étendent beaucoup leur faculté d’être propriétaires  ; et par conséquent étendent beaucoup l’usage de leur droit naturel (…).24

Die politische Gesellschaft wird auf diese Weise zu dem eigentlichen Ort der Wirksamkeit der Naturgesetze und des ordre naturel, mithin des Naturrechts. Auf diese Grundaussage stützen sich die im abschließenden fünften Kapitel der Ab23 Ebenda, S. 372. 24 Ebenda, S. 373 (Hervorhebung R. Bach).

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handlung versammelten, eigentlich politischen Thesen, die bereits einen Kernbereich der Physiokratie umreißen. Demnach erscheint es unerheblich, in welcher staatlichen Form die politische Ordnung definiert ist, ob sie als »monarchische«, »aristokratische« oder »demokratische« Form daherkommt,25 weil allein der Schutz des Eigentums und der Freiheit die Gesellschaft vor Unterdrückung und Anarchie schützen kann (»car là où les lois et la puissance tutélaire n’assurent point la propriété et la liberté, il n’y a ni gouvernement ni société profitables, il n’y a que domination et anarchie sous les apparences d’un gouvernement«26). Dieser Regel zu folgen, das heißt eine auf die elementare Forderung nach Eigentum und Freiheit gegründete Politik zu betreiben, bedeutet in den Augen Quesnays, der Evidenz der Naturgesetze Geltung zu verschaffen. Diese hätten ihre Gültigkeit gleichermaßen im physischen wie im moralischen Bereich, was exakt der weiter oben beschriebenen, von d’Alembert im Discours préliminaire de l’Encyclopédie zum Ausdruck gebrachten wissenschaftlichen Erwartungshaltung der Zeitgenossen entsprach  : Les lois naturelles sont ou physiques ou morales. On entend ici par loi physique, le cours réglé de tout événement physique de l’ordre naturel évidemment le plus avantageux au genre humain. On entend ici par loi morale, la règle de toute action humaine de l’ordre morale conforme à l’ordre physique évidemment le plus avantageux au genre humain. Ces lois forment ensemble ce qu’on appelle la loi naturelle. Tous les hommes et toutes les puissances humaines doivent être soumis à ces lois souveraines, instituées par l’Etre suprême (…).27

Die positive Gesetzgebung, die in den Händen eines von der Gesellschaft, der Nation oder dem Volk klar zu unterscheidenden politischen Souveräns liegt,28 hat diese Naturgesetze in Gestalt einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung umzusetzen, die Freiheit, Eigentum und Sicherheit in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt.29 Sie hat überdies die Ordnung der Reproduktion und Distribution der

25 Diese Reihung bzw. Gliederung folgt dem auch von Montesquieu entworfenen Muster. 26 Ebenda, S. 374. 27 Ebenda, S. 374/375 (Hervorhebung im Original). 28 Vgl. ebenda, S. 376  : »ceux qui commandent« / »ceux à qui l’ordre social prescrit l’obéissance«. 29 Ebenda, S. 377  : »(…) l’autorité tutélaire (…) garantit, aux hommes réunis en société, la propriété de leurs richesses et la sûreté de leurs personnes  … Ces lois ne restreignent point la liberté de l’homme (…).«

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Reichtümer des Königreichs aufrechtzuerhalten,30 eingedenk der Tatsache, dass der Lebensunterhalt der Menschen und der Reichtum der souveränen Schutzmacht den eigentlichen Zweck der Gesellschaft bilden.31 So allgemein diese Formulierungen daherkommen, lassen sie doch den Grundriss eines neuartigen Politikverständnisses erkennen, das sich konsequent als eine Funktion marktwirtschaftlicher Überlegungen und ihrer soziologischen Konsequenzen darstellt. Dabei ist die Zurückweisung eines der Moralphilosophie entstammenden Politikverständnisses in Gestalt der eingeforderten Deutungshoheit gegenüber zeitgenössisch umstrittenen Begriffen  – beispielsweise das Verhältnis von Gemeinwohl zu Partikularinteresse betreffend  – von Anfang an ein sehr bewusster Bestandteil der Argumentation. Dieser Umstand erklärt überdies auch die im vorliegenden Text wiederholte Forderung, dem Thema der öffentlichen Bildung (»instruction publique«) – nicht zu verwechseln mit der von Rousseau propagierten éducation publique  – oberste Priorität einzuräumen, die »Einrichtung (Institution) der öffentlichen und privaten Belehrung über die Gesetze der natürlichen Ordnung«32 gar zur Grundlage aller positiven Gesetzgebung zu erheben. Quesnay erläutert diesen Zusammenhang wie folgt  : (…) la première loi positive, la loi fondamentale de toutes les autres lois positives, est l’institution de l’instruction publique et privée des lois de l’ordre naturel, qui est la règle souveraine de toute législation humaine et de toute conduite civile, politique, économique et sociale. Sans cette institution fondamentale, les gouvernements et la conduite des hommes ne peuvent être que ténèbres, égarements, confusion et désordres  ; car sans la connaissance des lois naturelles qui doivent servir de base à la législation humaine et de règles souveraines à la conduite des hommes, il n’y a nulle évidence de juste et d’injuste, de doit naturel, d’ordre physique et moral  ; nulle évidence de la distinction essentielle de l’intérêt général et de l’intérêt particulier (…).33

Die Deutlichkeit, mit der hier auf Inhalt und Ziel der instruction publique et privée hingewiesen wird, insbesondere die »grundlegende Unterscheidung von Allgemein- und Partikularinteresse« betreffend – wohlgemerkt, im Sinne der hier unterstellten Begrifflichkeiten –, ist dabei dem erwähnten ideengeschichtlichen 30 Ebenda, S. 376  : »l’ordre de la réproduction et de la distribution régulière et annuelle des richesses du territoire d’un royaume«. 31 Ebenda. »Le fondement de la société est la subsistance des hommes et les richesses nécessaires à la force qui doit les défendre«. 32 Ebenda, S. 375 (Übersetzung R. Bach). 33 Ebenda (Hervorhebung im Original).

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Kontext geschuldet. Sie verweist auf die sich abzeichnende Auseinandersetzung mit den gesellschaftskritischen Ideen Rousseaus, die in bisher unbekannter Schärfe das Verhältnis von intérêt général und intérêt particulier problematisiert und es gleichsam ins Zentrum der Gesellschaftskritik und einer alternativen politischen Ethik gestellt hatten. Denn wie bereits im Falle alternativer Definitionen des Freiheitsbegriffs berührt auch die Frage der Prioritätensetzung im Verhältnis von Partikularinteresse und Gemeinwohl den Kernbereich der Ethikdebatte der Spätaufklärung. Rousseaus Vorstellungen folgend, sollte die positive Aufhebung des Partikularinteresses im Gedanken des Gemeinwohls eine moralische Reform der Gesellschaft bewirken und auf diesem Weg – verbunden mit der Wandlung des Menschen (homme) in den Staatsbürger (citoyen) – auch das Wohlergehen jedes Einzelnen sichern. Doch diese Vorstellung erweist sich nun, in der Perspektive Quesnays, als inkompatibel mit dem Konkurrenzgedanken des ökonomischen und politischen Liberalismus. Denn dieser gründet zuerst auf der Sicherung des individuellen Vorteils, zugunsten der privaten Aneignung und der Vermehrung des Eigentums. Erst in zweiter Instanz, durch die Sicherung des »gegenseitigen Vorteils« (»avantage réciproque«) im gesellschaftlichen Tauschhandel34 und als Konsequenz der Anhäufung individuellen Reichtums, wird daraus das Gemeinwohl im Sinne wirtschaftlicher Prosperität des Staates abgeleitet. Das sich in diesem marktwirtschaftlichen Kontext erneut aufdrängende Thema der Verteilungsgerechtigkeit, der justice distributive, wird zwar auch hier angesprochen, findet aber keinerlei strategische Berücksichtigung. Sie bleibt im physiokratischen Discours substanzlos, da eine Einschränkung partikularen Gewinnstrebens mit Quesnays System ebenso unvereinbar wäre wie ein Plädoyer gegen die soziale Ungleichheit. Deren natürliche Legitimität zu beweisen gehört stattdessen zu den soziologischen Ausgangsüberlegungen der politischen Ökonomie Quesnays. Doch ebenhier ist durch die populär gewordenen Einlassungen Rousseaus vor dem Hintergrund der tief greifenden sozialen Probleme Frankreichs ein Reizthema der Spätaufklärung entstanden. Häufig auf Schlag34 Quesnay prägt den von allen physiokratischen Autoren übernommenen Begriff des »avantage réciproque«, um damit der physiokratischen Priorität des Partikularinteresses vor dem Gemeininteresse den Anschein der umgekehrten Logik einer im Mittelpunkt stehenden Sicherung des Gemeinwohls zu geben. Gleichzeitig wird damit  – entgegen allen herkömmlichen Deutungen der Naturrechtslehre – der Übergang vom Naturzustand in den Gesellschaftszustand als Erweiterung des Naturrechts erklärt  : »La jouissance de leur droit naturel doit être fort bornée dans cet état de pure nature (…). Lorsqu’ils entreront en société et qu’ils feront entr’eux des conventions pour leur avantage réciproque, ils augmenteront donc la jouissance de leur droit naturel (…).« Ebenda, S. 368 (Hervorhebung R. Bach).

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worte reduziert, werden die Themen ›soziale Ungleichheit‹, aber auch ›politische Freiheit‹, ›Recht und Gesetz‹ einer bürgerlichen Ordnung zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Wir werden in der Folge sehen, wie dabei den jeweiligen Schlagworten, je nach Wertungsperspektive der Argumentation, unterschiedliche Begriffe zugeordnet werden. Verwiesen sei jedoch bereits an dieser Stelle, im Zusammenhang mit der von Quesnay geforderten instruction publique, auf eine bislang völlig unerschlossene Fundgrube solcher Sprachmanipulationen, in denen sich die Ethikdebatte der Spätaufklärung spiegelt. Gemeint sind die unzähligen, meist als Hilfsmittel der angestrebten instruction publique verfassten Catéchismes der Bürgermoral,35 die – ursprünglich einer Anregung Turgots folgend36 – in großer Zahl vor allem zur Verbreitung der politischen Philosophie und Ethik des Liberalismus eingesetzt werden. Diese Texte erklären auf elementarster Verständnisebene, das heißt ganz und gar der Diktion ihrer religiösen Vorbilder folgend, die soziologischen Grundbegriffe physiokratischen Denkens, damit auch die Grundbegriffe einer atheistisch-utilitaristischen Moral. Es war Turgot, der in diesem Sinne einen »catéchisme de moral et de raison assés simple et assés clair pour qu’un bon curé pût l’enseigner au peuple«37 angeregt hatte, um dem in »tiefster Unwissenheit« und »Stupidität« verharrenden »größten Teil der Menschen« einige »klare und sichere Begriffe ihrer Interessen und Pflichten« zu vermitteln.38 Deren Kerngedanke, auch hieran lässt Turgot in seinem Entwurf des Jahres 1761 bereits keinerlei Zweifel, besteht in der für die physiokratische Schule so essentiellen Anerkennung der sozialen Ungleichheit  : (…) de la resulte une inégalité parce que chacun se fait payer a proportion de ce que son talent est evalué par ceux qui le payent, et chaque talent est nécessairement evalué en 35 Über die Suchmaschine »Gallica« der französischen Nationalbibliothek lassen sich für die Zeit der Spätaufklärung und der Französischen Revolution ca. einhundert dieser weltlichen »Katechismen der Bürgermoral« auffinden. Die meisten dieser Texte vermitteln in einem einfachen Frage- und Antwortschema die politisch-moralischen Grundbegriffe einer wirtschaftsliberalen Ordnung. Eine deutlich geringere Anzahl vermittelt republikanisches Denken im Sinne der jakobinischen Ideologie oder lediglich zur Erläuterung der verschiedenen Menschen- und Bürgerrechtserklärungen der Französischen Revolution. 36 Vgl. M. Fontius/B. Henschel, Turgots Konzeption eines Aufklärungskatechismus. Zu einer vergessenen Korrespondenz mit dem Abbé Millot. In  : Beiträge zur Romanischen Philologie, 1982, XXI, Heft 2, S. 205–232. 37 Ebenda, S. 227. 38 »[L]a plus grande partie des hommes sont abandonnés à l’ignorance la plus profonde et plongé dans une stupidité qui les rend malheureux (…) leur donner quelques notions un plus plus claires et plus sures de leurs interets et de leurs devoirs«, ebenda.

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raison de son utilité et de sa rareté, et pour vu que chacun soit libre d’exercer le talent qu’il veut, de recevoir de son bien ou de son travail le prix qu’il peut en trouver, et de s’adresser a qui il veut pour ce procurer les choses dont il a besoin, cette inegalité n’est jamais injuste.39

Das Ziel dieser Art instruction, die Turgot über einen so genannten Catéchisme de moral et de raison zu verbreiten sucht und die Quesnay unisono sowohl in den Maximes wie auch im Droit Naturel sogar als oberste Priorität positiver Gesetzgebung einfordert, ist also keine »Erziehung« der Menschen, wie sie Rousseau im pädagogischen Sinn sowohl im Emile wie auch im Contrat social vorgetragen hatte. Denn was diesen Punkt betrifft, sind sich alle physiokratischen Autoren in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber einer solchen Erziehung einig. Vielmehr meint instruction beziehungsweise instruction publique im physiokratischen Sinn einen Elementarunterricht über die Sinnfälligkeit einer Gesellschaft des Tauschhandels (commercial society), die damit verbundene Anerkennung des droit de propriété als erster Rechtsgrundlage der gesellschaftlichen Ordnung und die hieraus wiederum resultierende Notwendigkeit sozialer Ungleichheit unter den Menschen (consequence immediate des droits de proprieté). Im Vordergrund aber steht, wie bereits erwähnt, das Ziel einer Sicherung der physiokratischen Deutungshoheit über die zentralen Begriffe des republikanischen Diskurses. Dieser ursprünglich aus den politischen Ideen Rousseaus erwachsene republikanische Diskurs wird daher in der Ambivalenz völlig entgegengesetzter Ideologien ausgetragen werden.

39 Ebenda, S. 230.

7 Le Mercier de la Rivière  : L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques

7.1 Einführende Bemerkungen Ihre wesentliche und vorläufig umfassendste Begründung als politische Philosophie erfährt die Lehre Quesnays durch Le Mercier de la Rivière in dem 1767 erscheinenden Buch L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques. Kein Geringerer als Diderot bestätigt anlässlich des Erscheinens dieses theoretisch bereits sehr ausgereiften Buches ausdrücklich den Anspruch der physiokratischen science politique (auch science du gouvernement, Science nouvelle oder Physiocratie) dahingehend, dass sie allen voraufgehenden Theorien, insbesondere auch der politischen Philosophie Montesquieus, weit überlegen sei. In zahlreichen Briefen, deren Inhalte auch zur Weiterleitung an die russische Zarin Katharina die Große gedacht sind, macht Diderot keinen Hehl aus seiner Begeisterung für diese neuartige politische Philosophie der Physiokraten  : Falconet, erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen sagen werde. Alles was fürderhin an Gutem geschieht, hier oder anderswo, wird nach seinen (M. de la Rivière) Prinzipien geschehen. Montesquieu erkannte die Krankheiten, aber dieser hier hat die Heilmittel gezeigt, und es gibt an wirklichen Heilmitteln nur die, die er aufzeigt. Diejenigen, die das Gegenteil behaupten, sind entweder böswillig oder Rotznasen, die sich über alles verbreiten, aber noch über nichts ernsthaft nachgedacht haben.1

Und in einem Brief, mit dem er das Eintreffen Le Merciers am russischen Hof ankündigt, schreibt Diderot  : Es eilt ihm ein Buch voraus mit dem Titel De l’ordre naturel et essentiel des sociétés policées. Er ist der Verkünder des Eigentums, der Freiheit und der Evidenz. Des Eigentums 1 »Falconet, souvenez-vous de ce que je vais vous dire. Tout ce qui se fera de bien, ici ou ailleurs, se fera d’après ses principes. Le Montesquieu a connu les maladies, celui-ci (M. de la Rivière) a indiqué les remèdes, et il n’y a de vrais remèdes que ceux qu’il indique. Ceux qui affectent de soutenir le contraire sont, ou des gens de mauvaise foi, ou des morveux qui prononcent sur tout, et n’ont profondément réfléchi sur rien.« In  : Diderot, Œuvres complètes, Bd. XVII, Paris 1876, S. 274 (Übersetzung und Hervorhebung R. Bach).

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als Basis jedes guten Gesetzes  ; der Freiheit als wesentlichem Teil des Eigentums und Ursprung jeder großartigen Sache, jedes großen Gefühls, jeder Tugend  ; der Evidenz als einzig widerstehender Kraft gegen die Tyrannei und Quelle der Entspannung. Werfen Sie sich alsbald auf dieses Buch. Verschlingen Sie alle Zeilen, wie ich es tat. Spüren Sie die Kraft seiner Logik, lassen Sie seine Prinzipien eindringen, wie sie alle gestützt sind auf die physische Ordnung und die allgemeine Verknüpfung aller Dinge  ; und dann lassen Sie dem Autor jeden Ihnen schuldig erscheinenden Respekt, jede Freundschaft und Anerkennung zuteilwerden. (…) Wenn die Kaiserin diesen Mann haben wird, was könnten ihr dann noch die Quesnay, die Mirabeau, die Voltaire, die d’Alembert und Diderot nützen  ? Zu nichts, mein Freund, zu nichts. Dieser ist es, der das Geheimnis entdeckt hat, das wirkliche Geheimnis, das ewige und unveränderliche Geheimnis der Sicherheit, des Überdauerns und der Wohlfahrt eines Reiches. Dieser ist es, der sie über den Verlust eines Montesquieu hinwegtrösten wird.2

Wie diese Worte Diderots aus den Jahren 1767 und 1768, dabei insbesondere sein Vergleich mit Montesquieu, verdeutlichen, avanciert die physiokratische Lehre tatsächlich – und von den meisten Zeitgenossen anerkannt – zu einer umfassenden politischen Philosophie, die jegliche Einseitigkeit einer ökonomischen Lehre hinter sich gelassen, gleichwohl aber ihr politisches und soziologisches Kalkül entschieden auf ökonomische Analysen gegründet hatte. Wie die meisten Schriften physiokratischer Autoren ist auch dieses Werk in Vergessenheit geraten und wird bis heute nicht als Teil der politischen Ideengeschichte wahrgenommen. Die gezeigte Einschätzung Diderots, es handele sich bei diesem Text um einen weit über Montesquieu (!) hinausweisenden Ansatz und alle zukünftige Politik werde Le Mercier bestätigen und ihm folgen, änderte daran nichts. Ebenso wenig die in Wirklichkeit bedeutungsvolle Geschichte seiner Rezeption  – auch wenn sie selten mit dem Namen des Autors verbunden 2 »Il sera précédé d’un ouvrage intitulé  : De l’ordre naturel et essentiel des sociétés policées. C’est l’apôtre de la propriété, de la liberté et de l’évidence. De la propriété, base de toute bonne loi  ; de la liberté, portion essentielle de la propriété, germe de toute grande chose, de tout grand sentiment, de toute vertu  ; de l’évidence, unique contreforce de la tyrannie et source du repos. Jetez-vous bien vite sur ce livre. Dévorez-en toutes les lignes comme j’ai fait. Sentez bien toute la force de sa logique, pénétrez-vous bien de ses principes, tous appuyés sur l’ordre physique et l’enchaînement général des choses  ; ensuite allez rendre à l’auteur tout ce que vous croirez lui devoir de respect, d’amitié et de reconnaissance. (…) Lorsque l’impératrice aura cet homme-là, et de quoi lui serviraient les Quesnay, les Mirabeau, les de Voltaire, les d’Alembert, les Diderot  ? A rien, mon ami, à rien. C’est celui-là qui a découvert le secret, le véritable secret, le secret éternel et immuable de la sécurité, de la durée et du bonheur des empires. C’est celui-là qui la consolera de la perte de Montesquieu«. Ebenda, S. 236 (Übersetzung R. Bach).

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war. Doch paradoxerweise scheint es, als eröffne gerade dieser Text nicht nur den Siegeszug der Lehre Quesnays unter dem Rubrum Science nouvelle oder Sciences morales et politiques, sondern gleichzeitig eine der fruchtbarsten Rezeptionslinien für die revolutionäre republikanische Formelsprache des Contrat social, die dabei jedoch einer umfassenden, ausdrücklich gegen Rousseaus politische Ethik gerichteten begrifflichen Verfälschung unterliegt. In gewisser Weise wird die im Jahre 1789 erscheinende revolutionäre Flugschrift Qu’est-ce que le Tiers État  ? des Abbé Sièyes diese widersprüchliche, gleichwohl gemeinsame Rezeptionslinie der politischen Ideen Quesnays und Rousseaus vollenden und damit, wie wir noch sehen werden, die innere Widersprüchlichkeit im republikanischen Diskurs der Französischen Revolution entscheidend beeinflussen. Wie begründet sich diese herausragende ideengeschichtliche Bedeutung des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier de la Rivière und was erklärt demgegenüber seine andauernde Verdrängung aus der Historiographie politischer Ideen  ? Dies zu beantworten erfordert nicht nur ein kritisches Hinterfragen historiographischer Ansätze und überkommener Lehrmeinungen. Es erfordert in erster Linie eine unvoreingenommene Lektüre des Textes selbst, angefangen mit der Respektierung seines Titels, der ihn (entgegen vorherrschender Lehrmeinungen) zweifelsfrei in die Reihe politischer Schriften der Aufklärung stellt. Darüber hinaus erfordert es einen umfangreichen Exkurs in verschiedene zeitgenössische Denkansätze  – auch jenseits der kartographierten politischen Ideengeschichte –, begleitet und fundiert durch eine vergleichende semantische Analyse ihrer internen Verschränkungen, die häufig von divergierenden Wechselbeziehungen zwischen sprachlichen Formen und begrifflichen Inhalten geprägt sind. Letzteres gilt insbesondere für signifikante Schlüsselbegriffe und deren doktrinäre Umsetzungen. Davon abgesehen ist rezeptionsgeschichtlich auf den besonderen Umstand zu verweisen, dass die systematische Verdrängung der Physiokraten aus der politischen Ideengeschichte zumindest zeitweilig überwunden wurde, als um die Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert eine Reihe recht bedeutsamer wissenschaftlicher Arbeiten neue Sichtweisen auf deren politische Philosophie eröffnete.3 So hatte der französische Ökonom und Historiker Gustave 3 Ihren Ursprung hatte die häufig sehr oberflächliche Zurückweisung der Physiokraten, insbesondere ihre Verspottung als doktrinäre Sekte, bereits kurz nach dem Erscheinen des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier genommen, wobei man sich vor allem gegen die ausnahmslos missverstandene Formel vom despotisme legal oder social wandte. Seither, und teilweise bis heute, gehört dieser Spott zu den traurigen Fehlleistungen einer ideologisierten Geschichtsschreibung.

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Schelle bereits in seiner 1888 erschienenen Monographie Du Pont de Nemours et l’école physiocratique den Erfolg der physiokratischen Lehre auch mit deren zeitgenössischer Wahrnehmung als politische Philosophie begründet und darauf verwiesen, dass Le Merciers Buch binnen kürzester Frist in dreitausend Exemplaren verkauft worden war. Diderot, der diesem Werk – wie übrigens auch Condillac und d’Holbach– in ebendiesem politischen Sinn uneingeschränkte Bewunderung zollte, wandte sich demnach mit der Bitte um eine Kurzfassung an Dupont. Tatsächlich erschien diese Kurzfassung nur ein Jahr später unter dem Titel Physiocratie, ou Constitution naturelle du gouvernemant le plus avantageux au genre humain. Den starken Einfluss physiokratischer Ideen beziehungsweise der école libérale auf die Französische Revolution untersucht Schelle – übrigens ganz im Sinne der lange vorher veröffentlichten Beobachtungen Tocquevilles4 – am Beispiel der Rolle Duponts in der Assemblée nationale. Er zeigt auch, dass sich Dupont dabei gleichwohl bereits eines negativen Leumunds zu erwehren hatte, der den Anhängern der Schule Quesnays vor allem seit dem Sturz Turgots entgegenschlug. Eine Widersprüchlichkeit, die bereits zum Zeitpunkt der Revolution das Ausmaß einer in Schlagworten und begrifflichen Missdeutungen befangenen Denk- und Argumentationsweise offenbart. Es bleibt zu ergänzen, dass Dupont de Nemours diesen Anfeindungen offenbar ein Leben lang ausgesetzt 4 »Vers le milieu du siècle, on voit paraître un certain nombre d’écrivains qui traitent spécialement des questions d’administration publique, et auquels plusieurs principes semblables ont fait donner le nom commun d’économistes ou de physiocrates. Les économistes ont eu moins d’éclat dans l’histoire que les philosophes  ; moins qu’eux ils ont contribué peut-être à l’avènement de la Révolution  ; je crois pourtant que c’est surtout dans leurs écrits qu’on peut le mieux étudier son vrai naturel. (…) Toutes les institutions que la Révolution devait abolir sans retour ont été l’objet particulier de leurs attaques (…). Toutes celles, au contraire, qui peuvent passer pour son œuvre propre ont été annoncées par eux à l’avance et préconisées avec ardeur  ; on en citerait à peine une seule dont le germe n’ait été déposé dans quelques-uns de leurs écrits  ; on trouve en eux tout ce qu’il y a de plus substantiel en elle.« (»Etwa um die Jahrhundertmitte sieht man eine bestimmte Anzahl Schriftsteller auftauchen, die vor allem Fragen der öffentlichen Verwaltung behandeln und die man wegen der Ähnlichkeit mehrerer Prinzipien unter dem Namen Ökonomisten oder Physiokraten zusammenfasste. Die Ökonomisten wurden in der Geschichte weniger bewundert als die Philosophen  ; vielleicht haben sie weniger zum Heraufziehen der Revolution beigetragen als jene  ; dennoch glaube ich, dass man vor allem in ihren Schriften deren wahres Wesen studieren kann. (…) Alle Institutionen, die die Revolution ein für alle Mal beseitigte, waren besonderer Gegenstand ihrer Angriffe (…). Alle diejenigen aber, die als ihr eigentliches Werk gelten können, wurden von ihnen zuvor angekündigt und leidenschaftlich befürwortet  ; man könnte kaum eine davon benennen, deren Ursprung nicht schon in einer ihrer Schriften gelegt worden wäre  ; man findet bei ihnen alles, was es Substantielles in ihr gibt.«) In  : Tocqueville, L’Ancien Régime et la Révolution (1856), Paris 1988, S. 248/249 (Übersetzung R. Bach).

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blieb, wie einige Passagen seines Briefwechsels mit dem bekannten Ökonomen J.-B. Say aus dem Jahre 1815 vermuten lassen  : Vous ne parlez pas des Économistes sans leur donner l’odieux nom de secte, qui suppose un mélange de bêtise, de folie et d’entêtement. Cette injure n’offense point de la part des Grimm  ; mais les expressions d’un Say sont d’un autre poids. (…) Vous avez trop rétrécie la carrière de l’économie politique en ne la traitant que comme la science des richesses. Elle est la science du droit naturelle appliqué, comme il doit l’être, aux sociétés civilisées. Elle est la science des constitutions …5

Und mit unmittelbarer Bezugnahme auf die von Schelle beschriebenen Vorgänge innerhalb der Assemblée nationale schreibt Dupont weiter an Say  : Dans votre inconcevable animosité contre les Économistes, vous dites que l’Assemblée constituante avait les oreilles rebattus de leurs principes, et qu’elle poussa trop loin les impositions directes. (…) Vous ne savez pas qu’à l’Assemblée constituante, dès qu’il était question de commerce ou de finances, on commençait toujours par quelques violentes invectives contre les Économistes. Il est vrai qu’elle finissait ordinairement par prononcer le décret conformément à ses principes.6

Beachtenswert im Zusammenhang mit der erwähnten Korrektur der politischen Ideengeschichtsschreibung in Bezug auf die Physiokraten ist ferner die im Jahre 1898 erschienene Monographie L’idée de l’État von Henry Michel. Der Autor betont, dass die physiokratische Theoriebildung zu Unrecht lediglich als Vorlauf 5 Correspondance de Dupont de Nemours avec J.-B. Say (1815). In  : E. Daire, Physiocrates. Quesnay, Dupont de Nemours, Mercier de La Rivière, L’Abbé Baudeau, Le Trosne, Paris 1846, S. 396–397  : »Sie sprechen von den Ökonomisten nicht, ohne ihnen den schändlichen Namen einer Sekte zu geben, der eine Mischung aus Dummheit, Überspanntheit und Verbohrtheit unterstellt. Diese Verunglimpfung beleidigt niemanden, wenn sie von Leuten wie Grimm stammt  ; aber die Ausdrücke eines Say sind von anderem Gewicht. (…) Sie haben den Steinbruch der politischen Ökonomie zu sehr verengt, indem Sie sie nur als Wissenschaft des Reichtums behandelten. Sie ist die Wissenschaft des angewandten Naturrechts, wie es sein sollte, in Bezug auf zivilisierte Gesellschaften. Sie ist die Wissenschaft der Verfassungen …« (Hervorhebungen im Original, Übersetzung R. Bach). 6 Ebenda, S. 410  : »In Ihrer unergründlichen Animosität gegenüber den Ökonomisten sagen Sie, dass die Konstituierende Versammlung (Konstituante) nur noch deren Prinzipien im Ohr hatte und die direkte Besteuerung zu weit trieb. (…) Sie wissen nicht, dass in der Konstituierenden Versammlung immer dann, wenn von Finanzen und Handel die Rede war, man immer sofort die Ökonomisten scharf angegriffen hatte. Wahr ist allerdings, dass man sich am Ende immer darauf einigte, ihren Prinzipien zu folgen.« (Übersetzung R. Bach).

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der ökonomischen Wissenschaft wahrgenommen werde, da sie wenigstens im gleichen Maße der politischen Wissenschaft zuzurechnen sei. »Les spéculations des Physiocrates appartiennent à la science politique, pour le moins autant qu’à la science économique.«7 Und in diesem Sinn stellt Henry Michel die politische Philosophie der Physiokraten sogar gleichberechtigt neben diejenige Montesquieus und Rousseaus. Ähnlich gelagert sind auch die Arbeiten von Paul Dubreuil, Le despotisme légal. Vues politiques des physiocrates, Paris 1908, und Lotte Silberstein, Lemercier de la Rivière und seine politischen Ideen, Berlin 1928. Eine erste integrale Neuauflage des seit seinem Erscheinen im Jahre 1767 vergriffenen Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier besorgt schließlich im Jahre 1910 der Rechtswissenschaftlicher Edgard Dépitre von der Universität Lille. Auch er kritisiert in seiner wissenschaftlichen Einführung die bereits erwähnten gravierenden Mängel der Edition Daire von 1846 und in diesem Zusammenhang die verbreiteten Fehlurteile hinsichtlich der Bedeutung des Le-Mercier-Textes. Für uns sind die Physiokraten die wahren Begründer der Ökonomie- und Sozialwissenschaft. Aber erst heute hat man verstanden, dass diese »Science nouvelle, die sich im XVIII.  Jahrhundert konstituierte, eine wirkliche ökonomische Soziologie war«, und erst heute hat man die »unvergleichliche Größe« dieser außergewöhnlichen Synthese gefeiert, die systematisch und unauflöslich alle Aspekte des kollektiven Lebens, individuelle und Sozialpsychologie, Moral, Politik, Recht und Ökonomie verbindet. Diese integrale Konzeption scheint den Zeitgenossen entgangen zu sein  ; sie betrachten und kritisieren nur Fragmente.8

Immerhin stand nun mit dieser Edition, erstmals seit 1767, wieder der Gesamttext zur Verfügung. Doch noch im gleichen Jahr erfuhr diese überfällig gewordene Korrektur der politischen Ideengeschichtsschreibung bezüglich der physi7 H. Michel, L’idée de l’État. Essai critique sur l’histoire des théories sociales et politiques en France depuis la Révolution, Paris 1898, S. 17. 8 E. Depitre, Notice. In  : Le Mercier de la Rivière, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, hrsg. E. Depitre, Paris 1910, S. XIX  : »(…) pour nous les Physiocrates sont les vrais fondateurs de la science économiques et sociale. Mais c’est seulement de nos jours qu’on a compris que cette ›science nouvelle qui se constituaient au XVIIIe siècle était une véritable sociologie économique‹ et qu’on a célébré ›l’incomparable grandeur‹ de cette synthèse extraordinaire qui va unir systématiquement et indissolublement tous les aspects de la vie collective, psychologie individuelle et sociale, morale, politique, droit, économie. Cette conception d’ensemble paraît avoir échappé aux contemporains  : ils n’envisagent et ne critiquent que des fragments.«

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okratischen Lehre ihren folgenschwersten Rückschlag, dessen Wirkung bis in die Gegenwart andauert. Denn die ebenfalls 1910 erscheinenden und leider bis heute tonangebenden Arbeiten von Weulersse lenkten die Forschung auf einen verhängnisvollen Irrweg. Es handelt sich hier um eine in chronologisch fortlaufenden Bänden verfasste »Monumentalstudie« zur Physiokratie, die einer ideologisch inspirierten, angeblich marxistischen Intention folgt. Tatsache ist, dass diese Arbeiten eine überwältigende Menge akribisch recherchierter Dokumente versammeln, die vordergründig einen unmittelbaren Bezug zur Physiokratie erkennen lassen. Ideengeschichtliche Bezüge zu geistig verwandten Texten, etwa zur materialistischen Philosophie, zu Helvétius, d’Holbach, Condillac oder zur Gruppe der Idéologues, sowie zur politischen Philosophie des Naturrechts, sofern auch hier physiokratische Positionen vertreten werden, bleiben indessen grundsätzlich unbeachtet. Physiokratisches Denken im sprachlichen Gewand der »école libérale« oder der Sciences morales et politiques – beispielsweise eines Abbé Sieyès, eines Condorcet oder eines Destutt de Tracy – wird auf diese Weise ausgeklammert. Stattdessen wird die Physiokratie ausschließlich als ökonomische Theorie interpretiert, deren historischen Niedergang (»la chute de la physiocratie«9) der Autor auf bizarre Weise – weil sogar im klaren Widerspruch zur eigenen Dokumentation – vor den Beginn der Französischen Revolution verlegt. Als belastend für jede weitergehende Forschung musste es sich außerdem erweisen, das Weulersse im Ergebnis seiner monumentalen Studie – und auch hier häufig in eklatantem Widerspruch zu den eigenen Belegen  – mehrere Vorurteile zementierte, die bereits vor der Revolution als Teil bestimmter Kampagnen gegen die physiokratische Lehre entwickelt wurden. Der Vorwurf, die Physiokraten würden  – jenseits ihrer eigenen unglücklichen Wortwahl  – tatsächlich einem politischen Despotismus das Wort reden, zählt hierzu ebenso wie die ideologierelevante, gleichwohl in sich widersprüchliche Behauptung, die menschliche Arbeit als Faktor der Wertschöpfung würde von den Physiokraten ignoriert, da sie allein die Agrarproduktion als Quelle der Wertschöpfung gelten ließen.10 Weulersse unterstellt gar, es handele sich bei dieser »productivité exclusive de l’agriculture« um das einzige und grundlegende Prinzip der physiokratischen Schule, das – als »principe mort-né« – die gesamte Theorie beherrsche.11 Immer wieder leitet er daraus die besondere Enge der physiokratischen Theorie sowie  9 Weulersse, Le mouvement physiocratique, Bd. II, S. 716. 10 Ebenda, S. 675  : »l’erreur essentielle et initiale des Physiocrates qui consistait à nier la productivité du travail humain«. 11 Ebenda, S. 16 und 718.

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die geistige Unbeweglichkeit ihrer Vertreter ab, deren »esprit de géométrie« sich angeblich als zum Verstehen sozialer Gegebenheiten unfähig erweise.12 Naturrechtliche Vorstellungen von den Menschenrechten, so eine der ebenso oberflächlichen wie sachlich falschen Behauptungen von Weulersse zur politischen Relevanz physiokratischer Ideen, seien auf Locke und dessen Rezeption durch Voltaire und Rousseau zurückzuführen und daher in physiokratischen Schriften lediglich plakativ übernommen worden. Begriffe wie souveraineté du peuple oder volonté générale universelle, wie Rousseau sie entwickelt hätte, seien den Physiokraten in Wahrheit fremd geblieben und hätten sie ebenso abgestoßen wie die Theorie der Gewaltenteilung von Montesquieu.13 Hier ist anzumerken, dass Rousseau den ihm von Weulersse zugeschriebenen Begriff einer volonté générale universelle an keiner Stelle verwendet, stattdessen grundsätzlich von der volonté générale spricht, die er streng von der volonté de tous unterscheidet. Ebenso wenig kann die Stellung Rousseaus gegenüber Locke mit derjenigen Voltaires verglichen werden. Gravierende Irrtümer also, die vor allem eine profunde Unkenntnis der Schriften Rousseaus dokumentieren. Letztlich, so Weulersse an anderer Stelle, beschränke sich der physiokratische Beitrag zur Vorbereitung der Revolution auf das Auslösen von Hungerrevolten, hervorgerufen durch plötzliche Preiserhöhungen für Agrarprodukte.14 Insgesamt wertet Weulersse die physiokratische Lehre, unter einer ebenso wenig nachvollziehbaren Bezugnahme auf Marx – der die Physiokraten in Wirklichkeit als eigentliche »Väter der politischen Ökonomie« gewürdigt hatte und an keiner Stelle geringschätzig von ihnen spricht –, als theoretischen Vorläufer der kapitalistischen Gesellschaft samt ihrer Gebrechen.15 Aus seiner persönlichen Abneigung gegen die Physiokraten, die auch bei modernen Historikern nicht selten nachklingt, macht Weulersse keinen Hehl, wie etwa der Vorwurf »physiokratischen Starrsinns« oder die unkritische Übernahme der spöttischen Bezeichnung »la secte« oder auch andere Formen distanzierender Äußerungen 12 Ebenda, S. 16  : »la base sur laquelle s’élève leur théorie est étroite«  ; S. 718  : »étroitesse même de ces axiomes«  ; »les physiocrates ont appliqué à l’étude des faits sociaux l’esprit de géométrie.« 13 G. Weulersse, La Physiocratie à l’aube de la Révolution. 1781–1792. Paris 1985, S. 365  : Abschnitt »I. La Déclaration des Droits d’Août 1789« und genauer  : »Mais il s’en faut qu’ils les aient accepté indistinctement, en bloc. Les notions de souveraineté du peuple, de volonté générale universelle, telles que les avait interprétées Rousseau – comme la théorie de la séparation et de l’équilibre des pouvoirs, formulée par Montesquieu  – leur étaient restées étrangères ou leur avaient répugné.« Vgl. auch ebenda, S. 189  : »Une sorte d’indifférentisme théorique à l’égard des diverses formes de gouvernement survit chez les Physiocrates jusqu’à la veille de la Révolution«. 14 Weulersse, Le mouvement physiocratique, Bd. II, S. 717. 15 Vgl. ebenda, S. 727, 729, 733.

Einführende Bemerkungen 

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belegen.16 All dies musste die reformerischen Ideen Quesnays und seiner Schüler als ideologische Sackgasse im Kontext einer historisch als progressiv geltenden Aufklärung erscheinen lassen. Die unbestrittene Gründlichkeit und scheinbare Vollständigkeit, mit der Weulersse das Schrifttum der physiokratischen Schule zusammenträgt, taten das Ihre, um dieses scheinbar plausible Wertungsmuster zu einem Allgemeinplatz der Historiographie zu erheben. Ein Allgemeinplatz, der – zumindest was die politische Ideengeschichtsschreibung anbelangt – seither wenig hinterfragt wurde. Umso wichtiger erscheint der leider weitgehend in Vergessenheit geratene Umstand, dass die mit Abstand seriöseste wissenschaftliche Untersuchung dieser Zeit, nämlich die 1914 von dem Rechtswissenschaftler und Mediziner Léon Cheinisse vorgelegte Monographie unter dem Titel Les idées politiques des Physiocrates bereits eine scharf gehaltene Abrechnung mit einigen der Unzulänglichkeiten der Arbeiten von Weulersse enthält. Darüber hinaus kritisiert Cheinisse, dass die physiokratische Lehre durch »Legendenbildung, Polemik und Kontroversen verzerrt und verdunkelt wurde« und dass schließlich auch die unzureichende Daire-Edition durch die bereits angesprochene Unterschlagung der ersten 26 Kapitel des Le-Mercier-Textes zur allgemeinen Unkenntnis insbesondere der politischen Ideen der Physiokraten beigetragen habe. Doch umfangreichere Analysen zur politischen Ideengeschichte der Aufklärung, gestützt auf eine Vielzahl semantischer  – hier vor allem onomasiologischer  – Recherchen, dokumentieren auf unwiderlegbare Weise die seit den 1760er Jahren immer stärker werdende Verbreitung politischer Kerngedanken und -thesen der physiokratischen Schule, die sich allerdings zunehmend dem modernen republikanischen Diskurs verbinden17 und nicht  – wie Spötter und Kritiker der Physiokraten, teils aus Unkenntnis ihrer Schriften und ihres Denkens, teils aus ideologisch verkürzter Sicht, bis heute behaupten – nur im Bereich der »Agrarphilosophie« zu suchen sind. Le Merciers Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques  – ein Text, der weder den Terminus physiocratie noch den der économie politique enthält – vollzieht dabei einen wichtigen Schritt zur Verschmelzung des physiokratischen mit dem zeitgenössischen republikanischen Diskurs. Allerdings geschieht dies durch eine systematische Übernahme repu16 Häufig ist abschätzig ironisch von »nos Physiocrates« die Rede  ; vgl. auch Weulersse, La Physiocratie à l’aube de la Révolution, S. 28  : »(…) la dernière flamme du dogmatisme et de l’intransigeance physiocratique.« 17 Vgl. R. Bach, Rousseau et le discours de la Révolution. Au piège des mots. Les Physiocrates, Sieyès, les Idéologues, Uzès 2011.

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blikanischer Begriffe, die – ihrer herkömmlichen Inhalte beraubt – in den Kontext des ökonomischen und politischen Liberalismus der Physiokraten gestellt werden. Erst in dieser Form finden die zentralen politischen Thesen und Forderungen der Physiokraten ein Höchstmaß an Verbreitung und prägen schließlich, von Beginn an, den politischen Diskurs der Französischen Revolution. Denn es sind die Physiokraten, und nur sie, die seit 1767, das heißt seit dem Erscheinen des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier, im Namen der von ihnen als eigentliche politische Macht konzipierten opinion publique eine so genannte »déclaration solennelle«18 – ganz im Sinne der späteren Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen – einfordern, die außerdem deren wesentlichen Inhalt seit 1767 propagieren und deren geistige Handschrift schließlich in der Déclaration des Droits von 1789 unverkennbar ist.19 Einzelheiten dieser komplexen und dennoch leicht zu demonstrierenden ideengeschichtlichen Entwicklung sind ein zentraler Gegenstand der folgenden Abschnitte. 7.2 Der Text 7.2.1 Die leitmotivische Bezugnahme auf Malebranche

Als Leitmotiv stellt Le Mercier seinem Buch die folgende Bemerkung aus dem 1684 von Malebranche verfassten Traité de Morale voran  : »L’Ordre est la Loi inviolable des Esprits  ; et rien n’est réglé, s’il n’y est conforme.«20 Da diese Bezugnahme weder zufälliger noch oberflächlicher Natur ist und da sie nie untersucht wurde, verdient sie eingangs einen besonderen Kommentar. Zunächst verweist sie auf ein bereits von Quesnay inszeniertes Muster ideengeschichtlicher Verankerung der physiokratischen Doktrin, die bald als »Science nouvelle«21 verherrlicht werden sollte. Dabei hatte Quesnay der von ihm in Anspruch genommenen Naturrechtslehre, wie wir sahen, gleichzeitig eine physiokratische Wendung gegeben. Dies gilt nun in durchaus ähnlicher Weise für die rationalistisch geprägte Moralphilosophie Malebranches. Le Mercier wird sich ihrer in seinem Werk bedienen, indem er zahlreiche Formulierungen übernimmt, ihre Diktion 18 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 62–127. 19 Vgl. S. Rials, La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, Paris 1988, Avant-propos, S. 13–18. 20 Die Orthographie folgt dem Titelblatt des Originals von 1767. In der dort ebenfalls hinzugefügten Angabe der Quelle unterläuft vermutlich ein Fehler  : Zu lesen ist »Maleb. Tr. de Mor. Ch. II. Part. XI«. In der Ausgabe des Jahres 1707 findet sich der zitierte Satz unter »Ire partie, chapitre II, article IX« auf S. 439, was auf eine Verwechslung beim Setzen des Druckes hindeutet. 21 Vgl. Dupont de Nemours, De l’origine et des progrès d’une SCIENCE NOUVELLE, Paris 1768.

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und Terminologie imitiert, sie dabei begrifflich anpasst und für die physiokratische Lehre instrumentalisiert. Dies wird freilich erst nach genauerer Analyse des Buchtextes erkennbar. Doch die leitmotivische Antizipation stellt das Werk bereits scheinbar unter die geistige Autorität des berühmten Malebranche, als erfülle jene physiokratische Théorie de l’Ordre, die Le Mercier in den Mittelpunkt seines Werkes stellt und die selbst noch dessen Titel prägt, in gewisser Weise dessen moralphilosophisches Vermächtnis. Was aber macht gerade diesen ideengeschichtlichen Bezug für die physiokratische Lehre interessant  ? Ein genauerer Blick in den Bezugstext von Malebranche vermittelt zunächst den Eindruck, dass dieser in exemplarischer Weise dem Rationalismus Descartes’ folgt, insofern die Vernunft (la Raison) zum universalen Maß aller Dinge, zum Weg aller menschlichen Erkenntnis und Moral, wie auch zur Grundlage des Glaubens und unserer Verbindung zu Gott erhoben wird. »La foi sert ou conduit à la Raison, car la Raison est la loi souveraine et universelle de toutes les intelligences.«22 Doch geht es Malebranche offensichtlich auch um die Überwindung des cartesianischen Dualismus (genauer gesagt, des Descartes im Allgemeinen unterstellten Dualismus) von Körper und Geist.23 In diesem Sinne gelte es, die notwendigste aller Wissenschaften, die Wissenschaft vom Menschen (»la connaissance de l’homme […] de toutes les sciences la plus nécessaire«), als experimentelle Wissenschaft (»science expérimentale«) zu entwickeln und die Gesetze der Einheit von Körper und Seele (»les lois de l’union de l’âme et du corps«) aufzuspüren.24 Ein Anliegen, das der physiokratischen Herangehensweise, dabei insbesondere dem physiokratischen Anspruch, eine tatsächlich naturwissenschaftliche Science de l’homme zu begründen, entgegenkommt und das sich daher für die beobachtete ideengeschichtliche Bezugnahme anbietet. Von zentraler Bedeutung für die Moralphilosophie Malebranches ist nun vor allem jener im Zitat Le Merciers übernommene Ordre-Begriff, der in Wahrheit raison und nature auf durchaus ambivalente Weise im Sinne ›geistiger‹ beziehungsweise ›weltlicher Ordnung‹ gegenüberstellt. Gott steht dabei für Malebranche gleichsam zwischen einer fehlerbehafteten weltlichen Ordnung, dem ordre de la nature, und einem 22 Malebranche, Traité de la Morale, S. 435. 23 Jüngere Forschungen relativieren jenen starren Dualismus von Körper und Geist, der Descartes vor allem von seinen sensualistischen Gegnern im Rahmen der Aufklärung, seither aber auch als Topos der Geistesgeschichte unterstellt wurde. Vgl. u. a. Y. Sibony-Malpertu, Une liaison philosophique. Du thérapeutique entre Descartes et la princesse Élisabeth de Bohême. Paris 2012. 24 Malebranche, Traité de la Morale, S.  469  ; und »lois générales de l’union de l’âme et du corps«, ebenda, S. 432.

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vollkommenen, nur der raison zugänglichen Ordre immuable et nécessaire, der für alle Intelligenz und für Gott selbst als »loi inviolable de toutes les intelligences et de Dieu même«25 ewige Gültigkeit besitzt. Da sich Gottes Wille jedoch letztendlich im vernunftgemäßen Ordre offenbart, während Gottes Handeln im ordre de la nature davon abweichen kann, entspringt die menschliche Tugend für Malebranche dem Glauben an eine Schöpfung, die sich der Vernunft erschließt. Tugend setzt demnach die immerwährende Suche nach Gottes Gesetz voraus und zeigt sich in der Liebe zu jener höheren, unfehlbaren Ordnung, die wir  – dem Gewissen folgend (hier als devoir bezeichnet) – durch den Gebrauch der Vernunft erkennen. Il est vrai que Dieu ne veut que selon l’Ordre  : mais souvent il agit en quelque manière contre l’Ordre. (…) Il forme des monstres, et comme dit un prophète, il sert maintenant à l’injustice …26 Nous sommes raisonnables, notre vertu, notre perfection c’est d’aimer la Raison, ou plutôt c’est d’aimer l’Ordre.27 Notre devoir consiste donc à nous soumettre à la loi de Dieu, et à suivre l’Ordre. (…) Nous pouvons connaître l’Ordre par l’union avec le Verbe éternel, avec la Raison universelle.28 La perfection ou la vertu ne consiste donc pas à suivre l’ordre de la nature, mais à se soumettre en toute chose à l’ordre immuable et nécessaire, loi inviolable de toutes les intelligences et de Dieu même.29

Der Unterschied zwischen der Moralphilosophie Malebranches und dem physiokratischen Materialismus Le Merciers wird an dieser Stelle, trotz übereinstimmender Terminologie, überdeutlich, denn von der spirituellen Dimension dieses Ordre-Begriffs ist Le Mercier weit entfernt. Stattdessen vereinfacht er ihn im Sinne der Unfehlbarkeit eines physischen ordre naturel, behält aber zentrale Formulierungen Malebranches bei. Denn diese eignen sich weiterhin für die Begründung des absoluten Geltungsanspruchs des Ordre-Begriffs. Sprachlich besteht die physiokratische Verfälschung des Ordre-Begriffs dabei zum einen in der von Malebranches Auffassungen völlig abweichenden Identifizierung des 25 Ebenda, S. 434. 26 Ebenda, S. 432. 27 Ebenda, S. 431. 28 Ebenda, S. 433. 29 Ebenda, S. 434 (Hervorhebung R. Bach).

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ordre naturel mit dem Ordre immuable et nécessaire der Schöpfung. Zum anderen erfolgt zusätzlich eine Ausdehnung des Ordre-Begriffs auf die liaison des idées im Sinne der materialistischen Erkenntnislehre Condillacs. Letztere, daran sei hier erinnert, steht zum Zeitpunkt der klassischen Ausformung der physiokratischen Doktrin durch Le Mercier hoch im Kurs und gilt der Aufklärung allgemein, wie auch d’Alembert im Discours préliminaire de l’Encyclopédie betont, als Schlüssel jedes weitergehenden wissenschaftlichen Fortschritts.30 Abgesehen davon finden sich bei Malebranche auch solche Formulierungen, die ohne besondere Verfälschung bestimmte Argumente Le Merciers vorwegnehmen oder sich doch in den Kontext physiokratischer Argumentation einfügen. Dies zeigt sich etwa in der kausalen Verknüpfung von Vernunft und Gerechtigkeit sowie im Schließen von mathematischer Erkenntnis auf ethische Werte. So sieht Malebranche die Grundlage aller Evidenz und Wahrheit, aller Vernunft und folglich aller Moral in der universellen Anerkennung jenes Ordre immuable et nécessaire, der sich dem menschlichen Geist mittels mathematischer und geometrischer Formeln erschließt  : … les vérités éternelles que Dieu voit. Car Dieu voit aussi bien que moi, que 2 fois 2 font 4, et que les triangles qui ont même base, et qui sont entre mêmes parallèles sont égaux … De là il est évident qu’il y a du vrai et du faux, du juste et de l’injuste … (und schlussfolgernd  :) Il n’y a point d’autre vertu que l’amour de l’Ordre.31

Das moralisch Richtige ergibt sich somit aus dem logisch Korrekten, wobei es gleichzeitig dessen totalitären Geltungsanspruch übernimmt.32 Eine Position, die sich ohne Weiteres für die physiokratische Ethik, das heißt im Klartext für die angeblich physische Notwendigkeit der utilitaristischen Ethik des Liberalismus nutzbar machen lässt. Auch die Ableitung sozialer Gesetzmäßigkeiten aus physischen Zwängen – der im Übrigen die Namensgebung der Physio-cratie geschuldet ist – findet sich, bis hinein in zahlreiche stereotype Formulierungen, in

30 D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 24  : »La science de la communication des idées ne se borne pas à mettre de l’ordre dans les idées mêmes  ; (…) l’ordre de la génération des mots a suivi l’ordre des opération de l’esprit«, S. 22  : »réduire en art la manière même d’acquérir des connaissances«, S. 23  : »cet art si précieux de mettre dans les idées l’enchaînement convenable«, S. 7  : »L’ouvrage que nous commençons (…) comme Encyclopédie, il doit exposer autant qu’il est possible, l’ordre et l’enchaînement des connaissances humaines.« Etc. 31 Malebranche, Traité de la Morale, S. 426, 427 und 439 (Hervorhebungen R. Bach). 32 Vgl. zum Begriff einer »totalitären Erkenntnis« Rouvillois, L’invention du progrès.

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der Morallehre Malebranches vorgebildet.33 Mit einigen Abstrichen zählt hierzu die bereits bei Hobbes zu beobachtende Verwendung der Begriffe plaisir und douleur als Ausdruck vermeintlich universaler und richtunggebender menschlicher Handlungsmotive. Doch während Hobbes sie letztlich, wie nach ihm die Physiokraten und alle anderen zeitgenössischen Materialisten, ohne Abstriche zur Bemessungsgrundlage menschlicher Moral erhebt, räumt ihnen Malebranche nur im übertragenen Sinn diese Funktion ein. Übertragen insofern, als hier der Begriff plaisir das spirituelle Vergnügen der Liebe zu Gott und ergo zum Ordre immuable et nécessaire ausdrücklich einschließt. Verkennt man diese semantische Besonderheit, so ergibt sich auch hier der Eindruck engster geistiger Verwandtschaft zur Morallehre der Physiokraten. tous les hommes justes ou injustes aiment le plaisir pris en général, ou veulent être heureux  ; et c’est là le motif unique qui les détermine à faire (…) tout ce qu’ils font.34 … Il est vrai que tous les hommes aiment le plaisir … éviter … la douleur.35

Wenigstens ambivalent erscheint vor diesem Hintergrund auch die Aussage Malebranches, wonach die Glückssuche – ein Topos materialistischer Moral- und Soziallehre  – explizit als Triebfeder des menschlichen Willens zu gelten habe. Eine Sichtweise, die wenigstens verbal dem physiokratischen Determinismus hinsichtlich der Annahme eines interessengesteuerten  – und in diesem Sinn berechenbaren  – Sozialverhaltens der Menschen entgegenkommt. »[L]e désir de la béatitude formelle ou du plaisir en général, est le fond ou l’essence de la volonté.«36 Ein erstaunlich anmutender Gleichklang physiokratischer Ansichten mit Positionen Malebranches, dies sei abschließend erwähnt, zeigt sich in bestimmten dogmatischen Formulierungen zu politischer Unterwerfung und sozialer Ungleichheit, auch wenn in beiden Fällen inhaltliche Divergenzen nicht zu übersehen sind. So vermischt sich in einer mit Le Merciers Vortrag zwar verbal vergleichbaren, inhaltlich jedoch abweichenden Weise ein absolutistischer Machtgedanke mit dem Ordre-Konzept, wenn Malbranche von den »wesentlichen natürlichen und primitiven Souveränitätsrechten« spricht  : »Ainsi les droits 33 Als Quelle dient hier, neben dem Traité de Morale, auch der 1697 im gleichen Sinne von Malebranche verfasste Traité de l’amour de Dieu. 34 N. Malebranche, Traité de l’amour de Dieu. In  : Malebranche, Œuvres, Bd. II, Paris 1992, S. 1051. 35 Ebenda, S. 1052. 36 Ebenda, S. 1052.

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naturels essentiels et primitifs de la souveraineté temporelle sont, autant que l’Ordre le permet, tous les moyens nécessaires à la conservation de l’Etat.«37 Unumschränkte Souveränitätsrechte dieser Art wird Le Mercier dagegen nicht propagieren. Der von ihm angeregte »despotisme social« wird stattdessen auf die strikte Durchsetzung eines in der Schöpfung selbst verankerten naturgesetzlichen ordre begrenzt bleiben und darüber hinaus eine klare inhaltliche Eingrenzung im Sinne einer marktwirtschaftlichen Ordnung erfahren. Die Ähnlichkeit der Formulierungen beider Autoren ist dennoch nicht zu übersehen, was übrigens auch im Hinblick auf die dem Souverän von beiden Autoren auferlegte Steigerung des materiellen Wohlstandes seiner Untertanen zutrifft.38 Was andererseits die soziale Ungleichheit angeht, so sieht Malebranche zwar deren Ursache primär in der Erbsünde (»la différence des conditions est une suite nécessaire du péché originel«39), betrachtet sie jedoch ansonsten in einer der physiokratischen Lesart ganz ähnlichen Überschneidung aus natürlichem Gleichheitsgebot und persönlichem Verdienst (le mérite)  : »la nature humaine étant égale dans tous les hommes (…) il n’y a que le mérite qui devrait nous distinguer«.40 7.2.2 Bemerkungen zum Aufbau des Textes und einem damit verbundenen Rezeptionsproblem

Den folgenden Quellenverweisen liegt die in der Reihe Corpus des œuvres de philosophie en langue française bei Fayard, Paris, im Jahre 2001 erschienene Ausgabe des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier de la Rivière zugrunde, die ihrerseits bis in Orthographie und Hervorhebungen hinein, jedoch mit abweichender Paginierung, eine getreue Wiedergabe der zweibändigen Originalausgabe von 1767 darstellt. Der Text umfasst insgesamt drei Teile, deren sachliche Gliederung mit einer auf neun Kapitel bemessenen Théorie de l’ordre beginnt (Kap. 1 bis 9  ; S. 15–76), gefolgt von einem auf insgesamt fünfzehn Kapitel bemessenen zweiten Teil mit dem Titel La théorie de l’ordre mis en pratique (Kap. 10 bis 24  ; S.  79–197) und einem auf weitere zwanzig Kapitel bemessenen dritten Teil mit dem Titel Suite 37 Malebranche, Traité de la Morale, S. 604  ; vgl. auch, ebenda, S. 605  : »un prince (…) ce n’est pas aux particuliers de critiquer sa conduite, pourvu qu’il n’exige rien qu’en conséquence des droits naturels (…) on lui doit l’obéissance en toute chose.« 38 Ebenda, S. 603  : »(…) le prince doit conserver et augmenter les biens nécessaires à la vie temporelle.« 39 Ebenda, S. 619. 40 Ebenda, S. 620.

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du développement de la seconde partie (Kap. 25 bis 44  ; S.  201–479). Dabei sind die ersten sechsundzwanzig Kapitel des Buches der philosophischen Begründung eines auf wirtschaftlichen Analysen beruhenden politischen Liberalismus gewidmet, während primär ökonomische Probleme erst ab dem 27. Kapitel den inhaltlichen Schwerpunkt bilden. Ein mit zusammenfassenden Lehr- und Leitsätzen ausgestattetes ausführliches Inhaltsverzeichnis (S. 481–536) beschließt das Buch. Hier sei nochmals der Hinweis gestattet, dass die in Forschungen zur Geschichte der Politischen Ökonomie seit jeher häufig als Quelle verwendete Anthologie physiokratischer Autoren von Eugène Daire aus dem Jahre 1846 den Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques lediglich stark verkürzt, nämlich nur von Kapitel 27 (La formation du revenu public) an bis zum Kapitel 44 wiedergibt. Da die eigentliche Rahmensetzung des Textes, das heißt die Entfaltung einer politischen Philosophie des Liberalismus, jedoch wesentlich auf die erste Hälfte des Buches konzentriert ist, blieb – bei Verwendung dieser Quelle – gerade der entscheidende Teil weiterhin unerforscht. Es ist erstaunlich, dass selbst Karl Marx bei der Abfassung seiner theoretischen Hauptschrift Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie von 1867 ebendiese unzureichende Quelle für die Einschätzung des Le-Mercier-Textes verwendete.41 Prominente Beispiele für solch folgenschwere Vernachlässigung des vielleicht wichtigsten physiokratischen Textes finden sich auch in der modernen Forschungsliteratur, wie im Fall der 1992 in hoher Auflage erschienenen und breit rezipierten Monographie L’invention de l’économie au XVIIIe siècle von Catherine Larrère. Die ausschließliche Bezugnahme auf die von Daire besorgte Edition des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier führt auch hier zu weitreichenden Fehleinschätzungen, was sich insbesondere beim Vergleich der politischen Ideen des Abbé Sieyès mit physiokratischen Positionen im abschließenden Kapitel der Monographie beobachten lässt. Wenig überraschend ist daher auch die unkritische Bezugnahme der Autorin auf die Arbeiten von Weulersse, etwa hinsichtlich der Begrenzung des physiokratischen Horizonts auf eine rein ökonomische Kompetenz oder anlässlich der wörtlichen Übernahme seiner Darstellung des vermeintlichen Niedergangs der physiokratischen Schule vor der Revolution. 41 Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (1867) In  : Marx/Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962. Sämtliche von Marx angegebenen Quellenverweise zu »Mercier de la Rivière, L’Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques« (einschließlich der besonderen Schreibweise des Autorennamens) – er zitiert ihn auf den Seiten 123, 124, 144, 162, 165, 172, 175, 176, 205 und 206 – nehmen Bezug auf die um 26 Kapitel, d. h. um die gesamte politische und philosophische Rahmensetzung gekürzte Ausgabe des Le-Mercier-Textes der 1846 erschienenen Anthologie Physiocrates von E. Daire.

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7.2.3 Der Discours préliminaire

Es darf als sicher gelten, dass Le Mercier bei der Abfassung seines Grundlagenwerkes sehr bewusst auf eine öffentliche Erwartungshaltung zielte, die  – von Locke zuerst formuliert – insbesondere durch den Discours préliminaire de l’Encyclopédie von d’Alembert neue Nahrung erhalten hatte. Dabei wurde angesichts der unübersehbaren Fortschritte der Naturwissenschaften, die vor allem d’Alembert euphorisch hervorhebt, nichts Geringeres in Aussicht gestellt als eine den Naturwissenschaften (sciences de la nature) ebenbürtige »Experimentalwissenschaft der Moral und Politik«, mit anderen Worten eine in ihren Vorhersagen und Ergebnissen berechenbare (Natur-)Wissenschaft vom Menschen (science de l’homme). In dieser Überzeugung nun, jenen Stein der Weisen endlich gefunden zu haben, führt der Discours préliminaire des vorliegenden physiokratischen Textes den Leser an seinen eigentlichen Gegenstand, die natürliche Ordnung der Gesellschaft, heran. Tatsächlich kann sich Le Mercier dabei auf renommierte geistige Vorarbeiten stützen, die ihrerseits jene Erwartungshaltung genährt hatten und sie mit originellen Theorien unterstützten. Hierzu ist Condillacs Entwicklung einer materialistischen Erkenntnislehre in dem 1746 erschienenen Essai sur les connaissances humaines ebenso zu zählen wie die zum Naturgesetz erhobene Zurückführung allen Sozialverhaltens auf das Prinzip des intérêt in dem 1758 erschienenen De l’Esprit von Helvétius. Seinerseits hatte d’Alembert, beflügelt von der als »science de la communication des idées« bezeichneten Erkenntnislehre Condillacs, die Erwartungshaltung einer ganzen Generation hinsichtlich eines Durchbruchs zu einer Naturwissenschaft von Mensch, Politik und Moral42 in seinem Discours préliminaire de l’Encyclopédie thematisiert. Und Le Mercier folgt diesem Geist und seiner Fortentwicklung durch Helvétius, wenn er dessen zentrales Axiom »Si l’Univers physique est soumis aux loix du mouvement, l’Univers moral ne l’est pas moins à celles de l’intérêt«,43 also die Annahme ei42 Die von d’Alembert in einer synoptischen Übersicht (»Système figuré des connaissances humaines«) gestaltete Anordnung aller von der Encyclopédie erfassten Wissenschaftszweige bezeichnet das Gebiet »Moral« als Berührungsfläche von »Science de la nature« und »Science de l’homme«. D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 40–41  ; vgl. zu dieser Gliederung auch verbal S. 27 und 39. 43 Helvétius, De l’Esprit, Paris 1988, S. 59  : »Wenn das physische Universum den Gesetzen der Bewegung unterworfen ist, so ist es das Universum der Moral nicht weniger denjenigen des Interesses.« (Übersetzung R. Bach)  ; weiter Helvétius, S.  9  : »J’ai cru qu’on devoit traiter la Morale comme toutes les autres Sciences, et faire une Morale comme und Physique experimentale.« (»Ich habe geglaubt, dass man die Moral wie alle anderen Wissenschaften behandeln sollte, um eine Moral wie eine Experimentalphysik zu gestalten.«) (Übersetzung R. Bach).

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nes naturwissenschaftlich berechenbaren Interesses, zum Ausgangspunkt physiokratischer Soziologie erhebt. So eröffnet er den Discours préliminaire mit einer nach wirtschaftlichen Interessen differenzierten Gliederung der Gesellschaft in unterschiedliche soziale Gruppen, die er auch als Klassen bezeichnet. Soziologisch gesehen liegt hier, in der Zusammenführung der ökonomischen Analyse Boisguilleberts mit der auf die Ausschließlichkeit des intérêt abhebenden Moralphilosophie von Helvétius die eigentliche Entstehung des modernen Klassen-Begriffs begründet, unabhängig davon, in welche lexikalischen Formen dieser Begriff fortan gekleidet wurde.44 Die folgende Aufzählung der von Le Mercier in diesem Sinne verwendeten Bezeichnungen illustriert dies in geeigneter Weise. Unterschieden werden hierbei die Interessen der Könige (les intérêts des Rois), die Interessen der Grundbesitzer (les propriétaires des terres), die Interessen derer, die ihre Arbeit verkaufen (la classe qui vend ses travaux), die Interessen der Kirchenvertreter (les Ministres des autels) und schließlich die Interessen der Händler (les intérêts des Commerçants). Gemeinsam würden all diese Klasseninteressen durch die größtmögliche Reproduktion und den größtmöglichen Konsum der Reichtümer des Landes gefördert (la plus grande reproduction et la plus grande consommation possible des richesses), wenn die Gesellschaft auf dem unerschütterlichen Fundament gemeinsamer und partikularer Eigentumsrechte gegründet würde (donner la plus grande constance, la plus grande valeur à ces droits de propriétés communes et particulieres). Dies entspreche den Interessen der Gesellschaft als Ganzes (les intérêts du corps entier de la Société) und folge damit deren eigenen Naturgesetzen (loix naturelles de la sociétés). Die republikanische Idee der Beförderung des Gemeinwohls – hier assoziiert mit dem politischen Begriff des »corps entier de la Société« – wird auf diese Weise sowohl mit der Maximierung wie auch mit der Harmonisierung aller partikularen Interessen der verschiedenen sozialen Gruppen beziehungsweise Klassen verbunden beziehungsweise daraus abgeleitet  : »(…) un ordre (…) où tous les intérêts sont si parfaitement combinés, si inséparablement unis entre eux (…) le bonheur des uns ne peut s’accroître que par le bonheur des autres.«45 Die Anwendung der Grundsatzformel von Helvétius, das heißt hier zunächst die nach ökonomischen Interessen differenzierte Analyse und Beschreibung der Gesellschaft, mit der Le Mercier seine Argumentation beginnt, eröffnet so auch eine direkte Möglichkeit des Schließens von der ökonomischen auf die politische 44 Als vollkommen unzulänglich erweisen sich hier die Darstellungen von M.-F. Piguet, Classe. Histoire du mot et genèse du concept des Physiocrates aux historiens de la Restauration, Lyon 1996. 45 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 9–12.

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Ebene. Zwar hatten Boisguillebert, Turgot, Quesnay und andere geistige Väter der Physiokratie bereits zuvor soziale Gruppen oder ›Klassen‹ nach ihrer jeweiligen Funktion im Reproduktionsprozess und der entsprechenden ökonomischen Interessenlage unterschieden. Doch in der viel weiter gespannten Perspektive Le Merciers werden diese sozialen Klassen zu politischen Akteuren. Die ökonomischen Interessen werden als eigentliche Triebfeder politischer Interessen betrachtet und die politische Philosophie wird zum Sachwalter der Ökonomie.46 Genau dies ist die erste und wichtigste Botschaft des Discours préliminaire und Le Mercier wird sie im Kapitel XXXV im Zusammenhang mit der Erörterung des Völkerrechts und einer zukünftigen politischen Gestaltung Europas in verallgemeinerter Weise wiederholen  : »la politique changera de systême et de langage«,47 heißt es dort, »die Politik wird ihr System und ihre Sprache ändern«, und »la politique cesse d’être un mystère«,48 »die Politik hört auf, ein Mysterium zu sein«. Gemeint ist eine fortan ›berechenbare‹, nämlich den ökonomischen Interessen aller Nationen entspringende Politik des internationalen Austauschs zum gegenseitigen Vorteil. Le Mercier spricht in diesem Zusammenhang von einer »confédération générale de toutes les Puissances de l’Europe«49 und nennt diese europäische Konföderation schließlich eine »fraternité des nations«. Andere Autoren werden diesen ökonomisch begründeten Fraternité-Begriff aufgreifen und ihn in die Nähe des für alle physiokratisch inspirierten Texte stereotyp gültigen lexikalischen Tripletts liberté – propriété – sûreté bringen, was auch hier den Gedanken einer physiokratischen Genesis des berühmten revolutionären Slogans liberté – égalité – fraternité nahelegt. Und im Unterschied zu dem ihm »widersprüchlich« und »rätselhaft« erscheinenden Begriff einer »europäischen Balance«50 nennt Le Mercier diesen Gedanken einer auf wirtschaftliche Zusammenarbeit gegründeten europäischen Konföderation die eigentlich »wahre Politik« (»voilà la vraie politique«), deren »Weisheit und Wahrheit« der Zurückführung auf ihre ersten Prinzipien entspringt, nämlich auf die Wahrung der partikularen Interessen jeder Nation  : 46 Nebenbei bedeutet dies auch, das die in der politischen Philosophie bis dato übliche Betrachtungsebene ›Individuum  – Staat‹ um die Dimension politisch agierender sozialer Klassen, also  : ›Klasse – Staat‹, erweitert wird. K. Marx wird in diesem Sinn den Staat als das »Machtinstrument der herrschenden Klasse« betrachten. Vgl. u. a. Marx/Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 482. 47 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 333. 48 Ebenda, S. 334. 49 Ebenda, S. 328. 50 Ebenda, S.  326. Man denke auch an die Zurückweisung der eben ausschließlich politisch, und nicht ökonomisch, definierten »Kräftebalance« von Montesquieu  !

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Ce qui prouve bien la sagesse et la vérité de la politique ainsi ramenée à ses premiers principes, c’est qu’elle convient aux intérêts particuliers de chaque nation indépendamment des systêmes contraires que les autres nations pourroient adopter.51

Einen besonderen Kommentar verdient die stereotype Verwendung des Superlativs, dessen sich Le Mercier von Anfang an in der Beschreibung der Zielfunktionen des jeweiligen »intérêt« bedient  : »le plus grand revenu possible«, »la plus grande abondance possible«, »la plus grande reproduction et la plus grande consommation possible« … Hier sind mindestens zwei strategische Absichten zu erkennen. Zum einen wird die in der Moralphilosophie seit Shaftesbury und Hutcheson im Sinne sozialer Maximierung von Glück entwickelte Formel »the greatest Happiness for the greatest Numbers«52 übernommen und auf die Ebene des ökonomischen intérêt übertragen. Ein Vorgang, der im Zuge der weiteren Verbreitung der Ideen des ökonomischen Liberalismus ohne Zweifel zu einer für die moderne Welt typischen Festlegung des Glücksbegriffs auf maximale materielle Befriedigung beiträgt. Dies umso mehr, als die Konsumorientierung selbst, wie wir sehen werden, eben auch ein strategisches politisches Ziel der von Le Mercier propagierten Gesellschaftslehre darstellt. Zum anderen reflektiert diese Formel in ihrer stereotypen Wiederholung den Anspruch absoluter Gültigkeit der vorgetragenen Analyse im Sinne eines totalitären Konzepts wissenschaftlicher Erkenntnis, wie es die zeitgenössische Physik und die von ihr abgeleitete Bildung totalitärer sprachlicher Begriffe vorgeben.53 Der genau in diesem Sinn erhobene Anspruch auf naturwissenschaftliche Gültigkeit des im Buch verhandelten Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques wird überdies mit verschiedenen für Le Merciers Sprache typischen Grundsatzformulierungen im Discours préliminaire zum Ausdruck gebracht. So gelte die Erkenntnis, dass nichts ohne Daseinszweck und die jeweiligen Mittel zu seiner Erfüllung existiere, dass ergo alle unserer Beobachtung zugänglichen Erscheinungen bestimmten, ihnen eigentümlichen Gesetzen unterworfen sind, um diesem Daseinszweck zu genügen.54 Gleiches gelte für den – der Schöpfung selbst entspringenden – Zusammenschluss der Menschen in einer Gesellschaft des Tauschhandels. Deren 51 Ebenda, S. 336. 52 Hutcheson, An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue, S. 180 (Originalschreibweise hier übernommen, samt Hervorhebung). 53 Vgl. Rouvillois, L’invention du progrès. 54 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 10  : »Par-tout où nos connoissances peuvent pénétrer, nous découvrons une fin et des moyens qui lui sont relatifs, nous ne voyons rien qui ne soit gouverné par des loix propres à son existence.«

Der Text 

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Ordnung müsse daher auf konstitutiven Gesetzen beruhen, die ihrerseits Teil der allgemeinen und unverrückbaren Gesetze der Schöpfung seien. La réunion des hommes en société, et des hommes heureux par cette réunion, est dans les vues du Créateur (…) ainsi nous devions regarder la société comme étant l’ouvrage de Dieu même  ; et les loix constitutives de l’ordre social comme faisant partie des loix générales et immuables de la création.55

Von dieser Gewissheit ausgehend gelte es, die »Naturgesetze der Gesellschaft« (»les loix naturelles de la société«) aufzudecken, um deren Sinn und Zweck zum Wohle aller Menschen zu erfüllen. Hierfür habe die Natur den Menschen folglich auch ein ausreichendes Maß an Einsicht zugestanden (»la nature nous a donné une portion suffisante de lumières«), um vom Zweifel zur Gewissheit (»évidence«)56 zu gelangen und die natürliche Ordnung der Gesellschaft zu erkennen. Eine Ordnung, die – wie bereits gezeigt – alle Interessen perfekt kombiniert und miteinander verbindet und die daher nur erkannt zu werden braucht, um befolgt zu werden.57 Ihren philosophischen Rückhalt findet diese Auffassung, wie wir sehen werden, in einer dem linearen Fortschrittsdenken der Zeit entlehnten Anthropologie, die den Bogen von den Arbeit erheischenden elementarsten Bedürfnissen des Menschen über seine Vergesellschaftung bis hin zu einer Ethik des Utilitarismus spannt. Nicht zu übersehen ist dabei allerdings die cartesianische Anlage der Argumentation, wonach es sich bei dem beschworenen ordre naturel der Gesellschaft – wie im Falle der eingeborenen Ideen Descartes’ – um eine der Schöpfung verbundene, gegenüber menschlicher Erfahrung also präexistierende Eigenschaft handelt. Die gottgegebene menschliche Vernunft (»la lumière divine qui habite en nous«) steht damit im cartesianischen Sinn – wie übrigens auch in dem von Le Mercier leitmotivisch übernommenen Axiom Malebranches58 – vor der einzig möglichen Alternative von évidence und ignorance hinsichtlich der Anerkennung der »loix constitutives de l’ordre social«.59 Genau hieran aber wird 55 Ebenda, S. 11. 56 Ebenda. Le Mercier greift hier auf die cartesianische Formel »du doute à l’évidence« zurück. 57 Ebenda, S. 11–12. 58 Vgl. Abschnitt 7.2.1. 59 Die lexikalischen Antonyme ignorance und évidence werden – (auch) dank der Verbreitung physiokratischer Ideen bis hin zur Déclaration des Droits von 1789 – zu Schlüsselwörtern im zeitgenössischen politischen Diskurs. Vgl. auch Rouvillois, L’invention du progrès, S. 58  : »Le Dieu de Malebranche n’est plus un Dieu ›père de famille‹ (…) mais un ›Dieu physicien‹ qui a établi une fois pour toute l’Ordre du monde dans sa perfection.«

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sich die zeitgenössische wie auch alle spätere Kritik entzünden, die der physiokratischen Lehre Dogmatismus und Sektierertum unterstellt. 7.3 Von der Physik zur Moral Wie bereits die Überschriften der drei Hauptabschnitte des Buches (I. Théorie de l’ordre, II. La théorie de l’ordre mis en pratique und III. Suite du développement de la seconde partie) signalisieren, folgt die Strategie der Darlegungen Le Merciers prinzipiell dem Apriorismus des Ordre-Konzepts, wie es im Discours préliminaire vorgestellt wurde. Andererseits ähneln Abfolge und inhaltliche Anordnung der einzelnen Kapitel einer seit Pufendorf üblichen Strukturierung der Naturrechtslehre (Zivilrecht/politisches Recht/Völkerrecht), die seit ihrer Neukonzipierung durch Quesnays in dessen Droit Naturel von 1765 als Plattform für die Weiterentwicklung und Verbreitung der physiokratischen Ideen in Anspruch genommen wird. Beide Aspekte stehen jedoch nicht im Widerspruch zueinander, da die herkömmliche Naturrechtslehre selbst einem deduktiven, von der Naturgesetzlichkeit auf die Zivilgesetzlichkeit und von der Schöpfung auf die apriorische »Raison Naturelle« schließenden Ansatz folgt.60 Darüber hinaus liefert vor allem Pufendorf selbst zahlreiche Anregungen, Begrifflichkeiten und Formulierungen, die in jeweils unterschiedlicher Weise sowohl die politischen Ideen Jean-Jacques Rousseaus als auch den politischen Diskurs des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier inspirieren. Durchaus grundlegend für die physiokratische Auslegung der politischen Philosophie des Naturrechts ist dabei der Versuch Le Merciers, die im cartesisch geprägten Rationalismus behauptete Trennung zwischen der körperlichen und der geistigen Ebene, zwischen Physik und Metaphysik – die auch der Siegeszug sensualistischer Konzepte von Locke bis Condillac nur bedingt aufgehoben hatte  –, endgültig zu überwinden. Der Esprit des lois von Montesquieu, daran sei erinnert, hatte diesen Dualismus noch als Verschiedenartigkeit des »monde physique« gegenüber dem »monde intelligent« beschrieben und dabei dennoch nach vergleichbar zuverlässigen Wegen ihrer wissenschaftlichen Erforschung gesucht.61 Für die klassische Naturrechts60 Vgl. u. a. Pufendorf, Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen, S. 49  : »Toutes les autres Maximes ne sont que des Conséquences de cette Loi Générale  ; Conclusion dont l’évidence se découvre aisément par les seules lumières de la Raison Naturelle, commune à tous les Hommes.« 61 Montesquieu, De l’esprit des lois, Bd. I, S. 89  : »Que le monde intelligent soit aussi bien gouverné que le monde physique.«

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lehre, bis hin zu Burlamaquis Principes du Droit Naturel von 1747, galt ohnehin die strikte Unterscheidung zwischen physischen und moralischen Antrieben menschlicher Handlungen  : »Il faut donc bien distinguer ici le physique du moral«.62 Pufendorf seinerseits hatte dabei die moralischen Antriebe auf die Begriffe Pflicht (Devoir) und Gewissen (Conscience Droite) zurückgeführt,63 während Burlamaqui, in Anlehnung an Hutcheson, das berühmte sentiment moral als moralischen Instinkt, ferner die Vernunft (la Raison) und schließlich den Willen Gottes (la Volonté de Dieu) für diesen menschlichen Antrieb heranzieht. Le Mercier verbindet nun stattdessen die bereits bekannte physiokratische Zurückführung allen politischen Denkens auf die Analyse ökonomischer Zwänge mit einem anthropologischen Ansatz, der in prinzipiell ähnlicher Sichtweise nicht nur die Entstehung sozialer Beziehungen, sondern auch deren moralische Qualität aus den natürlichen Zwängen des physischen Überlebens erklärt. Dabei steht wiederum jenes Begriffspaar Pate, das seit Hobbes alle sensualistisch-materialistisch geprägten Überlegungen zur Determiniertheit menschlichen Handelns kennzeichnet, nämlich ›Vermeidung von Schmerz‹ und ›Hinwendung zum Vergnügen‹. So präsentiert auch Le Mercier den Gegensatz von »aversion de la douleur« und »appétit des plaisirs« als physisch bedingten ersten Antrieb (»premier mobile«) menschlichen Handelns, der sich gleichsam als »die Seele aller gesellschaftlichen Bewegung« (»l’ame du mouvement social«) erweise. In diesem Licht sei bereits der gesellschaftliche Zusammenschluss der Menschen eine natürliche und notwendige Folge physischen Verlangens und Begehrens. Pressés par l’attrait du plaisir physique de satisfaire aux besoins essentiels à notre existence, et ne pouvant nous procurer, que par le moyen de la société, les choses relatives à ces mêmes besoins, il est évident que notre réunion en société est une suite naturelle et nécessaire de l’appétit des plaisirs.64

Logisch sei schließlich auch, dass im Umkehrschluss Entbehrung und Schmerz – wozu schon das Ausbleiben des Genießens (»privation des jouissances«) gezählt wird – als konkurrierender zweiter Antrieb die Herausbildung und den Erhalt der Gesellschaft begleite  :

62 Burlamaqui, Principes du Droit Naturel. Nouvelle Edition, S. 180/181. 63 Pufendorf, Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen, S. 1–4. 64 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 19.

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Ce que je viens de dire de ce premier mobile me dispense de parler du second  : il est aisé de concevoir que la privation des jouissances recherchées par l’appétit des plaisirs, est pour nous une occasion de douleur  ; et que l’aversion de la douleur concourt ainsi avec l’appétit des plaisirs, à la formation et au maintient de la société.65

Bereits in diesem Zusammenhang verweist Le Mercier, mehr oder weniger direkt, auf die physiokratische Vision einer ausschließlich auf Tauschhandel und Konsum ausgerichteten commercial society. Demnach gleicht die menschliche Existenz letztlich einem fortwährenden Konsum und ebendieser Umstand erklärt die physische Notwendigkeit der Gesellschaft  : »Nous ne pouvons exister sans consommer  ; notre existence est une consommation perpétuel  ; et la nécessité physique des subsistances établit la nécessité physique de la société.«66 Unmittelbare Relevanz im Hinblick auf die Frage der politischen Ethik besitzen nun vor allem die nächsten, über den gezeigten Ansatz hinausführenden Überlegungen Le Merciers. Sie wenden sich der Legitimität des Eigentums zu und verbinden dies mit dem Begriff einer naturgegebenen, daher ›absoluten Gerechtigkeit‹ (le juste absolu, la justice absolue). Wieder setzt Le Merciers Argumentation auf einer der Gesellschaftsbildung vorgelagerten Ebene physischer Notwendigkeit ein, da die Ordnung der Ideen (hier als »logische Abfolge« im Sinne einer  – übrigens häufig wiederkehrenden  – Reverenz an Condillacs liai­son des idées zu verstehen) dies erfordere.67 Denn es sei die Natur selbst, die dem Menschen – bei Strafe seines Untergangs – die Pflicht auferlege, ergo auch das natürliche Recht zugestehe, für seinen Unterhalt zu sorgen. Genau das Gleiche gelte demnach für die Entstehung und die natürliche Sanktionierung des Eigentums. Denn das dem Menschen zugestandene Recht, für seine Erhaltung zu sorgen, schließe das Recht ein, die hierfür nützlichen Dinge durch Arbeit zu erwerben und zu behalten. Or il est évident que le droit de pourvoir à sa conservation renferme le droit d’acquérir, par ses recherches et ses travaux, les choses utiles à son existence, et celui de les conserver après les avoir acquises. (…) ainsi le droit d’acquérir et le droit de conserver ne forment ensemble qu’un seul et même droit.68 65 Ebenda. 66 Ebenda, S. 20 (Hervorhebung R. Bach). 67 Ebenda, S. 23  : »dans l’ordre des idées, le besoin que les hommes ont de la société, doit se placer avant l’existence de la société«. 68 Ebenda, S. 24.

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So ist dem ordre des idées69 Genüge getan und an die Stelle gesellschaftlicher, das heißt juristischer, moralischer oder/und politischer, Sanktion tritt die physische Notwendigkeit. Sie ist es, die Moral, Recht und Gesetz – in diesem Fall das Recht auf Eigentum – ganz im Sinne eines Naturgesetzes – begründet  : »la nécessité fait la loi«.70 Dem Absolutheitsanspruch der physischen Notwendigkeit folgt so der Absolutheitsanspruch der moralischen Legitimität. Unabhängig von gesellschaftlichen Normen erfüllt daher das Eigentumsrecht in physiokratischer Sichtweise den Anspruch absoluter Gerechtigkeit  : »[C]e qui est d’une nécessité absolue est aussi d’une justice absolue.«71 Es mag dem Bemühen um zusätzliche gesellschaftliche Akzeptanz solcher Rechtsgründung geschuldet sein, dass Rechte und Pflichten überdies in den Kontext des allgegenwärtigen gesellschaftlichen Tauschhandels eingebettet und im Sinne des Gebens und Nehmens komplementär betrachtet werden  : (…) qui dit un droit, dit une prérogative établie sur un devoir, et dont on jouit librement, sans le secours de la supériorité des forces, parce que toute force étrangère, quoique supérieure est obligée de la respecter.72 Nous pouvons donc refermer tout le juste absolu dans un seul et unique axiome  : POINT DE DROITS SANS DEVOIRS  ; ET POINT DE DEVOIRS SANS DROITS.73

Le Mercier unterstreicht die Wichtigkeit dieser zweiten Verankerung des Eigentumsrechts samt seiner moralischen Absolution durch die im Zitat sichtbare drucktechnische Hervorhebung der entsprechenden Definitionen und Lehrsätze im Original des Textes. Dies leitet über zu der unausweichlichen, gleichwohl zeitgenössisch umstrittenen Frage der sozialen Ungleichheit, die mit dem Eigentumsrecht notwendigerweise verbunden ist. Und da sowohl die Entstehung wie auch die moralische Legitimität des Eigentums als Folge physischer Notwendigkeiten beschrieben wurde, gilt dies nun gleichermaßen für die »inégalité des conditions parmi les hommes«.74 Als notwendiges Ergebnis natürlicher Gegebenheiten und Zwänge ist auch sie jedweder moralischen Kritik überhoben. Als hilfreich für den Anspruch wissenschaftlicher Plausibilität der entsprechenden Argumentation erweist sich hier der zuvor eingeführte Begriff der propriété exclusive. Le Mercier hatte ihn verwendet, um den natürlichen Besitzanspruch jedes 69 Ebenda, S. 23. 70 Ebenda, S. 25. 71 Ebenda, S. 23 (Hervorhebung im Original). 72 Ebenda, S. 26  ; (Hervorhebung im Original). 73 Ebenda, S. 28  ; (Hervorhebung im Original). 74 Ebenda, S. 28.

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Menschen auf seine eigene Person sowie die von ihm durch Mühen und Arbeit erworbenen Dinge als exklusives, also jeden fremden Anspruch ausschließendes Eigentumsrecht zu definieren. »C’est donc de la nature même que chaque homme tient la propriété exclusive de sa personne, et celle des choses acquises par ses recherches et ses travaux.«75 Diese Exklusivität aber sanktioniert Besitz und Ausschluss zugleich. So folgert Le Mercier – in Anlehnung an ähnlich klingende Axiome der Physik fester Körper –, dass der Erwerb exklusiven Eigentums an einem bestimmten Gegenstand nicht zur selben Zeit durch verschiedene Personen erfolgen kann. Daher besitze ein ursprünglich gleiches Recht für alle Menschen im konkreten Fall jeweils einen ganz unterschiedlichen »Wert«. Dieser sei vollkommen unabhängig vom Gesetz und hinge lediglich von den unterschiedlichen Fähigkeiten, den »facultés«, der Menschen ab  : une fois que j’ai acquis la propriété exclusive d’une chose, un autre ne peut pas en être propriétaire comme moi et en même temps. La loi de la propriété est bien la même pour tous les hommes  ; les droits qu’elle donne sont tous d’une égale justice, mais ils ne sont pas tous d’une égale valeur, parce que leur valeur est totalement indépendante de la loi. Chacun acquiert en raison des facultés qui lui donnent les moyens d’acquérir  ; or la mesure de ces facultés n’est pas la même chez tous les hommes.76

In der Folge dieser naturgesetzlichen Zwänge käme es schließlich zu großen sozialen Unterschieden. Es sei daher falsch, die »inégalité des conditions« als ein Unrecht77 zu betrachten und davon auszugehen, dass dessen Ursprung in der Gesellschaft liege. Mit dieser abschließenden Bewertung zu Ursprung und Legitimität des Eigentums bezieht Le Mercier sehr bewusst eine Position, die sowohl der herkömmlichen Naturrechtslehre als auch im Besonderen der politischen Philosophie Jean-Jacques Rousseaus widerspricht. Darüber hinaus widerspricht sie der Auffassung des wichtigsten Vorläufers und Mitbegründers der modernen politi75 Ebenda, S. 24. 76 Ebenda, S. 28. 77 Ebenda. Le Mercier verwendet hier den Terminus »abus«, der eigentlich »Missbrauch« bedeutet  : »Il ne faut donc point regarder l’inégalité des conditions comme un abus qui prend naissance dans les sociétés.« Sowohl die Überlegung selbst als auch ihre Formulierung verweist unzweideutig auf die besondere Lesart, die Rousseau im Discours sur l’inégalité zum Thema ›soziale Ungleichheit‹ und zu ihrer – u. a. mit dem politischen Sprachmissbrauch verbundenen – Entstehung im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung vorgetragen hatte.

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schen Ökonomie, Boisguillebert, der die Folgen der Entstehung des Eigentums in einer mit Rousseaus Darstellung vergleichbaren Weise mit einem moralischen Niedergang der Gesellschaft verbunden hatte.78 Pufendorf und Burlamaqui, die ebenfalls, anders als Le Mercier, von der ursprünglichen Gleichheit und Gütergemeinschaft ausgingen, sahen wiederum kein Unrecht in der Herausbildung des Eigentums, stattdessen einen notwendigen Aspekt der Vergesellschaftung des Menschen. Wie sich aber im Weiteren zeigt, hat Le Merciers Argumentation, die sowohl dem gesellschaftlichen Ursprung des Eigentums als auch seiner Qualifizierung als ›Unrecht‹ widerspricht, vor allem den Gegensatz zur politischen Ethik Rousseaus im Auge. Dies erscheint insofern folgerichtig, als sich die Gegensätze der von beiden Autoren vertretenen Ansichten gerade auch auf die Bewertung der Rolle des Eigentums in der Menschheitsgeschichte zurückführen lassen. Darüber hinaus zwingt die sinnverändernde terminologische Annäherung an Rousseau gleichzeitig zu bewusster Abgrenzung. So verbindet Le Mercier beispielsweise seine Behauptung einer der Menschennatur innewohnenden Veranlagung zur Eigentumsbildung mit einer Argumentation, die sich gezielt gegen den für Rousseaus politische Ethik absolut entscheidenden Freiheitsbegriff richtet und diesen durch die physiokratische Alternative ersetzt. Wir erinnern uns  : Bereits in seinem Discours sur l’inégalité hatte Rousseau anlässlich der gleichen Fragestellung des Übergangs vom Naturzustand zum Gesellschaftszustand den physischen Handlungsantrieb grundlegend von der menschlichen Willensbildung unterschieden, einer materialistischen Sichtweise und einem physischen Determinismus damit widersprochen. An ihre Stelle hatte er den freien Willen gesetzt und ihn zum Kernkriterium des Menschseins erklärt. La Nature commande à tout animal, et la Bête obéit. L’homme éprouve la même impression, mais il se reconnoît libre d’acquiescer, ou de resister  ; et c’est surtout dans la conscience de cette liberté que se montre la spiritualité de son ame  : car la Physique explique en quelque manière le mécanisme des sens et la formation des idées  ; mais dans la puissance de vouloir ou plûtôt de choisir, et dans le sentiment de cette puissance on ne trouve que des actes purement spirituels, dont on n’explique rien par les Loix de la Mécanique.79

Die freie Willensentscheidung als Moral begründende Instanz wird damit zur Grundlage eines Freiheitsbegriffs erhoben, dessen politische Umsetzung als 78 Vgl. Abschnitt 2 im vorliegenden Buch. 79 Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité, S. 141/142.

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volonté générale im Sinne kollektiver Selbstbestimmung folgerichtig mit dem Begriff der égalité als Ausdruck politischer Gleichberechtigung verbunden ist. Demgegenüber steht und fällt der vom Partikularinteresse ausgehende, ausschließlich individualistische Freiheitsbegriff des physiokratischen Liberalismus mit dem des Eigentums. Par la raison que le droit de jouir et la liberté de jouir ne peuvent exister l’un sans l’autre, on doit les regarder comme ne formant qu’une seule et même prérogative qui change de nom, selon la façon de l’envisager. Ainsi on ne peut blesser la liberté sans altérer le droit de propriété, et on ne peut altérer le droit de propriété, sans blesser la liberté.80

Unübersehbar handelt es sich daher bei der folgenden Gegenüberstellung von metaphysischer und physischer Freiheit durch Le Mercier nicht nur um eine Persiflage des berühmten ersten Satzes des Contrat social, sondern gleichzeitig um die Formulierung des physiokratischen Anspruchs, den eigentlich richtigen Freiheitsbegriff mit dem politischen Prestigewort liberté zu verbinden und diesen gegenüber dem Anspruch Rousseaus abzugrenzen  : Il est sensible que par le terme de liberté il ne faut point entendre cette liberté métaphysique qui ne consiste que dans la faculté de former des volontés  ; c’est la faculté, la liberté de les exécuter dont il s’agit ici  ; car sans la seconde, la première est absolument inutile. Un homme conserve jusqes dans les fers la liberté métaphysique de désirer, de vouloir  ; mais il n’a pas alors la liberté physique de l’exécution. Je donne à cette seconde liberté le nom de physique, parce qu’elle ne se réalise que dans les actes physiques qu’elle a pour objet. Or il est évident que celle-ci est la seule qui puisse intéresser la société  ; car dans la société tout est physique  ; aussi estce sur l’ordre physique que l’ordre social est essentiellement et nécessairement établi. Tel est l’idée qu’on doit se former de la liberté sociale, de cette liberté qui est tellement inséparable du droit de propriété qu’elle se confond avec lui.81

Freiheit und Eigentum, die auf diese Weise miteinander identifiziert und zu einem einzigen Begriff verschmolzen werden, bilden für Le Mercier die der Menschennatur eigentümliche Basis des Glücksstrebens. Dessen größtmögliche Befriedigung wiederum besteht – getreu dem marktwirtschaftlichen Sinn der Gesellschaft – in 80 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 43. 81 Ebenda, S. 44 (Absatz im Original  ; Hervorhebungen im ersten Abschnitt R. Bach, im zweiten entsprechend dem Original).

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der größtmöglichen materiellen Bereicherung und der größtmöglichen Freiheit des Genießens  : »(…) le plus grand bonheur possible consiste pour nous dans la plus grande abondance possible d’objets propres à nos jouissances, et dans la plus grande liberté possible d’en profiter.«82 Die Verallgemeinerung dieser Formel beschreibt aus physiokratischer Sicht den zentralen Stimulus gesellschaftlichen Handelns und macht daher in besonderer Weise die ethische Dimension dieser Verbindung des Freiheitsbegriffs mit Besitzstreben, Konkurrenz und marktwirtschaftlichem Verhaltenskodex deutlich  : Voulez-vous qu’une société parvienne à son plus haut degré possible de richesse, de population, et conséquemment de puissance  ? Confiez ses intérêts à la liberté  ; faites que celle-ci soit générale  ; au moyen de cette liberté, qui est le véritable élément de l’industrie, le désir de jouir irrité par la concurrence, éclairé par l’expérience et l’exemple, vous est garant que chacun agira toujours pour son plus grand avantage possible, et par conséquent concourra de tout son pouvoir au plus grand accroissement possible de cette somme d’intérêts particuliers dont la réunion forme ce qu’on peut appeller l’intérêt général du corps social, ou l’intérêt commun du chef et de chacun des membres dont ce corps est composé.83

Wenn in diesem Zusammenhang in einer mit Rousseaus Diktion nahezu übereinstimmenden Wortwahl vom Gemeininteresse der Gesellschaft (»intérêt général du corps social«) gesprochen wird, so darf der für die politische Ethik relevante grundlegende Unterschied zur Logik des Contrat social nicht übersehen werden  : Im Vordergrund der physiokratischen Lesart stehen Maximierung und Konkurrenz der Partikularinteressen, deren undifferenzierte Summierung zum Gemeininteresse erklärt wird. Die politische Ethik des Contrat social hatte demgegenüber das Gemeininteresse und den politischen Gemeinwillen, die »volonté générale«, in den Vordergrund gestellt und das staatsbürgerliche Engagement der Einzelnen als citoyens zu dessen tragenden Säulen erklärt. Ironisierend verweist daher 82 Ebenda, S. 39 (Hervorhebung im Original). 83 Ebenda, S.  47 (Hervorhebungen R. Bach). Die mit der Bezeichnung »chef« anklingende Bezugnahme auf ein vormundschaftliches Gesellschaftsmodell ist insofern irreführend, als die ausschließliche Befugnis des obrigkeitlichen »Souveräns« in der Durchsetzung der gottgegebenen Ordnung, das heißt des ordre naturel, der Gesellschaft besteht, worunter das zum Naturgesetz erhobene Eigentumsrecht und die ebenfalls naturgesetzlich verstandene freie Konkurrenz verstanden werden. Im Abschnitt zur Theorie des legalen bzw. sozialen Despotismus wird dieser immer wieder missverstandene Umstand näher erläutert.

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Le Mercier auf ebendiesen grundsätzlichen Unterschied zur politischen Ethik Rousseaus, indem er dessen Vorstellung von der Erziehbarkeit des Menschen persifliert und dem die physiokratische Auffassung von der wirklichen Menschennatur entgegenhält  : Ne cherchons point dans les hommes des êtres qui ne soient point des hommes  : la nature, comme je l’ai déja dit, a voulu qu’ils ne connussent que deux mobiles, l’appétit des plaisirs et l’aversion de la douleur. (…) Désir de jouir et liberté de jouir, voilà l’ame du mouvement social.84

So spiegeln die Darlegungen Le Merciers nicht nur das Bewusstsein von der Existenz der beiden konkurrierenden Auffassungen zur politischen Ethik einer bürgerlichen Gesellschaft, sie zeigen vielmehr auch die von einem republikanischen Grundkonsens beider Parteien ausgehende zielgerichtete Auseinandersetzung um die anthropologischen Ansatzpunkte und Schlüsselbegriffe republikanischen Denkens. Die gezeigten Unterschiede in der Lesart des Freiheitsbegriffes sind dafür nur ein Beispiel. Die aus diesem Dissens zwischen den Auffassungen der Physiokraten einerseits und denen Rousseaus sowie anderer Kritiker des Liberalismus andererseits hervorgehende Ethikdebatte der Aufklärung wird daher spätestens seit dem Erscheinen des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques durch einen verbalen Konformismus des republikanischen Diskurses überlagert. Dieser verbale Konformismus wird sich in den siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts, wie wir zeigen werden, zulasten der Sprache des Contrat social, das heißt im Sinne ihrer Ausbeutung und Sinnverfälschung, weiterentwickeln und dabei nicht nur die Spuren dieser Ethikdebatte verwischen, sondern gleichzeitig zu einer historisch weit über die Revolution hinausreichenden fundamentalen Verwirrung der politischen Sprache und ihrer revolutionären Leitbegriffe beitragen. In ebendieser für Zeitgenossen wie für Historiker mitunter schwer zu durchdringenden Weise werden sich die Konsequenzen der gegensätzlichen Auffassungen als Teile der mit unterschiedlicher Bewusstheit geführten, gleichwohl allgegenwärtigen Ethikdebatte der Aufklärung in allen künftigen politischen Veröffentlichungen niederschlagen. Philosophisch erfasst und in ihrer Inkompatibilität beschrieben finden sich die damit verbundenen Positionen unter anderem in Jeremy Benthams Introduction to the Principles of Morals and Legislation

84 Ebenda, S. 45 (erster Satz  : Hervorhebung R. Bach  ; letzter Satz  : Hervorhebung durch Le Mercier im Sinne eines Lehrsatzes).

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von 178085 sowie fünf Jahre später in der für diese Debatte entscheidenden und durch sie veranlassten Begründung des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant in dessen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.86 Wir werden später darauf zurückkommen. 7.4 Despotismus, öffentliche Meinung und politische Bildung Kein anderes physiokratisches Schlagwort konnte größeres Unheil über das zeitgenössische Ansehen sowie die Rezeptionsgeschichte der Lehre Quesnays bringen als dasjenige eines sozialen, legalen oder persönlichen Despotismus.87 Und in der Tat muss man die Verwendung des Despotismusbegriffs zu den sprachlichen Absurditäten der physiokratischen Schule zählen. Denn in Wahrheit heben die mit einer gewissen inneren Logik vorgetragenen Argumente Le Merciers den erstaunlich anmutenden Kontrast zwischen seiner leidenschaftlichen Forderung nach Meinungsfreiheit und öffentlicher Bildung einerseits sowie seinem Eintreten für politischen Despotismus andererseits auf. Und der geforderte despotisme social, légal oder personnel bezeichnet in der Sprache des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques lediglich die »heilige Respektierung« beziehungsweise die »heilige Autorität der Gesetze« (»le maintient religieux des loix«88, »l’autorité sacrée des loix«89). Doch anstatt dieser, wenn auch seltsam anmutenden Argumentation wahrheitsgemäß zu folgen, nutzten die Gegner der Physiokraten diesen willkommenen Reibungspunkt für eine ideologische Kampagne, deren Spuren bis in die Gegenwart reichen und doch immer nur eines erkennen lassen, nämlich die bewusste oder unbewusste Verkennung der Texte über die geurteilt wird. So gesellt sich dieses Vorurteil zu den anderen gängigen Fehleinschätzungen, wonach etwa die »Sekte« der Physiokraten keine politische, sondern lediglich eine ökonomische Theorie begründete, diese sich noch dazu nur auf den Agrarsektor beziehe und der Arbeit in dieser Theorie kein wertschöpfender Charakter beigemessen werde.

85 J. Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. (Printed in the year 1780, and now first published), London 1789. 86 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785. 87 Der historiographisch weit verbreitete Terminus eines aufgeklärten Despotismus findet sich dagegen nicht im verbalen Register der Physiokraten. 88 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 193. 89 Ebenda, S. 185.

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Tatsache ist stattdessen, dass es gerade die Physiokraten sind, hier insbesondere Le Mercier de la Rivière, die der öffentlichen Meinung erstmals eine staatstragende Rolle zuweisen90 und die uneingeschränkte Freiheit der Meinungs­äußerung für zwingend notwendig erachten. Während diese Position jedoch im vorliegenden Text noch eher abstrakt erörtert wird, belegt ein darauf fußender Artikel zum Thema Liberté de la presse, der nur wenig später im offiziellen Sprachrohr der physiokratischen Science nouvelle, den 1767 neugegründeten Ephémérides du citoyen, erscheint, die Ernsthaftigkeit dieser zentralen politischen Forderung der Physiokraten. Expressis verbis wird darin die uneingeschränkte Meinungsfreiheit als Voraussetzung für die öffentliche Bildung zum Wohle der Allgemeinheit gefordert. (…) aucune instruction ne peut se répandre sans la liberté de penser, d’écrire, de proposer ses idées, de se tromper même, & de se redresser ensuite en connoissance de cause & lorsqu’on nous a dévoilé nos erreurs. C’est cette liberté de laquelle seule peut naître la lumière, mere de tout bien (…).91

Die eigentliche Grundlage dieser physiokratischen Forderung nach größtmöglicher Freiheit im Austausch der Gedanken und Meinungen bildet die Überzeugung von der Unfehlbarkeit des vorgeschlagenen politischen Systems, die Überzeugung von der Evidenz der Gesetze eines ordre naturel der politischen Gesellschaft. Genau in diesem Sinn setzt Le Mercier auf den freien Widerstreit der Meinungen (»le choc des opinions«, »le combat des opinions«), um  – frei nach Descartes, dem gesunden Menschenverstand folgend – Irrtum durch Evidenz zu ersetzen  : »(…) l’erreur ne peut soutenir la présence de l’évidence  : aussi la contradiction n’est-elle pas moins avantageuse à l’évidence, que funeste à l’erreur, qui n’a rien tant à redouter que l’examen.«92 Übertragen auf die politische Praxis folgt daraus – und ebendies meint und erklärt Le Mercier als Sinngebung seiner Vorstellung vom Despotismus der Naturgesetze  –, dass »die größtmögliche Freiheit der Diskussion und des Widerspruchs« notwendigerweise für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu gelten habe  : »Il est tellement nécessaire de laisser au corps entier de la société la plus grande liberté possible de l’examen et de la contradiction.«93 90 Ebenda, S. 68  : »(…) le combat des opinions doit nécessairement conduire à l’évidence.« Und S. 75  : »L’opinion, quelle qu’elle soit, est véritablement la Regina del mundo«. 91 Ephémérides du citoyen, 1768, Tome septième, S. 21. 92 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 67/68. 93 Ebenda.

Despotismus, öffentliche Meinung und politische Bildung 

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Statt also einem politischen Despotismus nach herkömmlichem Verständnis das Wort zu reden, wird gerade umgekehrt die politische Theorie des Liberalismus mit dieser Argumentation zugunsten freier Meinungsäußerung und insbesondere der Anerkennung der opinion publique als staatstragendem Machtfaktor auf eine qualitativ neue Stufe gehoben. Mithin gilt dies auch für die physiokratische Lesart der Naturrechtslehre, wie Quesnay sie begründet und propagiert hatte.94 In diesem Zusammenhang von einem Despotismus der Evidenz als einem legalen Despotismus zu sprechen folgte im Übrigen einer Anregung, die wir bereits bei Quesnay und Mirabeau finden. So hatte Mirabeau  – unter seinem für die physiokratische Zeitschrift Ephémérides du citoyen geltenden Pseudonym – in einer Lettre de Monsieur B…. à Monsieur ….. Sur la nécessité de l’Instruction politique vom 4. Januar 1767 genau diese Formulierungen bereits verwendet  : Il suit de tout ceci, que l’évidence doit seul être le despote de l’Univers  ; qu’il n’y a de bon Gouvernement que le despotisme légal95  ; c’est-à-dire l’exécution absolue des Loix données par le Despote qui nous fait respirer. L’évidence donc est le palladium des sociétés, & de l’humaité entière.96

Auch Quesnay hatte in seiner Abhandlung zum Despotisme de la Chine97 seiner spezifischen Vorstellung vom Droit naturel jene Unfehlbarkeit und Evidenz bescheinigt, die sich »jeglicher Intelligenz und menschlichen Vernunft mit geometrischer und arithmetrischer Präzision bemächtigen« würde.98 Im gleichen Zusammenhang

94 Vgl. Abschnitt 6. 95 Hervorhebung durch Mirabeau selbst. 96 Die Formulierung »des Loix données par le Despote qui nous fait respirer« (»Gesetze, erlassen durch den Despoten, der uns atmen lässt«, Übersetzung R. Bach) ist Mirabeaus Umschreibung für das Attribut der Naturgesetzlichkeit. Auch hier wird deutlich, dass mit despotisme légal lediglich ein Befolgen der Naturgesetze (des Eigentums und der Konkurrenz) gemeint ist und nicht – wie von den Gegnern der Physiokraten immer wieder suggeriert – ein Despotismus im Sinne politischer Willkür. Ephémérides du citoyen, 1767, Tome second, S. 54. 97 Die Abhandlung erscheint verteilt auf die März-, April-, Mai- und Juniausgabe der neu­gegrün­ deten Ephémérides du citoyen unter dem Pseudonym M. A. (Monsieur Alpha). 98 F. Quesnay in Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 645  : »§8. Le droit naturel. Les lois physiques qui constituent l’ordre naturel le plus avantageux au genre humain, et qui constatent exactement le droit naturel de tous les hommes, sont des lois perpétuelles, inaltérables et décisivement les meilleurs lois possibles. Leur évidence subjugue impérieusement toute intelligence et toute raison humaine, avec une précision qui se démontre géométriquement et arithmétiquement.«

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hatte er auch Le Merciers sophistisch anmutende Unterscheidung zwischen »legitimen« und »willkürlichen Despoten« vorweggenommen.99 So verbleibt als Kernaussage der Forderung nach dem, was Le Mercier, je nach Kontext, einen legalen, natürlichen, sozialen oder persönlichen Despotismus nennt,100 lediglich die Idee, dass dem »natürlichen Despotismus der Evidenz«, verstanden als Einsicht in die Naturgesetzlichkeit des ordre naturel, bedingungslos zu folgen ist  : »Le despotisme naturel de l’évidence amene le despotisme social«.101 Ähnlich wie auf eine mathematische Gewissheit setzt Le Mercier in ebendiesem Sinn auf die »gebieterische Kraft der Evidenz« (»la force despotique de cette évidence«),102 die sich jedoch im offenen Widerstreit der Meinungen (»le choc des opinions … le combat des opinions …«103) bewähren muss. Und um jeden Zweifel an ebendieser Auslegung des Despotismusbegriffs zu beseitigen, ergänzt er dessen inhaltliche Festlegung als »autorité sacrée des loix«,104 »maintien religieux des loix«105 etc., wiederum mit naturwissenschaftlicher Bezugnahme auf den griechischen Mathematiker Euklid  : Dieser sei ein »Despot«, da er mit den von ihm gefundenen mathematischen Gesetzen seit Jahrhunderten widerspruchsfrei alle aufgeklärten Völker beherrsche. »Euclide est un véritable despote  ; (…) depuis des siècles le despote Euclide regne sans contradiction sur tous les peuples éclairés.«106 Gleichwohl gelte es, die von Le Mercier als Regina d’el mundo107 und wichtigste politische Kraft beschriebene öffentliche Meinung108 im Hinblick auf das Bekanntmachen und Durchsetzen der évidence nicht sich selbst zu überlassen. Um also die Einsicht in die Naturgesetzlichkeit des ordre naturel zur vorherr 99 »Despote signifie MAITRE ou SEIGNEUR  : ce titre peut donc s’étendre aux souverains qui exercent un pouvoir absolu réglé par les lois, et aux souverains qui ont usurpé un pouvoir arbitraire qu’ils exercent en bien ou en mal sur les nations.« Ebenda, S. 564. 100 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 176, 193, 201, 246. 101 Ebenda, S. 176. 102 Ebenda, S. 173. 103 Ebenda, S. 68. 104 Ebenda, S. 185. 105 Ebenda, S. 193. 106 Ebenda, S. 194. 107 Mit seiner Formulierung »L’opinion, quelle qu’elle soit, est véritablement la Regina d’el mundo«, ebenda, S. 75 (Hervorhebung im Original), folgt Le Mercier einer bereits von Pascal verwendeten Formulierung  : »Ainsi l’opinion est comme la reine du monde«, die Pascal allerdings mit der Bemerkung fortsetzt  : »mais la force en est le tyran«, in  : Pensées de Pascal, Bd. I, hrsg. E. Havet, Paris 1866, S. 61. Für die Anlehnung an Pascal spricht auch dessen ganz ähnliche Bezugnahme auf Euklid. 108 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 64  : »il n’est point dans la nature de force égale à celle de l’opinion«.

Despotismus, öffentliche Meinung und politische Bildung 

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schenden opinion publique zu machen, fordert Le Mercier, wie bereits vor ihm Quesnay,109 die öffentliche Bildung (l’instruction publique) zur wichtigsten Institution des Staates zu erheben, nachgeordnet lediglich derjenigen der Gesetze sowie derjenigen einer staatstragenden Autorität (autorité tutélaire).110 Es soll die Aufgabe jener »dritten Klasse sozialer Institutionen« sein, alle nur denkbaren Mittel für die Propagierung des ordre naturel einzusetzen und gleichzeitig alles zu bekämpfen, was dieser Einsicht entgegenwirkt.111 So fordert Le Mercier unter anderem »doktrinäre« Lehrbücher in jedermanns Hand, die in Analogie zur Verbreitung der Evangelien im freien Austausch der Meinungen (»la plus grande liberté possible dans l’examen et la contradiction«112), von der Evidenz des ordre naturel überzeugen können  : Quoique la foi soit un don de Dieu, une grace particuliere, et qu’elle ne puisse être l’ouvrage des hommes seuls, on n’en a pas moins regardé la prédication évangélique, comme nécessaire à la propagation de la foi  : pourquoi donc n’auroit-on pas la même idée de la publication de l’ordre113 il faut des livres doctrinaux dans ce genre, et qui soient dans les mains de tout le monde114

Die Bedeutung dieser Forderung für die Durchsetzung einer zum ordre naturel verklärten marktwirtschaftlichen Ordnung kann für das physiokratische Ver109 Quesnay in Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 375  : »La première loi positive, la loi fondamentale de toutes les autres lois positives, est l’institution de l’instruction publique et privée des lois de l’ordre naturel, qui est la règle souveraine de toute législation humaine et de toute conduite civile, politique, économique et sociale. Sans cette institution fondamentale, les gouvernements et la conduite des hommes ne peuvent être que ténèbres, égarements, confusion et désordres.« 110 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 77  : »De la forme essentielle de la société  : elle consiste dans trois sortes d’institutions  ; celle des loix, et par conséquent des Magistrats  ; celle d’une autorité tutélaire  ; celle enfin de tous les établissements nécessaires pour étendre et perpétuer dans la société la connoissance évidente de son ordre naturel et essentiel.« 111 Ebenda, S. 80/81  : »C’est pour prévenir cet oubli de l’ordre et ses effets funestes, que la troisième classe des institutions sociales est nécessaire  : elle admet toutes les mesures qu’on peut prendre, tous les moyens qu’on peut embrasser pour étendre, perfectionner et perpétuer la connoissance évidente de l’ordre, et elle rejette tout ce qui pourroit tendre à concentrer et affoiblir cette connoissance. Au moyen de cette troisième classe d’institutions, on verra constamment regner l’évidence de l’ordre naturel et essentiel des sociétés, de cet ordre le plus avantageux au corps social.« 112 Ebenda, S. 62. 113 Ebenda, S. 66. 114 Ebenda, S. 67.

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ständnis der Sciences morales et politiques nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wie ein roter Faden zieht sich dieses Thema denn auch seit seiner Begründung in Quesnays Maximes durch alle physiokratischen Schriften, und es ist kein Zufall, dass sich inbesondere um dieses Anliegen die entscheidenden Aktivitäten der physiokratisch geprägten Akteure der Französischen Revolution ranken werden. Le Mercier selbst widmete denn auch genau diesem Thema seine nächste umfangreiche Abhandlung, die er im Februar 1774 im Auftrag des schwedischen Königs Gustav III. fertigstellt und 1776 in Stockholm und Frankfurt am Main veröffentlicht.115 Wie wir sehen werden, handelt es sich dabei um eine Weiterentwicklung der physiokratischen Positionen, die dort bereits aufs Engste mit der politischen Terminologie des Contrat social von Rousseau verschmelzen. Letzteres gilt, wie wir ebenfalls noch sehen werden, in vergleichbarer Weise auch für die unzähligen volkstümlichen Schriften, die als so genannte Katechismen – der ›Bürgermoral‹ oder der ›natürlichen Ordnung‹ etc.  – die physiokratischen Ansichten im Sinne der geforderten instruction publique, politique oder sociale verbreiten sollen. Auch was diese immerhin äußerst zahlreichen und allem Anschein nach wirkmächtigen Texte angeht, verzeichnet die Historiographie der politischen Ideengeschichte eine empfindliche Lücke.116 Verwiesen sei hier vorab auch auf die Gründung eines Journal d’instruction sociale par les citoyens Condorcet, Sieyès et Duhamel im Jahre 1793, das sich – angesichts des wachsenden Einflusses jakobinischer Vorstellungen und der sprachlichen Verwirrungen der Revolution  – vor allem der Aufgabe verschreibt, die »wirklichen Prinzipien und Begriffe der Sciences morales et politiques« zu erklären,117 da »das wirkliche System der Ökonomisten (zeitgenössisches Synonym zu Physiokraten) nur deshalb verpönt blieb, weil es nicht verstanden wurde«.118

115 Le Mercier de la Rivière, De l’Instruction Publique ou Considérations morales et politiques sur la Nécessité, la Nature et la Source de cette Instruction, Stockholm, Frankfurt am Main 1776. 116 Es muss in diesem Zusammenhang als Ausnahme gelten, dass sich K. M. Baker in seiner Untersuchung zur opinion publique in der französischen Spätaufklärung wenigstens einem dieser besonderen Texte, nämlich dem Catérchisme du citoyen ou Élémens du droit public français, par demandes et réponses von G.-J. Saige, zuwendet. Vgl. K. M. Baker, Au tribunal de l’opinion. Essais sur l’imaginaire politique au XVIIIe siècle, Paris 1993. 117 »Le but de ce Journal est de fixer ces notions, de déterminer ces théories. Une des principales causes du peu de progrès des sciences morales et politiques, et sur-tout de la difficulté d’en répendre, d’en faire adopter les vrais principes, c’est l’imperfection de la Langue qu’elles emploient.« Journal d’instruction sociale. Par les citoyens Condorcet, Sieyès et Duhamel (1793), Paris 1981, S. 2. 118 »Tel est le vrai système des économistes, qui n’a été calomnié que pour n’avoir pas été entendu«  ; ebenda, S. 2 und 13.

8 Die publizistische Verbreitung der politischen Doktrin der Physiokraten

Seit Januar 1767, also bereits mehrere Monate vor dem Erscheinen des physiokratischen Hauptwerkes L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier de la Rivière, wird das schon 1765 von Nicolas Baudeau gegründete Journal Ephémérides du citoyen zum offiziellen Organ der Schule Quesnays. Der neu hinzugekommene Untertitel der Monatsschrift (Bibliothèque raisonnée des Sciences morales et politiques) signalisiert den Anspruch, künftig die politische Philosophie – also keine auf Wirtschaft oder gar Agrarfragen beschränkte Lehre – in umfassender Weise zu vertreten. Unter diesem Rubrum der Sciences morales et politiques werden sich fortan, bis hin zur Idéologie Destutt de Tracys, die physiokratisch inspirierten Autoren des politischen und ökonomischen Liberalismus versammeln. Jegliche Erforschung insbesondere des politischen Denkens der Schule Quesnays sowie seiner Ausbreitung im vorrevolutionären Frankreich ist daher auf diese Quelle in besonderer Weise angewiesen. Ein programmatisches Avertissement de l’auteur, das den ersten Band der neuen physiokratischen Monatsschrift eröffnet, klärt über deren Anliegen auf. Ausführlich werden hier einige Grundsätze der Lehre Quesnays auf dem weiterentwickelten Niveau seiner Abhandlung zum Droit naturel von 1765 erörtert. Hervorgehoben wird deren Anspruch auf naturwissenschaftliche Gültigkeit. Ein Qualitätssiegel, das mit der kausalen Verknüpfung der physischen, moralischen und sozialen Ebene des Ordre naturel begründet wird  : Quel est dans le physique, & conséquemment dans le moral, l’enchaînement des causes & des effets qui constituent l’ordre politique, évidemment le plus avantageux possible aux Empires, fondés sur les vrais principes de l’ordre social (…)  ?1 Le développement & les solutions de ces grandes & sublimes questions forment les sciences morales & politiques les plus utiles, & les plus augustes des connoissances philosophiques.2 La Doctrine morale & politique des Principes constitutifs de l’ordre, est donc une Science (…).3 1 Ephémérides du citoyen, 1767, Tome premier, S. 4/5 (Hervorhebungen im Original). 2 Ebenda, S. 6 (Hervorhebungen im Original). 3 Ebenda, S. 25 (Hervorhebungen im Original).

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Die publizistische Verbreitung der politischen Doktrin der Physiokraten

In diesem Zusammenhang wird Quesnays Lehre auch als Kulminationspunkt menschlicher Erkenntnisfähigkeit gefeiert.4 Bezeichnenderweise sind es dann die Themen Instruction politique und Droit naturel, die den Fokus der ersten Ausgaben bestimmen  : Instruction politique, weil es – ganz im Sinne der wichtigsten von Quesnay erhobenen Forderungen – um die Deutungshoheit politischer Begriffe und Denkfiguren und um deren Verbreitung geht  ; Droit naturel, weil sich die physiokratische Doktrin des politischen und ökonomischen Liberalismus seit dem Erscheinen des gleichnamigem Artikels von Quesnay im Jahre 1765 als legitime Erbin der akademisch institutionalisierten Naturrechtslehre betrachtet. 8.1 Instruction politique Was die Instruction politique angeht  – sie ist Gegenstand einer im ersten Band der Zeitschrift abgedruckten Lettre de Monsieur B…. à Monsieur  …..5  –, so ist zunächst auf eine scheinbar unbedeutende, gleichwohl signifikante verbale Abweichung gegenüber dem Sprachgebrauch Quesnays zu verweisen. Denn dieser hatte in den Ende 1758 verfassten Maximes générales du gouvernement économique d’un royaume agricole6 – übrigens der ersten konsequent politisch inspirierten Auslegung des Tableau économique  – ebenso wie in seiner Abhandlung zum Droit naturel noch in allgemeiner Weise von instruction publique, nicht von instruction politique gesprochen. Gleichwohl hatte er jedoch die ›nationale Aufklärung über die allgemeinen Gesetze des ordre naturel der perfektesten Regierung‹ bereits zur zweitwichtigsten seiner Maximes erhoben.7 Dem vorangestellt war lediglich die Zurückweisung der Gewaltenteilung von Montesquieu (Maxime première). Auch dies ein Verweis auf die primär politische Inspiration der Maximes générales. Be4 »C’est cette Science que nous osons appeler la plus sublime dont l’Homme soit capable.« Ebenda, S. 11. 5 Der Autor ist also Mirabeau, während sich hinter den Lettern M. A oder M. Alpha Quesnay selbst, hinter H. Dupont de Nemours und hinter L. bzw. LB Baudeau verbergen. 6 Eine moderne Ausgabe der Texte Quesnays (Quesnay, Physiocratie) legt das Erscheinungsdatum der Maximes auf das Jahr 1774 (vgl. ebenda, S. 448), während der Mitstreiter und Schüler Quesnays, Dupont de Nemours, in einer 1769 veröffentlichten Notice abbrégée …, das Erscheinungsdatum der Maximes – unter Bezugnahme auf Äußerungen Quesnays – auf Dezember 1758 legt. Vgl. die umfangreiche Ausgabe der Werke Quesnays von A. Oncken (Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay), S. 155 sowie 329 und 330, wo Oncken selbst auf die erweiterte Neuauflage der Maximes als Teil der 1768 erscheinenden Physiocratie verweist.   7 Ebenda, S. 331  : »II. Que la nation soit instruite des lois générales de l’ordre naturel, qui constituent le gouvernement évidemment le plus parfait.« (Schrägdruck im Original).

Instruction politique 

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deutsam erscheint es auch, wenn bereits in Quesnays Abhandlung zum Droit naturel die Einrichtung der instruction publique et privée zum fundamentalsten aller zu erlassenden Gesetze erhoben wurde.8 Vor allem, so hatte Quesnay hier – offenbar bereits mit bewusster Bezugnahme auf ein zentrales Argument der politischen Philosophie des Contrat social – argumentiert, wäre nur so die korrekte Unterscheidung von Gemeininteresse und Partikularinteresse zu vermitteln.9 Mit dem Abdruck der erwähnten Lettre de Monsieur B…. à Monsieur ….. Sur la nécessité de l’Instruction politique10 im ersten Band der Ephémérides wird nun dieser physiokratischen Hauptforderung nach öffentlicher respektive politischer Bildung Rechnung getragen. Im Fokus steht dabei, ganz im cartesischen Sinn, der Gegensatz von opinion und évidence hinsichtlich der Einsicht in den Zusammenhang, die Verkettung (liaison, chaîne …) natürlicher beziehungs­weise physischer und sozialer Gesetzmäßigkeiten. Aus der évidence, das heißt der Einsicht in die physischen Gesetze, die der Schöpfer dem Universum gab (»l’évidence des Loix physique données à l’Univers par son Auteur«11), soll sich der Gehorsam, das heißt das notwendige Befolgen dieser Gesetze, ergeben (»la nécessité de l’obéissance à ces Loix«12). In logischer Folge entstünde so aus der Arbeit die Gesellschaft und mit der Gesellschaft das Eigentum, das seinerseits Rechte und Pflichten der Menschen begründe, ihnen Freiheit beschere und schließlich, auf dem Wege positiver, das heißt von Menschen gemachter Gesetzgebung, die Sicherheit des »heiligen Eigentums«. Der Verfasser nennt dies »la liaison des principes naturels & leurs conséquences«13  : (…) la nécessité de l’obéissance à ces Loix entraîne celle du travail  ; de la nécessité du travail nait celle de l’association ou société. Le premier pacte est la propriété. Sur l’immunité de celle-ci, portent les droits des humains  ; les droits respectifs établissent les devoirs respectifs. La propriété donc désigne nos devoirs, circonscrit nos droits, dont le maintien constitue notre liberté. La sainte propriété demande sécurité.14   8 Ebenda, S. 375  : »(…) la première loi positive, la loi fondamentale de toutes les autres lois positives, est l’institution de l’instruction publique et privée des lois de l’ordre naturel, qui est la règle souveraine de toute législation humaine.« (Hervorhebung im Original).   9 Ebenda  : »Sans cette institution fondamentale (…) nulle évidence de la distinction essentielle de l’intérêt général et de l’intérêt particulier«. 10 Ephémérides du citoyen, 1767, Tome premier, S. 50–64. 11 Ebenda, S. 51 (Hervorhebung im Original). 12 Ebenda (Hervorhebung im Original). 13 Ebenda. 14 Ebenda, S. 51/52.

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Auffallend an dieser Argumentation ist ganz beiläufig die Tatsache, dass sie mit ihren drucktechnischen Hervorhebungen der Worte propriété, liberté, sureté bereits das begriffliche Profil der späteren Déclaration des Droits vom August 1789 vorgibt (einschließlich der in ihrem letzten Artikel behaupteten Heiligkeit der propriété15). Beachtet man zusätzlich die typisch physiokratische Betonung eines »Wechselkurses« von droits und devoirs sowie die anschließende Wendung »Cette chaîne de droits & de devoirs«,16 so kommt diese Argumentation der so genannten Déclaration »thermidorienne«17 von 1795 – über deren physiokratisch-liberalen Charakter kein Zweifel besteht – noch näher. Der physiokratischen évidence wird nun in der Lettre (…) Sur la nécessité de l’Instruction politique nicht allein die als »Nebel« bezeichnete opinion im Sinne bloßer Ignoranz gegenübergestellt. Stattdessen gelte es, pseudopolitischen Auffassungen entgegenzutreten. Ein Argument, das wiederum auf die Ethikdebatte und den damit verbundenen Streit um die Deutungshoheit der relevanten politischen Begriffe zurückverweist  : »(…) nous voyons la surface de la terre couverte de ténebres, pseudo-politiques, d’erreurs volontaires, de prestiges déifiés.«18 Letztendlich ist es das Ziel der Instruction politique, die uneingeschränkte Dominanz der physiokratischen évidence durchzusetzen. In sprachlicher Hinsicht interessant ist dabei die Tatsache, dass der Autor in seiner Lettre bereits den später für Le Mercier charakteristischen Begriff eines legalen Despotismus verwendet19  : Il suit de tout ceci, que l’évidence doit seule être le despote de l’Univers  ; qu’il n’y a de bon Gouvernement que le despotisme légal  ; c’est-à-dire l’exécution absolue des Loix données par le Despote qui nous fait respirer.20

15 Art. 17 »La propriété étant un droit inviolable et sacré«. Les déclarations des droits de l’homme. Du débat 1789–1793 au préambule de 1946, hrsg. L. Jaume, Paris 1989, S. 16. 16 Ephémérides du citoyen, 1767, Tome premier, S. 52. 17 Jaume, Les déclarations des droits de l’homme, S. 307. 18 Ephémérides du citoyen, 1767, Tome premier, S. 53. 19 Quesnay selbst verwendet die Bezeichnungen despotes légitimes, despotes arbitraires et illégitimes und despotisme arbitraire, in ebendiesem begrifflichen Sinn, erst in seiner von März bis Juni 1767 in den Ephémérides erscheinenden Abhandlung Despotisme de la Chine. Vgl. auch Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 563. Le Merciers Werk L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, das am ehesten für die Verbreitung dieses physiokratischen Begriffs sorgte und damit in Verbindung gebracht wurde, erschien erst im Juni 1767. 20 Ephémérides du citoyen, 1767, Tome premier, S. 54.

Droit naturel zwischen moralphilosophischer und physiokratischer Lesart 

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8.2 Droit naturel zwischen moralphilosophischer und physiokratischer Lesart Von grundlegender Bedeutung für das politische Selbstverständnis und das gewachsene Selbstbewusstsein des physiokratischen Liberalismus ist die Übernahme, besser gesagt die Usurpation der geistigen Führung in der Naturrechtsdebatte, wie sie Quesnay selbst, beginnend mit seiner Abhandlung Le Droit Naturel im Journal de l’agriculture, du commerce et des finances seit September 1765 in Gang gesetzt hatte.21 Es ist daher wenig überraschend, wenn auch diese Thematik bereits in den ersten Bänden der Ephémérides breiten Raum findet. Dabei geht es weitaus deutlicher, als Quesnay dies in seiner kurzen Abhandlung hervorgehoben hatte, um die sehr bewusste und prestigeträchtige Abgrenzung der neuen physiokratischen Lesart des Droit naturel gegenüber allen herkömmlichen, eher der Moralphilosophie zuzuordnenden Varianten. Die entsprechende Darstellung der Thematik erfolgt systematisch, indem zunächst ein ausführlicher, gleichwohl kritischer Bericht über einen in London in den Jahren 1757 (Band I) und 1758 (Band II) erschienenen Essai sur l’Histoire du Droit Naturel, aus der Feder eines gewissen Martin Hübner, abgedruckt wird. Diesem kritischen Bericht, der allerdings den Essai selbst in seitenlangen Zitaten vorstellt, folgt sodann – unter der Überschrift Vrais principes du Droit naturel – eine ausführliche Abhandlung über die wahren, erst von der Schule Quesnays entdeckten Prinzipien des Naturrechts. Insofern bietet diese kritische Berichterstattung lediglich eine willkommene Plattform für das eigentliche Ziel der Veröffentlichung, nämlich die konsequente und systematische Abgrenzung der physiokratischen Lesart des Naturrechts gegenüber allen voraufgehenden einschlägigen Abhandlungen seit Grotius. Maßstab hierfür sind wiederum jene physiokratischen Lehrsätze, die Quesnay bereits für die Neubegründung einer Theorie des Naturrechts in seiner gleichnamigen Abhandlung vorgetragen hatte. So wird bereits zur Einstimmung auf die dann folgenden kritischen Einlassungen zu den einzelnen Autoren ein pauschales Urteil formuliert, wonach die Doktrin des Naturrechts letztendlich durch die Shaftsburistes derart metaphysisch verbrämt worden sei, dass sie zum Schrecken des Normalbürgers geriet.22 Gewiss verdienten allein die Begriffe Tugend, Anstand, Gerechtigkeit und Schicklichkeit den tiefsten Respekt der Menschen. Aber Lebensunterhalt, Freiheit und Eigentum besäßen, als sehr viel 21 Zur Editionsgeschichte dieser kleinen Abhandlung vgl. Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 362, 364. 22 Ephémérides du citoyen, 1767, Tome second, S. 117/118.

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näher liegende und reale Güter, eine ungleich höhere Anziehungskraft für die Menschen.23 Hätten also die Philosophen alle Moral und Politik nur auf diese drei Worte gegründet, so wäre ihnen sicherlich der gleiche Erfolg beschieden gewesen wie derjenige, der seit vierundzwanzig Jahrhunderten die Weisheit des asiatischen Konfuzius krönt  : Si les Philosophes avoient renfermé toute la morale & toute la politique dans ces trois mots, ou pour mieux dire dans le premier, dont les deux autres ne sont que le développement, ils auroient eû probablement les mêmes succès dont jouit depuis près de 24 siècles la sagesse du Confucius Asiatique (…).24

Der Unterschied, besser noch der Gegensatz, der die herkömmliche, nämlich moralphilosophische Lesart der Naturrechtslehre von der physiokratischen, das heißt ökonomisch begründeten Lesart unterscheidet, konnte zugespitzter kaum formuliert werden. Und wie ein Markenzeichen physiokratischer Argumentation, das wir bis in die Menschen- und Bürgerrechtserklärungen der Französischen Revolution verfolgen können und das infolge begrifflicher Wandlungen – wie noch zu zeigen sein wird – sogar hinter der späteren republikanischen Devise Liberté, Égalité, Fraternité erkennbar gemacht werden kann, erscheint auch hier, in der geistigen Absetzbewegung gegenüber der herkömmlichen Naturrechtslehre eine lexikalische Trinität, die insbesondere mit den Begriffen Eigentum und Freiheit den Kernbereich der liberalen Ideologie bezeichnet. Gemeinsam mit anderen Standardwendungen, die meist durch Schrägdruck hervorgehoben werden (ordre naturel, l’ordre social évidemment le plus avantageux aux hommes, l’ordre évidemment le plus favorable à notre espece, évidemment le plus propre à la production annuelle de ces susistances abondantes  ; les Loix de l’ordre moral & social, évidemment une suite nécessaire & infaillible de l’ordre physique), steht dieser signifikante Sprachgebrauch für denselben propagandistischen Zweck, dem auch die physiokratische instruction publique beziehungsweise politique unterworfen ist. Eine nochmalige, diesmal sehr pauschale Abgrenzung zwischen der alten moralphilosophischen und der neuen physiokratischen Lesart des Naturrechts leitet schließlich über zur angekündigten kritischen Berichterstattung über die einzelnen Abschnitte des Essai sur l’Histoire du Droit Naturel. Zusammenfassend wird dabei alle bisherige Literatur der Naturrechtsdebatte als Ausdruck eines zweihundertjährigen Umherirrens bezeichnet  : 23 Ebenda, S. 119/120 (Hervorhebungen im Original). 24 Ebenda, S. 120 (Hervorhebungen im Original).

Droit naturel zwischen moralphilosophischer und physiokratischer Lesart 

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(…) il (…) suffit de montrer l’ensemble des loix qui constituent l’ordre social évidemment le plus avantageux aux hommes. L’Auteur de la Nature l’a tellement établi qu’il est physiquement impossible de le séparer de la justice & de la bienfaisance. Il a fallu cependant à notre philosophie deux siècles d’erreurs & de tâtonnement, avant de creuser jusque-là. Nous allons suivre M. Hubner dans l’analyse qu’il fait des principales opinions (…).25

Nacheinander präsentiert und kommentiert der Autor sodann, in der vorgegebenen historischen Staffelung, die Darlegungen des Essais zu Grotius, Selden, Hobbes, Cumberland, Pufendorff, Barbeyrac, den so genannten shaftsburystes, Burlamaqui und einer nicht näher bezeichneten Gruppe von Gegnern des Naturrechts.26 Lange Textpassagen werden jeweils als wörtliche Zitate vorgestellt und die knapp gehaltenen kritischen Bemerkungen gelten abwechselnd den vorgestellten Autoren oder aber den Meinungen des Verfassers der historischen Abhandlung. Bemerkenswert ist schließlich die Überleitung, die diesen Teil der Beschäftigung mit der Thematik des Droit naturel abschließt und einen Ausblick auf die folgenden Einlassungen gibt. Man beende hiermit die Geschichte jener Philosophen, so der Autor, die seit zwei Jahrhunderten nach den Prinzipien der science gesucht hätten  ; von nun an gelte es, über die Arbeiten derjenigen zu reden, die sie nach so vielen Jahren des Irrens und Suchens endlich gefunden hätten  : (…) nous finissons l’Histoire des Philosophes qui cherchoient depuis deux siècles les principes de la science, notre Recueil est consacré désormais à rendre compte des travaux de ceux qui les ont enfin trouvés après tant d’années de tâtonnement & d’erreurs.27

Erwähnung verdient auch die Tatsache, dass eine ergänzende Kritik am vorgestellten Essai darin besteht, auf die Abwesenheit Montesquieus in der Liste der behandelten Naturrechtsphilosophen zu verweisen. Tatsächlich verbirgt sich dahinter der Umstand, dass Quesnay gerade den politischen Anspruch der physiokratischen Schule zuerst auf die Zurückweisung der Gewaltenteilung Montesquieus gründete und damit gleichsam einen unübersehbaren Bezug zu dem renommiertesten Autor der politischen Philosophie der Jahrhundertmitte herstellte. Die neue Lesart des Naturrechts wird aus diesem Grund von Anfang an

25 Ebenda, S. 123 (Hervorhebungen im Original). 26 Hervorhebungen im Original. 27 Ebenda, S. 190 (Hervorhebungen im Original).

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Montesquieu in die Ahnenreihe der physiokratischen Sciences politiques et morales aufnehmen. Wie bereits angekündigt, folgt der kritischen Berichterstattung über den Essai sur l’Histoire du Droit Naturel im Band III der Ephémérides eine Abhandlung über die wahren Prinzipien des Naturrechts. Das Vorwort zu diesen Vrais principes du Droit naturel28 verweist erstmals auf das bevorstehende Erscheinen eines »recueil fort important« unter dem Titel Physiocratie, als Herausgeber wird Dupont genannt.29 Die nun bereits hier, in den Ephémérides erscheinende Abhandlung über die wahren Prinzipien des Naturrechts sei Teil dieser unter dem Namen Physiocratie geplanten Textsammlung und stehe an deren Anfang. Richtig ist aber, dass es sich bei dieser Abhandlung – mit Ausnahme des genannten Vorworts sowie abschließender Bemerkungen – in Wahrheit um die wörtliche Übernahme der im gleichen Jahr separat erscheinenden Exposition de la Loi Naturelle des Abbé Baudeau30 handelt und dass die erst im Jahre 1768 erscheinende Physiocratie diesen Text des Abbé Baudeau nicht enthält. Es bleibt aber festzuhalten, dass es sich hier, in diesem dritten Band der Ephémérides vom März 1767, offenbar um die erste Veröffentlichung der bald für die gesamte Schule Quesnays stehenden Namensgebung Physiocratie, Herrschaft des Physischen, handelt. Die Art der Bezugnahme auf die im zweiten Band der Ephémérides erschienene Vorstellung des Essai von M. Hübner, die hier nun um die Darstellung der wahren Prinzipien des Naturrechts ergänzt werden soll, lässt außerdem den Schluss zu, dass der Abbé beide Texte verfasst hat. Denn genau bei dieser Abgrenzung setzt auch die Darlegung der wahren Prinzipien wiederum an. Baudeau wirft all den von M. Hübner analysierten Traités de morale et de politique, und damit allen bisherigen Vertretern der Naturrechtslehre, vor, den Droit naturel, der eine menschliche Schöpfung sei, mit dem ordre naturel, der eine Schöpfung des höchsten Wesens (Etre Suprême) sei, zu verwechseln. Das Gleiche gelte innerhalb des ordre naturel für die Nichtbeachtung des Unterschieds von physischen Gesetzmäßigkeiten (les loix physiques) und moralischem Gesetz (la loi morale), da Letzteres vom Willen der Menschen abhängig sei.31 Schließlich sei sämtlichen Autoren vorzuwerfen, dass sie die »fundamentalen Unterschiede« der drei Formen des Eigentums mis28 Ephémérides du citoyen, 1767, Tome troisième, S. 116. 29 Dupont de Nemours, einer der treuesten Anhänger Quesnays, der auch während der Revolution maßgeblichen Anteil am Einfluss des physiokratischen Liberalismus haben sollte. 30 Sie erscheint gleichzeitig in Amsterdam und Paris, die Autorenangabe lautet »Par M. l’Abbé B.«. Die wörtliche Übereinstimmung beider Texte beginnt auf S. 118 des Abdrucks in Tome troisième der Ephémérides und endet dort auf S. 189. 31 Ephémérides du citoyen, 1767, Tome troisième, S. 117.

Droit naturel zwischen moralphilosophischer und physiokratischer Lesart 

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sachtet hätten und damit auch die daraus jeweils abzuleitenden drei Formen der Freiheit. So hätten sie denn auch nur vage und konfuse Begriffe von Recht und Unrecht, Verdienst und Unverdienst, Verbrechen und Tugend gegeben. Genau das Gleiche gelte für die Behandlung der Themen puissance législative, loix positives beziehungsweise ordre national. Darauf aufbauend wäre auch das droit des gens in willkürlicher und verschwommener Weise dargestellt worden.32 Immerhin hält sich Baudeau mit dieser Aufzählung an die in der herkömmlichen Naturrechtslehre übliche Abstufung beziehungsweise Reihenfolge von Zivilrecht, politischem Recht und Völkerrecht. Was sich unmittelbar anschließt, ist die wörtliche Wiedergabe der Exposition de la Loi Naturelle, wie sie im gleichen Jahr veröffentlicht wurde. Da sich große Ähnlichkeiten mit den Ausführungen Quesnays, Le Merciers und anderer Anhänger der Schule zeigen, soll hier nur eine stark verkürzte Wiedergabe erfolgen. Das erste Gesetz der Natur, so Baudeau, zwinge den Menschen, bei Strafe seines Untergangs, für seinen Unterhalt zu sorgen. Um zu untersuchen, wie dieser dauernden Verpflichtung entsprochen werde, müsse man drei Entwicklungsstufen des Menschen unterscheiden  : die isolierte Existenz, die Gruppenbildung und schließlich die gesellschaftliche Existenzform. Diesen Entwicklungsstufen entsprächen drei verschiedene Formen der Absicherung des Unterhalts  : die »recherche continuelle« (Sammeln), das vorsorgliche Bewahren und Konservieren und schließlich der landwirtschaftliche Anbau. Entsprechend gelte es, drei unterschiedliche Formen der Arbeit des Menschen auseinanderzuhalten. Indem nun die Arbeit dem natürlichen Recht des Menschen auf Selbsterhaltung folge, sei es also die Arbeit, die den Umfang dieses Rechts ausdehne auf die Früchte seiner Arbeit. Sein Umfang werde also von der Arbeit bestimmt. Gleichzeitig sei die Arbeit die erste vom Naturgesetz vorgeschriebene Pflicht. So entstehe bereits im vorgesellschaftlichen Zustand eine Ordnung der Rechte und Pflichten. Es gelte außerdem zu bedenken, dass die Erfüllung der ersten Pflicht zur Selbsterhaltung das Eigentum an der eigenen Person und ihren körperlichen Fähigkeiten voraussetze, insofern auch die Freiheit, sich ihrer zu bedienen. So sei die persönliche Freiheit bereits im Zustand der ersten menschlichen Gemeinschaften die erste Bedingung der Ausübung des Naturrechts. »La liberté personnelle est donc la premiere condition que suppose l’exercice du droit naturel dans cet état de multitude (…).«33 Es existiere also bereits vor jeder Gesellschaftsgründung ein Recht und ein Unrecht, moralisch Richtiges und Verwerfliches, Unschuld und Verbrechen. Und so 32 Ebenda, S. 118. 33 Ebenda, S. 123 (Hervorhebungen im Original).

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seien bereits die ersten Formen von Gerechtigkeit und Unrecht untrennbar mit dem Eigentum und der persönlichen Freiheit der Menschen verbunden  : »La premiere espece de justice & d’injustice, est donc relative à la propriété & à la liberté personnelle des hommes (…).«34 Mit der gleichen Begründung verurteilt der Autor schließlich auch jede Form von Sklaverei als Verletzung des Naturrechts.35 Das Gleiche gelte ebenso für Eroberungskriege, die hier als crimes publics, als öffentliche Verbrechen, gebrandmarkt werden. Die Vision einer friedliebenden Staatengemeinschaft, eines auf Industrie und Handel zum gegenseitigen Vorteil und auf Wachstum der Produktion und des Wohlstandes gegründeten Europa beendet diese Darlegung der wahren Prinzipien des Naturrechts. 8.3 Weitere Beobachtungen zum Profil der Ephémérides du citoyen36 Prinzipiell ist zu sagen, dass die physiokratische Monatsschrift nahezu ausschließlich den besonderen politischen Anspruch der so genannten Science nouvelle propagiert, dagegen in weitaus geringerem Maß auf spezifisch ökonomische Themen eingeht. Insofern wirkt sie vor allem prägend auf die politische Aktualisierung der Naturrechtsdebatte und auf das Selbstverständnis der Sciences morales et politiques. Letzteres wird auch beeinflusst durch die weitreichende Konformität physiokratischer Positionen mit der materialistischen Erkenntnislehre Condillacs sowie mit der atheistisch-materialistischen Moralphilosophie, wie sie unter anderem von Helvétius und d’Holbach vertreten wurde. Zu den wichtigeren Publikationen der Monatsschrift zählt ohne Zweifel Quesnays Abhandlung Despotisme de la Chine, die verteilt auf die Bände III bis VI von März bis Juni 1767 erscheint. A. Oncken stuft sie, unter Vorbehalt, als Wegbereiter für Le Merciers Grundlagenwerk L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques ein,37 das seit Juni desselben Jahres in Paris und London vertrieben wird und sofort vergriffen ist. Diesem Anspruch wird die Arbeit Quesnays in unseren Augen jedoch kaum gerecht, da sie überhaupt erst in ihrem letzten, dem 34 Ebenda, S. 125 (Hervorhebungen im Original). 35 Ebenda, S. 172. 36 Ausführlich zur Entstehungsgeschichte der Ephémérides du citoyen vgl. Oncken, Œuvres économiques et philosophiques de F. Quesnay, S. 555 ff. 37 Ebenda, S. 563.

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achten Kapitel auf Zusammenhänge der politischen Philosophie in physiokratischer Lesart eingeht und dabei nicht annähernd die Systematik und das philosophische Niveau Le Merciers erreicht. Denn erst in dessen Grundlagenwerk kann von einer umfassenden Berücksichtigung der zeitgenössischen philosophischen Diskussion gesprochen werden, angefangen von einer systematischen Kritik der politischen Philosophie Rousseaus, die via sprachkritischer Einlassungen in eine Antithese zur Begrifflichkeit des Contrat social mündet, über die Verarbeitung moralphilosophischer Positionen von Malebranche und Helvétius bis hin zur Übernahme rhetorischer Topoi der Erkenntnislehre Condillacs. Dennoch erfolgt die Vorstellung des Buches von Le Mercier in der Juliausgabe der Ephémérides unter Verweis darauf, dass es lediglich in eloquenter Form die gleichen Wahrheiten enthalte, die man bereits bisher über diese Zeitschrift zu verbreiten bemüht war und die allesamt dem Konfuzius Europas, dem unsterblichen Autor des Tableau économique, des Droit Naturel, der Philosophie rurale und des Despotisme de la Chine zu verdanken seien.38 Man beginnt aber noch im gleichen Band mit dem Abdruck der Arbeit Le Merciers. Auch anlässlich der nochmaligen Ankündigung der Textsammlung Physiocratie, ou Constitution naturelle du gouvernement le plus avantageux au genre humain von Dupont de Nemours im Dezemberheft 176739 steht die Laudatio für Quesnay an erster Stelle. Dieser »trésor de la doctrine économique« werde von einem der besten »Schüler des europäischen Konfuzius« publiziert und er werde die Kritiker der »Doktrin des Meisters« endlich überzeugen. Band II des Jahres 1768 ist insofern von besonderem Interesse, als man hier, im Zusammenhang mit der Ankündigung der ersten eigenständigen Arbeit von Dupont de Nemours, De l’origine et des progrès d’une Science nouvelle,40 einen Katalog aller bisher erschienenen physiokratischen Schriften vorfindet. Damit folge der Autor des angekündigten Aufsatzes einer Bitte mehrerer Leser um eine Liste der von der »Schule des Meisters« (l’Ecole du Maitre) hervorgebrachten Arbeiten. Was den Aufsatz selbst betrifft, so wird er als Auszug des Traité de l’Ordre naturel & essentiel des Sociétés politiques und auch als analyse de la Science morale & politique bezeichnet. Le Mercier, dessen Werk hier gemeint ist, bleibt dabei ungenannt. Der Katalog benennt für den Zeitraum von 1756, angefangen von Quesnays Enzyklopädieartikel évidence, bis zum Beginn des Jahres 1768 eine Zahl von insgesamt achtunddreißig namhaften physiokratischen Publikationen, wobei die 38 Ephémérides du citoyen, 1767, Tome septième, S. 160/161. 39 Ephémérides du citoyen, 1767, Tome douzième, S. 210/211. 40 Ephémérides du citoyen, 1768, Tome troisième, S. 189/190.

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im ganzen Jahr 1767 erschienenen zwölf Bände der Ephémérides zusammen nur als eine Publikation gezählt wurden, ebenso die beiden bis einschließlich Februar 1768 erschienenen Bände. Die Märzausgabe des Jahres 1768 beginnt schließlich mit dem Abdruck der Physiocratie, genauer gesagt zunächst mit der Wiedergabe ihres recht ausführlichen Discours préliminaire. Die Begriffsklärung zu dem Terminus Physiocratie steht dabei am Anfang, und sie verdeutlicht mit ihren Vergleichen zu ähnlich strukturierten Begriffen, wie Monarchie, Demokratie etc. ein weiteres Mal das von Historiographen stets unterschätzte, ganz und gar politische Selbstverständnis der physiokratischen Lehre  : »PHYSIOCRATIE, signifie Gouvernement de la nature, comme Monarchie veut dire Gouvernement d’un seul homme  ; Oligarchie, le Gouvernement d’un petit nombre  ; Démocratie, le Gouvernement de tout le Peuple.«41 Mit dem dritten Band des Jahres 1768 beginnt aber auch der Abdruck der wohl bemerkenswertesten Kritik an der physiokratischen Gesellschaftslehre, die sich unter dem Titel Doutes adressés aux Philosophes Economistes sur l’Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques direkt gegen das ein Dreivierteljahr zuvor aus der Feder von Le Mercier de la Rivière erschienene Hauptwerk der Schule richtet. Unter dem leicht veränderten Titel Doutes proposés aux philosophes économistes … erscheint dieser Text noch im gleichen Jahr als selbständiges Buch. Sein Autor ist der Abbé Mably, ein Bruder Condillacs.42 Mably, der zu Lebzeiten als Autorität auf dem Gebiet der politischen Philosophie galt, bestätigt mit diesem Text nicht nur die politische Relevanz der Arbeit Le Merciers. Er liefert darüber hinaus ohne Zweifel die bis dahin bedeutendste Antithese zum physiokratischen Liberalismus und den wichtigsten Beitrag zur Begründung des modernen Egalitarismus. Ein Vergleich mit anderen kommunistischen Utopien der Aufklärung, beispielsweise mit Morellys Code de la Nature,43 verbietet sich, da erst die Arbeit Mablys auf die fortgeschrittenen Positionen der politischen Ökonomie eingeht, mithin auch deren moderne Soziologie berücksichtigt. Es ist im Grunde die erste Kritik der politischen Ökonomie, die den später von Karl Marx entwickelten Ansatz in Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie44 antizipiert. 41 Ebenda, S. 165. 42 Zur Analyse des Textes vgl. u. a. R. Bach, Weichenstellungen des politischen Denkens in der Literatur der französischen Aufklärung, Tübingen 1995, S. 102–134. 43 É.-G. Morelly, Code de la Nature ou le véritable esprit de ses lois, de tout temps négligé ou méconnu, Amsterdam 1755. Das Werk, das mit seinem Titel einen kritischen Bezug auf Montesquieus Esprit des lois (1748) nimmt, gilt mit seiner radikalen Kritik am Eigentum als frühkommunistisch. 44 Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. In  : Marx/Engels, Werke, Bd. 23.

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Erwähnenswert erscheint auch die Juliausgabe 1768 der Ephémérides, da sie an herausgehobener Stelle einen Aufsatz zur physiokratischen Forderung nach Pressefreiheit unter dem Rubrum Liberté de la Presse veröffentlicht. Diese Forderung wird mit dem bereits bekannten Anliegen der Instruction verbunden und begründet, deren Ziel, wie wir wissen, ausschließlich in der Propagierung der einzig evidenten, den Naturgesetzen gleichgestellten Wahrheit des ordre naturel besteht. Dies gilt es zu bedenken, wenn vor dem Hintergrund der physiokratischen Instruction in allgemein gehaltenen Formulierungen die Freiheit der Presse und des Denkens gefordert wird  : »(…) aucune instruction ne peut se répandre sans la liberté de penser, d’écrire, de proposer ses idées, de se tromper même, & de se redresser ensuite en connoissance de cause & lorsqu’on nous a dévoilé nos erreurs.«45 Die im Sinne des politischen Liberalismus bereits recht modern anmutende Argumentation wird ergänzt durch die Verwendung einer für den Contrat social charakteristischen republikanischen Begrifflichkeit, nämlich der des politischen Gemeinwillens. Le Mercier hatte in seinem Buch diese Art der Übernahme republikanischer Begriffe in die Sprache des physiokratischen Liberalismus beispielhaft entwickelt, so dass wir dem Phänomen seither mit wachsender Häufigkeit begegnen. In sinngemäßer Anlehnung an dieses Vorbild argumentiert nun auch der Autor des Aufsatzes zur Pressefreiheit, dass es Aufgabe der instruction générale sei, die Einzelwillen zu einer gemeinsamen Kraft zu vereinigen und sie auf das Gemeinwohl zu lenken. »Sinngemäß« bedeutet hier, dass die republikanischen Begriffe der volonté générale und des bien commun (oder intérêt commun) in einer letztlich sinnverfälschenden Weise verwendet werden. Sehr typisch ist hier allerdings die suggestiv unterschwellige Gleichsetzung von bien commun und (le) plus grand bien de tous. Sie ähnelt der Gleichsetzung von volonté générale und volonté de tous, wie sie charakteristisch für den verfälschenden republikanischen Diskurs des physiokratischen Liberalismus ist  : »Il faut que l’instruction générale réunisse toutes les volontés & toutes les forces vers les opérations qui tendent évidemment au plus grand bien de tous (…).«46 Auch die abschließende Betonung der begrifflichen Trinität von liberté, propriété, sûreté in Verbindung mit dem republikanischen intérêt commun verrät, in dem eben gezeigten Sinn, die Inspiration durch Le Merciers Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques  : »Ces lumières, qui manifesteront évidemment l’in-

45 Ephémérides du citoyen, 1768, Tome septième, S. 21. 46 Ebenda.

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térêt commun qui unit le Monarque & les Sujets (…) établiront nécessairement & complettement, à la fin, la liberté, la propriété, la sureté (…).«47 In den Monaten November und Dezember 1768 kehren die Ephémérides erneut zum thematischen Schwerpunkt der instruction publique zurück. Dies geschieht in einer ganzen Serie so genannter Précis de l’instruction, die jeweils als separate Abschnitte einer Lettre de M. B. (…) sur la Stabilité de l’Ordre Légal ausgewiesen sind und damit unter anderem die Autorschaft Mirabeaus verraten.48 Auch dieser Artikelserie ist ein Discours préliminaire vorangestellt49, der zunächst auf das zu erwartende Niveau der Instruction abhebt. Da zum Verständnis der hier in Rede stehenden Science in hohem Maße der Geist gefordert sei und es weit weniger um eine einfache Gedächtnisleistung gehe, verbiete sich der Einsatz von Kurzfassungen oder Katechismen, wie er von manchen wohl gewünscht werde. Abgesehen davon verfüge die Science, wie alle Naturwissenschaften (Sciences physiques), über ihre ganz eigene Sprache, die es zu beherrschen gelte, um Konfusion und Irrtum zu vermeiden  : »(…) elle a, comme toutes les autres Sciences physiques, son langage propre (…) pour éviter la confusion, qui est toujours l’azile de l’erreur.«50 Es folgen Erörterungen über die Psychologie des Lernens, über die gegen­ sätzlichen Erkenntniswege von Einbildung (imagination) und Eigenliebe (amour propre), den Widerstreit von Vernunft (raison) und Einbildung, die Rolle von Vorurteilen und praktischen Erfahrungen. Letztere prädestinieren demnach vor allem die classe productive 51 zur Einsicht in die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft  : »(…) le Peuple cultivateur est sans contredit le plus voisin de l’instruction véritable (…).«52 Einen originellen eigenen Weg zum Thema Instruction beschreitet Mirabeau nun insofern, als er eine nach sozialen Klassen differenzierte Bildung vorsieht. Im Einklang mit der oben zum Ausdruck gebrachten Wertschätzung für die classe productive finden wir daher an erster Stelle der anschließenden Abschnitte zum Thema Instruction einen Précis de l’Instruction pour la classe productive. Die einzelnen Kapitel, die allesamt in dogmatisierend anmutender Weise nach Para47 Ebenda, S. 25/26. 48 Vgl Fußnote 5 in diesem Kapitel. 49 Ephémérides du citoyen, 1768, Tome onzième, S. 73–93. 50 Ebenda, S. 74. 51 Der Autor folgt uneingeschränkt der von Quesnay in seiner Analyse de la formule arithmétique du Tableau économique behaupteten soziologischen Gliederung der Gesellschaft in drei Klassen  : »La nation est réduite à trois classes de citoyens  : la classe productive, la classe des propriétaires et la classe stérile«. Quesnay, Physiocratie, S. 209. 52 Ephémérides du citoyen, 1768, Tome onzième, S. 89.

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graphen untergliedert sind, tragen die Überschriften Ordre naturel social, Avantages de l’Instruction, Dépenses de l’Agriculture, Distinction des avances employées à l’Agriculture und Evaluation des avances de l’Agriculture. Da es sich letztlich jedoch um physiokratische Allgemeinplätze zum Thema Instruction handelt, sei an dieser Stelle lediglich noch darauf verwiesen, dass der Autor unter der Rubrik Ordre naturel social im Paragraphen VII bereits indirekt die klassische physiokratische Aushebelung des republikanischen Égalité-Begriffs vornimmt. Dies geschieht, indem die wechselseitige Abhängigkeit von Arm und Reich im Rahmen des Reproduktionsprozesses – hier unter Bezugnahme auf salaire und consommation – als Kriterium sozialer Gleichheit herausgestellt wird  : »L’ordre rend le riche dépendant du pauvre (…). L’ordre rend le pauvre dépendant du riche (…).«53 Fortgesetzt wird diese Artikelserie zum Thema Instruction in der Dezemberausgabe 1768 mit einem Précis de l’Instruction pour la classe propriétaire sowie in der Januarausgabe 1769 mit einem Précis de l’Instruction pour la classe stérile. Auch diese beiden Abhandlungen betonen in herausgehobener Weise die physiokratische Lesart des Gleichheitsgedankens. Erstere, indem bereits das Eingangskapitel zum Thema Egalité des Conditions selon la Nature Stellung bezieht. Letztere, indem die für alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen geltende »heilige Immunität des Eigentums« beschworen wird,54 die ihrerseits auf der »perfekten Einheit der Interessen aller Klassen der Gesellschaft« (Unité parfaite d’intérêts entre les diverses Classes de la Société) beruht.55 Das Bewusstsein, dass es sich bei dieser Argumentation um die Antithese gegenüber einer gänzlich anderen Auffassung des Gleichheitsgedankens handelt, lässt der Autor durch seine eingangs hervorgehobene Unterscheidung von ignorance und erreur erkennen. Denn seine erste Botschaft an die Classe stérile lautet, dass nicht die Unkenntnis, selbst als ignorance absolue & primitive, die Menschen vom Weg abbringe, sondern eine »falsche Lehre«, la fausse science  : Les hommes qui vivent dans une ignorance absolue & primitive, sont bien voisins de la science économique, en comparaison de ceux qui sont égarés par la fausse science. Ce n’est pas proprement l’ignorance qui déroute les hommes, c’est l’erreur.56

Andererseits ist es gerade die Betonung der physiokratischen Lesart des Gleichheitskonzeptes, die nahelegt, um welche »falsche Lehre« es sich bei dieser Kri53 Ephémérides du citoyen, 1768, Tome onzième, S. 96–97. 54 Ephémérides du citoyen, 1769, Tome premier, S. 12. 55 Ebenda, S. 21. 56 Ebenda, S. 11.

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tik handelt. Unmittelbar dürfte Mablys Doktrin eines radikalen Egalitarismus gemeint sein, da sich dieser ganz aktuell in Abgrenzung zum physiokratischen propriétarisme definiert hatte. Mittelbar dürfte aber auch Rousseaus politische Philosophie im Visier dieser Auslassungen stehen, da sie auf einer ebenso fundamentalen Kritik der sozialen Ungleichheit gründet. Darüber hinaus hatte sein Contrat social die lexikalische Folie physiokratischer Begriffsumprägungen geliefert, wie wir sie vor allem im Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier de la Rivière mit deutlicher Bezugnahme auf Rousseaus Formulierungen vorfinden. Alles in allem ein weiterer Hinweis auf die latente Bewusstheit, mit der die zeitgenössische Debatte um die Deutungshoheit zentraler Begriffe des republikanischen Diskurses im Rahmen der gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem ancien régime geführt wurde. Neben diesem erneuten Hervorkehren der besonderen Rolle der Instruction für die Verbreitung der physiokratischen Ideen gewinnt deren historiographische Selbstreflexion an Bedeutung. Vor allem Dupont de Nemours, der im Januar 1769 die Redaktion der Zeitschrift übernimmt, entwickelt die interne Historiographie der physiokratischen Science nouvelle zu einem wirksamen propagandistischen Instrument ideengeschichtlicher Legitimation. In einem neuerlichen Avertissement, das den Jahrgang 1769 der Zeitschrift eröffnet, wertet Dupont den damit verbundenen Perspektivwechsel als Ausdruck einer Art Zeitenwende im unaufhaltsamen Siegeszug der physiokratischen Lehre. Sei es bisher darum gegangen, für die Notwendigkeit des Studiums der Sciences morales & politiques zu werben, die Kenntnis des ordre und der justice par essence, der wahrhaften Gerechtigkeit, zu vermitteln, um den Unterschied zwischen den wohlverstandenen Interessen (intérêts bien entendus) aller und denen jedes Einzelnen begreiflich zu machen, so habe sich diese Situation nun grundlegend geändert. Schöngeistige philosophische Betrachtungen würden der Einsicht weichen, dass es keinerlei Willkür im Regelwerk »reziproker«57 Abhängigkeiten der Menschen und Gesellschaften gäbe. Man begreife endlich, dass sich die unserer Natur entspringenden Gesetzmäßigkeiten  – im Sinne der Verkettung von Ursache und Wirkung – als Schlüssel zu unser aller Glück offenbarten. Und so erkenne man den gewaltigen Vorteil, oder besser gesagt die dringende Notwendigkeit, über jene physischen Gesetze unterrichtet zu sein, die unser Schicksal bestimmen  :

57 Der Ausdruck »reziproke Beziehungen« zur Beschreibung marktwirtschaftlich bedingter gegenseitiger Abhängigkeit gehört seit Le Merciers L’ordre naturel et essentiel … (1767) zum Standardinventar physiokratischer Argumentationsformen.

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Il étoit encore nécessaire alors de faire sentir aux hommes combien il leur importe de se livrer à l’étude des Sciences morales & politiques, à la coinoissance de l’ordre & de la justice par essence, au discernement des intérêts bien entendus de tous & de chacun. Nous sommes aujourd’hui dans des circonstances plus heureuses, qui laissent moins de carrières à l’éloquence des Auteurs, qui portent plus de joie dans l’ame des Philosophes sensibles. On commence à reconnoître qu’il ne peut rien y avoir d’arbitraire dans les règles qui doivent guider la conduite réciproque des hommes & mêmes celles des sociétés. On comprend que les moyens qui peuvent assurer notre bonheur, & celui de notre espèce, renferment un enchaînement de causes & d’effets, nécessairement déterminés par des loix également irrésistibles & invariables, qui se fondent sur notre nature & sur celle des autres êtres dont nous sommes environnés. On conçoit l’avantage immense, ou plutôt la nécessité urgente & indispensable d’être instruits de ces loix physiques, qui, selons nos actions, décident souverainement de notre sort.58

Daher ginge es künftig nur noch darum, die Geschichte der Erfolge jener Wissenschaftler aufzuschreiben, die diese physischen Gesetze zu höchster Evidenz (»au plus haut degré d’évidence«) brachten, und dabei auch die Überwindung jener Vorurteile zu dokumentieren, die der Aufklärung immer noch im Wege stehen. Auch auf diese Weise kann der Verbreitung der Erkenntnis und ihrem Fortschritt gedient werden und in ebendieser Perspektive liege nun die Aufgabe und der Wert der Zeitschrift  : Nous n’aurons à l’avenir qu’à faire l’Histoire de leurs succès. Et cette Histoire qui renfermera l’exposition des raisons puissantes qui les déterminent, & la réfutation des préjugés qui luttent encore contre les lumières que leur esprit éclairé s’attache à répendre, pourra elle-même contribuer par-là au progrès de ces lumières si intéressantes pour l’humanité. C’est cette perspective qui fait à nos yeux le prix de notre Ouvrage périodique (…).59

Nichts Geringeres solle seine Zeitschrift sein, so verkündet Dupont, als ein Depot derjenigen Schriften, Überlegungen und Entdeckungen, die Moral und Politik zur exakten Naturwissenschaft machten, nachdem sie so lange – in völliger Verkennung ihrer physischen und berechenbaren Grundlagen – als unberechenbar galten  :

58 Ephémérides du citoyen, 1769, Tome premier, S. V/VI (Hervorhebungen im Original). 59 Ebenda, S. VII (Hervorhebungen im Original).

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(…) être le dépôt commun des Ecrits, des Réflexions, des Découvertes & des Démonstrations qui concourent, & qui désormais concourront toujours en plus grand nombre à assujettir aux règles d’une Science exacte, la Morale & la Politique  ; qu’on a si long-tems regardées comme versatiles, parceque l’on méconnoissoit la base physique & calculable sur laquelle le Créateur lui-même, a appuyé leurs principes fondamentaux, uniformes & constants.60

Ebenso klar wie Le Mercier de la Rivière antwortet Dupont de Nemours mit dieser Darlegung des wissenschaftlichen Anspruchs der Physiokratie auf die von Locke geweckten und im Discours préliminaire de l’Encyclopédie von d’Alem­bert bestätigten Erwartungen, die Moralphilosophie – und damit letztlich auch die science politique – gemäß dem Zeitgeist der naturwissenschaftlichen Revolution in exakte, das heißt experimentelle Wissenschaften zu verwandeln.61 Und er befestigt, wie diese Äußerungen sehr klar belegen, den physiokratischen Anspruch auf die Deutungshoheit in den Sciences morales et politiques beziehungsweise auf die Bezeichnung selbst, wie dies ja bereits der Untertitel der Ephémérides seit ihrer Neuausrichtung im Januar 1767 verkündet. Auf die folgende, über mehrere Hefte verteilte, äußerst faktenreiche Darstellung einer Autoren-, Titel- und Ideengeschichte physiokratischer Publikationen, die unter dem Titel Notice abgrégée des différents Écrits modernes qui ont concouru en France à former la Science de l’économie politique erscheint, kann an dieser Stelle nicht vertiefend eingegangen werden. Sie sollte allerdings mit hoher Dringlichkeit in künftigen Forschungen zur Genesis der politischen Philosophie der Physiokraten und des Liberalismus Beachtung finden, insbesondere um die ideologische Eingleisigkeit der Darstellungen von Weulersse62 zu überwinden. Wichtig erscheint jedoch abschließend der Hinweis, dass auch Dupont die Liste der Autoren mit Montesquieu eröffnet und damit erneut, wie bereits Quesnay selbst, die Denkschule der Physiokraten explizit in die politische Ideengeschichte einordnet. Als erster politischer Autor habe Montesquieu das »Studium der Interessen gesellschaftlich lebender Menschen«63 an die Stelle einer abstrakten Metaphysik gesetzt und damit letztlich den Boden für die Entwicklung physiokratischer Ideen bereitet. Dieser von Dupont gewählte Einstieg in die Histo60 Ebenda, S. VIII (Hervorhebungen im Original). 61 Vgl. Abschnitt 4. 62 Vgl. Abschnitt 7.2.2. 63 Ephémérides du citoyen, 1769, Tome premier, S.  XII  : »l’étude de l’intérêt des hommes réunis en société«. (Vgl. den Schlüsselbegriff des intérêt bei Helvétius).

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riographie physiokratischer Ideen korreliert im Übrigen mit der von Quesnay an die erste Stelle seiner Maximes gesetzten Bezugnahme auf die Gewaltenteilung Montesquieus, auch wenn der Begründer der physiokratischen Schule, ebenso wie alle seine Anhänger, dieser Position Montesquieus zugunsten einer ungeteilten souveränen Gewalt widerspricht. Es verdient darüber hinaus Beachtung, dass Dupont – im Anschluss an die ausdrückliche Inanspruchnahme des Esprit des lois – den ökonomischen Vordenkern der physiokratischen Schule Melon, Dutot und Vauban eine geringere Bedeutung im Vergleich mit Montesquieu zuspricht.

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9 Weitere Formen der Verbreitung physiokratischen Denkens

Im Folgenden sollen weitere Formen und Stationen der Verbreitung und Konsolidierung des physiokratischen Liberalismus vorgestellt werden. Insbesondere geht es um den Nachweis, dass physiokratische Ideen nicht nur von den bekannten Anhängern der Schule Quesnays weiterentwickelt und verbreitet wurden, sondern ebenso von Philosophen wie d’Holbach, Helvétius und Condillac. Kolportiert werden auf diesem Weg allerdings auch bereits bekannte oder doch ähnliche Muster begrifflicher Umprägungen der auf Rousseau zurückgehenden demokratisch-republikanischen Terminologie. Ideengeschichtlich betrachten wir an dieser Stelle den weiteren Transfer der politischen Ideen des physiokratischen Liberalismus, in der verfälschenden Allianz mit sprachlichen Elementen des Contrat social, hin zur Generation der Zeitgenossen und Akteure der Französischen Revolution, insbesondere zu Sieyès und der Gruppe der Ideologen. 9.1 Dupont de Nemours  : De l’origine et du progrès d’une Science nouvelle Nachdem Quesnay im Jahre 1765 mit seiner Abhandlung Le Droit Naturel einen neuen philosophischen Rahmen, damit auch eine neue Legitimationsplattform für die physiokratische Lehre gefunden hatte, steht vor allem das Jahr 1767 für eine weitergehende inhaltliche Konsolidierung der Doktrin sowie für eine starke Zunahme ihrer öffentlichen Verbreitung. Bereits im Januar dieses Jahres beginnt die Gruppe um Quesnay, Baudeau, Mirabeau und Dupont de Nemours mit der Herausgabe der physiokratischen Monatsschrift Ephémérides du citoyen ou Bibliothèque raisonnée des Sciences morales et politiques. Zahlreiche Artikel der Zeitschrift werden zusätzlich in Broschürenform publiziert.1 Zum anderen erscheint im Juni dieses Jahres mit Le Merciers L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques die bis dato umfassendste und philosophisch ausgereifteste Darstellung der politischen Theorie der Physiokraten, die hier bereits in Sprache und innerer Logik, insbesondere aber durch die Zurückführung aller politischen Überlegungen auf eine in sich geschlossene ökonomische Theorie, wesentliche Züge einer 1 Vgl. Schelle, Du Pont de Nemours et l’école physiocratique, S. 47, Note 3.

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Soziologie des modernen Liberalismus offenbart. In dieser Hinsicht, darauf sei hier noch einmal verwiesen, geht Le Mercier weit über Locke hinaus. Denn erst im Liberalismus der Physiokraten kommen die marktwirtschaftlichen Einsichten früher Nationalökonomen, insbesondere Boisguilleberts, einschließlich der damit verbundenen, auch politisch relevanten Definition sozialer Klassen und Klasseninteressen zum Tragen. Darüber hinaus zeigen sprachliche Besonderheiten im Text Le Merciers, die ihrerseits begriffliche Umprägungen im Arsenal der republikanischen Lexik begründen, dass es sich bei seinem Buch gleichzeitig um eine dem Liberalismus verpflichtete Replik zur politischen Philosophie des Contrat social von Jean-Jacques Rousseau handelt. Zu ebendiesem Zweck bedient sich Le Mercier auch der Übernahme zentraler Positionen der materialistischen Moralphilosophie.2 Gewissermaßen überparteilich fördert dieser Umstand auf seine Weise die Popularisierung republikanischer Ideen, wenn auch auf Kosten ihrer begrifflichen Klarheit. Das Buch Le Merciers ist ein voller Erfolg  : Binnen weniger Monate werden dreitausend Exemplare verkauft.3 Allein die Euphorie, mit der Diderot Le Merciers Werk als entscheidenden Durchbruch aller politischen Philosophie im Sinne einer Weiterführung, ja sogar einer Überwindung Montesquieus feiert,4 wirft ein Licht auf den zeitgenössischen Prestigegewinn der physiokratischen Lehre und macht deutlich, dass sie zu diesem Zeitpunkt längst das Image einer auf den Agrarsektor begrenzten und nur ökonomischen Doktrin überwunden hatte. Wenn ihr dies in den Debatten der folgenden Jahre dennoch immer wieder unterstellt wurde, so kennzeichnet das eine ideologisch bedingte Einseitigkeit der Argumentation ihrer Gegner. Das Gleiche gilt übrigens für den bis in die Gegenwart wiederholten, objektiv aber ganz unbegründeten Vorwurf, die Physiokraten hätten einem Despotismus in dem herkömmlichen Sinn einer politischen Willkürherrschaft das Wort geredet  ; es sei denn, man verstünde den von Le Mercier geforderten »maintien religieux des loix«5 – also die gemeinte geheiligte Einhaltung der Naturgesetze – als Ausdruck politischer Willkür. Kein Geringerer als Diderot ist es nun auch, der sich für eine deutlich weitergehende Popularisierung der politischen Ideen Le Merciers einsetzt und Dupont 2 Gemeint ist vor allem Helvétius, De l’Esprit (1758), der den »intérêt« als Triebkraft aller Moral mit dem Bewegungsgesetz des physischen Universums verglichen hatte. 3 Vgl. Schelle, Du Pont de Nemours et l’école physiocratique, S. 46. 4 »Le Montesquieu a connu les maladies, celui-ci (Le Mercier) a indiqué les remèdes, et il n’y a de vrais remèdes que ceux qu’il indique.« In  : Diderot, Œuvres complètes, Bd. XVII, S. 274 (Lettre à Falconet du 6 septembre 1768). 5 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 193.

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de Nemours für die Veröffentlichung einer allgemein verständlichen Kurzfassung des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques gewinnt.6 Dupont selbst hatte bereits in ähnlicher Absicht die Präsentation einer Sammlung einschlägiger Schriften Quesnays unter dem Titel Physiocratie, ou Constitution naturelle du gouvernement le plus avantageux au genre humain in Angriff genommen. In deren Vorwort bezeichnet er Quesnays Lehre erstmals als »Science de la Physiocratie«,7 auch als »une Science essentielle au bonheur de l’humanité«,8 dank derer es möglich sei, die »natürliche soziale Ordnung« direkt auf die »allgemeine physische Ordnung« (der Welt) zu gründen  : »L’ordre naturel social fondé sur l’ordre général physique«.9 In Fortsetzung dieser Arbeit entsteht nun, der persönlichen Bitte Diderots entsprechend, Duponts populärste Abhandlung unter dem Titel De l’origine et des progrès d’une Science nouvelle.10 Sie erscheint, wie auch die Textsammlung PHYSIOCRATIE, im Jahre 1768 mit dem Ziel, die physiokratische Wirtschafts- und Soziallehre im Sinne der Anregungen von Locke und d’Alembert als exakte, das heißt experimentelle Wissenschaft der Moral und Politik allgemein verständlich zu erklären und zu verbreiten. Alle spekulativen philosophischen Auffassungen zu Moral und Politik sollen damit ein für alle Mal überwunden werden. Was den Terminus Physiokratie anbelangt, so ist anzumerken, dass er in diesem Text lediglich ein Mal, und zwar auf der vorletzten Seite in adjektivischer Gestalt, vorkommt. Dupont gibt dort eine Definition des »Gouvernement physiocratique«11 als bestmöglicher Regierungs- beziehungsweise Staatsform, die dem Interesse aller Menschen gleichermaßen entgegenkommt, den Ausgleich ihrer Rechte und Pflichten schützt, mit Notwendigkeit zu größtem Wohlstand führt und dabei unmittelbar dem Imperativ des ordre naturel folgt  : Un Gouvernement qui concilie aussi parfaitement l’intérêt de tous les hommes, qui assure si bien tous leurs droits et tous leurs devoirs réciproques, qui conduit aussi nécessairement à leur procurer les plus grandes jouissances dont ils soient susceptibles, est évidemment le meilleur Gouvernement que l’on puisse imaginer, le Gouvernement prescrit aux hommes par l’ordre naturel.12  6 Schelle, Du Pont de Nemours et l’école physiocratique, S. 47.   7 Dupont de Nemours, Physiocratie, S. 4 (ausgewiesen als xcij)  : Discours de l’Éditeur (Hervorhebung durch Schrägdruck im Original).   8 Ebenda, S. 1.   9 Ebenda, S. 2 (ausgewiesen als xc) (Hervorhebung durch Schrägdruck im Original). 10 Depont de Nemours, De l’origine et des progrès d’une Science nouvelle (1768), Paris 1910. 11 Ebenda, S. 36 (im Original von 1768, S. 81  ; Hervorhebung durch Schrägdruck im Original). 12 Ebenda.

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In der Selbstdarstellung der physiokratischen Lehre wird der Begriff der Physiocratie fortan keine Verwendung mehr finden, dafür umso mehr im Vokabular von Gegnern sowie später, häufig pejorativ vorkonnotiert, bei Historikern und Ideologen. An seine Stelle treten im Wortschatz der Befürworter und Propagandisten des physiokratischen Liberalismus verschiedene Bezeichnungen, die um den Terminus la Science kreisen. Und so ist es auch ein erkennbares Anliegen, welches Dupont mit seinem kurzen Abriss zu Le Merciers Buch verfolgt, den von ihm selbst propagierten, inzwischen aber offenbar rasant verschleißenden Begriff der Physiocratie durch ebendiese neue Diktion zu ersetzen. Dem in dieser Hinsicht programmatischen Titel seiner Schrift De l’origine et des progrès d’une Science nouvelle folgen entsprechende Einlassungen, die den eigentlichen »PRÉCIS DE CETTE DOCTRINE«, wie Dupont selbst seine Zusammenfassung des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier betitelt, zunächst in den Kontext einer »Geschichte der bedeutendsten Wissenschaften« (»l’histoire des Sciences les plus sublimes«) einordnen. Quesnay, Gournay, Mirabeau und Le Mercier, die Protagonisten der Science, werden dabei mit Konfuzius, Pythagoras und Demokrit sowie mit Galilei, Descartes und Wolff auf eine Stufe gestellt. Und ähnlich der Sichtweise Diderots stellt auch Dupont einen besonderen Bezug zur Philosophie Montesquieus heraus. Dessen Plädoyer für eine Ableitung jeweils adäquater Regierungsmaximen aus den historisch gewachsenen Formen politischer Gemeinwesen, so Dupont sinngemäß,13 sei nunmehr, angesichts der évidence des für alle Menschen gültigen ordre naturel und der daraus folgenden physischen Notwendigkeit einer marktwirtschaftlichen Ordnung, endlich überwunden. Diese Einsicht aber, die auch Montesquieu verborgen blieb (»ce que ne savait pas Montesquieu«14), sei nun Ergebnis und Erkenntnisobjekt einer »exakten Wissenschaft« (»l’objet d’une Science exacte«15). Eingefordert wird auf diese Weise nicht nur das dem Namen Montesquieu anhaftende Prestige, sondern auch der Anspruch auf die Meinungsführerschaft im Bereich der politischen Philosophie, genauer gesagt der politischen Wissenschaft. Indirekt folgt Dupont mit dieser Argumentation einer bereits durch Quesnay praktizierten Form, die auch bei Le Mercier in Gestalt der Zurückweisung des von Montesquieu vertretenen Konzepts der Gewaltenteilung ihren Niederschlag findet. Schließlich imitiert Dupont auch in dem sich anschließenden PRÉCIS DE CETTE DOC13 Ebenda, S. 7  : »les principes du Gouvernement doivent changer selon la forme de sa constitution (…) chercher pour inventer des raisons particulieres à des cas donnés«. 14 Ebenda, S. 7. 15 Ebenda, S. 6.

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TRINE, konkret also bei der Wiedergabe des Le-Mercier-Textes, den formalen Aufbau der wichtigsten Programmschriften Quesnays durch eine ebenfalls nach Paragraphen strukturierte Gliederung des Inhalts. Den vierundvierzig Kapiteln des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier entsprechen auf diese Weise in Duponts Kurzfassung insgesamt einundzwanzig Paragraphen, deren Diktion und didaktische Abfolge ein für die Physiokraten charakteristisches, sehr engagiertes Ringen um Meinungsführerschaft und Deutungshoheit in der zeitgenössischen Debatte um alternative politische Ordnungen erkennen lässt. Die ökonomisch wie politisch besetzten Begriffe Freiheit und Eigentum, Sicherheit und freie Konkurrenz, Gesetzgebung, Gemeininteresse und politische Willensbildung sowie öffentliche Bildung und Steuerrecht bezeichnen die thematischen Schwerpunkte der Schrift. Konkret erläutert Paragraph I die grundlegenden, das heißt jeglicher politischen Konvention, also jeder Gesetzgebung überhobenen Menschenrechte, die einen individuellen, in erster Linie um den Eigentumsbegriff kreisenden Anspruch auf Freiheit und Besitz propagieren  : »Les droits de chaque homme, antérieurs aux conventions sont la liberté de pourvoir à sa subsistance et à son bien-être, la propriété de sa personne et celle des choses acquises par le travail de sa personne.«16 Es ist der Sinn der physiokratischen Hypothese eines ordre naturel, auch als ordre naturel et essentiel oder Société naturelle, antérieure à toute convention bezeichnet, den Eigentumsbegriff als der Natur des Menschen innewohnende Institution mit einem absolut geltenden Rechtsanspruch zu verbinden (»une justice absolue«17) und ihn damit jeglicher Gesetzgebung und Rechtsprechung apriorisch voranzustellen, ihn also juristisch wie moralisch unantastbar zu machen. Erinnert sei hier daran, dass die Gesellschaftskritik Rousseaus, ebenso wie seine damit verbundene Anthropologie, genau an dieser Stelle mit einer gegenteiligen Argumentation angesetzt hatte. Denn jegliches Recht gründet für Rousseau auf gesellschaftlicher Konvention. Und so steht die rechtliche Sanktionierung des Eigentums, jener als konstitutiv geltende Akt der Zivilgesellschaft, in der sozialkritischen Perspektive Rousseaus für den Sündenfall des menschlichen Geistes, der menschlichen Sprache und der menschlichen Gesellschaft. Die spätere, sehr weitgehend vom physiokratischen Geist geprägte Menschen- und Bürgerrechtserklärung der Französischen Revolution vom 26. August 1789, die übrigens auch 16 Ebenda, S. 11 (Schrägdruck im Original). 17 Ebenda  : »Dans cet état primitif, les hommes ont des droits et des devoirs réciproques d’une justice absolue, parce qu’ils sont d’une nécessité physique, et par conséquent absolue pour leur existence.« (Schrägdruck im Original).

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nach Paragraphen strukturiert ist, wird daher das Eigentumsrecht als einziges der Menschen- und Bürgerrechte im letzten ihrer insgesamt siebzehn Paragraphen für heilig erklären  : (»Les propriétés étant un droit inviolable et sacré«). Im zweiten Abschnitt des Dupont-Textes (Paragraph II) geht es um die rechtliche Gleichsetzung der verschiedenen nach physiokratischer Sicht zu unterscheidenden Eigentumsformen  : propriété personnelle, propriété mobilière, propriété foncière. In der Konsequenz bedeutet sie, dass die Arbeitskraft als persönliches Eigentum dem Eigentum an Grund und Boden oder demjenigen an Maschinen, also Produktionsmitteln, gleichgesetzt wird  : (…) il se passera naturellement et librement une convention par laquelle chacun des Contractans aura dans les fruits la propriété d’une part proportionnée à sa mise en travaux et en dépenses. De sorte que le droit de propriété personnelle et mobilière de tous deux soit conservé dans son entier.18

Der Gleichheitsbegriff, wie er zum zeitgenössischen Standard bürgerlich-liberaler Kritik am System der Ständehierarchie zählt, wird dabei – angesichts des sozialen Gefälles und der Abhängigkeiten zwischen Grundbesitzer, Unternehmer und Tagelöhner – buchstäblich auf den Kopf gestellt. So entsteht auch hier eine begriffliche Ambivalenz gegenüber dem gleichlautenden Terminus im republikanischen Discours des Contrat social, welcher égalité als moralisch-rechtliche Bedingung der politischen Freiheit (»égalité morale et légitime«19) begreift, das heißt vor allem als Selbstbestimmung gegenüber jeglicher Art von Abhängigkeit und Entmündigung (»il n’y aurait aucun supérieur commun«20). Dass die politischen Forderungen des physiokratischen Liberalismus letztlich in erster Linie ökonomischen Zielen gelten, verdeutlichen in besonderer Weise Duponts Ausführungen in den Paragraphen III bis VII. Die allseitige Garantie des droit de propriété, des Eigentumsrechts, bildet demnach Grundlage und Voraussetzung für das höchste Nettoprodukt (»le plus grand produit net possible«21), die geringste Ausgabenbilanz (»le moins de dépenses possible«22), die größtmögliche Konkurrenz (»la plus grande concurrence possible«23), die größtmögliche Frei18 Ebenda, S. 12/13. 19 Rousseau, Du Contrat social, S. 367. 20 Ebenda, S. 361. 21 Dupont de Nemours, De l’origine et des progrès d’une SCIENCE NOUVELLE, Paris 1768, S. 14 (Schrägdruck im Original). 22 Ebenda. 23 Ebenda, S. 15.

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heit im Gebrauch aller Eigentumsformen (»la plus grande liberté possible dans l’emploi de toutes les propriétés personnelles, mobiliaires et foncieres«24) sowie die größtmögliche Sicherheit des durch den Gebrauch des Eigentums erlangten Besitzes (»la plus grande sûreté possible dans la possession de ce qu’on acquiert par l’emploi de ces propriétés«25). Die Begriffe Freiheit, Eigentum und Sicherheit werden vor diesem Hintergrund abschließend – ohne ihre ökonomische Spezifizierung – in Gestalt einer allgemeingültigen politischen Forderung präsentiert  : »Point de propriété, sans liberté  ; point de liberté, sans sûreté.«26 Die politische Bedeutung jener rechtlichen Gleichsetzung der drei gänzlich verschiedenen Eigentumsformen, mittels derer die tatsächliche soziale Ungleichsetzung von Arbeitskraft (propriété personnelle) auf der einen, Grundbesitz (propriété fonciere) beziehungsweise Besitz an Produktionsmitteln (propriété mobiliaire) auf der anderen Seite verbal überbrückt wird, hebt Dupont unter anderem dadurch hervor, dass er sie in einem besonderen Paragraphen nochmals zusammenfassend und in exklusiver Weise zur eigentlichen Basis der Gesellschaft erhebt  : Pour qu’il y ait la plus grande liberté possible dans l’emploi, et la plus grande sûreté possible dans la jouissance des propriétés personnelles, mobiliaires et foncieres  ; il faut que les hommes réunis en société se garantissent mutuellement ces propriétés, et les protégent réciproquement de toutes leurs forces physiques. Ce sont cette garantie et cette protection mutuelle qui constituent proprement la société.27

Erinnert sei an dieser Stelle daran, dass Rousseau in seinem Discours sur l’inégalité nahezu in wörtlicher Entsprechung genau diese Art eines Gesellschaftsvertrages zwischen Besitzenden und Besitzlosen zur gegenseitigen Anerkennung und zu gegenseitigem Schutz des Rechts auf Eigentum als einen ursprünglichen Akt der Pervertierung des menschlichen Geistes geschildert hatte, auf den sich alle Fehlentwicklungen der Gesellschaft zurückführen ließen. Indessen zielt die weitere Argumentation Duponts darauf ab, den in der gezeigten Weise für elementar und konstitutiv erachteten Schutz des Eigentums sogar zur Hauptaufgabe der Staatsgewalt zu erheben  :

24 Ebenda (Schrägdruck im Original). 25 Ebenda (Schrägdruck im Original). 26 Ebenda (Schrägdruck im Original). 27 Ebenda, S. 15 (Schrägdruck und Absatz im Original).

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Si pour tenir la main à la garantie mutuelle du droit de propriété, il fallait que tous les hommes veillassent pour défendre leurs possessions et celles d’autrui  ; ils seraient dans un état moins avantageux (…). Il faut donc une autorité tutélaire qui veille pour tous (…).28

Doch auch diese Form einer unmittelbar mit der Staatsgewalt verbundenen politischen Sanktionierung des Eigentums erweist sich als noch steigerungsfähig, indem die Staatsgewalt selbst, mit ebendieser Aufgabenstellung, gar zum Vollstrecker göttlichen Willens erklärt wird  : L’autorité souveraine n’est pas instituée pour faire des Loix  ; car les Loix sont toutes faites par la main de celui qui créa les droits et les devoirs. Les Loix sociales établies par l’Ètre suprême, prescrivent uniquement la conservation du droit de proriété, et de la liberté qui en est inséparable.29

Es mag unter anderem diese Form einer Sakralisierung des Eigentumsrechts und der physiokratischen Lehre als Ganzes sein, die bereits in den Augen vieler Zeitgenossen deren auf wirtschaftlichen Liberalismus gerichteten Hauptaspekt in den Hintergrund treten ließ und stattdessen den zunehmend häufiger geäußerten Vorwurf eines sektiererischen Dogmatismus begünstigte. Der im Buch Le Merciers beschworene legale oder soziale Despotismus tat in dieser Hinsicht ein Übriges und findet sich bis heute in der verbal wie begrifflich verfälschten Form eines aufgeklärten Despotismus in den Geschichtsbüchern. Was Dupont betrifft, so bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass er durch diese so vordergründig ins Sakrale gewendete Form der Propagierung physiokratischer Kerngedanken deren Anspruch auf naturwissenschaftliche Gültigkeit untergräbt. Die Verwendung republikanischer Begriffe schließlich (intérêt commun, réunion des volontés, autorité Souveraine), mit denen in Analogie zu Le Mercier verbal eine quasi nachgeordnete demokratische Legitimierung der physiokratischen Dogmatik konstruiert werden soll, führt auch in Duponts Darstellung zu begrifflicher Ambivalenz. Denn im Unterschied zur Logik des Contrat social von Rousseau, dem die einschlägigen Begriffe entlehnt sind, gründet etwa der physiokratische intérêt commun auf der »größtmöglichen Konkurrenz« partikularer Eigentumsinteressen. Dennoch soll die évidence dieses Gemeininteresses zu einer politischen Willensbildung (réunion des volontés) führen, die ihrerseits in verba-

28 Ebenda, S. 15/16 (Hervorhebung durch Schrägdruck R. Bach). 29 Ebenda, S. 16 (Schrägdruck und Absatz im Original).

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ler – nicht in begrifflicher (!) –, aber scheinbar logischer Analogie zu Rousseau die autorité Souveraine konstituiert  : L’autorité Souveraine est dépositaire des forces publiques et leur commande, parce que l’évidence de l’intérêt commun rallie à elle toutes les volontés. C’est cette réunion des volontés et des forces qui constituent la puissance et l’autorité Souveraine.30

Unterstellt man ein Mindestmaß an Bekanntheit der politischen Ideenwelt Rousseaus, wie sie bei Weitem nicht allein im Contrat social, sondern darüber hinaus in nahezu allen seinen Werken propagiert wird, so mag dies durchaus das außergewöhnlich starke Interesse der Anhänger Quesnays an einer instruction publique erklären, der es – nach eigenem Bekunden – um die Deutungshoheit dieser zentralen politischen Überlegungen und Begriffe zu tun ist. Und so schließt sich auch an dieser Stelle folgerichtig der Kreis des begrifflichen Unterlaufens der republikanischen Terminologie mit der Forderung, eine der Propagierung der Naturgesetze der Gesellschaftsordnung (loix naturelles et essentielles de l’ordre social) dienende instruction publique ins Leben zu rufen. Darüber hinaus soll die Publikation einschlägiger Lehrbücher (ouvrages doctrinaux) gefördert werden, um auch den letzten Staatsbürger (le dernier des citoyens) zu erreichen  : Pour que la Nation soit suffisamment éclairée sur ces loix naturelles  ; il faut en établir l’instruction publique et générale, et favoriser les ouvrages doctrinaux en ce genre  : de maniere que le dernier des citoyens en ait au moins une teinture légère (…).31

In einem letzten, kurz gehaltenen Schwerpunkt seines Textes gibt Dupont Le Merciers Überlegungen zu alternativen Regierungsformen wieder, die auch hier in ein Plädoyer für die erbliche Monarchie als Garanten für eine dem ordre naturel entsprechende staatliche Ordnung münden. 9.2 D’Holbach Hinsichtlich der weiteren Verbreitung physiokratischer Ideen im historischen Vorfeld der Französischen Revolution nimmt der bekennende Materialist, Athe30 Ebenda, S. 19. 31 Ebenda.

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ist und Religionskritiker d’Holbach eine durchaus widersprüchliche Stellung ein. Denn spezifisch physiokratische Positionen und Formulierungen finden sich hauptsächlich in seinem 1770 erschienenen Système de la Nature,32 während spätere Texte33 dem teilweise widersprechen oder nur in allgemeiner Hinsicht, beispielsweise auf moralphilosophischem Gebiet, Übereinstimmungen mit physiokratischen Positionen erkennen lassen. In diesen anderen, übrigens betont konservativen Texten der Jahre 1773 und 1776 ist dagegen der Einfluss Lockes und Montesquieus besonders deutlich spürbar. Ausgeprägt ist hier unter anderem auch eine mit physiokratischen Positionen durchaus kompatible Kritik an vermeintlichen oder tatsächlichen Positionen Rousseaus, die meist entstellt wiedergegeben und dann persifliert werden. Durchgehend in allen Texten wird indessen eine utilitaristische, offenbar an Helvétius orientierte Ethik des intérêt und der persönlichen Glückseligkeit34 vertreten, die sich bewusst gegenüber idealistischen Positionen, das heißt expressis verbis gegenüber einer auf Selbstlosigkeit und Zurücksetzung des Eigeninteresses beruhenden Ethik abgrenzt. Insofern sind d’Holbachs Texte ausnahmslos Teil der Ethikdebatte und auf dieser Ebene allerdings durchweg kompatibel mit den Positionen des physiokratischen Liberalismus. Einige der zahlreichen Widersprüche, die sich im Vergleich der Texte d’Holbachs zeigen, könnten durch einen möglichen Einfluss Diderots auf den 1770 erschienenen Text erklärt werden, wenn man bedenkt, dass dieser enge Freund und Vertraute d’Holbachs zeitweilig als glühender Verehrer des Ordre naturel et essentiel von Le Mercier in Erscheinung trat. Mehrere Indizien sprechen sogar 32 Das zweibändige Werk Système de la nature, ou Des loix du monde physique et du monde moral, das bereits im Titel seinen physio-cratischen Charakter offenbart, erscheint erstmals im Jahre 1770 unter dem Pseudonym M. Mirabaud  ; ein Name, dessen Gleichklang mit dem Physiokratenfreund Marquis de Mirabeau offenbar nicht zufällig gewählt wurde. Das sofort zur öffentlichen Verbrennung ausgeschriebene Buch erlebte noch im achtzehnten Jahrhundert eine ganze Reihe von Neuauflagen, wobei die Autorschaft meist Diderot zugeschrieben wurde. Erst seit einer 1821 erfolgenden Neuauflage gilt d’Holbach als eigentlicher Autor. 33 Système social ou Principes naturels de la morale et de la politique avec un examen de l’influence du Gouvernement sur les mœurs (1773), La Politique naturelle ou Discours sur les vrais principes du Gouvernement (1773), La Morale universelle. Ou Les Devoirs de l’Homme fondés sur la Nature (1776), Éléments de la Morale universelle, ou Catéchisme de la Nature (1765–1790). 34 I. Kant, der im Jahre 1785 mit seiner Metaphysik der Sitten auf die Ethikdebatte der Spätaufklärung reagiert und dabei auf den weitverbreiteten Topos der Glückssuche Bezug nimmt, prägt in diesem Zusammenhang den Begriff der Glückseligkeit. Wir verwenden daher bereits hier, an seinem eigentlichen Bezugspunkt, diesen Kant’schen Begriff und verweisen auf unsere späteren, der historischen Chronologie folgenden Erläuterungen zur Position Kants.

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für die Annahme, dass Diderot selbst der Autor des d’Holbach zugeschriebenen Système de la nature ist oder dass zumindest wesentliche Teile des Buches von ihm verfasst wurden. Im Zuge der Vorstellung dieses Textes soll auf diese Indizien verwiesen werden. 9.2.1 D’Holbach/Diderot  : Le Système de la nature, ou des lois du monde physique et du monde moral (1770)

Obwohl der Autor des Système de la nature unzweifelhaft einige der politischen Kernaussagen Quesnays und Le Merciers übernimmt, liegt kein verbales Bekenntnis zur Schule der Physiokraten vor. Deshalb sollen zunächst bestimmte unzweifelhafte Belege für den behaupteten Transfer physiokratischer Kerngedanken erbracht werden. Deren ultimatives Fazit hatte Le Mercier bekanntermaßen in der folgenden – mit geringen Abwandlungen – stereotyp wiederholten Formel zum Ausdruck gebracht  : »PROPRIÉTÉ, SURETÉ, LIBERTÉ, voilà donc l’ordre social dans tout son entier«.35 Genau derselben Schlagworte Eigentum, Sicherheit, Freiheit, die nur in ihrer Folge geringfügig umgestellt werden, bedient sich auch der Autor des Système de la nature, um das Wesen der erstrebten gesellschaftlichen Ordnung zu definieren. Aus der Formel propriété, sureté, liberté wird dabei die Formel liberté, propriété, sûreté, wie sie später, in wörtlicher Übereinstimmung, den revolutionären discours républicain bis hinein in die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1789 prägen sollte.36 Für den Autor handelt es sich, wie er analog zur Auffassung Le Merciers ausführt, um die begriffliche Zusammenfassung derjenigen Vorteile, um derentwillen überhaupt die Zivilgesellschaft gegründet wurde  : »les avantages pour lesquels ils se sont associés (…) sont la liberté, la propriété, la sûreté«.37 Auch den philosophischen Hintergrund dieser als zeitgenössische politische Forderung zu verstehenden Sichtweise formuliert der Autor nach physiokratischem Vorbild, was an bekannte Strukturen eines verfälschenden Rückgriffs auf Kernaussagen des Contrat social erinnert. Demnach erscheinen die genannten Vorteile der Gesellschaft als das Ziel eines fiktiven Gesellschaftsvertrages, der zunächst als allgemeine Übereinkunft zur gegenseitigen Interessenschonung auf 35 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 448 (Hervorhebungen im Original). 36 In Artikel II der Déclaration von 1789 heißt es  : »Ces Droits sont la Liberté, la Propriété, la Sûreté …« 37 D’Holbach, Système de la nature, ou Des loix du monde physique et du monde moral, Bd. I und II (1770), Paris 1990, Bd. I, S. 171.

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Augenhöhe der Beteiligten definiert wird  : »un PACTE, par lequel ils se sont engagés à se rendre des services et à ne point se nuire«.38 Und getreu der physiokratischen Sichtweise beschreibt auch unser Autor den weiteren Übergang in eine gesetzlich geregelte soziale Ordnung als Umwandlung dieses Gesellschaftsvertrages in einen Herrschaftsvertrag. Zwar verkörpere das Gesetz den politischen Gemeinwillen – einen Begriff, den der Autor in der bereits von Le Mercier praktizierten inhaltlichen Umkehrung als »somme des volontés de la société«, also als einfache Summierung partikularer Willen fasst –, jedoch bedürfe es auserwählter Bürger, denen »die Interpretation dieses politischen Gemeinwillens anvertraut« werde (»des citoyens à qui elle [la société] accorde sa confiance  ; elle en fait les interprètes de ses volontés«39). Mit »freiwilliger Zustimmung der Gesellschaft« (»consentement libre de la société«) würden diese sodann zu »souveränen Herrschern« und »Gesetzgebern« ernannt (»Ceux qui sont chargés du soin de gouverner s’appellent Souverains, Chefs, Législateurs«40). Zwischen ihnen und der Gesellschaft bestehe nun ein Pakt, der die Gesellschaft (»la société«) zu Gehorsam verpflichte, während es Aufgabe der Herrscher sei, das Wohlergehen der Gesellschaft (»le bien-être de la société«) zu bewahren  : »Par un Pacte, soit exprimé, soit tacite, ces souverains s’engagent à veiller au maintien et s’occuper du bien-être de la société  ; ce n’est qu’à ces conditions que cette société consent à obéir«.41 Vor diesem Hintergrund sollten die Gesetze das unverrückbare Ziel des Gemeininteresses der Gesellschaft (»l’intérêt général de la société«) verfolgen, welches darin bestehe, der größtmöglichen Anzahl der Staatsbürger die Vorteile zu sichern, um derentwillen sie sich assoziiert hätten, nämlich Freiheit, Eigentum und Sicherheit  : Les Loix pour être justes doivent avoir pour but invariable l’intérêt général de la société, c’est-à-dire, assurer au plus grand nombre des citoyens les avantages pour lesquels ils se sont associés. Ces avantages sont la liberté, la propriété, la sûreté.42

Bis in zahlreiche Details hinein stimmt diese Präsentation physiokratischer Ideen mit den Darlegungen Le Merciers und Duponts überein, wobei auch hier 38 Ebenda, S. 169/170 (Hervorhebung im Original). 39 Ebenda, S. 170 (Hervorhebung R. Bach). 40 Ebenda. 41 Ebenda. 42 Ebenda, S. 171 (Hervorhebungen R. Bach).

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begriffliche Entstellungen einzelner Elemente der Formelsprache des Contrat social benutzt werden, um für das eigentliche politische Ziel, die Absicherung einer staatlich sanktionierten, gleichwohl aber vom individuellen Vorteilsdenken getragenen marktwirtschaftlichen Ordnung, zu werben. Was nun dieses politische Ziel angeht, so erscheint die Sprache des Système de la nature insofern unverblümter und klarer, als das Motiv des Utilitarismus stärker hervortritt, der Gedanke der Gleichheit dagegen offensiv verdrängt wird. Interesse und Nutzen stehen demnach im Mittelpunkt einer Gesellschaft, deren soziales Wesen sich im échange continuelle43, im ewigen Austausch von Nützlichkeiten erschöpft  : »L’intérêt est l’unique mobile des actions humaines«.44 »L’utilité (…) doit être l’unique mesure des jugement de l’homme«.45 Und in dem als selbstverständlich angenommenen sozialen Gefälle zwischen Arm und Reich ist es das eigentliche Verdienst der wohlhabenden Bürger, den Arbeitswillen der Bedürftigen zu entfachen. Denn indem diese für andere arbeiteten, dienten auch sie nur dem eigenen Vorteil, wie denn auch »jeder von uns, seinem eigenen Interesse folgend, zur Nützlichkeit für andere gezwungen sei, um wiederum Dinge zu bekommen, die er selbst nicht hat«.46 C’est ansi que les riches et les grands excitent l’énergie, l’activité, l’industrie de l’indigent  ; celui-ci travaille à son propre bien-être en travaillant pour les autres. (…) chacun de nous, pour son propre intérêt, est forcé d’être utile à des êtres capables de lui procurer les objets qu’il n’a pas lui-même.47

Auch den Gedanken eines ständigen Wachstums der Bedürfnisse sowie der Mittel zu ihrer Befriedigung, als wesensimmanenter Eigenschaft einer auf Tauschhandel reduzierten politischen Gesellschaft, formuliert der Autor bereits mit größerem Nachdruck als seine physiokratischen Vorgänger  : »dans les sociétés politiques, la progression des besoins est une chose nécessaire«.48»[D]ans la même proportion que nos besoins se multiplient nous sommes forcés de multiplier les moyens de les satisfaire.«49

43 Ebenda, S. 345. 44 Ebenda, S. 332 (Hervorhebung im Original). 45 Ebenda, S. 329 (Hervorhebung R. Bach). 46 Ebenda, S. 346 (Hervorhebungen R. Bach). 47 Ebenda (Hervorhebungen R. Bach). 48 Ebenda. 49 Ebenda, S. 348.

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Dabei ist festzuhalten, dass die hier vorgetragenen, in erster Linie auf ökonomischen Liberalismus zielenden Vorstellungen weder die soziale noch die politische Hierarchie der Gesellschaft in Frage stellen. Vielmehr wird der Gedanke der Nützlichkeit als Legitimation sozialpolitischer Privilegierung betont, ohne jedoch, wie später bei Sieyès, bereits zum Ausschlusskriterium zwischen Aristokratie und Drittem Stand erhoben zu werden. Bemerkenswert erscheint aber auch hier der Grad an Übereinstimmung der Formulierungen des Système de la nature mit der späteren Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen, wonach ausschließlich die Nützlichkeit über den gesellschaftlichen Rang eines Bürgers entscheide  : Système de la nature (1770)  : Les rangs dans les sociétés politiques n’ont pour base que l’utilité réelle ou imaginaire de quelques citoyens, en faveur de laquelle les autres consentent à les distinguer, à les respecter, à leur obéir.50 Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (26. August 1789)  : Article premier  : (…) Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune.

So erscheint der Reiche in der nach Nützlichkeit ausgerichteten sozialen Hierarchie stets als der gebende – der Bedürftige hingegen als der nehmende Part, was sinngemäß, im Kontext marktwirtschaftlicher Überlegungen, an die moderne Begriffsprägung so genannter Arbeitgeber und Arbeitnehmer erinnert  : »Le riche n’acquiert des droits sur l’indigent qu’en vertu du bien-être qu’il est en état de lui faire approuver.«51 Auch der politische Begriff der Nation wird hier, ganz ähnlich der physiokratischen Sichtweise, im Grunde auf die Idee des Tauschhandels zum gegenseitigen Nutzen reduziert, wobei der Gegensatz von besoins und plaisirs auf das bereits beschriebene soziale Gefälle zurückverweist  : »Une nation n’est que la réunion d’un grand nombre d’hommes liés les uns aux autres par leurs besoins ou leurs plaisirs«.52 Dessen ungeachtet erscheint zwar der Begriff des Vaterlandes, verbal der Diktion Rousseaus folgend, in einem politisch-moralischen Sinnzusammenhang mit dem Begriff des Staatsbürgers und dessen Vaterlandsliebe. Doch im selben Atemzug erfolgt seine inhaltliche Vereinnahmung durch die physiokratische Begriffs­trilogie von Freiheit, Eigentum und Sicherheit  : »[C]’est la liberté, 50 Ebenda, S. 355/356. 51 Ebenda, S. 356. 52 Ebenda, S. 346 (Hervorhebung R. Bach).

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la propriété, la sûreté qui rendent la patrie chère, et c’est l’amour de la patrie qui fait le citoyen.«53 Die politisch signifikanten Aussagen des Système de la Nature sowie die kontextgebundene inhaltliche Prägung und Verwendung all dieser hier nur in wenigen Beispielen wiedergegebenen politischen Schlüsselbegriffe, wie etwa auch die Übernahme der stereotypen Formel von Freiheit, Eigentum, Sicherheit als eines Fanals der physiokratischen Schule, bestätigen deren Einfluss auf den vorliegenden Text. Und dennoch findet sich all dies eingebettet in ein ganz eigenwilliges philosophisches Gebäude, das sich in keinem anderen Text d’Holbachs wiederfindet. Es gründet auf einem Vergleich alternativer philosophischer »Systeme«, die als »système de la spiritualité«,54 »système de la liberté«,55 »système de la nécessité«56 und »système du fatalisme« unterschieden werden. Die eigene Position wird dabei dem »système de la nécessité« beziehungsweise dem »système du fatalisme«, damit übrigens nach eigenem Bekunden dem Materialismus,57 zugerechnet. Als unmittelbar kontrovers hierzu wird das »système de la spiritualité«, auch »dogme de la spiritualité«, beschrieben. Letzteres steht für alle nichtmaterialistischen Ideen, insbesondere für alle religiösen Auffassungen, die mitsamt ihren moralischen Lehren zum Grundübel und zur Ursache aller Fehlentwicklungen der Gesellschaft erklärt werden  : Les opinions religieuses des hommes n’ont pour objet que de leur montrer la suprême félicité dans des illusions, pour lesquelles on allume leurs passions (…). C’est ainsi que la religion enivre les hommes dès l’enfance, de vanité, de fanatisme et de fureurs (…). Voilà la véritable source du mal moral (…) d’où résulte un désordre général de la société (…).58

Angesichts der besonderen Bedeutung, die dieser Religionskritik als einem bekanntermaßen tragenden Element der Gesellschaftskritik d’Holbachs zukommt, kann für diesen Teil des Textes von seiner persönlichen Autorschaft ausgegangen werden. Dies gilt beispielsweise für den gesamten zweiten Band des Système de la Nature, der sich der philosophischen Widerlegung aller Arten von religiösen Auffassungen einschließlich ihrer theologischen Argumente zuwendet, wobei 53 Ebenda, S. 172 (Hervorhebungen R. Bach). 54 Ebenda, S. 121. 55 Ebenda, S. 213, 231. 56 Ebenda, S. 262. 57 Ebenda, S. 154. 58 Ebenda, S. 180/181 (Hervorhebungen R. Bach).

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auch spirituelle Teilaspekte philosophischer Systeme, etwa bei Descartes, Malebranche oder Newton, entsprechend kritisiert werden. Ganz anders jedoch die über mehrere Kapitel des ersten Bandes sich hinziehende Diskussion des Verhältnisses von liberté, nécessité und fatalité. Seltsamerweise hinterlässt auch sie keinerlei Spuren in anderen Schriften d’Holbachs, abgesehen davon, dass dort der Schlüsselbegriff der Freiheit eine vollkommen andere, am ehesten mit den Auffassungen Montesquieus vergleichbare Ausprägung erfährt. Erstaunlich ist hingegen die deutliche Affinität zur Diskussion des philosophischen Freiheitsgedankens in Diderots Roman Jacques le fataliste et son maître. Was nun die vorgetragenen Positionen zum Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit angeht, so scheinen sie auf den ersten Blick physiokratischen Auffassungen zu widersprechen, können aber, wie wir sehen werden, ebenso als deren konsequente Weiterführung gelesen werden. In grundlegender Weise konterkarieren sie indessen die Auffassungen Rousseaus. Diese Besonderheiten wie auch die schon erwähnte Tatsache, dass keines der anderen Werke d’Holbachs die Diskussion der genannten philosophischen Systeme auch nur im Ansatz erwähnt oder aufnimmt, darf neben dem Verweis auf Diderots Reaktion gegenüber Le Merciers Werk als Indiz seiner Autorschaft, zumindest bezüglich weiter Teile des Système de la nature, gewertet werden. Konkret wendet sich der Text, ungeachtet der zuvor erfolgten, vordergründig politisch motivierten Übernahme der physiokratischen Formel liberté, propriété, sûreté, gegen ein systême de la liberté, das dem menschlichen Willen – wie in Rousseaus politischer Anthropologie – einen moralisch relevanten Spielraum eröffnet. Damit wird aber nicht nur der politischen Ethik des Contrat social widersprochen, sondern scheinbar auch dem am Propriété-Begriff orientierten Freiheitsgedanken der Physiokraten. Erst bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass es sich um sehr verschiedene Arten der Abgrenzung handelt. Gegenüber Rousseau handelt es sich um eine Abgrenzung, die auf der Inkompatibilität zweier ethischer Systeme beruht, während der Unterschied zur physiokratischen Lesart des Freiheitsbegriffs letzten Endes auf ein konsequentes Weiterdenken physiokratischer Positionen zurückgeht. Denn getreu der materialistischen Herangehensweise der Physiokraten, der diese im Übrigen ihren Namen verdanken, unterstellt der Autor eine ausschließlich physische Existenz des Menschen, der als être physique, und sogar im Sinne La Mettries als machine,59 fatalerweise, gewissermaßen willenlos, ausschließlich den als notwendig und unveränderlich bezeichneten Gesetzen der Natur unterworfen ist  : »(…) l’homme est un être physique  ; de quelque façon 59 Ebenda, S. 176.

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qu’on le considere il est lié à la nature universelle, et soumis aux loix nécessaires et immuables (…).«60 Diesem Gedanken weiter folgend, wird sogar die Seele als physisches Phänomen betrachtet, dem physische Bedürfnisse entsprechen und deren physische Glückseligkeit realen Objekten zugewandt ist  : »Des ames physiques et des besoins physiques demandent un bonheur physique et des objets réels (…).«61 So wird denn auch der Wille des Menschen, in dieser Optik, ausschließlich und mit gesetzmäßiger Notwendigkeit von sinnlichen Eindrücken determiniert  : »Cette volonté est nécessairement déterminée par la qualité bonne ou mauvaise, agréable ou désagréable de l’objet ou du motif qui agit sur nos sens (…).«62 Ein ganzes Kapitel des Buches wird darauf verwandt, diese Abhängigkeit des menschlichen Willens aus der sinnlichen Genesis allen Denkens und Wollens zu erklären.63 Bis in terminologische Details hinein folgt die Darstellung der sensualistischen Doktrin, wie sie von Locke entwickelt und von Condillac konsequent materialistisch weitergeführt wurde. Auch die Schlussfolgerung, wonach der menschliche Wille stets einem sinnlich begründeten Interesse (auch Motiv genannt), damit immer der Wahrung des eigenen Vorteils folgt, deckt sich vollständig mit der physiokratischen Argumentation, wie sie Le Mercier am eindrucksvollsten entwickelt hatte. Erst mit der noch weitergehenden Behauptung, dass der Mensch, infolge dieser Determiniertheit seines Willens, keine freie Entscheidung treffen kann, also auch keine Freiheit im philosophischen Sinn besitzt, widerspricht der Text nicht nur dem Freiheitsgedanken Rousseaus, sondern auch dem der Physiokraten  : »L’homme n’est donc libre dans aucun instant de sa vie  ; il est nécessairement guidé à chaque pas par les avantages réels ou fictifs qu’il attache aux objets qui excitent ses passions.«64 An die Stelle des Freiheitsgedankens und dessen, was der Autor pauschal unter der Bezeichnung systême de la liberté subsumiert, setzt er den Gedanken der Notwendigkeit. »Frei sein« bedeutet in der konsequent physiokratischen Sicht des Autors nichts anderes als »notwendigen Motiven weichen«  : »être libre c’est céder à des motifs nécessaires«.65 ›Konsequent physiokratisch‹ deshalb, weil in diesem Zusammenhang lediglich der physiokratische Lehrsatz von der Gleichsetzung des monde moral mit dem 60 Ebenda, S. 214. 61 Ebenda, S. 129/130. 62 Ebenda, S. 216 (Hervorhebung R. Bach). 63 Ebenda, S. 133  : »Chapitre VIII Des facultés intellectuelles  ; toutes sont dérivées de la faculté de sentir.« 64 Ebenda, S. 229 (Hervorhebungen R. Bach). 65 Ebenda, S. 244.

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monde physique – die beide Sphären den gleichen Gesetzen unterwirft – konsequent zur Anwendung gelangt  : »la nécessité qui règle les mouvemens du monde physique règle aussi tous ceux du monde moral«.66 Dem physiokratischen Standpunkt hinsichtlich des Freiheitsgedankens wird also nur indirekt widersprochen, während andererseits die auf ein ganzes Kapitel bemessene Polemik gegen das systême de la liberté67 vor allem die klare Zurückweisung eines Schlüsselgedankens der politischen Philosophie Rousseaus beinhaltet. Denn auf Rousseaus These von der Unabhängigkeit des Willens ruht nicht nur die von ihm vertretene politische Ethik, die Entscheidungen des Gewissens vom partikularen Interesse abkoppelt und damit als freie und selbstlose, einer moralischen Pflicht gehorchende Handlungen überhaupt erst ermöglicht. Auf ihr ruht auch das philosophische Gebäude eines Contrat social, das heißt auch der Gedanke einer Volkssouveränität, die in der Umsetzung des Konzepts der volonté générale besteht. An die Stelle des freien Willens die interessengesteuerte Determiniertheit menschlichen Handelns zu setzen und das Abwägen des Nutzens zum Maßstab der Tugend zu erklären (vgl.: »Pour que l’homme fût vertuex, il faudroit qu’il eût intérêt, ou qu’il trouvât des avantages à pratiquer la vertu.«68) bedeutet hingegen, einer diametral entgegengesetzten politischen Ethik, nämlich der eines marktwirtschaftskonformen Utilitarismus, das Wort zu reden.69 Die Feststellung »l’homme n’est point libre«70 liest sich in diesem Zusammenhang wie eine Replik auf Rousseaus berühmten ersten Satz im Contrat social, »l’homme est né libre …«. Ganz ähnlich all jene Repliken, die so genannte ›philosophische Irrtümer‹ über die Freiheit auf falsche Annahmen hinsichtlich der Priorität des Willens zurückführen  : »Les erreurs des philosophes sur la liberté de l’homme, viennent de ce qu’ils ont regardé sa volonté comme le premier mobile de ses actions (…).«71 Die vermeintliche Freiheit (»leur prétendue liberté«), so spottet der Autor, sei in Wahrheit, trotz aller Illusionen über die Autonomie des Willens, nichts als eine 66 Ebenda, S. 245 (Hervorhebung R. Bach). 67 Ebenda, S. 212–246  : Kap. XI  : Du systême de la liberté de l’homme. 68 Ebenda, S. 178 (Hervorhebungen R. Bach). 69 Ebenda, S. 335  : »La vertu n’est que l’art de se rendre heureux soi-même de la félicité des autres. L’homme vertueux est celui qui communique le bonheur à des êtres capables de le lui rendre, nécessaire à sa conversation, à portée de lui procurer une existence heureuse. Tel est le vrai fondement de toute morale.« 70 Ebenda, S. 243. 71 Ebenda, S. 226 (Hervorhebungen R. Bach). Vgl. auch »les idées fausse que l’on s’est faite sur la liberté …«, S. 245, und  : »On a cru que l’homme étoit libre …«, S. 224. Ebenda, S. 239 (Hervorhebungen R. Bach).

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Folge der Notwendigkeit  : »Malgré les idées si gratuites que les hommes se sont faites de leur prétendue liberté, malgré les illusions (…) qu’ils sont maîtres de leurs volontés, toutes leurs institutions se fondent réellement sur la nécessité (…).«72 Um das systême de la liberté de l’homme zu »entzaubern«, gelte es daher lediglich, zurückzugehen auf die tatsächlichen Motive, die den menschlichen Willen determinierten, denn diese Motive lägen stets außerhalb seiner Macht  : »Pour se détromper du systême de la liberté de l’homme, il s’agit simplement de remonter au motif qui détermine sa volonté, et nous trouverons toujours que ce motif est hors de son pouvoir.«73 Äußerst bemerkenswert in der näheren Begründung dieser Unterscheidung zwischen dem Willen und den dahinterliegenden Motiven ist die Tatsache, dass das hierfür ausgewählte Beispiel mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zufällig gewählt wurde. Denn mit diesem Beispiel wird sowohl auf eine diesbezügliche Äußerung Rousseaus als auch auf die physiokratische Replik in Le Merciers Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques Bezug genommen. So war der berühmte Satz Rousseaus »L’homme est né libre et partout il est dans les fers«74 bereits von Le Mercier konterkariert worden mit der Bemerkung  : »Un homme conserve jusque dans les fers la liberté métaphysique de désirer, de vouloir  ; mais il n’a pas alors la liberté physique de l’éxecution.«75 Dieser physiokratischen Unterscheidung zwischen einem metaphysischen und einem physischen Freiheitsbegriff begegnet der Autor nun unter Bezugnahme auf das gleiche Beispiel mit der subtileren Differenzierung zwischen dem Willen und seinem nicht frei wählbaren Motiv  : Les partisans du systême de la liberté paroissent avoir toujours confondu la contrainte avec la nécessité. (…) Un prisonnier chargé de fers est contraint de rester en prison, mais il n’est pas libre de ne pas désirer de se sauver  ; ses chaînes l’empêchent d’agir, mais ne l’empêchent pas de vouloir  ; il se sauvera si l’on brise ses chaînes  ; mais il ne se sauvera point librement  ; la crainte ou l’idée du supplice sont pour lui des motifs nécessaires.76

Was die ethikrelevanten Konsequenzen dieser Argumentation angeht, so unterscheiden sie sich im Grunde nicht von denen des physiokratischen Standpunkts. Beide folgen der von Helvétius begründeten Determiniertheit des Willens durch 72 Ebenda, S. 231. 73 Ebenda. 74 Es ist der programmatisch gemeinte erste Satz des Contrat social von J.-J. Rousseau. 75 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 44 (Schrägdruck im Original). 76 D’Holbach, Système de la nature, S. 231/232.

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das jeweilige Interesse, die Interessiertheit, das Motiv, und beide richten sich gegen die Willensfreiheit, auf der Rousseaus politische Ethik gründet. Dass es sich auch bei dieser Argumentation, die hier nur in einer sehr begrenzten Auswahl einschlägiger Beispiele abgebildet werden konnte, durchaus um eine sehr bewusste Stellungnahme zur Ethikdebatte der französischen Spätaufklärung handelt, bestätigt der Autor nicht zuletzt dadurch, dass er den Nutzen als Dreh- und Angelpunkt der von ihm selbst wie auch von der physiokratischen Partei vertretenen politischen Ethik bezeichnet, ihn gar zum entscheidenden Differenzkriterium, zum pierre de touche der verschiedenen Systeme erhebt  : »L’utilité est donc la pierre de touche des systêmes«.77 In einem anderen interessanten Punkt, der die strategische Position des Textes innerhalb der Ethikdebatte gleichwohl nicht verändert, scheint sich der Autor einer Sichtweise Rousseaus anzunähern. Es handelt sich um die Erziehbarkeit des Menschen sowie um die Frage der Erbschuld, den so genannten pêché originel. Da sich die hierbei vertretenen Positionen in ähnlicher Form auch in anderen d’Holbach zugeschriebenen Texten finden, kann in diesem Zusammenhang durchaus wiederum von seiner persönlichen Autorschaft ausgegangen werden. Während Rousseau im Einklang mit seinem christlich-religiösen Bekenntnis die Erbschuld als Ursache des Bösen ablehnt und stattdessen die widernatürliche soziale Ordnung für den moralischen Verfall der Gesellschaft haftbar macht, ergeben sich ganz ähnlich klingende Schlussfolgerungen für d’Holbach sowohl aus dessen atheistischer Überzeugung wie auch aus seiner global angelegten Herrschafts- und Gesellschaftskritik.78 Auch er verwirft den Gedanken an eine dem Menschen angeborene Unmoral. Auch er gibt stattdessen bestimmten Formen des herrschenden sozialen und politischen Unrechts die Schuld an der moralischen Verkümmerung der Menschen. Doch in einem deutlichen Gegensatz zu Rousseau, stattdessen im Einklang mit dem physiokratischen Bekenntnis zur sozialen und politischen Ungleichheit, zielt d’Holbachs pädagogischer Ehrgeiz lediglich auf eine von der Vernunft geleitete Erziehung im Sinne einer weltlichen Moralphilosophie.79 Die dabei vertretene Position weicht dennoch von 77 Ebenda, S. 247. 78 »L’homme est méchant, non parce qu’il est né méchant, mais parce qu’on le rend tel«, ebenda, S. 311. »Nous ne voyons sur la face du globe que des souverains injustes, incapables, amollis par le luxe, corrompus par la flatterie, dépravés par la licence«, ebenda. »Les hommes ne sont par-tout si méchans, si corrompus, si rebelles à la raison que parce que nulle part ils ne sont gouvernés conformément à leur nature ni instruits de ses loix nécessaires.« Ebenda, S. 310. Vgl. auch ebenda, S. 236/237. 79 Vgl. »une éducation raisonnable et fondée sur la vérité des loix sages …«, ebenda, S. 236  ; vgl. auch S. 312.

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derjenigen der Physiokraten ab. Denn im Unterschied zur physiokratischen instruction publique, der es allein um die Akzeptanz eines marktwirtschaftlichen ordre naturel und um die Deutungshoheit politischer Schlüsselbegriffe zu tun ist, sind d’Holbachs pädagogische, also im vollen Umfang auf éducation statt nur auf instruction zielende Forderungen nicht von seiner Kritik an gewissen moralischen Missständen der Gesellschaft zu trennen. Die Einbindung dieser Forderungen in das gleichwohl physiokratisch inspirierte systême de la nécessité erfolgt über einen Vergleich von Erziehung (die sich an Kinder richtet) und Gesetzgebung (die den Untertanen gebietet), wodurch implizit auch eine Aussage über die politische Unmündigkeit der Bürger sowie über die Auslegung des Begriffs corps politique getroffen wird  : »L’éducation n’est donc que la nécessité montrée aux enfans. La législation est la nécessité montrée aux membres d’un corps politique.«80 An dieser Stelle, das heißt vor dem Hintergrund des hier hergestellten Zusammenhangs von Gesetzgebung und Erziehung mit der (in der Ständehierarchie begründeten) Unmündigkeit des Volkes und dem Schlüsselbegriff der Notwendigkeit, muss auch auf Ähnlichkeiten der Vorstellungswelt d’Holbachs mit den Auffassungen Montesquieus verwiesen werden. Denn Montesquieu, auf den sich d’Holbach in seinen Texten häufig direkt, mitunter expressis verbis, häufig auch indirekt durch die Übernahme bestimmter Formulierungen bezieht, hatte die feudale Ständehierarchie als naturgegebene Notwendigkeit aufgefasst, die in der Natur der Dinge begründet sei. Im Esprit des lois hatte er seinen berühmten naturwissenschaftlich inspirierten Gesetzesbegriff mit dieser Auffassung in Verbindung gebracht  : »Les lois, dans la signification la plus étendue, sont les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses«,81 lautet der erste Satz im ersten Kapitel des Esprit des lois, wonach die Gesetze, in ihrer Eigenschaft als »notwendige Beziehungen«, lediglich der »Natur der Dinge«, im Falle der politischen Gesetze also dem Charakter der Beziehungen zwischen den Regierenden (»ceux qui gouvernent«) und den Regierten (»ceux qui sont gouvernés«), entspringen.82 Ohne Montesquieu oder den Esprit des lois als Referenz anzugeben, übernimmt d’Holbach wortwörtlich ebendiese Gesetzesdefinition in seiner 1773 erschienenen Abhandlung La Politique naturelle,83 wenn er schreibt  : »Les 80 Ebenda, S. 241. 81 Montesquieu, De l’esprit des lois, Bd. I, S. 87 (Hervorhebung R. Bach). 82 Vgl. dazu Bach, Weichenstellungen des politischen Denkens, S. 28 ff. 83 D’Holbach, La Politique naturelle ou Discours sur les principes du gouvernement (London 1773), Paris 1998.

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loix, dans leur signification la plus étendue, sont les résultats des rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses.«84 Für d’Holbach zählt dabei, ebenso wie für Montesquieu, die natürlich bedingte und gewachsene soziale Ungleichheit, die Hierarchie der Stände, zu jener Natur der Dinge, die eine politische Ordnung ausmachen. Ihr zufolge obliegen dem »Volk« – eine Bezeichnung, die d’Holbach mit dem begrifflichen Umfang dessen kontextualisiert, was den Dritten Stand ausmacht –ausnahmslos alle die Gesellschaft erhaltenden praktischen Arbeiten, einschließlich der Kunst und des Handels, während es im Gegenzug Aufgabe einer von diesen Arbeiten freigestellten, also aristokratischen und gebildeten Schicht ist, über dieses »Volk« zu herrschen  : Le Peuple obligé de travailler pour sa subsistance s’occupe des ouvrages les plus pénibles, de la culture des terres, du commerce, des arts  ; en échange des services qu’il reçoit de ses Concitoyens, il les nourrit, il les vêt, il leur procure les besoins et les agréments de la vie  ; il travaille pour ceux qui s’engagent à le gouverner, à veiller pour sa sûreté, à méditer pour lui, à s’occuper de ses besoins, à maintenir la tranquillité nécessaire à ses travaux, à terminer ses disputes. Sans ces secours mutuels, la Société ne tarderoit point à se détruire.85

Diese aristokratische, sozial äußerst konservative Perspektive durchdringt alle Texte d’Holbachs, unbeschadet seiner ebenfalls omnipräsenten, in gewisser Weise gegenläufigen Kritik an Schmarotzertum und Machtmissbrauch des Adels und der Höfe. So erläutern mehrere Kapitel der bereits erwähnten Abhandlung La Politique naturelle, unter verschiedenen Überschriften wie De l’inégalité entre les Citoyens, Origine des Rangs oder Distinction des Nobles et des Roturiers,86 sowohl die vermeintliche Unentbehrlichkeit der Ständehierarchie in ihrer rechtschaffenen Form als auch deren missbräuchliche Spielarten. Eine rechtschaffene Form der Standesunterschiede zwischen Nobles und Roturiers ginge demnach konform mit einer gerechten politischen Ordnung  ; hier genieße der durch Besitz und Geburt wie durch vererbte und persönliche Verdienste distinguierte Adel den Respekt der Mitbürger  : Ce n’est que sous un Gouvernement équitable que les rangs des Sujets sont réellement fixés. Les Nobles, distingués par leurs possessions, par leur naissance, par les services de 84 Ebenda, S. 31 (Hervorhebung R. Bach). 85 Ebenda, S. 162 (Hervorhebungen R. Bach). 86 Ebenda, S. 162, 163 f., 185 f.

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leurs ancêtres, et encore plus par leurs qualités et leur mérite personnel sont des objets respectables pour leurs Concitoyens.87

Da aber allein der private Landbesitz einen Untertan zum wahren Staatsbürger qualifiziert (»la possession de la terre constitue le vrai Citoyen«88) und Vaterlandsliebe solchen Landbesitz zur Voraussetzung hat  – eine Überzeugung, die sich ebenfalls in allen Texten d’Holbachs findet –, kann die ständische Vertretung der Nation, die d’Holbach exakt nach den Vorgaben Montesquieus, das heißt als Gegengewicht zur Souveränität des Monarchen einfordert, ausschließlich durch den Land besitzenden Adel erfolgen  : On a vu ci-devant que, sous un Gouvernement sagement tempéré, la Nation étoit représentée par un Corps ou Sénat destiné à prévenir les abus de l’Autorité Souveraine, et qui, pour ainsi dire, formoit une moyenne proportionnelle entre le Peuple et le Monarque. Telles sont les fonctions des Représentants d’une Nation (…). On demandera, peut-être, dans un Etat bien constitué qui sont ceux qui ont naturellement de droit de représenter la Nation  ? Je réponds que ce sont les Citoyens les plus à portée de connoître son état, ses besoins et ses droits, et les plus intéressés à la félicité publique. Il faut des talents, des lumieres, de la probité pour parler au nom d’une Nation  ; il faut être lié d’intérêts avec elle, pour la représenter fidélement. Mais qu’est-ce qui lie le Citoyen à sa Patrie  ? Ce sont les possessions desquelles dépend son propre bien-être  ; c’est la terre qu’il possede qui lui rend cette Patrie chere (…).89

Wie das Beispiel erkennen lässt, stehen diese konservativen Ansichten d’Holbachs durchaus nicht im Widerspruch zur physiokratischen Auffassung von der staatstragenden Rolle der ländlichen Produktion beziehungsweise des Landbesitzes und der utilitaristisch geprägten, das heißt Interesse-gesteuerten Beziehung des Citoyen-propriétaire zum Vaterland. Ein direkter Einfluss physiokratischer Ideen oder Begriffsprägungen kann damit gleichwohl nicht nachgewiesen werden. Wohl aber wird für die relevanten Schlüsselbegriffe des Staatsbürgers (Citoyen), des Vaterlandes (Patrie) und des (politischen) Interesses ein interessanter, hier an das Jahr 1773 gebundener Überschneidungsbereich der politischen Ideengeschichte deutlich, der auf Einflüsse von Montesquieu über Rousseau und Helvétius bis hin zu physiokratischen Autoren zurückverweist. 87 Ebenda, S. 187. 88 Ebenda, S. 168 (Hervorhebung R. Bach). 89 Ebenda, S. 166–168 (Hervorhebung im Original).

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9.2.2 Abschließende Bemerkungen zu d’Holbach

Das durchgehend ambivalente Bild einer sowohl dem Liberalismus der Physiokraten als auch dem Konservatismus Montesquieus zugewandten Weltanschauung ist letztlich in den begrifflichen Paradigmen aller Texte d’Holbachs nachweisbar, weshalb an dieser Stelle auf ausführlichere Exemplifizierungen verzichtet werden muss. Ebenfalls durchgehend lassen sich genaueste (teils wörtliche) Kenntnis und strikte Ablehnung der Positionen Rousseaus in nahezu allen Texten dokumentieren, wobei persiflierende Formen ihrer Wiedergabe diese Positionen nachhaltig entstellen. Wir begegnen hier bereits den klassischen Topoi eines Antirousseauismus, der die gesellschaftskritische Anthropologie Rousseaus als Weltflucht begreift und sie in Formeln der Art »Zurück in die Wälder  !« persifliert  : Ainsi, n’écoutons point une philosophie découragée qui nous invite à fuir la Société, à renoncer au commerce des humains, à rentrer dans les forêts (…) quand, dis-je, on mettroit en exécution cet étrange systême, à moins de dénaturer l’homme, d’anéantir ses facultés, de le priver de ses désirs, de son activité, de sa tendance naturelle à perfectionner son sort, de sa curiosité, de son inconstance  ; l’homme repasseroit successivement la carriere parcourue par ses ancêtres  ; et au bout de quelques siecles il se retrouveroit au même point où nous le voyons aujourd’hui.90

Einander widersprechende Äußerungen, die sich typischerweise aus d’Holbachs ambivalenter Position zwischen Konservatismus und physiokratischen Überzeugungen ergeben, zeigen sich etwa am Beispiel der ständischen Hierarchiegläubigkeit des Autors, die nämlich einen in der tieferen Begründung beider Denkrichtungen verborgenen Gegensatz ausblendet. Denn anders als in d’Holbachs aristokratischer Vorstellungswelt, ist die »Hierarchie« der Physiokraten ihrem Wesen nach bereits marktwirtschaftlicher Natur, weshalb sie bei Le Mercier sogar auf den einzig relevanten Gegensatz zwischen einer Unternehmerklasse und einer Klasse abhängig Beschäftigter  – im Sinne der Unterscheidung von Kapital und Arbeit – reduziert werden konnte  : 90 D’Holbach, Système social (…) (1773), Paris 1994, S.  211/212 (Hervorhebungen R. Bach)  ; vgl. auch, ebenda, S. 206/207  : »la Société est nécessaire au bien-être de l’homme  ; une vie solitaire et farouche le priveroit d’une infinité de plaisirs (…) la misanthropie, fruit d’un tempérament facheux, n’est rien moins qu’une disposition désirable  ; la raison veut que nous prenions les hommes tels qu’ils sont.« Und, ebenda, S. 222  : »Se plaindre ou s’irriter des malheurs attachés à la vie sociale, c’est se révolter contre la nécessité des choses.«

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Jettez un coup d’œil sur la société  ; voyez comme elle se divise sommairement en deux classes d’hommes  : les uns qui sont toujours premiers propriétaires des productions renaissantes  ; les autres qui ne participent à ces productions, qu’autant qu’ils les reçoivent en payement des travaux de leur industrie.91

Im Vergleich dazu hängen sowohl Montesquieu als auch d’Holbach der konservativen, potentiell anachronistischen Vorstellung einer ständischen Hierarchie an, die jenseits aller ökonomischen Aspekte neben dem Landbesitz auch die adlige Herkunft sowie Bildung und Privilegien als Statussymbole einer aristokratischen Oberschicht verteidigt. Nicht wenige Abschnitte seiner Schriften verwendet d’Holbach darauf, diese aristokratische Oberschicht nahezu wortgleich mit Äußerungen Montesquieus (»Ceux que leur naissance destine aux grandes places«92) – und nicht ohne eine gewisse Bewunderung – in ihrer Sinnfälligkeit für ein wohlgeordnetes und funktionierendes staatliches Gemeinwesen zu zeichnen. »L’on nomme grands ceux qui sont élevés au-dessus de leurs concitoyens par leur pouvoir, leurs places, leur naissance et leurs richesses.«93 Diese Art feudaler Hierarchie als einen Ratschluss des Schicksals hinzunehmen, der die einen begünstigt und die anderen benachteiligt, sei – so die feste Überzeugung d’Holbachs – kein Hindernis für die soziale Harmonie, denn die wahre Moral verwische keinesfalls die Standesunterschiede. Stattdessen fordere sie die getreue Erfüllung der an den jeweiligen Stand gebundenen Pflichten und fördere so die Einheit der Interessen aller sowie die gegenseitige Hilfe und Nächstenliebe  : La vraie morale ne confond pas tous les ordres d’un État  : elle prescrit aux citoyens de remplis fidèlement les devoirs attachés à leurs sphères. Elle enjoint à tous d’être équitables, de s’unir d’intérêts, de se prêter des secours mutuels, de s’aimer comme des proches, dont les uns sont favorisés et les autres disgraciés par l’aveugle fortune  ; elle leur défend de se haïr ou de se mépriser parce que la haine et le mépris anéantissent l’harmonie sociale.94

Weltfremd in einer dem physiokratischen Denken gänzlich abträglichen Weise ist diese aristokratische Sicht auf die Gesellschaft gleichwohl nicht. Denn am 91 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 258 (Hervorhebung R. Bach). 92 D’Holbach, La Morale universelle (1776). In  : P.-H. T. d’Holbach, Œuvres philosophiques 1773– 1790, Paris 2004, S. 547. 93 Ebenda, S. 545. 94 Ebenda, S. 702.

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anderen Ende der sozialen Hierarchie erfüllt auch die Armut ihre gesellschaftliche respektive ökonomische Funktion  : Für d’Holbach ist sie die Quelle der gesellschaftlichen Wertschöpfung, die Mutter tätigen Schaffens (»La pauvreté est, dit-on, la mère de l’industrie«95). Wo immer sich Gelegenheit bietet, insistiert er daher auf der Forderung, dass das Volk, dass der Arme stets in Arbeit gehalten werde müsse, um dem Wohl der Gesellschaft, damit auch dem eigenen Unterhalt und nicht zuletzt dem Erhalt der sittlichen Ordnung zu dienen  : Une sage administration doit donc faire en sorte que le pauvre soit occupé  ; elle doit, pour le bien de la société, l’encourager au travail nécessaire à la conservation de ses mœurs, à sa propre subsistance, à sa félicité.96

Die erwähnte Widersprüchlichkeit zwischen ständisch-aristokratischer und physiokratisch- marktwirtschaftlicher Sicht zeigt sich dennoch im Hinblick auf das Kernmotiv des intérêt, den Stimulus der wertschöpfenden Arbeit des Volkes respektive des Armen, um mit d’Holbachs Synonymen zu sprechen. Denn in der vom ständischen Hierarchiedenken befreiten Sicht der Physiokraten gilt der Stimulus des intérêt unterschiedslos für alle an der gesellschaftlichen Reproduktion Beteiligten, ob Grundeigentümer (propriétaire) oder Lohnempfänger (salarié). Vgl.: »le desir de jouir irrité par la concurrence, éclairé par l’expérience et l’exemple, vous est garant que chacun agira toujours pour son plus grand avantage possible …«97 Einer solchen ausschließlich dem ökonomischen Liberalismus verpflichteten Sichtweise steht die aristokratische Arroganz einer ständischen Hierarchiegläubigkeit gewissermaßen verständnislos gegenüber. Vielmehr habe sich der Arme (le pauvre), hier synonym zum Landmann (le laboureur), – gemäß seinem Stand – zu bescheiden, so d’Holbach  ; seine Wünsche seien ohnehin begrenzt  : Que le laboureur apprenne donc à se plaire dans son état.98 (…) les désirs du pauvre sont bornés (…). Que le pauvre se console donc et se conforme à son humble fortune  ; il a droit de prétendreaux secours et bienfaits de ses concitoyens plus fortunés dès qu’il travaille utilement pour eux.99 95 Ebenda, S. 609. 96 Ebenda. 97 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 47. 98 D’Holbach, La Morale universelle, S. 614. 99 Ebenda, S. 611.

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Es sind solche und ähnliche Widersprüchlichkeiten zwischen dem Kolportieren physiokratisch strukturierter Begriffe einerseits, die übrigens durch das materialistisch-hedonistische Menschenbild d’Holbachs gestützt werden, und dem Festhalten an erzkonservativen Vorstellungen wie dem aristokratischen Standesdünkel und gewissen anderen, damit einhergehenden Vorurteilen andererseits, die es mitunter schwer machen, d’Holbachs ideengeschichtliche Position eindeutig zu bestimmen. So stoßen wir auf widersprüchlichste Argumente im Hinblick auf das Verhältnis von Reichtum und Tugend oder auch Reichtum und staatsbürgerliches Recht. Die Liebe zum Reichtum, so heißt es hier und da, verderbe die Nationen, liefere sie der Unterdrückung aus. Freiheit sei indessen nur mit Bedürfnislosigkeit vereinbar  : »L’amour des richesses engourdit les Nations et les livre à la servitude. L’homme libre est celui qui a le moins de besoins  : les besoins asservissent les esprits et leur ôtent toute énergie«.100 Und in einer dem physiokratischen Liberalismus scheinbar ebenfalls diametral entgegengesetzten Argumentation findet sich gar ein vernichtendes Urteil über das Finanzwesen  : »cet art destructeur pour les Peuples, connu sous le nom de finance«.101 »En un mot, la finance anéantit la population, l’agriculture, le négoce, les objets les plus importants dans l’Etat.«102 Zu dieser Diktion passt schließlich auch die offenbar tatsächlich gegen eine physiokratische Kernaussage gerichtete Behauptung, Reichtum und landwirtschaftliche Produktion stünden in keinem Zusammenhang mit der Qualität einer Regierung  : »Les richesses et les productions du sol, en un mot, les avantages de la Nature et de l’industrie ne prouvent rien en faveur d’un Gouvernement.«103 Doch in anderen Texten und Textpassagen wird d’Holbach nicht müde, Reichtum und Besitzstand zur wichtigsten Grundlage politischer Stabilität zu erklären und, wie wir gesehen haben, nur dem Grundeigentümer und dem wohlhabenden Bürger politische Rechte als Citoyen (Staatsbürger) zuzugestehen, sie gar als vrais citoyens von einer nichtbesitzenden, daher politisch rechtlosen populace zu unterscheiden  : La faculté d’élire des Représentans ne peut appartenir qu’à de vrais citoyens, c’est-à-dire, à des hommes intéressés au bien du Public, liés à la Patrie par des possessions qui lui répondent de leur attachement. Ce droit n’est pas fait pour une populace désœuvrée, pour des vagabonds indigents, pour des ames vils et mercenaires.104 100 D’Holbach, La Politique naturelle, S. 307  ; vgl. auch S. 346, 357. 101 Ebenda, S. 361. 102 Ebenda, S. 363. 103 Ebenda, S. 77. 104 D’Holbach, Système social, S. 279 (Hervorhebung R. Bach).

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Und unter Bezugnahme auf ein anonymes physiokratisches Zitat präzisiert d’Holbach die – politisches Recht erst begründende – Bedeutung des Grundbesitzes, wenn er »Handwerkern«, »Händlern« oder »Soldempfängern« zwar eine gewisse Schutzfunktion des Staates zuspricht, ihnen jedoch eine politische Teilhabe am Staat, als »vrais membres«, so lange verwehrt, wie ihre Arbeit und ihr Fleiß nicht in eigenem Landbesitz mündete  : L’artisan, le marchand, le mercenaire doivent être protégés par l’Etat qu’ils servent utilement à leur maniere, mais ils n’en sont de vrais membres, que, lorsque par leur travail et leur industrie, ils y ont acquis des biens fonds. C’est le sol, c’est la glèbe qui fait le citoyen  ; un Politique moderne a dit avec raison que, la terre constitue la base physique et politique d’un Etat.105

Auch hier stoßen wir auf die Vorwegnahme eines Gedankens, wie ihn der Erbe des zu diesem Zeitpunkt bereits meisterhaft rousseauistisch verbrämten physiokratischen Liberalismus, der Abbé Sieyiès, in der Diskussion um die erste französische Verfassung vortragen sollte, nämlich die Unterscheidung zwischen so genannten Aktiv- und so genannten Passiv(staats)bürgern. Zu den Widersprüchlichkeiten d’Holbachs zählt auch, dass er einerseits ganz auf der Linie des physiokratischen Liberalismus universalistisch argumentiert, andererseits aber der Klimatheorie Montesquieus anhängt und ein universalistisches Politikverständnis ausschließt. So stoßen wir zwar durchgehend auf die Zurückführung allen menschlichen Verhaltens und jeglicher Moral auf die kausale Verkettung der Begriffe plaisir/douleur alias utile/nuisible alias bien und mal106 als eine universelle Verkettung elementarer Prinzipien (»un enchaînement de principes«), die sich aus der »menschlichen Natur« ergeben (»remontant à la nature humaine«107) und der zufolge kein Volk glücklich sein könne, solange es nicht nach den »Gesetzen der Natur« regiert werde. »Nul Peuple ne peut être heureux, s’il n’est gouverné suivant les Loix de la Nature«.108 Andererseits, und im Fall der hier gewählten Beispiele nur wenige Seiten weiter, steht dem wiederum eine klare Ablehnung jeglicher Universalität der zuvor noch eingeforderten

105 106 107 108

Ebenda, S. 279/280 (Hervorhebung im Original). Vgl. d’Holbach, La Politique naturelle, S. 11. Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 8.

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»science du Gouvernement«109 gegenüber, was mit einer an Montesquieus »Klimatheorie« erinnernden Argumentation begründet wird  : Un même Gouvernement ne peut pas convenir à tous les hommes. Distingués par des climats, par des mœurs, des opinions, des préjugés, des besoins divers, il est impossible qu’une même façon de gouverner puisse convenir à tous.110

Die Reihe solch verbaler Widersprüchlichkeiten ließe sich im Vergleich der d’Holbach zugeschriebenen Texte noch weitergehend illustrieren. Bis zu einem gewissen Grad reflektieren sie auch die zeitgenössische Gemengelage politischer Ideen vor dem Hintergrund eines Festhaltens an der eigenen privilegierten gesellschaftlichen Position. Doch im Sinne seines politisch motivierten Antiklerikalismus, seiner materialistischen Überzeugung und seiner auf Reformen zielenden Sozialkritik, insbesondere aber im Sinne der schöpferischen Übernahme grundlegender physiokratisch inspirierter Ideen und Formulierungen trägt d’Holbach ohne Zweifel nicht unwesentlich zu deren Verbreitung und argumentativer Disponibilität im ideengeschichtlichen Vorfeld der Französischen Revolution bei. 9.3 Helvétius  : De l’Homme (1773) Auf die besondere Bedeutung, die der materialistischen Moralphilosophie auch für die Entfaltung der physiokratischen Soziologie zukommt, wurde bereits verwiesen. Insbesondere hatte sich die von Helvétius in seiner Abhandlung De l’Esprit entwickelte These von der Zurückführung allen menschlichen Handelns und Wertens auf das jeweilige Interesse, also auch die These einer interessengesteuerten Moral, für das marktwirtschaftliche Gesellschaftsmodell des physiokratischen Liberalismus als fruchtbar erwiesen. Eine von der sensibilité physique und dem Steuerungsmechanismus plaisir/douleur ausgehende Naturwissenschaft vom Menschen fand auf diese Weise ihre Bestätigung in der Weiterentwicklung der bereits von Boisguillebert entworfenen Strukturierung der Gesellschaft nach sozialökonomischen Interessen. Die damit an die Stelle feudaler Stände tretenden, nach ökonomischen Interessen interagierenden Klassen begründen schließlich ihrerseits eine neuartige Vorstellung, einen neuartigen Begriff von der (nunmehr) bürgerlichen Nation. Le Mercier hatte diese neuartige, an ökonomischen Interessen 109 Ebenda, S. 7. 110 Ebenda, S. 76.

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orientierte Funktionsanalyse der Gesellschaft seinem epochemachenden Buch vorangestellt  ; der Abbé Sieyès sollte ihm dies in seinem ebenfalls epochalen Werk Qu’est-ce que le Tiers État  ? schließlich gleichtun und damit die Durchsetzungskraft der physiokratischen Soziologie, des marktwirtschaftlichen Liberalismus und der mit ihnen verbundenen Ethik des Utilitarismus unter Beweis stellen. So erklärt sich auch die besondere Wertschätzung, die Helvétius’ Abhandlung De l’Esprit anlässlich des Siegeszuges der Ideologie des Liberalismus zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts erfährt. In einer Neuauflage im Jahre 1822 betont der Herausgeber, dass inzwischen über zwanzig Editionen vorliegen, dass Übersetzungen in fast alle europäischen Sprachen realisiert wurden und dass das Buch, trotz ursprünglicher Verfolgung, heute in jedermanns Hand sei.111 In herausragender Weise ist Helvétius damit eingebunden in die Entstehung und den Verlauf der Ethikdebatte der Spätaufklärung, die sich an der Propagierung des Utilitarismus als scheinbar notwendiger politischer Ethik einer bürgerlichen Gesellschaft entzündet. Von der Bewusstheit der eigenen, ganz besonderen Rolle in dieser mit dem Aufkommen des physiokratischen Liberalismus in aller Schärfe einsetzenden Debatte zeugt nun auch das von ihm bereits 1769 verfasste, jedoch erst posthum im Jahre 1773 veröffentlichte Buch De l’Homme.112 Es verteidigt die 1758 in der inzwischen berühmt gewordenen Abhandlung De l’Esprit aufgestellten Grundsätze, bettet sie nun aber in die von physiokratischer Seite vorgetragenen gesellschaftspolitischen Positionen ein und versteht sich dabei ausdrücklich als Gegenentwurf zum Erziehungstraktat Emile, ou de l’éducation von Rousseau. Der selten genannte vollständige Titel seines Buches De l’Homme, de ses facultés, et de son éducation verweist auf diese Hinwendung zu dem ebenfalls durch Rousseau mit politischer Brisanz aktualisierten Themenkomplex der éducation. In jeder nur denkbaren Form greift Helvétius dabei Rousseau direkt und persönlich an, wirft ihm einen Hang zu Paradoxien ebenso vor wie auch seine vermeintliche »Apologie des Unwissens« und die angeblich gegen Wissenschaft und Fortschritt gerichtete, jedoch eloquente Verführung seiner Leser. Abgesehen von dieser verfälschenden Darstellung der Positionen Rousseaus illustriert Helvétius noch einmal ausführlich die philosophische Demarkationslinie 111 Helvétius, De l’Esprit (1758). Nouvelle Edition, Paris 1822, Tome I., S. V  : »Voici une nouvelle édition d’un livre qui a été censuré par la Sorbonne, et condamné par le Parlement. Plus de vingt éditions ont précédé celle-ci, qui ne sera sans doute pas la dernière  ; ajoutez, que ce livre a été traduit et réimprimé dans presque touts les langues de l’Europe. A qoui donc ont servi les persécutions dont l’auteur a été l’objet  ? (…) son ouvrage est entre toutes les mains.« 112 C.-A. Helvétius, De l’Homme, de ses facultés intellectuelles, et de son éducation, Bd. I und II (1773), Paris 1989. (Vgl. dazu die editorische Notiz auf S. 4 dieser Ausgabe).

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einer politischen Ethik, die sich nahtlos dem marktwirtschaftlichen Liberalismus der Physiokraten verbindet. Es sei an dieser Stelle nochmals hervorgehoben, dass die Bezeichnung Physiokratie ursprünglich auf nichts anderes verweist als auf die eben auch für Helvétius kennzeichnende Zurückführung allen menschlichen Handelns und moralischen Wertens auf die so genannte sensibilité physique und das damit verbundene Dogma einer immerwährenden Entscheidung zwischen plaisir und douleur. Folgerichtig erhebt auch Helvétius ebendieses Dogma zur absolut einzigen Antriebsquelle des Universums (»Plaisir et douleur sont les moteurs de l’Univers«113) und der Menschen (»Les Moteurs de l’homme sont le plaisir et la douleur physique«114). Die von zeitgenössischen Kritikern betriebene Einengung des Begriffs der Physiokratie auf eine Philosophie der Agrarwirtschaft und politischen Despotismus, die zu ihrer leider auch von der Historiographie übernommenen und seit zwei Jahrhunderten kolportierten extrem pejorativen Konnotierung führte, ist rein ideologischer Natur und im Grunde vergleichbar mit der Behauptung radikaler Kultur- und Fortschrittsfeindlichkeit der sogenannten Naturphilosophie Jean-Jacques Rousseaus. Letztere ist jedoch – wie gerade die Abhandlung De l’Homme exemplarisch belegt – bereits Teil der die Ethikdebatte prägenden philosophischen Offensive des Utilitarismus, die sich dezidiert gegen Rousseaus idealistische, dem marktwirtschaftlichen Denken ganz und gar abträgliche Ethik des Gewissens, der Solidarität und der politischen égalité richtet. »La sensibilité physique«, das physische Empfinden, die physische Sinnlichkeit, bildet für Helvétius, in nahtloser und wörtlicher Übereinstimmung mit Le Mercier de la Rivière, den einzigen Grund unseres Handelns, unseres Denkens, unserer Leidenschaften und unseres Sozialverhaltens  : »cause unique de nos actions, de nos pensées, de nos passions, et de notre sociabilité«.115 Sie ist daher für ihn auch die Grundlage allen moralischen Handelns, aller Tugenden und Laster  : »le principe de nos actions, de nos vices et de nos vertus«,116 wobei sich die Tugend ausschließlich dem Interesse (einer unmittelbaren Auswirkung der sensibilité physique  : »un effet de la sensibilité physique«117) verbindet (»leur amour pour la vertu est toujours proportionné à l’intérêt qu’ils ont de la pratiquer«118). Aus welchem Grunde also, so die zweifelsfrei utilitaristische Überzeugung des Autors, 113 114 115 116 117 118

Ebenda, Bd. I, S. 231. Ebenda, S. 191. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 185. Ebenda, S. 165. Ebenda, S. 23 (Hervorhebungen R. Bach).

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sollte man in der Selbstverleugnung eine höhere Tugend erkennen  ? »Par quelle raison enfin faire une vertu sublime de l’abnégation de soi-même  ?«119 Mit der physiokratischen Doktrin teilt Helvétius auch die unerschütterliche Überzeugung, den endgültigen Durchbruch zu einer den »geometrischen Wahrheiten« gleichkommenden Naturwissenschaft vom Menschen (la science de l’Homme), einer Naturwissenschaft der Moral und der Politik (la science de la Morale et de la Politique) sowie einer Naturwissenschaft der Erziehung (la science de l’éducation) gefunden zu haben, wobei die Naturwissenschaft vom Menschen als Teil der Naturwissenschaft des Regierens anzusehen sei (»La science de l’Homme fait partie de la science du gouvernement«120). Die einzige Bedingung, die Helvétius für diesen endgültigen Durchbruch, diesen alles entscheidenden Fortschritt der Wissenschaften, der Moral, der Politik und der Erziehung (»progrès des sciences, de la morale, de la politique et de l’éducation«121) formuliert – und hierin zeigt sich vor allem die Bewusstheit der mit der Ethikdebatte einhergehenden semantischen Überschneidungen unterschiedlicher Begriffe in gleichen oder ähnlich lautenden Formulierungen –, ist die auch von den Physiokraten ständig eingeforderte Deutungshoheit über die Schlüsselbegriffe des politisch-moralischen Diskurses  : Cause de la différence des opinions des hommes  : Que cette différence est l’effet de la signification incertaine et vague de certains mots  ; tels sont ceux De bon, D’intérêt, et de vertu. Que les mots précisément définis et leur définition consignée dans un Dictionnaire, toutes les propositions de Morale, Politique, et Métaphysique deviennent aussi susceptibles de démonstrations que les vérités géométriques. Que du moment où l’on attachera les mêmes idées aux mêmes mots, tous les esprits adopteront les mêmes principes, en tireront les mêmes conséquences.122

Was den damit angesprochenen unmittelbar politischen Aspekt angeht, so vertritt Helvétius in ebenso nahtloser Übernahme auch hier die Positionen und zahlreiche Formulierungen der Physiokraten. Das Eigentum, als heiligstes Recht der Zivilge119 120 121 122

Ebenda, S. 108. Ebenda, S. 46. Ebenda, S. 44. Ebenda, Bd. II, S. 932/933 (Anordnung des Textes so im Original).

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sellschaft (»loi la plus sacrée«123), begründet demnach, der Aufteilung der Interessen folgend (»division d’intérêts des Citoyens«124), eine Ordnung unterschiedlicher (meist zweier) Bürgerklassen (Ordres des Citoyens, Classes des Citoyens). Dabei handelt es sich um eine besitzende und eine nichtbesitzende Klasse, die Helvétius bald als Unternehmer und Arbeiter, der seine Arbeit verkauft (»Entrepreneur … / … Ouvrier qui vend son travail«125) – Letztere auch als Klasse von Staatsbürgern, die keine anderen Reichtümer als ihre Arme besitzt (»Classe de Citoyens n’ayant d’autre richesse que leurs bras«126)  –, bald als Propriétaires und Non-Propriétaires127 beschreibt. Vereint bilden diese Klassen die Körperschaft der Nation (»le Corps de la Nation«128), deren Glückseligkeit und Tugend, gemäß der physiokratischen Vorstellung einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft, wiederum auf der wechselseitigen, nämlich arbeits- und besitzteiligen Abhängigkeit der Klassen gründet  : »Pour établir solidement le bonheur et la vertu d’une Nation, il faut la fonder sur une dépendance réciproque entre tous les Ordres des Citoyens.«129 Demnach ist es der gemeinsame Wunsch, Reichtum zu erwerben (»l’amour des richesses«), der die Klassen vereint, die Nation belebt und ihre industrie weckt (»ce désir vivifie une Nation, éveille son industrie«130), wobei der Reichtum weitere Reichtümer anzieht (»l’Argent attire l’Argent«131) und die Aktivität der Nation weiter steigert.132 Mit akribischer Sorgfalt und Aufmerksamkeit, als sei es eine Pflichtübung zur Vermeidung von Missverständnissen, betont und wiederholt Helvétius dabei ein dem physiokratischen Liberalismus heiliges, der Sozialphilosophie Rousseaus aber diametral entgegengesetztes Prinzip, nämlich dasjenige der Privilegierung partikularer Interessen, aus deren Summierung und Konkurrenz – nach physiokratischer Lesart und marktwirtschaftlicher Überzeugung  – das »nationale Interesse« notwendigerweise133 erwächst. Unverkennbar 123 Ebenda, Bd. I, S. 101, Bd. II, S. 905. 124 Ebenda, Bd. II, S. 543. 125 Ebenda, Bd. II, S. 550. 126 Ebenda, S. 554. 127 Ebenda, S. 551. 128 Ebenda, S. 553. 129 Ebenda, S. 542. 130 Ebenda, S. 581. Vgl. auch S. 939  : »l’argent devient l’objet commun du désir des hommes, et le principe productif de leurs actions et de leurs vertu.« 131 Ebenda, S. 563. 132 Vgl. Ebenda, S. 939. 133 »[N]écessairement«  – ein sprachlicher Topos physiokratischer Ausdrucksweise, der die mathematisch-naturgesetzliche Geltung des jeweils Gesagten suggeriert  ; wesentlich geprägt durch die Sprache Le Merciers.

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reflektiert auch diese unzweideutige Positionierung die bekannte, von physiokratischer Seite stets erneuerte Demarkationslinie der Ethikdebatte. »[L]a félicité Nationale, nécessairement composée de toutes les félicités particulières. (…) le bonheur Public est le composé de tous les bonheurs Particuliers.«134 Und so schließt sich, ganz nach dem Vorbild des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier de la Rivière, ein philosophischer Kreis, der die physiokratische These einer marktwirtschaftlichen Harmonisierung von Partikular- und Nationalinteresse als Folge der sensibilité physique und ihrer Weichenstellung von plaisir und douleur erklärt und so mit der physiokratischen Naturwissenschaft der Moral und Gesetzgebung verbindet  : Douleur et plaisir sont les liens par lesquels on peut toujours unir l’intérêt personnel à l’intérêt national. L’une et l’autre prennent leur source dans la sensibilité physique. Les sciences de la Morale et de la Législation ne peuvent donc être que les déductions de ce principe simple.135

In einer umfangreichen Récapitulation der Inhalte und Absichten seiner Abhandlung über »den Menschen, seine intellektuellen Anlagen und seine Erziehung«136 stellt Helvétius noch einmal die Bedeutung der wahren Prinzipien der Erziehung (»les vrais principes de l’éducation«137) für die Realisierung der geschilderten politischen Ordnung heraus. Ohne diese Erziehung, das heißt ohne die von ihm selbst in einem Muster-Katechismus138 der Bürgermoral (»Chapitre VII. De l’éducation morale de l’homme«139) zusammengefassten Grundsätze und »klarsten Begriffe des Naturgesetzes«,140 kommt es demnach – wie die Fehlerhaftigkeit der meisten Regierungen (»Imperfection de la plupart des gouvernemens«141) belegen soll  – zu schlechten Regierungsformen, unter denen die Interessen der Staatsbürger geteilt und gegensätzlich sind, ohne dass das Gesetz sie zu gemeinsamer Beförderung des Gemeinwohls zwingt  : »Une mauvaise forme de gouvernement est celle où les intérêts des citoyens sont divisés et contraires, où la Loi ne les force point également de concourir au bien général.«142 134 135 136 137 138 139 140 141 142

Ebenda, S. 659, 941. Ebenda, S. 951. Ebenda, S. 929–970. Ebenda, S. 929. »[U]n tel catéchisme«, ebenda, S. 911. Ebenda, S. 903–916. »[N]otions les plus claires de la Loi naturelle«, ebenda, S. 903. Ebenda, S. 917. Ebenda, S. 917 (Hervorhebung R. Bach).

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Dem hier verwendeten Begriff des Gemeinwohls liegt, wie die Ausführungen des catéchisme noch einmal sehr klar belegen, die Priorität aller partikularen Interessen ebenso zugrunde wie das für heilig erklärte Eigentumsrecht  : D. Qui détermine l’homme à ses conventions  ? R. Son intérêt et sa prévoyance. (…) D. Que suit-il de la nécessité de la culture  ? R. La nécessité de la propriété. (…) D. Qui rend ce droit de propriété si sacré (…)  ? R. C’est que la conservation de la propriété est le Dieu moral des Empires (…).143

Helvétius folgt mit dieser Argumentation, ebenso wie mit der an christliche Katechismen erinnernden Form ihrer Vermittlung, gewissermaßen wortgetreu physiokratischen Vorbildern, deren inspirierende Rolle dabei unbezweifelbar zutage tritt. Das Gleiche gilt, wie hier am Beispiel der Begrifflichkeit des Gemeinwohls bereits angedeutet, für die Art, in der bestimmte Schlüsselbegriffe des Contrat social von Rousseau übernommen, ihres ursprünglichen Sinnes beraubt und als Teile des physiokratisch inspirierten politischen Diskurses kolportiert werden. So zögert Helvétius nicht, das Gesetz – in wörtlicher Übernahme der Definition Rousseaus – als »expression de la volonté générale« zu bezeichnen,144 den hierbei zugrunde gelegten politischen Gemeinwillen indes, der physiokratischen Lesart folgend, als »volontés particulières réunies«, das heißt als Versammlung der im Mittelpunkt aller physiokratisch-liberalen Auffassungen stehenden Partikularinteressen zu bestimmen. Der ursprüngliche und mit der politischen Ethik des Contrat social engstens verbundene Sinn des Schlüsselbegriffs der volonté générale wird dadurch in sein Gegenteil verkehrt. In ganz ähnlicher Weise irreführend ist es, einerseits die politische Souveränität in die »assemblée générale de la Nation« zu verlegen,145 die tatsächliche politische Macht aber andererseits einem so genannten »chef« in der Erbfolge ein und derselben Familie zuzuordnen146 und so weiter und so fort. Helvétius zählt damit zu denjenigen Autoren, die dem physiokratischen Liberalismus, insbesondere seiner Ethik des Nutzens und einer interessengesteuer143 Ebenda, S. 905. 144 Helvétius, Essai sur le droit & les lois politiques du gouvernement. In  : Helvétius, Réflexions sur l’homme & autres textes, Paris 2006, S. 116. 145 »[L]’assemblée générale de la nation, en qui réside essentiellement toute la Souveraineté«, ebenda, S. 116/117. 146 »[L]e dépositaire du pouvoir serait toujours choisi dans une même famille«, ebenda, S. 118.

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ten Moral, nicht nur Argumente von elementarer Bedeutung geliefert haben. Er schließt sich darüber hinaus auch – im vollen Bewusstsein der ethischen Kontroverse mit den politischen Positionen Rousseaus sowie im Bewusstsein ihrer sprachlichen Verschleierung – den Verfechtern der mittlerweile zur Science avancierten politischen Philosophie des Liberalismus an. 9.4 Condillac  : Le commerce et le gouvernement considérés relativement l’un à l’autre Was den durch seine Abhandlung zur Genesis des menschlichen Denkens und die Erkenntnisfunktion der Sprache147 berühmt gewordenen Abbé Condillac angeht (der übrigens völlig zu Unrecht als einer der »größten Gegner des Physiokraten« bezeichnet wurde148), so lassen sich hinsichtlich der Übernahme und Verbreitung physiokratischer Positionen Ähnlichkeiten zur Rolle Helvétius’ erkennen. Denn wie die Analyse des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier zeigte, hatte Condillacs sensualistische Argumentation hier ebenfalls Pate gestanden und, wie der späte Helvétius, so beteiligt sich nun auch der späte Condillac an der Vertiefung und Verbreitung der physiokratischen Science  : Seine im Jahre 1776 erscheinende Abhandlung Le commerce et le gouvernement considérés relativement l’un à l’autre149 kolportiert in diesem Sinne alle wichtigen Positionen der Physiokraten. Das Hauptaugenmerk der Schrift liegt dabei auf der Genesis des Tauschhandels als marktwirtschaftlicher Grundlage im physiokratischen Gesellschaftsmodell. Insbesondere verhandelt Condillac die Problematik der Wertschöpfung und in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Wert und Preis. Das frühe physiokratische Festhalten an der Ausschließlichkeit agrarischer Wertschöpfung, das er zunächst noch übernimmt,150 relativiert Condillac schließlich zugunsten der ebenfalls wertschöpfenden Leistung verarbeitender Gewerke  : »les arts augmentent la masse des richesses«,151 »l’industrie est aussi, en dernière analyse, une source de ­richesse«.152

147 Condillac, Essai sur l’origine des connoissances humaines. 148 Vgl. Nicolas Baudeau. Un »philosophe économiste« au temps des Lumières, hrsg. A. Clément, Paris 2008, S. 9. 149 Condillac, Le commerce et le gouvernement considérés relativement l’un à l’autre, Paris 1776. 150 Vgl. »La terre est l’unique source des richesses«, ebenda, S. 36. 151 Ebenda, S. 41. 152 Ebenda, S. 45/46.

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Den nach physiokratischem Muster angenommenen sowohl arbeits- wie auch besitzteiligen Klassen der Gesellschaft (»plusieurs classes de citoyens«153) wird auf diesem Wege eine Art Gleichheit oder Gleichberechtigung im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung zugebilligt  : »Toutes les classes concourent à augmenter la masse des richesses.«154 Damit aber wird auch die im Mittelpunkt physiokratischen Interesses stehende Konkurrenz aller Individuen und Klassen zu einem weiteren Argument zugunsten ihrer vermeintlichen sozialen Gleichheit  : »la concurrence fera la loi à tous également«.155 Dass diese Lesart durchaus intendiert ist, es sich mithin um eine sehr bewusste Auslegung beziehungsweise Umprägung des Gleichheitsgedankens im Sinne einer egalitären Verklärung physiokratischer Positionen handelt, wird deutlich, wenn auf dieser Grundlage alle Staatsbürger als Konsumenten und Produzenten egalisiert werden  : »tous les citoyens sont salariés les uns à l’égard des autres« und »chacun se fait payer de son travail«.156 Die Begriffe Reichtum und Besitz werden in ganz ähnlicher Weise für die Propagierung des physiokratischen Verständnisses von sozialer Gleichheit eingesetzt. So werden ›Grundbesitz‹ als richesses foncières und ›Arbeit‹ als richesses mobiliaires sprachlich und juristisch als lexikalische Varianten der propriété egalisiert und in diesem Sinn gleichermaßen für heilig erklärt (»toutes ces propriétés sont sacrées«157). Das Eigentumsrecht (le droit de propriété) erkennt danach, namens der Gerechtigkeit (sans injustice), keinen Unterschied zwischen dem ›Grundbesitz‹ (terres), dem ›Gewinn des Fabrikanten‹ (bénéfice) und dem ›Lohn des Arbeiters‹ (salaire) 158  : »On ne pourrait pas, sans injustice, priver le fabricant de son bénéfice, ni l’ouvrier de son salaire«.159 Auch die physiokratische Forderung nach einer absolut herrschenden souveränen Gewalt, deren Aufgabe und zu entlohnender Nutzen sich in der Aufrechterhaltung der beschriebenen Ordnung und im Schutz der Freiheit des Tauschhandels,160 das heißt auch im marktwirtschaftlich gebotenen Rückzug aus sozialen Belangen erschöpft, übernimmt und verteidigt Condillac  : Cette puissance se nomme Souverain. (…) sa protection se borne à maintenir l’ordre (…). Cette puissance a des travaux à faire. Elle en a comme puissance législative, comme 153 Ebenda, S. 44. 154 Ebenda. 155 Ebenda, S. 46. 156 Ebenda, S. 49. 157 Ebenda, S. 64. 158 Vgl. ebenda, S. 63/64. 159 Ebenda, S. 64 (Hervorhebungen R. Bach). 160 Ebenda, S. 56.

Nicolas Baudeau 

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puissance exécutive, comme puissance armée pour la défense de l’état (…). Il est dû un salaire aux travaux de la puissance souveraine.161

Wie wichtig Condillac gerade den Aspekt des laissez faire nimmt, das heißt des Rückzuges staatlicher Macht aus dem marktwirtschaftlichen Regulativ der Gesellschaft, zeigt sich in der häufigen Wiederholung dieser gewissermaßen urphysiokratischen These. Dabei wird vor allem der Begriff der Freiheit auf seine physiokratische Lesart eingeschränkt, also im Bewusstsein der Debatte um die politische Ethik einer republikanischen Ordnung gegen anderslautende Positionen gewendet. Gleichzeitig deckt sich Condillacs politisch zu verstehender Ordre-Begriff vollständig mit dem der Physiokraten  : La liberté peut seule donner à chaque chose son vrai prix, et faire fleurir le commerce. C’est alors que l’ordre s’établit naturellement (…) que chaque citoyen trouve sa subsistance dans son travail, et que l’abondance se répend. (…) Pour entretenir cette abondance, il faut une puissance qui protège les arts et le commerce, c’est-à-dire, qui maintient l’ordre et la liberté.162

9.5 Nicolas Baudeau Ein weiterer Autor, den es hinsichtlich der Verbreitung physiokratischer Gedanken an dieser Stelle noch einmal zu erwähnen gilt, ist der bereits als Begründer der physiokratischen Monatsschrift Ephémérides du citoyen und als Autor der Exposition de la Loi Naturelle vorgestellte Nicolas Baudeau. Eine gute Übersicht zu dessen Gesamtwerk sowie zum aktuellen Stand der internationalen Forschung bezüglich dieses fast in Vergessenheit geratenen Anhängers und Propagandisten der physiokratischen Schule geben die von André Clément herausgegebenen Beiträge eines im Jahre 2006 in Tours, Frankreich, veranstalteten Kolloquiums. Baudeau hier noch einmal zu erwähnen erscheint aus mehreren Gründen angezeigt. Neben der schieren Quantität seiner Publikationen, die ihn  – mit den Worten A. Cléments – zu einem der »grands vulgarisateurs avec Dupont de Nemours de l’œuvre des Economistes«163 werden ließen, verdient auch die Originalität seiner Argumentation Beachtung. Dies gilt ebenso für das im Falle Baudeaus greifbar 161 Ebenda, S. 56/57 (Hervorhebung R. Bach). 162 Ebenda, S. 224 (Hervorhebungen R. Bach). 163 Clément, Nicolas Baudeau, S. 9.

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werdende, stets präsente Bewusstsein, Teil einer öffentlichen Debatte um die Deutungshoheit zentraler politischer Begriffe zu sein und sich dabei der Popularität der von Rousseau vertretenen Positionen erwehren zu müssen. Hinsichtlich der Originalität Baudeaus, der im Übrigen zu den treuesten Verfechtern der Schule Quesnays und, wie Dupont de Nemours, zu den größten Bewunderern Le Merciers zählt, sei unter anderem auf seine im Jahre 1771 veröffentlichte Première introduction à la philosophie économique, ou Analyse des Etats policés164 verwiesen. Einen der wichtigsten Punkte bildet auch hier die Sorge um die instruction publique, die öffentliche Bildung, deren Ziel gerade in der Vermittlung einer richtigen Lesart der zeitgenössisch umstrittenen Schlüsselbegriffe republikanischen Denkens besteht. Denn um republikanisches Denken im Sinne eines marktwirtschaftlichen Liberalismus handelt es sich im physiokratischen Diskurs ohne jeden Zweifel auch dann, wenn aus rein pragmatischen Gründen von einer Monarchie als Staatsform die Rede ist. (Man vergleiche die europäischen Monarchien unserer Gegenwart  !) Wie seine wichtigsten physiokratischen Vorgänger erhebt denn auch Baudeau die öffentliche Bildung zur ersten und wichtigsten Verpflichtung des Staates  : »Ce premier devoir de l’autorité publique, ce soin de perpétuer, d’étendre, de perfectionner sans cesse l’instruction, n’en est pas moins le plus important de tous, quoiqu’il soit souvent très négligé.«165 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist indessen Baudeaus sozialökonomische Analyse, deren arbeitsteilige Ausrichtung erstmals – und damit lange vor den Arbeiten des Abbé Sieyès, dem dieses Verdienst zu Unrecht zugesprochen wurde  – einer politischen Klasse Raum gibt. Demnach unterscheidet Baudeau drei soziale Klassen unter Bezugnahme auf drei grundlegende Tätigkeitsbereiche, dem Duktus der Zeit entsprechend hier als Künste (arts) bezeichnet  : (…) il faut partager en trois classes tous les hommes qui composent le peuple le plus innombrable d’un état policé. Ces trois classes sont relatives aux trois sortes d’arts qui caractérisent les sociétés policées. Ainsi les hommes occupés aux travaux de l’art social forment la première classe. Les hommes occupés aux travaux de l’art productif forment la seconde. Les hommes occupés aux travaux de l’art stérile forment la troisième.166

164 N. Baudeau, Première introduction à la philosophie économique, ou Analyse des Etats policés, Paris 1771. 165 Ebenda, S. 45. 166 Ebenda, S. 38 (Hervorhebungen R. Bach).

Nicolas Baudeau 

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Die Ausübung der politischen Macht wird damit scheinbar enthierarchisiert. Sie wird, gewissermaßen gleichberechtigt, zu einer der drei Formen nützlicher gesellschaftlicher Tätigkeit erklärt, die sich lediglich durch Spezialisierung (daher »art«) und Arbeitsteilung voneinander unterscheiden. Ihre Aufgaben erschöpfen sich demnach in der öffentlichen Bildung (instruction), im Schutz der öffentlichen Ordnung (protection) und in der Verwaltung (administration).167 Erst die nähere Aufschlüsselung dieser Tätigkeitsbereiche hebt diese scheinbare Enthierarchisierung auf, da die Schutzfunktion (protection) in der vormundschaftlichen Gewalt des Staates (la puissance tutélaire) aufgeht.168 Diese wiederum, nach innerstaatlichen und äußeren Aufgaben differenziert, hat im Inneren, als justice distributive, auf den Ebenen justice civile ou criminelle, zuallererst das Eigentum der Bürger (les propriétés des hommes réunis en société) zu schützen. Was die Greifbarkeit des Bewusstseins angeht, Teil einer öffentlichen Auseinandersetzung um die Deutungshoheit zentraler Begriffe des republikanischen Diskurses, in unserer Perspektive also Teil der Ethikdebatte zu sein, so bestätigt Baudeau dies noch einmal expressis verbis in seinem letzten, als politisches Testament zu verstehenden Werk, Idées d’un citoyen sexagénaire,169anlässlich des Zusammentretens der Generalstände im Jahre 1787. Explizit werden dabei der Contrat social und sein Autor, Jean-Jacques Rousseau, genannt und für die auf ganz Frankreich bezogene Verbreitung falscher republikanischer Ideen verantwortlich gemacht. Für diese Ideen und dieses »System« hätten sich, so Baudeau weiter, auch bestimmte, hier in Abkürzungen namentlich angedeutete Persönlichkeiten begeistert  : Il existe en France depuis longtemps un projet anti-monarchique fondé sur les idées absolument fausses du républicain Genevois, Jean-Jacques Rousseau, développées dans l’ouvrage intitulé Contrat Social (…)  ; parmi ceux qui s’étaient enthousiasmés de ce système (…), on ne peut s’empêcher de ranger feu M. Tu*** (…). Les éloges de cet ex-ministre, publiés par M. de *** et le sieur Du***, ses confidents, détaillent avec complaisance tous ses principes …170

Der Umstand, dass Baudeau an dieser Stelle ganz offensichtlich Turgot, Condor­cet und Dupont171 zu Adepten der politischen Theorie des Contrat social von Rous167 168 169 170 171

Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 25. Nicolas Baudeau, Idées d’un citoyen sexagénaire sur l’état actuel du royaume de France, Paris 1787. Ebenda, partie III, S. 17. Zitiert nach Clément, Nicolas Baudeau, S. 185. Ebenda, S. 185.

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Weitere Formen der Verbreitung physiokratischen Denkens

seau erklärt, karikiert in gewisser Weise unfreiwillig die Auswirkungen der Tatsache, dass sich die physiokratisch inspirierten (zukünftigen) Akteure der Revolution inzwischen, das heißt im Jahre 1787, bereits nahtlos der Sprache und Terminologie des Contrat social bedienten. Denn gerade die seit den 1770er Jahren zunehmende begriffliche Usurpation zentraler Termini des Contrat social durch physiokratisch-liberale Autoren sollte sich mit Beginn der revolutionären Ereignisse im Jahre 1789 zum explosivsten Krisenpotential der gesamten Revolution entwickeln. Besonders bekannt, und daher erwähnenswert, wurde im Übrigen eine im Jahre 1777 veröffentlichte Correspondance entre M. Graslin, de l’Académie économique de S. Pétersbourg (…) Et M. l’Abbé Baudeau, Auteur des Ephémérides du Citoyen,172 in der Baudeau mit einer ebenfalls sehr originellen Argumentation den Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques seines Kollegen Le Mercier de la Rivière verteidigt. Er weist dabei insbesondere den Vorwurf zurück, dieser hätte den verarbeitenden Gewerken keine wertsteigernde Funktion gegenüber den agrarischen Gewerken zugestanden  : Comment le prétendu Critique a-t-il donc pu dire, que M. de la Rivière veut prouver, que l’industrie n’ajoute rien à la valeur des matieres premieres  ? N’est-il pas évident qu’il dit & répete plusieurs fois précisément le contraire  ?173

Einlassungen dieser Art, die bereits lange vor dem Ausbruch der Revolution einen der Hauptvorwürfe zurückweisen, die zu allen Zeiten gegen die physiokratische Doktrin erhoben wurden, sucht man in der modernen Historiographie zur physiokratischen Ideengeschichte bis heute vergebens. Und wie wir bereits wissen, gilt die gleiche Voreingenommenheit in aller Regel auch für die meist unreflektierte Wiedergabe der kurzzeitig von physiokratischer Seite diskutierten Idee eines sozialen Despotismus, mit der in Wahrheit die »religiöse Einhaltung der Gesetze«, nämlich der Gesetze des freien Marktes im Sinne eines ordre naturel, gemeint war.174

172 Correspondance entre M. Graslin, de l’Académie économique de S.  Pétersbourg (…) Et M. l’Abbé Baudeau, Auteur des Ephémérides du Citoyen. Sur un des Principes fondamentaux de la Doctrine des soi-disants Philosophes Économistes, London 1777. 173 Ebenda, S. 11 (Hervorhebung im Original). 174 Vgl. Abschnitt 7 des vorliegenden Buches.

10 Weitergehende Anpassungen an den Sprachcode der politischen Philosophie Rousseaus  : Le Merciers Traktat De l’Instruction Publique von 1774 Das Bewusstsein einer wesentlich durch die Schriften Rousseaus in Gang gesetzten und in vielen Schattierungen geführten öffentlichen Debatte um die politische Ethik einer künftigen bürgerlichen Ordnung ist eine in allen physiokratisch inspirierten Texten mit Händen zu greifende Konstante. In diesem Sinne verbindet sich die Propagierung physiokratischer Positionen spätestens seit 1767, also seit dem Erscheinen der physiokratischen Monatsschrift Ephémérides du citoyen und Le Merciers Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, indirekt mit der weiteren Verbreitung der relevanten Positionen Rousseaus, als deren Alternative sich der physiokratische Liberalismus samt seiner utilitaristischen Ethik begreift. Ob als Autor namentlich genannt oder nur indirekt unter Bezugnahme auf unverkennbare, häufig in persiflierender Weise wiedergegebene Äußerungen aus seinen wichtigsten Texten widerlegt, Rousseau ist mit der von ihm vertretenen politischen Ethik als ständiger Reibungspunkt in allen physiokratisch inspirierten Texten präsent. Dabei gibt es Anzeichen einer wachsenden Popularität seiner politischen Positionen, auf die der physiokratische Diskurs in der seit Quesnay häufig praktizierten Flexibilität reagiert. Diese Anzeichen kann man den Formen der Weiterentwicklung des physiokratisch-liberalen Diskurses entnehmen, die darin besteht, den Sprachcode des Contrat social nunmehr nahezu vollständig zu assimilieren, das heißt mit physiokratischen Inhalten zu verfälschen. Und wiederum ist es Le Mercier de la Rivière, der mit seiner 1774 für den schwedischen König verfassten, schließlich im Jahre 1776 in Stockholm veröffentlichten Abhandlung De l’Instruction Publique ou Considérations morales et politiques sur la Nécessité, la Nature et la Source de cette Instruction, die bis dato weitestgehende sprachliche Fusion physiokratischer Inhalte mit der politischen Terminologie Rousseaus vollzieht. Letzterer wird immerhin direkt mit der Bezeichnung »l’Auteur d’Emile«1 erwähnt und, da die instruction publique als thematischer Aufhänger dient, für seine Einlassungen zur instruction domestique gelobt. Das eigentliche Augenmerk der Schrift liegt jedoch auf der Widerlegung der politischen Ethik Rousseaus, ein Ansinnen, welches ganz wesentlich 1 Le Mercier, De l’Instruction Publique, S. 111.

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im Wege der Aneignung zentraler, von Rousseau verwendeter und ursprünglich in seinem Sinne inhaltlich besetzter Begriffe realisiert werden soll. Den »grands mots vuides de sens«,2 also den »großen leeren Worten« sollen die »richtigen«, »wirklichen«, »echten« und »eigentlichen« Begriffe, »les vraies notions«, »la justesse des notions«3 entgegengesetzt werden. Den Menschen in diesem Sinne die »grundlegenden Wahrheiten«, »les premieres vérités«4, zu vermitteln, sie zu überzeugen, dass nur »eine auf dem Eigentumsrecht gründende öffentliche Ordnung« ihnen die größtmögliche Gleichheit bescheren könne, dies sei, so Le Mercier, die wichtigste Aufgabe der instruction publique  : Pour intéresser l’amour-propre à l’observation & au maintien d’un ordre public établi sur le droit de propriété, la premiere chose que doit faire l’instruction publique, c’est de convaincre les hommes que cet ordre les rend tous égaux entre eux, autant qu’il leur est possible de l’être.5

Was die angedeutete Übernahme von Schlüsselbegriffen des Contrat social in den physiokratischen Diskurs, damit auch ihre inhaltliche Neubesetzung angeht, so bilden die lexikalischen Qualifikative véritable und vrai, also echt, wirklich, wahrhaftig, richtig, in Kombination mit ebendiesen Begriffen eine besonders häufig anzutreffende Form, die diese »Usurpation« anzeigt. In verschiedenen Zusammenhängen ist etwa von einer ›wirklichen politischen Körperschaft‹ (»un véritable Corps politique«) die Rede, ebenso von ›echter sozialer Gleichheit‹ (»la véritable égalité sociale«), von ›wirklichen Interessen‹, denen ›falsche Meinungen‹ entgegenstehen,6 von ›echtem Glück‹7 und den ›wahren Vorstellungen von Tugend‹ (»les vraies idées de la vertu«8), von einem ›Gesellschaftsvertrag‹ als ›wirklichem Vertrag‹ (»le contrat social est un véritable contrat«9) und immer wieder von den ›richtigen Begriffen‹ (»les vraies notions«). Die solcherart vollzogene inhaltliche »Korrektur« der relevanten Begriffe des Rousseau’schen Contrat social ermöglicht nun deren nahezu uneingeschränkte Verwendung für die trotz allem in ihren Aussagen völlig unveränderte politische Philosophie der Physiokraten. So gelingt 2 3 4 5 6 7 8 9

Ebenda, S. 63. Ebenda, S. 69, 72. Ebenda, S. 54. Ebenda, S. 59 (Hervorhebungen R. Bach). Ebenda, S. 18, 20. Ebenda, S. 40, 41. Ebenda, S. 83. Ebenda, S. 114.

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es Le Mercier beispielsweise, in nahezu exakter sprachlicher Übereinstimmung mit Rousseau, das Gemeininteresse als einzige Grundlage einer vom Gemeinwillen ihrer Mitglieder regierten wirklichen politischen Körperschaft zu propagieren  : »un intérêt commun reconnu étant le seul et unique lien d’un véritable Corps politique (…) gouverné par la volonté commune de ses membres«.10 Im Gegensatz zu seiner im Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques vertretenen Despotismus-These übernimmt Le Mercier hier scheinbar die mit der physiokratischen Lehre völlig inkompatible These der Rousseau’schen Volkssouveränität, wenn er schreibt  : »cette volonté commune devient nécessairement la Puissance par laquelle ils se trouvent tous gouvernés«.11 Dass es sich jedoch nur um eine verbale Anpassung handelt, die inhaltlich völlig bedeutungslos bleibt, zeigt das gleichzeitige Beharren auf einer Erbmonarchie als Regierungsform  : »Quoique je donne ici la qualité de Souverain à un véritable Corps politique, il n’en est pas moins nécessaire que la forme de son Gouvernement soit monarchique, & et que la Monarchie soit héréditaire.«12 Dennoch folgt der verbal vorgetäuschten Übernahme der Rousseau’schen Souveränitätsthese, ganz im Sinne der begrifflichen Logik des Contrat social, auch die verbale Assimilation des Staatsbürger-Begriffs, im Sinne eines Mitgliedes des Souveräns  : Lorsque par sa constitution même, un Corps politique est compté pour tout, que son intérêt commun est tout, que sa volonté commune est la loi suprême, chaque membre de ce Corps se regarde, & avec raison, comme membre du Souverain  : il ne manque point d’avoir une grande idée de lui-même comme Citoyen.13

Doch Le Mercier lässt auch hier keinen Zweifel aufkommen, dass nicht der freie politische Gemeinwille, die volonté générale – wie sie der Contrat social Rousseaus vorsieht – über das Gemeininteresse und das Gemeinwohl entscheidet, sondern die »loix invariables de la nature«,14 die »unveränderlichen Gesetze der Natur« und des »ordre physique«, der »physikalischen Ordnung«. Gemeint ist – wie weiter oben bereits gezeigt – die als naturgesetzlich angesehene Priorität des droit de propriété, des ›Rechts auf Eigentum‹ – als erstes »Menschenrecht« in der physio10 Ebenda, S. 33/34 (Hervorhebungen R. Bach). 11 Ebenda, S. 34 (Hervorhebungen R. Bach). 12 Ebenda, S. 99 (Hervorhebungen R. Bach). 13 Ebenda, S. 98/99 (Hervorhebungen R. Bach). 14 Ebenda, S. 87.

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kratischen Lesart des Naturrechts – sowie die darauf gründende marktwirtschaftliche »Ordnung« der freien Konkurrenz, die Le Mercier in aller Ausführlichkeit erläutert.15 So ruht denn, im physiokratischen Weltbild, das Gemeininteresse eines Corps politique letztlich wieder direkt auf dem Eigentumsrecht, das seinerseits die Priorität der Partikularinteressen zum Ausdruck bringt  : »(…) le droit de propriété constitue l’intérêt commun d’un Corps politique, en constituant chaque intérêt particulier.«16 Auf diese Weise aber wird ein zentraler Punkt der Ethikdebatte, an dem sich die Geister scheiden, nämlich die Frage der Priorität von Gemeininteresse oder Partikularinteresse, durch das begriffliche Unterlaufen der Bezeichnung »intérêt commun« in jene sprachliche Ambivalenz verschoben, die wenig später für den gesamten politischen Diskurs der Revolution kennzeichnend werden sollte. Denn Behauptungen, wie sie Le Mercier in der folgenden Sequenz erhebt, wonach sich alle Politik nach dem »heiligen Gesetz des Gemeininteresses« zu richten habe, sind danach nicht mehr als Ausdruck einer in Wirklichkeit auf Individualismus und Utilitarismus setzenden Weltanschauung erkennbar  : »Tout doit se rapporter à l’intérêt commun  ; tout doit se régler par la loi sacrée de l’intérêt commun.«17 Dass sie dennoch nichts anderes meinen als ebendiese physiokratische Botschaft des Individualismus und Utilitarismus, zeigt unter anderem die sich nur wenig später im gleichen Kontext anschließende Feststellung, wonach es in der Politik darauf ankomme, die Menschen, den »Wegen der Natur« folgend, gemäß ihrem »intérêt personnel«, ihrem persönlichen Interesse, zu führen  : »Gouverner les hommes comme des hommes, c’est suivre les voies de la nature, c’est les conduire par l’attrait de leur intérêt personnel.«18 Die Präsenz der Positionen Rousseaus ist auch in dieser Aussage unterschwellig, nämlich als zu widerlegender Gegenpart, erkennbar  : »Menschen wie Menschen regieren  …« und dabei »den Wegen der Natur« folgen nimmt unverkennbar Bezug auf die am meisten bekämpfte und immer wieder persiflierte Entfremdungstheorie Rousseaus, auf der seine politische Ethik gründet. Denn die Realisierung der Vision einer politischen Solidargemeinschaft, wie sie der Contrat social umreißt, hatte Rousseau bekanntlich an eine Veränderung der menschlichen Natur geknüpft (»changer la nature humaine …«), was in Wahrheit nichts anderes gemeint hatte als die Wiedergewinnung der ursprünglichen, nicht nach 15 Ebenda, S. 47/48, 53. 16 Ebenda, S. 54. 17 Ebenda, S. 71. 18 Ebenda, S. 80.

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être (dem menschlichen Wesen) und paraître (der sozialen Rolle) gespaltenen Menschennatur. Doch den damit verbundenen Altruismus, jene Ethik der Solidarität, der Hingabe und Opferbereitschaft, hatte Le Mercier bereits in seiner Programmschrift aus dem Jahre 1767 als das Kernproblem der auszutragenden ideologischen Auseinandersetzung um die Grundlagen einer bürgerlichen Ordnung erkannt und in jeder Form persifliert. Der bereits erwähnten, in verschiedenen Formen wiederholten Verfälschung des Staatsbürger-Begriffs schließt sich auch die Usurpation des für den Sprachcode des Contrat social charakteristischen Begriffspaares Freiheit und Gleichheit an. Wie Le Mercier ausführt, genießen die Staatsbürger, »les Citoyens«, die größte Freiheit und die perfekteste Gleichheit, »die sie nur wünschen können«, indem ihre Freiheit und Gleichheit nicht von Personen, sondern von Sachzwängen abhängen. Diese Sachzwänge aber seien wiederum Ausdruck der »unveränderlichen Naturgesetze«  : (…) aussi, est-ce dans le sentiment intime de leur liberté & de leur égalité, que les hommes puisent une grande idée d’eux-mêmes comme Citoyens  ; aussi pour les rendre vertueux, la premiere condition essentielle est-elle de les rendre libres & égaux  ; de les faire jouir de la plus grande liberté, de la plus parfaite égalité qu’ils puissent raisonnablement desirer. On jouit pleinement de cette liberté & de cette égalité, quand on ne dépend que des choses, & non des personnes. Dépendre des choses, c’est être dans l’obligation de se conformer aux loix invariables de la nature.19

Der politische Freiheits-Begriff Rousseaus, mit anderen Worten die Autonomie der volonté générale, war bekanntlich untrennbar mit dem Begriff der politischen und dabei insofern auch der sozialen Gleichheit verbunden, als eine soziale Ungleichheit nicht die Ausübung des freien politischen Willens beeinträchtigen sollte. Ebendiesen Zusammenhang der Begriffe Freiheit und Gleichheit kopiert Le Mercier hier ebenfalls verbal, das heißt auf der Ebene von Schlagworten, ohne dabei die essentielle physiokratische Behauptung des begrifflichen Ineinandergreifens, ja der begrifflichen Identität von Freiheit und Eigentum in Frage zu stellen. Um noch einmal zu verdeutlichen, dass diese sprachliche Usurpation auch vor der Übernahme von Schlüsselsequenzen der politischen Logik Rousseaus nicht haltmacht, diese vielmehr ebenfalls bewusst in den physiokratischen Diskurs in19 Ebenda, S. 86/87 (Hervorhebungen im Original).

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tegriert, soll das bereits angedeutete Beispiel des »véritable Corps politique«, der ›wirklichen politischen Körperschaft‹ noch einmal vertiefend illustriert werden. Denn bekanntlich ergab sich die zentrale Bedeutung dieses Begriffs im Rahmen der politischen Philosophie Rousseaus aus seiner Verknüpfung mit dem Begriff der ›politischen Souveränität‹. Was bedeutet es, so fragt Le Mercier in didaktischer Intention, einen ›wirklichen politischen Körper‹ zu bilden (»former un véritable Corps politique«20)  ? Und weiter  : »Erklären wir, wie diese Bezeichnung zu verstehen ist« (»Expliquons ce qu’on doit entendre par cette dénomination«)  : Un véritable Corps politique est un corps composé d’une multitude d’hommes, mais tellement unis entr’eux, que n’ayant qu’une seule et même volonté, qu’une seule et même direction, ils ne forment plus qu’une seule et même force, ils semblent ainsi ne constituer qu’un seul et même individu.21

Die Geschlossenheit eines véritable corps politique führt Le Mercier demnach, in scheinbarer Analogie zu Rousseau, auf die Einheitlichkeit des (politischen) Willens (»une seule et même volonté«) zurück. Doch die inhaltliche Umkehr dieses begrifflichen Zusammenhangs zugunsten einer Dominanz der Partikularinteressen, wie es die Ideologie der Physiokraten, das heißt ihr marktwirtschaftlicher Liberalismus, vorschreibt, schließt sich unmittelbar an. Die Methode dieser begrifflichen Umkehr besteht zum einen darin, auf partikularer Bezugsebene das sinnlich determinierte, also von der bekannten Option plaisir/douleur geleitete Interesse (Helvétius folgend  !) zur eigentlichen Grundlage des Willens zu erheben, nachdem dieses Interesse durch die Meinungsbildung (opinion) als ›das wahre Interesse‹ erkannt wurde. Zum anderen wird die unité de volonté des Corps politique, also die »Einheit des politischen Willens«, auf die Summe ebendieser Partikularinteressen zurückgeführt. Aus der Summe der intérêts personnels, der ›Partikularinteressen‹, wird also auch hier, in scheinbarer Übereinstimmung mit dem Contrat social Rousseaus, ein intérêt commun, ein ›Gemeininteresse‹  : Si nous recherchons maintenant ce qui peut produire & maintenir une telle unité de volonté, de direction & de force, pour le trouver, c’est à la nature de l’homme qu’il faut remonter. Une fois convaincus que, comme être sensible & intelligent, il est toujours déterminé, toujours mis en action, par l’opinion qu’il se forme de ses intérêts personnels, 20 Ebenda, S. 31. 21 Ebenda (Hervorhebungen R. Bach).

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nous reconnaîtrons bientôt que cette unité ne peut avoir d’autre principe, qu’un intérêt commun parfaitement entendu & parfaitement connu  ; qu’ainsi, l’unité de volonté, de direction et de force, suppose nécessairement l’unité d’opinion sur ce qui concerne & constitue cet intérêt.22

Diese im Grunde bereits in Le Merciers Programmschrift aus dem Jahre 1767 entwickelte Methode spielt die Begrifflichkeiten des Gemeinwillens, Gemeininteresses, Gemeinwohls beziehungsweise der Partikularinteressen, des partikularen Willens derart verbal gegeneinander aus, dass sie der politischen Ethik des Contrat social von Rousseau am Ende diametral widersprechen. So entstehen durch die Integration zentraler sprachlicher Codes des Contrat social von Rousseau, einschließlich der formalen Übernahme ganzer Sequenzen seiner begrifflichen Logik, also der Interdependenz einander wechselseitig definierender Schlüsselbegriffe, in den politischen Diskurs des physiokratischen Liberalismus ebenjene verwirrenden und in sich widersprüchlichen Aussagen, die das sprachliche Dilemma nahezu aller Texte und Wortmeldungen der Französischen Revolution begründen sollten.

22 Ebenda, S. 31/32 (Hervorhebungen R. Bach).

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11 Von der spirituellen Verankerung der politischen Ethik Rousseaus zum kategorischen Imperativ bei Immanuel Kant Bedenkt man die Position der Physiokraten und des zeitgenössischen Materialismus zur Moralphilosophie, so wird leicht erkennbar, weshalb Rousseau die Definition von Schlüsselbegriffen der politischen Ethik nicht auf dem Boden materialistischen Denkens vornehmen konnte. Denn wie wir sahen, führten seit Hobbes alle materialistischen Philosophen die Motivationen menschlichen Verhaltens und moralischer Entscheidungen auf sinnliche Erfahrung zurück, wobei der Gegensatz von plaisir und peine stets als Orientierungsgrundlage angenommen wurde. In seinem Buch De l’Esprit1 hatte Helvétius, den Rousseau persönlich sehr schätzte, diese Position im Sinne der hier bereits erläuterten Forderung Lockes zur sensualistischen Moralphilosophie ausgebaut. Die wissenschaftliche Behandlung moralischer Fragen sollte demnach in Analogie zur Experimentalphysik erfolgen  : »J’ai cru qu’on devrait traiter la Morale comme toutes les autres Sciences, et faire une Morale comme une Physique experimentale.«2 In genau diesem Sinn führte er alle menschlichen Handlungen, insbesondere auch alle moralischen Entscheidungen, auf den berechenbaren intérêt – gemeint ist das Partikularinteresse jedes Menschen  – zurück (»l’intérêt préside à tous nos jugemens«3) und definierte dabei den Begriff des intérêt, getreu dem oben genannten sensualistischen Grundsatz, als permanente Suche nach dem Wohlergehen (plaisir) und nach der Vermeidung von Schmerz (peine).4 Helvétius war, wie wir bereits ausgeführt haben, überzeugt, mit dieser sensualistischen Zurückführung moralischer Entscheidungen auf das Partikularinteresse die von Locke geforderte naturwissenschaftlich exakte Moralphilosophie begründet zu haben  : »Si l’Univers physique est soumis aux loix du mouvement, l’Univers moral ne l’est pas moins à celles de l’intérêt.«5 Und der Physiokrat Le Mercier de la Rivière hatte diese moralphilosophische Position mit einer Theorie des wirtschaftlichen Liberalismus verbunden, in deren 1 Helvétius, De l’Esprit, Paris 1988. 2 Ebenda, S. 9. 3 Ebenda, S. 53. 4 »[L]a signification de ce mot intérêt. (…) je l’applique généralement à tout ce qui peut nous procurer des plaisirs, ou nous soustraire à des peines.« Ebenda, S. 53, Fußnote (Hervorhebung R. Bach). 5 Ebenda, S. 59 (Hervorhebung R. Bach).

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Mittelpunkt ebenfalls das Partikularinteresse steht, hier präzisiert als Maximierung individueller Vorteile. In seiner Argumentation, die den Menschen als ein mit Ausschließlichkeit vom eigenen Vorteil getriebenes Wesen begreift, war die kritische Bezugnahme auf die völlig anders geartete politische Ethik Rousseaus nicht zu übersehen  : Ne cherchons point dans les hommes des êtres qui ne soient point des hommes  ; la nature (…) a voulu qu’ils ne connussent que deux mobiles, l’appétit des plaisirs et l’aversion de la douleur  : il est est donc dans ses vues qu’ils ne soient pas privés de la liberté de jouir. (…) Desir de jouir et liberté de jouir, voilà l’ame du mouvement social.6 (…) le désir de jouir irrité par la concurrence, éclairé par l’expérience et l’exemple, vous est garant que chacun agira toujours pour son plus grand avantage possible.7

Zwangsläufig musste von dieser moralphilosophischen Basis eines reinen Utilitarismus ausgehend auch der Freiheitsbegriff Rousseaus angegriffen werden. Denn für den Liberalismus der Physiokraten ist Freiheit gleichbedeutend mit dem Eigentumsrecht  : »Telle est l’idée qu’on doit se former de la liberté sociale, de cette liberté qui est tellement inséparable du droit de propriété qu’elle se confond avec lui.«8 Daher auch die spöttische, auf Rousseaus idealistische Position und den ersten Satz des Contrat social zielende Bemerkung  : Un homme conserve jusque dans les fers la liberté métaphysique de désirer, de vouloir  ; mais il n’a pas alors la liberté physique de l’exécution. Je donne à cette seconde liberté le nom de physique, parce qu’elle ne se réalise que dans des actes physiques qu’elle a pour objet.9

Wir haben hier in gestraffter Form lediglich einige der Positionen wiederholt, die mit Zwangsläufigkeit in den Utilitarismus einer Tauschgesellschaft (commercial society) mündeten, um den Sinn der Distanzierung Rousseaus von diesen Positionen verständlicher zu machen. Denn seine Auffassung von der Würde des Menschen und einer demokratischen Ordnung setzte auf die Freiheit des Willens, auf politische Gleichheit und soziale Verantwortung und erwies sich daher als inkompatibel mit einem sensualistisch-materialistischen Menschenbild, das 6 7 8 9

Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 45 (Hervorhebung im Originaltext). Ebenda, S. 47 (Hervorhebung R. Bach). Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 44 (Hervorhebungen im Originaltext).

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sich in der Egomanie konkurrierender Partikularinteressen erschöpft. Bereits im Discours sur l’inégalité hatte Rousseau daher diese philosophische Grenze gezogen und dabei die Unabhängigkeit des menschlichen Willens gegenüber der Annahme eines den Sinnen geschuldeten Determinismus menschlichen Handelns hervorgehoben  : Tout animal a des idées puisqu’il a des sens, il combine même ses idées jusqu’à un certain point, et l’homme ne différe à cet égard de la Bête que du plus au moins. (…) Ce n’est donc pas tant l’entendement qui fait parmi les animaux la distinction spécifique de l’homme que sa qualité d’agent libre. La Nature commande à tout animal, et la Bête obéit. L’homme éprouve la même impression, mais il se reconnoît libre d’acquiescer ou de resister  ; et c’est surtout dans la conscience de cette liberté que se montre la spiritualité de son ame  : car la Physique explique en quelque manière le mécanisme des sens et la formation des idées  ; mais dans la puissance de vouloir ou plûtôt de choisir, et dans le sentiment de cette puissance on ne trouve que des actes purement spirituels, dont on n’explique rien par les Loix de la Mécanique.10

Wir wollen nun versuchen, dieses Bekenntnis zur spiritualité der menschlichen Seele in seiner Bedeutung für Rousseaus politisches Denken zu untersuchen. Bemerkenswert erscheint zunächst, dass Rousseau in seinen späten Schriften, insbesondere in den Rêveries du promeneur solitaire, seine ethischen Überzeugungen mit einem starken religiösen Bekenntnis verbindet. Dies gewinnt dadurch an Bedeutung, dass es ihm in diesem Zusammenhang stets um die Rechtfertigung dieser Überzeugungen, insbesondere auch seiner politischen Philosophie, geht und weil er hier, deutlicher denn je, den Graben zwischen seiner Position und derjenigen seiner Gegner bezeichnet. Tatsächlich hat Rousseau in den posthum erschienenen Rêveries du promeneur solitaire ein philosophisches Testament hinterlassen, dessen Bedeutung als Schlüssel zu einem tieferen Verständnis seines Lebenswerkes noch kaum erkannt wurde. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet hier die erst kürzlich erschienene Monographie von Heinrich Meier, Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries, die diesem Text gar eine zentrale Bedeutung im Œuvre Rousseaus zuschreibt und ihn damit wohltuend aus der marginalisierenden Perspektive einer späten und lediglich ergänzenden autobiographischen Reflexion heraushebt. Anders als die Confessions, die angesichts seiner politischen Verfolgung in legitimatorischer Absicht insbe10 Rousseau, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité, S.  141–142 (Hervorhebungen R. Bach).

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sondere die Genesis seiner Überzeugungen und seines weltanschaulichen Standortes schildern, erreichen die Rêveries eine Ebene der Kontemplation, die in der Beurteilung des eigenen Lebenswerkes auf engstem Raum das Wesentliche vom Unwesentlichen trennt. Und mit diesem Ansatz rückt das Thema der Ethik in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Denn es sind letztlich Rousseaus ethische Überzeugungen, die ihn sowohl aus der Sicht des herrschenden Klerus als auch aus der Sicht des materialistisch-utilitaristisch dominierten Mainstreams der Aufklärung zu einem durchaus gefürchteten Gegner werden ließen. Und diese ethischen Überzeugungen verbinden sich einer tiefen Religiosität, deren sozialkritische Dimension jegliche Vereinbarkeit mit den Institutionen des Glaubens von vornherein ausschließt. Denn gerade den religiösen Institutionen lastet Rousseau die Verletzung einer gottgewollten Ordnung an.11 Jener Ordnung, die angesprochen war im ersten Satz des Emile  : »Tout est bien, sortant des mains de l’auteur des choses …«12 – und deren erlebtes Gegenteil als zerstörerische Scheinordnung, »ordre apparent, destructif en effet de tout ordre«,13 in den Confessions zum lebenslangen Reibungspunkt der Sozialkritik Rousseaus erklärt wird  : La justice et l’inutilité de mes plaintes me laissérent dans l’ame un germe d’indignation contre nos sotes institutions civiles où le vrai bien public et la véritable justice sont toujours sacrifiés à je ne sais quel ordre apparent, destructif en effet de tout ordre, et qui ne fait qu’ajouter la sanction de l’autorité public à l’oppression du foible et à l’iniquité du fort.14

In den Rêveries verleiht Rousseau nun diesem alternativen Ordre-Begriff eine Schlüsselfunktion, die den spirituellen Hintergrund seiner Ethik hervorhebt. So erfährt auch sein persönliches Schicksal eine religiöse Verklärung  : Dieu est juste  ; il veut que je souffre  ; et il sait que je suis innocent. Voilà le motif de ma confiance, mon cœur et ma raison me crient qu’elle ne me trompera pas. Laissons donc faire les hommes et la destinée  ; apprenons à souffrir sans murmure  ; tout doit à la fin rentrer dans l’ordre, et mon tour viendra tôt ou tard.15

11 Vgl. R. Bach, Rousseaus Verhältnis zu den Institutionen. 12 Rousseau, Œuvres complètes, Bd. IV, S. 245. 13 J.-J. Rousseau, Les Confessions. In  : Rousseau, Œuvres complètes, Bd. I, S.  327 (Hervorhebung R. Bach). 14 Ebenda (Hervorhebung R. Bach). 15 J.-J. Rousseau, Les Rêveries du promeneur solitaire. In  : Rousseau, Œuvres complètes, Bd. I, S. 1010 (Hervorhebungen R. Bach).

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»Gott ist gerecht  ; (…) alles muss schließlich zur Ordnung zurückkehren und meine Zeit wird kommen, früher oder später.« Das Glaubensbekenntnis Rousseaus verbindet sich hier der unerschütterlichen Überzeugung von der zukunftsweisenden Richtigkeit seiner Philosophie der Geschichte, das heißt auch seiner Anthropologie, seiner Sozialkritik, seiner politischen Ethik und schließlich seiner eigenen Mission. Denn nicht nur die hier beschworene Rückkehr zur Ordnung, die im Sinne des Discours sur l’inégalité den Irrweg des zweifelhaften Fortschritts beenden soll, folgt damit einer göttlichen Vorsehung. Auch sein persönliches Schicksal wird zum Leidensweg in göttlicher Mission. Ein Gedanke, den Rousseau wiederholt sehr eindringlich formuliert  : »Cette délibération et la conclusion que j’en tirai ne semblent-elles pas avoir été dictées par le ciel pour me préparer à la destinée qui m’attendait et me mettre en état de la soutenir  ?«16 Bedeutungsvoll erscheint in diesem Zusammenhang auch, auf welches seiner Werke Rousseau verweist, wenn er die Rückkehr zur Ordnung thematisiert. Denn es ist gerade derjenige Text, der auf spiritueller Ebene eine zukunftsweisende Ethik menschlichen Zusammenlebens formuliert hatte, die Profession de foi du Vicaire savoyard  : Le résultat de mes pénibles recherches fut tel à peu près que je l’ai consigné depuis dans la Profession de foi du Vicaire savoyard, ouvrage indignement prostitué et profané dans la génération présente, mais qui peut faire un jour révolution parmi les hommes si jamais il y renait du bon sens et de la bonne foi.17

Vorausgesetzt also, die Menschen fänden zum gesunden Menschenverstand und zur Aufrichtigkeit zurück, was im Sinne der Geschichtsphilosophie des Discours sur l’inégalité die Überwindung der ins Extreme gesteigerten sozialen und politischen Ungleichheit zur Voraussetzung hätte, dann – so ist Rousseau überzeugt – wäre es dieser »von der gegenwärtigen Generation geschändete Text«, der eine Revolution, eine Wende, einen Neuanfang im Sinne der verheißenen Rückkehr zur Ordnung bewirken könnte. Denn mit diesem Text, glaubt Rousseau, habe er sich mit Herz und Verstand einer spirituell verbürgten Weisheit angenähert, die über den Horizont menschlichen Begreifens hinausgeht,18 die indessen auf »ewigen Wahrheiten« gründet, »graviert ins menschliche Herz mit unauslöschlichen 16 Ebenda, S. 1019 (Hervorhebung R. Bach). 17 Ebenda, S. 1018 (Hervorhebung R. Bach). 18 Ebenda  : »des matières si supérieures à l’entendement humain (…) des principes fondamentaux adoptés par ma raison, confirmés par mon cœur«.

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Lettern« und »anerkannt von allen Nationen und zu allen Zeiten«.19 Ebendiese spirituell verbürgten Weisheiten durch seine Forschungen entdeckt, mithin »das System« des wahren ordre moral dieser Welt entschlüsselt und in einem »soliden theoretischen Korpus« niedergelegt zu haben, dies ist der Anspruch, den Rousseau für sein Lebenswerk in der Bilanzperspektive der Rêveries erhebt  : Dans des matières si supérieures à l’entendement humain, une objection que je ne puis résoudre renversera-t-elle tout un corps de doctrine si solide, si bien liée et formée avec tant de méditation et de soin, si bien appropriée à ma raison, à mon cœur, à tout mon être, et renforcée de l’assentiment intérieur que je sens manquer à toutes les autres  ? Non, de vaines argumentations ne détruiront jamais la convenance que j’aperçois entre ma nature immortelle et la constitution de ce monde et l’ordre physique que j’y vois régner. J’y trouve dans l’ordre moral correspondant et dont le système est le résultat de mes recherches les appuis dont j’ai besoin pour supporter les misères de ma vie.20

Kein Geringerer als Immanuel Kant sollte genau diesen Anspruch bestätigen und Rousseau auf dem Gebiet der Moral als Wissenschaft eine mit Newton selbst vergleichbare Bedeutung attestieren  : Newton sah zuallererst Ordnung und Regelmäßigkeit mit großer Einfachheit verbunden, wo vor ihm Unordnung und schlimm gepaarte Mannigfaltigkeit anzutreffen waren, und seitdem laufen Kometen in geometrischen Bahnen. Rousseau entdeckte zuallererst unter der Mannigfaltigkeit der menschlichen angenommenen Gestalten die tief verborgene Natur des Menschen und das versteckte Gesetz, nach welchem die Vorsehung durch seine Beobachtungen gerechtfertigt wird. Nach Newton und Rousseau ist Gott gerechtfertigt und nunmehr ist Pope’s Lehrsatz wahr.21

Doch der im System Rousseaus behaupteten moralischen Ordnung, zu der die Welt nach göttlicher Vorsehung zurückkehren muss, steht vorerst ein System »entwurzelter und fruchtloser Moral« gegenüber, das sehr bewusst als »entgegengesetzte« Doktrin definiert wird.22 Es ist jene Ordnung der Doppelmoral, des Gegensatzes

19 Ebenda, S. 1021  : »les vérités éternelles admises de tous les temps, par tous les sages, reconnues par toutes les nations et gravées dans le cœur humain en caractères ineffaçables«. 20 Ebenda, S. 1018/1019 (Hervorhebungen R. Bach). 21 I. Kant, Fragmente aus dem Nachlasse. In  : I. Kant, Sämtliche Werke, Stuttgart 2000, Bd. 6, S. 478. 22 Rousseau, Les Rêveries, S. 1022 (»le système contraire au mien«, »la doctrine de mes persécuteurs«).

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von Sein und Scheinen, die Rousseau stets als Ausdruck des sozialen und politischen Unrechts gegeißelt hatte  : Cette morale sans racine et sans fruit qu’ils étalent pompeusement dans les livres ou dans quelque action d’éclat sur le théatre, sans qu’il en pénètre jamais rien dans le cœur ni dans la raison  ; ou bien cette autre morale secrète et cruelle, doctrine intérieure de tous leurs initiés, à laquelle l’autre ne sert que de masque.23

Ihre Vertreter sind die »modernen Philosophen«,24 deren »trostlose Lehre«25 das materielle und partikulare Interesse der Menschen hervorkehrt, deren ethische Überzeugung Rousseau jedoch – angesichts der Konfrontation (»le système contraire au mien«) – im Atheismus festmacht.26 Einmal mehr tritt auch hier die spirituelle Verankerung der von ihm selbst vertretenen Ethik hervor. Um jedoch deren sozialphilosophischen Gehalt genauer zu bestimmen, ist es notwendig, zunächst dem von ihm selbst gegebenen Verweis auf die Profession de foi du Vicaire savoyard zu folgen, da er hier, so steht es in der dritten promenade, das »Resultat seiner mühevollen Recherchen« über die moralische Ordnung der Welt niedergelegt habe.27 Denn die Ethik Rousseaus, dies darf trotz ihrer spirituellen Verankerung nicht übersehen werden, zielt auf eine Reform des weltlichen Miteinanders, auf eine Gesellschaft der Menschenwürde, auf eine Regeneration des seiner Natur entfremdeten Menschen – insofern auch im Sinne Kants auf Erziehung28 – und auf eine politische Ordnung der Freiheit und der sozialen Verantwortung. Erst im Einklang damit bildet die religiös ausgerichtete Profession de foi das theoretische Kernstück einer über das Konzept der éducation négative hinausweisenden pädagogischen Philosophie des Emile. Das Gleiche gilt für die Verhandlung des Gedankens einer Zivilreligion im Contrat social, die – wie wir sehen werden – religiöse Überlegungen letztlich in den Kontext einer weltlichen Ethik stellt. Beide Ebenen religiöser Reflexion, das intim ausgerichtete Glaubensbekenntnis des Vicaire im Emile sowie die Gedanken zur Zivilreligion im Contrat social, werden auf diese Weise zu festen Bestandteilen der politischen Ethik Rousseaus. 23 Ebenda. 24 Ebenda, S. 1015 (»des philosophes modernes«). 25 Ebenda, S. 1016 (»leur désolante doctrine«). 26 Ebenda (»ardens missionnaires d’Athéisme et très impérieux dogmatiques«). 27 Ebenda, S. 1018  : »Le résultat de mes pénibles recherches fut tel à peu près que je l’ai consigné depuis dans la Profession de foi du Vicaire savoyard«. 28 I. Kant, Réflexions sur l’éducation, Paris 2004, S. 98  : »L’homme ne peut devenir homme que par l’éducation. Il n’est que ce que l’éducation fait de lui.«

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So verbinden sich bereits die Überlegungen des Vicaire zu einer »Religion naturelle« von Anfang an der sozialkritischen Anthropologie Rousseaus, die in erster Linie die Institutionen des sozialen Unrechts angreift. Der Kirche selbst, als einer dieser Institutionen, wirft er den Missbrauch ihrer Allmacht vor29 und die Absurdität ihrer Entscheidungen.30 Gott offenbare sich im Spektakel der Natur, spreche zu uns über die Wahrnehmung unserer Augen, als innere Stimme zu unserem Gewissen. Was könnten Menschen dem hinzufügen  ? Ihre Offenbarungen könnten Gott nur erniedrigen, indem sie ihm menschliche Leidenschaften andichteten  : Voyez le spectacle de la nature, écoutez la voix intérieure. Dieu n’a-t-il pas tout dit à nos yeux, à nôtre conscience, à nôtre jugement  ? Qu’est-ce que les hommes nous diront de plus  ? Leurs révélations ne font que dégrader Dieu en lui donnant les passions humaines.31

Indirekt wird mit diesen Formulierungen auch die Kritik am politischen Missbrauch der Sprache als der »ersten sozialen Institution« erneuert. Darüber hinaus finden sich in der Profession de foi alle wesentlichen seit dem Discours sur les sciences et les arts entwickelten Themen und Thesen der Sozialkritik Rousseaus. Die Ursachen des menschlichen Elends werden auch hier als Folge des Missbrauchs der menschlichen Intelligenz im Gefolge der sozialen Ungleichheit beschrieben, die ihrerseits in einen verhängnisvollen Fortschritt mündet  : C’est l’abus de nos facultés qui nous rend malheureux et méchans. (…) Le mal moral est incontestablement nôtre ouvrage, et le mal physique ne seroit rien sans nos vices qui nous l’ont rendu sensible. (…) Homme, ne cherche plus l’auteur du mal, cet auteur c’est toi-même. (…) Ôtez nos funestes progrés, ôtez nos erreurs et nos vices, ôtez l’ouvrage de l’homme, et tout est bien.32

Dagegen, und dies ist die Botschaft der Religion naturelle, stehe die Stimme des Gewissens als »göttlicher Instinkt«, als »in die menschliche Seele gepflanztes Prinzip der Gerechtigkeit und der Tugend«  :

29 J.-J. Rousseau, Emile, ou de l’éducation. In  : Rousseau, Œuvres complètes, Bd. IV, S. 568 (»une Eglise qui décide tout, qui ne permet aucun doute«). 30 Ebenda (»l’impossibilité d’admettre tant de décisions absurdes«). 31 Ebenda, S. 607. 32 Ebenda, S. 587/588.

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Il est au fond des ames un principe inné de justice et de vertu, sur lequel, malgré nos propres maximes, nous jugeons nos actions et celles d’autrui comme bonnes ou mauvaises, et c’est à ce principe que je donne le nom de conscience.33 (…) le premier sentiment de la justice est inné dans le cœur humain.34

Der sozialkritische Gehalt der hier mit spirituellem Hintergrund verkündeten Werte des Gewissens und der Gerechtigkeit wird noch dadurch hervorgehoben, dass die ihnen entgegenstehende, von der Konkurrenz partikularer Interessen beherrschte gesellschaftliche Wirklichkeit, samt ihrer Doppelmoral, in eindringlicher Form als Alternative beschrieben wird  : Sortez de là, je ne vois plus qu’injustice, hypocrisie et mensonge parmi les hommes  ; l’intérest particulier qui, dans la concurrence, l’emporte necessairement sur toutes choses, apprend à chacun d’eux à parer le vice du masque de la vertu.35

Schließlich findet sich in der Profession de foi auch jener moralische Ordre-Begriff, den Rousseau in den Rêveries seinem »System« zugrunde legt und der bereits hier, im Vortrag des Vicaire savoyard, das eigentlich sozialkritische Anliegen der religiös vermittelten Ethik erkennen lässt  : L’Etre souverainement bon, parce qu’il est souverainement puissant, doit être aussi souverainement juste  ; autrement il se contrediroit lui-même  ; car l’amour de l’ordre qui le produit s’appelle bonté, et l’amour de l’ordre qui le conserve s’appelle justice.36

Im Zuge seiner berühmt gewordenen Verteidigung des Emile im Schreiben an den Erzbischof von Paris hatte Rousseau genau diesen Begriff eines amour de l’ordre in den Kontext seiner gegen die materialistische Glückseligkeitsthese gerichteten Ethik gestellt und damit, wie wir sehen werden, einen Kerngedanken des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant vorweggenommen  : »L’appetit des sens tend à celui du corps, et l’amour de l’ordre à celui de l’ame. Ce dernier amour porte le nom de conscience.«37 33 Ebenda, S. 598 (Hervorhebung R. Bach). 34 Ebenda, S. 584. 35 Ebenda, S. 636. 36 Ebenda, S. 589. 37 J.-J. Rousseau, Lettre à Christophe de Beaumont, archévêque de Paris. In  : Rousseau, Œuvres complètes, Bd. IV, S. 936.

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Moralisches Verhalten und Tugend folgen danach ausschließlich den Geboten einer Ethik des Gewissens, die sich auf seelischer Ebene definiert und sich abgrenzt von einer den sinnlichen Bedürfnissen und partikularen Interessen der Menschen unterworfenen Ethik der Glückseligkeit und des Utilitarismus. Und in genau die gleiche Richtung weisen auch Rousseaus Überlegungen zum Thema Zivilreligion (Religion Civile) im Contrat social. Er diskutiert hier zunächst prinzipielle Fragen zur Verträglichkeit von Religion, Zivilgesellschaft und Staat und unterscheidet dabei hypothetisch zwischen einer Religion de l’homme und einer staatsbürgerlichen Religion (celle du citoyen). Erstere gleicht in Form und Werten der Religion naturelle des Vicaire savoyard, indem sie auf Tempel, Altäre und Rituale verzichtet, sich auf einen »culte purement intérieur du Dieu Suprême« beschränkt und dabei lediglich den »ewigen Pflichten« einer Moral des Gewissens Folge leistet.38 Der daran anknüpfende Vorschlag einer Symbiose von Religion und Staatsbürgerschaft in einer »profession de foi purement civile« erweitert die Hypothese eines »culte purement intérieur« lediglich um das Gebot staatsbürgerlicher Solidarität in der Gemeinschaft des Contrat social. Die Zivilreligion verzichtet dabei auf religiöse Dogmen und erschöpft sich stattdessen in einem Kodex sozialer Verhaltensnormen, ohne die man weder ein guter Staatsbürger noch ein treuer Untertan sein kann39  : Il y a donc une profession de foi purement civile dont il appartient au Souverain de fixer les articles, non pas précisément comme dogmes de Religion, mais comme sentimens de sociabilité, sans lesquels il est impossible d’être bon Citoyen ni sujet fidelle.40

Zu den wenigen Vorschriften, die dieser Kodex dennoch dogmatisch positiv einfordert, zählt die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze (la sainteté du Contrat social et des Loix).41 Einziges Dogma im restriktiven Sinn ist das strikte Verbot von Intoleranz, wobei »zivile und theologische Intoleranz« als untrennbare Einheit betrachtet werden.42 38 Rousseau, Du Contrat social, S. 464. 39 In der politischen Philosophie des Contrat social verschmelzen die Begriffe »Staatsbürger« und »Untertan« ganz im Sinne des Rousseau’schen Freiheitsbegriffs und der daraus folgenden Idee der politischen Suveränität  : »(…) ces mots de sujet et de souverain sont des corrélations identiques dont l’idée se réunit sous le seul mot de Citoyen.« Ebenda, S. 427 (Hervorhebungen im Original). 40 Ebenda, S. 468. 41 Ebenda. 42 Ebenda, S. 469  : »Ceux qui distinguent l’intolérance civile et l’intolérance théologique se trompent, à mon avis.«

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So erschließt sich die religiöse, auf die Spiritualität der menschlichen Seele und die Freiheit des menschlichen Willens setzende Seite im politischen Denken Rousseaus letztlich als Versuch der Begründung einer sozialen Ethik, die sich in erster Linie als Gegensatz zum utilitaristischen Moralkodex des Liberalismus begreift, einem Moralkodex, wie er am Beispiel der Texte von Helvétius und Le Mercier de la Rivière gezeigt wurde. Die seither zwischen den Fraktionen eines demokratischen und eines liberalen Republikanismus geführte Ethikdebatte der Spätaufklärung wird überlagert von der Tatsache, dass sich beide Fraktionen einer in weiten Teilen übereinstimmenden republikanischen Sprache bedienen.43 Zu denjenigen Zeitgenossen, die diese Ethikdebatte sowie ihre Tragweite und sogar die Problematik ihrer sprachlichen Verklärung erkennen, zählt Immanuel Kant. Und es ist ebendiese Erkenntnis der Existenz zweier miteinander inkompatibler moralischer Verhaltenskodizes oder Ethikkonzepte, die ihn veranlasst, einen kategorischen Imperativ als Ausdruck der auch von Rousseau vertretenen Ethik der bürgerlichen Pflicht und des sozialen Gewissens zu formulieren und diese Sittenlehre dem Utilitarismus der liberalen Glückseligkeitsthese gegenüberzustellen  : Doch ist das Prinzip der eigenen Glückseligkeit am meisten verwerflich, nicht bloß deswegen weil es falsch ist, und die Erfahrung dem Vorgeben, als ob das Wohlbefinden sich jederzeit nach dem Wohlverhalten richte, widerspricht, auch nicht bloß, weil es gar nichts zur Gründung der Sittlichkeit beiträgt, indem es ganz was anderes ist, einen glücklichen, als einen guten Menschen, und diesen klug und auf seinen Vorteil abgewitzt, als ihn tugendhaft zu machen  : sondern weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten, indem sie die Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Klasse stellen und nur den Kalkül besser ziehen lehren, den spezifischen Unterschied beider aber ganz und gar auslöschen.44

Auch wenn Immanuel Kant in der französischen Spätaufklärung praktisch keine Resonanz findet, was sich für Frankreich insgesamt wohl erst nach dem Erscheinen von Madame de Staëls De l’Allemagne mehr oder weniger nachhaltig ändern sollte, so erscheint seine vielschichtige Auseinandersetzung mit Fragen der Ethik doch vor allem, im Sinne Quentin Skinners,45 als ein Eingreifen in einschlägige 43 Vgl. Bach, Rousseau et le discours de la Révolution. 44 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Stuttgart 1984, S. 98. 45 Q. Skinner, Visionen des Politischen. Frankfurt am Main 2009, S. 16.

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zeitgenössische Diskurse und Debatten. Hierzu gehört vor allem die eben illustrierte und in seinen Schriften ständig wiederkehrende Kritik am sensualistisch begründeten Topos der Glückseligkeitslehre, der er seine Sitten- und Tugendlehre gegenüberstellt,46 oder auch die Verteidigung Rousseaus, den er gegen alle gängigen Missdeutungen in Schutz nimmt.47 Hinzu kommt, dass Kants Nachdenken zum Thema Ethik nach eigenem Bekunden auf ebenjenen Überzeugungen Jean-Jacques Rousseaus gründet, die  – wie wir gesehen haben  – in der zeitgenössischen Debatte als Gegenpol zu jedweder auf einen intérêt (nach Helvétius) rekurrierenden Moraldoktrin fungieren. Und diese Überzeugungen bestärken Kant in seiner Ablehnung der in der französischen Spätaufklärung um sich greifenden materialistisch begründeten Zweckmoral wie auch in seiner Skepsis gegenüber jenem unkritischen Wissenschaftsfetischismus, der genau diesen auf Helvétius zurückgehenden moralischen Determinismus als letzte Einsicht einer Naturwissenschaft vom Menschen begleitet. In einer Reihe von Fragmenten zur Ethik, die immer wieder Bezug auf Rousseau nehmen, legt Kant ein Bekenntnis ab, wonach gerade Rousseau ihn dazu bekehrt habe, moralische Haltungen jenseits gelehrter Überheblichkeit zu suchen  : Ich selbst bin aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen, oder auch die Zufriedenheit bei jedem Fortschritte. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses alles könnte die Ehre der Menscheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendete Vorzug verschwindet  ; ich lerne die Menschen ehren und würde mich viel unnützer finden als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, dass diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben könne, die Rechte der Menschheit herzustellen.48

Noch deutlicher wird Kant, wie wir bereits sahen, in seiner Würdigung der Anthropologie Rousseaus, wenn er diese mit Newtons Vollendung der klassischen Physik am Ende der naturwissenschaftlichen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts gleichsetzt. Dabei verweist dieser ehrende Vergleich ebenso auf die in den Augen Kants als gleichrangig geltende Entdeckung der Gesetzmäßigkeiten von 46 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 97 ff. Ausgabe Sämtliche Werke in sechs Bänden, Leipzig 1921, Bd. V, S. 74 ff., 318 ff., 509. 47 Kant, Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. I, S. 279. Vgl. hierzu auch E. Cassirer, Rousseau, Kant, Goethe. Deux essais, Paris 1991, S. 41. 48 Kant, Fragmente aus dem Nachlasse, S. 473.

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Physik und Ethik wie andererseits auf deren grundlegende Verschiedenheit. Kant wird diese Verschiedenheit immer wieder hervorheben und sie schließlich, nicht von ungefähr, seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten voranstellen  : »(…) diese Gesetze sind entweder Gesetze der NATUR, oder der FREIHEIT. Die Wissenschaft von der ersten heißt PHYSIK, die der anderen ist ETHIK  ; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre genannt.«49 So ist bereits an dieser Stelle ersichtlich, dass es Kant in seiner Grundlegung um eine Absage an die – mittlerweile äußerst »lautstarke« – Phalanx zeitgenössischer Moraldoktrinen zu tun ist, die auf einen physisch bedingten ethischen Determinismus rekurrieren  ; einen Determinismus, der  – unter dem Eindruck der (seit Hobbes ewig wiederholten) Motive plaisir/douleur – den jeweiligen Nutzen und die jeweilige Zweckmäßigkeit zur Richtschnur tugendhaften Handelns erhebt. In seinem Essay zur Rezeption Rousseaus durch Immanuel Kant erläutert Ernst Cassirer die tiefe Bedeutung dieser Einsicht Kants. Erst Rousseau habe es ihm ermöglicht, sich der »ethischen Natur des Menschen« vollkommen bewusst zu werden, sie von dessen »physischer Natur« klar zu unterscheiden. So sei Kant auch zu der Überzeugung gelangt, dass sich die »Philosophen des Empirismus (…) als nicht auf der Höhe der Aufgabenstellung« erwiesen hätten.50 Kant sei insofern der erste zeitgenössische Philosoph, so Cassirer wörtlich, der die fundamentale Bedeutung der Anthropologie Rousseaus sowie seiner in die Zukunft weisenden politischen Ethik erkannt habe.51 Vor diesem Hintergrund erhält Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als zeitgenössische Replik auf die in allen Schriften des physiokratischen Liberalismus propagierte materialistische Moraldoktrin mit ihrer stetigen Rückkoppelung zur sensibilité physique, also zur physisch-sinnlichen Natur des Menschen, damit auch zur angeblich determinierenden Alternative plaisir/douleur, eine von Grund auf neue ideengeschichtliche Bedeutung und Dimension. Denn wie vor ihm bereits Jeremy Bentham mit seiner Stellungnahme zugunsten eines principe de l’utilité und gegen ein so genanntes principe de l’ascétisme52 auf die zeitgenössischen Diskurse zum Thema Ethik reagierte, so gilt dies auch – wenngleich mit 49 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 19 (Hervorhebungen im Original). 50 Cassirer, Rousseau, Kant, Goethe, S. 51 (Hervorhebung R. Bach). 51 Ebenda, S. 40  : »Il considérait la théorie de Rousseau comme une théorie portant non sur ce qui existe mais sur ce qui devrait être, non comme le récit de ce qui a eu lieu mais comme l’expression de ce qui devrait avoir lieu, non comme une élégie rétrospective mais comme une prophétie tournée vers l’avenir. Pour Kant le caractère en apparence rétrospectif de la théorie du contrat social doit armer les hommes pour l’avenir.« 52 J. Bentham, Principes de Législation, Paris 1802, S. 9/10.

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einer ethisch entgegengesetzten Intention und einem sehr viel weiter greifenden philosophischen Anspruch – für Kants Begründung einer nichtmaterialistischen Sittenlehre. Sie ist insofern auch ein Versuch, der verbreiteten Lehre der Glückseligkeit als Ausdruck jener materialistischen Egomoral zu widersprechen sowie darüber hinausgreifend der in sprachlicher Unschärfe ausgetragenen Ethikdebatte die begriffliche Schärfe einer nur dem Gewissen verpflichteten Sittenlehre entgegenzustellen. Betrachten wir die einschlägigen Argumente Kants im Einzelnen und beginnen wir mit seiner grundlegenden Zurückweisung des in physiokratisch-materialistischen Texten allgegenwärtigen Prinzips der réciprocité, also einer Form des Tauschhandels, die tugendhaftes Handeln zu einer Funktion des Nutzens macht. Kants Argumentation ist eindeutig  : Moralisches Handeln hat keinen Preis (im Weiteren spricht Kant vom Marktpreis), weil es als solches keinen Tauschwert besitzt. Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden  ; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.53

Um diese Stellungnahme noch klarer in ihrer ethischen Aussage gegen jedwede »liberale«, also marktorientierte Auffassung von Tugend und moralischem Handeln abzugrenzen, wird Kant noch deutlicher, indem er die Unvereinbarkeit von Sittlichkeit und Würde auf der einen, dem Marktpreis einer Handlung oder Haltung auf der anderen Seite noch einmal unmissverständlich erläutert  : Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat. Geschicklichkeit und Fleiß im Arbeiten haben einen Marktpreis  ; (…) dagegen Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grundsätzen (nicht aus Instinkt) haben einen inneren Wert. (…) denn ihr Wert besteht nicht in den Wirkungen, die daraus entspringen, im Vorteil und Nutzen, den sie schaffen, sondern in den Gesinnungen, d. i. in den Maximen des Willens, die sich auf diese Art in Handlungen zu offenbaren bereit sind.54

Auf der gleichen Ebene der Argumentation wendet sich Kant ausdrücklich auch gegen die Anerkennung des so genannten moral sense von Hutcheson und die da53 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 87. 54 Ebenda, S. 88.

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mit in Verbindung stehende, von ihm so betitelte Glückseligkeitslehre als ethische Prinzipien, da sie beide in der »Sinnenwelt« motiviert seien und in jedem Fall auf ein Interesse und einen Nutzen hinausliefen. Zum besseren Verständnis dieses Zusammenhangs hier noch einmal, in verkürzter Form, die bereits angeführte Argumentation Kants  : Doch ist das Prinzip der eigenen Glückseligkeit am meisten verwerflich, (…) weil es gar nichts zur Gründung der Sittlichkeit beiträgt, indem es was ganz anderes ist, einen glücklichen, als einen guten Menschen, und diesen klug und auf seinen Vorteil abgewitzt, als ihn tugendhaft zu machen  : sondern weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten, indem sie die Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Klasse stellen und nur den Kalkül besser ziehen lehren, den spezifischen Unterschied beider aber ganz und gar auslöschen.55

In einer Fußnote fügt er, unter ausdrücklichem Verweis auf Hutcheson, hinzu  : »Ich rechne das Prinzip des moralischen Gefühls zu dem der Glückseligkeit«.56 Erst vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und dieser Argumentation entwickelt Kant die Idee und das Prinzip des kategorischen Imperativs als Ausdruck einer »Autonomie des reinen Willens«,57 wie sie Rousseau im Begriff des agent libre bereits vorgeprägt und zur wichtigsten Voraussetzung und Grundlage moralischen Handelns erhoben hatte. Für Kant wie für Rousseau ist es diese »Autonomie des Willens«, diese auch gegenüber der sinnlichen Natur des Menschen gedachte Freiheit der Entscheidung, die moralisches Handeln erst ermöglicht und die sich beispielsweise in Gestalt des Gewissens und eines selbstlosen Pflichtgefühls offenbart. »Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich  ?«, fragt Kant, um unter anderem zu antworten  : Als bloßen Gliedes der Verstandeswelt würden also alle meine Handlungen dem Prinzip der Autonomie des reinen Willens vollkommen gemäß sein  ; als bloßen Stücks der Sinnenwelt würden sie gänzlich dem Naturgesetz der Begierden und Neigungen (…) gemäß genommen werden müssen. (Die ersteren würden auf dem obersten Prinzip der Sittlichkeit, die zweiten der Glückseligkeit beruhen.) Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist 55 Ebenda, S. 98. 56 Ebenda. 57 Ebenda, S. 113.

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und also auch als solche gedacht werden muss, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperativen und die diesem Prinzip gemäße Handlungen als Pflichten ansehen müssen. Und so sind kategorische Imperativen möglich, dadurch dass die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligiblen Welt macht.58

Man könnte meinen, Kant gehe mit dieser Definition und inhaltlichen Bestimmung seines kategorischen Imperativs insofern über Rousseaus ultimative Verknüpfung von Willensfreiheit und Moral hinaus, als er beispielsweise der von Rousseau angenommenen Spontaneität moralischen Verhaltens, etwa unter dem Einfluss der ohne Reflexion wirkenden pitié naturelle, die bewusste Überwindung sinnlicher Neigungen gegenüberstellt und in diesem Aktivwerden des freien Willens die Idee der Pflichterfüllung als authentischer und praktischer Umsetzung des kategorischen Imperativs verankert. Doch in seiner Vision eines von Unterdrückung befreiten Staatsbürgers, wie sie Rousseau im Contrat social entwickelt, eines citoyen, der als Teil des politischen Souveräns agiert, ist genau diese bewusste Überwindung sinnlicher Neigungen als Ausdruck einer moralischen Freiheit (liberté morale) bereits vorweggenommen, wenn es dort heißt  : »Der plötzlichen Eingebung der Sinne zu folgen, ist Sklaverei, aber dem Gesetz folgen, das man sich selbst gegeben hat, ist Freiheit.«59 Auch hinsichtlich des Zusammenhangs von weltlicher Moral und Religiosität folgt Immanuel Kant den Spuren Rousseaus. Er widmet diesem Zusammenhang, insbesondere unter Bezugnahme auf Rousseaus Theorie der volonté générale als Ausdruck der politischen Souveränität des Volkes, eine im Jahre 1793 erschienene umfangreiche Studie unter dem Titel Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Darin anerkennt er Rousseaus Theorie des politischen Gemeinwillens als demokratisches Prinzip, zieht aber deutlicher als Rousseau die Grenze zwischen der politischen Souveränität des Volkes und seiner Autorität in Sachen Ethik  : Sollte nun das zu gründende gemeine Wesen ein j u r i d i s c h e s sein  : so würde die sich zu einem Ganzen vereinigende Menge selbst der Gesetzgeber (der Konstituti58 Ebenda, S. 113/114. 59 Rousseau, J.-J., Contrat social, S. 365 (Übersetzung R. Bach).

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onsgesetze) sein müssen, (…) wo also der allgemeine Wille einen gesetzlichen äußeren Zwang errichtet. Soll das gemeine Wesen aber ein e t h i s c h e s sein, so kann das Volk als ein solches nicht selbst für gesetzgebend angesehen werden.60

Die Lösung dieses Problems sieht Kant schließlich, der Sichtweise Rousseaus vergleichbar (wenn auch auf rein rationaler und nicht einem religiösen Glaubensbekenntnis geschuldeter Grundlage), in einer Verpflichtung aller Moral und Ethik auf ein heiliges Gesetz »auf der Stufe der Religion«  : Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll. Wenn die Moral an der Heiligkeit ihres Gesetzes einen Gegenstand der größten Achtung erkennt, so stellt sie auf der Stufe der Religion an der höchsten, jene Gesetze vollziehenden Ursache einen Gegenstand der Anbetung vor, und erscheint in ihrer Majestät.61

Wie bereits erwähnt, dürfte es in der französischen Spätaufklärung vor dem Ausbruch der Revolution kaum eine Reaktion auf Kants Stellungnahme zur Ethikdebatte gegeben haben, was wohl ebenso für seine zwar im Jahr des Erscheinens der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten preisgekrönte, jedoch erst später populär gewordene Abhandlung zum Thema Was ist Aufklärung  ? gelten dürfte. Doch dies sollte sich bald ändern. Belegt ist ein Bekanntwerden der Arbeiten Kants in Paris zu Beginn der 1790er Jahre, und seit 1796 machte ein apokrypher, fälschlicherweise Kant zugeschriebener Text, angeblich ein Antwortbrief Kants an den Abbé Sieyès, in Deutschland und Frankreich von sich reden.62 Von Bedeutung für den von uns vorgestellten Sinnzusammenhang ist dagegen ein etwas späteres Zeugnis, das sich jedoch auf die Spätphase der Aufklärung und die sich anschließende Umbruchphase zwischen Aufklärung und Romantik bezieht. Gemeint sind die Ausführungen Madame de Staëls in ihrem Buch De l’Allemagne, dem wir uns in einem späteren Abschnitt im Zusammenhang mit der nachrevolutionären Entwicklung etwas eingehender zuwenden wollen. An dieser Stelle 60 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), Stuttgart 1974, S. 126. 61 Ebenda, S. 7–9. 62 Vgl. die von A. Philonenko und Y. Somet besorgte und kritisch kommentierte französische Ausgabe der Réponse du professeur Kant de Königsberg à l’abbé Sieyès de Paris, Paris 1995.

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jedoch, und vor allem hinsichtlich der Bezugnahme Kants auf die Ethikdebatte, bietet es sich an, bereits auf die diesbezügliche Wahrnehmung der Madame de Staël hinzuweisen. In ihrem Buch stellt sie die zeitgenössische deutsche Literatur, Kunst und Philosophie einer kritischen Bilanz der jüngeren französischen Kultur- und Literaturgeschichte gegenüber. Dabei weist sie Immanuel Kant eine besondere Rolle zu, die sich wesentlich aus ihrer Beurteilung der Ethikdebatte der französischen Spätaufklärung ergibt. In zahlreichen Kapiteln und Zusammenhängen ihres Buches analysiert Germaine de Staël die in Frankreich dominierende einem radikalen Sensualismus entspringende, allein auf den intérêt, das individuelle Interesse abhebende Moralphilosophie, wie sie wesentlich auf Helvétius zurückgeht und sich als Kernstück der physiokratischen Moraldoktrin etabliert hatte. Gleichzeitig beschreibt sie die von idealistischer Grundlage ausgehende deutsche Moralphilosophie, in der Nachfolge Kants, als ethisch überlegen und hebt dabei die kämpferische Zurückweisung jener, in ihren Augen, »perversen Doktrin«63 des Utilitarismus hervor. Damit aber beschreibt sie bereits aus ihrer Sicht den Grundkonflikt der zeitgenössischen Ethikdebatte  : »Nous examinerons dans les chapitres suivantes les arguments de Kants contre la morale fondée sur l’intérêt personnel, et la sublime théorie qu’il met à la place de ce sophisme hypocrite ou cette doctrine perverse.«64 Dieser hier von Madame de Staël angekündigten Auseinandersetzung mit den Positionen der zeitgenössischen Ethikdebatte werden wir uns in einem späteren Abschnitt zuwenden.

63 G. de Staël, De l’Allemagne, Bd. I und II (1813), Paris 1968, Bd. II, S. 135. 64 Ebenda.

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Kolportiert wird der neue Sprachcode des physiokratischen Liberalismus, wie er in exemplarischer Weise von Le Mercier repräsentiert wurde, vor allem mittels unzähliger auf die Bürgermoral abzielender Katechismen, die Frankreich sowohl im Vorfeld wie auch während der Revolution überschwemmen. Ihre Titel lauten typischerweise Catéchisme du Citoyen, ou Élémens du Droit Public Français (1787), Catéchisme du Tiers État à l’usage de toutes les provinces de France (1788), Catéchisme de la Constitution Française (1795), Catéchisme de Morale, pour l’éducation de la jeunesse (1791), Catéchisme de la Constitution Française nécessaire à l’éducation des enfans, Catéchisme des Républicains à l’usage des adolescens, Catéchisme du Citoyen à l’usage des jeunes républicains français, Catéchisme moral et républicain und so weiter. Noch im Jahre 1815 wird die physiokratisch geprägte Bibliothèque des Sciences morales et politiques in dieser Traditionslinie einen Catéchisme d’Économie Politique aus der Feder des berühmten Nationalökonomen J.-B. Say veröffentlichen, der unter dem vollständigen Titel Catéchisme d’Économie Politique ou Instruction familière qui montre de quelle façon les richesses sont produites, distribuées et consommées dans la société in den Jahren 1822, 1826, 1835, 1848 und 1881 jeweils Neuauflagen erlebte. Von Turgot bis Le Mercier waren solche Katechismen als »doktrinäre Schriften« immer wieder gefordert und beispielhaft konzipiert worden. Bereits 1761 hatte Turgot in programmatischer Weise eine entsprechende Umwidmung jenes »Hauptmittels kirchlicher Unterweisung«1 angeregt, um in einer der Einfältigkeit des Volkes gerecht werdenden Sprache grundlegende Positionen einer auf die Unantastbarkeit des Eigentums sowie auf eine marktwirtschaftliche Ordnung gestützten Ethik des Utilitarismus verbreiten zu können, ein »systeme de moral a portée des enfans ou des paysans«.2 Ein einfacher Gemeindepfarrer (»un bon curé«) sollte diesen Katechismus dem in »tiefster Unwissenheit und Stupidität« verharrenden Volk vermitteln können. Einer Unwissenheit, so Turgot, die diese Menschen ebenso der »Unterdrückung« wie der »Verführung« ausliefere  : 1 Fontius/Henschel, Turgots Konzeption eines Aufklärungskatechismus, S.  205, darin enthalten, von S. 226–232, der vollständige und orthographisch unveränderte Brief Turgots vom 2. September 1761 an den Abbé Millot, der diesen programmatischen Entwurf wiedergibt. 2 Ebenda, S. 230.

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un catechisme de morale et de raison assés simple et assés clair pour qu’un bon curé pût l’enseigner au peuple. (…) la plus grande partie des hommes sont abandonnés a l’ignorance la plus profonde et plongé dans une stupidité qui les rend malheureux et redoutables par la facilité qu’on trouve d’un coté a les opprimer et de l’autre a les seduire.3

Bedenkt man den Tenor dieses Anliegens, zuallererst die Legitimität des Eigentums sowie der damit verbundenen sozialen Ungleichheit als Basiswissen zum Gegenstand einer instruction publique zu erheben, um damit, wie Turgot selbst als Beweggrund angibt, der »Verführung« einfältiger Menschen vorzubeugen, so drängt sich auch hier die Frage auf, inwiefern die zeitgenössische Verbreitung egalitärer, also gegen die soziale Ungleichheit gerichteter Schriften und Meinungen, ursächlich für die alsbald einsetzende ideologische Kampagne der Catéchismes gewesen sein mag. Immerhin kursierten seit Beginn der fünfziger Jahre, möglicherweise in Anlehnung an die Utopia des Thomas Morus, prominente anonyme Schriften, wie die Basiliade und der Code de la Nature, die lange Zeit keinem Geringeren als Diderot selbst zugeschrieben wurden, in denen frühkommunistische Ideen von der Aufhebung des Privateigentums verbreitet wurden.4 Ganz ähnliche Ansichten hatte der von Zeitgenossen als Autorität auf dem Gebiet der science politique betrachtete Gabriel Bonnot de Mably in seinem seit 1758 zunächst als Manuskript kursierenden Grundlagenwerk Des Droits et des Devoirs du Citoyen vertreten.5 Es ist anzunehmen, dass auch Rousseaus Discours sur l’inégalité sociale bereits zu diesem Zeitpunkt einen entsprechenden Reibungspunkt im Sinne der entstehenden Ethikdebatte lieferte.6 Tatsache ist, dass Turgots programmatische Anregung für das Abfassen eines solchen Katechismus bei der genannten Frage nach der Legitimation von Eigentum und sozialer Ungleichheit ansetzt. Es ginge darum, so Turgot, dem ungebildeten und der Verführung ausgesetzten Volk die Grundlagen des Eigentums und der daraus folgenden Ungleichheit zu vermitteln, ebenso die Vorzüge zu erklären, die ihm, also den »inferieurs«, aus dieser Ungleichheit erwüchsen  : »on etendroit ensuite ses vues ou etabliroit les fondemens de la proprieté, de l’inegalité qui

3 Ebenda, S. 227. 4 Der Autor beider Schriften ist Étienne-Gabriel Morelly  : Naufrage des îles flottantes ou Basiliade du célèbre Pilpai, Messina 1753, und Code de la Nature. Zur zeitgenössischen Diskussion über die Autorschaft vgl. Note bibliographique der Textausgabe Paris 1953, S. 29/30. 5 G. B. de Mably, Des Droits et des Devoirs du Citoyen. Ed. critique par J.-L. Lecercle, Paris 1972. 6 Vgl. Q. Skinners Hermeneutik der Ideengeschichte, u. a. in  : Skinner, Visionen des Politischen, S. 7–17  : Über Interpretation  ; und S. 21–63  : Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte.

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en est la suite, on montreroit les avantages que les inferieurs retirent de cette inegalité«.7 Um diese Vorzüge näher zu erläutern, die Bedeutung der Ungleichheit vor allem moralisch über den Zusammenhang von Pflichten und Interessen zu begründen, dabei auch den Bezug zu den Gesetzen der Religion herzustellen (»montrer toujours la liaison des devoirs avec les interets de l’homme dans cette vie  ; liaison qui est le seul fondement des loix de la religion«8), fordert Turgot eine Einführung zu den naturrechtlichen Grundlagen der Ökonomie. Schließlich ergäben sich diese Überlegungen aus den allgemeinen Prinzipien des »commerce«, betrachtet unter dem Blickwinkel des Naturrechts  ; Prinzipien, die nichts anderes seien als die unmittelbaren Konsequenzen des Eigentumsrechts  : »(…) ces considerations tiennent aux principes generaux du commerce envisagé par rapport au droit naturel, principes qui sont une consequence immediate des droits de proprieté.«9 So solle jedermann frei sein, über sein Talent zu verfügen, sich nach freier Wahl für seine Arbeit, entsprechend ihrer Nützlichkeit, bestmöglich bezahlen zu lassen und sich so mit allem zu versorgen, was er benötigt  : de la resulte une inegalité parce que chacun se fait payer a proportion de ce que son talent est evalué par ceux qui le payent, et chaque talent est necessairement evalué en raison de son utilité et de sa rareté, et pour vu que chacun soit libre d’exercer le talent qu’il veut, de recvoir de son bien ou de son travail le prix qu’il peut en trouver, et de s’adresser a qui il veut pour se procurer les choses dont il a besoin, cette inegalité n’est jamais injuste (…)

Dass es sich bei einem solchen catéchisme de morale am Ende tatsächlich um eine moralische Unterweisung handeln soll, die – in Ergänzung zur christlichen Morallehre – ein gottgefälliges Leben und die »Kunst, durch Rechtschaffenheit glücklich zu werden«, schließlich auch das »Gemeinwohl« auf die Kenntnis der wohlverstandenen partikularen Interessen jedes Einzelnen sowie deren wechselseitige Wahrnehmung gründet, dies betont Turgot immer wieder in den verschiedensten Zusammenhängen  : je ne voudrois pas fonder uniquement la morale sur la revelation10 donner des leçons d’economie et de moderation (…) relatif a l’interêt de chaque particulier (…) dans 7 Turgot, in  : Fontius/Henschel, Turgots Konzeption eines Aufklärungskatechismus, S. 229. 8 Ebenda, S. 231/232. 9 Ebenda, S. 230 (Hervorhebung R. Bach). 10 Ebenda, S. 231.

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mon catéchisme qui doit être l’art d’etre heureux par la probité11 la combinaison la plus parfaite de leurs interêts reciproques, pour produire le plus grand bonheur commun12

Dokumentiert wird dadurch auch, dass sich die politische Diskussion über die möglichen Inhalte und Formen einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung wesentlich auf der Ebene einer Debatte zur politischen Ethik bewegt und dass sich diese Debatte bereits frühzeitig auch als ein Ringen um die politische Sprache, den berühmten abus des mots, darstellt, dass es also um die Deutungshoheit in Bezug auf sozialpolitische Reizworte wie ›Eigentum‹ und ›soziale Ungleichheit‹ geht. Daher stoßen wir auch in Le Merciers Abhandlung zur instruction publique auf dieselbe programmatische Empfehlung, die Grundlagen einer »universellen Moral« für das zivile und politische Leben über einen Catéchisme zu verbreiten, der diese mit den »fundamentalen Prinzipien der Gesellschaftsordnung« verbindet  : un Catéchisme civil & politique, qui expose clairement & simplement les principes naturels, les principes fondamentaux de l’ordre social & de la morale universelle. Ainsi ce Catéchisme doit instruire les hommes de leurs devoirs essentiels & réciproques, des obligations mutuelles qu’ils doivent s’imposer eux-mêmes & par intérêt pour euxmêmes13

Und wie ein Echo auf Rousseaus programmatischen ersten Satz des Contrat social fügt Le Mercier in diesem 1774 verfassten Text hinzu, alles solle die ›Staatsbürger‹ (Citoyens) daran erinnern, dass sie geboren wurden, um frei zu sein, und dass sie dies (nur) unter dem Gesetz des Eigentums tatsächlich sein könnten  : »tout doit rappeler aux Citoyens qu’ils sont nés pour être libres, & qu’en effet ils se trouvent libres sous la loi de proriété«.14 Rousseau selbst (hier als »l’Auteur de l’Emile« angesprochen) wird in genau diesem Zusammenhang sinnentstellend als Kronzeuge dafür aufgerufen, dass ebendiese Wahrheiten bereits in der frühesten Phase der Kindheit vermittelt werden sollten, da sie hier die am meisten prägende Wirkung erzielten.15 Allerdings, dies gilt es hinsichtlich der verfälschenden Rezeption seiner Ideen zu beachten, hatte Rousseau – der 1778 verstarb – nach eigenem Bekunden längst 11 Ebenda, S. 230. 12 Ebenda, S. 231. 13 Le Mercier, De l’Instruction Publique, S. 109. 14 Ebenda, S. 110. 15 Ebenda, S. 111.

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nicht mehr die Kraft, der gezeigten physiokratischen Usurpation seiner politischen Formelsprache samt der von ihm entwickelten Begrifflichkeiten entgegenzutreten. Dies bezeugt der durch seine mehrjährige Flucht schwer traumatisierte Autor bereits in einem Brief aus dem Jahre 1767 an Mirabeau, dessen agitatorischem Ansinnen er hier mit der ebenso schlichten wie entwaffnenden Feststellung begegnet  : »Réflechir, comparer, chicaner, persister, combattre n’est plus mon affaire«.16 Gleichwohl lässt eine spezifische Bemerkung, niedergeschrieben auf einer Spielkarte im Zuge der Redaktion seiner Rêveries, darauf schließen, dass sich Rousseau in vollem Umfang all der gegen ihn selbst und seine Philosophie gerichteten feinsinnigen Entstellungen bewusst war. Möge doch eines Tages ein vernünftiger Mensch kommen, so seine verzweifelte Hoffnung, der all die versteckten und verräterischen Bemerkungen, all die Zweideutigkeiten zu erkennen vermag.17 Was nun die Catéchismes (de morale …) angeht, die signifikanterweise in keiner der Weulersse-Studien zur Physiokratie auftauchen, so haben wir im Verlauf unserer Untersuchungen etwa einhundert dieser Texte ermitteln können,18 wobei die überwiegende Anzahl erst nach Ausbruch der Revolution erscheint und als unmittelbare Reaktion auf das sich zuspitzende Dilemma der Mehrdeutigkeit des zeitgenössischen republikanischen Diskurses zu werten ist. Eine Besonderheit in der Reihe dieser neuartigen Texte bildet ohne Zweifel der 1777 unter dem Titel La Morale du citoyen du monde ou la Morale de la raison veröffentlichte Katechismus aus der Feder eines gewissen Abbé Saury.19 Denn dieser Text verbindet auf geradezu klassische Art die teilweise wörtlich aus Le Merciers Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von 1767 übernommene physiokratische Argumentation zugunsten eines »ordre essentiel et naturel des sociétés«,20 also einer Ordnung des ökonomischen Liberalismus, mit einem seelsorgerisch da16 J.-J. Rousseau, A Monsieur le Marquis de Mirabeau. In  : Appendice der 1994 bei Bookking International in Paris erschienenen Ausgabe der Rêveries du promeneur solitaire, S. 241. 17 »Ne viendra-t-il donc jamais un homme sensé qui remarque la maligne adresse avec laquelle on parle de moi, soit directement soit indirectement, dans presque tous les livres modernes, sur un ton traîtreusement étranger, avec des allusions perfides, avec des rapprochements forcés, avec des citations ironiques, des phrases équivoques et louches et toujours évitant les applications directes, mais toutes conduisant avec art la malignité des lecteurs.« Ebenda, S. 173. 18 Vgl.: Catéchisme Du Citoyen, Paris 1788  ; Catéchisme du Tiers État, Paris 1788  ; Catéchisme de Morale, pour l’éducation de la jeunesse, par M. Harmand, Paris 1791  ; Catéchisme des Républicains à l’usage des adolescens, par C. Thiébaut, Nancy  ; Catéchisme moral et républicain, Paris, l’an second de la République. 19 Abbé Saury, La Morale du citoyen du monde ou la Morale de la raison, Paris 1777. 20 Ebenda, S. 376.

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herkommenden Plädoyer für eine am größtmöglichen Nutzen orientierte utilitaristische Moral. Vom sprachlichen Reduktionismus der Formel »propriété, sûreté, liberté«21 über die moralische Verstümmelung des Freiheitsbegriffs als Ausdruck einer Gier, die sich über die maximale Ausnutzung des Eigentumsrechts definiert (»la liberté de retirer de ses droits de propriété les plus grands avantages possibles«22), bis hin zur Behauptung der Sinnfälligkeit eines »despotisme naturel« oder »légal« als notwendige Unterwerfung der Gesellschaft unter die Gesetze der Natur,23 übernimmt Saury die Formulierungen und Argumente des Le-Mercier-Textes von 1767. Dies alles im Namen einer als »science« ausgegebenen, dem physiokratischen ordre naturel verpflichteten »Morale philosophique ou naturelle«, der es um die Wahrung des »diesseitigen Glücks« der Menschen zu tun ist  : (…) le bonheur temporel est attaché à l’observation de l’ordre. (…) Le vrai but de la morale est de rendre les mortels heureux sur la terre en les engageant à se rendre utiles à la Société.24 Il existe donc un ordre naturel pour le gouvernement des Sociétés, un ordre qui nous assure toute la félicité temporelle dont nous pouvons naturellement jouir ici-bas.25

Äußerst klar tritt auch hier die Absicht zutage, die Propagierung des politischen Zieles einer Gesellschaftsordnung des ökonomischen Liberalismus auf die Ebene einer Ethikdiskussion zu heben und sie außerdem, im Sinne naturwissenschaftlicher Unfehlbarkeit, mit dem Wissenschaftsfetischismus des Mainstreams der Aufklärung zu verbinden. Wenn auch die meisten anderen Katechismen dieser inhaltlichen Ausrichtung in wesentlichen Zügen folgen, so unterscheiden sie sich doch von diesem Text des Abbé Saury durch eine den Forderungen Turgots weit eher entsprechende didaktische Form. D’Holbach hatte diese Form eines in einfachste Fragen und Antworten gegliederten Textes bereits in seinem Catéchisme de la Nature aus dem Jahre 1765 praktiziert26  : 21 Ebenda, S. 379  : »propriété, sûreté, liberté, voilà tout ce que les hommes dont nous parlons cherchent en se réunissant en Société«. 22 Ebenda. 23 »J’entends par despotisme légal le pouvoir de gouverner par des loix conformes à l’ordre essentiel et naturel des sociétés.« Ebenda, S. 376. 24 Ebenda, S. 2/3. 25 Ebenda, S. 377. 26 D’Holbach, Éléments de la Morale universelle, ou Catéchisme de la Nature (Paris 1790). In  : ders., Œuvres philosophiques 1773–1790.

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D. Qu’est-ce que l’homme  ? R. C’est un être sensible, intelligent, raisonnable, qui desire de se conserver et de se rendre heureux. D. Qu’entendez-vous par un être sensible  ? R. C’est celui qui a des sens (…)27

Das physiokratische »Glaubensbekenntnis«, wonach die Moral, aufgrund ihrer physischen Determiniertheit, eine der Geometrie vergleichbare,28 das heißt ebenso kalkulierbare Naturwissenschaft darstellt, die selbst ungebildeten Menschen und Kindern nahegebracht werden kann, schickt d’Holbach dabei seinem Katechismus voran. Ebenso die Grundüberzeugung der physiokratischen Ethik, wonach sich moralisches Handeln in der Wahrnehmung von Interessen erschöpft  : La morale est une science dont les principes sont susceptibles d’une démonstration aussi claire et aussi rigoureuse que ceux du calcul et de la géométrie. Les élements de cette science si nécessaire peuvent être mis à la portée des hommes les plus simples et même des enfants. (…) la morale (…) est fondée sur la nature de l’homme et sur ses intérêts les plus réels.29

Der von d’Holbach entwickelte didaktische Aufbau, mit dem sich die Katechismen als möglicherweise wichtigstes Organ der Propagierung physiokratischer Ideen an ein breites, auch ungebildetes, Publikum wenden, beherrscht in immer neuen Variationen auch die zahllosen Texte dieser Art, die während der Revolution verbreitet werden. Allen gemeinsam geht es um die Deutungshoheit in Bezug auf diejenigen politischen und moralischen Schlüsselbegriffe, deren unterschiedliche, oft bis zur absoluten Gegensätzlichkeit führende Auslegung den politischen Diskurs der Revolution bestimmt. Damit bietet diese spezifische publizistische Form der Catéchismes eine besondere Möglichkeit, die Kontinuität der Propagierung eines physiokratisch intendierten republikanischen Diskurses, einschließlich der damit verbundenen terminologischen Ambivalenz, von den 1770er Jahren über den gesamten Zeitraum der Französischen Revolution bis in die ersten Jahrzehnte des neunzehnten 27 Ebenda, S. 791. 28 Unter dem Eindruck der naturwissenschaftlichen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts gelten Mathematik und Geometrie im achtzehnten Jahrhundert als Symbole für den Siegeszug der Wissenschaften und den darauf gründenden Fortschritt der Menschheit. 29 Ebenda, S. 789.

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Jahrhunderts hinein zu dokumentieren. Wohlgemerkt handelt es sich insofern auch um die Kontinuität jenes begrifflichen Paradigmas30, das für die politische Philosophie des physiokratischen Liberalismus ein Charakteristikum darstellt. Zu diesem Charakteristikum zählt auch das besondere semantische Verhältnis dieses begrifflichen Paradigmas zu den Bezeichnungsstrukturen, in denen es sich sprachlich definiert. Wie wir sahen, handelt es sich dabei häufig um terminologische Entlehnungen aus dem diskursiven Spektrum der politischen Philosophie Rousseaus, dem seinerseits ein eigenes, eben hierfür charakteristisches  – und damit oppositionelles  – begriffliches Paradigma zugrunde liegt. Da bei Weitem nicht alle sprachlichen oder begrifflichen Besonderheiten einzelner Autoren an dieser Stelle Berücksichtigung finden können, müssen auch hier exemplarische Textbeispiele und Einzelanalysen genügen, um das ideengeschichtlich besondere Phänomen dieser publizistischen Form der Verbreitung eines formal-sprachlich vereinheitlichten, gleichwohl aber in zwei miteinander inkompatible begiffliche Paradigmen zerfallenden republikanischen Diskurses zu demonstrieren. Einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte der 1793 von Volney veröffentlichte Catéchisme du Citoyen français.31 Volney, zunächst selbst bürgerlicher Herkunft, jedoch Grundbesitzer und Staatsbeamter, schließlich Verbündeter des Abbé Sieyès und Anhänger der Idéologues, hatte sich bereits vor der Revolution durch sein entschiedenes Eintreten für die politische Autonomie des Dritten Standes als einzig legitimer Interessenvertretung der Nation einen Namen gemacht. In mehreren anonym veröffentlichten Broschüren, vor allem aber als Herausgeber der äußerst erfolgreichen, von ihm selbst redigierten Zeitschrift La sentinelle du peuple, hatte er im Namen der »Vernunft« und der »natürlichen Gleichheit« für die Rechte des Dritten Standes, insbesondere für die Interessen der ländlichen Bevölkerung gestritten.32 Was den uns interessierenden Katechismus Volneys angeht, so erscheint seine erste, insgesamt zehn Kapitel umfassende Ausgabe zu Beginn der Jakobinerherrschaft im Jahre 1793 unter dem Titel La loi naturelle ou Catéchisme du Citoyen français. Nur wenige Wochen später gerät sein Autor ins Visier der jakobinischen Revolutionstribunale, wird verhaftet und erlangt erst nach dem Sturz Robespierres seine Freiheit zurück. 1795 wird er Mitglied der Académie des Sciences morales et politiques, die ihren Namen den physiokratischen Ephémérides 30 Zur Erläuterung der Idee eines »begrifflichen oder textspezifischen Paradigmas« vgl. Bach, Weichenstellungen des politischen Denkens, S. 159–173  : Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse. Und R. Bach, Les Physiocrates et la science politique de leur temps. In  : Revue française d’Histoire des idées politiques, No. 20, 2e semestre, 2004, S. 229–261. 31 C.-F. Volney, La loi naturelle ou Catéchisme du Citoyen français (1793), Paris 1934. 32 Ebenda, Esquisse biographique, S. 3–37.

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du citoyen ou Bibliothèque raisonnée des Sciences morales et politiques verdankt. Eine zweite, um zwei äußerst kurze Kapitel (darunter eines zur Körperhygiene) erweiterte Auflage erscheint 1826 unter dem Titel La loi naturelle ou Principes physiques de la morale déduits de l’organisation de l’homme et de l’univers. Spätestens dieser erhellende Titel, der besonders unmittelbar auf ein physio-cratisches Fundament dieses Moraltraktates verweist, deutet folgerichtig auch seine inhaltliche, nämlich utilitaristische Ausrichtung an, damit auch die naheliegenden Gründe für die geschilderte jakobinische Reaktion gegenüber seinem Verfasser. Und es ist bezeichnend für die historiographische Blindheit des Kommentators der uns vorliegenden kritischen Textausgabe von 1934, wenn ihm, trotz gründlichem Textstudiums, ebenjener Stein des (jakobinischen) Anstoßes entgeht, der, bei etwas näherem Hinsehen, mit zahllosen Formulierungen innerhalb des Textes auf die Ethikdebatte zurückverweist, ja sogar in unmissverständlicher Weise bestimmte Aussagen des von Robespierre aufrichtig verehrten J.-J. Rousseau persifliert und als intellektuelle Absurditäten verspottet.33 Denn trotz der Verwendung eines republikanischen Vokabulars, das – oberflächlich betrachtet – auch dem jakobinischen Diskurs gerecht wird, dürfte die ganz eindeutig dem physiokratischen Liberalismus oder zeitgenössisch, in den Worten Robespierres ausgedrückt, dem »système barbare sous le nom spécieux de la liberté du commerce«,34 dem »égoïsme en système«35 beziehungsweise der »secte épicurienne«36 zuzuordnende Aussage des Textes einem jakobinischen Zensor nicht entgangen sein. So wird etwa, ohne Rousseau namentlich zu erwähnen, dessen anthropologischer Ansatz, der die Entstehung des Eigentums als menschlich verschuldete Erbsünde deutet und diese zum Ausgangspunkt eines zweigleisigen, mit der Entfremdung des Menschen erkauften Fortschritts erklärt, bewusst persifliert, um ihn dann als misanthropische Absurdität zu verspotten. In Wahrheit, so Volney, sei die Unkenntnis der Naturgesetze selbst die eigentliche Erbsünde (»le véritable péché originel«)  : D. Mais si nous naissons ignorants, l’ignorance n’est-elle pas une loi naturelle  ? R. Pas davantage que de rester enfants, nus et faibles. Loin d’être pour l’homme une loi de la nature, l’ignorance est un obstacle à la pratique de toutes ses lois. C’est le véritable péché originel. 33 Ebenda, S. 77/78  : »Il n’est évidemment pas possible de trouver dans les préceptes du Catéchisme la raison déterminante de cette incarcération.« 34 Robespierre, Textes choisis, Bd. I–III, Paris 1973–1974, Bd. III, S. 85 (Hervorhebung R. Bach). 35 Ebenda, S. 171. 36 Ebenda, S. 170.

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D. Pourquoi donc s’est-il trouvé des moralistes qui l’ont regardée comme une vertu et une perfection  ? R. Parce que, par bizzarerie d’esprit, ou par misanthropie, ils ont confondu l’abus des connaissances avec les connaissance mêmes  ; comme si, (parce que les hommes abusent de la parole il fallait leur couper la langue)  : comme si la perfection et la vertu consistaient dans la nullité, et non dans le développement et le bon emploi de nos facultés.37

Solch persiflierende Entstellungen der gesellschaftskritischen Positionen Rousseaus, die diese im Namen der Vernunft angreifbar machen sollen, zählen in immer wiederkehrenden Formen und Formulierungen nicht nur zum Standardinventar physiokratischer Rousseaukritik. Sie sind hier allerdings ein notwendiger Bestandteil physiokratischer Sprachpolitik zur Begründung der Deutungshoheit philosophischer und politischer Schlüsselbegriffe. Der von allen an der Ethikdebatte beteiligten Parteien verwendete Natur-Begriff, ob im Sinne der »wahren« Natur des Menschen oder seines Naturzustandes, des Naturrechts, des Naturgesetztes oder eines ordre naturel, steht dabei, wie diese Beispiele zeigen, stets im Mittelpunkt dieser Debatte. Einer Debatte, im Übrigen, die eine bis zu begrifflichen Oppositionen reichende Polysemie des »Naturbegriffs der Aufklärung« offenbart und die historiographisch in aller Regel ebenso übersehen wurde wie auch die sich daran emporrankende Ethikdebatte der Spätaufklärung selbst. Volneys Catéchisme hält, im Sinne einer Vergewisserung der eigenen Ausgangsposition, eine ganze Serie solch üblich gewordener Entstellungen philosophisch begründeter Positionen Rousseaus bereit. Besonders typisch darunter die auf bestimmte Äußerungen zielende Persiflierung einer vermeintlich grobschlächtigen Verherrlichung des Naturzustandes durch offenbar geistesgestörte »Philosophen«  : D. Pourquoi donc les philosophes ont-ils appelé la vie sauvage l’état de perfection  ? R. Parce que, comme je vous l’ai dit, le vulgaire a souvent donné le nom de philosophe à des esprits qui, par morosité, par vanité blessé, par dégoût des vices de la société, se sont fait de l’état sauvage des idées chimériques, contradictoires à leur propre système de l’homme parfait.38

Der dabei unterstellten Abkehr von den Segnungen der Geselligkeit, des Fortschritts und der Kultur wird nun, im Namen der Vernunft, das optimistische Bild einer auf allseitigen Tauschhandel gründenden Gesellschaft entgegenge37 Volney, La loi naturelle, S. 109/110. 38 Ebenda, S. 111/112.

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stellt. »Réciprocité« lautet das Zauberwort, mit dessen Hilfe auch andere demokratisch-republikanische Schlüsselbegriffe wie égalité, vertu oder patrie im Sinne des Liberalismus umgeprägt werden. Rousseaus begriffliche Unterscheidung zwischen einer die Nächstenliebe als pitié naturelle begünstigenden Selbstliebe (amour de soi) und der von Egoismus getragenen Eigenliebe (amour propre) wird dabei zugunsten einer begrifflichen Gleichsetzung von amour de soi und égoïsme ignoriert beziehungsweise in ihr Gegenteil verkehrt, mit dem Ergebnis, dass der Egoismus als solcher zur tragenden Säule der Zivilgesellschaft erhoben wird  : D. Mais ce besoin de conservation ne produit-il pas dans les individus l’égoïsme, c’est-à-dire l’amour de soi  ? et l’égoïsme n’est-il pas contraire à l’état social  ? R. Non (…). L’amour de soi, pris dans son vrai sens, non seulement n’est pas contraire à la société, il en est le plus ferme appui.39

Davon ausgehend reduziert sich der ethisch bedeutsame Begriff der Tugend auf jenes Nutzen erzeugende Handeln, das  – im Sinne gegenseitigen Vorteils (avantage) – den Einzelnen mit der Gesellschaft verbindet  : D. Qu’est-ce que la vertu selon la loi naturelle  ? R. C’est la pratique des actions utiles à l’individu et à la société.40 D. Comment la loi naturelle prescrit-elle la pratique du bien et de la vertu  ? R. Par les avantages mêmes qui résultent de la pratique du bien et de la vertu pour la conservation de notre corps (…)41

Aus dem für Rousseaus discours républicain, speziell für seine demokratisch-republikanische Idee der Freiheit, ebenfalls zentralen Begriff der égalité wird eine »égalité proportionnelle«, ein Begriff, den Volneys Catéchisme dahingehend auslegt, dass er zwar eine »Gleichheit vor Gott« und – man beachte – eine Gleichheit selbst im »ordre de nature« bedeutet, keinesfalls aber eine »Gleichheit in der Ordnung der Gesellschaft«  : »C’est une égalité proportionnelle  ; et voilà pourquoi j’ai dit, égaux devant Dieu, et dans l’ordre de nature, mais non dans l’ordre de société.«42 Und nach der gleichen Logik, die zentrale Begriffe des demokratischen discours républicain im Sinne des physiokratischen Liberalismus umdeutet, steht der 39 Ebenda, S. 113. 40 Ebenda, S. 117. 41 Ebenda, S. 118. 42 Ebenda, S. 149.

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für die politische Ethik des Rousseau’schen Contrat social ebenso bedeutsame Begriff des Vaterlandes (patrie) in Volneys Catéchisme für eine Tauschgesellschaft, deren Gerechtigkeit sich im Ausbalancieren der jeweiligen Anteile an der Produktion und der Konsumtion materieller Güter bemisst. Der mit dem Vaterlandsbegriff aufs Engste verbundene Begriff des Staatsbürgers (citoyen) wird so, getreu allen physiokratischen Vorbildern, zum Begriff eines je nach eigener Arbeitsleistung (dans la proportion de ses travaux) am Genuss der Vorteile (jouissance de ces avantages) teilhaftig werdenden Mitgliedes jener Interessenbank (banque d’intérêts), als die sich die Gemeinschaft der Staatsbürger (la communauté des citoyens) offenbart  ; selbstverständlich getragen von brüderlichen Gefühlen (sentiments fraternels) und wechselseitigen Bedürfnissen (besoins réciproques)  : D. Qu’entendez-vous par ce mot patrie  ? R. J’entends la communauté des citoyens, qui, réunis par des sentiments fraternels et des besoins réciproques, font de leurs forces respectives une force commune (…) Dans la société, les citoyens forment une banque d’intérêts  : dans la patrie ils forment une famille de doux attachements  ; c’est la charité, l’amour du prochain étendu à toute une nation. Or, comme la charité ne peut s’isoler de la justice, nul membre de la famille ne peut prétendre à la jouissance de ces avantages, que dans la proportion de ses travaux  ; s’il consomme plus qu’il ne produit, il empiète nécessairement sur autrui (…)43

Gewissermaßen nebenbei werden durch diese inhaltlichen Transformationen auch die Begriffe Brüderlichkeit (sentiments fraternels) und Nächstenliebe (c’est la charité, l’amour du prochain) umgeprägt und auf die allgegenwärtige réciprocité des gesellschaftlichen Tauschhandels reduziert. Vergleichbare Beispiele für sprachliche Manipulationen zugunsten einer ganz und gar den Schlüsselbegriffen des physiokratischen Liberalismus, einschließlich ihrer Sinnbezüge, folgenden, also dem begrifflichen Paradigma des ökonomischen Liberalismus unterworfenen Ausformung des republikanischen Diskurses der Revolution finden sich in unabsehbarer Zahl in der angesprochenen Flut ähnlich gelagerter Publikationen. Es sei allerdings, der Vollständigkeit halber, abschließend darauf verwiesen, dass sich auch eine Anzahl ideologisch unspezifischer, also weder dem Egalitarismus noch dem Liberalismus eindeutig zuzuordnender Catéchismes findet, die an dieser Stelle nicht weiter berücksichtigt werden kann. Denn es kam hier vor allem darauf an, diese von physiokratischer Seite lancierte Form einer auf die 43 Ebenda, S. 159/160 (Hervorhebungen unter R = Réponse  : R. Bach).

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Catéchismes als Mittel physiokratischer instruction publique

Beherrschung der opinion publique zielenden Publizistik in gebührender Weise bekannt zu machen. Um aber wenigstens ein Beispiel für einen wohl jakobinisch intendierten, letztlich aber doch »ideologisch gemischten« Gegenentwurf zu benennen, sei hier auf einen Catéchisme moral et républicain, suivi du Catéchisme de la Déclaration des Droits et de la Constitution Française von 1793 verwiesen, der sich ebenso auf Rousseau wie auf Condillac und schließlich auf den »auteur d’une morale universelle« (vermutlich also d’Holbach) beruft.

13 Die Sprache der Revolution  : Zu den Auswirkungen der Ethikdebatte auf die Französische Revolution

13.1 Zur Anatomie der Revolution Die Französische Revolution markiert nicht nur den spektakulärsten Übergang von Feudalstaatlichkeit und Ständehierarchie in eine konstitutive bürgerliche Ordnung, die Übertragung der politischen Souveränität auf Volk und Nation, mithin die Wandlung von Untertanen in Staatsbürger, von ständischen Privilegien in staatsbürgerliche Rechte. Sie ist auch der Schauplatz fundamentaler Auseinandersetzungen um alternative politische Prinzipien der erst zu ­errichtenden bürgerlichen Ordnung. Und trotz der enormen, kaum zu überblickenden Komplexität der politischen Ereignisse und Spannungsfelder ist es gerade diese »zweite Front« des Epochenumbruchs, die sich – noch während der Arbeit der verfassungsgebenden Versammlung  – zum eigentlichen Hauptkonfliktfeld der revolutionären Ereignisse entwickeln sollte. Gironde und Montagne, zwei Fraktionen der Assemblée nationale, stehen mit ihren ideologischen Gegensätzen exemplarisch für diesen aufbrechenden Konflikt. Da es sich aber bei diesem seit 1793 äußerst blutig verlaufenden Ringen letztlich um das konstitutive Selbstverständnis rechtsstaatlicher Ordnungen schlechthin handelt, wirken bestimmte Aspekte dieser Auseinandersetzung bis in die Gegenwart fort. Sie entstanden auch infolge eines einzigartigen sprachlichen Dilemmas, das aus den ideologischen Ambivalenzen des discours révolutionnaire und dem damit verbundenen andauernden Zwist um die Deutungshoheit sozialpolitischer Schlüsselaussagen und Begrifflichkeiten erwächst. Die Diskussion um die bereits während der Revolution in mehreren alternativen Fassungen verabschiedeten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte1 ist dafür nur ein beredtes Beispiel. Um vorwegzunehmen, dass es sich bei dem Hervorheben dieses Konfliktes nicht um eine willkürliche Interpretation, sondern lediglich um eine – historiographisch gesehen nicht einmal originelle – Fokussierung handelt, sei an dieser Stelle zunächst auf einschlägige mehr oder weniger zeitgenössische Beobachtungen verwiesen. Besonders klar, und in ihrem symbolträchtigen Duktus der 1 Vgl. Jaume, Les déclarations des droits de l’homme.

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unmittelbar nachrevolutionären Ära durchaus prophetisch, dabei absolut unparteiisch, nimmt sich die Analyse von Pierre Leroux aus, da sie obendrein auf das angedeutete Dilemma der Ambivalenz des discours révolutionnaire anspielt. Der von ihm zur Bezeichnung einer der beiden miteinander konkurrierenden Strömungen verwendete Terminus socialisme, den er als eigene Wortschöpfung reklamiert,2 entsteht laut jüngerer Forschung bereits während der Revolution.3 »Im Namen der Freiheit«, so Leroux, würde dieser Strömung das von den Ökonomisten vertretene System des individualisme (mit anderen Worten der Liberalismus der Physiokraten) entgegengesetzt. Letzteres aber würde »die Menschen in reißende Wölfe verwandeln und die Gesellschaft atomisieren«, wie es Epikur für die Beschaffenheit der Welt vorausgesagt habe.4 Beide Ideologien, die des socialisme (auch als principe de société zitiert) ebenso wie die des individualisme (auch als principe de l’individualité de chacun zitiert), hätten durch den jeweils eingeforderten Absolutheitsanspruch gleichermaßen Angst und Schrecken verbreitet (»une égale horreur soit de l’individualisme, soit du socialisme«).5 Gerade deshalb aber ›habe ihr unvermeidbarer Kampf die Revolution dominiert‹. Denn sie seien mit der gleichen Entschiedenheit, noch dazu im gleichen Atemzug, proklamiert worden, was sich beispielsweise in der Déclaration des Droits von Robespierre zeigen ließe  : Prenez la Déclaration des Droits de Robespierre  : vous y trouverez formulé de la manière la plus énergique et la plus absolue le principe de société, en vue de l’égalité de tous mais, deux lignes plus haut, vous trouverez également formulé de la manière la plus énergique et la plus absolue le principe de l’individualité de chacun.6

Nichts aber finde sich dort, so die ebenso tiefgründige wie prophetische Beobachtung Leroux’, was die Prinzipien beider Systeme harmonisieren oder versöhnen könnte. Beide würden stattdessen ›einander belauern und bedrohen‹, gar 2 Leroux, De l’individualisme et du socialisme, S. 63  : »Quand j’inventai le terme de Socialisme pour l’opposer au terme d’Individualisme …« 3 Vgl. S. Branca-Rosoff/J. Guilhaumou, De »société« à »socialisme«  : l’invention néologique et son contexte discursif. In  : Langage & Société, No. 83/84, mars/juin 1998, S. 39–74. 4 Leroux, De l’individualisme et du socialisme, S. 58/59  : »(…) l’individualisme actuel, l’individualisme de l’économie politique anglaise, qui, au nom de la liberté, fait des hommes entre eux des loups rapaces, et réduit la société en atomes, laissant d’ailleurs tout s’arranger au hasard, comme Epicure disait que s’arrangeait le monde.« 5 Ebenda, S. 66. 6 Ebenda (Hervorhebung R. Bach).

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›die absolute Weltherrschaft einfordern, bereit, im Namen der Gerechtigkeit, die ganze Welt zu verwüsten‹  : Et rien qui unisse, qui harmonise ces deux principes, placés ainsi tous deux sur l’autel  ; rien qui concilie ces deux droits également infinis, ces deux adversaires qui se menacent, ces deux puissances absolues et souveraines qui s’élèvent toutes deux jusqu’au ciel et qui envahissent chacune toute la terre.7

Und er fügt hinzu  : »Sie werden einander einen furchtbaren Krieg liefern. Gleichwohl konnten Robespierre und der Konvent nicht umhin, sie beide zu proklamieren, und schließlich wurde die Revolution zur blutigen Bühne ihres Kampfes  : die beiden geladenen Pistolen, eine gegen die andere gerichtet, hatten das Feuer eröffnet«  : [I]ls vont se faire une guerre atroce. Aussi Robespierre et la Convention n’ont-ils pu que les proclamer tous deux, et ensuite la Révolution a été le sanglant théatre de leur lutte  : les deux pistolets chargés l’un contre l’autre avaient fait feu.8

Genau denselben Konflikt beobachtet auch Buonarroti, ein Anhänger des Verschwörers Babeuf. Für ihn besteht er aus dem Gegensatz eines »Système d’égoïsme«, auch als »ordre d’égoïsme« bezeichnet, auf der einen und eines »Système d’égalité«, auch »ordre d’égalité« genannt, auf der anderen Seite. Ersteres führt er auf die Physiokraten (hier zeitgenössisch korrekt als économistes bezeichnet) zurück, Letzteres auf Rousseau  : »On a nommé ordre d’égoïsme (…) celui des économistes, et celui de Rousseau ordre d’égalité.«9 Auch für Buonarroti ist es der Kampf dieser beiden Ideologien (»la lutte entre les amis de l’égalité et les partisans de l’ordre d’égoïsme«10), der den Verlauf der Revolution, nach der gemeinsamen Überwindung der feudalen Ständeordnung, dominierte und den er ab 1793 als »Bürgerkrieg« (guerre civile) bezeichnet.11 Besonders interessant ist dabei nicht nur Buonarrotis Zurückführung dieses Konfliktes auf die vorrevolutionäre Kontroverse zwischen der Ideologie der Physiokraten und der politischen Theorie Rousseaus, die wir als Ethikdebatte der Spätaufklärung dokumentiert haben. Aufschlussreich ist darüber hinaus Buonar 7 Ebenda.   8 Ebenda, S. 67 (Übersetzung und Hervorhebung R. Bach).  9 Buonarroti, Conspiration pour l’Égalité dite de Babeuf, Bd. I/II (1828), Paris 1957, Bd. I, S. 26–28 (Hervorhebungen im Original). 10 Ebenda, S. 31. 11 Ebenda, S. 32.

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rotis Behauptung einer sprachlichen Verschleierungstaktik, die er den Vertretern des physiokratisch-liberalen Flügels als »falschen Freunden der Égalité«12 angesichts ihres als pseudo-patriotisch wahrgenommenen Auftretens (»ceux qui se cachaient sous un vernis de patriotisme«13) unterstellt. Ihre ideologischen Gegner, die angeblich nicht nur den Worten Rousseaus, sondern auch deren Geist folgten, nennt er die »aufrechten Freunde der Gleichheit« (»amis sincères de l’égalité«). Doch damit sind wir bereits auf der Ebene eines Parteigängers der Revolution und mitten in deren sprachlichem Dilemma. Einem Dilemma, das zwar auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße von Zeitgenossen und Historikern wahrgenommen wurde, dessen Ausmaß und Folgen für den Verlauf der Revolution jedoch nie systematisch erfasst und wissenschaftlich angemessen, also mit philologischer Kompetenz, untersucht wurden. Dies gilt auch hinsichtlich des Erbes dieser Revolution und ihrer historischen, bis in die Gegenwart reichenden Fernwirkungen. 13.2 Das Dilemma des discours républicain  : Zur sprachlichen Krise der Revolution Prinzipiell gilt es in diesem Zusammenhang drei Fragen zu beantworten  : Erstens, worin genau besteht das sprachliche Dilemma der Französischen Revolution  ? Zweitens, welches sind seine konkreten Erscheinungsformen und wie wurden sie wahrgenommen  ? Und drittens, wie erklärt sich das anhaltende Defizit der Forschung  ? Relativ kurz gefasst lässt sich die erste Frage dahingehend beantworten, dass einander widersprechende Ideologien und ethische Konzepte, wie sie von Leroux dem Grunde nach richtig erfasst und geschildert werden, auf der Ebene ihrer sprachlichen Formulierung scheinbar miteinander verschmelzen, da sie sich allenthalben derselben patriotischen Formeln, desselben politischen Codes bedienen. Dies aber führt zu einem permanenten Streit um den »wahren Sinn« politischer Bekundungen, schließlich zu einem allgegenwärtigen Misstrauen gegenüber der Sprache, dem von allen Seiten beschworenen abus des mots. Die Folge ist ein Glaubwürdigkeitsverlust aller Parteien, der sich in einer Krise der Sprache entlädt. Eine jüngere amerikanische Untersuchung spricht in diesem Zusammenhang – auch ohne ein genaueres Hinterfragen der Ursachen – von einer 12 Ebenda, S. 30. 13 Ebenda, S. 31.

Zur sprachlichen Krise der Revolution 

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»Inflation des Wortes«  : »Der Zusammenbruch des französischen Staates nach 1789 führte zu einer wahren Inflation des Wortes, im Druck, in Gesprächen und in politischen Zusammenkünften«.14 Zeitgenössische Beobachtungen, die das Phänomen dieser Sprach- und Glaub­ würdigkeitskrise dokumentieren, lassen sich in beliebiger Anzahl und Qua­lität beibringen. Sie sind in sehr unterschiedlicher Art und Weise quasi omnipräsent, was uns zu der zweiten, etwas komplexeren Fragestellung führt. Wir wollen zunächst den zweiten Aspekt dieser Fragestellung beleuchten, also einige signifikante Formen der bis in die gegenwärtige Forschung reichenden »seismographischen« Wahrnehmung der sprachlichen Krise der Revolution aufzeigen. Auch hierbei kann unterschieden werden zwischen einer differenzierenden und einer unspezifischen Wahrnehmung dieser sprachlichen Krise, je nachdem, ob Zuordnungen, wie wir sie im Falle Buonarrotis sahen, vorgenommen werden oder ob – wie in den meisten Fällen zu beobachten – lediglich ein allgemeiner Glaubwürdigkeitsverlust der Sprache angezeigt wird. Ein zeitgenössisches Beispiel für die unspezifische Wahrnehmung der Sprachkrise, gepaart mit einer sarkastischen Art der Darstellung, finden wir etwa in einem Dictionnaire néologique, das im Jahre 1800 erscheint. Unter dem Eintrag ABUS des mots (Wortmissbrauch) lesen wir, dass dieser (Wortmissbrauch) (…) seit dem Anbeginn der Welt niemals so weit gediehen war. Aber mit einem neuen, speziell angefertigten Wörterbuch, das erklären würde, Freiheit meinte Sklaverei, Menschlichkeit sollte Barbarei bedeuten, Tugend meine in Wahrheit Verbrechen, etc., hätte man des Rätsels Lösung und die neue Sprache wäre sehr leicht zu behalten.15

Ähnlich unspezifisch bestätigt Louis-Sébastien Mercier, ein damals recht bekannter zeitgenössischer Publizist, in verschiedenen Schriften dieselbe Beobachtung, wenn er etwa über den »philosophisme« spottet, den er wie folgt beschreibt  : »Das Amalgam der Doktrinen von Rousseau, Voltaire, Helvétius, Boulanger, Diderot hatte eine Art Teig gebildet.«16 Andererseits erkennt und beschreibt L.-S. Mercier am Beispiel eindeutig zuzuordnender Akteure der Revolution deren entscheidende innere Konfliktlinie und wirft dem »dreisten« Journalismus vor, genau diese 14 L. Hunt, Symbole der Macht. Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt am Main 1989, S. 33. 15 L. A. Beffroy de Reigny, Dictionnaire néologique des hommes et des choses, ou Notice alphabétique des hommes de la Révolution, Paris 1800 (Übersetzung R. Bach, Hervorhebungen im Original). 16 L.-S. Mercier, Paris pendant la Révolution (1789–1798) ou le Nouveau Paris, Paris 1862, S.  229. (Übersetzung R. Bach).

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Konfliktlinie nicht erkannt, sondern vollkommen ignoriert zu haben. Dies aber habe dem Journalismus die verdiente Verachtung eingetragen, denn die öffentliche Meinung sei zu keiner Zeit und bei keinem Volk derart in die Irre gegangen  : C’est pour avoir mis presque tous les personnages de la révolution sur la même ligne  ; c’est pour n’avoir point su distinguer Condorcet de Marat, et Brissot de Robespierre, que le journalisme effronté a recueilli tant de mépris qu’il méritait.17 (…) dans aucun temps et chez aucun peuple, l’opinion ne fut plus erronée, plus malheureuse.18

Den eigentlichen Hintergrund der Sprach- und Glaubwürdigkeitskrise beschreibt L.-S. Mercier ähnlich der Beobachtung Leroux’, wenn er der Nationalversammlung vorwirft, sie habe versucht, unvereinbare Dinge in Einklang zu bringen  : »La grande faute de l’Assemblée nationale fut d’avoir voulu concilier des choses inconciliable.«19 Zeitgenossen in Deutschland, die sehr früh die Ereignisse der Revolution analysieren, verweisen ebenfalls auf eine Kulisse sprachlicher Täuschungen und Manipulationen, die die Französische Revolution umgibt. Die bewusste Reflexion der in der Revolution fortexistierenden Ethikdebatte, samt ihrer politischen Bedeutung, ist dabei mit Händen zu greifen. So benennt A. W. Schlegel in seinen Vorlesungen des Wintersemesters 1801/1802 bestimmte Verfälschungen der Ideen Rousseaus, die auf uns bekannte Muster physiokratischer Sprachmanipulationen zurückverweisen  : (…) es sind Rousseaus Lehren, ausgewässert und gut oder übel mit den ökonomischen Maximen zusammengeknetet. Denn die Sittlichkeit, worauf alles scheinbar abzielt, ist doch nichts anders als ökonomische Brauchbarkeit.20

Dabei erinnert Schlegels kritische Perspektive an eine vergleichbare Sichtweise Kants, worauf auch die mit übereinstimmender Semantik verwendete Bezeichnung »Sittlichkeit« hindeutet. Denn nahezu wortgleich zur Ausdrucksweise Kants kritisiert auch Schlegel deren Gegenstück als »(…) saubere Glückseligkeitslehre, nach welcher sie den Menschen einredeten, die Moral heische nichts 17 Ebenda, S. 37. 18 Ebenda, S. 39. 19 Ebenda, S. 41. 20 A. W. Schlegel, Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters (1803), Stuttgart 1964, S. 59.

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von ihnen als ihren wahren Vorteil.«21 Und in ebendiesem Kant’schen Sinn zielt seine Kritik am »Eigennutz« gleichzeitig auf einen vorgetäuschten »Patriotismus«  : »(…) daß man echten Patriotismus aus dem Eigennutz hervorzulocken gedachte, (…) daß unter der Maske von jenem dieser nur um so ungehinderter sein Spiel treiben konnte.«22 Der deutsche Publizist Ernst Moritz Arndt, der sich nach anfänglicher Begeisterung zum Gegner der Französischen Revolution wandelt, spricht vom »unendlichen Spiel mit Worten und Namen«, von »leerem Wortgeklingel«, die zur Selbsttäuschung des französischen Volkes geführt hätten  : »(…) das Volk meinte aber doch immer noch die Sache der Freiheit und Gleichheit in allen diesen Auftritten zu sehen.«23 Eine wirkliche allgemeine Krise sprachlicher Verständigung, hervorgerufen durch propagandistische Täuschungen und allgegenwärtige Manipulationen, sieht in diesem Zusammenhang Madame de Staël. In ihrem Buch De la littérature, das im Jahre 1800 erscheint, geht ihr Blick dabei weit über die bisher von uns beobachteten Parteiungen und die mit ihnen verbundenen Ambivalenzen des discours révolutionnaire hinaus. Für sie geht es auch um den Verfall der Glaubwürdigkeit patriotischer Bekundungen zur Zeit der staatlichen terreur. In allen Zeitungen und öffentlichen Reden, betont sie, fand man seitenweise »Worte ohne jeden Sinn, ohne Gefühl, ohne Wahrheit, wie eine Art Litanei, als wollte man mit verabredeten Sätzen Eloquenz und Vernunft gleichermaßen exorzieren«.24 Und sie fragt  : Wie sollte man sich gegen so viele absurde, vage, übertriebene oder falsche, hochtrabende oder gemeine Worte auflehnen  ? Wie eine gegenüber so vielen verlogenen Ausdrücken verhärtete Seele wieder erreichen  ? Wie eine vom Irrtum ermüdete und durch so viele Sophismen misstrauisch gewordene Vernunft wieder überzeugen  ?25

Und in die Zukunft blickend, gibt sie zu bedenken  : »Wird diese unglückliche Nation, nachdem sie die Verteidigung aller Verbrechen im Namen aller Tugenden hinnehmen musste, je wieder den Akzent der Wahrheit erkennen  ?«26 21 Ebenda, S. 70. 22 Ebenda, S. 59. 23 E. M. Arndt, Germanien und Europa (1802/1803), Stuttgart, Berlin 1940, S. 176/177. Vgl. auch R. Bach, Arndt und die zeitgenössische politische Theorie in Frankreich. In  : D. Alvermann/I. Garbe (Hrsg.), Ernst Moritz Arndt. Anstöße und Wirkungen. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 59–70. 24 Madame de Staël, De la littérature (1800), Paris 1991, S. 395 (Übersetzung R. Bach). 25 Ebenda, S. 395/396. 26 »Hélas  ! cette nation malheureuse n’a-t-elle pas entendu prodiguer les noms de toutes les vertus

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Auf bestimmte, sehr gravierende zeitgenössische Auswirkungen dieses um sich greifenden allgemeinen Misstrauens gegenüber der Sprache, die doch dem Rationalismus der Aufklärung als Inbegriff und Krönung menschlicher Vernunft gegolten hatte, werden wir im Abschnitt über das romantische Erbe der Aufklärung zurückkommen. Weiterverfolgen werden wir dort auch die tiefgründige Analyse, die Madame de Staël in ihrem Buch De l’Allemagne der mit dem sprachlichen Dilemma engstens verbundenen Ethikdebatte widmet. Erwähnt sei an dieser Stelle noch eine Beobachtung von Friedrich Engels, die er einhundert Jahre nach der Revolution in einem Brief an Kautsky vom 20. Februar 1889 wiedergibt. Dabei interpretiert er den »Sans-culottismus« der Revolution als ein Bündnis zwischen »Bourgeoisie« und »rechtlosen, vogelfreien Plebejern«, das angeblich darauf beruhte, »daß diese Plebejer den revolutionären Forderungen der Bourgeoisie einen Sinn unterlegten, den sie nicht hatten, die Gleichheit und Brüderlichkeit zu extremen Konsequenzen poussierten, die den bürgerlichen Sinn dieser Stichworte total auf den Kopf stellten«.27 Und er schließt  : »(…) daß wie immer – Ironie der Geschichte – diese plebejische Fassung der revolutionären Stichworte der mächtigste Hebel wurde, dieses Gegenteil – die bürgerliche Gleichheit – vor dem Gesetz – und Brüderlichkeit – in der Exploitation – durchzusetzen.«28 Bestätigt und diskutiert wird die Widersprüchlichkeit des discours révolutionnaire auch historiographisch von vielen Autoren, die sich in kritischer Bestandsaufnahme der Französischen Revolution zuwenden. Nicht selten finden sich auch Formen einer als »mittelbar« oder »indirekt« zu bezeichnenden Wahrnehmung, die sich – teilweise mangels Einsicht in das sprachliche Verwirrspiel der Zeit  – im Erstaunen über scheinbare »Paradoxien« oder »Mysterien« der Revolution ausdrücken. So erscheint etwa der auf die Déclaration des Droits von 1789 folgende Streit um deren politische Umsetzung als eines der »Mysterien der Revolution« (»un mystère de la Révolution«).29 Und nicht selten wird der Abbé Sieyès, einer der wichtigsten Akteure der Revolution, als »paradoxer Erbe« der Ideen Rousseaus beschrieben (»Sieyès héritier paradoxal de la doctrine de la volonté générale«),30 während anderen die Déclaration des Droits und die Constitupour défendre tous les crimes  ? Pourra-t-elle encore reconnaître l’accent de la vérité  ?« Ebenda, S. 400 (Übersetzung R. Bach). 27 Marx/Engels, Werke, Bd. 37, Berlin 1967, S. 155 (Hervorhebung R. Bach). 28 Ebenda. 29 M. Gauchet, La Révolution des Droits de l’homme, Paris 1989, S. XIX. 30 L. Ferry/A. Renaut, Philosophie politique 3. Des Droits de l’homme à l’idée républicaine, Paris 1992, S. 91. Vgl. auch »l’inspiration paradoxalement rousseauiste de Sieyès«, ebenda, S. 95.

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tion »paradoxerweise« als sehr nahe angelehnt an Rousseau (»paradoxalement assez proche«) erscheinen.31 Oder aber man bestaunt die scheinbar überraschende Tatsache, dass es die Physiokraten waren, die »den paradoxen und doppeldeutigen Rahmen der politischen Moderne in Frankreich festgelegt haben« (»ils ont fixé le cadre paradoxal et ambigu de la modernité politique en France«).32 Eine hier bereits zitierte jüngere Untersuchung zur politischen Philosophie der Menschenrechte gelangt gar zu dem Schluss, dass deren Deklaration von 1789 »durch ein einzigartiges Paradoxon« bereits die Möglichkeit ihrer Negation einschließt.33 In aller Regel gelten unterschiedliche Standpunkte zeitgenössischer Akteure oder aber widersprüchliche Formen der Rezeption politischer Theorien der Aufklärung, mitunter auch der schlichte damit verbundene Unterschied zwischen Theorie und revolutionärer politischer Praxis als Ursachen der festgestellten verbalen oder begrifflichen Widersprüchlichkeiten. Roger Barny, der sich in mehreren Monographien diesen Widersprüchlichkeiten unter dem besonderen Blickwinkel der Rezeption Rousseaus zuwandte, spricht beispielsweise von einem »offensichtlichen Durcheinander«, einem »désordre apparent que manifeste alors le tableau du rousseauisme«,34 von »zwei antagonistischen Lesarten« Rousseaus (»deux lectures antagonistes«), einem »Konflikt zwischen zwei Lesarten, der sich durch die Revolution zieht«,35 von »zwei unvereinbaren politischen Perspektiven, dem Liberalismus und dem Absolutismus der volonté générale«.36 Von einem »diffusen Rousseauismus« spricht auch B. Baczko37 und Y. Madiot nennt in einem Rapport de synthèse, ohne speziellen Bezug auf die Rezeption Rousseaus, das Jahr 1793 ein »Jahr der Vieldeutigkeiten, der Widersprüche und verlorenen Illusionen« (»C’est l’année des ambiguïtés, des contradictions, des illusions perdues«).38 Ph. Roger spricht gar von einer »organisierten Subversion der Sprache« (»la subversion organisée du langage«), einer »revolutionären 31 Ph. Raynod, Démocratie. In  : F. Furet/M. Ozouf, Dictionnaire critique de la Révolution française, Bd. Idées, Paris 2007, S. 104. 32 P. Rosanvallon, Physiocrates. In  : Ebenda, S. 370. 33 Ferry/Renaut, Philosophie politique, S. 38. 34 R. Barny, L’éclatement révolutionnaire du rousseauisme, Paris 1988, S. 7. 35 R. Barny, Le Droit naturel à l’épreuve de l’Histoire. Jean-Jacques Rousseau dans la Révolution, Paris 1995, S. 246 und 248. 36 Vgl. R. Barny, Les contradictions de l’idéologie révolutionnaire des droits de l’homme (1789–1796), Paris 1993, S. 67. 37 B. Baczko, Rousseau, rousseauismes. In  : Nouvelle Histoire des idées politiques, hrsg. P. Ory, Paris 1987, S. 93–104. 38 Y. Madiot, Rapport de synthèse. In  : Les Déclarations de l’an I. Colloque Poitiers, 2 et 3 décembre 1993, Paris 1995, S. 239–245.

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Vermummung (oder ›Verkleidung‹) der Sprache« (»ce travestissement révolutionnaire du langage«)39 und in ganz ähnlicher Weise beschreibt S. Wahnich in einer gründlichen Analyse revolutionärer Diskurse die Situation als einen »Krieg der Sprechweisen« (»la guerre des langages«, »la lutte des langages«), auch »Krieg der politischen Sprachen« (»Guerre des langages politiques«) oder »Krieg der Narrative« (»la guerre de narrations«)40. Eine deutlich gestiegene Sensibilität einschlägiger Forschungen hinsichtlich der »Sprache(n) der Revolution« signalisieren schließlich auch bestimmte Titel kollektiver Arbeiten wie Langages de la Révolution41 (mit einer Vielzahl wenigstens im Ansatz philologisch unterlegter Einzeluntersuchungen zu den Rubriken Réfléchir le langage42, Analyser le discours43 und Exprimer les concepts44), Les Déclarations de l’an I45, The Languages of Revolution46 oder Les voix de la Révolution47. In diesem Zusammenhang führten Anstöße von François Furet,48 einem der bekanntesten französischen Historiker, auch zu Untersuchungen, die sich zu einem grundlegenden, nämlich sprachkritischen Neuansatz der Forschungen zur Französischen Revolution bekannten.49 Sie zielten vor allem auf einen Beitrag der historischen Semantikforschung, da man historiographische Irrwege sowohl im traditionellen Verkennen ideologischer Sinnverfälschungen in den Quellentexten (»les documents sont souvent le résultat eux-mêmes de manipulations et de luttes«50) als auch in den eingefahrenen Gleisen der Geschichtsschreibung selbst verortete (»un lien émotif … qui contamine aussi toute réflexion«, »grilles interprétatives de l’histoire«51). Resümierend ist jedoch festzustellen, dass ein wissen39 Ph. Roger, Une polémique autour du mot SUJET en 1791. In  : Langages de la Révolution (1770–1815). Actes du 4ème colloque international de lexicologie politique, hrsg. A. Geffroy, Paris 1995, S. 188. 40 S. Wahnich, L’impossible Citoyen. L’étranger dans le discours de la Révolution française, Paris 1997, S. 134/135. 41 Langages de la Révolution (1770–1815). Actes du 4ème colloque international de lexicologie politique, hrsg. A. Geffroy, Paris 1995, 638 S. 42 Ebenda, S. 13–241. 43 Ebenda, S. 245–458. 44 Ebenda, S. 461–638. 45 Les Déclarations de l’an I. Colloque Poitiers, 2 et 3 décembre 1993, Paris 1995. 46 The Languages of Revolution, hrsg. L. V. Mannucci, Mailand 1989. 47 Les voix de la Révolution. Projets pour la démocratie, hrsg. Y. Bosc, S. Wahnich, M. Vovelle, Paris 1990. 48 F. Furet, Penser la Révolution française, Paris 1983. 49 J.-C. Martin, Révolution et Contre-révolution en France de 1789 à 1995. Les rouages de l’histoire, Paris 1996. Vgl. auch ders., Nouvelle histoire de la Révolution française, Paris 2012. 50 Martin, Révolution et Contre-révolution, S. 14. 51 Ebenda, S. 8 und 10.

Zur Genesis semantischer Widersprüche in der Sprache der Revolution 

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schaftlicher Durchbruch, etwa im Sinne der philologisch unterlegten Visionen Skinners52 und seiner Cambridge School der politischen Ideengeschichte,53 ausblieb. Dies aber erscheint vor allem als eine Folge des nahezu vollständigen Ausblendens der politischen Philosophie der Physiokraten aus dem Kontext der politischen Ideengeschichte der Aufklärung, damit auch als eine Folge der Nichtwahrnehmung der beispielsweise von Bentham und Kant in aller Klarheit und Entschiedenheit aufgegriffenen Ethikdebatte der Spätaufklärung. Sowohl das Fehlen kontextgebundener semantischer Analysen der einschlägigen Texte, das heißt der strikten Beachtung der Unterschiede zwischen begrifflicher und formalsprachlicher Ebene der Diskurse, als auch das völlige Ausblenden des vom physiokratischen Liberalismus beherrschten Mainstreams der politischen Ideengeschichte der Spätaufklärung beantwortet mithin die eingangs gestellte Frage nach den Gründen für die Defizite der Forschung. Soweit diese kurze Bilanz zu einigen Formen, in denen die Wahrnehmung des sprachlichen Dilemmas der Französischen Revolution bekundet ist. Dessen belegbares Zustandekommen durch den Sprachgebrauch maßgeblicher Akteure der Revolution soll im Folgenden näher untersucht werden. 13.3 Zur Genesis semantischer Widersprüche in der Sprache der Revolution 13.3.1 Der revolutionäre Diskurs des physiokratischen Liberalismus 13.3.1.1 Rekapitulierende Bemerkungen zur Situation im Vorfeld der Revolution

Zunächst sei daran erinnert, dass der politische Diskurs des physiokratischen Liberalismus bereits seit 1767, dem Erscheinungsjahr des Ordre naturel et essentiel von Le Mercier, die Auseinandersetzung mit den Positionen Rousseaus zum ritualisierten Bestandteil seiner Selbstvergewisserung erhoben hatte. Gleichwohl wurden die einschlägigen Formulierungen Rousseaus via Umdeutung der relevanten Begriffe in den eigenen Diskurs übernommen. Die unmittelbare Bezugnahme auf den Autor selbst war dabei zunächst überwiegend kritisch, wenn seine Lehre etwa typischerweise als ebenso hoch angesehen wie gefährlich zurückgewiesen wird (»faire voir tout le faux d’un systême fort accrédité«54). Diese Art 52 Skinner, Visionen des Politischen. 53 M. Mulsow/A. Mahler, Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin 2010. 54 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 128.

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der Bezugnahme auf den Autor wandelt sich indessen, im Gefolge der Usurpierung seiner politischen Sprache, zunehmend auch in eine Vereinnahmung seines Namens. Le Mercier hatte diese Wandlung bereits 1776 in seinem Traktat zur instruction publique mit der lobenden Erwähnung des »Auteur de l’Emile« vollzogen.55 Eine ganz ähnliche Beobachtung gilt auch für den Umgang mit Montesquieu als einer weiteren Autorität des zeitgenössischen politischen Diskurses, wobei man sich hier auf die unter dem irreführenden Begriff der Gewaltenteilung bekannt gewordene These eines Ausbalancierens politischer Macht beschränkt. Denn auch Montesquieus strategische Überlegung, jeglichen Missbrauch politischer Macht durch ein Ausbalancieren von Machtstrukturen auf allen relevanten Ebenen zu verhindern (»que le pouvoir arrète le pouvoir«), gründete auf der Annahme autonomer politischer Willensbildung. Mit der physiokratischen Doktrin eines apriorischen und lediglich via évidence in den sozialpolitischen Raum zu übertragenden ordre naturel ist dieser Kerngedanke der politischen Philosophie Montesquieus ebenso unvereinbar wie die Idee des politischen Gemeinwillens (volonté générale) von Rousseau. Deshalb galt für den politischen Diskurs des physiokratischen Liberalismus auch hinsichtlich der Theorie Montesquieus seit Quesnay – wie wir in den vorangehenden Analysen bereits dokumentieren konnten – eine ritualisierte Formel, nämlich die, dass es sich beim so genannten »système des contreforces«, dem »System der Gegenkräfte«, um eine »opinion funeste«, eine »verhängnisvolle Ansicht«, handele.56 Gleichwohl wird auch der Name Montesquieus alsbald positiv vereinnahmt, wie wir bereits in der Analyse der physiokratischen Zeitschrift Ephémérides du citoyen sehen konnten. Auf diese Weise gestaltete sich bereits der vorrevolutionäre politische Diskurs des physiokratischen Liberalismus – im Sinne Quentin Skinners – über weite Strecken als eine Replik entlang einer Reihe populär gewordener naturrechtlicher und republikanischer Ideen, deren politischer Formelsprache man sich mit veränderter Semantik und Begrifflichkeit bemächtigte, um die eigenen alternativen Botschaften zu vermitteln. Diese aber zielten, wie wir gesehen haben, mit ultimativem Geltungsanspruch auf die Durchsetzung einer rein marktwirtschaftlichen Ordnung, als deren ideologische Hauptstütze die von Quesnay 1765 naturrechtlich begründeten, so genannten Menschenrechte propagiert werden. Vor allem dem Vorbild Rousseaus folgend, berief sich seither auch der physiokratische Liberalismus auf kommunitaristische Begriffe wie das Gemeininteresse oder einen politischen Gemeinwillen, ohne dabei auf die Propagierung eines in der 55 Le Mercier, De l’Instruction Publique, S. 111. 56 Quesnay, Physiocratie, S. 237.

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Schöpfung vorgegebenen ordre naturel als einzig möglicher politischer Ordnung mit universeller Gültigkeit zu verzichten. Vor diesem Hintergrund ließen entsprechende Formulierungen eines »intérêt commun de la nation«57, einer »volonté commune«58 oder einer »réunion des volontés«59 in physiokratisch inspirierten Texten – oberflächlich betrachtet – nicht mehr erkennen, dass es sich dabei ursprünglich um vollkommen andere Konzepte, andere Begrifflichkeiten handelt, als dies bei Rousseau der Fall war. Erst bei näherem Hinsehen wurde die begriffliche Inkompatibilität zu den wortgleichen oder nahezu wortgleichen Formulierungen Rousseaus deutlich. Auch ließ der physiokratisch-liberale Diskurs, trotz dieser kommunitaristischen Verbrämung, keinen Zweifel an der unbedingten Priorität des Partikularinteresses aufkommen, ebenso wenig an der Verabsolutierung des »droit de propriété«, des Eigentumsrechts, das – in diesem politischen Diskurs – sogar dem Freiheitsbegriff gleichgestellt, zum Dreh- und Angelpunkt aller sozialen Beziehungen erhoben wurde. Die immer gleichlautenden »Richtigstellungen« des Verhältnisses von Partikular- und Gemeininteresse, mit denen man die Auffassungen Rousseaus »korrigierte« (und dabei persiflierend und verfälschend die relevanten Aussagen seiner Schriften kolportierte), gehörten seither ebenso zum sprachlichen Ritual des physiokratischen Liberalismus wie die utilitaristische »Aufklärung« zum Zusammenhang von Tugend und Nützlichkeit oder die ebenfalls stereotypen Abgrenzungen gegenüber einem »falschen Verständnis« der Begriffe égalité und liberté. So kann zusammenfassend festgestellt werden, dass die seit den späten sechziger Jahren immer stärker in republikanischen Formulierungen daherkommenden Ideen des physiokratischen Liberalismus auch den Beginn der Revolution beeinflussen, verbreitet – unter anderem – durch eine Flut der bereits erwähnten, so genannten Catéchismes sowie durch die auflagenstarke physiokratische Zeitschrift Ephémérides du citoyen und eine unübersehbare Zahl verschiedenster Einzelpublikationen. 13.3.1.2 Äußerungsformen des physiokratischen Liberalismus in der Revolution

Die erste bedeutende Willensbekundung der Französischen Revolution, die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (Erklärung der Menschen- und Bür­gerrechte) vom 26. August 1789 durch die sich konstituierende Assemblée na57 Ebenda, S. 356/357. 58 Ebenda, S. 132. 59 Ebenda, S. 111.

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tionale, ist  – trotz erstaunlicher Ähnlichkeiten mit der revolutionären Sprache und Diktion des Contrat social – nicht die Stunde Rousseaus,60 noch weniger die Stunde Montesquieus oder anderer reformorientierter Geister der Aufklärung. Zunächst einmal ist sie die Stunde der von der Geschichtsschreibung totgesagten Physiokraten,61 genauer gesagt die Stunde des physiokratischen Liberalismus. Denn im Unterschied zu allen anderen reformorientierten Theorien zielte die politische Programmatik der Physiokraten (»la science générale du gouvernement«, wie Quesnay sie genannt hatte62) von Anfang an, expressis verbis, auf jene feierliche Erklärung der Rechte (Déclaration des Droits), die mit dem Dreiklang der erst im physiokratischen (!) Naturrecht Quesnays begründeten, so genannten Menschenrechte (»droits de l’homme«), hier zunächst Propriété – Sureté – Liberté, den politischen Systemwechsel besiegeln sollte. »EIGENTUM, SICHERHEIT, FREIHEIT«, so lesen wir in groß herausgehobenen Lettern bereits bei Le Mercier im Jahre 1767, repräsentierten »die ganze gesellschaftliche Ordnung«.63 »PROPRIÉTÉ, SURETÉ, LIBERTÉ, voilà donc l’ordre social dans tout son entier«.64 In nur leicht abgewandelter Form oder Reihenfolge war dies seither der politische Kernsatz jeglicher Kundgebung physiokratischer Autoren. Die gesamte Gesetzgebung, so hatte auch Quesnay 1765 in seinem Droit Naturel, der physiokratischen Fassung des Naturrechts, erklärt, bestünde in der »déclaration des lois naturelles  …«, genauer gesagt in der Deklaration derjenigen »Naturgesetze, 60 Ein Faktum, dass in der Forschung immer wieder neu mit einiger Überraschung zur Kenntnis genommen wurde. Vgl.: »(…) la Déclaration. En la considérant autrefois comme plutôt rousseauiste, j’avais la conviction d’aller à l’essentiel (…). Des études ultérieures m’ont conduit (…) à me persuader (…) (que) la simplicité apparente masque souvent un piège. (..) L’économie de la Déclaration comme sa dynamique (…) ne sont pas celles du Contrat social. Elles empruntent infiniment plus à Locke qu’à Jean-Jacques.« Rials, La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, S. 13. Was Rials dennoch übersieht  : Es ist nicht der Einfluss Lockes, der die Déclaration prägt, sondern derjenige der Physiokraten, die den modernen Liberalismus weitaus stärker prägen als Locke. Da sie jedoch in der politischen Ideengeschichte »übersehen« wurden, geht der Hinweis auf Locke zumindest in die richtige Richtung. 61 Die traditionelle Geschichtsschreibung verharrt in dieser Hinsicht in der ideologischen Befangenheit der Arbeiten des französischen Historikers Weulersse aus dem Jahre 1910, die wir bereits vorgestellt haben. Man rechnet die Physiokraten immer noch nicht zur »politischen Ideengeschichte«. In deutlichen Worten kritisierte zuletzt Bernard Herencia die damit verbundene und bereits bei Weulersse angelegte »Marginalisierung Lemerciers«. Vgl. B. Herencia, Paul Pierre Lemercier de la Rivière  : Canevas d’un Code Constitutionnel. Œuvres Politiques (1787–1789), Paris 2011, S. 12–16. 62 Quesnay, Maximes générales. In  : Quesnay, Physiocratie, S. 238. 63 Ebenda, S. 448  : »PROPRIÉTÉ, SURETÉ, LIBERTÉ, voilà donc l’ordre social dans tout son entier« (Hervorhebung im Original). 64 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 448 (Hervorhebung im Original  !).

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die die vorteilhafteste Gesellschaftsordnung konstituieren«.65 Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch der auf die Beherrschung der opinion publique, der öffentlichen Meinung, gerichtete Sinnzusammenhang zwischen der geforderten Déclaration solennelle des droits (einer feierlichen Erklärung der Rechte) und dem für die physiokratische Propaganda so typischen Insistieren auf der so genannten instruction publique. Denn diese vorteilhafteste Gesellschaftsordnung für jeden Bürger einsichtig (évident) zu machen, das heißt hierfür die »öffentliche Meinung« (opinion publique) zu gewinnen, war bekanntlich die erklärte und vordringlichste Aufgabe der instruction publique, weshalb bereits Quesnay deren Institutionalisierung zum »ersten positiven Gesetz«, gar zum »fundamentalen Gesetz« schlechthin erklärte, auf dem alle anderen positiven Gesetze gründen sollten  : »La première loi positive, la loi fondamentale de toutes les autres lois positives, est l’institution de l’instruction publique et privée des lois de l’ordre naturel …«66 Und genau im Sinne dieser Ideologie des physiokratischen Liberalismus verdichten sich die republikanischen Stellungnahmen bereits im unmittelbaren Vorfeld der Revolution und prägen deren Beginn. Der Zeitzeuge Buonarroti spricht nicht zu Unrecht von der großen Zahl derjenigen, »die sich unter dem Banner der Republik versammelten« (»ceux qui se rangeaient alors sous les bannières de la république«67), dabei jedoch, infolge unüberbrückbarer Differenzen (»différences essentielles«), gänzlich unterschiedliche Ziele verfolgten. Und wieder ist es Le Mercier, dessen Lettre sur les économistes68 direkt in die verbale Kampagne des sich abzeichnenden Umbruchs hineinführt. Getragen vom zeitgemäßen Tenor der verbalen Betonung eines inhaltlich wenig oder gar nicht spezifizierten Gemeinwohls, Gemeininteresses oder Gemeininteresses der Nation (»intérêt commun de la nation«) als »einziger und ausschließlicher politischer Bindung« und »Grundlage jeder Gesellschaft« (»L’intérêt commun étant le seul et unique lien politique, le fondement de toute société«69), finden wir in dieser Schrift die gesamte physiokratische Ideologie ohne die geringsten Abstriche wieder. Entsprechend steht hinter diesem kommunitaristisch anmutenden 65 »La législation positive consiste donc dans la déclaration des lois naturelles constitutives de l’ordre évidemment le plus avantageux possible aux hommes réunis en société.« Quesnay, Physiocratie, S. 84. 66 Ebenda. 67 Buonarroti, Conspiration pour l’Égalité, dite de Babeuf, Bd. I, S. 25. 68 Le Mercier, Lettres sur les économistes (1787) (in einer ersten Auflage bereits 1775 erschienen und anlässlich des Zusammentretens der »Assemblée des Notables« im Jahre 1787 in vierter Auflage herausgegeben). 69 Le Mercier, Lettres sur les économistes (1787). In  : Herencia, Paul Pierre Lemercier de la Rivière, S. 47.

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Bekenntnis vor allem ein umfassendes und leidenschaftliches Plädoyer für die alles beherrschende Stellung des Eigentumsrechts, das »notwendigerweise« als das eigentliche »Grundgesetz der Gesellschaft« und das »gemeinsame Recht aller ihrer Mitglieder« begriffen wird und daher die »Gesetzgebung« wie auch die »öffentliche Ordnung« prägen soll  : [L]a loi de propriété devient nécessairement la loi fondamentale d’une société, le droit commun de tous ses membres.70 [L]’institution du droit de propriété, l’institution d’une législation et d’un ordre public, qui puissent maintenir constamment ce droit dans toute sa plénitude en faveur de chaque citoyen.71

Dass dieses Eigentumsrecht in den Augen der Physiokraten folgerichtig über jeder politischen Bindung oder sozialen Verpflichtung, folgerichtig also auch über jedem »Gemeininteresse der Nation« steht, macht Le Mercier  – analog zu der bereits 1758 von Quesnay getroffenen Aussage – am Beispiel der Barvermögen unmissverständlich klar. Diese Barvermögen (»sommes accumulées ainsi dans leurs coffres«, »richesses«), wie groß auch immer »die in privaten Tresoren akkumulierten Summen« sein mögen, sind – wenngleich im Staat erworben – nicht Eigentum des Staates. Vielmehr sind sie »kosmopolitisch« und »kennen kein Vaterland«  : Quelles que soient les sommes accumulées ainsi dans leurs coffres (…) ces sortes de fortunes, quoiqu’elles soient des richesses dans l’État, n’appartiennent pas à l’État. Cosmopolites par leur nature, elles n’ont point de patrie qui leur soit propre et particulière.72

Und so stehen die herkömmlichen physiokratischen Forderungen unvermittelt im Kontext all jener verbalen Bekenntnisse, die einem alternativen, mit diesen Positionen unvereinbaren politischen Diskurs entlehnt wurden. Einerseits also die Forderung nach politischer Umsetzung der physiokratischen Lesart eines ordre naturel, den man ohne Übertreibung in seiner Kompromisslosigkeit eine Diktatur des Marktes nennen kann, geprägt durch die alles beherrschende Stellung des Eigentumsrechts sowie die Gewährleistung »uneingeschränkter Konkurrenz« (»la plus grande concurrence possible«73) und »freien Handels« (»liberté 70 Ebenda, S. 63. 71 Ebenda, S. 48. 72 Ebenda, S. 55 (Hervorhebung R. Bach). 73 Ebenda, S. 51.

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du Commerce«). Andererseits republikanisch-demokratische Bekenntnisse der verschiedensten Art, die sich verbal allesamt an der Priorität des Gemeinwohls und des Gemeininteresses orientieren, bis hin zu der ethischen Forderung, wonach sich alle gesellschaftliche Tugend und Gerechtigkeit an der Übereinstimmung mit dem Gemeininteresse zu bemessen hätte  : »(…) dans l’ordre des choses humaines, rien n’est vertueux s’il n’est juste, rien n’est juste s’il n’est conforme à l’intérêt commun.«74 Bemerkenswert erscheint auch, dass Le Mercier den republikanischen Drei­ klang von propriété, liberté, sûreté zugunsten der propagandistisch wirksamen und für die Revolution unverzichtbaren égalité, also der Gleichheitsforderung erweitert  : »(…) le germe de l’abondance sera toujours le droit de propriété (…). Le second avantage est la liberté, le troisième, la sûreté, et le quatrième, l’égalité«.75 Die sich anschließende Relativierung »égaux dans le fait (…) égaux dans le droit«76, mit der ein klarer Trennungsstrich zwischen – so wörtlich – faktischer und rechtlicher Gleichheit gezogen wird, steht dann wieder im Einklang mit einer – in altbekannter Weise – auf irreführende Klischees zurückgreifenden Abgrenzung gegenüber der Philosophie Rousseaus  : »Un des plus beaux génie de notre siècle a déployé toute son éloquence, pour nous prouver que les progrès des Sciences ont occasionné les progrès de la corruption.«77 Inhalt und Diktion dieses programmatischen Textes von Le Mercier,78 insbesondere die verbal starke Hervorkehrung des Gemeininteresses, gepaart mit dem um die Gleichheitsforderung erweiterten Fanal des republikanischen Diskurses (propriété, liberté, sûreté, égalité), verfehlen durchaus nicht ihre Wirkung. So beschreibt auch Condorcet, ein überzeugter Anhänger des physiokratischen Liberalismus und enger Vertrauter des Abbé Sieyès in seiner Schrift Idées sur le despotisme, ebenfalls nur wenige Monate vor dem Ausbruch der Revolution, die feierlich zu erklärenden Rechte bereits unter Einschluss dieser für den politischen Diskurs der Revolution typischen Gleichheitsforderung  : »Les droits naturels de l’homme sont  : 1. la sûreté et la liberté de sa personne  ; 2. la sûreté et la liberté de ses propriétés  ; 3. l’égalité«.79 74 Ebenda, S. 48. 75 Ebenda, S. 49 (Hervorhebung R. Bach). 76 Ebenda, S. 51 (Hervorhebung im Original). 77 Ebenda, S. 47. 78 B. Herencia, der diese aktuelle kritische Textausgabe besorgte, nennt ihn »un texte important (…) une synthèse destinée à vulgariser la pensée physiocratique, un ›ouvrage doctrinal‹«, ebenda, S. 16. 79 Ebenda, S. 166. »Die natürlichen Rechte des Menschen sind  : 1. die Sicherheit und Freiheit der Person  ; 2. die Sicherheit und Freiheit seines Eigentums  ; 3. die Gleichheit.« (Übersetzung R. Bach).

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Und genau nach dem Vorbild Le Merciers erfolgt auch hier eine förmliche »Erläuterung«, die das verkündete Gleichheitsgebot mit dem Fortbestehen der natürlichen Ungleichheit in Einklang bringen soll  : Lediglich das letzte dieser Rechte bedarf einer Erläuterung. (…) die Ungleichheit der Reichtümer widerspricht nicht dem Naturrecht  ; sie ist eine notwendige Folge des Rechts auf Eigentum, da dieses Recht, das den freien Gebrauch des Eigentums einschließt, folglich die Freiheit verbürgt, die Reichtümer unbegrenzt anzuhäufen.80

Schließlich fordert auch Condorcet nachdrücklich eine ›feierliche Erklärung der Menschenrechte‹ durch die »assemblée des représentants de la nation«  : Das einzige Mittel, der Tyrannei, das heißt der Verletzung der Menschenrechte vorzubeugen, besteht darin, alle diese Rechte in einer Erklärung zu versammeln, sie dort mit großer Klarheit und im Detail vorzustellen, diese Erklärung feierlich zu veröffentlichen und dafür zu sorgen, dass die legislative Gewalt, wie immer sie auch konstituiert sei, nichts wird verfügen können, dass auch nur einem dieser Artikel zuwiderliefe.81

Ganz ähnliche Worte und Ansichten finden sich auch in einer von Pierre-Louis Roederer, einem originellen Hardliner des physiokratischen Liberalismus, bereits im November 1788 veröffentlichten Abhandlung, in der – bereits zu diesem Zeitpunkt – eine verfassungsgebende Nationalversammlung im Zeichen der längst standardisierten physiokratischen Schlagworte eingefordert wird.82 Für Roederer gelten sie in der Reihenfolge sûreté – propriété – liberté – égalité (»L’idée de sûreté renferme celle de propriété […]. L’idée de sûreté renferme celle de liberté.«83 »L’égalité n’est qu’une condition de la liberté.«84). Auch hier folgt im gleichen Kontext die übliche den Begriff der égalité einschränkende und von jeder »physischen, moralischen und zivilen Parität« abstrahierende Erläuterung. Gleichwohl sei es die Aufgabe einer assemblée nationale, auch als »assemblée vraiment nati80 Ebenda. »Le dernier de ces droits a seul besoin d’être expliqué …« (Übersetzung R. Bach). 81 Condorcet, Idées sur le despotisme, Paris 1789, S. 165 »XVIII. Le seul moyen de prévenir la tyrannie, c’est-à-dire, la violation des droits des hommes, est de réunir tous ces droits dans une déclaration, de les y exposer avec clarté dans un grand détail, de publier cette déclaration avec solennité, en y établissant que la puissance législatice ne pourra, sous quelque forme qu’elle soit instituée, rien ordonner de contraire à aucun de ces articles.« (Übersetzung R. Bach). 82 P.-L. Roederer, De la Députation aux États Généraux, Paris 1788. 83 Ebenda, S. 6 (Hervorhebungen im Original). 84 Ebenda, S. 7 (Hervorhebung im Original).

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onale« bezeichnet, der »Nation ihre Autorität zurückzugeben« (»que la nation rentre dans son autorité«85) und ihr, im Namen des politischen Gemeinwillens (hier als »union des volontés«, »toutes les volontés réunies« bezeichnet) sowie unter Berufung auf Locke, Rousseau und Montesquieu, »eine Verfassung zu geben« (»donner une constitution«86). Der in dieser Wortwahl antizipierte Begriff eines ›politischen Gemeinwillens‹, der wiederum auf den politischen Diskurs des Contrat social von Rousseau zurückverweist, wird mittels synonymischer ›Richtigstellung‹ als »jugement de la pluralité«, also »Mehrheitsentscheid«, in den Diskurs des physiokratischen Liberalismus eingegliedert. Doch selbst diese in einem ›liberalen‹ Sinn ›demokratische‹ Forderung kontrastiert mit dem Beharren auf der Errichtung eines »ordre éternel«,87 einer »ewigen Ordnung«, hinter der sich der bekannte physiokratische Begriff des »ordre naturel«, also einer um den Begriff des Eigentums kreisenden, marktwirtschaftlichen Ordnung verbirgt. Interessanterweise greift Roederer in diesem Traktat den später von Sieyès entwickelten Vorstellungen einer »repräsentativen Demokratie« bereits insoweit vor, als er nicht nur eine »Repräsentation« des ›politischen Gemeinwillens‹ fordert, sondern darüber hinaus den gewählten Vertretern der Nation jeweils »unbeschränkte Vollmacht« zugesteht  : »il est de l’essence de la représentation que le représentant ait des pouvoirs indefinis«.88 Die in der jüngeren Forschung häufig hervorgehobene Originalität der politischen Leistung des Abbé Sieyès ist also nicht nur im Hinblick auf die Übernahme klassischer physiokratischer Ideen zu hinterfragen,89 sondern – wie dieses Beispiel zeigt –, auch im Hinblick auf die Konzipierung konkreter Vorstellungen zur »repräsentativen Demokratie«.90 Verwiesen sei an dieser Stelle schließlich auch darauf, dass Roederer hier bereits ausführlich den Begriff der ›wohlverstandenen Eigeninteressen‹ (»intérêts bien entendus«) erläutert und prägt, wie er von der physiokratisch-liberalen Fraktion seit Beginn der Revolution zunehmend in die Ethikdebatte hineingetragen wird. Dies alles letztendlich vor dem Hintergrund eines Bekenntnisses 85 Ebenda, S. 9. 86 Ebenda, S. 10. 87 Ebenda, S. 18. 88 Ebenda, S. 18. 89 Vgl. R. Bach, Sieyès et les origines de la »science naturelle de l’état social«, https://revolution-francaise. net/2008/12/27/275-sieyes-origines-science-naturelle-etat-social (letzter Zugriff  : 12. April 2018). 90 Vgl. u. a. J.-D. Bredin, Sieyès. La clé de la Révolution française, Paris 1988. P. Pasquino, Sieyès et l’invention de la Constitution en France, Paris 1998. J. Guilhaumou, Sieyès et l’ordre de la langue. L’invention de la politique moderne, Paris 2002.

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zu den Physiokraten und ihrer Überzeugung von der »ewigen Herrschaft der ökonomischen und politischen Wahrheiten« (»le règne éternel des vérités économiques et politiques«).91 Sie hätten demnach lediglich den Fehler begangen, auf die selbsttätige Durchsetzungskraft der Evidenz, ihren despotisme de l’évidence, zu vertrauen, anstatt der »Vielzahl falscher und nebulöser Ideen« mit geeigneten praktischen »Demonstrationen« zu begegnen92. Doch der zweifellos originellste und berühmteste Propagandist der politischen Ideen des physiokratischen Liberalismus an diesem unmittelbaren Vorabend des revolutionären Umbruchs ist der Abbé Sieyès.93 In seiner im Januar 1789 veröffentlichten Schrift Qu’est-ce que le Tiers État  ? vollendet er die sprachliche Fusion zwischen dem liberalen und dem demokratischen Diskurs. Er geht dabei insofern einen Schritt weiter, als er die in beiden Denkrichtungen angelegte Überwindung der Feudalstaatlichkeit explizit herausarbeitet und dies in einem revolutionären republikanischen Diskurs zum Ausdruck bringt. Zu Recht gilt daher sein politisches Manifest Qu’est-ce que le Tiers État  ?, Was ist der Dritte Stand  ?, als eine der radikalsten Schriften der beginnenden revolutionären Umbruchsphase. Dessen ungeachtet bleibt aber auch in diesem Diskurs die politische Ambivalenz, wie sie sich aus der eben nur formal sprachlichen, nicht inhaltlich begrifflichen Fusion der beiden – hinsichtlich der intendierten Überwindung der Feudalstaatlichkeit gleichermaßen revolutionären – Denkrichtungen ergibt, weiter bestehen. Denn abgesehen von der formal sprachlich äußerst engen Anlehnung an Rousseau ist es auf der inhaltlichen Seite vor allem das physiokratische Konzept der Nation, samt seinem liberal-ökonomischen Nützlichkeitsgebot und seiner utilitaristischen Ethik, das von Sieyès politisch verabsolutiert und nunmehr zum Ausschlusskriterium für die zum Parasiten erklärte »Adelskaste« erhoben wird. Der Rückgriff auf das physiokratische Konzept der Nation erklärt auch die frappierende Ähnlichkeit, die zwischen den jeweils einführenden Abschnitten des Le-Mercier-Textes von 1767 und des Sieyès-Textes vom Januar 1789 zu beobachten ist. Wir erinnern uns  : Seit dem Erscheinen des Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques von Le Mercier im Jahre 1767 wurde den politischen Forderungen des physiokratischen Liberalismus prinzipiell eine sozialökonomische Analyse der 91 Roederer, De la Députation aux États Généraux, S. 19. 92 Ebenda (Hervorhebungen im Original). 93 Die Tatsache, dass sich Sieyès in seinen 1775 verfassten, damals jedoch unveröffentlicht gebliebenen Lettres aux économistes kritisch mit vermeintlichen physiokratischen Irrtümern auseinandersetzte, (vgl. Sieyès, E.-J.: Ecrits politiques. 1994, S. 25–43.) ist – entgegen anders lautender Lehrmeinungen  – kein Beleg für seine Abkehr vom physiokratischen Liberalimus. Vielmehr ist der abbé, wie wir sehen werden, einer seiner geschicktesten Propagandisten.

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als Nation begriffenen Gesellschaft zugrunde gelegt und das Hierarchiemodell der Stände durch ein ökonomisches Funktionsmodell interagierender Klassen ersetzt. Diese Klassentheorie, in der sich die Moralphilosophie von Helvétius94 mit der Soziologie der Physiokraten trifft, definierte nicht nur die jeweiligen ökonomischen Interessen der eben danach zu unterscheidenden Klassen, sondern gleichzeitig ein allen gemeinsames, im nationalen Rahmen übergeordnetes Bestreben. Danach finden die genuin gegenläufigen Ziele dieser Klassen, beispielsweise Steigerung des Profits versus Lohnerhöhung (»accroître les revenus« – »augmenter les salaires«), angeblich ihren Nenner im gemeinsamen Interesse (intérêt commun) an einer ständigen Steigerung der Reproduktion und der Konsumtion  : (»la plus grande reproduction, et la plus grande consommation possible de toutes les richesses qui doivent entrer dans le commerce«95). Somit versprach das soziologische Modell einer physiokratisch liberal ausgerichteten Gesellschaft gleichzeitig die Harmonisierung der ökonomischen und politischen Interessen aller am Reproduktionsprozess beteiligten Klassen durch den allgegenwärtigen Tauschhandel (»le bonheur des uns ne peut s’accroître que par le bonheur des autres«96). Bedeutungsvoll für die politische Ideengeschichte war dabei insbesondere die Tatsache – auch daran sei erinnert –, dass die Physiokraten erstmals Politik konsequent aus der Perspektive der Ökonomie definierten, ökonomische Interessen als einzig legitime Grundlage politischen Handelns begriffen. Le Mercier, der die erste systematische und umfassende Programmschrift dieser neuen Wissenschaft der physiokratisch verstandenen économie politique (»Une science nouvelle«97) erarbeitet hatte, betonte aus genau diesem Grund, dass sich »System und Sprache der Politik ändern werden« (»la politique changera de systême et de langage«98). Gemessen an der Radikalität der Sieyès-Schrift, mag es nun trügerisch erscheinen (und in der Tat verwirrt es bis heute die historiographische Analyse), 94 Hier sei daran erinnert, dass die zentrale Aussage der wesentlich durch Helvétius in seinem Buch De l’Esprit von 1758 begründeten atheistischen Ethik des modernen Utilitarismus darin bestand, einen naturgesetzlichen Determinismus allen menschlichen Handelns und aller menschlichen Moral im Sinne ihrer prinzipiellen Abhängigkeit vom jeweiligen Interesse zu postulieren. Der zentrale Satz, mit dem Helvétius in diesem Buch auf die von Locke entwickelte Forderung nach einer empirisch gestützen Naturwissenschaft vom Menschen reagiert, lautet  : »Si l’Univers physique est soumis aux lois du mouvement, l’Univers moral ne l’est pas moins à celles de l’intérêt.« Helvétius, De l’Esprit, Paris 1988, S. 59. 95 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 10. 96 Ebenda, S. 12. 97 Dupont de Nemours, De l’origine et des progrès d’une SCIENCE NOUVELLE, Paris 1768 (Hervorhebung im Original). 98 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 333.

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dass das physiokratische Klassenmodell, wie es Le Mercier präsentiert, noch den Einschluss der feudalen Obrigkeit vorsah. Denn er hatte, nach ökonomischen Interessen, gewissermaßen paritätisch unterschieden zwischen den »Königen« (»les intérêts des Rois«), den »Grundbesitzern« (»les propriétaires des terres«), der »Klasse, die ihre Arbeit verkauft« (»la classe qui vend ses travaux«), dem Klerus (»les Ministres des autels«) und den »Händlern« (»les Commerçants«).99 Man darf jedoch zwei Dinge dabei nicht vergessen  : Zum einen wurde schon in Le Merciers Klassenmodell der politische Spielraum des Staates im Namen des »legalen Despotismus« auf die Umsetzung des ordre naturel reduziert  : Der Einsicht (évidence) in die natürliche, nämlich marktwirtschaftliche Ordnung folgend, sollte der Staat lediglich die »heilige Einhaltung der Gesetze« (dieser marktwirtschaftlichen Ordnung) garantieren (»le maintien religieux des loix«100), was im Klartext den Schutz des Eigentums sowie die Garantie freier Konkurrenz meinte. Und zum anderen war mit dieser Funktionszuweisung auch die Einbindung der feudalstaatlichen Obrigkeit in das Nützlichkeitsgebot des physiokratischen Klassenmodells der Gesellschaft gegeben. Zieht man vor diesem Hintergrund den Vergleich zur Flugschrift des Abbé Sieyès von 1789, so wird deutlich, dass deren radikalpolitische Argumentation nur einen  – politisch allerdings entscheidenden  – Schritt über das physiokratische Modell Le Merciers hinausgeht. Denn genau wie Le Mercier stellt Sieyès zunächst das sozialökonomische Modell einer nach differenzierter Teilhabe am Reproduktionsprozess gegliederten Klassengesellschaft an den Anfang seiner Argumentation.101 Nach dem Kriterium der Nützlichkeit unterscheidet er sodann – auch hierin im Wesentlichen der Analyse Le Merciers folgend – zwischen einer »ersten Klasse« (»première classe«), die mit landwirtschaftlicher Produktion befasst ist (»travaux de campagne«), einer »zweiten Klasse« (»seconde classe«) der »verarbeitenden Industrie« (»industrie humaine«) und einer dritten Klasse, die er im weitesten Sinne als Händler oder Vermittler »zwischen Produktion und Konsumtion« (»les marchands et les négociants (…) entre la production et la consommation«) ansiedelt. Und um den gemeinsamen Nenner dieser drei Klassen, nämlich ihre politisch bedeutsam gewordene, staatstragende Nützlichkeit hervorzuheben, fasst Sieyès diesen Teil der Nation in der Bezeichnung »trois classes  99 Ebenda, S. 9/10. 100 Ebenda, S. 193. 101 Vgl. Sieyès in seinen Delineamens politiques  : »il fallait commencer par diviser la nation en autant de grandes classes qu’il y a d’intérêts bien distincts«. In  : Des manuscrits de Sieyès. 1773–1799, hrsg. Chr. Fauré, Paris 1999, S. 243.

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de citoyens laborieux et utiles«102 (»drei Klassen arbeitsamer und nützlicher Bürger«) nochmals zusammen. Ergänzend spricht er von einer »vierten (nützlichen) Klasse« (»une quatrième classe«), die man wohl, einer modernen Ausdrucksweise folgend, im weitesten Sinne dem ›Dienstleistungssektor‹ zurechnen könnte (»professions scientifiques et libérales … jusqu’aux services domestiques«). Sieyès’ revolutionäre Schlussfolgerung besteht nun darin, diesen im gegenseitigen Nutzen verbundenen Teil der Gesellschaft, nach herkömmlicher Lesart also den Dritten Stand, im politischen Sinn als abgeschlossene Nation zu begreifen und ihn als solchen dem durch Schmarotzertum (»fainéantise«) gekennzeichneten nicht nützlichen Teil der Gesellschaft, also dem »ordre privilégié« gegenüberzustellen. Provozierend verwendet Sieyès für diesen »privilegierten Stand« obendrein die pejorative Bezeichnung »Adelskaste« (»la caste des nobles«).103 Agitatorisch brisant wird dieses Ausschlussverfahren aber vor allem dadurch, dass Sieyès die politische Autonomie der solcherart verbal aus dem Dritten Stand konstituierten Nation de facto in der revolutionären Sprache des Contrat social von Rousseau einfordert. Explizit beruft er sich auf die volonté générale (den politischen Gemeinwillen) des Volkes oder der Nation, explizit identifiziert er die Legislative mit diesem politischen Gemeinwillen (»la loi est l’expression de la volonté générale«), explizit erhebt er das Gemeininteresse (l’intérêt général, grand intérêt national) zum politischen Ziel der volonté générale, explizit beruft er sich auf die Unveräußerlichkeit des politischen Gemeinwillens der Nation (»une nation ne peut ni aliéner, ni s’interdire le droit de vouloir«), explizit spricht er gar von einem contrat social im Namen der Freiheit des Volkes und explizit übernimmt er den revolutionären Gedanken Rousseaus, wonach der politische Wille des Volkes (hier der Nation) keiner besonderen Form bedarf, um sich zu artikulieren und zu jeder Zeit seine Gültigkeit als souveräne Macht einzufordern104  : »De quelque manière qu’une nation veuille, il suffit qu’elle veuille  ; toutes les formes sont bonnes, et sa volonté est toujours la loi suprême.«105 Der Gedanke politischer Einheitlichkeit, Gemeinsamkeit, Geschlossenheit wird dabei – für den gesamten Diskurs prägend – in wiederkehrenden spezifischen Formulierungen hervorgehoben, die ebenfalls der politischen Ausdrucksweise Rousseaus sehr nahe kommen (la communauté, la volonté commune, la grande 102 Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers État  ? (1789), Paris 1994, S. 118. 103 Ebenda, S. 120/121 (Hervorhebung im Original). 104 Vgl. Rousseau, Du Contrat social, S.  427/428  : »A l’instant que le Peuple est légitimement assemblé en corps Souverain, toute jurisdiction du Gouvernement cesse, la puissance éxécutive est suspendue«. 105 Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers État  ?, S. 162.

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volonté commune nationale, l’intérêt commun de la société …). Erst eine nähere Analyse offenbart die auf begrifflicher Ebene überall erkennbaren Gegensätze zu Sprache und Ideologie des Contrat social von Rousseau. So erweist sich etwa die Verwendung der Bezeichnungen »la volonté générale«, »la volonté commune«, »la volonté d’une nation« keinesfalls, wie man zunächst glauben könnte oder sollte, als Übernahme des Rousseau’schen Schlüsselbegriffs eines politischen Gemeinwillens. Vielmehr zeigen die synonymisch erklärenden Bezeichnungen »avis de la pluralité«,106 »le résultat des volontés individuelles«,107 dass sich in Wahrheit der von Rousseau ausdrücklich verworfene Begriff eines Mehrheitsvotums hinter der Übernahme der Rousseau’schen Lexik verbirgt. Der eigentliche und auf einer grundlegenden Abstraktion von Partikularinteressen oder deren Bündelung beruhende Sinn des für Rousseaus Philosophie zentralen Begriffs eines politischen Gemeinwillens wird durch diese Manipulation buchstäblich auf den Kopf gestellt. Genau das Gleiche offenbart ein Blick auf die Semantik der Bezeichnung »intérêt commun« (Gemeininteresse). Der prinzipielle und qualitativ entscheidende Gegensatz, den Rousseau zwischen dem Gemeininteresse und dem Partikularinteresse als Antrieb politischer Ethik und politischen Handelns geltend macht, wird  – analog zur herkömmlichen physiokratisch-liberalen Sichtweise und im Einklang mit ihrer utilitaristischen Ethik  – von Sieyès aufgehoben, zugunsten einer Reduzierung des Gemeininteresses auf die Ebene einer Vorteilsgemeinschaft der Partikularinteressen. In seinen etwa zeitgleich verfassten, zu Lebzeiten unveröffentlichten Manuskripten wird Sieyès auch in dieser Hinsicht deutlicher, wenn er – wie alle physiokratisch inspirierten Autoren – die Zurücksetzung des Partikularinteresses zugunsten des Gemeininteresses explizit als einen »konfusen Begriff« der »Anhänger Jean-Jacques’« (»les disciples de J.-J.«) verwirft  : »Le sacrifice de l’intérêt particulier à l’intérêt général présente une notion confuse.«108 Auf ganz ähnliche Art erweist sich die scheinbare Übernahme des Gedankens einer unmittelbar an die Volkssouveränität gebundenen Legislative, wie sie der wörtlich von Rousseau übernommene Satz »la loi est l’expression de la volonté générale«109 nahelegt, als in mehrfacher Hinsicht irreführend. Denn zum einen kolportiert diese Aussage im vorliegenden Kontext einen bereits verfälschten Begriff des politischen Gemeinwillens, der auf die Ebene partikularen Vorteilsdenkens heruntergebrochen und darüber hinaus als repräsentierter Wille dem Souverän, im 106 Ebenda, S. 176. 107 Ebenda, S. 179. 108 Des manuscrits de Sieyès, S. 466. 109 Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers État  ?, S. 134.

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Sinne Rousseaus, entfremdet erscheint. Und zum anderen bekennt sich Sieyès, ganz in Übereinstimmung mit den physiokratischen Grundüberzeugungen, zuallererst zur uneingeschränkten und durch keine politische Willensbekundung anfechtbaren Gültigkeit des naturrechtlich sanktionierten »droit de propriété«, des »Eigentumsrechts«. Auch für ihn gilt die physiokratische Lesart, wonach es sich beim »Eigentumsrecht« um das erste der so genannten »Menschenrechte« handelt (»tous les droits sont renfermés dans cette propriété personnelle et réelle«110), damit um eine absolute, weil naturrechtliche Institution, die jeglicher politischer Willensbildung überhoben ist  : »Les droits de l’homme sont antérieurs à tout. (…) ils n’auront pas leur source dans la loi.«111 Diese Aussage ist bedeutsam, weil sie den eben zitierten Satz vom »Gesetz« als »Ausdruck des politischen Gemeinwillens« ad absurdum führt und damit den in der revolutionären Sprache des Rousseau’schen Contrat social vorgetragenen Forderungen nach politischer Autonomie des Dritten Standes beziehungsweise der Nation im Kern widerspricht. Der politische Souverän entpuppt sich vielmehr auch im republikanischen Konzept des Abbé Sieyès als Neuauflage des »vormundschaftlichen Staates« im physiokratischen Sinn (Le Mercier nannte ihn autorité tutélaire), dessen Aufgabe sich darin erschöpft, die zivilrechtlichen Konsequenzen jener »Natur- und Menschenrechte« zu deklarieren, sie also in Kraft zu setzen (»on déclare seulement les conséquences«).112 Unumwunden gesteht Sieyès die daraus folgende politische Ohnmacht des Gesetzgebers zu, wenn er – entgegen allen demokratischen Bekundungen – in seinen fragments politiques die einfache Frage stellt  : »Wozu brauchen wir politische Gesetze, wenn wir nur frei in den Genuss unserer Zivilrechte kommen  ?« (»Qu’avons-nous besoin de droits politiques, pourvu que nous jouissions librement de nos droits civils.«113). Wie elementar tatsächlich die Funktionen von Eigentum und Tauschhandel im Gesellschaftskonzept des Abbé Sieyès gedacht sind und wie sehr sie auch dessen ethische Ausrichtung definieren, darauf lässt eine weitere Überlegung schließen, die wir ebenfalls in seinen fragments politiques finden. Demnach sollte der mit dem Argument des gegenseitigen Vorteils (»réciprocité«, »besoins réciproques«) begründete Tauschhandel (»échange«, »commerce«) an die Stelle nur moralisch begründeter sozialer Bindungen treten. Gemeint ist vor allem der nach Nützlichkeit und Nachfrage bewertete Austausch zwischen der Ware Arbeitskraft und 110 Des manuscrits de Sieyès, S. 508. 111 Ebenda, S. 508 (Hervorhebung R. Bach). 112 Ebenda. 113 Ebenda, S. 509 (Hervorhebung R. Bach).

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dem Arbeitslohn (»service payé«). Auf diese Weise würden Gleichheit und Freiheit in den sozialen Beziehungen durch die Entgeltlichkeit allen Gebens und Nehmens – gemäß der schon von Condillac verwendeten Formel »valeur égale pour valeur égale« – gestärkt werden  : (…) l’échange, le commerce remplacent le lien de sociabilité, détachent le sentiment moral du service payé, c’est valeur égale pour valeur égale. L’égalité y est encore et même mieux, la liberté y gagne. (…) Les besoins réciproques ne sont causes de sociabilité qu’entre égaux.114

Das Eigentum aber, indem es der physiokratischen Standardformel der réciprocité unterliegt, seinen Wert also über den Tauschhandel definiert, wird damit nicht nur zum eigentlich konstitutiven Element aller sozialen Bindungen, sondern scheinbar auch zum Garanten der bürgerlichen Gleichheit. Dieser Logik jedoch widerspricht die im politischen Sinn differenzierende und regulative Funktion des Eigentums, wie sie Sieyès in seinen weiteren Schriften deutlich hervorheben wird. Spektakuläre Berühmtheit sollten dabei vor allem seine Einlassungen zur Unterscheidung von Aktiv- und Passivbürgern (»citoyens actifs«, »citoyens passifs«) erlangen, die er zuerst in seiner dem Verfassungskomitee am 20. und 21. Juli 1789 vorgelegten Schrift Préliminaire de la Constitution. Reconnaissance et Exposition raisonnée des Droits de l’homme et du Citoyen veröffentlicht. Ausschließlich wohlhabenden Steuerzahlern soll demnach der Zugang zu aktiver politischer Betätigung eröffnet werden. Sie, die »citoyens actifs«, bilden Sieyès zufolge die Gruppe der »wirklichen Mitglieder der Gesellschaft« (»véritables membres de l’association«), wobei der Begriff der politischen Gesellschaft gleichsam in denjenigen einer »Aktiengesellschaft« transformiert wird  : »(…) ceux-là qui contribuent à l’établissement public, sont comme les vrais actionnaires de la grande entreprise sociale. Eux seuls sont les véritables citoyens actifs, les véritables membres de l’association.«115 Auch diese Aussage kann in ihrer Tragweite kaum überschätzt werden, da sie dem scheinbar demokratischen Geist der Flugschrift Qu’est-ce que le Tiers État  ? in eklatanter Weise widerspricht. In Wahrheit aber hebt sie nur deren bereits gezeigte Ambivalenzen auf, die – wie diese Aussage einmal mehr belegt – eben 114 Ebenda, S. 502. 115 Sieyès, Préliminaire de la Constitution. Reconnaissance et Exposition raisonnée des Droits de l’homme et du Citoyen. In  : Sieyès, Ecrits politiques, hrsg. R. Zapperi, Paris 1994, S. 199. (Hervorhebungen R. Bach)

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nur auf formal sprachlicher Ebene durch die Verwendung eines demokratischen Codes für die Vermittlung liberaler, besser gesagt physiokratisch-marktkonformer Inhalte zustande kommen. Wie sehr sich Sieyès selbst der Ambivalenz seines politischen Diskurses, damit auch des sprachlichen Dilemmas im Richtungsstreit der Revolution bewusst ist, erhellt aus einer Vielzahl einschlägiger Bemerkungen, mit denen er begriffliche Klarstellungen sowie das latente Missverstehen politischer Äußerungen thematisiert. Wir sahen dies unter anderem bereits oben am Beispiel seiner Kritik an der vermeintlich auf Rousseau und dessen Schüler (»les disciples de J.-J.«) zurückgehenden »Konfusion« der Begriffe Gemeininteresse  – Partikularinteresse. Genau in diesem Sinn reflektiert auch seine an Condillacs Sprachphilosophie orientierte Forderung nach einer wissenschaftlichen Sprache der Politik (»chaque science a sa langue propre«116) lediglich das Unbehagen über die allzu offenkundige Widersprüchlichkeit eines politischen Diskurses, der liberale Inhalte und Begriffe in der damit semantisch unvereinbaren demokratischen Terminologie des Contrat social von Rousseau verbreitet. Schuld daran sei allerdings die »unglückliche Tatsache«, dass sich »die Politik in der Alltagssprache herumsuhle«, statt als »Wissenschaft ihre eigene Sprache« zu benutzen  : »Malheur à nous parce que la politique se vautre dans le langage usuel et n’est pas bornée, comme science, à sa langue propre«.117 Dabei benennt diese auch in anderen Zusammenhängen immer wieder von Sieyès artikulierte sprachkritische Abgrenzung bei näherem Hinsehen zwei Adressaten. Zum einen geht es um die Abgrenzung gegenüber der andauernden Besetzung von Schlüsselbegriffen des discours révolutionnaire durch die offenbar allgegenwärtige Präsenz der Ideologie Rousseaus.118 Und zum anderen handelt 116 Sieyès, Fragments politiques. In  : Des manuscrits de Sieyès, S. 454. Die Forderung illustriert gleichzeitig den Unfehlbarkeitsanspruch der physiokratischen Sciences morales et politiques. 117 Ebenda, S. 454. 118 Im Zusammenhang mit dem latenten Streit um politische Begrifflichkeiten und Schlüsselsequenzen, Schlagworte oder Klischeevorstellungen sind Rousseaus Schriften Teil einer öffentlichen Debatte und damit für die Zeitgenossen präsent. Ganz zu schweigen von dem anhaltend hohen Bekanntheitsgrad etwa seines Emile, ou de l’éducation oder der Nouvelle Héloïse, die alle wesentlichen Gedanken seiner politischen Philosophie ebenfalls kolportierten. Erinnert sei hier an die von uns bereits in einem früheren Abschnitt dokumentierte Bemerkung Baudeaus aus seinen 1787 veröffentlichten Idées d’un citoyen sexagénaire, die diesen Befund beispielhaft unterstreicht  : »Il existe en France depuis longtemps un projet anti-monarchique fondé sur les idées absolument fausses du républicain Genevois, Jean-Jacques Rousseau, développées dans l’ouvrage intitulé Contrat Social (…)  ; parmi ceux qui s’étaient enthousiasmés de ce système (…), on ne peut s’empêcher de ranger feu M. Tu***, (…). Les éloges de cet ex-ministre, publiés par M. de *** et

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es sich, wie Sieyès in seinen fragments politiques unmissverständlich gesteht, um eine in Wahrheit hochbrisante politische Abgrenzung gegenüber dem »gemeinen Volk, das sich einbildet, Philosoph zu sein«, eine Abgrenzung gegenüber seiner ›sprachlichen Inkompetenz‹ und seinem ›Unverstand‹  : »Que d’erreurs, que d’ambiguïtés éternelles on aurait évité, si le commun peuple qui se croit philosophe n’avait pu les aborder transformées dans leur langue propre …«119 Beide Argumente werden im Verlauf der sich zuspitzenden ideologischen Auseinandersetzungen der Revolution zunehmend in den Vordergrund der politischen Agitation treten und dabei das Ihre zur Doppeldeutigkeit des liberalen politischen Diskurses beitragen. Um diese Aussage hinsichtlich der permanenten und begrifflich grundlegenden Doppeldeutigkeit des liberalen politischen Diskurses zu untermauern, sei an dieser Stelle die resümierende Aussage eines der engsten Vertrauten von Sieyès und Mitglieds der »Idéologues«, Cabanis, zitiert, wonach die »wahre, von allen Übeln gereinigte Demokratie« schließlich darin bestehe, dass »alles für das Volk und im Namen des Volkes geschieht, nichts aber durch das Volk selbst oder unter seinem unreflektierten Diktat«. »Voilà, dis-je, la démocratie purgée de tous ses inconvéniens. (…) Tout se fait pour le peuple et au nom du peuple, rien ne se fait ni par lui ni sous sa dictée irréfléchie.«120 Semantisch betrachtet kann man diese Aussage nur als eine Karikatur der Sprache des Contrat social bezeichnen, da dessen politische Aussagen und Schlüsselbegriffe in ihr Gegenteil verkehrt werden. An die Stelle der Autonomie politischer Willensentscheidungen des Volkes, also der so genannten Volkssouveränität, tritt mit solch wohlklingender Aussage dessen vollständige politische Entmündigung. Genau dies aber, nämlich die vollständige politische Entmündigung des Volkes in seinem eigenen Namen, sei das Ziel der repräsentativen Demokratie (hier als »le véritable systême représentatif« bezeichnet), wie es Cabanis in aller wünschenswerten Klarheit enthüllt. Das Volk sei zwar der Souverän, die »heilige Quelle aller Macht«, doch alle Macht, die diese Souveränität beinhaltet, sei »delegiert«  : Dans le véritable systême représentatif, tout se fait donc au nom du peuple et pour le peuple  ; rien ne se fait directement par lui  : il est la source sacré de tous les pouvoirs, le sieur Du***, ses confidents, détaillent avec complaisance tous ses principes«. Clément, Nicolas Baudeau, S. 185. 119 Des manuscrits de Sieyès, S. 454. 120 Cabanis, Quelques considérations sur l’organisation sociale et particulièrement sur la nouvelle constitution (1799). In  : Cabanis, Œuvres philosophiques. Corpus général des philosophes français, Bd. XLIV, 1, Paris 1956, seconde partie, S. 475.

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mais il n’en exerce aucune. (…) le peuple est souverain, mais tous les pouvoirs dont sa souveraineté se compose sont délégués.121

So könne das Volk in Ruhe leben und unter dem Schutz der Gesetze und einer starken Regierung seiner Arbeit nachgehen und »die süßen Früchte wirklicher Freiheit genießen«  : Il vit tranquille sous la protection des loix, (…) son industrie s’exerce et s’étend sans obstacles  ; il jouit, en un mot, des doux fruits d’une véritable liberté, garantie par un gouvernement assez fort pour être toujours protecteur.122

Das von Sieyès entwickelte Konzept der repräsentativen Demokratie erscheint auf diese Weise letztlich als vollendete demokratische Verklärung der zu keinem Zeitpunkt in Frage stehenden, daher auch nicht wählbaren Durchsetzung ausschließlich marktwirtschaftlich geprägter Dogmen des physiokratischen Liberalismus  ; eine Verklärung, die sich – nunmehr im Namen der Revolution – uneingeschränkt der Sprache der politischen Philosophie Rousseaus bedient. Gemeint sind mit den »Dogmen des physiokratischen Liberalismus« sowohl die ökonomischen wie auch die politischen und ethischen Gemeinplätze der physiokratischen Ideologie, wie sie im Wesentlichen bereits von Quesnay und Le Mercier vertreten wurden  : die Annahme einer natürlichen Ordnung (ordre naturel) der sozialen Ungleichheit  ; die auch in den verschiedenen Fassungen der Déclaration des Droits expressis verbis verankerte Heiligsprechung des Eigentums als Grundlage jeglicher gesellschaftlicher Bindung, Moral und Ethik  ; die auf Besitz- und Arbeitsteilung beruhende, natürliche Gliederung der Gesellschaft in soziale Klassen  ; die politische Entmündigung der Gesellschaft durch einen Despotismus der Naturgesetze des Marktes  ; die feierliche Erklärung der Menschenrechte (»Déclaration solennelle des droits de l’homme«) als Umsetzung dieser in der physiokratischen Lesart des Naturrechts verankerten Naturgesetze (und Regulativ zwischen Individuum und Staat  : Freiheit als Handlungsspielraum im Rahmen der Marktgesetze und Gleichheit auf der Ebene des Tauschhandels, insbesondere bezogen auf Lohnarbeit und die Ware Arbeitskraft)  ; eine am eigenen Vorteil orientierte Moral (l’intérêt bien entendu), also die von Kant so genannte Lehre der Glückseligkeit  ; und schließlich die Definition eines (ausschließlich im Sinne

121 Ebenda, S. 481 (Hervorhebung R. Bach). 122 Ebenda, S. 475 (Hervorhebung R. Bach).

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materieller Prosperität gedachten) Gemeinwohls als Summe individuellen Vorteilsstrebens unter den Bedingungen allgegenwärtiger Konkurrenz. Der Personenkreis derjenigen Akteure der Revolution, die genau in dieser vollständigen Sinnverkehrung der Schlüsselbegriffe des Contrat social von Rousseau den politischen Diskurs der Revolution bestreiten, ist etwa deckungsgleich mit den Mitgliedern der am 12. April 1790 aus dem Club des Amis de la Constitution, also dem »Club der Freunde der Verfassung«, hervorgegangenen »Société de 1789«.123 Neben Sieyès zählen zu deren Wortführern Cabanis, Condorcet, La Fayette, Mirabeau, Roederer, Destutt de Tracy  – wichtigster Autor der späteren Gruppe der Idéologues in der physiokratisch geprägten Académie des Sciences morales et politiques  – und schließlich Dupont de Nemours, leidenschaftlicher Anhänger Quesnays sowie Schüler und engster Verbündeter von Le Mercier de la Rivière. Die von Zeitgenossen bereits als Verschwörergruppe und Interessenvertretung der Reichen (»les intriguants, les ambitieux d’argent«, »les Machiavels et les Cromwells modernes«124), damit auch als Gegner der Jakobiner wahrgenommene Gruppierung hatte sich offiziell das Ziel gesetzt, die wahren Prinzipien einer freien Verfassung zu entwickeln und zu verbreiten (»Développer et répandre les principes d’une constitution libre«125). Und wie nicht anders zu erwarten, handelte es sich dabei um die Propagierung der uns bekannten, von den Physiokraten zur Wissenschaft (auch Science nouvelle, science du gouvernement, science de la liberté …) erklärten Politik einer Unterwerfung des Staates unter die Gesetze der Marktwirtschaft. Sie wird nun von Sieyès, Condorcet und Cabanis unter dem Neosemantismus eines art social126 zusammengefasst und propagiert. Das Gründungsdokument der Société de 1789 definiert den solcherart neu gebildeten Begriff des »art social« als eine Sozialwissenschaft, die in Abgrenzung zur herkömmlichen Moralphilosophie aus den sciences économiques hervorgeht und als allgemeine Wissenschaft der Zivilisation die Künste (arts) der Landwirtschaft, des Handels, des Regierens und der geistigen Arbeit (in dieser Reihenfolge  !) versammelt, ständig erweitert und propagiert  : Il est, pour les individus, un art d’assurer et d’augmenter leur bonheur  : il a consisté jusqu’ici dans la philosophie morale, que les anciens portèrent à une sorte de perfection. 123 Vgl. dazu u. a. A. Challamel, Les clubs contre-révolutionnaires, Paris 1895, S. 391–441. 124 Cabanis, Quelques considérations sur l’organisation sociale, S. 416 und 422. 125 Challamel, Les clubs contre-révolutionnaires, S. 393. 126 Die Bezeichnung selbst ist um einiges älter  ; u. a. wurde sie in einer allgemeineren Bedeutung häufiger bereits von d’Alembert benutzt.

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Il doit exister aussi, pour les nations, un art de maintenir et d’étendre leur félicité  : c’est ce qu’on a nommé l’art social. Cette science (…) ne paroit pas avoir été encore étudiée dans son ensemble. L’art de cultiver, l’art de commerce, l’art de gouverner, l’art de raisonner même, ne sont que des parties de cette science. (…) rechercher dans les sciences économiques leurs rapports mutuels, et surtout la liaison commune qu’elles peuvent avoir avec la science générale de la civilisation, tel est l’objet de l’art social. 127

Diese Formulierungen lassen unschwer erkennen, dass sich unter dem neuen Rubrum eines »art social« die bekannten inhaltlichen Topoi des physiokratischen Liberalismus verbergen. Deutlicher als bisher üblich tritt allerdings inzwischen die von Sieyès favorisierte Anbindung der physiokratischen Argumentation an die Sprachund Erkenntnistheorie Condillacs hervor, dessen liaison des idées ja bekanntermaßen bereits die Argumentation Le Merciers in dessen Hauptwerk deutlich beeinflusst hatte. Hier ist es zunächst der Verweis auf einen »art de raisonner«, im Condillac’schen Sinne also eine »Kunst der Erkenntnis«, die für die Unanfechtbarkeit der physiokratischen Logik in Anspruch genommen wird. Genau darauf zielt auch die Formulierung einer »liaison commune«, einer logischen Verbindung aller Wissensbereiche, die ebenfalls den Geist der Erkenntnistheorie Condillacs beschwört. Ein Ansatz, der uns in der Argumentation der Idéologues wiederbegegnen wird. Doch zunächst sei an dieser Stelle, im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Anliegen der (von Zeitgenossen auch als »Club de la propagande«128 wahrgenommenen) Société de 1789, noch auf eine weitere Initiative im Kampf um die Deutungshoheit über den discours de la Révolution verwiesen  : Im Frühsommer 1793 gründen »die Bürger Condorcet, Sieyès und Duhamel« die Zeitschrift Journal d’instruction sociale. Deren wichtigste Aufgabe, so erklären die Herausgeber, soll in der »korrekten Deutung« der Sprache der Politik bestehen, was durch die Analyse der Ideen erreicht werden soll, die durch die Worte dieser Sprache ausgedrückt werden. »Ansi la langue politique, l’analyse des idées qu’expriment les mots de cette Langue, sera un des premiers objets du Journal d’Instruction sociale.«129 Auch in dieser Zielsetzung klingt Condillacs Überzeugung von der konstitutiven Rolle sprachlicher Zeichen im Erkenntnisprozess an. Ein Gedanke, zu dem sich auch Rousseau bekannt hatte und den er bereits in seinem Discours über 127 Ebenda, S. 392 (Hervorhebungen im Original). 128 Ebenda, S. 416. 129 Journal d’instruction sociale, PROSPECTUS, S. 3.

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die Ungleichheit mit Überlegungen zur Sprache als einem Instrument politischer Manipulation verbunden hatte. Exakt dieselben Überlegungen, hier allerdings im Sinne der Verteidigung einer physiokratisch-liberalen Lesart des discours révolutionnaire, eröffnen den geradezu beschwörenden Prospectus der Zeitschrift, wobei im Angesicht der öffentlichen politischen Diskussion sowohl vor Unwissenheit wie auch vor böswilliger Verführung als möglichen Gründen für die Verkennung der (wahren) Interessen und der zu verteidigenden Rechte gewarnt wird  : Dans un moment où tous les CITOYENS sont appelés à la discussion de leurs intérêts et à la défense de leurs droits, rien ne peut être plus utile que que de les prévenir, et contre les erreurs où l’ignorance pourroit les entrainer, et contre celles, où dans l’espoir d’en profiter, des hommes avides et ambitieux chercheroient à les faire tomber.130

Dass es tatsächlich nicht überzogen ist, von einer physiokratischen Prägung des discours révolutionnaire zu sprechen, zeigt auch die resümierende Ermahnung der Autoren des Journal d’instruction sociale, wonach  – infolge der Verirrungen der Sprache und des Denkens – »das wirkliche System der Physiokraten nur deshalb verleumdet wurde, weil man es nicht verstanden hatte«  : »Tel est le vrai système des économistes, qui n’a été calomnié que pour n’avoir pas été entendu.«131 Die konkrete Verteidigung der physiokratisch-liberalen Lesart des discours révolutionnaire erfolgt danach im Wesentlichen mit den seit Quesnay und Le Mercier bekannten Argumenten, bis hin zur Propagierung des bereits von Quesnay entwickelten Begriffs einer science du gouvernement, einer »Wissenschaft des Regierens« auf der Basis ökonomischer Einsichten in die grundlegenden Funktionen der Gesellschaft.132 Verbales Leitmotiv ist allerdings auch hier, wie in der Satzung der Société de 1789, der neu semantisierte Terminus des »Art social«, der  – wie bereits beschrieben – als neues Zauberwort die einschlägigen Wissensgebiete der Ökonomie, Politik, Moral und Erkenntnistheorie zusammenfasst. Auffallend ist dabei insgesamt der beschwörende Tonfall der Argumentation, der offensichtlich die äußerst zugespitzte politische Situation des Jahres 1793 spiegelt. Immer wieder wird vor »politischen Scharlatanen« gewarnt, die sich als »Freunde des Volkes« ausgäben, aber leicht zu dessen »Tyrannen« werden könnten. Die von ihnen praktizierte »Kunst der Verführung« (»l’art propre de les séduire«) würde auf Missdeutungen politischer Begriffe beruhen, auf »Sophismen« (»les sophismes 130 Ebenda, S. 1 (Hervorhebung im Original). 131 Ebenda, No. Ier, Ier Juin 1793, S. 13. 132 Ebenda, S. 14.

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de ces hypocrites protecteurs«), dazu angetan, »die Masse eines großen Volkes zu korrumpieren« (»corrompre la masse entière d’un grand peuple«, »trompé par des charlatans«). Dagegen gelte es vorzugehen, »die politischen Scharlatane zu bekämpfen« (»combattre les charlatans politiques«), »dem Volk die Fallen zu zeigen, in die es diese Männer führten« (»Montrer au peuple les pièges où ces hommes veulent l’engager«). Das Mittel hierfür sei die »wirkliche soziale Bildung« (»la véritable Instruction sociale« – hier mit dem extra hervorgehobenen Titel der Zeitschrift verbunden), die »Verbreitung wirklicher Kenntnisse« (»la propagation des vraies lumières«), »das Fixieren unsicherer Wortbedeutungen« (»fixer entre les hommes la signification invertaines des mots de la langue«), die Erläuterung des »wirklichen öffentlichen Interesses« (»véritable intérêt public«).133 Bedenkt man die politische Situation des Jahres 1793, so wird klar, dass sich diese Formulierungen gegen die Anhänger der Montagne richten und gegen deren als gefährlichen Populismus empfundene Ambitionen einer revolutionären Umgestaltung. Entsprechend beginnt die Nummer I der Zeitschrift, ganz im Geist des Anliegens der Société de 1789, mit einem Aufsatz über das »korrekte« Verständnis des Wortes »Revolutionär« (»Sur le sens du mot Révolutionnaire«). Es sei nur dort korrekt verwendet, wo es um eine Revolution gehe, deren Ziel die »Freiheit« sei (»le mot révolutionnaire ne s’applique qu’aux révolutions qui ont la liberté pour objet«134), entsprechend seien auch »revolutionäre Gesetze« und »revolutionäre Maßnahmen« zu interpretieren. Andere Auffassungen, die sich zwar des gleichen Wortes bedienten, die aber missbräuchlich auf andere Ziele gerichtet seien (»abus du mot révolutionnaire«), müssten indessen als »anti-révolutionnaire« (auch substantivisch »les anti-révolutionnaires«) erkannt werden.135 Man habe »Freiheit« und »Gleichheit« auf die »ewigen Regeln der Vernunft und der Natur« gegründet (»on les fonda sur les règles éternelles de la raison & de la nature«). »Aber wenn ein Land seine Freiheit zurückgewinnt, wenn diese Revolution beschlossen, aber noch nicht beendet ist, gibt es notwendigerweise eine große Anzahl Menschen, die versuchten, eine entgegengesetzte Revolution auszulösen, eine Konterrevolution«  : Lorsqu’un pays recouvre sa liberté, lorsque cette révolution est décidée, mais non terminée, il existe nécessairement un grand nombre d’hommes qui cherchent à produire une révolution en sens contraire, une contre-révolution.136 133 Ebenda, PROSPECTUS, S. 7, 8, 10, 13, 14. 134 Ebenda, No. Ier, S. 1. 135 Ebenda, S. 4 136 Ebenda, S. 6.

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Beispiele dieser Art, die das Ringen um die Deutungshoheit im politischen Sprachgebrauch der Revolution illustrieren, letztlich also für die hier thematisierte Genesis des sprachlichen Dilemmas der Revolution stehen, lassen sich im Grunde in beliebiger Anzahl ergänzen. Ihre inhaltlichen Kontinuitätslinien und Oppositionen entsprechen der Aufspaltung in eine Revolutionsideologie des Liberalismus, die unmittelbar aus der Denkschule der Physiokraten hervorgeht, und eine andere, eher basisdemokratisch geprägte Revolutionsideologie, die den antiliberalen Inspirationen des Contrat social nahesteht. Damit folgt dieses ideologische Muster demjenigen der Ethikdebatte der Aufklärung, die auf diese Weise im Zuge der Revolution, ganz im Sinne der oben gezeigten Beobachtungen von Pierre Leroux, ihren Höhepunkt erlebt. Bevor wir uns jedoch im nächsten Abschnitt dem einschlägigen Sprachgebrauch der Gegner des ökonomischen Liberalismus zuwenden, soll an dieser Stelle noch abschließend auf einige weitere, besonders signifikante Positionen eines revolutionären Bekenntnisses zur Ideologie der Économistes (das heißt der Physiokraten) verwiesen werden. Ergänzt werden sollten beispielsweise die Beobachtungen zu Condorcet, einem der wichtigsten Akteure und Autoren der Revolution, der 1794 selbst zu einem Opfer der jakobinischen terreur wurde. Insbesondere seine berühmteste Schrift, die im Oktober 1793 als Manuskript fertiggestellte Skizze eines historischen Gemäldes über den Fortschritt des menschlichen Geistes (Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain),137 kann, mehr als jede andere Schrift der Revolution, als ein klassisches Beispiel für die Fusion des Geistes der physiokratischen Schule mit dem Geist der Revolution gelten. In Wahrheit handelt es sich um den Entwurf einer Universalgeschichte der Menschheit, einer Geschichte der fortschreitenden Höherentwicklung, von einer Zivilisationsform zur anderen, die in jene glanzvolle Epoche der Lumières mündet, welche für Condorcet mit Bacon, Galilei und Descartes beginnt und mit der Französischen Revolution endet. Wenigstens drei markante Eigenheiten dieses universalgeschichtlichen Entwurfs gilt es festzuhalten. Zum einen übernimmt Condorcet die sowohl im klassischen Naturrecht wie auch in physiokratischen Texten – speziell in Le Merciers Schrift von 1767 – entwickelte anthropologisch-prähistorische Darstellung der Entstehung gesellschaftlicher Ordnungen auf der Grundlage von Eigentumsrecht, Arbeitsteilung und Tauschhandel  ; eine Darstellung, die sich – nach dem Muster von Le Merciers Schrift – bewusst und ausdrücklich als Gegenentwurf zu Rousseaus gesellschaftskritischer Anthropologie versteht. Demnach sind moralische Fehlentwicklungen früherer 137 Condorcet, Esquisse d’un tableau philosophique des progrès de l’esprit humain (1793), Paris 1966.

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Gesellschaftsformationen, im Umkehrschluss zu Rousseaus ambivalenter Beurteilung der Fortschrittsidee, nicht auf den Erkenntnisfortschritt, sondern umgekehrt, auf geistigen Niedergang zurückzuführen  : »On verra que ce n’est pas l’accroissement des lumières, mais leur décadence, qui a produit les vices des peuples policés.«138 Ein zweites, ebenfalls zutiefst der physiokratischen Ideologie verbundenes Merkmal dieser Schrift Condorcets besteht in der (vom Sensualismus Lockes inspirierten und von den Physio-craten postulierten) Annahme einer linearen Verbindung zwischen den Gesetzmäßigkeiten der Physik, der Moral und der Politik. Dies hätten sowohl die Analyse der auf sinnliche Erfahrung zurückgehenden Operationen des menschlichen Geistes als auch die Entdeckung der gesetzmäßigen Ausrichtung unserer moralischen Entscheidungen in Abhängigkeit der Empfindungen von plaisir und douleur eindrucksvoll bewiesen  : (…) Locke osa, le premier, fixer les bornes de l’intelligence humaine (…) Cette méthode devint bientôt celle de tous les philosophes  ; et c’est en l’appliquant à la morale, à la politique, à l’économie publique, qu’ils sont parvenus à suivre dans ces sciences une marche presqu’aussi sûre que celle des sciences naturelles (…).139 la découverte ou plutôt l’analyse exacte des premiers principes de la physique, de la morale, de la politique, est encore récente140

Und schließlich muss es drittens als bemerkenswert gelten, wenn Condorcet die auf dieser Ebene des sensualistisch-physiokratischen Erkenntnis- und Fortschrittsideals gemachten »Entdeckungen« (»ces vérités nouvelles dont le génie avait enrichi la philosophie, la politique et l’économie publique«141) als den »letzten Schritt der Philosophie« kennzeichnet (»c’est le dernier pas de la philosophie«142) und wenn er diese philosophische Großtat als historische Leistung der économistes français, der französischen Physiokraten, würdigt. Gemeint ist die »Entdeckung« des bereits von den Physiokraten als der Weisheit letzter Schluss verkündeten »Systems« der politischen Ökonomie des Liberalismus. »Dieses so einfache System«, das »unbegrenzte Freiheit« sowie »Sicherheit für Kommerz und Industrie« zusammenbrachte, diese »Theorie, die Macht und Reichtum der 138 139 140 141 142

Ebenda, S. 98. Ebenda, S. 212–213. Ebenda, S. 270. Ebenda, S. 219. Ebenda, S. 213.

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Staaten mit dem Wohlergehen der Einzelnen und dem Respekt ihrer Rechte verband, die die unterschiedlichen Klassen, in welche die Gesellschaft natürlicherweise zerfällt, in gemeinsamer Glückseligkeit vereinte, diese tröstliche Idee einer Brüderlichkeit des Menschengeschlechts …«, all dies »wurde mit Enthusiasmus von den économistes français (den französischen Physiokraten) propagiert«  : Ce système si simple, qui plaçait dans la jouissance d’une liberté infinie les plus sûrs encouragements du commerce et de l’industrie (…)  ; cette théorie qui liait la véritable puissance et la richesse des Etats au bien-être des individus, et au respect pour leurs droits  ; qui unissait, par le lien d’une félicité commune, les différentes classes entre lesquelles ces sociétés se divisent naturellement  ; cette idée si consolante d’une fraternité du genre humain (…)  ; ces principes (…) furent propagés avec enthousiasme par les économistes français.143

Dass Condorcet hier tatsächlich expressis verbis von den Physiokraten spricht, nicht also, wie Skeptiker vermuten könnten, von ihren (nur noch) ›wirtschaftswissenschaftlich‹ interessierten Nachfahren, erhellt aus der Tatsache, dass er sie  – im gleichen Kontext  – mit dem zeitgenössischen Vorwurf ihrer »dogmatischen Sprache« in Verbindung bringt. Mit dieser »zu obskuren und dogmatischen Sprache«, und indem sie »Teile ihres Systems in einer zu absoluten und zu magistralen Weise präsentierten«, hätten sie sich anfangs selbst geschadet, was jedoch »den segensreichen Einfluss« der von ihnen »in Philosophie, Politik und Ökonomie entdeckten neuen Wahrheiten« nicht verhindern konnte  : (…) s’ils ont nui eux-mêmes à leur cause, en affectant un langage obscur et dogmatique  ; (…) en présentant, d’une manière trop absolue et trop magistrale, quelques portions de leur système (…). Mais les vérités nouvelles dont le génie avait enrichi la philosophie, la politique et l’économie publique (…) portèrent plus loin leur salutaire influence.144

Abschließend sei an dieser Stelle noch auf den Umstand verwiesen, dass Con­ dorcet auch die politische Philosophie Rousseaus als bedeutende und auf ewig anzuerkennende Leistung, allerdings auch als angebliche Fortsetzung der Ideen Sidneys und Lockes, in seine Genealogie des geistigen Fortschritts einbaut. Zur Charakterisierung dieser Leistung wird in sehr allgemeiner Weise auf die Erkenntnis der wahren Menschenrechte (»les véritables droits de l’homme«) verwie143 Ebenda, S. 218 (Übersetzung und Hervorhebungen R. Bach). 144 Ebenda, S. 218/219.

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sen und auf einen art politique, der die Gleichheit der Rechte sowie eine Regelung öffentlicher Angelegenheiten nach dem Mehrheitsprinzip ­garan­tiere.145 Wahr ist, dass keine dieser vagen Andeutungen an tatsächliche Positionen der politischen Philosophie Rousseaus erinnert, dass sie ihnen vielmehr widersprechen. Doch Rousseau wird auf diese Weise gleichwohl zu einem Vorläufer des physiokratischen Liberalismus erklärt. Im Grunde also ein Vorbild für viele spätere Formen der Vereinnahmung Rousseaus als eines Vorläufers des Liberalismus. Die hieran anknüpfenden Fortschritte der politischen Ökonomie, so Con­dor­ cet weiter, hätten nun erkennen lassen, wie sich »in dem scheinbaren Chaos« einander widerstrebender wirtschaftlicher Interessen, einem allgemeinen Gesetz des monde moral folgend, die Anstrengungen jedes Einzelnen für sich selbst zum Wohlergehen aller vereinigen ließen, das Gemeinwohl (»intérêt commun«) also erst recht das uneingeschränkte Verfolgen persönlicher Interessen fordern würde  : (…) comment, dans ce chaos apparent, voit-on, néanmoins, par une loi générale du monde moral, les efforts de chacun pour lui-même servir au bien-être de tous, et, malgré le choc extérieur des intérêts opposés, l’intérêt commun exiger que chacun sache entendre le sien propre et puisse librement le chercher  ?146

Wir haben damit eine nahezu wörtlich mit einschlägigen Passagen bei Le Mercier übereinstimmende Darlegung der Grundgedanken des ökonomischen Liberalismus. Diese science novelle, so erklärt Condorcet, sei schließlich von Stewart und Smith, »vor allem aber von den französischen Physiokraten« zu »ungeahnter Präzision und Reinheit der Prinzipien« weiterentwickelt worden  : »cette science nouvelle a été portée par Stewart, par Smith, et, surtout par les économistes français, du moins, pour la précision et la pureté des principes, à un degré qu’on ne pouvait espérer«.147 So erweist sich das politische Vermächtnis Condorcets, wie es in der universalgeschichtlichen Skizze des Tableau historique des progrès de l’esprit humain hinterlassen wurde, gleichsam als eine Hommage an die Denkschule der Physiokraten, gepaart mit einer Botschaft der Zuversicht hinsichtlich der Durchsetzung ihrer Prinzipien.

145 Ebenda, S. 206–209. 146 Ebenda, S. 209. 147 Ebenda, S. 211.

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13.3.2 Der revolutionäre Diskurs des republikanischen Egalitarismus 13.3.2.1 Bemerkungen zum zeitgenössischen Begriff des Egalitarismus

Hatte sich das sprachliche Dilemma der Französischen Revolution wesentlich an der physiokratischen Praxis entzündet, die mit der liberalen Ideologie unvereinbaren Begriffe und Formulierungen des Rousseau’schen Contrat social in den eigenen politischen Diskurs zu integrieren und diesen solcherart in permanente Ambivalenzen zu verstricken, so musste der verbale Kampf um die Zurückgewinnung der Deutungshoheit über die davon betroffenen Kristallisationspunkte des discours révolutionnaire, wie er insbesondere vonseiten der Jakobiner geführt wurde, letztlich zu noch größerer ideologischer und sprachlicher Verwirrung führen. Hinzu kommt, dass die Originalschriften Rousseaus ebenso wie diejenigen des eigentlichen geistigen Vaters des modernen Egalitarismus, nämlich Mablys, seit Beginn der Revolution in hohen Auflagen Verbreitung finden. Vor diesem Hintergrund von einem revolutionären Diskurs des republikanischen Egalitarismus zu sprechen birgt daher die Gefahr historiographischer Missverständnisse und bedarf der Erklärung. Denn Rousseaus politische Philosophie, von der sich die jakobinische Kritik an der Ideologie des Liberalismus vor allem inspirieren ließ, ist keinesfalls als eine Spielart des sozialen Egalitarismus im Sinne Mablys oder späterer kommunistischer Theorien zu betrachten. Zwar hatte Rousseau im Zuge seiner gesellschaftskritischen Anthropologie die Herausbildung und ständige Vertiefung der sozialen Ungleichheit zur wesentlichen Ursache der sozialen Entfremdung des Menschen erklärt und darauf alle modernen gesellschaftlichen Verwerfungen zurückgeführt. Und richtig ist auch, dass sein politischer Freiheitsbegriff einen Begriff der politischen Gleichheit zur Voraussetzung hat. Doch eine Abschaffung privaten Eigentums zugunsten kollektiver Eigentumsformen, wie sie Mably fordert, ist nicht Teil seiner politischen Philosophie. Wenn also der Zeitgenosse Buonarroti die Gegner des physiokratischen Systems der politischen Ökonomie dem Egalitarismus zurechnet und sie gleichzeitig als Anhänger Rousseaus ausweist – »On a nommé ordre d’égoïsme ou d’aristocratie celui des économistes, et celui de Rousseau ordre d’égalité«,148 »la lutte entre les amis de l’égalité et les partisans de l’ordre d’égoïsme«149 –, so muss der hierbei verwendete Begriff des Egalitarismus relativiert werden. Denn es war Mably, der mit seinen 1768 veröffentlichten Doutes proposés aux philosophes économistes sur l’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques die erste als Kritik der modernen 148 Buonarroti, Conspiration pour l’Égalité dite de Babeuf, Bd. I, S. 28 (Hervorhebungen im Original). 149 Ebenda, S. 31 (Hervorhebungen R. Bach).

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politischen Ökonomie konzipierte Theorie einer egalitären Gesellschaftsordnung im Sinne moderner kommunistischer Ideen entworfen hatte.150 Als Antwort auf die ein Jahr zuvor durch Le Mercier erfolgte philosophische Grundlegung des modernen ökonomischen und politischen Liberalismus151 und als Theorie einer klassenlosen, auf Gemeineigentum beruhenden Gesellschaft geht sie der späteren, ganz ähnlich ansetzenden Kritik der politischen Ökonomie (des Kapitals) von Karl Marx voraus.152 Dem neuartigen Ansatz der Physiokraten insofern folgend, hatte auch Mably die Analyse ökonomischer Grundlagen der Gesellschaft mit dem Entwurf einer politischen Ordnung verbunden. Dabei stellt er das »System des Grundbesitzes und der sozialen Ungleichheit« (»votre système où vous regardez la propriété foncière et l’inégalité des conditions comme le double fondement de la société«) seinem »System der Gütergemeinschaft und der sozialen Gleichheit« (»mon système de la communauté des biens et de l’égalité des conditions«153) alternativ gegenüber. Besonders interessant im Zusammenhang mit der von uns fokussierten Ethikdebatte erscheint hier die Tatsache, dass Mably die ethische Dimension seines alternativen Gesellschaftsmodells in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. Dem politischen Ziel der Physiokraten, die wirtschaftliche Effizienz zu steigern, hält er die Pflege sozialer Tugenden als die eigentliche und wichtigste Aufgabe der Politik entgegen  : (…) il n’est point sûr que toute la politique consiste à augmenter son revenu disponible (…). C’est la culture des hommes, c’est à dire, ce sont les vertus sociales qui serviront de base au bonheur de la société  : voilà le premier objet de la politique  ; nos champs viendront après.154

Dass Buonarroti, wie wohl alle Zeitgenossen der Revolution, dennoch Rousseau als die philosophische Autorität für ein alternatives, gegen den physiokratischen Liberalismus gerichtetes Gesellschaftskonzept betrachtete, ist aus vielen Gründen verständlich. Denn es ist Rousseau, der die allgemein anerkannten Begrifflichkeiten und die innere Logik des modernen republikanisch-demokratischen Denkens in seinem Gesamtwerk begründet und der schließlich von allen Zeitgenossen der Revolution als deren geistiger Vater in Anspruch genommen wird. 150 Vgl. Bach, Weichenstellungen des politischen Denkens, S. 102–134. 151 Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques. 152 Vgl. Marx, Das Kapital. 153 Mably, Œuvres complètes de l’Abbé de Mably, Lyon 1792, Bd. XI, S. 150. 154 Ebenda, S. 28 (Hervorhebung im Original).

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Und es sind die von Rousseau geprägten Schlüsselbegriffe und Formulierungen, deren sich auch die Vertreter des physiokratischen Liberalismus bedienen, wenn sie, allerdings mit gänzlich alternativen Inhalten, vom ›Gemeinwohl‹, vom ›politischen Gemeinwillen‹, von ›Vaterland‹ und ›Staatsbürger‹, von ›Freiheit‹ und eben auch von der ›Gleichheit‹ aller ›Staatsbürger‹ sprechen. Und gerade an diesem Punkt entzündet sich der Streit um die Deutungshoheit des discours révolutionnaire, jene politische Polarisierung also, die den revolutionären Höhepunkt der Ethikdebatte abbildet. 13.3.2.2 Äußerungsformen des republikanischen Egalitarismus und seiner Kritik am politischen Diskurs des physiokratischen Liberalismus

In sehr bewusst ausgeprägter Form begegnen wir dem Sprachcode des Egalitarismus sowie der einschlägigen Kritik am Diskurs des physiokratischen Liberalismus vor allem in Reden und Texten Robespierres. Im Folgenden soll dies an einigen ausgewählten Beispielen gezeigt werden. So enthält eine der ersten Grundsatzreden Robespierres, mit der er im Frühjahr 1791 in scharfer Form die Zurücknahme der Klassifizierung in aktive und passive Staatsbürger fordert, bereits nicht nur ein Bewusstmachen sozialer und ideologischer Gegensätze in den Vertretungen des Dritten Standes, sondern auch eine Kritik widersprüchlicher Formen der politischen Propaganda, eine Kritik der Widersprüche des discours révolutionnaire. Die letztlich auf unterschiedliche Besitzverhältnisse zurückgehende Klassifizierung in aktive und passive Staatsbürger (citoyen actif vs. citoyen passif ) greift Robespierre als »anticonstitutionnel« und »antisocial« an, nennt sie eine offenkundige »Verletzung der Menschenrechte« (»la violation la plus manifeste des droits de l’homme«), der ein »auf die Naivität der Menschen gegenüber den Worten« zielender politischer Sprachmissbrauch zugrunde liege  : »Comptant sur la facilité avec laquelle on gouverne les hommes par les mots, ils ont essayé de nous donner le change en publiant, par cette expression nouvelle, la violation la plus manifeste des droits de l’homme.«155 Es seien »die Sprache dieser feinsinnigen Politiker« (»l’idiome de ces subtiles politiques«), ihre »bejammernswerten Sophismen« (»déplorables sophismes«), die mit »dieser hinterhältigen und barbarischen Formulierung« sowohl »unseren Code wie auch unsere Sprache« besudelten. Wenn das eine wie das andere nicht schleunigst getilgt würde, dann sei das Wort Freiheit bald selbst unbedeutend 155 Robespierre, Sur la nécessité de révoquer le décret sur le marc d’argent. In  : Textes choisis, Bd. I, S. 68.

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und lächerlich.156 Robespierre demonstriert mit dieser Argumentation bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt der Revolution das klare Bewusstsein eines ideologischen Ringens um die Deutungshoheit des politischen Sprachcodes der Revolution, den er hier, übrigens unter ausführlichen Verweisen auf die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, als »notre code et notre langue« (»unseren Code und unsere Sprache«) bezeichnet. Wie kein anderer Kritiker des »liberalen« Flügels der zeitgenössischen Akteure beobachtet und analysiert er deren Sprache und ihre widersprüchlichen Einlassungen zu den Zielen der Revolution. Sich selbst betrachtet er dabei, der Diktion Rousseaus folgend, als einen Vertreter des Volkes, welches für das Gemeininteresse stehe, während die Reichen lediglich ihren partikularen Interessen folgten. In diesem Zusammenhang würden sie »die Sprache missbrauchen« (»un étrange abus des mots«), um den Sinn der Schlüsselbegriffe der Revolution auf den Kopf zu stellen und ihre Partikularinteressen als das Gemeinwohl auszugeben  : »[L]’intérêt du peuple est l’intérêt général, celui des riches est l’intérêt particulier«.157 »Par un étrange abus des mots, (…) ils ont nommé leur intérêt particulier l’intérêt général.«158 Dies aber stehe in der Tradition des feudalen Sprachgebrauchs, jenes »jargon bizarre«, dem es gefallen habe, den größten Teil der Menschheit mit den Worten »canaille« und »populace« zu degradieren, »der Welt gar zu eröffnen, dass es gens sans naissance (›Menschen ohne Geburt‹) gebe, als ob nicht alle Menschen geboren wären«. So seien die Niemande oft verdienstvoll gewesen, während so genannte Ehrenmänner häufig die verwerflichsten und korruptesten aller Menschen waren  : »des gens de rien qui étaient des hommes de mérite, et d’honnêtes gens, des gens comme il faut qui étaient les plus vils et les plus corrompus de tous les hommes«.159 Robespierre bezeichnet die Reichen und Großen daher auch als Feinde der Revolution (»les ennemis de la révolution«). Den Abgeordneten der Nation aber ruft er zu, das Volk sei die einzige Stütze der Freiheit, es habe nicht das Joch der Feudalaristokratie gebrochen, um sich dem Joch einer Aristokratie der Reichen zu unterwerfen  : »(…) le peuple est le seul appui de la liberté. (…) Est-ce pour retomber sous le joug de l’aristocratie des riches, qu’il a brisé avec vous le joug de l’aristocratie féodal  ?« 156 Ebenda  : »Je ne cesserai de réclamer contre cette locution insidieuse et barbare qui souillera à la fois et notre code et notre langue, si nous ne nous hâtons de l’éffacer de l’une et de l’autre, afin que le mot de liberté ne soit pas lui-même insignifiant et dérisoire.« 157 Ebenda, S. 73. 158 Ebenda, S. 71. 159 Ebenda, S. 73 (Hervorhebungen im Original).

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Die immer deutlicher werdende Verwirrung der politischen Sprache der Revolution quittiert Robespierre schließlich in einer Rede vom 21. Juni 1791, anlässlich der misslungenen Flucht des Königs, mit der Feststellung, dass, was alle anderen zu beruhigen scheine, ihn am allermeisten beunruhige, nämlich »die Tatsache, dass seit heute Morgen alle unsere Feinde dieselbe Sprache sprechen wie wir«. Sie alle trügen dieselbe »Maske des Patriotismus«  : Ce qui m’épouvante (…) c’est précisément cela même qui semble rassurer tous les autres. C’est que depuis ce matin tous nos ennemis parlent le même langage que nous. (…) tous ont le même masque de patriotisme.160

Und geradezu prophetisch warnt er in dieser Rede vor der »Tiefe des Abgrundes«, der einst »unsere Freiheit verschlingen wird«  : »Citoyens, viens-je de vous montrer assez la profondeur de l’abîme qui va engloutir notre liberté  ?«161 Vergleicht man diese Beobachtungen Robespierres mit der Analyse, die Pierre Leroux wenige Jahre nach der Revolution zu den eigentlichen Ursachen ihres blutigen Verlaufs erstellen wird, dann fällt die Ähnlichkeit beider Perspektiven hinsichtlich der Wahrnehmung eines unüberwindlichen ideologischen Gegensatzes innerhalb der Revolution ins Auge. Noch deutlicher allerdings als Leroux erkennt Robespierre die fatale Rolle der durch diesen Gegensatz geprägten und daher in jeder Hinsicht ambivalent gewordenen politischen Sprache der Revolution. Dass dieses Bewusstsein hinsichtlich einer permanenten, aus der Verfälschung demokratischer Schlüsselbegriffe resultierenden Ambivalenz des discours révolutionnaire alle späteren Texte und Reden Robespierres beeinflusst hat, ist gut zu dokumentieren. Es gilt insbesondere für seine programmatischen Ausführungen zu den Prinzipien und Zielen des gouvernement révolutionnaire sowie zur politischen Ethik der angestrebten demokratischen Republik. Robespierre ist fortan nicht nur um die besondere begriffliche Klarheit bei der Verwendung umstrittener politischer Schlagworte der Revolution bemüht. Er konterkariert auch die Sprache und die Ideologie derjenigen, die er zu »Feinden der Revolution«, zu Anhängern der »Konterrevolution« erklärt. Und so ergibt sich, ganz ähnlich der physiokratisch-liberalen Lesart und Verwendungsweise politischer Schlüsselbegriffe und Formulierungen, jedoch in inhaltlicher Umkehrung, ein von zwei Darstellungsperspektiven und permanenter Sprachkritik durchzogener Diskurs. Die überwältigende Menge einschlägiger Beispiele kann 160 Ebenda, S. 79/80. 161 Ebenda, S. 82.

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hier nur an wenigen Einzelfällen dokumeniert werden. Betrachten wir etwa das Bemühen um die Deutungshoheit hinsichtlich des Revolutionsbegriffes selbst, woran angesichts der jakobinischen Politik ein besonderes propagandistisches Interesse besteht. Robespierre diskutiert diesen Begriff ausführlich und in Abgrenzung zu den Bezeichnungen anarchie, désordre, arbitraire … Die »revolutionäre Regierung« habe ihre Regeln, die sich aus der Gerechtigkeit (la justice) und der öffentlichen Ordnung (l’ordre public) ableiteten. Dies habe nichts gemein mit Anarchie, ebenso wenig mit fehlender Ordnung. Das Ziel dieser Regierung sei es im Gegenteil, die Anarchie zu unterdrücken, um die Herrschaft der Gesetze herbeizuführen und zu befestigen. Sie stütze sich dabei auf das heiligste der Gesetze, das Wohlergehen des Volkes.162 Im Übrigen sei die Theorie der »revolutionären Regierung« so neu wie die Revolution selbst, die sie herbeiführte  : »La théorie du gouvernement révolutionnaire est aussi neuve que la révolution qui l’a amené.«163 Um darüber hinaus den konstruktiven Charakter der »Revolutionsregierung«, damit auch des jakobinischen Verständnisses der Revolution, gegenüber allen Vorstellungen von Anarchie und Willkür zu verteidigen, diesen Schlüsselbegriff stattdessen mit den Inhalten von Freiheit, Republik und Verfassung zu verbinden, entwickelt Robespierre überraschende begriffliche Korrelationen. So sei es das Ziel der ›konstitutionellen Regierung‹, die ›Republik‹ zu bewahren, während dasjenige der ›Revolutionsregierung‹ darin bestünde, die ›konstitutionelle Regierung‹ zu begründen. Im Übrigen sei die Revolution nichts anderes als der »Krieg der Freiheit gegen ihre Feinde«, während die ›Verfassung‹ das ›Regime der siegreichen und friedvollen Freiheit‹ sei.164 Im Bewusstsein der ideologischen Kontroverse und ihrer verwirrenden sprachlichen Folgen gelte es allerdings, das Volk und die Patrioten guten Willens (»les patriotes de bonne foi«) unaufhörlich zu wappnen gegen diejenigen, die unter der Maske des Patriotismus (»le masque du patriotisme«) einen Krieg der Täuschung und der Korruption gegen die Republik (»cette guerre de ruse et de corruption qu’ils

162 »Le gouvernement révolutionnaire (…) est appuyé sur la plus sainte de toutes les lois, le salut du peuple. (…) Il a aussi ses règles, toutes puisées dans la justice et dans l’ordre public. Il n’a rien de commun avec l’anarchie, ni avec le désordre. Son but au contraire est de les reprimer, pour amener et pour affermir le règne des lois. Il n’a rien de commun avec l’arbitraire«. Robespierre, Textes choisis, Bd. III, S. 100. 163 Ebenda, S. 99. 164 »Le but du gouvernement constitutionnel est de conserver la République  : celui du gouvernement révolutionnaire est de la fonder. La révolution est la guerre de la liberté contre ses ennemis  : la constitution est le régime de la liberté victorieuse et paisible.« Ebenda.

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font à la république«) führten.165 Auf »sophistische« Weise versuchten sie, »Gegensätze zu vermengen« (»sophistes stupides ou pervers qui cherchent à confondre les contraires«166), oder betrieben »Projekte der Desorganisation unter dem Decknamen von Reformen« (»projets de désorganisation, déguisés sous le nom de réformes«167) und entfachten schließlich einen ganzen »Wirbelwind feindseliger Intrigen« (»un tourbillon des intrigues qui nous environnent«).168 Wie ein roter Faden durchzieht das Thema konterrevolutionäre Täuschungsmanöver die Reden Robespierres, wobei der Fokus eindeutig auf dem Vorwurf der politischen Sprachmanipulation liegt. Nur wenige exemplarische Äußerungen sollen dies hier belegen  : So ist die Rede von einem »seltsamen Missbrauch der Worte« (»un étrange abus des mots«169), einem besonderen »Idiom dieser subtilen Politiker«, ihren »jämmerlichen Sophismen« (»idiome de ces subtiles politiques […] déplorables sophismes«170), einem »merkwürdigen Jargon« (»jargon bizarre«171) und von der »Leichtigkeit, mit der sich Menschen durch Worte verführen lassen« (»comptant sur la facilité avec laquelle on gouverne les hommes par les mots«172). Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang auch jene wiederkehrenden Vorwürfe, wonach sich Konterrevolutionäre mit »übertriebenem Eifer« als »Ultra-Revolutionäre« gebärdeten, um über ihre wahren Absichten hinwegzutäuschen (»ultra-révolutionnaires«, »le zèle hypocrite des contre-révolutionnaires«, »contre-révolutionnaires hypocrites«173). Robespierre ist überzeugt, dass es sich bei den Auseinandersetzungen um die Sprache der Revolution, ihren politischen Code, keineswegs um zufällige Unklarheiten handelt. Er vermutet stattdessen ein ganzes System der Subversion und der Täuschung (»ce grand système de subversion et d’hypocrisie«174), das darauf abziele, die Revolution im Namen der von ihr selbst verkündeten Ideale in ihr Gegenteil zu verkehren, die Republik durch die republikanische Ideologie zu stürzen (»renverser la République par le républicanisme«175), revolutionäre Resolutionen umzudeu165 Ebenda, S. 102, 104, 105. 166 Ebenda, S. 100. 167 Ebenda, S. 130. 168 Ebenda, S. 116. 169 Robespierre, Textes choisis, Bd. I, S. 71. 170 Ebenda, S. 68. 171 Ebenda, S. 73. 172 Ebenda, S. 68. 173 Ebenda, S. 122/123/124/126. 174 Ebenda, S. 90. 175 Ebenda.

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ten (»ils tournent contre nous nos résolutions«176), den Patriotismus selbst gegen seine Aktivisten zu wenden (»ils tournent contre nous notre patriotisme«177). »Im Namen der Philosophie« betreibe man »einen konterrevolutionären Umsturz« (»exécuter, au nom de la philosophie, un plan de contre-révolution«178). Seine permanente Kritik am politischen Sprachmissbrauch verbindet Robespierre schließlich mit der düsteren Prophezeiung eines Scheiterns der jakobinisch geführten Revolution. »An jenem Tag«, so befürchtet er, »da sie (die revolutionäre Regierung) in unreine und perfide Hände fällt, wird die Freiheit verloren sein, ihr Name wird zum Vorwand und zur Entschuldigung der Konterrevolution selbst werden.«179 Es scheint im Übrigen, dass Robespierre erst spät in vollem Umfang den eigentlichen Charakter des ideologischen Grabens erkennt, der die Revolution spaltet. So lassen seine vor dem Beginn des Jahres 1794 verfassten Reden und Schriften noch hauptsächlich die Befürchtung erkennen, die Revolution sei vor allem durch Verschwörungen royalistischer beziehungsweise aristokratischer Kräfte zugunsten des ancien régime in Gefahr. Seine frühe Warnung vor einer Aristokratie der Reichen ist in dieser Hinsicht zunächst nur als spontane Reaktion auf die Debatte um Aktiv- und Passivbürger zu werten, nicht aber im Sinne der Einsicht in die neuartigen, vor allem sozialökonomisch geprägten Alternativen einer republikanischen Ordnung. Dass es sich aber, wie unter anderem Leroux wenig später zutreffend analysieren sollte, bereits seit Überwindung der Feudalstaatlichkeit um den nicht zu überbrückenden Gegensatz zwischen der längst gefestigten Theorie einer marktwirtschaftlichen Ordnung einerseits und den im Wesentlichen ethisch begründeten, dabei abstrakt idealisierenden Visionen einer sozialistisch180-egaltären Ordnung andererseits handelte, diese Erkenntnis findet sich in klaren Worten erst in der letzten Rede Robespierres, am unmittelbaren Vorabend seines Sturzes und seiner Hinrichtung. »Die Konterrevolution«, heißt es dort, »findet sich in allen Teilen der politischen Ökonomie«.181 Immerhin waren dieser Einsicht in den Charakter der ideologischen Spaltung der Revolution bereits Wochen und sogar Monate zuvor ausgedehnte Beobach176 Ebenda, S. 105. 177 Ebenda. 178 Ebenda, S. 126. 179 Ebenda, S. 102/103 (Hervorhebung R. Bach). 180 Zur Entstehung des Sozialismusbegriffs vgl. u. a. Branca-Rosoff/Guilhaumou, De »société« à »socialisme«. 181 »La contre-révolution est dans toute les parties de l’économie politique«. Robespierre, Textes choisis, Bd. I, S. 190 (Hervorhebung R. Bach).

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tungen zu deren ethischer Dimension vorausgegangen. Dies zeigen beispielsweise die Darlegungen zur politischen Ethik einer Volksregierung (gouvernement populaire) oder wirklichen Demokratie (véritable démocratie) in einer Grundsatzrede vom 5. Februar 1794. Ihr Thema, Prinzipien der politischen Moral, die den Nationalkonvent bei der inneren Verwaltung der Republik leiten sollen.182 Alleiniges Ziel dieser Rede ist die Beschwörung eines Geistes der Gleichheit (égalité, amour de l’égalité) und der Vaterlandsliebe (amour de la patrie) als des eigentlichen Wesens der Demokratie und der Republik. Dieses erhabene Gefühl (ce sentiment sublime), so Robespierre, habe die Anerkennung des Vorranges der öffentlichen Interessen vor allen Partikularinteressen zur Voraussetzung  : Comme l’essence de la république ou de la démocratie est l’égalité, il s’ensuit que l’amour de la patrie embrasse nécessairement l’amour de l’égalité. Il est vrai encore que ce sentiment sublime suppose la préférence de l’intérêt public à tous les intérêts particuliers.183

So sei die Tugend, die Robespierre hier ganz im Sinne Rousseaus, und auch Immanuel Kants, als eine auf der bewussten Zurückstellung partikularer Interessen gegenüber einer höheren Pflicht beruhende Opferbereitschaft charakterisiert, die eigentliche Seele der Republik, auf die sich alle politischen Handlungen richten sollten  : »Puisque l’âme de la République est la vertu, (…) il s’ensuit que la première règle de votre conduite politique doit être de rapporter toutes vos opérations au maintien de l’égalité et au développement de la vertu.«184 Alles, was dazu diene, die Vaterlandsliebe zu stärken, die Sitten zu reinigen, die Seelen aufzurichten, die Leidenschaften des Herzens auf das öffentliche Interesse zu lenken, solle daher aufgegriffen und entwickelt werden. Dagegen solle alles, was in die Verworfenheit egoistischer Interessen führe, zurückgewiesen oder unterdrückt werden. Im System der französischen Revolution sei Unmoralisches auch politisch verwerflich und Korrumpierendes sei konterrevolutionär  : Ainsi tout ce qui tend à exciter l’amour de la patrie, à purifier les mœurs, à élever les âmes, à diriger les passions du cœur humain vers l’intérêt public, doit être adopté ou établi par vous. Tout ce qui tend à les concentrer dans l’abjection du moi personnel, à réveiller l’engouement pour les petites choses et le mépris des grandes, doit être rejeté 182 »Sur les principes de morale politique qui doivent guider la Convention Nationale dans l’administration intérieure de la République«, ebenda, S. 110. 183 Ebenda, S. 114. 184 Ebenda, S. 115.

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ou réprimé par vous. Dans le système de la révolution française, ce qui est immoral est impolitique, ce qui est corrupteur est contre-révolutionnaire.185

Mit diesen Ausführungen bezieht Robespierre eine unzweideutig gegen die politische Ethik des physiokratischen Liberalismus gerichtete Position. Eine Position, die allen Formen der Hervorkehrung des Partikularinteresses als vermeintlicher Grundlage des Gemeinwohls – im Sinne des so genannten intérêt bien entendu (einer Kernformel des physiokratischen Utilitarismus)  –, mithin auch der Vorrangstellung der propriété gegenüber der égalité, die »höhere Ethik« einer von Opferbereitschaft getragenen, nicht auf Eigennutz abzielenden Vaterlandsliebe gegenüberstellt. Er verbindet auf diese Weise die ethische mit der politischen Ebene und erklärt das solcherart bestimmte Tugendkonzept zum »Fundamentalprinzip der demokratischen Regierungsform«  : Or, quel est le principe fondamental du gouvernement démocratique ou populaire, c’est-à-dire le ressort essentiel qui le soutient et qui le fait mouvoir  ? C’est la vertu  ; je parle de la vertu publique (…) cette vertu qui n’est autre chose que l’amour de la patrie et de ses lois.186

Allerdings erfährt die hier vertretene politische Ethik, deren begriffliche Grundlage zunächst ein hohes Maß an Kompatibilität mit der politischen Philosophie Rousseaus aufweist, gleichzeitig eine dramatische Wandlung als Legitimationsgrundlage der staatlichen terreur. In ganz ähnlicher Weise, wie dies bereits anlässlich der Einbettung des jakobinischen Revolutionsgedankens in die begriffliche Logik des auf Rousseau zurückgehenden Demokratieverständnisses erfolgt war, verbindet Robespierre auch den von Rousseaus Contrat social inspirierten republikanischen Tugendbegriff mit der Rechtfertigung des staatlich sanktionierten Terrors. Im Zentrum der Argumentation steht dabei der Begriff der ›Gerechtigkeit‹  : ›Tugend‹ und ›Terror‹ seien demnach nur unterschiedliche Formen der Durchsetzung von Gerechtigkeit im Verständnis der Demokratie, je nachdem, ob diese sich im Frieden oder in der Revolution befinde  : Si le ressort du gouvernement populaire dans la paix est la vertu, le ressort du gouvernement populaire en révolution est à la fois la vertu et la terreur  : la vertu, sans laquelle la terreur est funeste  ; la terreur, sans laquelle la vertu est impuissante  : La terreur n’est 185 Ebenda. 186 Ebenda, S. 114.

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autre chose que la justice prompte, sévère, inflexible  ; elle est donc une émanantion de la vertu  ; elle est moins un principe particulier qu’une conséquence du principe général de la démocratie appliqué aux plus pressants besoins de la patrie.187

Doch so sinnverkehrend diese begriffliche Manipulation auf den ersten Blick auch erscheinen mag  ; eingebettet in den zeitgenössischen Kontext der Sinnverkehrungen demokratischer Schlüsselbegriffe in der Perspektive des physiokratischen Liberalismus, erhält sie den Charakter einer Replik, die den sprachlichen Absurditäten der Revolution eine weitere hinzufügt. Die Bewusstheit, mit der die Argumentation Robespierres im Übrigen auf die allgegenwärtige zeitgenössische Sprachverwirrung Bezug nimmt und sie dabei ihrerseits mitgeneriert, ist auch in dieser Grundsatzrede omnipräsent. Typisch hierfür sind exemplarische Gegenüberstellungen unterschiedlicher Wertungsperspektiven, die ihren Niederschlag in semantischen Oppositionen von Bezeichnungen gleicher begrifflicher Referenz finden, wie Robespierre dies am Beipiel des Gerechtigkeitsbegriffes demonstriert. »Wie lange noch«, so fragt er, »wird man die Raserei der Despoten Gerechtigkeit nennen und die Gerechtigkeit des Volkes Barbarei oder Rebellion  ?« »[ J]usqu’à quand la fureur des despotes sera-t-elle appelée justice, et la justice du peuple barbarie ou rébellion  ?«188 Neben einer Vielzahl solch konkreter, auch persiflierender Bezugnahmen auf das ideologisch bedingte Durcheinander der politischen Sprache der Revolution finden sich immer wieder auch allgemeiner gehaltene Hinweise, die dieses Dilemma als ein Grundproblem mangelnder politischer Aufklärung kritisieren. »Mit welcher Gutmütigkeit«, so eine der typischen rhetorischen Fragen, »fallen wir noch immer auf Worte herein  !«189 Den eigentlichen Hintergrund des sprachlichen Dilemmas der Revolution, das heißt den tatsächlichen ideologischen Gegensatz, der die Revolution im Namen der immer gleich klingenden vaterländischen Parolen in ihrem Kern spaltet, versucht Robespierre noch einmal in seiner letzten großen Rede auszuleuchten. Bezeichnenderweise ist sie der politischen Ethik, genauer gesagt »den Beziehungen der religiösen und moralischen Ideen zu den republikanischen Prinzipien« und in diesem Zusammenhang »den Nationalfeierlichkeiten« gewidmet.190 Die 187 188 189 190

Ebenda, S. 118. (Hervorhebung im Original) Ebenda, S. 119. »Avec quelle bonhommie nous sommes encore la dupe des mots  !« Ebenda, S. 120. Sur les rapports des idées religieuses et morales avec les principes républicains et sur les fêtes nationales. Ebenda, S. 155.

Zur Genesis semantischer Widersprüche in der Sprache der Revolution 

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Tatsache, dass die republikanische Ethik Robespierres sich dabei der Religiosität zuwendet, gar einen »Kult des höchsten Wesens« proklamiert, ist keine Überraschung. Im Sinne seiner Annäherung an die Ethikdebatte der Aufklärung handelt es sich eher um eine logische Konsequenz. Denn auch Rousseau und Kant hatten ihre gegen den sensualistisch-materialistischen Determinismus und seine utilitaristische Konsequenz gerichtete, »höhere« Ethik, ihre Ethik des Gewissens, der Uneigennützigkeit und der Pflichterfüllung letztlich in einem religiösen Glaubensbekenntnis verankert. Nur auf dieser in letzter Instanz transzendentalen Ebene konnte die jeder sinnlichen Beeinflussung enthobene, völlige Unabhängigkeit des menschlichen Willens und ein mithin nur der geistigen Sphäre zuzurechnendes Gewissen begründet werden. Und so ist es kein Zufall, wenn Robespierre den im politischen Diskurs so schwer verbal zu fassenden Gegner auf der Ebene jener alternativen politischen Ethik zu fixieren sucht, die partikulare Interessen auf dogmatische Weise in den Vordergrund stellt (»tout ce qui tend à justifier l’égoïsme«191), die den Egoismus wiederum als notwendige Folge eines materialistischen Menschenbildes und eines »fanatischen Atheismus« erkennt und die darauf ein gesellschaftliches System individueller Konkurrenz und gegenseitiger Täuschung gründet. Ein System, in dem einzig die unstete Gunst des Vermögens (»les faveurs incertaines de la fortune«) oder des Erfolges über Recht und Unrecht entscheidet  : La secte épicurienne (…) cette secte propagea avec beaucoup de zèle l’opinion du matérialisme (…) réduisant l’égoïsme en système, regarda la société humaine comme une guerre de ruse, le succès comme la règle du juste et de l’injuste. (…) un système qui, confondant la destinée des bons et des méchants, ne laisse entre eux d’autres différence que les faveurs incertaines de la fortune, ni d’autre arbitre que le droit du plus fort ou du plus rusé.192

Und es ist ebendiese – solcherart als ein in sich schlüssiges System definierte – politische Ethik, hinter der Robespierre schließlich die im politischen Diskurs so schwer zu fassende Verschwörung der Feinde der Revolution vermutet, jenes »erstaunlich einzigartige Einvernehmen«, das die so verschiedenartig erscheinenden, will sagen so verschiedenartig redenden Zeitgenossen gegen die von ihm selbst vertretene Politik zusammenschweißt (»ce singulier accord de principe entre tant d’hommes qui paraissent divisés«193). Verallgemeinernd lastet Robespierre dieses 191 Ebenda, S. 173. 192 Ebenda. 193 Ebenda.

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Einvernehmen, im Sinne einer epikureischen Ethik des Eigennutzes, den gebildeten Schichten, den so genannten »hommes de lettres« an, die sich damit »in dieser Revolution selbst entehrt« hätten (»Les hommes de lettres en général se sont déshonorés dans cette révolution«194). Und er nennt als Beispiel den »zum Verräter gewordenen Akademiker Condorcet« (»l’académicien Condorcet, jadis grand géomètre […], depuis conspirateur timide«195), der in seinem Buch Esquisse d’un tableau des progrès de l’esprit humain – wie wir oben gesehen haben – das politische System des Liberalismus als »den letzten Schritt der Philosophie« verklärt und sich dabei ausdrücklich auf die französischen Physiokraten berufen hatte. Für Robespierre jedoch handelt es sich um ein »barbarisches System«, das man »unter dem irreführenden Namen der Freiheit des Handels versteckt« und unter der Parole »Laissez-les faire« legitimiert (»déguiser ce système barbare sous le nom spécieux de la liberté du commerce«196, »Laissez-les faire«197). So schließt sich an dieser Stelle ein Kreis, der die semantischen Ambivalenzen des discours révolutionnaire, damit auch dessen sprachliches Dilemma, gewissermaßen nahtlos mit der Ethikdebatte der Aufklärung verbindet. Der Sturz Robespierres sowie das damit verbundene Ende der Jakobinerherrschaft bewirken nun insofern eine Änderung der Situation, als sich die Ideologie des Liberalismus, damit auch die physiokratisch-liberale Lesart der republikanischen Schlüsselbegriffe, als das letzte Wort der Französischen Revolution politisch durchsetzt. Die jedoch hinsichtlich ihrer ursprünglichen Inhalte fortbestehende Ambivalenz dieser Schlüsselbegriffe kennzeichnet fortan das widersprüchliche Erbe dieser Revolution und prägt in nachhaltiger Weise auch den Charakter des Epochenumbruchs um 1800. 13.4 Der Sieg des Liberalismus unter demokratischer Flagge Als Wortführer der physiokratisch-liberalen Lesart der politischen Sprache der Revolution, in deren Zentrum die Begriffe Freiheit und Gleichheit, Volkssouveränität und Vaterland, Demokratie und Menschenrechte stehen, profiliert sich nach dem Ende der Jakobinerherrschaft insbesondere die Gruppe der Idéologues. Es handelt sich dabei um einen elitären Personenkreis, der sich im Grunde bereits 194 Ebenda, S. 172. 195 Ebenda. 196 Robespierre, Textes choisis, Bd. II, S. 85. 197 Ebenda, S. 88.

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seit Anfang der 1770er Jahre im Salon der Madame Helvétius als »le groupe d’Auteuil« zusammengefunden und sich insbesondere der politisch interessierten Finanz- und Geschäftswelt geöffnet hatte.198 Zu ihren bekanntesten Anhängern zählen zu Beginn der Revolution Sieyès, Cabanis, Condorcet, Volney, Destutt de Tracy und Grégoire. Nach dem Sturz Robespierres kommen unter anderem hinzu  : Daunou, Dégérando, Lebreton, Monge, La Place, Chénier, Naigeon, Say, Maine de Biran, Roederer und Constant. Nicht überraschend ist die Tatsache, dass es die führenden Köpfe dieser Gruppierung waren, nämlich Cabanis, Condorcet, Roederer, Sieyès und Destutt de Tracy, die im Frühjahr 1790, gemeinsam mit Vertretern des Hochadels und der Finanzaristokratie wie La Fayette, Bailly, Mirabeau, Dupont de Nemours, La Rochefoucault, Le Chapelier und anderen, jenen schon erwähnten konspirativen Club gründeten, der sich unter dem Namen Société de 1789 in seiner Satzung ausdrücklich zu den Ideen des physiokratischen Liberalismus bekannte.199 Dies ist deshalb interessant, weil diese Satzung bereits die Umrisse der später von Destutt de Tracy unter dem Namen Idéologie konzipierten Science des idées erkennen lässt. Bekanntlich hatte die Société de 1789 ihr politisches Ziel in Anlehnung an die wesentlich von Sieyès entwickelte Idee eines art social definiert, was einen von den sciences économiques dominierten sowie methodisch an Condillacs berühmter »liaison des idées« orientierten Zusammenschluss aller Wissensbereiche des gesellschaftlichen Lebens meinte. Condorcet verstand unter dem art social vor allem die Kunst, den »nur scheinbaren Gegensatz« zwischen Gemeinwohl und Partikularinteresse in einer dem Modell der Physiokraten entsprechenden Wirtschaftsordnung aufzuheben (»le but de l’art social, n’est-il pas de détruire cette opposition apparente  ?«), was er unter anderem in die erstaunliche Formulierung kleidete  : »das Gemeininteresse jedes Menschen mit dem Gemeininteresse aller in Einklang bringen« (»identifier l’intérêt commun de chaque homme avec l’intérêt commun de tous«200). Erinnert sei an dieser Stelle auch daran, dass die von der Société de 1789 als neuartig ausgegebene Wissenschaft des art social die »Moralphilosophie der anciens«201 hatte ablösen sollen und dass damit noch einmal der grundlegende Unterschied zwischen den herkömmlichen, das heißt moralphilosophisch fundierten 198 Vgl. Ch. Takeda, Deux origines du courant libéral en France. In  : Revue française d’Histoire des idées politiques, No. 18, 2e semestre, 2003, S. 233–257. Ferner  : G. Gusdorf, La conscience révolutionnaire. Les Idéologues, Paris 1978. 199 Challamel, Les clubs contre-révolutionnaires. 200 Condorcet, Esquisse d’un tableau philosophique, S. 274. 201 »[L]a philosophie morale, que les anciens portèrent à une sorte de perfection«. Challamel, Les clubs contre-révolutionnaires, S. 392.

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Politiktheorien einerseits und der von wirtschaftlichen Interessen auf politische Inhalte und Ziele schließenden, daher physio-cratischen Weltanschauung andererseits fokussiert worden war. Und eben in diesem, von der physiokratischen Bewegung allerdings von Beginn an propagierten Verständnis, sollten nun, mit der landwirtschaftlichen Produktion beginnend, gewissermaßen in einem aufsteigenden, der liaison des idées folgenden Sinn alle wirtschaftlich und politisch miteinander verflochtenen Wissens- und Funktionsbereiche des gesellschaftlichen Lebens in nur einer Wissenschaft, dem so genannten art social, zusammengefasst werden  : »L’art de cultiver, l’art de commercer, l’art de gouverner, l’art de raisonner même, ne sont que des parties de cette science.«202 Es sollte erreicht werden, die wechselseitigen Zusammenhänge all dieser Bereiche auf der Grundlage der »ökonomischen Wissenschaften« zu erklären und daraus ihre »gemeinsame Liaison« mit der »allgemeinen Wissenschaft der Zivilisation« abzuleiten  : »(…) rechercher dans les sciences économiques leurs rapports mutuels, et surtout la liaison commune qu’elles peuvent avoir avec la science générale de la civilisation, tel est l’objet de l’art social.«203 Diesem hier noch einmal beleuchteten Muster des art social folgend, wird Destutt de Tracy die Idéologie als sensualistisch begründete Wissenschaft von den Ideen (genauer gesagt von der liaison des idées) entwickeln und damit vor allem eine philosophische Erläuterung der Zusammenhänge des ökonomischen Liberalismus mit der von Cabanis verfassten Anthropologie204 geben. Sein Hauptwerk, der Traité de la volonté, sollte schließlich von keinem Geringeren als Thomas Jefferson unter dem sehr viel zutreffenderen Titel A Treatise on political Economy im Jahre 1817 in den USA veröffentlicht werden.205 Tatsache ist nun zunächst, dass sich der genannte Personenkreis seit dem Sturz Robespierres in den Schlüsselpositionen der politischen Macht befindet und 1799 sogar federführend den Staatstreich des achtzehnten Brumaire, mithin die Machtübernahme Napoleon Bonapartes organisieren wird. Auch die Redaktion der neuen Menschen- und Bürgerrechtserklärung des Jahres 1795 sowie diejenige der neuen Verfassung liegt in seinen Händen.206 Ein kurzer Vergleich der Neu202 Ebenda. 203 Ebenda (Hervorhebung art social im Original, sonst R. Bach). 204 Vgl. dazu auch  : Gusdorf, La conscience révolutionnaire, S. 359–365. 205 Destutt de Tracy, Traité de la volonté et de ses effets (Paris 1805 und 1818). De l’amour, hrsg. A. Deneys-Tunney/H. Deneys. Corpus des œuvres de philosophie en langue française, Paris 1994. 206 Vgl. Takeda, Deux origines du courant libéral en France. Text der Menschen- und Bürgerrechtserklärung des Jahres 1795 in  : Les déclarations de droits de l’homme de 1789, hrsg. Chr. Fauré, Paris 1992, S. 476–478.

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auflage der berühmten Déclaration des Droits mit der bislang gültigen Fassung des Jahres 1793 lässt entsprechende Veränderungen erkennen. So folgt bereits der Titel der neuen Déclaration des droits et des devoirs de l’homme et du citoyen, die an die Stelle aller bisherigen Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte tritt, dem physiokratischen Prinzip der réciprocité, das heißt einem Prinzip der Wechselbedingtheit, das für Rechte und Pflichten ebenso gilt wie für jede andere Form des Tauschhandels. Quesnay hatte dieses Prinzip zunächst noch unsystematisch in seiner physiokratisch geprägten Aneignung der Pufendorf ’schen Naturrechtslehre in der Schrift Le Droit Naturel von 1765 aufgegriffen. Systematisch, im Sinne einer für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens geltenden Korrelation des Gebens und Nehmens, also des Austausches von Nützlichkeiten (das Zauberwort lautet  : réciprocité, auch mutualité), war dieses Prinzip dann von Le Mercier in seinem Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques zur Grundlage allen Rechtsverständnisses erhoben und in stereotypen Formulierungen des physiokratischen Diskurses ausgeprägt worden. An die Stelle eines ethischen Pflichtbegriffs, wie ihn noch die moralphilosophische Naturrechtslehre Pufendorfs bestimmt hatte,207 war dabei eine dem physiokratischen Eigentumsbegriff unterworfene Wechselbeziehung zur gegenseitigen Vorteilswahrung getreten.208 Es ist daher nur folgerichtig, dass diese dem ökonomischen Liberalismus zuzurechnende und seither in allen physiokratischen Schriften anzutreffende Position nun auch die Erklärung der Rechte und Pflichten des Jahres 1795 prägt. Interessant ist ferner, das die Bezeichnung »peuple«, das Volk, mit Ausnahme des ersten Satzes der Einleitung, gänzlich gestrichen und durch die Formulierungen »la majorité des citoyens« oder »l’universalité des citoyens« ersetzt wurde. Das in Artikel XXXV der Déclaration von 1793 207 Die wesentlich durch Pufendorfs Abhandlung Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen (Lund 1673) geprägte klassische Naturrechtslehre verstand sich, nach Pufendorfs eigenem Bekennen, als »Science des mœurs« und Teil der »Sciences morales«  ; vgl. Pufendorf, Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen, S. IV u. 16. Die Pflicht (Devoir) definiert Pufendorf auf Seite 1 seiner Abhandlung als »Action humaine exactement conforme aux Loix que nous impose l’Obligation« und versteht dabei »Obligation« als eine moralische, dem »bon sens« und dem geradlinigen Gewissen (»conscience droite«) gehorchende Verpflichtung. 208 Vgl. »Il s’y forme une chaîne de dépendances réciproques qui deviennent des droits et des avantages réciproques  : chaque homme est dans l’obligation de concourir à garantir les propriétés des autres hommes, et ce devoir lui donne un droit qui met les autres hommes dans l’obligation de concourir à lui garantir les siennes«  ; »cette balance de devoirs et de droits réciproques et proportionnels établis les uns sur les autres …« (Hervorhebungen R. Bach)  ; »qui dit un droit, dit une prérogative établie sur un devoir« (Hervorhebung im Original)  ; »il n’est point de droits sans devoirs«  ; »POINT DE DROITS SANS DEVOIRS, ET POINT DE DEVOIRS SANS DROITS.« (Hervorhebungen jeweils im Original). Le Mercier, L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, S. 26, 28, 35, 36.

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noch enthaltene und dort als »heiligstes Recht des Volkes« ausführlich erläuterte Recht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt (»l’insurrection«) wurde ersatzlos gestrichen, auch wenn der politische Gemeinwille, die »volonté générale«, verbal der Diktion Rousseaus folgend, als Grundlage des »Gesetzes« weiterhin proklamiert wird. Ebenfalls von Bedeutung für den Charakter dieser Déclaration von 1795 erscheint auch der vorletzte, unter der Rubrik »Devoirs«, also Pflichten, formulierte Artikel. Er erklärt den Schutz des Eigentums (gemeint ist das private Eigentum an Produktionsmitteln, an Grund und Boden) zur Grundlage aller Produktion und Arbeit, insbesondere aber zur Grundlage aller sozialen Ordnung schlechthin  : »ART. VIII.  – C’est sur le maintien des propriétés que reposent la culture des terres, toutes les productions, tout moyen de travail, et tout l’ordre social.«209 Der dominierende Einfluss des physiokratischen Liberalismus, wie er sich in dieser neuen Déclaration des droits et des devoirs manifestiert, kennzeichnet von nun an die politischen Äußerungen aller tonangebenden Akteure, insbesondere also der Idéologues, weit über die mit dem Directoire einsetzende Endphase der Französischen Revolution hinaus. Gleichzeitig suggeriert die Beibehaltung der demokratisch-republikanischen Formelsprache Rousseaus weiterhin ein Fortschreiben des revolutionären Geistes des Contrat social, damit auch die in den Schlagworten Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit bis heute vermittelte Illusion eines demokratischen Geistes der Französischen Revolution, wie er die sozialen Erhebungen des gesamten neunzehnten Jahrhunderts beflügeln sollte. An wenigen Textbeispielen der Autoren Cabanis, Roederer und Destutt de Tracy soll diese für die Sprache der Revolution fortan typische physiokratische Verfälschung zentraler Begriffe und Formulierungen der politischen Philosophie Rousseaus stellvertretend demonstriert werden. Gezeigt hatten wir bereits, wie Cabanis, einer der Wortführer der Idéologues und Mitverschwörer des achtzehnten Brumaire, in einer dem Staatsstreich unmittelbar vorauseilenden Laudatio auf die »nouvelle constitution«210 die Vorzüge einer »von allen Nachteilen gereinigten Demokratie« (»la démocratie purgée de tous ses inconvéniens«211) erläutert. Alles geschehe hier, in diesem »systême représentatif«, für das Volk und im Namen des Volkes  ; nichts aber bleibe dem Volk selbst überlassen oder geschehe unter seinem unüberlegten Diktat (»Tout se fait pour le peuple et au nom du peuple  ; rien ne se fait ni par lui ni sous sa dictée irréfléchie«212). Die ungebildete Klasse 209 Fauré, Les déclarations de droits de l’homme de 1789, S. 478. 210 Cabanis, Quelques considérations sur l’organisation sociale, S. 460–490. 211 Ebenda, S. 475. 212 Ebenda.

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(hier als lexikalische Variante der Bezeichnungen peuple und populace verwendet) übe keinen Einfluss (mehr) aus auf die Gesetzgebung oder auf die Regierung (»la classe ignorante n’exerce plus aucune influence, ni sur la législature ni sur le gouvernemant«213). In einer guten Demokratie, so Cabanis, müssten die jeweiligen Wählerschaften für bestimmte staatliche Funktionen nicht an der Basis, sondern auf dem Gipfel des Establishments rekrutiert werden  : Wahlen sollten also nicht von unten, sondern von oben her erfolgen. Nur so könnten Stabilität und Ordnung gesichert werden.214 Das Volk dürfe in der repräsentativen Demokratie selbst überhaupt keine direkte Wahl treffen (»Il ne doit donc faire directement aucun choix«215). So würde in diesem politischen System (»le véritable systême représentatif«) alles im Namen des Volkes und für das Volk geschehen, nichts dagegen durch das Volk selbst. Es sei zwar die heilige Quelle aller Macht, dürfe aber selbst keine einzige ausüben. So sei das Volk in der repräsentativen Demokratie zwar der Souverän, aber alle Macht, aus der diese Souveränität erwachse, sei delegiert. Das Volk sei auf diese Weise »frei, aber auch ruhiggestellt«  : Dans le véritable systême représentatif, tout se fait donc au nom du peuple et pour le peuple  ; rien ne se fait directement par lui  : il est la source sacrée de tous les pouvoirs  ; mais il n’en exerce aucun. (…) le peuple est souverain, mais tous les pouvoirs dont sa souveraineté se compose sont délégués. (…) en un mot, il est libre, mais il est calm.216

Und vor diesem Hintergrund wendet sich Cabanis in seiner Schrift abschließend mit einem Aufruf direkt an die Besitzenden und die unternehmerischen Kapitalisten, um ihnen zu versichern, dass ihre Besitztümer garantiert seien, die Früchte ihrer Spekulationen in ihren Händen verblieben. Alle sozialen Spannungen, jeglicher Hass seien überwunden  ; es gebe nunmehr nur noch Franzosen  : Propriétaires et capitalistes entreprenans, vos possessions vous sont garanties  : le fruit de vos spéculations restera dans vos mains (…) Hommes de tous les partis, respirez enfin  : toutes les dénominations de haine sont abolies, il n’y a maintenant que des ›Français‹.217 213 Ebenda. 214 »Du reste, des corps électoraux relatifs aux différens ordres de fonctions, doivent être institués non point à la base, mais au sommet de l’établissement  : les choix doivent partir non d’en bas, mais d’en haut où ils se feront nécessairement bien …« Ebenda, S. 474. 215 Ebenda. 216 Ebenda, S. 481. 217 Ebenda, S. 484.

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Aufschlussreich für den politischen Hintergrund des liberalen Konzepts einer »repräsentativen Demokratie« sind auch die zeitgenössischen Äußerungen Pierre-Louis Roederers, eines weiteren Anhängers der Idéologues, der sich ebenfalls aktiv am Staatsstreich Bonapartes beteiligen wird. Wie auch Sieyès und Cabanis hatte er zuvor den Sturz Robespierres, damit das »Ende der Revolution« begrüßt und das »nouveau système« des Directoire und seiner Constitution unter anderem im Einführungsartikel seines 1796 eigens für propagandistische Zwecke gegründeten Journal d’économie publique, de morale et de politique als endgültige politische Ordnung der Republik gewürdigt.218 In den Mittelpunkt stellt Roederer dabei den staatlichen Schutz für privatwirtschaftliche Unternehmen, die er mit dem neutralen Begriff der Arbeit als segensreiche vaterländische Institutionen preist. Als »grande fondation du travail en France« würden sie, wiewohl von »privatem Interesse geleitet« (»dirigé par l’intérêt privé«), »die Beziehungen von Mensch zu Mensch veredeln« und die »Gleichheit des Rechts eingedenk faktischer Ungleichheit« für Arm und Reich erstrebenswert machen, dabei dem Reichen Bescheidenheit, dem Armen aber Würde verleihen  : C’est cette institution pleine et entière du travail, mais elle seule, qui, développant tous les talents, multipliant toutes les richesses, grossissant le patrimoine commun, a, en outre, l’avantage de resserer et d’ennoblir toutes les relations d’homme à homme  ; c’est elle seule qui peut rendre sensible et faire goûter avec douceur l’égalité de droits dans les inégalités de fait, en donnant au riche de la modestie et de la frugalité, au pauvre de la dignité et des jouissances.219

Mit der neuen Constitution wäre in diesem Sinne Ordnung geschaffen. Ein Begriff, den Roederer ganz nach dem Vorbild Le Merciers quasi sakralisiert und zum Inbegriff der Identifizierung von Natur und Gesellschaft, natürlicher und gesellschaftlicher Ordnung erhebt  : »L’ordre, l’ordre, voilà l’objet de toute constitution. (…) L’ordre est la sagesse de la nature. (…) De même, dans la société politique, l’ordre, une fois établit, régit tout par sa seule puissance  ; (…) il met tous les hommes en accord avec la nature.«220 Den hier betrachteten Einführungsartikel seines Journal d’économie publique, de morale et de politique beschließt Roederer

218 P.-L. Roederer, (Présentation du) Journal d’économie publique, de morale et de politique. In  : L. Jaume, Échec au Libéralisme. Les Jacobins et l’État, Paris 1990, S. 110–119. 219 Ebenda. S. 115/116. 220 Ebenda. S. 112.

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mit dem wohl absichtlich an die berühmte Marseillaise erinnernden Ausruf »Le jour de l’ordre est arrivé« (»Der Tag der Ordnung ist gekommen«).221 Von besonderem Interesse ist allerdings noch ein weiterer Gedanke, den Roederer ebenfalls in den letzten Sätzen seines programmatischen Textes anklingen lässt, wenn er dazu aufruft, die öffentliche Meinung nicht dem Selbstlauf zu überlassen, sondern sie zu steuern  : »conduire l’opinion publique«.222 Denn nur ein Jahr später verfasst er eine Theorie der öffentlichen Meinung, die er als Beitrag zur praktischen Umsetzung des Konzepts der »repräsentativen Demokratie« verstanden wissen möchte.223 Die seit Quesnay von allen physiokratischen Autoren geforderte und zur ersten Aufgabe des Staates bestimmte instruction publique, deren erklärtes (und in unzähligen Catechismes auch praktisch angestrebtes) Ziel die Erlangung der Deutungshoheit im öffentlichen politischen Diskurs war, erfährt mit dieser Grundsatzanalyse Roederers eine weitergehende Anpassung an das modernisierte Konzept einer wirtschaftsliberalen staatlichen Ordnung. Die Theorie Roederers, mit der eine Lenkung der öffentlichen Meinung in der repräsentativen Demokratie erreicht werden soll, lässt sich im Wesentlichen auf fünf entscheidende Positionen reduzieren. Zunächst besteht demnach die eigentliche politische Assoziation des Staates, einem wirtschaftlichen Unternehmen vergleichbar, lediglich aus den finanziell beteiligten Aktionären, während »der Rest« nur »Mitglied der dienstbaren Gesellschaft« ist  : D’une part, l’association politique n’est pas contractée entre tous les individus qu’elle renferme, (…) elle est composée de ceux qui ont fait une mise égale de droits dans la société, (…) ceux qui ont pris un intérêt direct, une action dans l’entreprise sociale. Le reste n’est que membre de la société domestique.224

Zum Zweiten unterscheidet Roederer zwischen einem öffentlichen Gefühl (sentiment publique) und einer öffentlichen Meinung, wobei Ersteres von den »unteren Schichten des Volkes«, von »den Ärmsten und Dümmsten« nach oben steigt, während sich Letzteres vom »Gipfel der Pyramide« ausgehend nach unten, zu den »classes inférieures« hin verbreitet.225 Ein dritter Punkt des Textes 221 Ebenda, S. 119. 222 Ebenda. 223 P.-L. Roederer, De la majorité nationale, de la manière dont elle se forme, et des moyens auxquels on peut la reconnaître, ou Théorie de l’opinion publique. Der vollständige Text findet sich abgedruckt in  : Jaume, Échec au Libéralisme, S. 98–105. 224 Ebenda, S. 99. 225 Ebenda, S. 100.

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enthält eine Analyse und Aufzählung von insgesamt sechs sozialen Klassen, die sich nach Bildung und Wohlstand voneinander unterscheiden, wobei Roederer schlussfolgert, dass sich diese beiden Kriterien jeweils proportional zueinander verhalten. Ein vierter Punkt ist die quasi dogmatische Feststellung, dass sich die »reinsten Wahrheiten« stets von »oben« nach »unten« bewegen müssen, dass die Regierungen dies stets sehr ersnthaft im Auge haben sollten und niemals die Leidenschaften des Volkes (»les passions populaires«) für die »öffentliche Meinung« halten dürften. Den Regierungen wird daher  – fünftens  – aufgegeben, die Initiative der »öffentlichen Meinung« grundsätzlich bei den Besitzenden, den »propriétaires« (gemeint sind also auch hier die Besitzer von Produktionsmitteln) zu suchen, deren Interessen und Reden, ihre Lektüre, ihre Bücher und ihre Zeitungen zu kennen. Denn sie seien die Führer und Organe der öffentlichen Meinung (»ses guides et ses organes«)  : Et puisque l’expression du sentiment général et l’initiative de l’opinion appartiennent aux propriétaires, qu’ils sont ses guides et ses organes, c’est à leurs intérêts, c’est à leurs discours, c’est à leurs lectures, c’est aux livres, aux journaux qui ont cours parmi eux, que le Gouvernement doit donner toute son attention.226

Die »repräsentative Demokratie« der physiokratisch liberalen Fraktion erhält damit, nach Roederer, die auch von Cabanis vorgeschlagene, dem republikanisch-demokratischen Geist des Contrat social von Rousseau in jeder nur denkbaren Weise widersprechende Form einer »von allen Nachteilen gereinigten Demokratie« (»démocratie purgée de tous ses inconvéniens«227). Die Bemühungen um eine als Teil der Naturwissenschaft vom Menschen verstandene – und in diesem Sinn erkenntnistheoretisch konzipierte – Begründung der Ideologie des physiokratischen Liberalismus als einzig möglicher Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung finden ihren Höhepunkt und Abschluss in den erst unmittelbar nach der Revolution erscheinenden Éléments d’Idéologie von Destutt de Tracy.228 Ihr vierter und letzter Band mit dem Titel Traité de la volonté et de ses effets, der anlässlich seiner Publikation im Jahre 1815 zunächst wenig Resonanz findet, erscheint, wie bereits erwähnt, bezeichnenderweise im Jahre 1817, auf Betreiben Thomas Jeffersons, in den Vereinigten Staaten unter dem Titel A Tre226 Ebenda, S. 105. 227 Cabanis, Quelques considérations sur l’organisation sociale, S. 475. 228 Von 1801 bis 1815 erscheinen die Éléments d’Idéologie in der Abfolge  : I. Idéologie proprement dite, II. Grammaire, III. Logique und IV. Traité de la volonté et de ses effets.

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atise on political Economy. Bereits die inhaltliche Gliederung entlang der Schwerpunkte »faculté de sentir/faculté de vouloir«, »Économie« und »Morale« lässt die bekannte physiokratische Logik erkennen. Alle Philosophie vom Menschen müsse sich demanch auf die physiologischen Fakten der Menschennatur stützen  : »Car toute philosophie ayant pour objet la connaissance de l’homme, doit s’appuyer sur les faits constans que nous devons à l’étude de la physiologie.«229 Noch einmal versammelt Destutt in diesem Sinn all die bekannten Argumente einer konsequent sensualistischen Betrachtung der Menschennatur, mithin auch einer Zurückführung allen Denkens und moralischen Urteilens auf physiologische Ursachen, um daraus die naturwissenschaftliche Notwendigkeit einer auf Eigentum und Austausch, Partikularinteresse und Konkurrenz gegründeten Gesellschaftsordnung abzuleiten. Denn als ewige Wahrheit (»éternelles vérités«) gilt, dass Eigentum grundsätzlich vor jeder gesellschaftlichen Institution existiert, damit auch, allein als Ausdruck individuellen Wollens, jeder rechtlichen Sanktionierung überhoben ist  : Il y a une propriété fondamentale, antérieure et supérieure à toute institution, (…) il y a propriété, sinon précisément partout où il y a individu, du moins partout où il y a individu voulant en conséquence de son sentiment, et agissant en conséquence de sa volonté.230

Der hier involvierte Begriff des Willens unterscheidet sich grundsätzlich und ausdrücklich von der Idee des freien Willens, wie er der politischen Philosophie Rousseaus zugrunde liegt. Und ebenso wie bereits Le Mercier in seinem physiokratischen Grundlagenwerk von 1767 nimmt auch Destutt de Tracy die damit verbundene begriffliche Abgrenzung zur angeblich metaphysischen Freiheitsidee des Contrat social vor, wenn er sie als »absurdité complète« und als »véritable non-sens« bezeichnet  : »C’est un véritable non-sens, de prétendre que la volonté est libre de naître«.231 Denn in dem sensualistisch begründeten und utilitaristisch ausgerichteten Menschenbild des physiokratischen Liberalismus geht dem Willen ein Motiv voraus, das ausschließlich auf die Befriedigung eines sinnlichen Bedürfnisses gerichtet ist  : »On ne saurait trop le redire, l’être sensible ne peut vouloir sans motif.«232 229 Destutt de Tracy, Traité de la volonté et de ses effets, S. 395. 230 Ebenda, S. 61. 231 Ebenda, S. 84 (Hervorhebung im Original). 232 Ebenda.

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So definiert erst der jeweilige Spielraum, im modernen Sinn etwa als Kaufkraft zu verstehen, das jeweilige Maß der individuellen Freiheit, was wiederum in der seit Le Mercier bekannten Proportionalität von propriété und liberté seinen Ausdruck findet. Freiheit definiert Destutt folgerichtig als (jeweilige) Potenz, unsere Wünsche zu befriedigen (»notre liberté, c’est-à-dire (que) notre pouvoir de satisfaire nos désirs«233), sie ist insofern identisch mit dem Glücksbegriff (»Elle est la même chose que notre bonheur«234). Auch in dieser Bezugnahme auf den Glücksbegriff, also das wohlverstandene Eigeninteresse (»l’intérêt bien entendu«) als alleiniges Ziel der physiokratisch-liberalen Freiheitsidee, zeigt sich der grundlegende, nämlich ethikrelevante Gegensatz zum Freiheitsbegriff Rousseaus und Kants. Um an dieser Stelle aber auf das für die Menschennatur apriorisch gesetzte Eigentum zurückzukommen, so nimmt im physiokratisch-liberalen Verständnis von Mensch und Gesellschaft jedes Individuum allein durch den Besitz der Ware Arbeitskraft als propriétaire am sozialen Tauschhandel teil. Die schließlich aus Individuen gebildete Gesellschaft kann daher selbst unmittelbar mit Kommerz und ständigem Tauschhandel gleichgesetzt werden, die Aussagen Destutts lassen in dieser Hinsicht keinerlei Zweideutigkeit erkennen  : Commerce et société sont une seule et même chose  ; (…) la société, dès son origine, n’est essentiellement qu’un commerce continuel, qu’une série perpétuelle d’échanges de tous genres.235 le commerce est toute la société236 Il est donc vrai que la société ne consiste que dans une suite continuelle d’échanges.237

Gleichwohl bilden sich, infolge physiologischer Unterschiede, die ihrerseits Leistungsdifferenzen begründen, zwei große soziale Klassen (»deux grandes classes d’hommes«) heraus, die sich  – mit entgegengesetzten Interessen  – gegenüberstehen  : die Entlohnten (»les salariés«) und die Entlohnenden (»les salarians«). Die einen versuchen ihre Arbeitskraft so teuer wie möglich zu verkaufen, während die anderen danach trachten, sie möglichst günstig anzukaufen. Da wir indessen alle propriétaires und consommateurs gleichermaßen sind, vereinigt uns diese Interessenlage über alle natürliche Ungleichheit hinweg  : 233 Ebenda, S. 85 (Hervorhebung im Original). 234 Ebenda (Hervorhebung im Original). 235 Ebenda, S. 169. 236 Ebenda, S. 119 (Hervorhebung im Original). 237 Ebenda, S. 111.

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Puisque nous avons tous des moyens, nous sommes tous propriétaires  ; puisque nous avons tous des besoins, nous sommes tous consommateurs. Ces deux grands intérêts nous réunissent toujours. Mais nous sommes naturellement inégaux (…). De là deux grandes classes d’hommes, les salariés et les salarians, opposés d’intérêts en ce que les uns vendant leur travail voudraient le vendre cher, et les autres l’achetant voudraient l’acheter à bon marché.238

Und so wandeln sich, der zuletzt eindringlich von Condorcet beschworenen Logik folgend, die gegensätzlichen Partikularinteressen in ein neuartiges Gemeininteresse (»intérêt commun«) von Besitzenden und Verbrauchern  : »Il est donc vrai que, malgré l’opposition nécessaire de nos intérêts particuliers, nous sommes tous réunis par les intérêts communs de propriétaires et de consommateurs.«239 Im republikanischen Sprachgebrauch entsteht auf diese Weise auch ein neuartiger Begriff des Gemeinwohls als Ausdruck und Ziel eines angenommenen Gemeininteresses von Besitzenden und Verbrauchern. Soziale Gegensätze wie derjenige zwischen Arm und Reich werden gleichsam auf sprachlicher Ebene durch die bereits angedeutete Ausdehnung des Eigentums- beziehungsweise des Eigentümerbegriffs überwunden, der ausdrücklich Arme und Reiche vereint (»Il est donc certain que le pauvre est propriétaire comme le riche«240). Und ganz ähnlich erfolgt die semantische Gleichsetzung von Lohnarbeitern (»salariés«), das heißt jenen, die nur ihre Arme haben (»ceux qui n’ont que leurs bras«), auf der einen und Unternehmern (»entrepreneurs«) auf der anderen Seite durch den Gleichklang ihrer Verbraucherinteressen  : »l’intérêt des salariés étant celui du très-grand nombre, et l’intérêt des consommateurs étant celui de tous …«241 Damit schließt sich ein Kreis gesellschaftspolitischer Argumentation, der es, eingedenk einer frühen Inanspruchnahme der Menschenrechtsdebatte, um die demokratische Verklärung einer zuerst dem Eigentum, der freien Konkurrenz und einem moralischen Egozentrismus verpflichteten wirtschaftsliberalen Ordnung zu tun ist. Ihre breitgefächerte Legitimationsstrategie verbindet die soziologische Analyse des Wechselspiels ökonomischer Interessen ebenso mit dem politischen Diskurs einer ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten demokratischen Ordnung wie mit der als Naturwissenschaft ausgegebenen Erkenntnislehre ei238 Ebenda, S. 351. 239 Ebenda, S. 257. 240 Ebenda, S. 254. »So ist es also sicher, dass der Arme genauso Besitzer ist wie der Reiche.« (Übersetzung und Hervorhebungen R. Bach). 241 Ebenda, S. 217/218.

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nes Condillac und der Moralphilosophie eines Helvétius. Für Destutt de Tracy handelt es sich genau in diesem Sinne bei der Idéologie, also der Wissenschaft von den Ideen, um den Höhepunkt jener von den économistes, also den Physiokraten, begründeten Science nouvelle.

14 Epilog  : Die Ethikdebatte als Brückenschlag zwischen Aufklärung und Romantik oder das romantische Erbe der Aufklärung Zu den wichtigsten Texten, die den Übergang von den Denkmustern der Aufklärung in den Zeitgeist der Romantik illustrieren, zählt ohne Zweifel Madame de Staëls 1813 erschienenes Buch De l’Allemagne. Denn bei Weitem geht es in diesem Buch nicht nur um eine »Entdeckungsreise« durch die in Frankreich damals wenig bekannte zeitgenössische deutsche Kultur, Literatur und Philosophie. Für Madame de Staël geht es auch um eine kritische Betrachtung der in diesem Epochenumbruch aufeinandertreffenden Gegensätze, die sie gleichermaßen auf ethischer wie auch ästhetischer Ebene reflektiert. Den rationalistisch geprägten, in ihrer Ästhetik aber auch auf die Antike bezogenen Anschauungen der Klassik in Kunst und Literatur der Franzosen tritt der – nach eigenem Bekunden – von der Poesie des nordischen Rittertums und des christlichen Mittelalters inspirierte Geist einer vor allem in Deutschland heimisch gewordenen romantischen Moderne entgegen. Zu dieser romantischen Moderne bekennt sich Madame de Staël sowohl in ethischer wie in ästhetischer Hinsicht und so entsteht hier eine der ersten und umfangreichsten Selbstverständigungen romantischen Denkens, die sich eben auch als eine Selbstverständigung über die historiographisch bis heute wenig beachteten Zusammenhänge zwischen romantischer Ethik und romantischer Ästhetik erweist. Denn hinter dem revolutionären Epochenumbruch in allen Bereichen der Kunst und Literatur, der sich mit dem Aufkommen der Moderne vor allem in Gestalt romantischer Ideale um 1800 zu manifestieren beginnt, steht nach Madame de Staëls Überzeugung vor allem die Wiedergeburt einer Ethik des Gewissens und der ideellen Werte. Diese, so lesen wir bei Madame de Staël, richte sich in Philosophie, Kunst und Literatur ausdrücklich gegen das sensualistisch-materialistische Menschenbild, wie es von den meisten französischen Autoren des achtzehnten Jahrhunderts propagiert wurde. Sie verweist in diesem Zusammenhang mehrfach auf die mit Locke einsetzende Genealogie eines »Systems, das alle unsere Ideen auf unsere Sinnesempfindungen gründet« (»le système qui fonde toutes nos idées sur nos sensations«1). Daraus sei schließlich jene interessengesteuerte Moral abgeleitet worden, die »so stark von den französischen Schriftstellern des letzten Jahrhunderts gepredigt wurde« (»la mo1 De Staël, De l’Allemagne, Bd. II, S. 110.

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rale fondée sur l’intérêt, si fortement prêchée par les écrivains français du dernier siècle«2). Namentlich richtet Madame de Staël diesen Vorwurf unter anderem mehrfach an Condillac, Diderot, Helvétius und den »Autor des Système de la Nature«3, das heißt an all jene Autoren, die tatsächlich – getreu der physio-kratischen Auffassung  –, moralrelevantes Verhalten aus physischen Gegebenheiten abgeleitet hatten  : »ils en appellent tous à l’influence du physique sur le moral«.4 Cabanis, den wir bereits als einen der erfolgreichsten Verfechter des physiokratischen Wirtschaftsliberalismus gezeigt haben, hatte genau diesen physio-kratischen Determinismus, nämlich die scheinbar auf physiologischer Grundlage möglich gewordene Berechenbarkeit aller menschlichen Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Tugendnormen, als französische Variante der deutschen Anthropologie5 (»C’est ce que les Allemands appellent l’Anthropologie«) in einer äußerst umfangreichen Abhandlung vorgestellt. In diesen Rapports du Physique et du Moral de l’homme et lettre sur les causes premières6 schreibt Cabanis unter anderem  : »Physiologie, Analyse der Ideen und Moral sind nur die drei Zweige ein und derselben Wissenschaft, die sich die Wissenschaft vom Menschen nennen darf.«7 Immanuel Kant, auf den sich Madame de Staël hauptsächlich bezieht, war dieser zutiefst utilitaristischen Lehre bereits in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entgegengetreten und hatte nun auch in seiner Anthropologie von 1797 eine scharfe Grenze zwischen physiologisch bedingten und moralisch relevanten Aspekten seiner Lehre vom Menschen gezogen, indem er dort unter anderem einleitend bemerkt  : Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefasst (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem

2 Ebenda (Hervorhebung R. Bach). 3 D’Holbach. 4 De Staël, De l’Allemagne, Bd. II, S. 110. 5 Die 1797 von Immanuel Kant veröffentlichte Anthropologie hatte dieser, laut G. Gusdorf, Le Romantisme, Bd. I und II, Paris 1993, Bd. I, S.  362, bereits über fünfundzwanzig Jahre in seinen Lehrveranstaltungen vertreten. Cabanis verweist auf die vermeintliche Identität der französischen und deutschen Anthropologie auf S. 62 seiner Abhandlung. 6 Dieser 1796 vor dem physiokratisch beherrschten Institut als Beitrag zu den Sciences morales et politiques vorgestellte Text wurde zuerst 1805 veröffentlicht. 7 »[L]a physiologie, l’analyse des idées et la morale, ne sont que les trois branches d’une seule et même science, qui peut s’appeler, à juste titre, la sience de l’homme.« Cabanis, Rapports du Physique et du Moral de l’homme (…), Paris 1844, S. 62.

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Menschen macht, die pragmatische auf das, was Er, als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.8

Nur auf Letztere hatte Kant schließlich seine Sittenlehre, den kategorischen Imperativ, Wahrhaftigkeit, Charakter und Menschenwürde gegründet.9 Die von Cabanis vertretene Ansicht, wonach »Moral letztlich nur physisch begründet« sei (»le moral n’est que le physique«10), wird daher von Madame de Staël, wie übrigens von vielen der Romantik verpflichteten Autoren, unter Bezugnahme auf Kants Anthropologie scharf kritisiert und systematisch zurückgewiesen. Gleichwohl wurde dieses – letztendlich am Blickwinkel des Wirtschaftsliberalismus orientierte – Menschenbild, wie es von Condorcet, Cabanis und Destutt de Tracy gewissermaßen als letztes Wort der Naturwissenschaft vom Menschen vollendet und auf eine ausschließlich interessengesteuerte Moral, die so genannte morale fondée sur l’intérêt personnel festgelegt worden war, auch weiterhin im Namen eines bis heute partiell fehlinterpretierten Liberalismus des frühen neunzehnten Jahrhunderts propagiert. Es bildete daher folgerichtig einen der zentralen Reibungspunkte zwischen Romantikern und demjenigen Teil der Aufklärung, der sich – jenseits der Positionen von Rousseau und Kant – zu diesem sensualistisch-materialistischen Diskurs bekannte. Durch das gesamte Werk De l’Allemagne zieht sich nun Madame de Staëls grundlegende Kritik an diesem Menschenbild, seiner Moraldoktrin und seiner Ästhetik, wobei sie unter Bezugnahme auf die Schriften Immanuel Kants exakt die Genesis jener Kontroverse nachzeichnet, die wir als Ethikdebatte der Spätaufklärung analysiert haben. Sie markiert insofern  – als wichtigste Schnittund Bruchstelle zwischen Aufklärung und Romantik – zum einen die Diskontinuität, zum anderen aber auch eine wesentliche Kontinuität zwischen diesen beiden geistigen Strömungen. Denn die von Rousseau als Kernstück seiner Moralphilosophie und seines politischen Denkens artikulierte und von Immanuel Kant philosophisch vertiefte Kritik am Gesamtkonzept einer auf allgegenwärtigen Tauschhandel, Konkurrenzdenken und utilitaristischen Verhaltenskodex reduzierten Vision der gesellschaftlichen Existenz des Menschen ist ja doch integraler Bestandteil einer seit Mitte des Jahrhunderts in ihren ethischen Vorstellungen   8 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In  : I. Kant, Sämtliche Werke, Stuttgart 2000, Bd. 3, S. 147.   9 Dieser Gedanke durchzieht nicht nur Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten sondern auch den gesamten Text der Anthropologie. Vgl. u. a. ebenda, S. 215, 253, 282, 292, 294–295. 10 Cabanis, Rapports du Physique et du Moral de l’homme, S. 78.

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gespaltenen Aufklärung. Gleichzeitig bildet sie aber auch das eigentliche, nämlich ethische Fundament der romantischen Protestbewegung und ihrer – angesichts der von uns dokumentierten politischen wie moralischen Sprachverwirrungen – auf Wahrhaftigkeit zielenden künstlerischen Formensprache. Und in diesem Sinn ist Madame de Staël nichts weniger als die Kronzeugin eines Epochenumbruchs, der in jeder Hinsicht deutliche Spuren der Ethikdebatte der Spätaufklärung trägt. Zwar erscheinen die definitorischen Abgrenzungen, die Madame de Staël zwischen der poésie classique und der poésie romantique in einem eigens dafür konzipierten Kapitel geltend macht, zunächst auf einen bedeutend größeren historischen Rahmen Bezug zu nehmen, insofern die Autorin die griechisch-römische Antike auf der einen, Mittelalter und Christentum auf der anderen Seite als ursprüngliche Bezugsquellen beider Strömungen gegenüberstellt.11 Es sind aber in der näheren Bestimmung dessen, was sie als poésie romantique, la littérature romantique ou chevaleresque, l’école moderne, le goût moderne, la nouvelle école, les modernes oder génie des modernes qualifiziert, vor allem ethische Charakteristika, die sie dem Selbstverständnis der romantischen Bewegung unterstellt und die sie gleichsam auf moralphilosophischer wie auf kunstphilosophischer Ebene als Kriterien der Abgrenzung gegenüber allen anderen herkömmlichen und zeitgenössischen Kunstformen ins Feld führt. So erscheint die von Historikern häufig missverstandene Verklärung des Mittelalters ebenso wie das Wiederaufleben christlicher Ideale und mystischer Ausdrucksformen in der romantischen Kunst keineswegs als Weltflucht oder gar als Ausdruck einer dem gesellschaftlichen Fortschritt abholden reaktionären Geisteshaltung. Wäre dies der Fall, so stünde das historische Zurückgreifen der Künstler und Denker der Renaissance auf antike Vorbilder ebenfalls unter dem Generalverdacht eines reaktionären Anachronismus. Vielmehr bezeichnen diese Erscheinungsformen romantischer Gesinnung die eigentliche Antithese zum atheistisch-materialistischen Utilitarismus, nämlich ein ethisches Bekenntnis zu individueller Opferbereitschaft, gläubigem Enthusiasmus und ritterlichem Verhalten, wie sie eben in der mittelalterlichen Poesie besungen und seit jeher als christlicher Kodex gefordert wurden. Es ist dieses Ideal der Hingabe und der ganz und gar unmodern erscheinenden Selbstlosigkeit, le généreux sacrifice, das nach Madame de Staëls Überzeugung den ethischen Kern romantischer Poesie bildet  : »le génie poétique est une disposition intérieure de la même nature que celle qui rend capable d’un généreux sacrifice«.12

11 De Staël, De l’Allemagne, Bd. I, S. 211 ff. 12 Ebenda, S. 205.

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So gilt ihr die Poesie selbst als die natürliche Sprache allen Glaubens, die sich auch in der Bibel findet (»le langage naturel de tous les cultes. La Bible est pleine de poésie«13). Sie erst erklärt das Mysterium wirklicher Schönheit in allen Gattungen, wie es durch den Anblick einer schönen Landschaft, eines bezaubernden Objektes oder durch eine Melodie das Göttliche im menschlichen Herzen erweckt (»ce qui est vraiment divin dans le cœur de l’homme«14)  : »(…) les impressions qu’éxcitent une belle contrée, une musique harmonieuse, le regard d’un objet chéri, et par-dessus tout un sentiment religieux qui nous fait éprouver en nousmême la présence de la divinité.«15 Die Philosophie des Materialismus, so schreibt Madame de Staël, habe das menschliche Denken auf das Reich der Sinnesempfindungen reduziert, die Moral auf das persönliche Interesse und das Schöne auf das Angenehme. Kant habe hingegen versucht, den primitiven Wahrheiten wieder Geltung zu verschaffen, der Spontaneität in der menschlichen Seele, dem Gewissen in der Moral und dem Ideal in der Kunst.16 In diesem Zusammenhang unterstreicht Madame de Staël noch einmal ihre ideengeschichtliche Einordnung der Positionen Kants, wenn sie ihn zum Kronzeugen des intellektuellen Widerstandes gegen die »scheinheiligen Sophismen« jener »perversen Doktrin« erhebt, die im Sinne des physiokratischen Liberalismus eine egozentrierte Moral des »wohlverstandenen Eigeninteresses« propagiert  : »Nous examinerons dans les chapitres suivants les arguments de Kant contre la morale fondée sur l’intérêt personnel, et la sublime théorie qu’il met à la place de ce sophisme hypocrite ou de cette doctrine perverse.«17 Analysiert man vor diesem Hintergrund die Bekenntnisse anderer Autoren der Romantik, so wird die Tragweite ebendieser Beobachtungen von Madame de Staël allenthalben offenkundig. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass viele Autoren ihre zutiefst realistische Darstellung sozialer Verwerfungen der Gesellschaft, vor allem aber deren moralischer Dekadenz tatsächlich mit der Vision eines ethisch höher stehenden, gewissermaßen darüber hinausweisenden Ideals verbin-

13 Ebenda. 14 Ebenda. 15 Ebenda. 16 »La philosophie matérialiste livrait l’entendement humain à l’empire des objets extérieurs, la morale à l’intérêt personnel, et réduisait le beau à n’être que l’agréable. Kant voulut rétablir les vérités primitives et l’activité spontanée dans l’âme, la conscience dans la morale, et l’idéal dans les arts.« De Staël, De l’Allemagne, Bd. II, S. 128. 17 De Staël, De l’Allemagne, Bd. I, S. 135.

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den. »Wir leben in einer Zeit des moralischen Ruins«,18 schreibt George Sand im Vorwort zu ihrem Roman Indiana und ergänzt in einer späteren Betrachtung zur Aufgabe des Romans und der Kunst schlechthin, es gehe prinzipiell darum, der tatsächlichen Realität (»la réalité positive«) eine Suche nach der idealen Wahrheit (»une recherche de la vérité idéale«) entgegenzusetzen.19 Einem durchaus vergleichbaren Konzept folgt letztlich auch Victor Hugo, wenn er seiner von Realismus geprägten Beschreibung und Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft in seinem Roman Les misérables die idealisierten Lichtgestalten eines Bischof Myriel und des ehemaligen Sträflings Jean Valjean entgegenstellt. Und so kommentiert denn auch F. M. Dostojewski diesen Roman und »die grundlegende Idee seiner (Hugos) Dichtung« mit den Worten  : »Diese Idee ist die Grundidee der Kunst im neunzehnten Jahrhundert, und als Künstler war Victor Hugo wohl ihr erster Verbündeter. Es ist eine christliche und zutiefst moralische Idee  ; ihre Formel lautet  : Erneuerung des untergegangenen Menschen.«20 Und scheint nicht selbst ein so berühmtes romantisches Gemälde wie La Liberté guidant le peuple (»Die Freiheit führt das Volk«) von Eugène Delacroix seine ebenso erschütternde wie aufrüttelnde Botschaft vor allem der Kombination aus schonungslosem Realismus und idealisierter Allegorie zu verdanken  ? Ein ganz anderes, damit aber zusammenhängendes Kapitel betrifft den Symbolismus romantischer Kunst, dessen ästhetische Ausrichtung ohne Zweifel auf den von uns geschilderten Niedergang der sozialen Orientierungsfunktion der Sprache, auf den Verlust jeglicher Wahrhaftigkeit des Wortes Bezug nimmt.21 Denn auf die seit der Französischen Revolution in Szene gesetzte Sprachverwirrung reagieren romantische Künstler mit sinnbildlichen Botschaften, wie sie etwa bei Caspar David Friedrich durch die zu Sinnbildern verdichtete Kombination realistischer Abbilder vermittelt werden. Wahrhaftigkeit, eine Grundforderung romantischer Kunst, wird erreicht durch Verinnerlichung der sinnbildlichen Botschaft, ein den Täuschungen der Sprache überhobenes, stummes gegenseitiges Verstehen, das den Betrachter ohne Worte mit dem Künstler verbindet  : »Der Maler«, schreibt Caspar David Friedrich, »soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht,

18 »Nous vivons dans un temps de ruine morale«, George Sand in der Préface de l’édition de 1832 ihres Romans Indiana (1832), Paris 1996, S. 25/26. 19 George Sand, La mare au diable (1846), Paris 1959. 20 F. M. Dostojewski, Über Literatur, Leipzig 1971, S. 277. 21 Vgl. R. Bach, Sinnbildliche Botschaften. In  : V. Fuchs (Hrsg.), Von der Unklarheit des Wortes in die Klarheit des Bildes  ? Festschrift für Johannes Thiele, Tübingen 1998, S. 43–52.

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sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.«22 Überall in Literatur, Kunst und Philosophie der Epochenwende zwischen Aufklärung und Romantik, und darüber hinaus weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein, begegnen wir auf diese oder ähnliche Weise den Spuren der Ethikdebatte der Spätaufklärung und ihren vielfältigen Auswirkungen.23 Doch dies zu illustrieren müsste Gegenstand einer neuen, noch weiter ausgreifenden Untersuchung sein. Ein letztes Beispiel aber, das die Fortwirkung der gesellschafts- und moralkritischen Anregungen Jean-Jacques Rousseaus und Immanuel Kants auf einem heute weitgehend verkannten Gebiet dokumentiert, sei an dieser Stelle noch angeführt. Es handelt sich um die Reden an die deutsche Nation von J. G. Fichte, einen Text, der die Vorlesungen Fichtes vom Wintersemester 1807/1808 versammelt. Denn in unmittelbarer Anknüpfung an die ethische Positionierung Kants, wie dieser sie in nahezu allen seinen Werken vertritt und besonders offensiv in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten am Gegenstand des kategorischen Imperativs ausgearbeitet hat, fordert beispielsweise auch J. G. Fichte in diesen – allzu häufig politisch verkannten – Reden an die deutsche Nation nichts anderes als eine Abkehr von der Moral des Eigennutzes, damit auch vom »Zeitgeist«, zugunsten einer öffentlichen Erziehung zu »reiner Sittlichkeit«, »Selbstlosigkeit« und »Vaterlandsliebe«  : Ich hatte in jenen Vorlesungen gezeigt, daß unsere Zeit in dem dritten Hauptabschnitte der gesamten Weltzeit stehe, welcher Abschnitt den bloßen sinnlichen Eigennutz zum Antriebe aller seiner lebendigen Regungen und Bewegungen habe.24

Konkret geht es ihm darum, ganz im Sinne Rousseaus und Kants und übrigens in völligem politischen Einklang mit seinen 1794 zugunsten der französischen Volkserhebung veröffentlichten Beiträgen zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution,25 das »Ruder des Staates« den Händen der »Herren« zu entreißen und die »Nationalangelegenheit der Deutschen« den »Regierten, … den Bürgern« selbst zu übertragen  : »die Mehrheit der Bürger«, so 22 S. Hintz, Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen, Berlin 1984, S. 129. 23 Vgl. die von mir betreute Dissertation von Karsta Rautenberg, Spuren der Ethikdebatte der Spätaufklärung in Texten und Bekenntnissen der Madame de Staël, https://d-nb.info/1129 370674/34 (letzter Zugriff  : 26. März 2018). 24 J. G. Fichte, Reden an die deutsche Nation (Wintersemester 1807/1808), Hamburg 1978, S. 11. 25 J. G. Fichte, Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution (1793), Leipzig 1922.

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verlangt Fichte, »muß zu diesem vaterländischen Sinne erzogen werden«.26 In Wahrheit ein zutiefst demokratischer Diskurs, wie wir ihn durchaus in vergleichbarer Weise auch bei Ernst Moritz Arndt vorfinden.

26 Fichte, Reden an die deutsche Nation, S. 145.

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Personenregister A Alembert, J.-B. le R. d’ 22, 51, 52, 59 – 62, 64, 65, 68, 106, 112, 123, 127, 164, 168, 274 Alquié, F. 56 Arndt, E. M. 251, 314 B Babeuf, F. N. 247 Bacon, F. 58, 278 Bacons, F. 38, 62 Baczko, B. 253 Bailly, J.-S. 295 Baker, K. M. 146 Barbeyrac, J. 42, 153 Barny, R. 253 Baudeau, N. 36, 115, 147, 148, 154, 155, 166, 203 – 206, 271, 272 Beaumont, Chr. de 90, 222 Beffroy de Reigny, L. A. 249 Bentham, J. 39, 226, 255 Bernoulli, D. 52 Boileau, N. 60 Boisguillebert, P. Le P. de 30, 31, 33 – 35, 68, 84 – 86, 129, 137, 194 Bonaparte, N. 296, 300 Buonarroti, F. 247 – 249, 259, 282, 283 Burlamaqui, J.-J. 37, 47, 48, 74, 99, 133, 137, 153 C Cabanis, P.-J.-G. 12, 272, 274, 295, 296, 298 – 300, 302, 308, 309 Cassirer, E. 98, 225, 226 Chéinisse, L. 119 Chénier, M. J. 295 Clairaut, A.-C. 52 Clément, A. 203, 272 Colbert, J.-B. 19 Condillac, E. B. de 52, 57 – 62, 64 – 66, 114, 117, 123, 127, 132, 134, 156 – 158, 166, 182, 201 – 203, 244, 270, 271, 275, 295, 306, 308 Condorcet, J.-A.-N. C. (Marquis de) 12, 117,

146, 205, 250, 261, 262, 274, 275, 278 – 281, 294, 295, 305, 309 Constant, B. 295 Cumberland, R. 153 D Daire, E. 30, 31, 55, 85, 115, 116, 126 Daunou, P. 295 Dégérando, J.-M. 295 Delacroix, E. 312 Del Vecchio, G. 47 Demokrit 169 Dépitre, E. 116 Derathé, R. 13, 47 Descartes, R. 40, 50, 56, 62, 63, 121, 142, 169, 278 Destutt de Tracy, A. L. C. 12, 59, 117, 147, 274, 295, 296, 298, 302, 303, 306, 309 Diderot, D. 22, 51, 52, 111, 112, 114, 167 – 169, 175, 176, 181, 233, 249, 308 Dostojewski, F. M. 312 Dubreuil, P. 116 Duhamel, J.-M. 146, 275 Dupont de Nemours, P. S. 16 – 18, 21, 23, 30, 114, 115, 148, 154, 157, 162 – 169, 171 – 174, 203 – 205, 274, 295 Dutot, M. 30, 165 E Engels, F. 93, 126, 129, 252 Epikur 246 Euklid 144 Euler, L. 52 F Falconet, E.-M. 111, 167 Fichte, J. G. 94, 313, 314 Fontaine, J.-M. 52 Friedrich, C. D. 312 Furet, F. 254

Personenregister 

G Galice, G. 98 Galilei, G. 37, 39, 40, 169, 278 Gournay, V. de 169 Graslin, J.-J.-L. 206 Grégoire, (Abbé) 295 Grimm, F. M. 16, 115 Grotius, H. 37 – 40, 43, 74, 151, 153 Gusdorf, G. 308 Gustav III., König von Schweden 146 H Harvey, W. 40 Helvétius, A. 15, 117, 127, 128, 156, 157, 164, 166, 167, 175, 184, 188, 194 – 201, 212, 214, 224, 225, 231, 249, 265, 295, 306, 308 Henri IV., französischer König 21 Hercule 52 Herencia, B. 258, 261 Hobbes, Th. 15, 37, 39 – 41, 45, 50, 74, 83, 124, 133, 153, 214, 226 Holbach, P. H. T. d’ 114, 117, 156, 166, 175, 176, 180, 181, 185 – 194, 237, 238, 244 Hübner, M. 151 Hugo. V. 312 Hume, D. 53, 54 Hutcheson, F. 48, 52, 54, 56, 65, 66, 130, 133, 227, 228 J Jefferson, Th. 296, 302 K Kant, I. 14, 50, 72, 84, 94, 104, 141, 175, 219, 220, 222, 224 – 231, 250, 251, 255, 273, 290, 293, 304, 308, 309, 311, 313 Katharina II., russische Zarin 16, 111 Kautsky, K. J. 252 Kolumbus, Chr. 30 Konfuzius 37, 152, 157, 169 Kopernikus, N. 40 L La Fayette, (Marquis de) 274, 295 La Mettrie, J. O. de 52, 181 La Place, P.-S. 295

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Larrère, C. 126 Law, J. 30, 39, 54 Lebreton, J. 295 Le Mercier de la Rivière, P. P. 17, 18, 27, 29, 94, 99, 105, 111, 113, 115, 116, 125, 126, 142, 146, 147, 158, 162, 164, 196, 199, 206, 207, 214, 224, 258, 259, 274 Le Pesant, P. 30 Le Prestre, S. 30 Leroux, P. 12, 246, 248, 250, 278, 286, 289 Locke, J. 15, 49 – 52, 54, 56 – 58, 60, 62, 63, 74, 103, 118, 127, 132, 164, 167, 168, 175, 182, 214, 258, 263, 265, 279, 307 Ludwig XV., französischer König 15 M Mably, G. B. de (Abbé) 158, 233, 282, 283 Machiavelli, N. 40 Madiot, Y. 253 Maine de Biran, F.-P.-G. 295 Malebranche, N. 50, 55, 56, 62, 120 – 125, 131, 157, 181 Marx, K. 93, 118, 126, 129, 158, 283 Meier, H. 72, 216 Melon, J.-F. 30, 54, 55, 165 Mercier, L.-S. 17, 61, 111 – 114, 116, 119 – 138, 140 – 142, 144 – 146, 150, 155 – 159, 162, 166, 167, 169, 170, 173 – 177, 181, 182, 184, 189, 194, 198, 201, 204, 207 – 213, 232, 235 – 237, 249, 250, 255, 256, 258 – 262, 264 – 266, 269, 273, 275, 276, 278, 281, 283, 297, 300, 303, 304 Mersenne, M. 39 Michel, H. 115, 116 Mirabaud, M. 175 Mirabeau, H. G. V. 36, 112, 143, 148, 160, 166, 169, 175, 236, 274, 295 Monge, G. 295 Montaigne, M. de 83, 92 Montesquieu, Ch. de S., baron de 23 – 26, 29, 52 – 54, 63, 97, 99, 103, 106, 111, 112, 116, 118, 129, 132, 148, 153, 154, 158, 164, 165, 167, 169, 175, 181, 186 – 190, 193, 194, 256, 258, 263 Morelly, E.-G. 158, 233 Morus, Th. 233

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Personenregister

N Naigeon, J. S. 295 Newton, I. 51 – 53, 60, 181, 219, 225 O Oncken, A. 17, 18, 21, 99, 143, 145, 148, 150, 156 P Pascal, B. 144 Petty, W. 54 Philonenko, A. 230 Platon 92 Pompadour, Mme. de 15, 17 Pope, A. 219 Pufendorf, S. von 11, 37, 41 – 48, 74, 132, 133, 137, 297 Pythagoras 169 Q Quesnay, F. 15, 17 – 25, 27 – 30, 33, 36, 37, 43, 44, 85, 99 – 105, 107 – 110, 112, 115, 120, 129, 143, 145, 148 – 151, 153, 156, 157, 160, 164 – 166, 169, 207, 256, 258 – 260, 273, 276, 297, 301 R Rials, S. 258 Robespierre, M. de 12, 239, 240, 246, 247, 250, 284 – 296, 300 Roederer, P.-L. 262, 263, 274, 295, 298, 300 – 302 Roger, Ph. 253 Rouvillois, F. 56, 63, 123, 131

S Sand, G. 312 Saury, (Abbé) 236, 237 Say, J. B. 115, 232, 295 Schelle, G. 17, 114, 115 Schlegel, A. W. 250 Selden, J. 153 Shaftesbury, A. A.-C. 52, 54 – 56, 65, 66 Sieyès, E. J. 117, 126, 146, 166, 179, 195, 204, 230, 239, 252, 261, 263, 264, 266 – 275, 295, 300 Silberstein, L. 116 Skinner, Q. 224, 233, 255, 256 Smith, A. 18, 281 Somet, Y. 230 Staël, G. de (Mme de) 14, 231, 251, 252, 307 – 311 Sully, M. de 18, 21, 33 T Tocqueville, A. de 17, 114 Turgot, A. R. J. 65, 66, 68, 109, 110, 114, 129, 205, 232 – 234, 237 V Vauban, S. Le P. 30, 165 Volney, C.-F. 239, 240, 295 Volneys, C.-F. 239, 241 – 243 Voltaire 16, 51, 91, 112, 118, 249 W Wahnich, S. 254 Weulersse, G. 17, 117 – 119, 126, 164, 258 Wolff, Chr. 169

HEGELS »GRÜNES« WELTBILD

Bernd Rettig Staat – Recht – Ökologie Das „grüne“ Weltbild G.W.F. Hegels 2018. 365 Seiten, gebunden. € 55,– D | 57,– A ISBN 978-3-412-51143-2

Die leitende These des Buches besagt, dass der Staats- und Rechtsphilosophie Hegels ein „grünes“ Weltbild zugrunde liegt. Sie handelt vom Antagonismus zweier Naturen, der „primären“ bzw. vorgefundenen und der menschgeschaffenen „produzierten“. Soll die Schöpfung Bestand haben, so muss dieser Gegensatz „vermittelt“ werden. Nach Wegfall der Bindung an Kategorien wie Abstammung oder Herkunft ist dies die Aufgabe einer „Vernunftgestalt“, d.h. einer Sonderform des Seins, deren Umrisse Hegel vor allem in seiner „Wesenslogik“ aufzeigt. Über sie wird die „primäre“ Natur, die durch die Vorherrschaft der „produzierten“ Natur rechtlos und zum Objekt ungehemmter Ausbeutung gemacht worden war, als gleichberechtigtes Subjekt in die politische Organisation zurückgeführt. Sie in die Praxis zu überführen, ist das Gebot der Stunde.

EINE EINLADUNG, DIE AGRARFRAGE NEU ZU DENKEN

Juri Auderset | Peter Moser Die Agrarfrage in der Industriegesellschaft Wissenskulturen, Machtverhältnisse und natürliche Ressourcen in der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft (1850–1950) 2018. 341 Seiten mit 29 s/w-Abb., gebunden. € 45,– D | 47,– A ISBN 978-3-412-51072-5

Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa virulent gewordene „Agrarfrage“ wurde an der Wende zum 20. Jahrhundert erstmals auf den Begriff gebracht – zu jenem Zeitpunkt also, als sich viele europäische Gesellschaften als Industriegesellschaften zu verstehen begannen. Dieses Buch untersucht – vor allem am Beispiel der Schweiz – aus einer wissenshistorischen Perspektive die Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen Landwirtschaft und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert. Es zeichnet die Entwicklungen und Umbrüche in der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft nach und zeigt, wie die Nutzung von Pflanzen und Tieren im Spannungsfeld von industriellen Visionen und agrarischen Eigenlogiken immer wieder neu gedacht und gestaltet wurde. Damit lädt das Buch auch dazu ein, die heute nicht minder aktuelle Agrarfrage neu zu denken.

DIE ABHÄNGIGKEIT DES MENSCHEN VON SEINEN EIGENEN SCHÖPFUNGEN

Klaus E. Müller Verhängnis Kultur Der Mythos vom menschlichen Fortschritt 2018. 428 Seiten mit 9 s/w-Abb., gebunden. € 50,– D | 52,– A ISBN 978-3-412-50958-3

Ethnologische Untersuchungen zeigen, dass sich der Mensch vom ersten Artefakt an abhängig von seinen Schöpfungen machte. In der Folge verstrickte er sich zunehmend in ihrer Formenvielfalt und Komplexität, um allmählich die Kontrolle über sie zu verlieren. Daher bestimmt nicht die Evolution, sondern Devolution den Gang der Kulturgeschichte. Aufklärung und Industrialisierung führten in Europa zu der Überzeugung, die kulturelle Entwicklung verlaufe insgesamt fortschrittlich. Klaus E. Müller kann durch eingehende ethnologischkulturhistorische Analysen nachweisen, dass eher das Gegenteil der Fall ist.

EINE AUSEINANDERSETZUNG MIT OSWALD SPENGLERS GESCHICHTS- UND POLITIKVERSTÄNDNIS

Alexander Demandt Untergänge des Abendlandes Studien zu Oswald Spengler 2017. 225 Seiten, gebunden. € 30,– D | 31,– A ISBN 978-3-412-50831-9

Als 1918 der erste Band von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ erschien, erregte er ein beispielloses Aufsehen. Kein deutsches Werk über Geschichte hat ein ähnlich starkes und anhaltendes Echo gefunden. Begeisterte Zustimmung fand es in der historisch interessierten Leserschaft, während die Fachwelt mit wenigen Ausnahmen distanziert reagierte. Fortan aber blieben die Skepsis gegenüber dem Fortschrittsoptimismus und der Gedanke an einen möglichen Niedergang des Westens als Themen auf der Tagesordnung. In den hier vorgelegten Aufsätzen des Althistorikers Alexander Demandt geht es um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Spenglers Geschichts- und Politikverständnis, seine Vorhersagen und seine Wirkungsgeschichte bis in die jüngste Zeit.

ÜBER DIE AUSTRAHLUNGSKRAFT UND LANGLEBIGKEIT EINER DEBATTE VOLLER KONTROVERSEN

Angela Schwarz (Hg.) Streitfall Evolution Eine Kulturgeschichte 2017. 788 Seiten mit 360 farb. und 40 s/w-Abb., gebunden. € 50,– D | 52,– A ISBN 978-3-412-50714-5

Als Charles Darwin im Jahr 1859 seine Theorie einer Evolution der Arten durch natürliche Auslese veröffentlichte, sah er bereits eine große Debatte voraus, jedoch nicht deren Ausstrahlungskraft und Langlebigkeit. Zu Beginn standen die Folgen für die Wissenschaften, den Glauben an Gott und die Moralvorstellungen im Vordergrund. Bald kamen Überlegungen über Gesellschaft, Politik, internationale Beziehungen und über Eingriffe bis hinunter auf die Ebene des Individuums und seines Erbmaterials, seiner Gene hinzu. Sozialdarwinismus, Eugenik, Rassismus galten zeitweise als wissenschaftlich legitime Diskussions- und Politikfelder. Befürchtungen vor einem vermeintlichen Niedergang lassen sich bis heute angesichts der Biologisierung des Denkens scheinbar wissenschaftlich-objektiv untermauern. Gegenwärtig sind die Kontroversen noch vielfältiger, beziehen weit mehr Menschen ein als im späten 19. Jahrhundert, haben weit gravierendere Auswirkungen.

NEUDEUTUNG DES »HISTORIKERSTREITS«

Gerrit Dworok »Historikerstreit« und Nationswerdung Ursprünge und Deutung eines bundesrepublikanischen Konflikts 2015. 528 Seiten, gebunden. € 50,– D | 52,– A ISBN 978-3-412-50198-3

Der »Historikerstreit« der Jahre 1986–1988 gilt als wegweisende Debatte um das politisch-kulturelle Selbstverständnis der Bundesrepublik. Wieso eigentlich? In seinem Buch geht Gerrit Dworok dieser Frage nach und ordnet den Konflikt in die bundesdeutsche Geschichte ein. Dabei verfolgt er ausgehend von den entscheidenden Streitbeiträgen die westdeutsche Suche nach kollektiver Identität, den Prozess der Verortung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen sowie die Konkurrenz linksliberaler und liberalkonservativer Kräfte um die macht- und kulturpolitische Deutungshoheit in Westdeutschland bis in die Entstehungszeit der Bundesrepublik zurück, um die vielfältigen Ursprünge des Konflikts offenzulegen. Es gelingt ihm so, den »Historikerstreit« als Schlüsselmoment bundesdeutscher Nationswerdung neu zu deuten.