Romano - Germanica: Gesammelte Studien zur Germania des Tacitus [Reprint 2015 ed.]
 9783110962420, 9783598774287

Table of contents :
Die Söhne des Mannus
Der Namensatz der taciteischen Germania
Tacitus’ Germania als religionsgeschichtliche Quelle
Zum politischen Charakter der Germanen in der Germania des Tacitus
Die Germanen und die fata imperii

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Dieter Timpe

Romano - Germanica Gesammelte Studien zur Germania des Tacitus

Ш В. G. Teubner Stuttgart und Leipzig 1995

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Timpe, Dieter: Romano-Germanica: gesammelte Studien zur Germania des Tacitus / Dieter Timpe. - Stuttgart: Teubner, 1995 ISBN 3-519-07428-1 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © B. G. Teubner Stuttgart 1995 Printed in Germany Druck und Bindung: Röck, Weinsberg

Vorwort Die hier zusammengestellten und durchgesehenen verstreuten Aufsätze zur Germania des Tacitus sind als Bausteine zu einer Monographie über die taciteische Schrift gedacht. Nicht aufgenommen wurden die Studien, die in den .Beiträgen zum Verständnis der Germania des Tacitus' (Teil I herausgegeben von H. Jankuhn und D. Timpe 1989, Teil Π herausgegeben von G. Neumann und H. Seemann 1992, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse Ш Nr. 175 und 195) bereits einen diesem Thema gemäßen Ort gefunden haben. Gedankt sei den Verlagen, die den Wiederabdruck der Aufsätze genehmigten, vor allem aber Herrn Heinrich Krämer vom Teubner-Verlag Stuttgar-Leipzig für die Initiative für diese Sammlung. Würzburg, September 1994

Inhaltsverzeichnis D i e Söhne des Mannus (Chiron, 21,1991, 69-125)

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Der Namensatz der taciteischen Germania (Chiron 23, 1993, 322-352)

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Tacitus' Geimania als religionsgeschichtliche Quelle (H. Beck, D. Himers, K. Schier [Herausgg.], Germanische Religionsgeschichte. Quellen und Quellenprobleme [Reallexikon für Germanische Altertumskunde, Ergänzungsband 5] 1992, 434-485)

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Zum politischen Charakter der Germanen in der Germania des Tacitus (Alte Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Christ zum 65. Geburtstag. Herausg. v. P. Kneissl u. V. Losemann 1988,502-525)

145

D i e germanische Agrarverfassung nach den Berichten Caesars und Tacitus' (Η. Beck, D. Denecke, H. Jankuhn [Herausgg.], Untersuchungen zur eisenzeitlichen und frühmittelalterlichen Flur in Mitteleuropa und ihrer Nutzung. Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas in den Jahren 1975 und 1976 [Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Hasse III Nr. 115],1979,11-40)

169

D i e Germanen und die fata imperii (К. Dietz, D. Hennig, H. Kaletsch [Herausgg.], Klassisches Altertum, Spätantike und frühes Christentum. Adolf Lippold zum 65. Geburtstag gewidmet. 1993, 223-245)

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Dies Urtümliche zu betasten wird schwerlich je gelingen. Eduard Norden (s. Anm. 58)

Am Anfang der Germania (2, 2), wo es um die Herkunft des Volkes geht, referiert Tacitus in wenigen Zeilen germanische carmina, die einen Abstammungsmythos zum Inhalt haben. Danach hat der erdentsprossene Gott Tuisto einen Sohn Mannus gezeugt, der zum Urvater der Germanen wurde; nach seinen drei Söhnen hießen die Küstenbewohner Ingvaeonen, die „mittleren" Herminonen und die „übrigen" Istvaeonen 1 . Aber, so fügt der Autor hinzu, daneben würden auch andere eponyme Göttersöhne genannt, auf die sich die Marser, Gambrivier, Sueben und Vandilier zurückführen dürften, denn (auch?) dies wären echte, alte Namen 2 . Verbürgen könne sich freilich niemand für diese Überlieferungen. - Einige kurze

* Niedergeschrieben 1989 im Wissenschaftskolleg Berlin, befördert durch das Gespräch mit vielen Kollegen und die stimulierende Atmosphäre des Kollegs. Besonders bin ich Glenn W. Most für sein eindringliches, kritisches Mitdenken zu Dank verbunden. Allan A. Lund (München) und Gerhard Perl (Berlin) danke ich für wertvolle Hinweise und Verbesserungen. 1 Die Namensformen variieren in der handschriftlichen Überlieferung bekanntlich erheblich. Lediglich im Sinne einer Konvention benutze ich durchgehend die angegebene Schreibweise. 2 In der viel behandelten Frage, ob sich pluris deo ortos auf den als ,deus' bezeichneten Tuisto zunickbeziehe oder auf Mannus (der ebenfalls deus sein muß, aber nicht so genannt wird), ist m. E. one Antwort nur im zweiten Sinne möglich (so zuletzt G. Perl, Kommentar z. St., vorher die Kommentare von Gudeman und Anderson gegen Schweizer-Sidler; Muchs Kommentar hält die Frage für belanglos). Denn das Thema des Kapitels ist die Herkunft der gens (Germanorum); da Mannus origo gentis conditorque heißt, wären Sprößlinge seiner Brüder keine Germanen. Pluris (quam tres) deo ortos kann weiter nur heißen, daß auch die anderen vier Stämme Mannusstämme sind, ihre Eponymen also Brüder der Eponymen der Ingvaeonen, Herminonen und Istvaeonen (wie es in der Variante des Plinius ja entsprechend auch ausgeführt ist). Da .pluris', nicht: .alios deo ortos' gesagt wird, scheidet m. E. auch die (ζ. B. von Müllenhoff, Much oder Lund, ANRW 2, 33, 1990, 1873) vorgeschlagene Auffassung aus, es handle sich um eine konkurrierende Genealogie oder überhaupt ein anderes, womöglich römisches Gliederungsschema. Der Bezug auf deus und gens macht die Meinung der quidam in der Tat zu einer Variante der Mannusgenealogie. Sicher

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Erwähnungen der Mannusstämme finden sich auch bei Plinius (n.h. 4, 99f.) und Pomponius Mela (3, 32). Die Söhne des Mannus haben ihre fernen deutschen Urenkel weit stärker beschäftigt als den Römer, der als einziger eine Kunde von ihnen bewahrt hat. Der Mythos von der Ethnogenese der Germanen gilt seit dem 19. Jh. als eines der kostbarsten und ehrwürdigsten Zeugnisse, das aus dem germanischen Altertum überkommen ist, aber auch als eine für die Komposition und den Sinngehalt der taciteischen Schrift zentrale Passage. Denn die Einheit ihres Gegenstandes scheint im Selbstverständnis der Germanen eine letzte Begründung zu finden. Der romantisch geprägten Altertumswissenschaft liefen deshalb hier die Fäden der Poesie und der Geschichte in einem zentralen Punkt zusammen; sie hielt die germanische Ursprungssage für ein Kernstück der ganzen Schrift. - Später haben die Mannussöhne ihre Sprößlinge eher für das Dunkel der Tiefe als für das Licht des Anfanges begeistert. Wer sich auf die weitschichtigen modernen Erörterungen des Mythos einläßt, merkt das mehr als ihm lieb sein kann. Er sieht sich nicht selten den beklemmenden Verirrungen der Volkstumsvergötzung oder den wuchernden Phantasiespielen etymologischer Kombinatorik gegenüber, oder ihn verwirrt panassoziative religionspsychologische Gesamtschau. - Die philologischen Bemühungen, den Text im typologischen und genetischen Zusammenhang seiner literarischen Gattung zu verstehen, sind aus anderen Voraussetzungen erwachsen; aber sie haben von ihnen nicht immer den wünschenswerten Gebrauch gemacht, sie haben auch den Vorwurf der literarischen Relativierung nicht entkräften können. Und man erfährt aus ihnen wenig von der Komplexität eines Autors, bei dem vielleicht ein Zitat nicht Abhängigkeit, sondern Distanzierung markiert, oder eine Aussage an einer Stelle vor allem ihr Fehlen an anderer als absichtlich erweist. Wir müssen gleichwohl von der Aufklärung des Bewußtseins ausgehen, in das die moderne Beschäftigung mit dem Traditionskomplex der Mannusgenealogie eingebettet ist, wenn die damit gesetzten Begrenzungen überwunden werden sollen.3! sind zunächst auch die Namen der drei Mannusstämme vera et antiqua nomina; der Anspruch d a vier übrigen richtet sich auf Gleichrangigkeit mit ihnen. 3 Die Literatur zum Thema verliert sich häufig ins Phantastische und Absurde; eine vollständige Bibliographie ist auch deshalb nicht angestrebt. Benutzt sind in diesem Aufsatz folgende Arbeiten, die fortan nur abgekürzt zitiert werden: Die Kommentare von A. Baumstark (Ausführl. Erläuterungen d. allgemeinen Theiles der Germania des Tacitus 1875); К. Müllenhoff (Deutsche Altertumskunde Bd. 4. Die Germania des Tacitus 1900); A. Gudeman (P. Cornelii Taciti de Germania 1916); H. Schweizer-Sidler-E. Schwyzer (Tacitus' Germania, "1923); J. G. C. Anderson (Comelü Taciti de origine et situ Germanorum 1938); R. Much (Die Germania des Tacitus, hsg. v. H. Jankuhn-W. Lange 3 1967); A. A. Lund (P. Cornelius Tacitus, Germania, 1988); G. Perl (Tacitus' Germania, in: J. Herrmann [Hsg.], Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas 2, 1990); ferner folgende Untersuchungen: K. Zeuss, Die Deutschen und die Nachbarstämme, 1837; J. Grimm, Deutsche Mythologie 1, 1844, 319ff.; ders., Deutsche Altertumskunde, hsg.. v. E. Ebel, 1974; K. Müllenhoff, Über Tuisco und seine Nachkommen (1847), in: D.

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I

Die außerordentliche Intensität, mit der sich generationenlange Forschung um die Aussagekraft und Tragweite des germanischen Mythos bemüht hat, erklärt sich aus dem volksgeschichtlichen Vorverständnis, in dessen Bann sie zunächst stand. Die Überzeugung, in der Mannusgenealogie eine Dokumentation des Volksbewußtseins im Mythos zu besitzen, motivierte diese Art wissenschaftlicher Beschäftigung: „Wir gelangen jetzt", sagt K. Müllenhoff, als er in seinem GermaniaA. 4,519ff.; ders., Irmin und seine Brüder (1878), ebd. 587ff. (grundlegend im Sinne der romantisch geprägten germanischen Altertumskunde); J. F. Mareks, Kleine Studien zur taciteischen Germania, in: Festschrift der 43. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, Bonn 1895,185ff. (wertvolle und selbständige Beobachtungen); D. Detlefsen, Die Entdeckung des germanischen Nordens im Altertum, 1904, 6ff. (Ingvaeonen bei Pytheas); O. Bremer, Ethnographie der germanischen Stämme, in: H. Paul (Hsg.), Grundriß der germanischen Philologie, 1904, 75ff.; M. Schönfeld, Wörterbuch der altgermanischen Personen- und Völkernamen, 1911; F. Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 1, 1913, 221ff„ 248ff.; R. Much, Hoops, RGA 1 2, 1913-15, 181ff. s. v. Germanen; K. Trüdinger, Studien zur Geschichte der griechisch-römischen Ethnographie, Diss. Basel, 1918, 153ff.; E. Norden, Germanische Urgeschichte in Tacitus' Germania 1923, 42ff. 117 u. ö.; L. Schmidt, Zur Kimbern- und Teutonenfrage, Klio 22, 1929, 95f.; H. Güntert, Der Ursprung der Germanen, 1934, 147ff.; J. Schnetz, Ingvaeones, Zeitschrift für Ortsnamenforschung 11, 1935, 201ff.; ders., Nachtrag zu Ingvaeones, Zeitschrift für Ortsnamenforschung 12, 1936, 91ff.; ders., Germanos: Garmanos, Zeitschrift für Ortsnamenforschung 13, 1937,41 (etymologische Kombinationen); К. A. Eckhardt, Ingwi und die Ingweonen 1939, 72ff.; W. Krause, Ing, Nachr. Gött. Akad. Wiss., Phil.-hist. Kl. 1944, 229ff.; E. Bickermann, Origines gentium, Classical Philol. 47, 1952, 65ff.; F. Maurer, Nordgermanen und Alemannen 3 1952, bes. 87ff.; O. Höfler, Die Opfer im Semnonenhain und die Edda, Festschrift F. Genzmer, 1952, 35; E. A. Philippson, Die Genealogie der Götter in germanischer Religion, Mythologie und Theologie, Dlinois Studies in Language and Literature 37,3, 1953, 12ff.; R. Hiinnerkopf, Die Söhne des Mannus, Gymnasium 61,1954,542ff.; H. Rosenfeld, Name und Kult der Istrionen (Istwäonen)..., Zeitschrift für deutsches Altertum 90, 1960/1961, 161ff.; R. Wenskus; Stammesbildung und Verfassung, 1961, 214ff. 246ff. 285ff. (grundlegende sozialgeschichtliche Deutung); R. Hachmann, in: R. Hachmann - G. Kossack - H. Kuhn, Völker zwischen Germanen und Kelten, 1962, 43ff. bes. 50f.; K. Hauck, Carmina antiqua, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27, 1964, Iff. (tiefschürfende traditions- und religionsgeschichtliche Untersuchung); I. Komor, Indigenae an advecti. Zur Autochthonie-Frage bei Tacitus, in: J. Harmatta (Hsg), Studien zur Geschichte und Philosophie des Altertums, 1968, 191ff.; J. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte 2, 3 1970, 35. 165ff.; J. Scovazzi, Tuisto e Mannus nel II cap. della Germania di Tacito, Ist. Lombard!, Rendiconti Lettere 104, 1970, 332ff.; J. Svennung, Skandinavien bei Plinius und Ptolemaios, 1974, 38ff. (unwahrscheinliche Extension der Ingvaeonen); H. Kuhn, Inwäonen, Erminonen, Istwäonen, in: Kleine Schriften 4, 1978, 225ff.; N. Wagner, Irmin in der Sachsen-Origo, Germ.-Rom. Monatsschr. 28, 1978, 385ff.; ders., Arminius und die Ingaevones, Beiträge zur Namensforschung 17,1982, 300ff.; G. Neumann, RGA 2 ?, 1989,515ff. s. v. Erminonen; A. A. Lund, Zur Gesamtinterpretation der 'Germania' des Tacitus, ANRW 2, 33 (1990), 1873ff„ bes. 1977ff. zur Variante der Mannus-Genealogie; 1965ff. zur germanischen Ethnogenese und zum Germanennamen.

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Kommentar zum zweiten Kapitel kommt (D.A.14, 108), „zu der nach meiner Meinung wichtigsten und inhaltsreichsten Stelle der Germania", und wenig später (S. 124) erklärt er die Ausführlichkeit seiner Erörterung des Mannusstammbaumes damit, daß hier „die wichtigste Überlieferung für die Geschichte unseres Volkes" vorliege. Er ist mit dieser Einschätzung der Konzeption seines Lehrers Jacob Grimm verpflichtet. Für Grimm war deutsche Philologie die Wissenschaft vom deutschen (d. h. germanischen) Volkstum in allen seinen sprachlichen, poetischmythologischen, rechtlichen und historischen Lebensäußerungen. Das Volk aber war die sich geschichtlich entfaltende Verwandtschaftsgemeinschaft als Sprachgemeinschaft, die von den Objektivationen des Gemeinschaftsbewußtseins in Recht, Sitte, Überlieferung und Kult geprägt wird. Deshalb kommt der Wissenschaft von der deutschen Sprache die Aufgabe zu, Wesenseinheit und historische Entfaltung wie zwei Pole zusammenzudenken. Sie hat also die konkreten Manifestationen des Volksbewußtseins zu erfassen und zugleich darin den überhistorischen Kern eben dieses Volksbewußtseins zu erkennen. Es wurde wie selbstverständlich auch im Altertum vor der Völkerwanderungszeit vorausgesetzt, in dem aber gleichzeitig entscheidende Auf- und Ausgliederungsprozesse stattgefunden haben mußten. Deshalb ist es begreiflich, daß man in der Mannusgenealogie ein Schlüsseldokument sah, das Einheit und Entfaltung, Sachverhalt und zugleich Bewußtsein davon in mythischer Anschaulichkeit abbildete. Müllenhoffs Bewertung der Mannusgenealogie erklärt sich also daraus, daß ihm hier ein Zeugnis aus dem Zentrum des germanischen Lebens vorlag: „die sagen aller deutschen Völker waren voll von genealogien, die die geschichte der Vorzeit zu construieren versuchten, sie verlaufen sich alle in den mythus oder sind mythische fictionen" (D. A. 4, 112). Externe Evidenz hatte glücklicherweise dieses Dokument des mythischen Volksbewußtseins aus einer Zeit erhalten, in die germanische Überlieferung nicht zurückreichte4. .Wichtigste Überlieferung für die Volksgeschichte' hieß, im Mythos die tiefste Spiegelung des Einheits- und Zusammengehörigkeitsbewußtseins und gleichzeitig die Wegweisung in reale Unterscheidungen und konkrete Gliederungen zu finden. Der romantische Volksbegriff, der sich im Gegensatz zum Rationalen, Gemachten, Politischen, Französischen ausbildete, der sich auf die Geschichte berief, aber im Sinne des organischen Lebenszusammenhanges und unverfügbaren Ursprunges, nicht der Gestaltung und Entscheidung aus Willen, Absicht und Einsicht, stieß im Mythos von Tuisto, Mannus und seinen Söhnen auf einen Traditionskomplex von letzter, zwingender Evidenz und deshalb auch von einer für ihn zentralen Wichtigkeit.

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Мал denkt an die Charakteristik der Germania durch Mommsen (Reden und Aufsätze 1905 [urspr. 1886], 145): „eine Arbeit, etwa wie wenn ein Phönikier uns Hellas beschrieben hätte zu der Zeit, wo das Königsschloß von Tiryns gebaut ward oder ein Grieche aus Kyme uns berichtete über das Rom der zwölf Tafeln".

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Mit Müllenhoff beginnt nun aber auch der konsequente Weg vom romantischen Entwurf in die wissenschaftliche Realisierung in einzelnen Sachgebieten. Schon Grimm sprach von der ingvaeonischen usw. Sprache, und Müllenhoff sah in den Mannusstämmen ein Element der realen sprachlichen Gliederung; er setzte nämlich die taciteische Triade mit den Westgermanen gleich und stellte daneben die Nordgermanen (die demnach in der Mannusgenealogie nicht berücksichtigt waren) und die gotischen Ostgermanen (die es, wenigstens ursprünglich, auch nicht waren)5. Diese Gliederung lebt in der germanistischen Handbuchliteratur bis heute fort 6 . - Die Sprachgemeinschaft war aber gleichzeitig das historische Volk; deshalb mußten auch die geschichtlichen Stammesgliederungen in der Mannusgenealogie angelegt sein und dies - trotz unendlicher Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten in der Praxis - um so mehr, als bereits die Quellen die Stammesgruppen des Mythos grundsätzlich geographisch konkretisierten. So sind die Mannus-Gruppen auch zu Begriffen der Realeinteilung geworden und haben auch in dieser Verwendung ein unverwüstliches, wenn auch nach ihren Grenzen unsicheres Leben7. Die von Müllenhoff bereits begründete, heute wieder vorherrschende Deutung als Kultverbände kann als Abmilderung dieser Anschauung verstanden werden . - Der Müllenhoff-Schüler G. Kossinna hat schließlich auch die in archäologischen Fundgruppen vorfindbaren Individuationen der materiellen Kultur als Ausdrucksformen des Volksbewußtseins gedeutet. Er hat deshalb den Begriff der .archäologischen Kulturprovinz' geprägt und in den ,Kulturprovinzen' vor allem die unterscheidenden Grenzen betont und überbetont; sie schienen ihm wie die Außenhaut eines Individuums, unverzichtbar zur .scharfen' Erfassung eines unverwechselbaren (als Volkstum gedeuteten) seelischen Habitus und darum

5 J. Grimm, Deutsche Altertumsk. 67; K. Müllenhoff, D. A. 4, 115ff. 121. - Vgl. K. Helm, Altgermanische Religionsgeschichte 1, 1913, 331f.; Maurer, Nordgermanen und Alemannen 42ff (mit weiterer Literatur); R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung, 1961, 234ff.; H. Beck, Tacitus' Germania und die deutsche Philologie, in: H. Jankuhn-D.Timpe (Hsgg.), Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, 1989,163. 6

Η. Beck (wie vor. Anm.), vgl. etwa H. Sperber, Geschichte der deutschen Sprache, 61968, 23f.; A. Bach, Geschichte der deutschen Sprache 'o. J. (ca. 1970), 79. 7

Ζ. B. Bremer, Ethnographie der germanischen Stämme 76f.; Much, Hoops, RGA*2, 182; Güntert, Ursprung der Germ. 147; L. Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme, Westgermanen2 1-2, 1, 1938-40. Einschränkung bei E. Schwarz, Germanische Stammeskunde, 1956, 133; Maurer, Nordgermanen und Alemannen 93ff. 133ff. 8 Müllenhoff, D. A. 4, 122; R. Wenskus, Stammesbildung, 246ff.; Kuhn, Heine Schriften 4, 228f. Vorbehalte: Rosenfeld, Zeitschr. f. deutsches Altertum 90, 162. Mit guten Gründen gegen die Kultverbände: Mareks, Studien 190; Philippson, Genealogie der Götter 14.

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wichtiger als alle Zusammenhänge9. Wiederum lag nichts näher, als auch die archäologischen Fundgruppen auf die Mannusgenealogie zu beziehen, nicht! nur weil sie das einzige authentische Gliederungsschema der Frühzeit bot, sondern auch weil sie dem romantischen Grundgedanken der gegliederten organischen Einheit in so einzigartiger Weise entgegenkam. Es bedarf nun kaum des Hinweises, daß die mythologische Einteilung schon in den Einzelbereichen des Sprachlichen, des Stammesgeschichtlichen und der materiellen Kultur die Überlast der Funktionen nicht tragen konnte, die ihr hier zugemutet wurde, vollends aber nicht in allen zugleich. Wenn es also schon spekulativ ist, die westgermanischen Sprachgruppen den Ingvaeonen, Herminonen und Istvaeonen zuzuweisen, oder in verschiedener Machart von Tontöpfen den Unterschied der Mannusenkel wiederfinden zu wollen, so ist es mehr als Spekulation, die sprachlichen, materiellen und historischen Differenzierungen untereinander und mit den Mannusstämmen gleichzeitig zu identifizieren, als wären sie Kammern mit nur mehreren Türen unter einem einzigen Dach. Die enormen Schwierigkeiten der modernen Forschung, aus den Mannusstämme-Namen sichere, die Quellengattungen übergreifende Kategorien zu gewinnen, nicht nur Konventionen weiterzuführen oder wenig haltbare Kombinationen anzubieten, legen davon klares Zeugnis ab10. Über die wichtigste Voraussetzung des Mythos, seine authentische Germanität, entscheidet die sprachliche Analyse der Wörter und Namen. Etymologie und Namenforschung haben erbracht, daß die Namen Tuisto und Mannus germanisch und etymologisch durchsichtig gebildet sind11; von den Namen der Mannusstämme

9 G. Kossinna, Ursprung und Veibreitung der Germanen in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, 1928, 21: „streng umrissene, scharf sich heraushebende, geschlossene archäologische Kulturprovinzen fallen unbedingt mit bestimmten Völker- und Stammesgebieten zusammen". Vgl. dazu Hachmann, in: Hachmann-Kossack-Kuhn (wie Anm. 3) 12f. 16ff. 23ff.; ders., Die Goten und Skandinavien, 1970, 145ff.; G. Smolla, Gustav Kossinna nach 50 Jahren, kein Nachruf, Acta Praehistorica et Archaeologica 16/17, 1984/85,9ff.; F. Fischer, Die Germania in der Archäologie, in: H. Jankuhn-D. Timpe (wie Anm. 3), (dort Anm. 12 das Kossinna-Zitat); Maurer, Nordgennanen und Alemannen 123ff. 133ff.; W. Adler, Gustav Kossinna, in: R. Hachmann (Hsg.), Studien zum Kulturbegriff in der Vor- und Frühgeschichte, 1987, 33ff.; B. Arnold, The past as propaganda: totalitarian archeology in Nazi Germany, Antiquity 64,1990,464ff. 10

Vgl. etwa die intensiven synthetischen Bemühungen von F. Maurer (Nordgermanen und Alemannen, passim) 11 Zur Etymologie von Tuisto: W. Wackernagel, Die Anthropogonie der Germanen, Zeitschrift für deutsches Altertum 6, 1848,19; Möllenhoff, D. A. 4, 113ff. 519ff.; Baumstark, Komm. z. St. (61ff.); Much, Komm. 51; Philippson, Genealogie der Götter 15. Die auf der Grimmschen Lesart Tuisco basierende Verbindung mit Tlu, skr. dyäus, Zeus, findet anscheinend keine Anhänger mehr. Mannus war etymologisch nie umstritten: Müllenhoff, D. A. 4, 114f.; Much, Komm. 52. Vgl.

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entzieht sich derjenige der ,Istvaeonen' sicherer Erklärung, die beiden anderen sind an germanische Nominalstämme anzuschließen12. Ob über die linsoweit eindeutige Bestimmung des Sprachmaterials hinaus zu Sinn und Bedeutung der Namen und des Mannusschemas vorzudringen ist, erscheint fraglich. Die langen Versuche, die Namen der nicht genannten Eponymen der Mannusstämme zu rekonstruieren und mit Götter- oder Heroennamen zu identifizieren, haben zu allgemein anerkannten Ergebnissen nicht geführt. Die Mannussöhne lassen sich in bekannten Kultgöttern nicht wiederfinden; auch der relativ greifbarste Stammvater, der der Ingvaeonen, ist schwerlich sicher zu identifizieren13. Vielfache Bemühungen gehen dahin, den vermuteten theophoren Charakter der Namen von göttlichen Beinamen oder Attributen abzuleiten (aber ein Grund für eine verhüllende Benennung ist nicht zu erkennen) oder heroisierte Stammväter zu konstruieren (wobei die geforderte Parallelität der Namen die größte Schwierigkeit bildet)14. Die Annahme, daß die Mannusstämme Kultveibände darstellten, hat immer das stärkste Motiv geliefert, in den Eponymen echte Namen zu erkennen; fällt aber diese Voraussetzung, dann können die Namen der Stammeseponymen des genealogischen Schemas ebenso sekundär aus den Kollektivnamen gebildet worden sein wie im Typ'EXXr|v /'Ελληνες 1 5 . Ohne damit alle Anhaltspunkte für eine etymologische Deutung (die es jedenfalls für den Ingvaeonen- und Herminonennamen gibt)16 bestreiten zu wollen, müssen doch die Namensdeutungen, die die Triade im ganzen nach ihrem gemeinsamen sprachlichen Sinn zu erklären unternehmen, als hypothetisch gelten. Um so größere Bedeutung kommt dann der gelegentlich aus

noch Schönfeld, Wörterbuch s. v. Tüisto, Mannus; Helm, Altgermanische Religionsgeschichte 1, 329f.; de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte 2, 363f.; Wenskus, Stammesbildung 241f. 12

Schönfeld, Wörterbuch, s. v. 'Herminones, Inguaeones, 'Istvaeones; Baumstark, Kommentar z. St. (S. 69ff.); Wenskus, Stammesbildung 254; Wagner, Beiträge zur Namensforschung 17, 300ff.; Neumann, RGA 2 7, 516f.; wuchernde etymologische Spekulationen bei Schnetz, Hünnerkopf, Rosenfeld und anderen (vgl. Anm. 3). 13

Vgl. etwa Krause, Nachr. Gött. Ak. 1944, 29ff.; unsicher auch der Zusammenhang mit der ing-Rune: Eckhardt, Ingwi 70ff. - weiter s. Helm, Altgermanische Religionsgeschichte 1, 333ff.; de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte 1, 486. 2, 166f.; Wenskus, Stammesbildung 235ff.; Wagner, Germ.-Röm. Monatsschrift 28, 385ff. 14 15

Ζ. B. Much, Komm. z. St. (S. 53f.); Neumann, RGA27, 516.

So nach Helm, Altgermanische Religionsgeschichte 1, 334 besonders Philippson, Die Genealogie der Götter 13f. Die umgekehrte Argumentation bei Müllenhoff, D. A. 4,122 und vielen nach ihm. 16 S. Schönfeld, Wörterbuch s. vv., ferner Helm, Krause, de Vries, Wenskus, Neumann wie Anm. 13.

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gesprochenen einfachen Feststellung zu, daß die Mannusgruppen als konkrete Größen nicht faßbar seien, inhaltlich leer blieben17. Eine zweite sichere Feststellung ist der wahrscheinlich durch den Stabreim der Anlautvokale gegebene Zusammenhang der Triade der Mannusstämme. Die Sprachgeschichte liefert damit wohl den Terminus post quem des 2. bis 1. vorchristlichen Jahrhunderts für das Mannusschema18, aber nichts für seine Funktion. Viele mythologische und religionsgeschichtliche Parallelen erweisen diel Triade von Personen- oder Gruppennamen als gedankliches Mittel archaischen Ordnungsdenkens, um Aufgliederung von Funktionen oder Lebensbereichen, den Zusammenhang des Gegensätzlichen oder sich Differenzierenden, das logische Verhältnis von Teilen zum Ganzen zu veranschaulichen. Schwer denkbar ist dagegen, daß umgekehrt eine real bestehende ethnische Differenzierung zu einer genealogischen Triade zusammengefügt worden wäre und zufällig den Gleichklang ergeben hätte19. Deshalb sind eher Annahmen plausibel wie diejenige, die zu einem Merkvers verbundene Dreiheit der Namen, bzw. der Mannusgenealogie insgesamt, sei das formal künstliche Produkt einer Auswahl, die stabende Namen zur auch sonst bezeugten Form der Genealogie a/b/1 2 3 zusammengefügt habe, oder jene andere, das Mannusschema stelle eine sekundäre Erweiterung einer älteren Gruppen- und Namensdualität dar20. Mehr als Denkmöglichkeiten ergeben sich daraus jedoch nicht; es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt, ein solches Gedankengebilde mit der uns bekannten ethnischen und historischen Realität sicher zu verbinden.

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Besonders betont von Kuhn, Kleine Schritten 4, 227; Zweifel schon früher vielfach ζ. B. Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 1, 398; de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte 1, 486. " A. Bach, Geschichte der deutschen Sprache9 57ff.; Rosenfeld, Zeitschr. f. deutsche Altertum 90, 162; Wenskus, Stammesbildung 235f.; R. Schrodt, Die germanische Lautverschiebung und ihre Stellung im Kreise der indogermanischen Sprachen, 2 1976,70ff. " Mit Recht betont Kuhn, Kleine Schriften 4, 227: „... fast selbstverständlich, daß sie (die alte Ethnogonie) nicht etwa aus Zeiten stammt, in denen eine prädestinierte Harmonie es so geregelt hat, daß es nur drei große Gruppen gab, deren Namen miteinander stabten, sondern daß diese Namen dem Reim zuliebe aus einer größeren Reihe ausgewählt waren". Ahnlich auch Wenskus, Stammesbildung 235. 20

A. Heusler, Die altgermanische Dichtung, 2 1941, 82 (Merkvers); F. Genzmer, Ein germanisches Gedicht aus der Hallstattzeit, Germ.-Rom. Monatsschr. 24, 1936, 14ff.; Kuhn а. а. O. (dichterische Kombination); Rosenfeld, Zeitschr. f. deutsches Altertum 90, 161ff. (Entwicklung der Trias aus älterer Dualität; die Argumentation im übrigen ganz spekulativ). Vgl. weiter de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte 1, 486; Wenskus, Stammesbildung und Verfassung 234f. 239; N. Wagner, Zu zwei Triaden in Tacitus' Germania, Zeitschr. f. deutsches Altertum 108, 1979, 209ff.; ders., Beiträge zur Namensforschung 17, 304; andeutend schon Müllenhoff, D. A. 4,122.

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Der Ausweg, den Mannusstämmen eine zu Stämmen querlaufende, nämlich übergreifend kultische Funktion zuzuschreiben, führt zu anderen Fragen und Hypothesen. Zwar gibt es im Nerthus-Stammesbund, bei Semnonenhain-Besuchern oder Tanfana-Verehrern Beispiele für stammesübergreifende Kultvereine21, aber diesen fehlt völlig der systematische Hintergrund. Weder haben solche - offenkundig historisch entstandenen - Kultgenossenschaften analoge gleichartige neben sich, noch verraten sie etwas von dem Anspruch, Teil eines Ganzen zu sein. Die gern im Vergleich herangezogenen bekannten germanischen (Nerthus-, Tanfanaverband) oder griechischen (delphische Amphiktyonie) Kultveibände haben als solche gerade keinen gemeinsamen Namen. Man kann deshalb die Hypothese, die Mannusgruppen seien Kultverbände gewesen, nicht mit dem Hinweis auf Nerthusoder Tanfana-Kult stützen, geschweige denn, mit diesenl (zufällig bezeugten) Kultvereinigungen identifizieren. - Wenn auf den vermutlich dichterischen Charakter des Mannus-Schemas und eine vielleicht weitgehende Freiheit der mythologischen Konstruktion bei den Namen und ihrer Zusammenstellung hingewiesen wird, so führt auch dieser in gewissem Grade sicherlich richtige Hinweis nicht weiter, wenn über Sinn, Zweck und Herkunft des Mythos nichts bekannt ist und wir nicht annehmen wollen, daß er ein beliebiges Produkt dichterischer Phantasie war. - Die in der ethnologischen Empirie vielfach nachweisbare Möglichkeit des Identitätswechsels von Gruppen, der veränderten Selbst- und Fremdzuordnung und der damit einhergehenden Namensübernahme erlaubt zwar, die Ausbreitung übergeordneter Namen als Ausdruck eines dynamisch weitergreifenden Gemeinschaftsbewußtseins zu verstehen; als Vorgänge solcher Art lassen sich vielleicht die Extension des Sueben- oder auch des Germanennamens begreifen22. Aber es fehlt die Möglichkeit, einen historisch realen Verband zu denken, der sich soweit als Einheit verstanden hätte, daß er drei überregionale Gruppierungen als seine Suborganisationen hätte beanspruchen können, die ihrerseits reale Stämme in sich vereinten. Die hochgespannte Erwartung des romantischen Volksgedankens, in der Mannusgenealogie einen Ausdruck des germanischen Zusammengehörigkeits- und Einheitsbewußtseins zu finden23, gleichsam den einen, ersten Pfeiler einer Brücke 21

Nerthus: Tac. Germ. 40; Semnonen: ib. 39; Tanfana: Tac. ann. 1, 50, 3 - 51, 2. Vgl. Helm, Altgermanische Religionsgeschichte 1, 298ff.; de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte 1, 486ff.; Wenskus, Stammesbildung 246ff. 22 Sueben: Tac.Germ. 38, 2; Dio 51, 22, 6. Germanen: Tac.Germ. 2, 3 (Namensatz). Zum Wechsel der ethnischen Selbstzuordnung: W. E. Mühlmann, Umvolkung und Volkwerdung, Deutsche Arbeit 42,1942, 287ff.; Wenskus, Stammesbildung 258ff.; K. Peschel, Die Sueben in Ethnographie und Archäologie, Klio 60,1978, bes. 294ff. B Vgl. K. Wührer, Germanische Zusammengehörigkeit 1, 1940, 50ff., besonders Wenskus, Stammesbildung passim, bes. 218ff. 272ff.

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der Volkskontinuität, deren vorläufig letzten die eigene Gegenwart errichtete, hat sich damit als Arbeitshypothese nicht gerade bewährt. Der Charakter der Mannusstärrune und die Art ihres Zusammenhanges können auch der Richtung nach nicht als plausibel gedeutet gelten, die Verknüpfung des Schemas mit Zeit und Raum und realer Volksgeschichte ist keiner Interpretation überzeugend gelungen. Redlicher Detailforschung kommt das im Grunde auch nicht unerwartet; „das Kapitel 2 ist eines der schwersten der ganzen Germania wegen der Ingaevones, medii Hermiones, ceteri Iscaevones", sagte schon Jacob Grimm24. Aber gedankliches Konzept und Arbeitshypothese fielen hier auseinander. Jenes stand unangefochten in Geltung und bestimmte deshalb Rang und Hochschätzung der Sache weiter, obwohl die dadurch angeregten, generationenlangen Bemühungen um Aussage und Tragweite des germanischen Mythos auch nur einen Kem von sicherer Faktizität nicht eigentlich bestimmen konnten. Da der Zusammenhang zwischen dem romantischen Volkstumsgedanken und den germanischen Identitätsund Gliederungsvorstellungen in Sprache, Stammeskunde und Archäologie,I die das Mannusschema zu symbolisieren schien, niemals prinzipiell durchleuchtet oder gar in Frage gestellt wurde, prägt oder beeinflußt zum mindesten die Konzeption J. Grimms und Müllenhoffs trotz aller Schwierigkeiten im einzelnen auch noch den heutigen Bewußtseinsstand, und zwar selbst da, wo den Mannusstämmen eine erkenntnisfördernde Rolle nicht mehr ausdrücklich beigemessen wird. Auch wenn die Mannusgliederung in einem Einzelbereich also nicht mehr sinnvoll anzuwenden ist, wird man sich leicht mit der Zuversicht beruhigen, daß ihre Geltung anderswo und insgesamt dennoch erwiesen sei und fortbestehe. Der fachspezifische Beitrag der klassischen Philologie zur Deutung des germanischen Mythos blieb zunächst ganz untergeordnet und konzentrierte sich auf die Untersuchung sprachlich faßbarer Detailprobleme (etwa der Variante der Stammesgenealogie2 und der Frage der Überlieferungsträger in G. 2, 226). Dann

24

Dt. Altertumsk. 30. Zur Frage, wie die vera et antiqua nomina der vier in 2, 2 genannten Stämme sich zum Mannusschema verhalten, sind vor allem folgende Lösungen vertreten worden: Addition (so schon J. Grimm, Deutsche Mythologie 1, 336; Geschichte der deutschen Sprache *2, 489, gelegentlich ausgebaut zur Spekulation mit der so entstehenden Siebenzahl von Stämmen; vgl. Mareks, Studien 187, dazu oben Anm. 2); Differenz (die vier Stämme sind Söhne Tuistos: so, wenn auch schwankend, Müllenhoff, D. A. 4,125; Baumstark, Komm. z. St. [S. 81ff.]; Schweizer-Sidler, Komm. z. St.: „doch wohl Tuistone..." Das Zögern ergibt sich aus der Unsicherheit darüber, ob Mannus oder Tuisto der gemeinte deus ist.); Unabhängigkeit (so Müllenhoff ursprünglich, vgl. D. A. 4, 126; hierzu kommen die vielen Kommentatoren, die in den via- Stämmen keine vollständige, sondern nur eine exemplarische Aufzählung sehen). Alle Vorschläge kehren auch in neueren Kommentaren und Untersuchungen wieder. 25

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haben die Kommentatoren Vergleichsmaterial zusammengetragen und damit die archetypische Ubiquität des Dreierschemas illustriert. Der Singularität der Mannusgenealogie, die ja allein in der taciteischen Germania überliefert wird, stand nun eine weite - jede Entlehnung aussschließende - typologische Urverwandtschaft gegenüber27. Erst mit dem allgemeinen Programm der Motivforschung haben die klassischen Philologen die Germanisten und Religionswissenschaftler in der wissenschaftlichen Erhellung der Mannusgenealogie eingeholt. K. Trüdinger, G. Wissowa und Ed. Norden stellten die stereotypen Aspekte der antiken Ethnographie (Topoi), die Formalkategorien wie Herkunft, Kleidung, Kriegsbräuche usw., als gattungsmäßiges Raster dar28; sie rückten damit die taciteische Germania in denl Kreis ihrer gattungsmäßigen Verwandtschaft und lehrten sie perspektivisch richtig sehen. Bildeten Bedeutung und Formgesetze der Gattungen ein Generalthema der altphilologischen Forschung am Ende des 19. Jh.s, so war eine in ihr noch mächtigere Tendenz die zur genetischen Betrachtung. Norden verknüpfte beides, indem er ein achronisches Kategoriensystem entwicklungsgeschichtlich auslegte und so etwa herodoteische Impulse bei Tacitus nach- und weiterwirkend fand. Es ging ihm dabei nicht so sehr um die stoffliche Abhängigkeit der einzelnen Autoren voneinander als vielmehr um ihrer aller Einordnung in einen überpersonalen Traditionsstrom. Die Ausprägungen der Gattung standen nun nicht mehr als parallele Gestaltungen nebeneinander, sondern bauten als Stufen eines zeitlichen Entwicklungsprozesses aufeinander auf. Indem Norden so das Typologische mit dem Historischen verquickte, provozierte er die Relativismusproblematik, die die Diskussion um sein Werk beherrscht. Norden dachte die Gattungen in ein Lebenskontinuum eingebettet, als „geprägte Form, die lebend sich entwickelt", und hat dadurch viele tatsächliche oder mögliche Zusammenhänge schärfer erkannt als vorher; seine Interpretation hat aber das dasdamit berührte sachlogische Problem nicht geklärt, wie konstante Prägung und wechselnde Sachverhalte voneinander zu scheiden seien, wenn erst der Wechsel des Veränderlichen die Form in ihrer Dauer erkennbar macht. Norden hat die Re26 .Quidam' halten für Germanen ζ. B. Baumstark, Komm. z. St. (S. 78); Gudeman, Komm. z. St. (wegen adsignant, römische und griechische Forscher spielten nur eine Vermittlerrolle); griechisch-römische .Gelehrte* vermuten u. a. Müllenhoff, D. A. 4, 124; Schweizer-Sidler, Komm. z. St - Seit Norden scheint, bedingt durch dessen literaturgeschichtliche Aufbauerklärung, nur noch die zweite Lösung vertreten worden zu sein (unentschieden Much, Komm. z. St). 27 Siehe hierfür die Zusammenstellung bei Wenskus, Stammesbildung 146ff. 28 Trüdinger, Studien zur griechisch-römischen Ethnographie; Norden, Germanische Urgeschichte; G. Wissowa, Die germanische Urgeschichte in Tacitus' Germania, Neue Jahrbb. f. d. klass. Altertum 24, 1921, 14ff; A. Schröder, De ethnographiae antiquae locis quibusdam communibus (Diss. Halle) 1921.

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lativierung der ethnographischen Inhalte der antiken Völkerbeschreibungen nicht gewollt und ist darauf zielenden Folgerungen aus seinem Gedankengang entgegengetreten29. Gleichwohl hat er sie in der Praxis jedoch bestätigt, wenn er die Mannusgenealogie als Wiederholung einer typischen Figur ansah und ihr keinen eigenständigen Gehalt zubilligen wollte30. Er gab damit begreiflicherweise all denen schweren Anstoß, die am Inhaltlichen, am spezifisch Germanischen und an der Bedeutung des ethnogonischen Mythos für das Volksbewußtsein interessiert waren, allen Vertretern und Erben der Tradition, die sich aus dem romantischen Volksgedanken herleitete. Es komplizierte diesen Gegensatz, daß Norden solche Perspektiven seiner Arbeit nicht gesehen hat und daß die Zeit des politischen Terrors ihn in eine Richtung verschob, die Kritik an Nordens Positionen dem Verdacht der Komplizenschaft aussetzte. Die Fragen, die Nordens Deutung aufwarf, sind deshalb in erheblichem Umfange offen geblieben, und es ist ihnen bis heute durch ein einfaches pro oder contra nicht beizukommen31. Der skizzierte Gang der modernen Beschäftigung mit der Mannusgenealogie zeigt, wie selektiv, ja fixiert auf einige Interessenpunkte diese Forschung verlaufen ist. Besondere Beachtung verdient dabei, daß die romantisch geprägte Denklweise dem mythischen Konzept mit einer positiven Grundeinstellung begegnen ließ. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Stoff ist deshalb durch eine Neigung zur Vernachlässigung der Differenzpunkte und der sachlichen Schwierigkeiten, durch eine gewisse Harmonisierungsbereitschaft, gekennzeichnet. Die Konzentration auf die vermeintliche materielle Aussage (z.B. in der exzessiven Beschäftigung mit der Etymologie) war ferner so starr, daß die Berücksichtigung des literarischen und traditionsgeschichtlichen Hintergrundes (etwa der Absicht des Autors, der kompositioneilen Stellung der Mannusgenealogie im Kontext usw.) zu kurz kamen. Damit soll keineswegs alles Bisherige unter einen billigen Ideologieverdacht gestellt oder gar pauschal abgewertet werden; im Gegenteil ist wie sonst so auch hier zu betonen, daß wissenschaftsgeschichtliche Vorgaben (auch solche, die man mißbilligen mag) eine autonome Entwicklung der Spezialforschung nicht ausschließen und daß neue - vielleicht bessere - Einsichten die frühere Forschung auf vielfache Weise zur Voraussetzung haben. - Neue Paradigmata haben auch hier zur Korrektur der alten Perspektiven beigetragen. So hat die von R. Wenskus vertretene und umfassend begründete ethnosoziologische Betrachtung den volkstumsgeschichtlichen Substantialismus durch ein differenziertes Verständnis ethni 29

Vgl. Vorwort zur 2. Auflage der Germanischen Urgeschichte (1921).

30

Urgeschichte 46.

31

Jankuhn - Timpe, Beiträge (wie Anm. 5), Einleitung 9ff. Weiterführend jetzt K. Bringmann, Topoi in der taciteischen Germania, ebd. 59ff.

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scher Strukturen und ihrer Veränderungen ersetzt32. Die Mannusgenealogie und ihre Varianten erscheinen in diesem Lichte als Niederschlag und Indikatoren sich wandelnden Selbstverständnisses gentiler Gruppierungen. K. Hauck hat in Anknüpfung an Grundgedanken M . Eliades in carmina antiqua Denkmäler einer Sakraltradition zu sehen empfohlen, in der sich die geistige Identität von Stammeseliten ausdrücke; mit Recht verwahrt er sich dagegen, über literarischen Abhängigkeiten den existentiellen Rang primordialer Kultmythen zu verkennen, und weist auch den carmina von Tuisto und Mannus die Würde kosmogonischer und ethnogonischer Initiationsrituale, die kultische Wiederholung des Anfanges von Kosmos und Gesellschaft, zu33. Aber auch fruchtbare und weiterführende Interpretationsmuster (wie diese) sind, soweit sie singuläre, literarisch überlielferte Dokumente zu Exempeln ihrer Deutungsangebote nehmen, gleichsam Kamele, die durch das Nadelöhr der traditions- und literaturgeschichüichen Analyse gehen müssen. Dabei zeigt sich nun aber meist wieder, wie schwer es ist, die forschungsgeschichtlichen Verengungen und Fixierungen, die traditionelle Überdehnung des Motivs Mannusgenealogie, zu vermeiden. Auch unter neuen gedanklichen Voraussetzungen sieht man in ihm gern ein sicheres Zeugnis germanischen Denkens, während doch die Zuerkennung dieses Prädikats eine Beurteilung der Überlieferung, eine Vorstellung vom sozialen Ort des Mythos, eine Hypothese über Ursprung und Charakter der Varianten voraussetzte. Diese Einschätzung der Forschungs- und Bewußtseinslage ist der Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung. Sie sucht nicht einem abgegrasten Feld durch raffinierte Methoden neue Erträge abzugewinnen, sondern bedient sich der alten in der Meinung, daß sie noch zu manchem tauglich sind; aber sie vergewissert sich eingehender als gewöhnlich der bisherigen Blickrichtungen auf die Sache, um dadurch mit größerer Unbefangenheit andere mögliche zu erproben.

32 ,Das Werden der mittelalterlichen Gentes' (Untertitel von .Stammesbildung und Verfassung') führte Anregungen von W. E. Mühlmann aus und stellt Neubildungen sozialer Identitäten, Überschichtungen durch Kontaktgnippen und die Rolle des Zugehörigkeitsbewußtseins für das Verständnis ethnischer Einheiten angemessen in Rechnung. Wenskus ermöglichte damit auch die Neuinterpretation prähistorischer Befunde (ζ. В. K. Peschel, Die Sueben in Ethnographie und Archäologie, Klio 60,1978,259ff.; vgl. Stammesbildung 255ff). 33 Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27, 10 (wie Anm. 3); Hauck steht damit auch in der Nähe der Interpretation des Semnonenhain durch O. Höfler. Die kosmogonischen Initiationen der carmina anüqua (erschlossen aus .primordia', Germania 39, 1) verwiesen ihn auf die geistige Form, in der sich Angehörige der Eliten germanischer Stämme als Menschen der damaligen Welt über ihre engere ethnische Individualität hinaus verstanden; die Mannusstämme-Überlieferung erlaube darüber hinaus, die gattungsmäßige Vielfalt dies« Erscheinung (.Parallel-Lieder' zu beobachten.

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Π 1 Angesichts der Auswüchse an Spekulation, zu denen die Beschäftigung mit der Mannusgenealogie geführt hat, ist es nicht überflüssig zu betonen, daß der taciteische Text methodische Priorität hat und daß sein Verständnis von seinen eigenen Voraussetzungen her, nicht etwa von eddischen Parallelen aus gesucht werden muß. Ed. Norden hat (45f.) die Mannusgenealogie deshalb mit vollem Recht in den Zusammenhang gestellt, in den sie gehört, in die origo der c. 2 - 4, und ist für diese zu folgender Gliederung gelangt: „Das Ganze gleicht einer mächtigen dreiteiligen Periode, deren Ende zum Anfang zurückkehrt." Teil А (с. 2, 1) bezeugt danach den Glauben des Autors an die Autochthonie und Rassereinheit der Germanen durch Argumente; В erörtert das Problem durch Vorlage von Überlieferungsmaterial, und zwar in В1 (c. 2, 2) anhand originaler Gesänge und epichorischer Stammesnamen, während in В2 (c. 3) unter Hinweis auf die angebliche Anwesenheit hellenischer Heroen und auf griechische Inschriften die Möglichkeit der Zuwanderung offengelassen wird. Der Schlußabschnitt С (с. 4) nimmt die These von Α wieder auf und stützt sie durch anthropologische Tatsachen (Habitus). - Norden rühmt den monumentalen, künstlerischen und interesseerweckenden Aufbau als einzigartig und sagt doch gleichzeitig: „Er hatte Eigenes gar nicht zu sagen" (46); alle Originalität liege ausschließlich in der künstlerischen Form, während die inhaltlichen Aussagen der ethnographischen Tradition, namentlich dem Skythenlogos Herodots, entlehnt seien. Tatsächlich kreist die skytische Archäologie bei Herodot (4, 5 - 13) um den Gedanken der Ethnogonie. Herodot stellt eine skythische, eine griechische undl eine eigene Deutung nebeneinander: Die skythische Tradition bietet folgenden, dem germanischen sehr ähnlichen Stammbaum (4, 5 - 8, 1):

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Zeus °o Tochter des Borysthenes Targitaos (πρώτος άνήρ)"ι34 Arpoxais Auchaten

blaxais

Katiarer

Paralater oder

und Traspier

Königsskythen

Gesamtname: Skoloter ( = griech. Skythen) Der ethnogonische Mythos läuft auf eine Bevorzugung des jüngsten TargitaosSohns und seiner Nachkommen hinaus, er ist durch ätiologische und chronologische Elemente angereichert. Ihm stellt Herodot eine griechische Ethnogonie der Skythen entgegen: Herakles zeugte mit einem Schlangenweib drei Söhne: Agathyrsos, Gelonos und Skythes; nach der von ihrem Vater empfohlenen Probe bleibt nur der jüngste im Lande, von ihm stammen die Skythen ab (4, 8 - 10). Herodot schließt sich (c. 11) persönlich einer dritten Herkunftssage an; danach sind die Skythen ein eingewandertes Eroberervolk, das die Kimmerier vertrieb. Zu dieser historischen Version wird ein Zeugnis des Aristeas von Prokonnesos gestellt (4, 11 - 13). Die Erwähnung dieses Autors ist Anlaß eines Exkurses über seine Wundertaten (4, 13 - 15), in dem wieder dem Hörensagen das eigene Wissen konfrontiert wird (15,1). Skythische und griechische Version unterscheiden sich dadurch, daß nach der ersten aus der Verbindung des Göttervaters mit der Landesnatur das neue Volk hervorgeht, nach der zweiten aber der griechische Kulturheros in Kontakt mit einer nur halbmenschlichen Repräsentantin des Landes den Anfang der Volksge-

34

Wäre πρώτος άνήρ der „erste Mensch", so könnte analog für Mannus die gleiche Prädikation gelten und die Benennung deus dann auf ihn nicht bezogen werden (vgl. oben Anm. 2); doch dürfte der Völkervater vielmehr der „erste Mann" sein (so auch Norden, Urgeschichte 48), mit d m die Kette der Generationen beginnt, άνήρ wird für Mensch singularisch nur dichterisch gebraucht, s. Liddell-Scott, Lex. s. v.; Powell, Lex. to Herod, s. ν.

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schichte setzt. Herodot rückt beide mythologische Schemata als bloße Varianten symbolischer Spekulation zusammen und stellt mit seiner eigenen Hypothese eine nüchterne historische Erklärung dagegen. Das ist eine Denkform, die Herodot öfter gebraucht35: Die Zeugnisse des mythischen Deutens und Denkens werden zwar registriert, aber dann das Ergebnis rationaler 'ιστοριη dagegengestelltl Mit dieser Form spielt Tacitus: Es ist klar, daß er mit der Abfolge von Meinungen und der eigenen Stellungnahme am Schluß das herodoteische und verwandte Schemata zitiert. Aber ebenso gewiß ist sein Gedankengang als ganzer anders, und wer über die parallelen Einzelheiten hinaus nach Absicht und Sinn des Ganzen fragt, kann den Unterschied nicht verkennen. Tacitus kontrastiert nicht mythologischen Entwürfen seine eigene, rationale Hypothese, er bekräftigt ja am Ende, was er schon am Anfang gesagt hat, nämlich daß die Germanen Autochthone seien. Und die Überlieferungen werden in diesen Argumentationsrahmen zwar eingepaßt, tragen aber zum Argumentationsziel offensichtlich nichts bei, weil dieses schon vorher feststeht. Dementsprechend andere Funktion haben auch die griechischen Heroen. Herakles ist nicht der Völkervater und Kulturstifter, sondern ein tapferer Held und Vorkämpfer (primus omnium virorum fortium)36, er kommt nicht wie bei den Skythen in ein leeres Land (vgl. Her. 4, 5, 1. 8, 1), um den ersten Germanen zu zeugen, sondern er findet die Germanen bereits vor (fiiisse apud eos). Ebensowenig erfüllt Odysseus hier wie sonst bei seinen Irrfahrten die Funktion, Kinder zu hinterlassen und so die Menschheit zu verbinden und die barbarischen Länder des Westens der Kultur zu erschließen37, obwohl zu diesem Zweck seine Reiseroute sogar in den äußeren Ozean verlegt wurde und Tacitus darauf hier anspielt (3, 2). Hier werden nur antiquarische Assoziationen (Asciburgium, ara) mit Odysseus verbunden und andere verstreute Zeugnisse für griechische Präsenz im Lande daneben gestellt, die durch den deutlichen Vorbehalt gegen ihre Zuverlässigkeit und Tragweite (neque confirmare argumentis neque refeilere in animo est: et ingenio suo quisque demat vel addat fidem. ipse ...) aber entwertet

35

Vgl. nur den Beginn des Werkes: 1 , 1 - 5 , 2 gegenüber 5, 3.

36

Zu fremden Heraklessen s. Trüdinger, Studien 153 Anm. 2; Norden, Urgeschichte 174f. (dessen Deutung im übrigen weit abführt); einschlägig hier besonders Diod. 5,24 und Timagenes' gallische Ethnogonie bei Amm. Marc. 15, 9, 3 alii Doriensis antiquiorem secutos Herculem oceani locos inhabitasse confines. Trüdinger findet ein (eher schwaches) Argument dafür, daß Tacitus an den griechischen Herakles denke, in der Zusammenstellung mit Ulixes. Richtig wird sein, daß Tacitus die scharfe Trennung nach antiquarischen Varianten meidet (vgl. Perl, Komm. z. St.: „fließen ineinander über"), die die Tradition vermutlich auch hier bereit hielt, aber dem germanischen Hercules doch eher fremde Farbe gibt; die nördlichen Säulen (Germania 34,2 als fama erwähnt), die zur Ausstattung des eigenen gedient hätten, bleiben hier unberücksichtigt 37

Vgl. Norden, Urgesch. 171f.

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werden38. Dieser Odysseus stiftet jedenfalls nicht die geschichtlichen Anfänge von Land und Volk der Germanen und kann deshalb nach freiem Ermessen akzeptiert werden oder nicht. Die taciteische Verwendung des Motivs .Herkules und Odysseus bei den Barbaren' unterscheidet sich deshalb grundlegend von der Vorlage. In den von Taciltus erwähnten germanischen Überlieferungen haben die Heroen keine Stifterfunktion und begründen nicht die Volksentstehung. Diese Differenz hat weitreichende Bedeutung. Die Heroen fixieren sonst ein bestimmtes geschichtliches Stratum; sie liefern dadurch mit ihrem Auftreten auch eine relative chronologische Bestimmung. Die heroische Zeit ist für das antike Geschichtsdenken die Grundschicht, in der die griechische Geschichte wurzelt, aber durch Verknüpfung mit ihr und Anschluß an sie auch die der Nachbarn, der Italiker, Karthager, Etrusker. Wenn Herkules und Odysseus zu den Germanen kommen, heißt das, daß diese älter sind und überhaupt außerhalb dieses historisch-genetischen Zusammenhanges stehen; es gab sie „schon immer" (obwohl sie erst .jüngst" so heißen), sie lassen sich nicht nur auf eine historische Stiftung nicht zurückführen, sondern auch mit der Grundschicht historischer Stiftungsvorgänge nicht in Verbindung bringen. Dem entspricht nun die Unklarheit über die Herkunft dieser Informationen. Weit entfernt von einer säuberlichen Trennung nach Informationsgruppen indigener und externer Art, wie sie nach Herodot naheläge (und wie sie wohl deshalb Norden und andere Kommentatoren auch hier voraussetzten), bleibt es im Ungewissen, woher die Überlieferungen stammen und soll das nach der Absicht des Autors auch so sein39. Deshalb dürfte auch die Aufbauarchitektur Nordens in diesem Punkt nicht haltbar sein: eine Zweigliederung der Informationsträger ist nicht zu erkennen. Den carmina antiqua wird nicht ein apud nos o. ä. entgegengestellt, sondern undeutliche Kollektivbezeichnungen setzen das Referat fort. Dazu paßt, daß die Erwähnung des Schlachtgesanges, der Herkules beschwört, assoziativ entgleitet zum Schlachtgebrüll des barditus, der zur Steigerung der Erregung und Abschreckung bestimmt ist40. Er hat nur als carmen etwas mit dem ersten zu tun,

38

Der abschätzige Ton des Berichtes ist unübethörbar und oft bemerkt worden (ζ. B. Norden, Urgeschichte 172); subtil, aber deutlich wird Asciburgiumque ... ab illo constitutum nominatumque kommentiert durch die Worte (16, 1) nullas Germanorum populis urbes habitari satis notum est 39

Die nach Herkunft der Thesen geordneten Auflistungen in anderen origo-Darstellungen geben den richtigen Vergleichshintergrund: Timagenes bei Amm. Marc. 15, 9, 3 - 7; ähnlich unbestimmt dagegen der Katalog Tac. hist, 5,2ff. (Juden-origo). 40

Der argumentative Sinn des barditus scheint mir noch nicht ausgeschöpft (vgl. Norden, Urgeschischte 115ff. 172ff.; H. Beck, RGA2 2, 1976, 52ff. s. v. barditus; A. A. Lund, Neues zum mantischen Schlachtgesang der Germanen, Maia 37, 1985, 263ff.; Perl, Komm. z. St., S. 138f.), die ungewöhnliche Länge der Abschweifung setzt eine besondere gedankliche Absicht des Autors

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aber ist als Zeugnis über Autochthonie und Herkunft gewiß wertlos. Für Quellenscheidung besteht hier weder Anlaß noch Möglichkeit. Autochthonie ist ein Element in on'go-Darstellungen, aber nicht das einzige, und es muß in seiner jeweiligen Verbindung mit anderen gewürdigt werden. Zum Wissen über ein fremdes Land gehörte von Haus aus die Information über die Herkunft seiner Bewohner, die Antwort auf die Frage: indigenae an advecti (Agr. 11, 1) und, wenn zugewandert, ob mit Vorbewohnern vermischt oderl nicht41. Beobachtungen zum körperlichen Habitus einer Bevölkerung oder Schlüsse aus dem Namen konnten als Argumente dienen, die Zeitstellung von Anfängen konnten dazu in Beziehung gesetzt werden42. Die traditionellen origo-Elemente besaßen jedoch keine konstante Wertigkeit. Der durch hippokratische Vorstellungen geprägten Ethnographie galten die physischen Merkmale nicht allein als Beweismittel für Herkunftsfragen, sondern erlaubten genuine Aussagen zur Charakterisierung einer fremden Population (vgl. besonders Tac. Agr. 11). In der hellenistischen Zeit, als Probleme der Kulturdiffusion erhöhte Bedeutung bekamen, konnten der Exokeanismos des herumirrenden Odysseus oder fremde Herkulesse (die Typisierung einer mythologischen Individualität) darauf aktuelle Antworten geben. Die Frage K. Trüdingers, was Autochthonie und Rassereinheit der Germanen mit ihrer Archäologie zu tun haben (S. 150f.), läßt sich also auch so formulieren: Welchem gedanklichen Ziel dient die spezifische Mischung der origoTraditionselemente bei Tacitus, welchen Stellenwert hat bei ihm insbesondere die germanische Autochthonie? Dazu ergibt sich nun: die allgemeine Unsicherheit über die ethnische Vorgeschichte und Besiedlungsgeschichte43 gilt ihm auch für die Germanen; ihre physische und mentale Einheit und deren Kongruenz mit der positio caeli sind gleichwohl unzweifelhaft und kompensieren jene Ungewißheit. Weder stiftende Gründerpersönlichkeiten noch kulturbringende Heroen oder (wie bei Megasthenes' Indern)44 eine Verbindung beider spielen hier eine Rolle, histovoraus. Das Kollektive (sonuit acies; virtutis concentus) und Unartikulierte (fractum murmur; vox repercussu intumescat) müssen die Erklärung des akustischen Phänomens leiten. 41

Norden, Urgeschichte 47; Komor, in: Harmatta, Studien (wie Anm. 3) 191ff.; Lund, Komm. S. 44ff. 42 Habitusargument: Agr. 11, 1-2 (Britannier). - Namensargument: Sali. Jug. 18, 11 (Mauren); Pomp. Trog.-Just. 41, 1, 1 (Parther); Amm. Marc. 15, 9, 3 (Kelten). - Zeitkombinationen: Sali. Jug. 18 (vgl. Trüdinger, Studien 128); Diod. 2, 38 (Dionysos bei Indern; vgl. Trüdinger, Studien 152); Tac. hist. 5, 2, 1 (Juden). 43 Agr. 11, 1 ceterum Britanniam qui mortales initio coluerint, indigenae an advecti, ut inter barbaros, parum comperi. 44

Diod. 2, 38f„ wo Dionysos die Segnungen der Kultur einführt und die Königsliste eröffnet, bis mit Herakles' Erscheinen eine neue Ära beginnt

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rische Ereignisse bilden einen Einsatz der Volksgeschichte nicht, und Fremd- oder Selbstbezeichnungen liefern in dieser Hinsicht keine Aufschlüsse; trotzdem befinden sich die Germanen deshalb nicht in einer vorzivilisatorischen Stufe ohne mores und leges45. - Tacitus hat wahrscheinlich die Liste germanischer origoVarianten drastisch reduziert46 und damit vor allem verdeutlicht, aus welchen möglichen Argumenten er volkstumsgeschichtliche Folgerungen nicht zu ziehen gedachte. Tacitus läßt durch die Beiläufigkeit, Folgenlosigkeit und Unsicherheit der von ihm erwähnten Kulturstiftungselemente (Stadt, ara, Schrift) einerseits und durch die ins Emotionale zurücksinkende Erwähnung des Herkules andererseits deutllich erkennen, daß hier an einen mythischen oder gar historischen Einsatz der Ethnogonie, eine Kontamination von Barbaren-ongo und hochkulturellem Einschuß wie sonst in Gründungssagen und ethnogonischen Mythen (und namentlich den skythischen), nicht gedacht ist. Die Frage nach der Autochthonie der Germanen, in der Topik der Völkerbeschreibung vorgegeben, richtet sich deshalb hier weniger auf das herkömmliche Thema der unvermischten Herkunft aus dem Lande, sondern sie zielt vor allem auf die kulturelle und geschichtliche Verknüpfbarkeit der Germanen mit der eigenen Welt, auf ihre Isoliertheit gegenüber Kultureinflüssen. Die historische oder pseudohistorische Tatsachenfrage wird vertieft zum kulturanthropologischen Problem.

2 Damit stellt sich auch die Aufgabe neu, die Funktion der Mannusgenealogie im Kontext des taciteischen Gedankenganges zu bestimmen. Die Lösung kann nur in Verbindung mit einem genaueren Verständnis der Entwicklung der Mannusgenealogie gewonnen werden; dafür liefert der Vergleich des taciteischen mit den anderen Zeugnissen über die Mannusstämme erste Anhaltspunkte. Bei Plinius (n.h. 37, 34) wird mit großer Wahrscheinlichkeit, wenn auch nicht letzter Sicherheit, der Name der Ingvaeonen (Guionen) als einer Gruppe an der Ozeanküste überliefert und auf Pytheas von Massilia zurückgeführt. In einer langen Liste von Eiklärungen zur Bernsteinentstehung heißt es da: credidit ...Pytheas Guionibus (andere Lesart: gutonibus), Germaniae genti, accoli aestuarium oceani Metuonidis nomine spatio stadiorum sex milium; ab hoc diei navigatione abesse insulam Abalum; illo per ver fluctibus advehi et esse concreti maris purgamentum, incolas pro ligno ad ignem uti eo proximisque Teutonis vendere. 45

Vgl. Sail. Jug. 18, 1 Afiicam initio habuere Gaetuli et Libyes, asperi incultique ... ii neque moribus neque lege aut imperio quoiusquam regebantur. 46 Trüdinger, Studien 152.

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In dem alten Streit, ob Plinius hier gutones (Goten) oder teutones (Teutonen) oder (in)guiones (Ingvaeonen) geschrieben habe, sprechen für das letzte, eine Konjektur Detlefsens, entscheidend die Parallelen Plin. 4, 96 und 4, 9947, während die Argumente, die gegen das Vorkommen des Ingvaeonen-Namens in diesem Kontext vorgebracht worden sind, kaum als stichhaltig gelten können48. 4, 961 schreibt Plinius nämlich in der Geographie Germaniens: incipit deinde clarior aperiri fama ab gente Inguaeonum, quae est prima in Germania. Auch hier wird Pytheas im Kontext genannt (95), wenn auch nicht als unmittelbare Quelle, so daß es sehr nahe liegt, beide Stellen aufeinander zu beziehen. Die Herkunft der Nachricht aus Pytheas wird man vor allem auch deshalb ernst nehmen müssen, weil die Quellenangabe an beiden Stellen in Zitatennestern und Sammelreferaten enthalten ist, die zeigen, daß der Autor (wenn auch aus zweiter Hand) lange Traditionsstränge überblickte, ζ. B. Pytheas mit Timaios in Verbindung brachte49. Die Namensüberlieferung weist mindestens auf griechische Herkunft hin50. Inhaltlich paßt zu Pytheas, daß es an der Stelle um die Ausdehnung der Küste, Distanzangaben, Handelsbeziehungen und Mirabilia geht, wie es bei einem Periplous erwartet werden darf. Herkunft aus Pytheas datiert die Ingvaeonen-Nachricht in das späte 4. Jh. v. Chr.; damit sind wir in einer Zeit, für die völlig andere ethnographische Verhältnisse als die später bekannten nicht ausgeschlossen werden können. Der singulare Bezug auf die Nordseeküste und ihre Anwohner ist andrerseits nach der Reiseroute des Pytheas verständlich. Wir können deshalb auch bei nüchterner Prüfung der plinianischen Nachricht akzeptieren, daß ihr zufolge Pytheas die Ingvaeonen erwähnt hat. Mehr als die isolierte Bezeugung von Ingvaeonen (Ιγγυαίονες) an der Nordseeküste vom Gesichtspunkt eines frühen Seefahrers und Entdeckers aus enthält 47 Müllenhoffs Konjektur (D. Α. 1, 479) teutonibus für gutonibus wurde vor allem von S. Gutenbrunner, Germanische Friihzeit in den Berichten der Antike, 1939, 70f. verteidigt, dem wieder Wenskus, Stammesbildung 239 folgt Detlefsen, Entdeckung des germanischen Nordens 4ff. 13f. (zurückgenommen Hermes 46, 1911, 309ff., weil der Zusammenhang dagegen spreche; die Argumentation ist jedoch keineswegs stichhaltig) erkannte in guionibus ein um die Anfangssilbe (weil irrtümlich für Präposition gehalten) verkürztes inguionibus. Diese Deutung ist überwiegend anerkannt, ζ. B. L. Schmidt, RE 9, 1916, 1543f. s. v. Ingaevones (anders Klio 22, 1928, 95f.); Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 1, 226; Schnetz, Zeitschrift für Ortsnamenforschung 12, 91ff.; Wagner, Beiträge zur Namensforschung 17, 303. 48 Die Goten können nicht an der Nordseeküste lokalisiert werden; die Form Teutonibus wird durch das folgende Teutonis widerlegt Das Argument, die Küstenanwohner müßten die proximi sein, denen die Abalusleute den Bernstein verkauften, ist m. E. nicht stichhaltig. 49 50

37,96 huic (sc. Pytheae) et Timaeus credidit sed insu]am Basiliam vocavit; vgl. 4,94.

Durch das у in den sonst variierenden Namensformen, das als ursprüngliche Schreibung ΙγγυαΛονες vermuten läßt; vgl. Detlefsen, Entdeckung 7f.

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die einzigartige Nachricht aber auch nicht. Es ist unbestritten, daß Pytheas seine Ingvaeonen nicht als Ethnos Germaniens eingeführt haben kann, weil er zweifellos den Germanenbegriff noch nicht kannte; er rechnete die Küste der Nordsee zur Σκυθική 51 , und die Apposition gens Germaniae muß also von Plinius selbst oder aus einer Zwischenquelle stammen52. Offenbar hat ein Späterer den erklärenden oder korrigierenden Zusatz für angebracht gehalten, weil der Name andernfalls nicht hinreichend verständlich und zuzuordnen gewesen wäre. Selbst die Bezeichnung der Ingvaeonen als gens kann nicht als authentisch angesehenl werden, wenn auch als aufschlußreiche Interpretation: Spätere Autoren konnten sich eine andere Deutung des Personalverbandes offenbar nicht vorstellen. Entscheidend ist aber, daß als pytheanisch nur die Nennung des Ingvaeonen-Namens allein und seiner als Küstenbewohner identifizierten Träger gelten kann. Die Analyse der Stelle führt also darauf, was auch allgemeine Erwägungen nahelegen, daß Pytheas die Ingvaeonen nicht als Teil einer größeren Einheit, schon gar nicht als Teil von .Germanen', angesehen hat. Sie können deshalb bei ihm auch nicht Element der Mannusgenealogie gewesen sein, weil diese nach ihrem Sinn und ihrer Form eine übergeordnete ethnische Einheit voraussetzt, selbst wenn eine solche mit dem Germanennamen noch nicht bezeichnet worden sein sollte und anders als später begrenzt gewesen wäre. Der Massaliote hat wahrscheinlich nur von einer realen Population oder einer Gruppe dieses Namens und ihren konkreten Sitzen gesprochen, nicht aber von dem, was die Mannusgenealogie ausdrücken will: Beziehungen der Neben- und Unterordnung in einem größeren Gefüge. Am Anfang steht also nicht das abstrakte Dreierschema, obwohl gerade dies nach so vielen Analogien den sicheren Anschein hat, sondern eine einzelne konkrete Gruppe von Namensträgern. Die Ingvaeonen sind älter als die Mannusgenealogie. Mit Recht vermutet Wenskus (Stammesbildung und Verfassung 252) in ihnen einen realen Verband vor der germanischen Ethnogenese. Mit der Tendenz des Mannusschemas, die Einheit und Gliederung der Germanen im genealogischen Mythos zu

51

Nach der wohl aus Pytheas stammenden Nachricht des Tlmaios bei Plin. n. h. 4, 94 (insulae ex quibus ante Scythiam quae appellator Baunonia unam abesse diei cursu ... Timaeus prodidit) und Diod. 5, 23, 1 über den Bernstein (της Σκυθίας της \>πέρ την Γαλατίαν κατ° άντικρύ νησός έστι π ε λ α γ ί α κ α τ ά τόν ώκεανόν ή προσαγορευομένη Βασίλεια) lag die Bernsteininsel vor der Küste Skythiens. Dazu kommt das aus Polybios' Pytheas-Kritik stammende Referat Strabos 1, 63 (was Pytheas τά πέραν τοΰ ' Ρήνου та μέχρι Σκυθών berichtete, sei alles Schwindel). Vgl. H. Berger, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen г 1903, 231ff.; Timpe, RGA 2 7,1989, 329. 52

So nach Detlefsen, Entdeckung des germanischen Nordens 6 vielfach, zuletzt H. Ditten zu Plin. n. h. 37, 35 in: J Herrmann (Hsg.), Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas 1,1988, 581.

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symbolisieren, haben demnach die Ingvaeonen anscheinend zunächst nichts zu tun gehabt. Insoweit besteht also eine Parallele zwischen den Ingvaeonen und den Namenselementen in der Hellenengenealogie, denn auch die Dorer oder Aioler waren Gruppen, die es als einzelne schon vor ihrer Systematisierung in einem genealogischen Schema gab, und ihre Namen waren älter als der Hellenenname als Gesamtname. Damit ist freilich nicht gesagt, was für ein Kollektiv die Ίγγυαίονες des Pytheas waren, und es fehlt wohl auch an jeder Möglichkeit, das zu ermitteln. Nichts spricht für die Vermutung, daß Pytheas an einen Kultverband gedacht habe. Aber selbst wenn ein Verband sich um einen Kult konstituiert und einen Eigennamen angenommen hätte, müßte man unter den Gegebenheiten der Stammesgesellschaft mit einer sekundären Ethnisierung rechnen. Im übrigen hat der Name Ingvaeonen zwar eine (oder zwei) germanische Wurzeln, aber er ist doch eine durch Pytheas, einen fremden Beobachter, vermittelte Kollektivbezeichnung, die keine Gewähr dafür bietet, daß sie auch die richtige Selbstbezeichnung des gemeinten Verbandes war. Völkerbenennungen durch Außenstehende können auf die irrtümlichste Weise Zustandekommen, ohne daß sich auch nur die Wege des Mißverständnisses im Nachhinein immer aufklären lassen müßten. Dieser durch ein isoliertes Zeugnis überlieferte Name, von dem nur gesagt werden kann, daß er im 4. Jh. v. Chr. die Fremdbezeichnung eines Verbandes an der Nordseeküste war, ist nun irgendwann später (nach eher unsicheren sprachlichen Indizien ungefähr im 1. Jh. v. Chr.) mit den Namen der Herminonen undl Istvaeonen verbunden in das genealogische Mannusschema eingefügt worden: Denn in diesem Zusammenhang begegnet ja der Ingvaeonenname bei Tacitus, und die Mannusstammesnamen bei Plinius und Mela können vor diesem Hintergrund ebenfalls als indirekte Zeugen der Mannusgenealogie betrachtet werden. Diese Konstruktion muß, wie die stabenden Namen verraten (und noch niemals hat das jemand bezweifelt), die Erfindung germanisch sprechender Einheimischer sein. Ohne darüber hinaus Zeit und Umstände, Intention und Erfinder, ja, auch nur den präzisen Sinn des Schemas zu kennen, zeigen uns doch die bekannten Parallelen, wie die Erfindung des ethnogonischen Mythos im Prinzip zu beurteilen ist und welche Bedürfnisse dahinter vermutet werden können. Es handelt sich dabei allemal um künstliche Konstruktionen, die ein archaisches Ordnungsbedürfnis mit den mythologischen Mitteln der Verwandtschaftsbeziehungen und der Generationenrechnung befriedigen. Sie formulieren den naiven Ethnozentrismus und werden in diesem allgemeinen Rahmen konzipiert, um den Autoritätsvorrang einer Gruppe über eine andere, den Überordnungsanspruch von Erobererverbänden oder eine mehrschichtige ethnische Identität zum Ausdruck zu bringen; vor allem scheinen ethnogonische Mythologeme mit ihren gedanklichen Mitteln die Herausbildung einer größeren ethnischen Gemeinschaft zu symbolisieren. Mythologisch-ethno-

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gonisches Denken bezeugt nicht zuletzt, daß der personalen Zuordnung die Priorität vor allen territorialen Aspekten eingeräumt wird. Denn konstitutiv ist in allen ethno-genealogischen Völkerschemata die Überordnung und Nebenordnung von Eponymen und damit der durch sie repräsentierten Verbände im Rahmen des Verwandtschaftssystems; nur gelegentlich und zusätzlich sprechen sie auch von Territorial- und Gebietsansprüchen, aber nirgends gehen solche Denkfiguren von Raumvolumina und deren Teilungen oder Zuweisungen aus. Nichtsdestoweniger können durchaus auch Land- und Herrschaftsanspriiche in solchen symbolischen Beziehungen ausgedrückt werden: Wenn die genealogischen Ethnogonien auch nicht primär geographisch gedacht sind, so lassen sie sich doch leicht nachträglich und ergänzend verräumlichen oder mit Raumbeziehungen aufladen. Gewiß gehören ja die räumlich-geographischen Bestimmungen auch nächst den über genealogische Zusammenhänge - zu den wichtigsten Selbstaussagen, die das mythische Denken über menschliche Verbände zu treffen hatte. - Es gibt nun klare Hinweise darauf, daß auch die Mannusgenealogie eine derartige Verräumlichung erfahren hat; mehr noch: wir fassen sie überhaupt nur in verräumlichter Gestalt, wenn wir auch postulieren müssen, daß diese gemäß der allgemeinen Logik des mythisch-ethnogonischen Denkens nicht die primäre war. Pytheas hatte die Ingvaeonen als ,Meeranwohner' bestimmt; man darf für gewiß nehmen, daß sich in dieser Benennung die Perspektive des Seefahrers ausdrückte, der vom Meer aus die Küste inspizierte. Entgegen ihrer scheinbaren Unscharfe ist diese räumliche Festlegung demnach ursprünglich und direkt. Sie ist aber auch die konkreteste Verknüpfung mit der geographischen Realität! geblieben; noch bei Tacitus heißen die Ingvaeonen proximi Oceano. Die geographischen Bestimmungen der anderen Mannusstämme werden relativ dazu gegeben; als .mittlere' und .übrige' sind die beiden anderen Gruppen bei Tacitus auf die Ingvaeonen bezogen. Pomponius Mela nennt die Kimbern und Teutonen und in Bezug auf sie {ultra) als .äußerste' Germanen die Herminonen53. Auch diese Ausdrucksweise gebraucht die Küstenanwohner als Bezugspunkt, sieht vom Ozean auf sie und die hinter ihnen Sitzenden. Die Stellen bestätigen also mit ihren geographischen Relativbegriffen einerseits, daß das Mannusschema eine von den Ingvaeonen ausgehende Erweiterung darstellt, und legen andererseits und in Verbindung damit die Annahme nahe, daß es verräumlicht worden ist, indem die anderen Gruppen zu den Ingvaeonen in räumliche Beziehung gesetzt wurden. Ausgangspunkt des verräumlichten Dreierschemas waren also die Nordseeküstenbewohner, die alten, echten .Ingvaeonen', die prima pars Germaniae, wie Plinius dann sagt, aber zunächst in einen übergreifenden Zusammenhang noch nicht eingebunden.

53 3, 32 in der Beschreibung der germanischen Ozeanküste: in eo (fretum zwischen Küste und vorgelagerten Inseln) sunt Cimbri et Teutoni, ultra Ultimi Germaniae Hermiones.

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Die Konsequenz aus diesem merkwürdigen Befund lautet, daß wir einen Traditionskomplex unzweifelhaft germanischer Herkunft gleichwohl nur in einer Form antreffen, aus der die Perspektive des von außen kommenden Betrachters nicht eliminiert werden kann. Wir fassen die Mannusgenealogie nicht nur allein in der zufälligen Bezeugung durch antike Autoren, sondern nehmen sie auch immer schon mit den Augen eines antiken Übermittlers wahr. Mehr noch, trotz ihres indigenen Kernes steht sie auch unlösbar in dem mit Pytheas beginnenden literarischen Überlieferungszusammenhang. Daß hierin keine überspitzte Ausdeutung der geographisch-räumlichen Angaben liegt, zeigt die weitere Entwicklung, die sich als solche überhaupt erst unter den hier entwickelten Voraussetzungen zu erkennen gibt. Später begegnete das Mannusstämme-Schema nämlich offenbar gerade in seiner sekundären geographischen Funktion spezifischen Schwierigkeiten: Es hatte die Beobachtung gegen sich, daß es die Stammesgruppen des Schemas in historischer Zeit überall dort nicht gab, wo man sie erwarten mußte, nicht einmal die realste, die Ingvaeonen. Daraus gab es zwei Auswege: Korrektur und Anpassung. Der erste, die Korrektur des Schemas, bestand darin, den mythischen Namen durch die realen zu ersetzen. In diesem Sinne schreibt offenbar Mela: An der Küste wohnen die Cimbri et Teutoni, jenseits von ihnen, als ultimi Germaniae, die Hermiones. Denn das heißt doch wohl, daß statt der Ingvaeonen die nun allein bekannten Stammesnamen (Kimbern und Teutonen hier als die bekanntesten) eingesetzt wurden, während Herminonen als literarischer Terminus bleiben konnte, weil er vom Standpunkt des Quellenautors - noch - nicht durch Erfahrung widerlegt und somit unbrauchbar geworden war. - Die zweite Möglichkeit! bestand in der Anpassung der Realität an das Schema. Dabei wurde die ethnographische Empirie dem alten, zwar als falsch erkannten, aber trotzdem als Ordnungs- und Oberbegriff beibehaltenen Namen subordiniert (so wie .Indianer' als Ordnungsoberbegriff die amerikanischen Stämme zusammenfaßt, obwohl der Name längst als falsch erkannt ist). In diesem Sinne scheint der Ingvaeonenname bei Plinius (4, 99) gebraucht zu sein: Er dient nun als fiktiver Oberbegriff, der die realen Kimbern, Teutonen, Chauken unter sich begreift. Methodisch entscheidend an dieser Erklärung ist, daß sie die bezeugten Modifikationen der Mannusgeographie allein innerliterarisch versteht, mögen sie auch durch die Erfahrung der römischen Eroberer oder Händler motiviert gewesen sein. Kein Germane hat also an dem Mythos weitergesponnen, keine Aura religiöser Ehrfurcht ihn geschützt; jedenfalls wissen wir nichts davon. Als in nüchterne historisch-geographische Literatur eingegangene Information indigener Herkunft wurde das darin vermutete Wissen von griechisch-römischen Lesern genutzt und weiterentwickelt.

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Im übrigen erklären die vorgetragenen Beobachtungen nur einige Aspekte und reichen nicht zu einer in sich geschlossenen Hypothese über Entstehung, Sinn und Bedeutung der literarisierten Mannusgenealogie; sie haben insbesondere auf Quellenfragen und damit die Zeitstellung der Varianten keine Rücksicht genommen. Es haben sich aber jedenfalls folgende drei Ergebnisse herausgestellt: (1) Das Mannusschema geht von den einstmals realen Ingvaeonen an der Nordseeküste aus und entstand, indem diese Gruppe um die beiden anderen zum genealogischen Dreiermodell ergänzt wurde. (2) Es wurde weiter von rein genealogischen Beziehungen auf räumlich-territoriale Vorstellungen übertragen: Solche finden sich in den erhaltenen Quellen und spiegeln wohl die Genese des Schemas noch wider. (3) Das verräumlichte Schema erfuhr schließlich gewisse Abwandlungen und Variationen, die den literarischen Charakter des Mannusschemas belegen. Es war produktiv, aber nicht als germanischer Mythos, sondern als geographische Information für römische Leser. Die bisherigen Beobachtungen und Kombinationen haben nicht erklären können, was die Mannusstämme waren und wie ihr Zusammenhang zu deuten ist, wer die Mannusgenealogie geschaffen hat und welche Funktion dem Mythos in seiner literarisierten Form zukam. Aber sie haben einige lose Fäden zutage gefördert, die sich vielleicht weiter miteinander verknüpfen lassen; dazu bietet sich, nachdem das Verständnis des Mythos als einheitlicher und zeitloser Dokumentation des Volksgeistes aufgegeben ist, die zuletzt schon verwendete motivgeschichtliche Entwicklungsperspektive an.l

3 Der zuletzt berührte Wechsel der geographischen Vorstellung gibt dafür einen ersten Anhaltspunkt. Denn die Sicht auf die Küste entstammt offenbar der vorcaesarischen Zeit, nicht nur, weil sie mit dem Namen des Pytheas verbunden ist, sondern auch, weil bei und seit Caesar eindeutig die west-östliche Landorientierung dominiert. Wo dagegen der Küstenrand Tiefe gewinnt, wo die Anschauung einer, unter Stammesgruppen aufgeteilten Landmasse Gewicht bekommt - mögen unter jenen auch die Küstenbewohner noch als erste genannt werden -, drückt sich eine veränderte Kenntnis und Wertung des mitteleuropäischen Raumes aus, die es vor dem 1. Jh. v. Chr. nicht gegeben hat, die aber durch Caesars rechtsrheinische Expeditionen entscheidenden Auftrieb erhielt. Tacitus wie Plinius bezeugen beide diesen Entwicklungsstand, innerhalb dessen vielleicht eine Formulierung, in der die Istvaeonen proximi Rheno heißen (Plin. n. h. 4, 100), noch einmal einen entwicklungsgeschichtlichen Schritt über jene hinaus verrät, in der diese Gruppe nur summarisch als ceteri erscheint (Tac., Germ. 2, 2).

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D a s Dreierschema wird also im Kern vorcaesarisch sein, vor allem wenn wir ihm hypothetisch eine erste, noch nicht verräumlichte Stufe zuschreiben dürfen. Es sollte in dieser Gestalt und vorliterarischer Form offenbar verschiedene Gruppen über einen gemeinsamen Stammvater als zusammengehörig ausgeben, hatte also eine innergermanische „ideologische" Funktion, die mit der germanischen Ethnogenese in Zusammenhang gestanden haben dürfte. Es ist aber nur durch das Medium der antiken Autoren faßbar und setzt deshalb einen literarischen Vermittler voraus. Der muß sich für „germanische" Ethnographie und Ethnogenese interessiert haben, gebrauchte den Germanennamen jedoch in seiner späteren Bedeutung wahrscheinlich noch nicht, besaß v o m mitteleuropäischen Binnenraum eine, wenn auch flüchtige, Vorstellung, aber dachte doch noch von der Seebasis her. Dieser Autor kann nach unserer Kenntnis nur Poseidonios g e w e s e n sein, dessen Bedeutung in diesem Zusammenhang schon oft betont worden ist, ohne daß sie doch sicher hätte präzisiert werden können 54 . Es ist deshalb beachtllich, daß bei

54

Angelpunkt ist das Zitat Athenaios 4, 39 p. 153 e Γερμανοί δέ, ώς 'ιστορεί Ποσειδώνιος fcv τή τριακοστή, άριστον προσφέρονται κρέα μεληδόν ώπτυμένα καΐ έπιπίνουσι γ ά λ α και τόν οινον άκρατον (FGrHist 87 F 22 = Theiler, Poseidon. Fragmente Nr. 188 = Edelstein-Kidd, Posidon. Fragments Nr. 73), zu dem ergänzend, aber in unsicherem Umfang, die Überlieferung bei Diodor, Strabo, Plutarch und Athenaios hinzukommt Poseidonios hat danach im 30. Buch der Historien im Zusammenhang seiner Kimbernbehandlung über die mores eines .Germanen' genannten Ethnos gesprochen. Die seit Müllenhoff (D. A. 2,188) erhobenen Zweifel an der Echtheit der Nennung von Γερμανοί durch Poseidonios gelten jetzt mit Recht als unbegründet; ob Norden (Urgeschichte 59ff.) indessen recht hatte, wenn er Poseidonios eine germanische Ethnographie zuschrieb und aus ihr folgerte, der Autor habe eine begrenzte ethnische Selbständigkeit seiner Germanen zwischen Kelten und Kimbern angenommen, ist umstritten; vgl. F. Jacoby, FGrHist II С 169ff. (Komm, zu F 22). 181ff. (Komm, zu F 31); G. Walser, Caesar und die Germanen, 1956, 40ff.; J. J. Tiemey, The Celtic Ethnography of Poseidonios, Proceed. Royal Irish Acad. 60, 1959-60, 201f.; D. Nash, Reconstructing Poseidonios' Celtic ethnography, Britannia 7, 1976, 1 Iff. (minimalisiert gegen Tlerney Poseidonianisches im Strabo); K. Peschel, Die Sueben in Ethnographie und Archäologie, Klio 60, 1978, 267ff.; Theiler, Poseid. Fragmente 2, 1982, 111 (Komm. ζ. Frg. 188); J. Malitz, Die Historien des Poseidonios, 1983, 198ff. - Konsens besteht danach darüber, daß fur Poseidonios die Kimbern (.noch*) nicht als Germanen galten und daß seine Germanen als rheinnahes (unbegründet Malitz а. O. 205, dieser germanische Stamm hätte „seine Sitze etwa im Gebiet des Oberrheines gehabt"), verhältnismäßig kleines und den Kelten verwandtes Ethnos gedacht waren. Ungeklärt bleibt die ethnologische Systematik, wenn die Suche nach ihr nicht eine falsche, modernen Kategorien verpflichtete Fragestellung verrät. Gegen Nordens Hypothese, Poseidonios habe seine Rheingermannen für eine ethnisch selbständige Gruppe gehalten, wandte Jacoby (Komm. S. 169) ein, daß es bei Diodor keine germanische Ethnographie gebe, doch relativiert diesen Einwand der locker gefügte, persönliche Erfahrungen einstreuende, Akzente aus zufälliger Sonderkenntnis setzende und psychologisierende Stil des Poseidonios (vgl. K. Reinhardt, RE 22, 1953, s. v. Poseidonios, 630ff. und 663 zur Ozeanschrift). Wenn Poseidonios die Kimbern für keltisch gehalten hat (dafür wird Diod. 5, 32, 3 in Anspruch genommen, andere Stellen wie ζ. B. Plut. Mar. 11,11 sprechen für skythische Züge der Kimbern) müssen es

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Plinius unter den Quellenautoren für das 4. Buch, das die germanische Geographie und die Mannusstämme behandelt, auch Poseidonios genannt wird 55 . Poseidonios hat in seinem konservativen Bemühen, in älteren Auffassungen trotz rationaler Kritik einen richtigen Sinn zu finden56, Pytheas (und Timaios) gegen die von Polybios ausgehende Ablehnung emstgenommen und benutzt, ihm wohl gar mit der Übernahme des Titels π ε ρ ί τ ο ΰ ω κ ε α ν ο ύ gehuldigt. Er wird deshalb von den Ingvaeonen literarisch vermittelte Kenntnis gehabt haben. Und er hat andererseits, durch die zeitgeschichtlichen Ereignisse stimuliert, dem βίος der Nordvölker sein lebhaftes und spekulatives Interesse zugewandt 57 . Alles spricht dafür, im Werk des Poseidonios die entscheidende literarische Relaisstation der Mannustradition zu erkennen 58 . Auf welchem Wege undl aus welcher Quelle er an die nötige Erstinformation gelangte, läßt sich natürlich nicht ausmachen; daß es dazu weiter Reisen und Erkundigungen vor Ort oder eines bedeutend erweiterten geographischen Horizonts bedurfte (vgl. Anm. 58), ist, wie der Blick auf vergleichbare origoÜberlieferungen lehrt, ganz unbegründet.

auch die westlich von ihnen wohnenden .Germanen' gewesen sein (deren graduelle Differenz zu den Kelten er nach Strabo 7, 290 angenommen zu haben scheint). Aber auch die Gallier der caesarischen Gallia omnis besaßen ihm eine über- und vorgeordnete Einheit vielleicht nicht (vgl. Diod. 5,32,1; Strabo 4,176). Nordens schönes Urteil (Urgeschichte 83f.) „in dieser Weise hat er (Poseid.) auch über die beiden großen Völkerschalten des nordwestlichen Europas geurteilt: όμοφύλια im ganzen, διαφέροντα und Ίδια im einzelnen" bleibt bestehen; die Einzelprobleme löst es nicht 55 Indices zu Buch 4 ex auctoribus externis; vgl. W. Kroll, RE 21, 1951,425f. s. v. Plinius der Ältere. 56 Vgl. Schol. Apoll. Rhod. 2, 675 (verteidigt gegen Herodot die Hyperboräer und sucht sie in den Alpen); Athen. 6,233 d (identifiziert Alpen mit Rhipäen). 57 S. vor allem Norden, Urgeschichte 66; vgl. Malitz, Historien (wie Anm. 54) 2011Ϊ. 58 Es ist bemerkenswert, daß Norden, der der Bedeutung von Poseidonios' NordvölkerEthnographie tiefes Verständnis entgegenbrachte, auch dem m. E. richtigen Urteil über die Mannusgenealogie offenbar nahe war, dann aber S. 117 nach dem Hinweis auf eine von ihm vermutete germanische Ethnographie des Poseidonios und der Annahme, daß dort auch von dem barditus die Rede gewesen sei, anmerkungsweise bemerkt: „dies gilt aber sicher nicht von den Tuistoliedem; die Kunde von ihrer Existenz - die Kenntnis der drei Stammesverbände ging über den geographischen Horizont des Poseidonios hinaus - wird vielmehr einem etwas jüngeren Ethnographen verdankt" (gemeint ist Tlmagenes; vgl. S. 430). Und weiter die aufschlußreichen Schlußworte S. 433: „wer ethnologische Offenbarungen über die Stammesverbände der Ingvaeonen, Hermionen und Istvaeonen erwartete, wird etwas enttäuscht sein, daß er sie nicht gefunden hat - dies Urtümliche zu betasten wird schwerlich je gelingen - ; aber ihm wird zu denken geben, daß ihre Ortsbestimmung proximi oceano - medii ... ceteri in der seit Herodot geläufigen Terminologie παραθαλάσσιοι (παρωκεανϊται - Strabo) - μεσόγαιοι - ο'ι δέ λοιποί erfolgt."

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Poseidonios hat, von den Erfahrungen der Kimbernzeit geleitet, die Nordvölker behandelt und Klarheit in das verwirrende Durcheinander aus Beobachtungen und Kombinationen, Spekulationen und Aporien zu bringen versucht. Dabei schützte ihn sein anschauungsgesättigter Realismus vor spekulativen Entgleisungen, aber sorgten doch seine stoischen Verstehenskategorien auch für eine gedankliche Ordnung in der Fülle eines Stoffes, der empirischer Überprüfung allzu oft nicht zugänglich war. In seiner Darstellung kamen deshalb sowohl die klimazonenbedingte συγγένεια der Nordbarbaren als auch individualisierende Unterscheidungen zu ihrem Recht. Belger, Germanen, Kimbern, vielleicht Sueben und jedenfalls Skythen galt es sowohl in ihrer Vergleichbarkeit als auch ihrer jeweiligen Besonderheit, einheitlich und auch differenziert zu erfassen. Nächst den zeitgeschichtlichen Erfahrungen mit den nördlichen Wanderstämmen bestimmten dabei wissenschaftliche Vorgänger den Verständnishorizont des Poseidonios: Von ihnen sind vor allem Polybios (der die auf Pytheas und Timaios zurückgehenden Nachrichten als unseriös und schwindelhaft ablehnte und in seiner Beschränkung auf das Nützliche und Erweisbare die nördliche Zone der Oikoumene außer Betracht ließ), sodann Xenophon von Lampsakos und Artemidor von Ephesos bekannt oder doch nach ihren Grundpositionen faßbar59. In dem Rahmen, den zeitgenössische Erfahrung und gelehrter Forschungsstand absteckten, hatten sich die Verständnisbemühungen des Poseidonios anl zwei theoretischen Vorgaben zu orientieren und zu bewähren: der Annahme, daß mythisch-fabelhafte Märchenvölker den Nordrand der Oikoumene bewohnten, und der - durch die Konfrontationen der eigenen Gegenwart beförderten - Vorstellung, der Norden bilde eine der eigenen Sphäre inkommensurable feindliche Gegenwelt60. Hierbei spielte die Definition der nördlichen Populationen und die logische Einordnung der Völkernamen eine Rolle, aber sie boten nicht das einzige, gerade für Poseidonios wohl auch nicht das wichtigste Problem.

59 Xenophon scheint in einem Periplous des äußeren Meeres (Val. Max. 8,13 ext. 7) die Kenntnis des Nordens vertieft und zuerst Nachrichten über die Ostseeküste eingeführt zu haben: Plin. n. h. 4, 95. indices zu 1. III, V und VI, vgl. 6,199. 7,155; aus der Kombination der Zeugnisse ergibt sich mit Wahrscheinlichkeit, daß die plinianische Beschreibung des Nordmeeres 4, 94-97 auf Xenophon zurückgeht Vgl. Detlefsen, Entdeckung 14. 20ff.; F. Gisinger, RE 9A, 1967, 2052ff. s. v. Xenophon 10. - Artemidors Γεωγραφούμενα in 11 Büchern (epitomiert Geogr. Gr. min. I 574ff.) behandelten nach Strabo 4, 198 auch die gallischen und britannischen Küsten; E. Norden, Philemon als Geograph, Janus 1, 1921, 182ff.; Urgeschichte 466ff. schrieb ihnen die Vermittlung der frühesten Kimbernnachrichten zu, durch die Artemidor zum wichtigsten (und kritisierten) Quellenautor des Poseidonios geworden sei, der durch Plut. Маг. 11 faßbar werde. Vgl. J. O. Thomson, History of Ancient Geography 1948, 210. 60

Vgl. dazu Timpe RGA2 7, 337f. (Fabelvölker); 341 (Gegenwelt).

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Es liegt dagegen nahe, daß die .Ursache der großen Bewegung' das historische und geographisch-ethnographische Nachdenken des stoischen Historikers am meisten beschäftigte; bekanntlich diskutierte man vor allem die Theorie, eine Flut habe das Land der Kimbern vernichtet61. Diese Erklärung war entgegen ihrer scheinbaren Abseitigkeit in der zentralen Bedeutung, die ozeanischen Phänomenen für das Verständnis des Nordens beigemessen wurde, triftig motiviert62. Die Fragen nach dem räumlichen und ethnischen Zentrum der Völkerbewegung sowie, damit zusammenhängend, die bioigeschichtlichen Erklärungsversuche der Kimbernwanderung ergaben sich daraus als nächstes. Ozeanrand der Oikoumene (und zwar der Teil, wo der keltische Westen und der skythische Osten einander begegneten) und herzynischer Wald waren die geographischen Fixpunkte, zwischen denen sich die diffuse Vorstellung von der kimbrischen Heimat bewegte: Die Tradition und darauf gründende Kombination hatten für sie im übrigen die Charakteristika: kontinentale Raumtiefe, Waldland und nördliches Dunkel bereit63. Die Beziehung des neuen Ethnos zu den Steppenvölkem des Ostens zu entscheiden, war dagegen schwierig und blieb kontrovers: Während Etymologie, Begriff der Skythikö, kimbrische Fluktuation, unerschöpflich scheinende Quantität der Wandervölker und die Schnelligkeit ihrer Bewegungen die Affinität zu den Skythen zu begründen schienen, sprachen der Unterschied zwischen Wald- und Steppenland, die möglicherweise kontingente Verursachung der Wanderung sowie das angebliche Verlangen nach Wiederansiedlung für eine grundlegende ethnische Differenz 64 . - Tief und nachdrücklich prägte sich der Erfahrung aber wieder die Abhängigkeit der physischen Leistungsfähigkeit derl Nordbaibaren von ihrem Heimatmilieu, ihre an den Ursprüngen haftende Stärke, ein65. Diese Erkenntnis belebte schubartig und wie kaum etwas anderes das klimatisch-hippokratische 61

Strabo 7, 292-94 = FGrHist 87 F 31 (Theiler Frg. 44 a, Edelstein-Kidd Frg. 191). Ob sich die Kritik des Poseidonios an der Gezeiten-Theorie gegen Artemidorrichtete(Norden, Urgeschichte 466), ist zweifelhaft. 62 Vgl. K. Reinhardt, Poseidonios, 1921, 87ff.; Malitz, Historien (wie Anm. 54) 206ff.; Timpe, RGA2 7,342. Kampf der Küstenbewohner gegen das Meer wird nach Strabo 7,293 schon von Ephoros erwähnt 63

Plut. Mar. 11, 6 βάθος χώρας και μέγεθος. 9 γήν ... σύσκιον καν Ιιλώδη και δυσήλιον (Strabo 7, 292). 64

Skythenbeziehung: Diod. 5, 32, 4; Plut. Маг. 11, 5-8. - Menge und Rasanz: Plut. Mar. 11, 12-13. - kimbrische ληστεία: Caes. B. G. 2, 29, 4; Diod. 5, 32, 4; Liv. per. 63; Strabo 7, 292; Plut. Mar. 11,5,- Landsuche: Liv. per. 65; Plut. Mar. 11,3,- große Zahl: Plut. Mar. 11,12. 65 Die Unfähigkeit, Hitze und Durst zu ertragen, wird am eindrucksvollsten in den Schlachtberichten hervorgehoben: Plut Mar. 26, 8; Dio frg. 94, 2; vgl. Liv. 38, 17, 7. Zur Nachwirkung: Luc. 8, 363f. omnis in arctois populus quicumque pruinis / Nascitur, indomitus bellis et mortis amator; Tac. Germ. 4 (zu den reichen Parallelstellen s. die Kommentare, ferner Norden, Urgeschichte 1 lOff.; Malitz, Historien (wie Anm. 54) 226f.).

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Denken in der Ethnographie, sie verschaffte der Autochthoniefrage eine aktuelle und praktische Bedeutung und sie eröffnete endlich den ambivalenten gedanklichen Umgang mit den Phänomenen der Entartung und Verweichlichung66. - Das Vordringen der Wandervölker zur Donau und zum Rhein, Inkorporierung mitgerissener Gruppen aus dem Vorfeld und Konflikte mit den keltischen Nachbarn im Süden und Westen forderten schließlich die Frage heraus, ob die unmittelbaren nördlichen Nachbarn der Aggressoren als deren Verwandte oder vielmehr deren Opfer anzusehen waren. Mußten sie ihnen als Genossen der Gesinnung und der Tat nach zugerechnet werden? Oder gab sich hier ein Übergangsfeld zu erkennen (dessen Bewohner etwa als Keltoskythen zu begreifen waren)? Oder aber waren diese Nachbarn vielleicht - von den Horden der Räuber durch Natur oder Geschichte deutlich geschieden - nach deren Untergang in ihrer eigenen Identität wiederzuerkennen? Diese Fragen, Möglichkeiten, Alternativen lieferten der Folgezeit die gedanklichen Handhaben der Nordvölkerethnographie; mit ihnen hat sich insbesondere Poseidonios beschäftigt. Leider reichen die Quellen nicht aus, um über seine Gedankengänge und deren Ergebnisse volle Klarheit zu gewinnen. Der stoische Denker brachte die Mobilität der mitteleuropäischen Stämme mit ihrer klimatisch bedingten Lebens- und Ernährungsweise in Verbindung, aber ignorierte deshalb die relativen Unterschiede nicht; solche ergaben sich für ihn etwa aus graduellen Abstufungen des gemeinsamen Grundtyps, unterschiedlicher Nähe zur Kulturzone oder verschiedener geographischer Position. So glichen die Germanen rechts des Rheines nach Poseidonios weitgehend den benachbarten Kelten, aber unterschieden sich doch graduell von ihnen67; sie waren durch ihrel Wildheit den Kimbern dem Typ nach verwandt, aber hatten mit ihnen keine Gemeinschaft und fürchteten sie als Räuber68. Anders als die Kimbern (und die cae66

Räuberische Begehrlichkeit suchte der heimischen Dürftigkeit zu entkommen; die Einsicht in den anthropologisch-physikalischen Zusammenhang mußte ihr dagegen als Kraftquelle und Identitätssicherung treu bleiben. Von der bedrohten Kulturwelt aus war die Konstellation unaufhebbar, weil in den geophysikalischen Gegebenheiten begründet, aber durch künstliche Herbeiführung der .Verweichlichung* (selten durch Überzeugung: Strabo 4, 195) auch zu brechen. Vgl. RGA2 7, 343. 67 Strabo 4, 195 Gallier und Germanen sind συγγενείς und einander ähnlich durch φύσις und π ο λ ι τ ε ύ μ α τ α , bewohnen δμορον χώραν, durch den Rhein getrennt und sind sich ähnlich in den meisten Hinsichten. Ein Gradunterschied ergibt sich aus der nördlicheren Lage Germaniens. 7,290 die Germanen östlich des Rheins μικρόν εξαλλάττοντες του Κελτικού φύλου und zwar durch mehr άγριότης, μέγεθος und ξανθότης. Zum poseidonianischen Charakter der Aussagen: Norden, Urgeschichte 81, Jacoby, FGrHist II C, S. 170; anders ζ. В. H. von Petrikovits, Germani cisrhenani (wie Anm. 98), 91. 68 Plut. Mar. 11, 5 in verworrenem Referat 6τι Κίμβρους έπονομάζουσι Γερμανοί τους λ η σ τ ά ς (verworren, weil im Vordersatz die Kimbern mit den Germanen identifiziert werden); Fest, de sign. verb. 37. 29 L. Cimbri lingua Gallica latrones dicuntur.

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sarischen Sueben) waren die rheinnahen Germanen des Poseidonios trotz geographischer Extremlage und entsprechender Lebensweise vom Handel mit Zivilisationsgütern nicht ganz abgeschnitten, aber sie waren unvermischt wie jene 69 . In diesem gedanklichen Zusammenhang wird die erste literarische Erwähnung der Mannusgenealogie ihren Platz und ihren argumentativen Sinn gehabt haben. Man könnte sich denken, daß es Poseidonios darum ging, den rätselhaften Weg der kimbrischen Invasoren zu erklären, die sich gegen die Kelten im Süden und Westen richteten, aber den Nordwesten, die Populationen zwischen Rheinmündungsgebiet und Weser umgingen. Der Autor könnte die Resistenz dieser Stämme, die sie - unbeschadet ethnischer Verwandtschaft - aus ihrer Nachbarschaft heraushob, mit ihrer Autochthonie begründet, d. h. ihre Widerstandsfähigkeit bei sonst ähnlichen Grundgegebenheiten wie bei den Nachbarn aus einem besonders günstigen Verhältnis zwischen Physis und Heimatland abgeleitet haben70. Und er könnte dafür das epichorische Selbstzeugnis des Mannusmythos zum Beleg und zur Illustration herangezogen haben. Andere mythologische Ethnogonien in poseidonianischen Völkerbeschreibungen erweisen das allgemeine Interesse des Autors an genealogischer Ursprungssymbolik in der Ethnographie. So hat er in seine Keltenbeschreibung einen ethnogonischen Mythos aufgenommen, der die physische Kraft und Körpergröße der Gallier und den Kulturanschluß der philhellenischen Barbaren durch ihre Abkunft von Galates, einem Sohn des Herakles und der stattlichen Tochter eines einheimischen Urkönigs, symbolisch erklären sollte (Diod. 5,24,1-3). Die Mannusgenealogie symbolisiert zwar andere Gedanken, aber sie tut es ebenfalls in der Form eines ethnogonischen Mythos. Bei Unklarheiten, die im Einzelnen die Quellenlage mit sich bringt (besonders hinsichtlich der ethnischen Zuordnung), kann also das Interesse des Poseidonios an den anthropologischen und physikalischen Bedingungen historischer Vorgänge und die dadurch gegebene Blickrichltung auf die Phänomene der Mischung und Reinrassigkeit, Autochthonie und Mobilität, Stärke und Degeneration sehr wohl erklären, daß das in der Mannusgenealogie symbolisierte ethnische Selbstverständnis seine Aufmerksamkeit fand.

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Weinimport folgt aus FGrHist 87 F 22 (Athen. 153 e); die Reinrassigkeit und Unableitbarkeitder Nordvölker hat Norden, Urgeschichte 105ff. als Haupturteil des Poseidonios und als Voraussetzung der taciteischen Formel gens tantum sui similis festgestellt 70 Ähnlich erscheinen die Belger von den Galliern dadurch geschieden, daß sie allein den Kimbern standgehalten haben: Caes. B. G. 2. 4. 2; Strabo 4, 196 (die Belgeretamme sind die tapfersten, weil nördlichsten, sie widerstanden deshalb als einzige den Kimbern); andrerseits einte Gallien das angeblich gemeinsame Schicksal der kimbrischen Okkupation (B.G. 1, 33. 4). Da die poseidonianischen Germanen eine nördlichere Lage hatten (Strabo 4, 196), mögen sie ebenso tapfer oder noch tapferer gedacht und durch eine (physisch begründete) historische Haltung trotz ethnischer Verwandtschaft individulisiert worden sein.

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Der ethnogonische Mythos der (poseidonianischen) Germanen läßt sich nur auf den Wegen der antiken Überlieferungsgeschichte verfolgen. Der davor und zugrunde liegende einheimische Traditionskomplex bleibt wie das ,Ding an sich' unerkennbar und wird faßbar nur in den Anschauungsfoimen, die uns die gattungsmäßig geformte Literatur zur Verfügung stellt. Historiographischethnographische Überlieferung und indigene Tradition verbinden sich in einer Mischung, deren Verhältnis sich nicht ermitteln läßt. Gewiß bedeutet literarische Gestaltung aber mehr als schlichte und sachlich unerhebliche Umsetzung in ein anderes, dauerhafteres Medium, und ist Verschriftlichung nicht nur Stabilisierung und inhaltliche Sicherung von Traditionsgehalt. Andere Fälle von Transponierung mündlicher Überlieferung in literarische Form und die Ergebnisse moderner Mündlichkeitsforschung überhaupt legen vielmehr nahe, der Literarisierung auch inhaltliche Bedeutung beizumessen71. Das allgemeine und spekulative Ordnungsdenken, das Poseidonios auch sonst kennzeichnet, sein Interesse an kultisch-religiösem Selbstverständnis menschlicher Verbände sprechen dafür, daß es in diesem Falle nicht anders war. Und fragt man sich, wie weit die epichorische Basis wohl gereicht haben mag und wo vielleicht ahnungsvolle Erfindung oder Gestaltung nach literarischen Vorbildern anfing, dann liegt die Vermutung nahe, daß dem griechischen Historiker und Ethnographen seine Kenntnis der herodoteischen Skythengenealogie als Interpretationsschema für eine einheimische Information diente. Bleibt hierbei notgedrungen vieles hypothetisch, so darf doch schließlich eine Konsequenz mit Bestimmtheit gezogen werden: Wenn für Poseidonios die Germanen ein östlich des Rheines bodenständiges Ethnos waren, nicht die große Gesamtheit aller rechtsrheinischen Stämme, und wenn der Mythos von Tuisto und Mannus ihren Zusammenhang abbildete, dann können auch die drei Mannusstämme nur als Gruppen verhältnismäßig begrenzten Umfanges gedacht gewesen sein, keinesfalls als die Gliederungsformen eines Großethnos zwischen Kelten und Sarmaten, wie sich schon kaiserzeitliche Zeugen und erst recht, ihnen folgend, moderne Interpreten den Zusammenhang vielfach zurechtlegten. Ohne bislang eine Handhabe zu besitzen, wie der Kreis der durch den Anspruch auf Mannus-

71 Aus der intensiven aktuellen Diskussion vgl. z. В.; W.J. Ong, Orality and Literacy, 1982; Α. und J. Assmann - Ch. Hardmeier (Hsgg.), Schrift und Gedächtnis, 1983; B. Gentiii - U. Paioni (Hsgg.), Orality 1985; J. Goody - К. Gough, Entstehung und Folgen der Schriftkultur, 1986 (aus: J. Goody, Literalität in traditionellen Gesellschaften, 1981); J. von Ungern-Sternberg - H. Reinau (Hsgg.), Vergangenheit in mündlicher Überlieferung, 1988.

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sohnschaft zusammengeschlossenen Stammesgemeinschaft bestimmtl werden kann72, ist doch soviel klar, daß die mythologische Konzeption in einen Prozeß fortschreitender ethnischer Bewußtseinsbildung und Selbstidentifikation hineingehört, der mit dem Stadium, das Poseidonios allenfalls erfaßt hat, nicht zu Ende war73. Die weiterführende Frage ist deshalb, ob die Mannustradition zum besseren Verständnis dieses Vorganges beitragen kann oder ihr umgekehrt in der Perspektive der germanischen Ethnogenese neue Einsichten abzugewinnen sind. - Wir gelangen damit zur Geschichte der Mannusgenealogie in ihrer literarisierten Gestalt.

4 Hat Poseidonios die Mannusgenealogie bei seiner Behandlung der rechtsrheinischen Populationen in die Literatur eingeführt als ein mythologisches Selbstzeugnis, das die Autochthonie und Selbständigkeit des von ihm Germanen genannten Ethnos stützte, so muß Caesar auch im Hinblick darauf als Nachfolger, Benutzer und Kritiker des Poseidonios verstanden werden. Der römische Eroberer hat sich von Informationen des Poseidonios an einigen Stellen deutlich distanziert74 und vor allem einen anderen und weiteren Germanenbegriff postuliert, auf den der ethnogonische Mythos nicht ohne weiteres zu übertragen war. Daß Caesar die Mannusgenealogie nicht erwähnt, kann dann nicht auf Unkenntnis, sondern muß auf kritischer Absicht beruhen. In den Exkursen zeichnete Caesar ein von den Grundgedanken des Poseidonios in wesentlichen Punkten abweichendes Bild der Germanen, für das der Heikunftsmythos keine Bedeutung haben konnte. Die Betonung des Zivilisationsgegensatzes, den der gallisch-germanische Exkurs (B.G. 6, 11-24) zum Kompositionsprinzip erhebt (11, 1. 21, 1), dürfte dabei eine wichtige Rolle gespielt haben: Kulte und religiöse Überlieferung spricht Caesar seinen Germanen ab (21, 1 - 2), und wenn es von den religiös überengagierten (16, 1) Galliern heißt se omnes ab Dite patre prognatos praedicant idque ab druidibus proditum dicunt (18, 1), so mußten schon religionssoziologische Gründe dagegen sprechen, analoge Überlieferungen auch den Germanen zuzutrauen: nam neque druides habent... (21, 1). 72 Alle bisherigen Deutungen versuchen, Tacitus durch Plinius zu konkretisieren und verbinden das plinianische Schema wieder mit der späteren Sprach- und Stammesgeschichte. Auf diese Weise kam K. Müllenhoff zur Gleichsetzung der Mannusstämme mit den Westgermanen (D. A. 4, 121f.). Da die Berechtigung, Plinius' Liste (n. h. 4. 99f.) in dieser Weise mit Tacitus zu harmonisiern, hier grundsätzlich bestritten wird (s. dazu im Folgenden), fallen auch die stammesgeographischen Folgerungen. 73 74

Dazu vor allem Wenskus, Stammesbildung 246ff.

B. G. 6,24, 2 beruft sich Caesar für Kenntnis des hercynischen Waldes auf Eratosthenes und ignoriert den jüngeren Poseidonios. Vgl. Norden; Urgeschichte 85ff.; Trüdinger, Studien 126; Jacoby, FGrHist. II С S.158; Malitz, Historien (wie Anm. 54).

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Dazu kam nun der Einblick in die ethnische Realität rechts des Rheines, wie sie sich dem Römer darstellte und wie er sie seinen Lesern darstellte. Caesar, derl neue und andere Aussagen über die rechtsrheinischen Nachbarn der Gallier mitteilt als Poseidonios, wollte damit offenbar auch sagen: Es gibt nach meiner Erkenntnis keine Ingvaeonen, wohl aber habe ich mit Sugambrem und Usipetern Bekanntschaft gemacht, andrerseits von Sueben und Cheruskern erfahren. Sie alle sind Germanen, zusammengehalten nicht durch die Abkunft von einem mythischen Stammvater, sondern durch ihre primitiven mores, die zu den keltischen in so deutlichem Kontrast stehen. Aber zu diesen aggressiven Barbaren, so betont er gleichzeitig, gehören die den Römern so wohlbekannten Kimbern. Dem Ignorieren der Mannustradition bei Caesar stehen nun aber positive Zeugnisse ihres Weiterlebens in Form von Erweiterungen, Variationen und Kombinationen der Mannusgenealogie und der Mannusstämme gegenüber. Es muß von vornherein als unwahrscheinlich gelten, daß sich darin erneut die Produktivität des genuinen Mythos äußert, also ein zweites und weitere Male selbständig Literarisierungen germanischer ethnogonischer Tradition (die Niederschrift von carmina antiqua) stattgefunden haben; außer anderen Gründen spricht dagegen, daß mindestens bei Plinius und Mela von Tuisto und Mannus gar nicht die Rede ist, sondern allein von den Mannusstämmen und ihrer geographischen Gliederung. In der Tat müssen auch die Varianten als Reaktionen auf die Darstellung des Poseidonios im Rahmen einer literarischen Rezeption gedeutet werden, die nicht dem primären Mythos galten, sondern seinen sekundären ethnographischen und geographischen Funktionen. Es ist ungewiß, welche Germanen (und was sie) vor Poseidonios und Caesar über die Mannusstämme dichteten und sangen; nach ihnen verlief die Tradition, soweit erkennbar, bloß noch im literarisch-antiken Zusammenhang. Abwegig ist deshalb zu fragen, ob die Sueben sich .wirklich' zu den Hermionen rechneten oder die Gambrivier an istväonischer Zugehörigkeit zweifelten. Die Verzweigungen der Mannustradition lassen sich als poseidonianische Derivate des (nur) einmal literarisch fixierten Mythos verstehen, als Etappen einer Motiv- und Wirkungsgeschichte, der die erweiterte Erfahrung und die veränderten Gesichtspunkte späterer Zeit die Richtung wiesen. Allerdings ist dieser Prozeß nur schwer in seiner Abfolge zu erfassen, weil er sich zum größten Teil in nicht erhaltener Literatur niedergeschlagen haben muß. Da es hier nicht darum gehen kann, weitläufige dunkle Keller zu untersuchen, sondern die wenigen versteckten Türen zu finden, die daraus nach oben führen, werden wir uns zunächst auf Sondierungen an relativ günstig gelagerten Fällen konzentrieren. Nach Plinius (n. h. 4, 99) gibt es fünf Germanorum genera: das erste genus bilden die Vandili, die drei Mannusstämme das zweite, dritte und vierte; Peucini, Basternae stellen den fünften Teil. Die drei bekannten Mannusgruppen werden also durch zwei andere Verbände ergänzt und umrahmt, reale Stämme und Stam-

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mesgruppen, die beweisen, daß auch die drei mittleren hier als solche gedacht sind. Auch die erweiterte Mannusgenealogie bei Tacitus (Germ. 2, 2) belegt dieses Verfahren; sie konstruiert zwar die Reihe ganz anders und begrünldet ihren Zusammenhang anders, nennt aber ebenfalls echte und bekannte Stammesnamen. Nur ein Name begegnet in beiden Listen zugleich, der der Vandili(i). Sie müssen also der alten Ethnographie und mytho-ethnographischen Kombination, wenn sie gleichrangig neben die Mannusstämme gestellt werden, als eine wichtige und repräsentative Stammesgruppe gegolten haben. - Eine weitere Besonderheit der plinianischen Liste ist die Unterordnung von Stämmen unter die fünf genera, die damit zu hierarchischen Klassen werden; so umfassen etwa die Ingvaeonen die Kimbern, Teutonen und Chauken. Im selben Sinne werden nun den Vandili als Unterstämme Burgodiones, Varinnae, Charini, Gutones zugeschrieben, alle offenbar Ostseeanwohner75. Eine Ordnung, die alle diese Küstenstämme als Gruppe zusammenfaßte und gemeinsam als Wandalen bezeichnete, ist sonst auch nicht andeutungsweise bekannt; die Behauptung, daß die Gruppe der Vandili die Ostgermanen umfasse (z.B. L. Schmidt, H. Ditten u.a.), unterstellt Plinius eine Systematik, die er nicht hatte. Selbst wenn sie faktisch zuträfe, bliebe der Gesamtname der Gruppe unerklärt. Über die frühe Geschichte und Lage der Wandalen sind nur hypothetische Aussagen möglich76, das plinianische Zeugnis ist das älteste überhaupt. In der Kaiserzeit finden sich die Wandalen als Lugier in Schlesien; auf spät belegter Stammessage beruht die Annahme, die Urheimat der namengebenden Gemeinschaft habe in Skandinavien gelegen und diese sei von dort zu Beginn des 1. Jh. v. Chr. an die südliche Ostseeküste gekommen77. Die Ortsnamenforschung hat Hinweise auf wandalische Präsenz in Nordjütland78. Vor allem setzt die ostgermanische Hinterlassenschaft der schlesischen Wandalen in der Spätlatönezeit ein und läßt in Keramik, Hausbau und Grabsitte Beziehungen zu jütländischen Befunden erken75 Burgodiones: erste Erwähnung, in der Germania nicht genannt; Ptol. 2,11, 8. 9. 10. 3, 5, 20; vgl. G. Neumann - Η. H. Anton, RGA2 4, 1981, 230ff. s. v. Burgunden. - Varinnae: vgl. Ptol. 3, 5, 8; s. L. Schmidt, Ostgermanen2, 1934, 127f. - Charini: G. Neumann, RGA2 4, 1981, 371f. Gutones: Tac. Germ. 44, 1; Ptol. 3, 5, 8; vgl. R. Hachmann, Die Goten und Skandinavien, 1970, 135ff. Nichts davon hätte Xenophon von Lampsakos berichtet, wenn er Plinius n. h. 4, 94ff. zugrunde liegen sollte. 76 M. Jahn, in: H. Reineith (Hsg.) Vorgeschichte der deutschen Stämme 3, 1940, 943ff.; L. Schmidt, Geschichte der Wandalen, 31944, lf.; F. Miltner, RE 8A, 1955, 298ff. s.v. Vandalen; Wenskus, Stammesbildung 73; Hachmann, Goten, 131ff.; A. Lippold, Kl. Pauly 5, 1975, 1123 s.v. Vandalen; J. Br0nsted, Nordische Vorzeit 3,1963,114ff. 77 Jordanes, Getica 26f.; Paul. Diac., Hist. Lang. 1. 7ff.; s. Schmidt, Geschichte der Wandalen 2; Lippold (wie vor. Anm.). 71

150f.

S. E. Schwarz, Germanische Stammeskunde, 1956, 66; Hachmann, Goten (wie Anm. 75),

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nen79. Dieser, auf der relativen Chronologie der prähistorischen Kulturen beruhende Zusammenhang hat, verknüpft mit der Kimbernwanderung, den namenskundlichen und stammesgeschichtlichen Indizien das scheinbar geschlossene Bild einer an der Wende vom 2. zum 1. Jh. v. Chr. erfolgten wandalischen Auswanderung von der südlichen Ostsee oderaufwärts entstehen lassen. Kritik daran ist unter stammesgeschichtlichen und traditionsgeschichtlichen Gesichtspunkten geübt worden80, am radikalsten aber die Tragweite der archäologischen Interpretationsmöglichkeiten in Frage gestellt worden81; es fehlt jedoch an einer, die Aussagekraft der einzelnen Quellengattungen kritisch gegeneinander abwägenden Gesamtbeurteilung. Sie dürfte vermutlich Zeit, Weg, Geschlossenheit und Umfang einer wandalischen Wanderung vielfachen Zweifeln aussetzen, aber die Hinweise auf wandalische Präsenz in Jütland in vorchristlicher Zeit schwerlich entkräften. Keinerlei Anhaltspunkt gibt es für eine übergeordnete wandalische Stammesgruppe im Ostseeraum. Angesichts dieser Lage kann die Lokalisierung der plinianischen Vandili an der Ostsee nicht stichhaltig bestritten werden. Nimmt man aber an, daß ein Verband wandalischer Traditions- und Namensträger einmal in Jütland gesessen hat, dann läßt sich die Unterordnung der vier Stämme unter den Wandalennamen durch den Verlauf der Entdeckungsgeschichte erklären. Bei der Ausweitung des römischen Horizonts auf das Ostseeküstengebiet können diese Wandalen als erstes Ethnos bekannt und deshalb für die ganze Gruppe namengebend geworden sein. Die frühe Abwanderung der Wandalen läßt diesen Vorgang vermutungsweise ins beginnende 1. Jh. v. Chr. setzen, und dieser Ansatz wird durch andere Indizien unterstützt: Plinius* Liste berücksichtigt die z.T. phantastischen Namen der Skiren und Hirren, der Phanesier und Hippopoden nicht, deren an anderer Stelle (4, 95. 97) bezeugte Kenntnis der Autor am ehesten Xenophon von Lampsakos verdankte; sie ist andrerseits von der Skepsis Strabos (7 ,29. 294) unberührt, die Ozeanküste östlich der Elbe sei gänzlich unbekannt. Tacitus wiederum verfolgt die Ostseeküste überhaupt nicht mit den Augen des Küstenbefahrers, sondern erwähnt sie nur einmal (Germ 40) bei den Nerthusstämmen, dann (44), als er, von Süden kommend, die Goten erreicht. Plinius* Vandiligruppe mag den geographischen Kenntnisstand und den Blickwinkel römischer Entdecker des Ostseeraumes im frühen 1. Jh. v.

79 M. Jahn, in: Reinerth, Vorgeschichte 3,949ff. (nach älterer, von Kossinnas Methode geprägter Auffassung, begründet von M. Jahn, Die Wanderung der Kimbern, Teutonen und Wandalen, Mannus 24, 1932, 150ff.; B. v. Richthofen, Zur Herkunft der Wandalen, Altschlesien 3, 1930, 21ff.; M. Jahn, Die Heimat der Wandalen und Norwegen, Acta Archaeol. 8, 1937, 149ff.: L. Schmidt, Geschichte der Wandalen Iff.). Die wanderungsgeschichtliche Konstruktion nimmt aber Hypothesen für Tatsachen und überschätz die Beweiskraft von Einzelbeobachtungen. 80

Wenskus, Stammesbildung 462ff.; Hachmann, Goten, passim; Lippold (wie Anm. 76).

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Br0nsted, Nordische Vorzeit 3,115.

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Chr. repräsentieren. Diese Kenntnis ist anscheinend benutzt worden, um das poseidoniani sehe Schema, das man als literarische Information über die Stammesgliederung der Germanen nahm, aber als nicht mehr ausreichend erachtete, zu ergänzen. Eine ähnliche Operation ist darin zu vermuten, daß bei Plinius den VandiliI (Ostseegruppe) als weitere Randgruppe die Peucini und Bastarnae nebengeordnet werden. Diese Konstruktion ist ganz eigenständig und offenbar früh, da Tacitus Germ. 46 diese Stämme miteinander identifiziert, sie nicht als Germanen anerkennt, aber diese Auffassung offenbar doch als möglich voraussetzt, und sie ebenfalls contermini Dacis nennt82. Sie treten in den spätrepublikanischen und frühaugusteischen Donaukriegen als Gegner hervor, werden von Augustus unter den friedenswilligen Ausländern genannt und haben vielleicht im Zusammenhang mit den Dakerkonflikten eine Rolle gespielt83. Hier, Plin. n.h. 4, 100, wird ihre Germanität bejaht, aber nicht begründet, auch kein Zusammenhang mit den Sueben an der Donau angedeutet. Die fünf Germanorum genera scheinen also dadurch zustande gekommen zu sein, daß das ältere poseidonianische Schema als ergänzungsbedürftige, aber auch ergänzungsfähige Grundlage vorausgesetzt wurde. Die naheliegende Frage, warum gerade die fernen Ostseegermanen und die noch ferneren Balkangermanen als neue Zweige der Dreigliederung hinzugefügt wurden, läßt sich eindeutig und aufschlußreich beantworten. Wichtigere und näherliegende ethnographische Ordnungsfragen wurden auf andere Weise, nämlich durch Subordination statt durch Koordination gelöst. So lesen wir bei Plinius, daß zu den Ingvaeonen angeblich Kimbern, Teutonen und Chauken, zu den Herminonen angeblich Sueben, Hermunduren, Chatten und Cherusker gehörten, d.h. wichtige binnenländische Stämme. Die erste Gruppierung bedeutet also, daß die sicherlich nicht zu den poseidonianischen Germanen gerechneten Kimbern hier den Ingvaeonen zugerechnet werden, die zweite, daß die Markomannen und Quaden fehlen und die Hermunduren den Sueben nicht subsumiert, sondern nebengeordnet werden. Ahnlich problematische Zuordnungen sind vielleicht bei den Istvaeonen anzunehmen, deren Unterglieder im Pliniustext ausgefallen sind. Die heillosen Aporien, in denen jeder Versuch enden muß, in diesem Durcheinander organische Gliederung, volkstumsgeschichtliche Logik und historische Evolution zu entdecken, weisen gerade umgekehrt den Weg zur richtigen Erklä82 Auch Plin. n. h. 4, 81 Basternae ... aliique ... Germani; Strabo 7. 294. 306 unschlüssig; frühere Autoren halten sie für Skythen oder Kelten. Res. g. D. A. 31, 2 erscheinen Bas tarner neben Skythen, Sarmaten und Kaukasieren. Dakernachbarn nennt die В astamer auch Ptol.3,5,7. ю Niederlage des C. Antonius 61 v. Chr.: Dio 38, 10; Liv. per. 134. Siege des M. Licinius Crassus 29 v. Chr.: Dio 51, 23ff. - Dessau, ILS 8965 (vermutlich auf M. Vinicius cos. 19 v. Chr. zu beziehen).

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rung der Sache. In den Stammesgliederungen sind wechselnde Versuche geographisch-ethnographisch interessierter Autoren zu sehen, auf der Basis des alten mythologischen Schemas, das als Ordnungsraster beibehalten, aber auch ohne Pietät vor archaisch-barbarischem Tiefsinn als bloße symbolische Umkleidung einer ethnographischen und geographischen Realeinteilung genommen wurde, die Erfahrungen mit der mitteleuropäischen Stammeswelt zu verarbeiten und neue Kenntnisse systematisch zu ordnen. Da es hier weder Authentizität nochl Verbindlichkeit gab, hatte jeder die Freiheit, die alte Gliederung durch die Einfügung neu bekannt gewordener ethnischer und geographischer Erfahrungstatsachen (Namen) oder neu konzipierter systematischer Zusammenhänge (Koordination und Subordination von Verbänden) nach eigener Einsicht und eigenem Ermessen zu erweitern. Die Prinzipien der Zuordnung waren durch die Dreigliederung nicht zwingend vorgegeben und konnten in räumlicher Nachbarschaft, politischen Frontstellungen oder Vergleichbarkeit von mores und habitus gesucht und gefunden werden. Eine vortreffliche Anschauung für das hierbei vorauszusetzende Verfahren vermittelt Strabos Beschreibung der germanischen Stämme (7, 290ff.). Hier wird in lockerer Anlehnung an eine geographische Einteilung die Stammeswelt einmal in streifenartiger Abfolge (entlang dem Rhein), dann nach politischen Gesichtspunkten (Stammesklientel Marbods), dann wieder nach Größe und Bedeutung (zweigliedrige Liste der .schwächeren' Stämme, 291) aufgeschlüsselt. Bei Annahme des Mannusschemas hätte Strabo auch die drei Stämme seiner Ordnung zugrunde legen können, auch sie hätten ihm eine Gliederung erlaubt, und die wäre anders ausgefallen als die plinianische. Daraus ergibt sich, daß das genealogische Mannusschema weiterentwickelt wurde und auch, unter dem Einfluß welcher Erfahrungen das geschah. Diese Entwicklung spielte sich nicht im verschlüsselten Binnenraum germanischmythologischen Denkens und Dichtens ab, sondern ihre Stufen sind mit der römischen Okkupations- und Entdeckungsgeschichte verbunden. Die vermutlich mit Poseidonios beginnende literarische Geschichte des Mannusschemas hatte (unbeschadet seiner ungewissen traditionsgeschichtlichen Vorgeschichte) mehr mit den intellektuellen Bahnen der antiken Ethnographie zu tun als mit den Emanationen des Volksgeistes; es war eben deshalb ein gedanklicher Komplex, der ständiger Veränderung und Beeinflussung unterworfen war und nie die zeitlos mythographische Perfektion besaß, an die das Dreierschema denken läßt. Fügt sich aber die so anders gedachte erweiterte Mannusgenealogie bei Tacitus dieser Anschauung? Hier erscheinen die Marsi und Gambrivii neben den Suebi und Vandilii als vera et antiqua nomina, aber auch ihre Eponymen als deo orti. Ebenso einleuchtend wie die Beiordnung der Vandilier (als neu bekannt gewordene Ostseeküstengruppe) zur alten Trias mag es sein, daß die Sueben (die großen Hauptfeinde der caesarischen und nachcaesarischen Zeit) den gleichen selbständi-

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gen Rang erhielten; es hat unter den beschriebenen Voraussetzungen nicht weniger Sinn und Konsequenz, als wenn bei Plinius die Sueben den Herminonen, der großen und sicher nur vage bestimmten Binnenlandsgruppe, zugeteilt werden. Wie aber die Marser und Gambrivier in diese Reihe geraten konnten, ist ein nie gelöstes Rätsel; augenscheinlich geht ja die logische Ordnung durcheinander, wenn die Istvaeonen als proximi Rheno gelten sollen, aber die rheinnahen Stämme der Marser und Gambrivier den gleichen systematischen Rang erhalten, Stämme die außerdem weder durch Größe noch durch historische Bedeutung für die Rolle übergeordneter Stammesgruppen prädestiniert scheinen.l Der Name der Gambrivier kommt sonst nur noch bei Strabo vor, und zwar in einer Gruppe geringerer' Stämme, zusammen mit Cheruskern, Chatten und Chattuariern; diese Erwähnung scheint kaum geeignet, den Stammesnamen und sein Vorkommen in ethnogonischer Tradition verständlicher zu machen. Die Gambrivier werden meistens aus sprachlichen Gründen mit den Sugambrern zusammengestellt84. Aber bei Strabo erscheinen beide Namen nebeneinander; mag seine Auflistung auch eine mangelhafte geographische Anschauung verraten, so spricht das doch dagegen, die Sugambrer mit den Gambriviem zu identifizieren. Die zweiteilige Stammesliste Strabos, die den Gambriviernamen enthält, läßt sich mit keiner anderen Nachricht zur germanischen Ethnographie verbinden; hier begegnen Namen, die sonst nicht bekannt sind, alle aber in singulären Zusammenstellungen und Wertungen. Die Cherusker und Chatten zu den schwächeren Stämmen zu rechnen, wird vielleicht am ehesten vor dem Hintergrund der caesarischen und nachcaesarischen Suebenerfahrung und Suebeneinschätzung verständlich; Sugambrer, Chauken oder Brukterer mit Kimbern und .vielen anderen' in einer zweiten Gruppe der ozeannahen Stämme (προς τω ώκεανω) zu sammeln, entspricht einer sehr rohen geographischen Anschauung, die den germanischen Binnenraum in Streifen oder Zonen gliedert, um ihn übersichtlicher zu machen, und dabei ohne genauere Kenntnis der rechtsrheinischen Verhältnisse auskommen muß. Die beiden Stammesreihen folgen auf die Schilderung der Sueben, und deren Lokalisierung in und um den hercynischen Wald sowie die ihnen zugeschriebenen nomadischen Züge legen ebenfalls die frühe, nachcaesarische Herkunft der Beschreibung nahe. Die Kenntnis von Einzelstämmen reicht weit in den rechtselbischen suebischen Osten, erweist sich aber durch die Verbindung mit der Markomannenabwanderung und der Machtbildung Marbods als frühaugusteischer Herkunft, wobei offen bleiben kann, ob hier etwa jüngere zeitgeschichtliche Informationen aktualisierend in noch ältere Nachrichten eingearbeitet wurden.

84

Strabo 7, 291 ά λ λ α δ' ένδεέστερά έστιν έθνη Γερμανικά Χηροΰσκοί τε και Χάττοι καΐ Γαμαβρ'ιουιοι καΐ Χαττουάριοι ... Abkürzungen des Namens aus dem der Sugambrer seit Zeuss, Deutsche und Nachbarstämme 83 oft angenommen.

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All dies empfiehlt die Annahme, daß die Kenntnis der Gambrivier in die Zeit zwischen Caesar und den Beginn der Okkupationsfeldzüge gehört: Caesar kannte oder nannte sie (noch) nicht, bereits in den drusianisch-tiberianischen Feldzugsnachrichten kommen sie nicht (mehr) vor. Ebenso sind die Marser ein nur in der Frühzeit wichtiger Stamm; er spielt zwar noch in den Okkupationsfeldzügen eine Rolle, ist aber durch sie und seit ihnen verschwunden85. Eine Herlvorhebung der Marser und Gambrivier hat also nur in der Zeit zwischen Caesar und Drusus Sinn und Platz. Plinius nennt n.h. 4, 98 zu Beginn seiner germanischen Ethnographie Agrippa als Quellenautor. Die Vermutung, daß auf sein Material die Nennung und Bewertung dieser beiden Stämme zurückgehe, paßt zu allen Beobachtungen am besten. Man kann sich auch vorstellen, daß sie (ähnlich wie die Vandilier) bei zunehmender römischer Kenntnis der rechtsrheinischen Populationen als Repräsentanten größerer Gruppen erschienen; die mit solchen Benennungsvorgängen verbundenen Zufälligkeiten mögen auch hier nicht gering gewesen sein. Aus dieser Einschätzung kann vielleicht noch eine weitere Erkenntnis abgeleitet werden; sie soll ihres unvermeidlich hypothetischen Charakters wegen mit allem Vorbehalt geäußert, aber ihrer weitreichenden Konsequenzen wegen doch immerhin angedeutet werden. - Es hat sich immer wieder ergeben, daß die Stammesgliederung der Mannusgenealogie vor allem ihrer sekundären, geographischen Gliederungsfunktion wegen bei römischen Lesern und besonders bei Benutzern geographisch-ethnographischer Informationen Beachtung fand (als .verräumlichtes Mannusschema'). Wenn die als Marser, Gambrivier, Sueben und Vandilier bezeichneten Gruppierungen solche waren, die sich selbst dem Kreis der originären Mannusstämme zuordneten oder von anderen zugeordnet wurden, dann ist anzunehmen, daß auch diese Ergänzung vor allem dem geographischen Aspekt der Stammesgliederung galt, daß also die vier zusätzlichen Verbände einen echten Umkreis um die älteren und eigentlichen Mannusstämme bildeten.Wenn Marser, Gambrivier, Sueben, Vandilier auf die Zugehörigkeit zu den Mannusgermanen als Nächste Anspruch erheben durften, werden sie das haben tun können, weil sie die räumlich nächsten Nachbarn der alten Mannusstämme waren. Die Lage der vier Zusatzstämme wird deshalb ungefähr die Peripherie der ursprünglichen Gemeinschaft der Mannusstämme bezeichnen und die periphere Zone sollte einen Rückschluß auf den vorgestellten Umfang der ursprünglichen Stammesgemeinschaft zulassen. Da nun die Marser und Gambrivier wohl am Rande des Mittelgebirges zu suchen sind, die Vandilier zur jütischen Halbinsel weisen, und die Sueben, so-

85 Strabo 7, 290 werden die Marser unter den lheinnahen Stämmen genannt, als (einziges) Beispiel derer, die vor der römischen Eroberung ins Landesinnere aus wichen. Sie gehören zu den Verbündeten des Arminius und besitzen einen Adler aus der Schlachtbeute vom Teutoburger Wald: Tac. ann. 2, 25, 1. Als Gegner des Germanicus, Bewohner des caesischen Waldes und Zentrum des Tanfanakultes erscheinen sie Tac. ann. 1,50,4. 56,5. Vgl. Schönfeld, Wörterbuch s.v. Marsi.

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fem man nicht vor ihrer Ubiquität resignieren will, als caesarische Gegner und Nachbarn der Cherusker ernst genommen werden können (Caes. B. G. 6, 10, 5), ergibt sich in der Tat eine vage Süd- und Ostbegrenzung des nordwestlichen Flachlandes und für die Ingvaeonen, Istvaeonen und Herminonen damit ein Raum zwischen Rheinmündungsgebiet, Mittelgebirgsschwelle und etwa der WeserLeine-Linie am Osten. Es ist müßig, aus den Mannusnamen - von den küstenbewohnenden Ingvaeonen abgesehen - eine Binnengliederung des gemeinten Raumes erschließen zu wollen81, aber vielleicht ist eine Einschätzung des ganzen von seinen zeitweiligen Grenzen her möglich.Wir hätten also damit eine Möglichkeit gewonnen, das Gebiet zu umschreiben, in dem Poseidonios seine in Mannusstämme gegliederten Germanen etwa beheimatet dachte. Diese Erwägung gewinnt an Interesse auch dadurch, daß sie sich mit archäologischen und linguistischen Versuchen berührt, dem alten Nordwesten ein eigenes ethnisches Profil zuzuschreiben. Diese Versuche sind aus ihren eigenen (archäologischen und sprachlichen) Voraussetzungen zur Eindeutigkeit nicht gelangt, durch Überlagerungs- und Substrattheorien belastet87 und auch durch Verknüpfung mit dem seinerseits problematischen historisch-literarischen Hintergrund nicht auf festeren Boden gekommen. An diesem Mißstand sind die Schwierigkeiten des antiken Germanenbegriffs wesentlich beteiligt, anders gesagt, die Wahrscheinlichkeit, daß die reale Ethnogenese der Germanen mit der ethnographischen Begriffsbildung und der römischen Expansion und Okkupation im 1. Jh. v. Chr. irgendwie zusammenfällt und diese Vorgänge sich gegenseitig beeinflußten . Ob nun ethnisches Germanentum und Germanenname getrennt werden oder nicht, ob die germanische Ethnogenese als Expansion von einem elbgermanischen Kernraum oder polyzentrisch gedacht wird, ob suebischer oder römischer Dynamik der entscheidende Anteil beigemessen wird, es ist unverkennbar, daß ethni86 Mit Recht weist Norden, Urgeschichte 433 darauf hin, daß die Dreigliederang παραθαλάσσιοι - μεσόγειοι - λοιποί wohl in Anlehnung an Herodots Skythenlogos formuliert ist. Diese wieder geht auf die bekannte Gliederung Attikas zurück. Daraus folgt, daß nur die Lage der Ingvaeonen konkret ist, den Herminonen das Hinterland zugewiesen wird, während die Lage der .übrigen' ganz unverbindlich bleibt 87 Vgl. die divergierenden Hypothesen bei Hachmann-Kossack-Kuhn, Völker; G. Neumann, Substrate im Germanischen?, Nachr. Ak. Gött Phil.-hist. Kl. 1971,4. 88 Vgl. G. Walser, Caesar und die Germanen, 1956; Wenskus, Stammesbildung 246ff.; R. Hachmann, Der Begriff des Germanischen, Jb. f. intern. Germanistik 7, 1975, 113ff.; G. Dobesch, Zur Ausbreitung des Gennanennamens, Pro Arte Antiqua (Festschrift H. Kenner) 1983, 77ff.; H. Ament, Der Rhein und die Ethogenese der Germanen, Prähist. Zeitschr. 59, 1984,37ff.; R. Wenskus, Über die Möglichkeit eines allgemeinen, interdisziplinären Germanenbegriffs, in: H. Beck (Hsg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht, 1986, Iff.

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sehe, sprachliche, soziale und zivilisatorische Differenzen (deren Ausmaß nicht sicher zu objektivieren ist) den Nordwesten von der zivilisationskeltischen Mittelgebirgszone einerseits und dem suebisch-elbgermanischen, eventuell kimbrischen Osten andrerseits zu scheiden erlauben. Doch blieben sie nicht konstant. Der äußeren Konstruktion eines rechtsrheinischen Großethnos Germani steht ein innerer Prozeß der veränderten Selbstzuordnung gegenüber. Beides präziser zu bestimmen - und damit auch das Ausmaß an subjektiver Setzung im caesarischen Germanenbegriff - hinderte stets der Umstand, daß Caesar zugleich der erste Zeuge der fraglichen Vorgänge ist. Vielleicht ist aber mit der Identifizierung eines .Nordwestblockes' mit den poseidonianischen Mannusgermanen eine Etappe hinter Caesar zurückzugelangen.l Aus der Hypothese, daß die Mannusstämme die poseidonianischen Germanen waren, lassen sich weitere Folgerungen ableiten: Der stoische Historiker dachte anscheinend diese Germanen im nordwestdeutsch-niederländischen Flachland zwischen den eigentlichen, linksrheinischen Kelten und den skythisierendräuberisch gedachten Kimbern (und vielleicht den am hercynischen Wald domizilierten Sueben) beheimatet; aber diese Population scheint auch den realen Kern der wirklichen germanischen Ethnogenese gebildet und in deren Verlauf ihre Identität expandierend auf ihre Nachbarn ausgedehnt zu haben. Mit dieser Annahme wird eine Bedenklichkeit gemildert, die der vorgetragenen Argumentation anhaften mag: Das Bedenken nämlich gegen die Anschauung, daß die vermuteten Benennungen und Zuordnungen (die vor allem in der taciteischen Variation der Mannusgenealogie zutage treten) sich allein in der intellektuellen Sphäre römischer Beobachter abgespielt haben. Es erledigt sich dadurch, daß diese Beobachter und ihre Benennungen auf einen echten Wechsel der ethnischen Zuordnung im rechtsrheinischen Bereich reagierten. Die Nachbarn der Flachlandstämme begannen, sich wirklich den .Germanen* zuzuzählen, und Caesar zog die radikale Konsequenz aus diesem, für den Außenstehenden begreiflicherweise mit Unsicherheit behaftetem Vorgang, indem er alle Rechtsrheinischen .Germanen' nannte und damit wahrscheinlich eine Entwicklung antizipierte, die immerhin der Tendenz nach tatsächlich begonnen hatte. In der umrätselten .germanischen' Überlagerung im linksrheinisch-keltischen Bereich, vor allem aber der Expansion der suebischen Identität haben wir für den hier vermuteten Vorgang Parallelen, von denen die zweite, weil im helleren Lichte der römischen Beobachtung verlaufen, viel besser bezeugt ist. Auch hier hat aber erst die ethnographische Namengebung der Römer, also die Zuschreibung von außen, auf einen objektiven Nenner gebracht, was sich an ethnogenetischen Prozessen in der Stammesgesellschaft abspielte. Die Variierung und Weiterentwicklung des Mannusschemas ging also in diesem Sinne von römischen Beobachtern und literarisch Gebildeten aus, gewiß nicht von .römischen Gelehrten' oder .Antiquaren' (denen so oft die Aussagen, die

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Tacitus in Germ. 2, 2 referiert, zugedacht wurden), sondern von Autoren, die in der Mannusgenealogie eine Auskunft über die ethnographische Wirklichkeit ihrer Zeit und eine Orientierungshilfe sahen. Weil sie die Angaben der Überlieferung so verstanden, korrigierten und ergänzten sie sie auch, wo sie ihren Erwartungen nicht entsprachen. Sie konnten das um so eher, als sie ihre Kenntnis der Mannusgenealogie der Literatur verdankten, nicht sakral oder formal geschützten indigenen Überlieferungen (carmina), und deshalb auch das mythisch-genealogische Modell wie ein entbehrliches Gewand leicht abstreifen konnten, um sich auf den vermeinten Realitätskern der Stammesgliederung zu beschränken. In den hierbei vorauszusetzenden gedanklichen Operationen spielten aber die Wertschätzung einheimischer Selbstzeugnisse und auch das Argument des nomen verum oder inventum eine Rolle, und so mag die mythische Denkfigurl und die Hochwertung der nomina vera dem Respekt vor den Mannusstämmen auch wieder zugute gekommen sein, obwohl sie geographisch wenig dingfest zu machen waren und die ethnographische Erkundung rechts des Rheines und längs der Ozeanküste sie nicht bestätigte. Die taciteische Formulierung quidam ut in licentia vetustatis pluris deo ortos plurisque gentis appellationes ... affirmant wird allerdings auf diese Weise noch nicht erklärt. Ihren Sinn dürfte erschließen, daß den Göttersöhnen die Stammesbenennungen koordiniert sind, aber kein Suebus, Gambrivius usw. als echte Eponyme ihrer Stämme vorausgesetzt werden können. Sie sind vielmehr künstlich konstruiert und das Ganze enthüllt sich damit als mythologische fa9on de parier. Tacitus geht vom Anspruch einzelner Stämme aus, zu den Mannusgermanen hinzuzugehören, und von ethnographischem Orientierungsbedürfnis römischer Leser, aber nicht vom genuinen germanischen Mythos, er redet vom Kreis der Nachbarn, die germanische Identität beanspruchen, und hat vielleicht nicht durchschaut, wie die Einheit der gens (nämlich: Germanorum), die dynamische Ausbreitung der germanischen Identität und die Neuheit des generellen Germanennamens zusammenhingen89. Wir gelangen damit zurück zur Ausgangsfrage nach dem Sinn der Mannusgenealogie in der germanischen origo des Tacitus. Doch soll zuvor der Gang der Motivgeschichte noch zu Ende abgeschritten werden.

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Er setzt die Einheit und Identität der gens Germanorum voraus, aber im Gegensatz gentis appellationes - Germaniae vocabulum scheint eine Auffassung durch, die den appellationes (επικλήσεις) Priorität zuerkannte (Her. 4, 6, 2 σύμπασι δέ είναι ούνομα Σκολότους; Plut. Маг. 11, 7 πολλάς κατά μέρος έπικλήσεις έχόντων, κοινή Κελτοσκύθας τόν στρατό ν ώνόμαζον).

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5 Die poseidonianischen Germanen, mythologisch als Abkömmlinge des Mannus erklärt und in die berühmten drei Stämme gegliedert, vermuten wir als Ausgangspunkt einer zunächst im Dunkel der litterature inconnue verlaufenden Entwicklung. Sie wurde in Gang gebracht, als man im Zuge der römischen Expansion die Schilderung des Poseidonios als Information über rechtsrheinische Stammesverhältnisse las. Poseidonios wurde aber mit zunehmender Kenntnis auch ignoriert oder korrigiert, sein Schema ergänzt und aufgefüllt, und zwar in unterschiedlicher Weise. Das Bedürfnis dazu dürfte aus der Unklarheit darüber entstanden sein, wie die neu auftauchenden rechtsrheinischen Stämme nach Zusammenhang und Differenz verstehend zu ordnen seien, die Möglichkeit dazu aber daher gekommen sein, daß die Eingeborenen selbst darüber unterschiedliche Anschauungen äußerten, Selbstdeutung in Verbindung mit ethnographischer Logik und Systematik von außen also zu differierenden Lösungen führte. In der Entwicklung der nachcaesarischen Wissens wird Agrippa wichtigl gewesen sein, indem er eine Sammlung und Sichtung des aktuellen Standes vornahm. Alle Kombinationen (für die wir Beispiele kennengelernt haben) wurden aber hinfällig durch den enormen Kenntniszuwachs im Verlauf der Okkupationsfeldzüge. Gewiß können alte Begriffe auch dann weiterleben und weiterverwendet werden, wenn veränderte Erfahrung ihnen nicht mehr entspricht; die Sammelnamen der Indianer, Wenden oder Slaven sind dafür Beispiele, und reiches Material liefert die ethnographische Terminologie der Kolonialmächte. Aber für das Germanien der augusteischen Zeit hat die praktische Erfahrung aller weiteren Verwendung des Mannusschemas samt seinen Derivaten und Varianten ein Ende gemacht, nicht zuletzt wohl gerade deshalb, weil es bis dahin zu wenig fixiert war, um als bloße Konvention weiterleben zu können. Es war ja, wie wir sahen, gerade variabel, und es konnte damit experimentiert werden. Die radikalste Variante war, es aufzugeben, und ihr gehörte die Zukunft. Denn nun stellte man eindeutig und endgültig fest, daß nirgendwo Herminonen oder Ingvaeonen hausten. Deshalb wurde das Mannusschema nicht mehr weiterentwickelt, korrigiert und dem neuen Erkenntnisstand angepaßt, obwohl das nicht grundsätzlich ausgeschlossen gewesen wäre. Die modernen, realistischen römischen Berichterstatter und Autoren haben die Mannusstämme-Terminologie und ihr Ordnungsangebot vielmehr verworfen, weil sie es insgesamt als Phantasieprodukt erkannten, ähnlich wie man die ,Rhipäen' zuerst den Alpen gleichsetzte und dann aus der Geographie verbannte. Strabo, der aktuelle und aus römisch-militärischer Quelle stammende Informationen verarbeitete und Dutzende von Stammesnamen erwähnt, ignoriert die Mannusgruppen, obwohl er Poseidonios verwendete: sicherlich Ergebnis einer kritischen Scheidung. Neben der praktischen Erfahrung hat wahrscheinlich der caesa-

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rische Germanenbegriff am meisten zum Verschwinden der Mannusstämme beigetragen; nur durch sehr willkürliche Ausdehnung des Geltungsbereichs der drei Namen und wenig zwingende Subordination der neu auftauchenden Stammesnamen unter diese konnte die alte Trias erhalten werden, aber dafür sprach im Zeichen des neuen, allgemeinen Germanennamens gar nichts. Als die Germanen im Jahr 8 v. Chr. als definitiv unterworfen ausgegeben wurden, lautete die Parole inter Albim et Rhenum Germani omnes Ti. Neroni dediti (Cassiod. Chron. ad a. 746), und Germanicus triumphierte im Jahr 16 n. Chr. de Cheruscis Chattisque et Angrivariis quaeque aliae nationes usque ad Albim colunt (Tac. ann. 2, 41, 2). Sehr oft ist in der frühaugusteischen Zeit von Sugambrern und Sueben als Hauptfeinden die Rede. Nirgendwo verrät in all diesen Zusammenhängen der geringste Hinweis, daß Ingvaeonen, Istvaeonen und Herminonen noch eine Realität zuerkannt worden wäre. Deshalb sind die Namen jedoch nicht völlig verschwunden. Sie lebten in der älteren Literatur weiter, und wer kritisch nicht auf der Höhe war, wer von einem älteren Kenntnisstand abhängig blieb und überholte Informationen verwendete, der redete weiter von Mannusstämmen oder irgendwelchen Schemata, in denenl sie eine Rolle spielten. Dies eben ist der Fall bei Mela und Plinius. Obwohl Plinius eingehende Landeskenntnis besaß, hielt er etwa am Kenntnis- und Informationsstand Agrippas fest, vermutlich als Folge seiner wenig überlegten, unkritisch kompilierenden Arbeitsweise. So kann es kein Zufall sein, daß gerade bei diesen beiden Autoren Nachrichten zur germanischen Ethnographie und Geographie begegnen, die für uns zwar singulär und bemerkenswert (gelegentlich auch durch ihre Märchenhaftigkeit) sind, vielfach durch die verwendeten Namensformen auch griechische Herkunft verraten. Aber dieses Material zeigt eben auch, daß Plinius und Mela ihre Informationen aus inzwischen trüb gewordenen Quellen bezogen; in ihnen fand man noch die Mannusstämme, als wirklichkeitsnahe Autoren sie längst verabschiedet hatten. So halten diese beiden Autoren also die Mannusstämme für reale Größen und glauben, sie in der Geographie dingfest machen zu können, halten Ingvaeonen oder Herminonen für echte lokalisierbare Stammesgruppen oder referieren zumindest derartige Meinungen Früherer, ohne sich von ihnen zu distanzieren. Das war zu ihrer Zeit bereits eine gelehrt-verkehrte Abstrusität. Vor diesem Hintergrund ist endlich Tacitus zu sehen. Und dabei springt nun als die entscheidende Tatsache ins Auge, daß die Mannusstämme im zweiten Teil der Germania, da, wo sie als geographische und ethnographische Realität hingehören würden, fehlen. Das ist, da Tacitus die Mannustradition ja ersichtlich kannte, der klarste Ausdruck seines kritischen Urteils. Nicht daß die Mannusstämme in der origo vorkommen, sondern daß sie in der Stammesaufzählung des besonderen Teils der Germania fehlen, klärt über die Meinung des Tacitus auf. Er stellt sich

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damit unzweideutig auf die eine Seite der Tradition und gegen die andere. Er will also sagen: Es gibt in Germanien Sueben, aber keine Herminonen; man trifft in der Wirklichkeit Chauken an und sogar noch Kimbern, aber Ingvaeonen existieren nicht oder nur in der Mythologie. Das war keineswegs neu, denn schon Caesar hatte es erkannt und Germanien dementsprechend beschrieben, nach ihm hatten Strabo und Vellerns und gewiß noch andere seine Linie vertreten. Aber völlig durchgesetzt hatte sie sich nicht; ein wichtiger römischer Gewährsmann wie Agrippa hatte anscheinend die klare Konsequenz nicht gezogen, nach ihm hatte vielleicht der einflußreiche Livius die Mannusstämme gewürdigt, und vor allem durfte die alte Einsicht nach Plinius zu Recht noch einmal kräftig betont werden, dem Tacitus auch sonst mit Reserve begegnete. Der hatte schließlich mit 20 Büchern bella Germanica ein sehr maßgebliches Buch geschrieben und vermutlich auch dort von Ingvaeonen, Herminonen und Istvaeonen geredet. Um so deutlicher knüpft Tacitus an den summus auctorum, Caesar, an. Er stellt sich bewußt und programmatisch in die Tradition, die mit den Kommentarien Caesars beginnt. Er lehnt die phantastischen und unkritischen Synthesen der Griechen ab zugunsten nüchterner Tatsachenfeststellung aus römischer Hand. Er behauptete die Linie Caesar - Strabo - Velleius gegen Poseidonios - Agrippa - (Livius) - Plinius und entzieht so von vornherein den Auffassungen K. Müllenhoffs, L. Schmidts und vieler anderer den Boden. Aber warum redet er dann im Zusammenhang der origo von den Enkeln des Mannus, warum zitiert er dann die carmina antiqual

6 Nachdem in den Abschnitten 2-5 die Mannustradition untersucht worden ist, können wir zu dem Ausgangspunkt und Anlaß dieser Untersuchung zurückkehren, der Bedeutung des Mannusmythos in der origo der Germania. Tacitus geht es in der Mannusgenealogie nicht so sehr um die ungestörte Kontinuität der Bevölkerung im Lande, als um ihre Isoliertheit und Unberührtheit von Auswirkungen der, von kleinen Kontaktgruppen getragenen, Kulturdiffusion. Damit verschiebt er, wie auch anderswo, einen ethnographischen Topos, die Autochthonie-Frage, vertiefend in eine andere Richtung. Der taciteische Gedanke steht in deutlichem Bezug zu den Volks- und Kulturentstehungstheorien in der Zeit. Besonders hat Seneca die Frage erörtert und gibt dadurch den taciteischen Ausführungen das zu ihrem richtigen Verständnis nötige Profil. Der stoische Literat erklärt, es gäbe fast keine wirklichen Indigenen, alles

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wäre gemischt (permixta omnia)90. Er sah aber in dieser Feststellung keineswegs eine düstere Verfallsperspektive und Degenerationsdrohung wie Graf Gobineau und seine Nachfolger und Geistesverwandten, sondern eine positive und beglükkende Perspektive. Denn die echten Unvermischten sind ihm die Retardierten (wie in der modernen Ethnologie Eskimos, Pygmäen oder Papuas), die am Strom der Menschheitskultur nicht Anteil nahmen, insofern verkümmerte und randständige Gruppen und dafür zu bedauern. Hinter dieser Einschätzung steht die euphorischoptimistische Lehre der Stoiker vom Allzusammenhang, wie ihn auch Poseidonios eindrucksvoll und emphatisch zum Ausdruck gebracht hatte. Es gibt danach nur Stufen und Schattierungen einer allumfassenden kosmischen Harmonie, eine, freilich gestufte, Menschheitsbrüderschaft, in der potentiell alle zum Glück und zur Entfaltung berufen sind, wenn dies auch nicht allen in gleicher Weise zuteil wurde. Ausdruck solcher ,Seid umschlungen, Millionenl'-Stimmung ist es, daß Herakles und Odysseus auch im fernen Norden waren. Wo andere den extremen Norden mit Fabelvölkern ausstatteten, die nur teilweise menschliche Züge trugen und von der brüderlichen Gemeinschaft aller Menschen durch ihre physische Ausstattung ausgeschlossen waren91, oder wo Plinius die entsetzliche und menschenunwürdige Primitivität der germanischen Küstenbewohner pathetisch herlausstellte9 , da ließ der stoisch und harmonisierend Denkende den wandernden Herkules auch noch sein Licht leuchten und einen etwas unglaubwürdigen Ulixes Städte gründen, Altäre setzen und Inschriften hinterlassen. In diese zeitgenössische Debatte greift Tacitus ein, wenn er mit Entschiedenheit betont: Die Germanen sind wirkliche Indigene, sie sind eine tantum sui similis gens, wie die alte Formel sagt93. Mit deren Verwendung wird jedoch nicht philologische Selbstbespiegelung betrieben, sondern sie dient dazu, in traditionell geprägter Sprache eine aktuelle Position zu beziehen. Die Germanen, so unterstreicht Tacitus, sind nicht durch irgendwelche advenae auf eine geschichtliche Bahn gebracht worden, die vorher niemand hätte voraussehen können; sie sind niemals vom Strom der Kulturdrift berührt worden, kein Kadmos, Tyrrhenos oder Aeneas hat seine Fackel zu ihnen getragen; ihr Herkules ist ein barbarischer Vorkämpfer, ihr Ulixes eine verworrene und undeutliche Gestalt, die Heroennachrich90

Sen. ad. Helv. matr. 7; berühmt für ihre Autochthonie waren nur die Athener (Pomp. TrogusJust. 2, 6, 3f.). Vgl. Triidinger, Studien 153ff.; К. E. Müller, Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theoriebildung 2,1980,15f. 83f.; Lund, Komm. 23ff. 44ff. 91 Plin. n! h. 3, 94; Pomp. Mela 3, 56. s. Griechische und lateinische Quellen (wie Anm. 52) 1, 549f. 92 Plin. n. h. 16,2-4 zur Lebensform der Chauken (im Gegensatz zu Tac. Germ. 35). 93

Zu tantum sui similis gens s. Norden, Urgeschichte 54ff.(mit Beschränkung auf die literarische Motivgeschichte).

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ten sind für die Frage des Kulturanschlusses nicht beweiskräftig. Trotzdem sind sie keine Wesen mit Schlappohren oder Fischleibern, und verfügen sie auch in der seelischen Innensphäre über ein menschliches Niveau, das sie mit üblichen Maßen zu messen, mit Phänomenen der eigenen Welt in Beziehung zu bringen erlaubt. Zu bestreiten, daß es Völkerwanderungen von Norden nach dem Süden gegeben hätte, wäre angesichts der Kenntnis von Kimmeriern, Kelten und Kimbern absurd gewesen und konnte Tacitus nicht in den Sinn kommen, und die Frage des Seeverkehrs in alter Zeit und seine Bedeutung für den Norden (2, 1) bezieht sich auf eine in der hellenistischen Ethnographie und Geographie viel behandelte Thematik (Strabo 1, 48f. aus Eratosthenes); aber der stoischen Harmoniespekulation war mit jener Beurteilung eine Absage erteilt. Die Tradition forderte, unter der Rubrik origo auch indigene Überlieferungen, das Selbstzeugnis der Betroffenen, zu überprüfen. Dem tut Tacitus Genüge, indem er auf den Mannusmythos eingeht. Er stellt ihn aber bereits einleitend unter einen Vorbehalt (echte Überlieferung haben die Germanen nicht, die memoria beschränkt sich bei ihnen auf Kultlieder) und verstärkt diesen dann durch den Nachweis der Unsicherheit, fast Beliebigkeit, der mythischen Aussagen über Umfang und Gliederung der gens Germanorum. Und schließlich folgt gar im Namensatz das Referat einer These, die die Mannusgenealogie vollends relativiert: ein Gott als conditor gentis erlaubt keinen Zweifel an der gens, deren Einheit ein Name entsprechen müßte. Aber der Name, recens et nuper additum, könnte gar dafür sprechen, daß die Einheit überhaupt neu und von außen gekommen ist. Mögen die Anführung von entlegenen Spezialkenntnissen und versteckte Kritik an Plinius eine Rolle spielen: der Hauptgrund für die Erwähnung des Manlnusmythos ist seine Funktion, den spezifisch taciteischen Autochthoniegedanken zu illustrieren. Es ist, das zeigt auf ihre Weise auch die indigene mythische Überlieferung, mit der historischen Einheit der Germanen, ihrer Entstehung aus einer Stiftung, nicht weit her; die ethnogonischen Aussagen des Mythos bleiben unsicher und lassen sich auf die ethnographische Realität nicht schlüssig beziehen. - Gleichwohl sind die Germanen unvermischt und autochthon; aber sie haben die Einheit aus ihrer Physis, nicht aus einer Stiftung, sie sind ein Ethnos durch Natur, nicht durch Geschichte. Ihre Einheit ist dennoch erstaunlich groß und fest, zumal wenn man an die physische Varianz bei Britanniern und Kelten denkt, und das ist besonders im Hinblick auf ihre Quantität erstaunlich (in tanto hominum numero). Aber eben weil die Einheit physischer Art ist, nicht durch geschichtliche Stiftung begründet wird, kann sie auch nur im Habitus zutage treten. Deshalb mündet der Gedankengang der taciteischen origo an dieser Stelle in das traditionelle Germanenbild ein (truces et caerulei oculi, rutilae comae, magna corpora). Diese Erinnerung ist das argumentative Ziel, die Hinweise auf den Mythos führen dagegen zu nichts. Und eine eigenüiche Urgeschichte fehlt logischerweise; es gibt sie ja nicht. Den Germanen fehlt mit dem historischen Stifter auch

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die Verbindung zu dem historischen Grundstratum der heroischen Zeit oder einer konstitutiven Epoche, obwohl es an möglichen Ansätzen, solche zu finden, durchaus nicht ganz gefehlt hätte94. Die singulare Einheitlichkeit entsteht für Tacitus nicht aus dem geschichtlichen Kontakt, sondern umgekehrt aus der naturhaften Kontaktlosigkeit. Die Natur aber hat unbewußt und planlos etwas erreicht, was so wirkungsvoll ist, wie es auf andere Weise kaum möglich gewesen wäre. Ш Es dürfte der Klarheit dienen, die Ergebnisse dieser komplexen Untersuchung noch einmal nach ihren ganz verschiedenen logischen Ebenen gesondert darzustellen und in ihren jeweiligen systematischen Zusammenhängen festzuhalten. 1 Der erste Aspekt dieser Untersuchung betrifft ein Phänomen der antiken Überlieferungsgeschichte. Die Mannusgenealogie ist ein wenig auffälliger, durch nähere oder fernere Parallelen vielfach zu illustrierender ethnogonischer Mythos. Aber die literarische Geschichte dieses Motivs stellt einen höchst eigenartiger Überlieferungskomplex dar, für den es schwerlich eine antike Parallele gibt. Weit entfernt davon, ein Stück ,Urgestein des Volksbewußtseins' zu bieten, ist der Kern der Überlieferung, die nur bei Tacitus genannte Ethnogonie und Genealogie der germanischen Stämme, als Produkt germanischen Denkens (über die Etymologiel und Alliteration der Namen hinaus) überhaupt nicht direkt erweisbar. Zwar gibt es nordische Parallelen, aber die Mannusgenealogie steht ihnen möglicherweise nicht näher als anderen, etwa der von Sem, Ham und Japhet; die mythologische Figur ist ja weit verbreitet und hat archetypischen Charakter. Nur die jeder Interpretation vorausgehende, ihrerseits aber aus romantischen Prämissen stammende Überzeugung, daß hier der Volksgeist einen Blick in sein Innerstes gestatte und deshalb das taciteische Zeugnis ebenso kostbar wie unbezweifelbar sei, hat die Voraussetzung so sicher erscheinen lassen, gerade nordische Parallelen gäben der Mannusgenealogie das ihr zukommende Relief. Dieser Gedanke ist dem Verfahren J. Grimms zu vergleichen, der authentische Rechtsquellen und jüngere Belege, wenn nur die „innere Verwandtschaft" und die vermeintliche historische Kontinuität es nahelegten, unterschiedslos benutzte und dies mit dem berühmten Satz rechtfertigte: „stellen aus Tacitus, aus den alten gesezen, aus urkunden des mittelalters und aus weisthümern, die vielleicht erst vor 100 jähren aufgeschrieben wurden, beweisen

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Trüdinger; Studien 150f.

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in einem athem"95. Der tatsächliche Zusammenhang der Mannusgenealogie mit den Parallelen der Edda ist nur schwer abzuschätzen, wie auch sonst die Bezüge zur nordischen Tradition kompliziert und schwer zu beurteilen sind. Wichtiger und elementarer ist ein anderer Aspekt: Tacitus sagt nicht, woher er weiß, was er mitteilt, und der Hinweis auf die carmina ist nicht nur in sich vage96, der Autor versieht ihn auch noch mit allen Vorbehalten und Reserven. Die Mannusgenealogie kommt als Mitteilung aus antiker Quelle, und so ist mit einem gewissen Maß an Überformung zu rechnen. Daß die Namen germanisch und der Alliteration nach zu urteilen auch bereits als Triade und poetische Formel konzipiert sind, beweist einen epichorischen Kern der Nachricht, aber ob sie nicht doch von einem Kopf aufgenommen wurde, der sich dabei der Skythenethnogonie bei Herodot erinnerte und das Gehörte danach verformte, läßt sich nicht sicher entscheiden, manches spricht aber dafür. Dazu kommt, daß ein räumlicher, ethnischer und sozialer Realbezug des Mythos nicht auszumachen ist. Die Namen lassen nicht erraten, welche Art Verbände in der Mannusgenealogie ein Identifikationsmodell gesehen haben, ob sie eine kultische Funktion hatten und welche Konsequenzen ihre Geltung sonstl gehabt haben mag. Kultveibände als Namensträger und gleichzeitig Überlieferungsträger anzunehmen, ist eine Vermutung, die weniger erklärt als oft angenommen wird. Das Verhältnis etwaiger stammesübergreifender Kultverbände zu anderen gleichrangigen und zu untergeordneten Gruppierungen kann nicht abgeschätzt werden und ebensowenig die Bedeutung solcher Zusammenschlüsse für ein überstammliches Gemeinschaftsbewußtsein. Erfinder und Bewahrer von Mythen, die Kultverbände zu Trägem der Ethnogonie machten, sollten am ehesten Priester gewesen sein; aber ihnen kommt nach unserer Kenntnis im vorrömischen germanischen Altertum keine soziale Eigenständigkeit zu, und eine bewußtseinsprägende Kraft kann ihnen als solchen schwerlich zugedacht werden. All diese Überlegungen führen positiv nicht weiter, zeigen aber, daß wir für den Mythos von Tuisto und seinen Nachkommen einen ,Sitz im Leben' nicht bestimmen können. Diese nüchterne Feststellung wird erst durch die Distanz zum 95 Deutsche Rechtsaltertümer 1, 4 1899, S. IX; vgl. H. Beck, Tacitus' Germania und die deutsche Philologie, in : Jahnkuhn-Umpe, Beiträge (wie Anm. 5) 164ff. 96

Wenn an Kultlieder, religöse Formel gedacht ist, wäre der singularische Gebrauch des Wortes eher zu erwarten; der Plural erinnert an die berühmten 'römischen Tafellieder' (Cie. Brut. 75: in epulis esse cantitata a singulis convivis de clarorum virorum laudibus), denen Cicero und Niebuhr eine Bedeutung für die Erhaltung der memoria beilegten (vgl. Timpe, Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Basis der frührömischen Überlieferung, in: Ungem-Sternberg-Reinau (wie Anm. 71) 266f. Oder es ist an Lieder von bardi zu denken, die den Germanen aber gerade fehlen sollen. Der soziale Ort der carmina ist also nicht klar, das Singen und Sagen der aus dem Volksgeist stammenden Poesie in Wirklichkeit schwer vorzustellen.

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volksgeschichtlichen Verständnis ermöglicht; die patriotisch motivierte Ehrfurcht vor dem „Urtümlichen", das man nicht „betasten" könne und dürfe, hat eine sachliche und kritische Prüfung der Überlieferung gewiß nicht begünstigt. Unternimmt man sie aber, dann führt sie weiter dazu, gegenüber einer romantisch motivierten Harmonietendenz den Unterschieden in den spärlichen Zeugnissen viel mehr Gewicht beizulegen und eine Entwicklung der Tradition dort zu suchen, wo bislang nur blockhafte Eindeutigkeit und materiale Verläßlichkeit unterstellt wurden. Dabei zeigt sich dann, daß wahrscheinlich ein alter Name für die Nordseeküstenbewohner, dessen Sinn und Funktion aber im übrigen nicht (auch mit Hilfe der Etymologie nicht) zu fassen ist, in vorcaesarischer Zeit zu einer Trias ergänzt wurde. Der Vorgang entsprach vielleicht einem Prozeß realer ethnischer Vereinheitlichung (Ausbildung eines umfassenderen Gesamtbewußtseins) und würde sich dann aus innergermanischen Voraussetzungen erklären. - Die Proklamierung eines größeren Zusammenhanges ging vielleicht von Indigenen aus, vielleicht aber auch erst von griechisch-römischen Beobachtern, die literarische Interpretationsmuster auf Material anwendeten, das ihnen bekannt wurde und das sie in dieser Weise produktiv mißdeuteten. Die entscheidende Rolle scheint hierbei so oder so Poseidonios gespielt zu haben. Er hat wahrscheinlich als erster die Mannusgenealogie mitgeteilt und damit in die Literatur eingeführt, wobei das Maß seiner eigenen Überformung des Stoffes ungewiß bleibt. Fixiert wurde der Mythos also nicht, weil ein Augenzeuge an einem germanischen Kultfest teilnahm und darüber authentisch berichtete, sondern weil man bei Poseidonios darüber las wie bei Herodot über die Skythen. Während es aber im Vergleichsfalle damit sein literarisches Bewenden hatte, gab es hier eine überraschende und singuläre Entwicklung. Denn der verräumlichte literarisierte Mythos wurde durch die römische Erkundung und Eroberung des Landes und die Expeditionen rechts des Rheines unerwartet zu einer Informationsquelle überl reale ethnische und geographische Zusammenhänge der Germanen. Es ist, als wenn Philipp Π. mit dem Skythenlogos Herodots als Wegweiser an die Eroberung des nordpontischen Steppenlandes gegangen wäre. Die Mannusstämme wurden als ethnographisches Gliederungsschema akzeptiert, vielfach modifiziert und schließlich verworfen und haben so in einer verhältnismäßig kurzen Zeit, nämlich von Caesar bis Drusus, eine heuristische Funktion für die römische Kenntnis germanischer Stammeszusammenhänge bekommen. Die eigentliche Okkupation hat dann dem Mannusschema diesen Wert bald wieder genommen und ihm nur ein literarisches Nachleben bei unkritischen und antiquarisch orientierten Autoren belassen. Diese rasch überholte Entwicklungsphase hat aber trotzdem weitreichende Wirkungen gezeitigt; denn nur deshalb, weil der Mannusgenealogie einmal ein realer Informationsgehalt zugebilligt wurde, hat sie denjenigen literarischen Niederschlag gefunden, dank dem allein wir den merkwürdigen

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Sachverhalt noch erahnen können. Diese literarische Nachwirkung reflektiert also nicht den genuinen Gehalt des ethnogonischen Mythos und verrät keine Ehrerbietung vor urtümlicher Offenbarung kollektiven religiösen Selbstverständnisses, sondern gilt einer sekundären Funktion der mythologischen Überlieferung, ihrer Orientierung über Gliederung und Lage der Stämme. 2 Ein zweites Ergebnis betrifft die germanische Ethnogenese und den Germanennamen; zwar hängt es ebenfalls an der Überlieferung der Mannusgenealogie, aber deren Interpretation gilt hierbei der ethnischen Realität, nicht der Tradition. Das Problem der germanischen Ethnogenese tauchte auf, als die naturhafte und kontinuierliche Einheit des Volkstums (als apriorische Voraussetzung des Germanenbegriffes) und das methodische Postulat, alle Lebensäußerungen und Relikte als bedeutungshaltige und konvergierende Ausdrucksphänomene verstehend auf diese Größe zu beziehen, aufgegeben werden mußten. Es ist forschungsgeschichtlich nicht zufällig vor allem als Methodenfrage der prähistorischen Archäologie entwickelt worden. Gibt es eine Einheit der Germanen oder ist sie nur eine Konstruktion? Und falls es sie gibt, was macht sie aus, wann und wie ist sie entstanden? Stammt der Name Germanen aus Selbst- oder Fremdbezeichnung und welcher Population galt er zu welcher Zeit? Hierbei überkreuzen sich die Fragen der Genese des realen Volkstums (Verdichtung sozialer Interaktion auf der Basis von Sprache, Bewußtsein, gesellschaftlicher Organisation und Verkehr), der terminologischen Fixierung dieses Vorganges (Herausbildung einer anerkannten ,objektiven' Selbstbenennung der ethnischen Gesamtheit, die ihre Zusammengehörigkeit widerspiegelt) und endlich auch seiner quellenmäßigen Bezeugung (Entscheidung über die Berechtigung von Caesars Germanenbegriff)l Diese Probleme werden intensiv, aber weiterhin kontrovers diskutiert97, wenn auch der methodische Umgang mit ihnen verbessert worden ist: Die Reserve gegen eine präskriptive Definition des Germanischen (Hachmann, Wenskus) hat die Neigung zur Folge, die germanische Einheit für das späte und begrenzte Ergebnis einer Entwicklung zu halten. Man entnimmt dann zwar den literarischen und archäologischen Quellen die übereinstimmende Bezeugung eines suebischelbgermanischen Kernraumes, aber versteht den caesarischen (allgemeinen) Germanennamen eher als eine - psychologisch begreifliche oder politisch motivierte Verallgemeinerung (Wenskus, Dobesch). Solches Verständnis wird weder gestützt noch ausgeschlossen dadurch, daß Poseidonios wahrscheinlich einen rheinnahen Verband ungewisser Größe und systematischer Zuordnung .Germanen' genannt und ihm Verwandtschaft mit den Kelten und Gegensatz zu den Kimbern zuge97

Vgl. Hachmann, Dobesch (wie Anm. 88), Wenskus (wie Anm. 88).

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schrieben haben dürfte. Denn in diesem Namensgebrauch kann ebensogut eine noch unvollkommene Einsicht in die wahren Verhältnisse (die gallischgermanische Rheingrenze) wie umgekehrt ein Hinweis auf eine noch im Fluß befindliche Namengebung und Identitätsfindung (in denen Caesars folgenreiche, aber subjektive terminologische Entscheidungen ihren Platz gehabt hätten) gesehen werden. Wann, wie und von wo aus sich ein dem Germanennamen entsprechendes Zusammengehörigkeitsbewußtsein ausbildete, bleibt ein Problem. Der Germanenname scheint im suebischen und ostgermanischen Bereich fremd gewesen zu sein; im Westen besteht die durch den caesarischen (seinerseits uneindeutigen)98 Begriff der Germani cisrhenani und durch den aenigmatischen Namensatz der taciteischen Germania genährte Unsicherheit, was als Kern germanischer Identität anzusprechen sei. Die Zweifel, wieweit hier Fremd-, wieweit Selbstbenennung reichten und was die eine mit der anderen zu tun habe, sind schwer zu beheben. Angesichts dieser zerklüfteten Meinungslandschaft führt dieVermutung, daß die Mannusgenealogie von Poseidonios stamme, zu folgenden Konsequenzen und Lösungsmöglichkeiten: (1) Sie bestätigt zunächst die unbestrittene Ansicht, daß die poseidonianischen , Germanen4 nicht die caesarischen sind, setzt jene mit den Mannusstämmen gleich, die dank den aus der Mannusüberlieferung zu erschließenden geographischen Indizien als größere rechtsrheinische Population angesetzt werden dürfen. Sie sind demnach nicht die Germani cisrhenani in irgendeiner Begrenzung. Damit taucht das (hier auszuklammernde) Sondeiproblem auf, diesen Namen zu erklären", aber die Schwierigkeit entfällt, in eineml verhältnismäßig kleinen und unerheblichen Verband links des Rheines den namengebenden Kern eines rechtsrheinischen Großethnos sehen zu müssen. - (2) Die Germanen des Poseidonios müssen dann die Träger des mythologisch definierten germanischen Einheitsbewußtseins und die Keimzelle der späteren germanischen Einheit geworden sein. Hier berühren sich also Selbstbenennung und Fremdbenennung soweit, daß der Weg vom einen zum anderen begreiflicher wird. Handelt es sich dabei nämlich anscheinend später um eine wechselseitige Beeinflussung beider, so begann die Erweiterung der (ursprünglich engeren) germanischen Identität mit der 98

B. G. 2 , 4 , 1 0 Condrusos Eburones Caerosos Paemanos qui uno nomine Germani appellantur ... 2, 3,4. 6, 32, 1. - 2, 4, 2 plerosque Belgos esse ortos a Germanis. Vgl. Dobesch (wie Anm. 88) 77ff.; H. v. Petrikovits, Germani cisrhenani, in: H. Beck (Hsg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht, 1986, 88ff. 99

Der hier vorgetragenen Hypothese zufolge müßten die Germani cisrhenani vorgeschobene .echte' (d.h. poseidonianische, Mannus-) Germanen sein; es wäre demnach plausibel, daß die Aduatucer, die als Abkömmlinge der Kimbern galten (B.G. 2, 29, 4) nicht zu ihnen gehörten (Petrikovits a.a.O. 89), aber auch verständlich, daß sie als Leute rechtrheinischer Herkunft im Zuge der Erweiterung des Germanennamens durch Fremdbenennung gleichwohl germanisch heißen.

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Selbstgermanisierung von Nachbarn im Süden und Osten des Kerngebietes, von der die Variante der Mannusgenealogie indirekt Zeugnis abzulegen scheint. Denn aus dem Anspruch der Marser, Gambrivier, Sueben und Vandilier, zu den Mannusgermanen zu gehören, kann vielleicht der räumliche Umkreis eines älteren Bereiches erschlossen werden und damit die ungefähre Lage der Mannusstämme nach der Anschauung der ältesten Überlieferung selbst. Es wäre das Flachland zwischen Rhein und Weser, Nordsee und Mittelgebirge, die nicht der LatfeneKultur zuzurechnende Zone. Daß viele moderne Bemühungen unterschiedlicher Richtungen (mit im übrigen auch ganz unterschiedlichen Deutungsergebnissen) darauf abzielen, Lippe und Weser-Leine zu alten, ethnisch-kulturell-sprachlichen Grenzen zu erheben100, kann vielleicht zur Stütze der Hypothese dienen. Der Rhein mochte im Mittelgebirge eine Grenze bilden, zerschneidet aber gerade im belgisch-germanischen Flachland die Einheit der Landschaft nicht. Dadurch erklärt sich zwanglos die Westexpansion nicht nur der Germanen, sondern auch des Germanennamens. - (3) Für die Ethnogenese der Germanen scheint die Geschichte der Kimbernzeit konstitutiv zu sein. In dieser geschichtlichen Situation bekamen offenbar die Nordweststämme die Chance, sich zwischen Kimbern und Kelten im engeren Sinne zu behaupten und sich nach Westen hin auszudehnen; vielleicht hat dies für einen weiteren Kreis von Nachbarn die Identifizierung mit ihnen und ihrer Tradition attraktiv gemacht zu haben. So mag sich den Galliern der Germanenname mit Expansionsbestrebungen rechtsrheinischer Nachbarn verbunden haben und der Anfang derjenigen Begriffsbildung gesetzt worden sein, deren Vollendung wir in Caesars Germanenbegriff beobachten. Der hier nur skizzierte Interpretationsvorschlag läßt, um nicht in weitläufige Erörterungen einzutreten, die Problemkreise des Namensatzes, der Germani cisrhenani und des caesarischen Suebenverhältnisses außer Betracht. Er sollte aber von der durch die Interpretation der Mannusüberlieferung aus gewonnenenl Basis immerhin eine Möglichkeit andeuten, Aporien der germanischen Ethnogenese aufzulösen. Wenn die Ausbreitung des Germanennamens im 1. Jh. v. Chr. von einem nordwestlichen Kernraum aus erfolgte, gewinnt die Geschichte dieses Volksnamens und der ethnographischen Bergriffsbildung im Norden ein differenzierteres Aussehen. Es wird dann vorstellbar, daß die Sueben zum Teil die Selbstbezeichnung als Germanen übernahmen und deshalb auch von den Galliern den Germanen zugerechnet wurden; die relative Distanz der Flachlandgermanen zur keltischen kulturellen Koine kann ihre ethnographische Scheidung von den Galliern erklären, ihre Expansion in Bereiche, die der Latbnezivilisation zugehörten, aber auch die Verwandtschaft mit jenen und andrerseits ihre Absetzung von Kimbern und Sueben, die im Zuge der Bedeutungserweiterung des Germanenbegriffes 100 Vgl. Hachmann-Kossack-Kuhn, Völker passim, bes. Hachmann 33ff. (bei sonst ganz anderen Deutungsvorschlägen, auch zu den Mannusstämmen).

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dann wieder verschwand. Die angenommene Entwicklung des Namens und der ethnischen Identität entbindet von der Mißlichkeit, Caesar entweder die nackte Registrierung eindeutiger ethnologischer Fakten oder ihre politisch motivierte Verdrehung zuzuschreiben. Die Quellengattungen können zwangloser zusammengeführt und die stammesgeschichtlich-ethnogenetischen Vorgänge ein Stück weit hinter Caesar zurück in die aus literarischen Quellen bezeugte Geschichte eingebettet werden. 3 Auf wieder einer anderen Ebene liegt das dritte Ergebnis; es gilt der Verwendung des überlieferungsgeschichtlichen Hintergrundes in der intellektuellen Ökonomie des Tacitus. Allerdings erlaubt auch nur die Erschließung jenes Hintergrundes ausnahmsweise einen Einblick in diese Ökonomie, die ohne sie so unerkannt bleiben müßte wie in den meisten anderen Fällen. Tacitus ist weit davon entfernt, einen germanischen Ursprungsmythos mitteilen zu wollen, weil er ihn für ehrwürdig und mitteilenswert an sich hielte. Er hatte sich längst für die Ablehnung seiner Funktion als ethnographisches Gliederungsschema entschieden, aber nur aus dem Für und Wider darum kannte er ihn. Nun setzte er ihn in einer für seine Art zu denken und zu schreiben charakteristischen Weise ein: Seine Montage des Motivs Mannusgenealogie benutzte den Mythos anstelle einer Vorgeschichte. Eine origo forderte die Darstellung der Urgeschichte nach epichorischer Kunde oder historischen Zeugnissen; die Frage nach Autochthonie oder Einwanderung zu beantworten, gehörte zu solcher Behandlung der Anfänge eines Ethnos. Tacitus stellt fest, daß eine Urgeschichte der Germanen nicht zu fassen sei, ihr Mythos den einzigen Reflex davon liefere. Diesen deutet er als carmina, wahrscheinlich Kultlieder, die statt annales die Funktion haben sollten, die memoria zu erhalten. Er bestimmt damit die Mannustradition in einer literarisch höchstens zu Anfang, bei Poseidonios, vorgebildeten Weise religions-, kult- und überlieferungsgeschichtlich. Der Leser wird am ehesten das Kultlied {carmen) einer römischen Priesterschaft assoziieren, (s. Anm. 96) Damitl ist nun an der Mannusgenealogie nicht mehr nur ihre sekundäre Funktion als ethnische Gliederung wichtig (wie vielleicht seit Poseidonios ausschließlich), sondern wieder die mythische Genealogie selber. Sicherlich ist das der Grund, weshalb Tacitus - und nur er! - die Abkunft der Stammeseponymen von Tuisto und Mannus .überhaupt zitiert, gleichsam wieder hervorholt, während die anderen Zeugen darauf keinen Wert mehr gelegt hatten, sie als bloß mythologische Verbrämung einer ethnologisch-geographischen Information, eines Stammesgliederungsschemas, beiseite gelassen hatten.

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Tacitus deutet damit den Mythos als indigenes Zeugnis der germanischen Autochthonie, entwertet aber gleichzeitig alle Einzelheiten durch Mitteilung der Varianten als unzuverlässig. Nur die Abkunft von Tuisto und Mannus bleibt ja bestehen, alle Einzelheiten der dritten Generation unterliegen der licentia vetustatis. Tuisto und Mannus aber gelten weniger als Symbol der Bevölkerungskontinuität im Lande (wie vermutlich ursprünglich) als vielmehr des fehlenden geschichtlichkulturellen Einflusses von außen. Darauf weist jedenfalls der Gedankengang und die Einführung der Heroen hin. In doppelter Gedankenführung wird so das eigentliche Argumentationsziel angesteuert: Die Germanen haben einerseits an der stoisch-spekulativen, angeblich menschheitsverbindenden Kulturdiffusion keinen Anteil, sind echter Gegensatz und im letzten unabhängige Gegenwelt. Und sie sind andererseits nicht durch geschichtliche Formung bestimmt, sondern allein durch naturhafte Disposition; geschichtlicher Wandel, menschliche Setzungen, die ά ρ χ α ί der Stiftungen spielen hier keine Rolle. Die Natur allein, der Habitus, die Determiniertheit durch Klima und Landesnatur und immer gleiche Wesensart von Anfang an sind das, was die Frage nach der origo enthüllt. Die Begriffsnetze und Polaritäten des Tacitus nehmen von der ethnographischliterarischen Tradition ihren Ausgang, aber verbinden dann den Bereich der historisch-politischen Partner- und Gegnerschaft mit den klimatologisch und völkerpsychologisch begründeten Vorstellungen der Gegenwelt (alter orbis), und zwar in einer Weise, die über das Klischeehafte hinaus ein Medium für innerrömische Zeitkritik und Prinzipatsopposition gewinnt. Das stoische Element ist dabei als Bildungsgut, Anregung und Sprachform gegenwärtig, inhaltlich dient es Tacitus wahrscheinlich viel mehr als Kontrast denn als Orientierung. Er greift in der Mannusgenealogie ein Überlieferungsstück auf, verwendet es, akzentuiert es und funktioniert es um, so daß nur die umständlichste Rekonstruktion diese Aspekte bloßlegen kann. Er nimmt die Überlieferung am allerwenigsten unreflektiert als Information oder ehrerbietig als Wissen aus mythischen Ursprüngen. Er setzt voraus (ohne das zu explizieren), daß der ganze Komplex nur dank seiner vermeintlichen Funktion für geographische Erkundung und ethnographische Orientierung eine gewisse Rolle gespielt hat, und nimmt, ohne ein Wort dazu zu sagen, in einer Auseinandersetzung, die Plinius überflüssigerweise wiederbelebt hatte, eindeutig Partei. Aber so wertlos der Mannusmythos für gerlmanische Ethnographie, so brauchbar ist er ihm für einen anderen Zweck, in anderer Beleuchtung. Dazu greift er auf den ursprünglich genealogischen Aspekt des Mythos zurück, den er vielleicht nur noch bei Poseidonios oder Livius fand. Damit erschloß sich für Tacitus ein Element des indigenen Bewußtseins, das auszudeuten dem Römer am Herzen lag: das Naturhafte, nicht durch geschichtliche Stiftung Begrenzte und Geformte, nicht durch mediterranen Kulturstrom der Barbarei defini-

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tiv Entrissene des Volkscharakters. Dieses Ethnos konnte deshalb allenfalls der Korruption verfallen, aber war den Formkräften historischer Ordnung und rationaler Disziplin nur ausnahmsweise zugänglich (Germ. 30, 2). Diese Wesensart zu erfassen, entsprach nicht dem Interesse eines ethnologischen Feldforschers. Erklärte sie doch das Vorhandensein von Kräften, die in der geschichtlichen Stunde des Tacitus auch für die Analyse der eigenen Situation eine existentielle Bedeutung hatten. Es waren die Kräfte einer naturhaften Freiheit, unversiegbar und durch Politik allenfalls zu hegen, aber nicht dauerhaft zu bändigen. Als Ausdruck eines Fehlens von Ordnung und Bindung und gemeinschaftlicher Selbststeuerung konnten sie dem antiken Betrachter weder vorbildhaft oder erstrebenswert noch auch nur kommensurabel erscheinen, aber angesichts der autokratischen Herrschaft der Erben Caesars symbolisierten sie im Denken des senatorischen Traditionalisten (in Verbindung mit philosophischen Gedanken und älteren Tendenzen der Naturvölkeridealisierung) dennoch ein Kontrastmodell. Über die Brücke der römischen Zeitkritik kam es zur Konfrontierung der Barbarenfreiheit mit der römischen Unfreiheit, einer rein innerrömisch motivierten Auslegung der historischen Partner- und Nachbarschaft, die es lange vor Tacitus gab101, die aber von ihm mit Leidenschaft aufgegriffen, vertieft und variiert wurde. In die Polaritäten von Geschichte und Natur, Imperium und Außenwelt, Freiheit und Despotie eingespannt, gewinnt ihm das Germanische Aussage- und Leuchtkraft. Er begegnet in ihm nicht dem unerwarteten Reichtum einer Fremdwelt an sich, sondern konstruiert sie vielmehr nach den Fluchtlinien seines eigenen Denkens. Deshalb kann der moderne Interpret auch die Einzelaspekte dieser, für uns so schwer begreiflichen Ausdeutung nicht als freistehende Information für sich nehmen, sondern immer nur unter Rücksicht auf das systematische Ganze des gedanklichen Zusammenhanges.

4 Das vierte Ergebnis liegt in dem Einblick in die Wege der modernen Rezeption. Tacitus bietet nur zum kleinsten Teil das, was die Deutschen im 19. Jh. in der Mannusgenealogie fanden. In ihr kann kein Beweismittel der Herderschen und Grimmschen Volkstumskonzeption gesehen werden. Unsere Romantikerl erkannten zwar im ethnogonischen Mythos von Tuisto und Mannus eine durch Alter und Einmaligkeit beachtliche, durch Dichtigkeit und Tiefe der Aussage bewundernswerte Hervorbringung jenes Volksbewußtseins, das in Sprache und Märchen, Mythos und Sage, Volksbrauch und Rechtsherkommen, Glauben und Fühlen des

101

Luc. 7,432 ff.; Sen. de ira 2,15, Iff.; Medea 369ff.; Plin. n. h. 14, 2.

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Kollektivs lebt und sich in Objektivationen entäußerte.Aber Tacitus ist weit davon entfernt, derartiges bezeugen zu wollen oder zu können. Dennoch gibt es einen Berührungspunkt, der dieses Verständnis als nicht völlig unbegründet erscheinen läßt. Es ist die nicht zuletzt aus innerrömischen und zeitgeschichtlichen Voraussetzungen erklärbare Anschauung von der naturhaften Geschichtslosigkeit und der von externen Kultureinflüssen unberührt gebliebenen Wesensart der Germanen. Tacitus schildert eine gens ohne historisch gestifteten Anfang, eine ethnische Einheit ohne konstituierende geschichtliche Erfahrung, eine nicht ableitbare Volksindividualität. Diese antike Bestimmung konvergierte mit dem modernen Wunsch, das naturhafte Volk, in einem zeitlosen Urgrund verwurzelt, der politisch organisierten Willensnation (das heißt konkret; der französischen) entgegen zu stellen, im eigenen Volk den Antäus zu erkennen, der seine Kräfte aus dem Boden zieht und wohl einmal überrumpelt (etwa von Napoleon), aber nicht dauernd besiegt werden kann. Diese Auffassung kann man sehr anschaulich und unmittelbar in der Bildsprache C. D. Friedrichs illustriert finden. Der Künstler stellt etwa in seinem winterlich-kahlen Eichbaum (Abb. 1) das Symbol einer großen, kraftvollen und organischen Individualität dar. Sie erscheint trotz aller Spuren der Zeit geschichtslosdauerhaft, in ihrem naturhaft vorgegebenen Lebensraum tief und unangreifbar verwurzelt und bei aller Verbundenheit mit dem Schoß der lebendigen Erde ohne Wechselwirkung mit menschlich-tätiger Umgebung; sie existiert zwecklos und sich selbst genug. In dem berühmten Chausseur im Walde (Abb. 2) zeigt der romantische Maler in durchsichtiger Allegorie die einheitliche und unbezwingbare, aber unbewußt wirkende Kraft des gewachsenen Kollektives, der organisierter Wille und rationales Bewußtsein letzten Endes hilflos gegenüber stehen. - Es ist klar, daß antirevolutionäres und antifranzösisches, in Befreiungskrieg und Romantik wurzelndes Denken diesen Gedankenkomplex erzeugt hat und er sich durch Tacitus einzigartig bestätigt fand. Nur die Reprojektion der eigenen Anschauung in die Mannusgenealogie machte diese zu einem vermeintlich so fundamentalen Stück der Volksgeschichte. Der Interpretationszirkel von Hineinlesen und Herauslesen, Vormeinung und gefundener Bestätigung ist dann die Grundlage der exzeptionellen Hochschätzung der Germania im 19. Jh. überhaupt und ihrer zentralen Bedeutung für das deutsche Volksbewußtsein geworden. Aus dieser Symbiose eines traditionellen Motivs mit Tendenzen des modernen Denkens erklärt sich wohl in etwas auch die Verengung des romantischen Volkstumsgedankens zum Geschichtsbiologismus und Rassismus. Das deutsche Bewußtsein bezog sich auf geschichtlich gewachsene Grundlagen in der Überlzeugung, daß sich der Wirklichkeit der Gegenwart in der Gesamtheit des organisch Gewordenen ein besserer normativer Orientierungsrahmen böte als willkürliche rationale Entscheidung es sein könnte. Deutlich rückte aber auch die-

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se vermeintlich geschichtliche Fundierung aus dem Bereich der - immerhin bewußten, geistigen - Gestaltung immer mehr in den des biologisch Vorgegebenen. Die Berufung auf die Konstanten des Landes, der Volksnatur und der historischen Schicksalsgemeinschaft (die einseitig als Abstammungsgemeinschaft verstanden wurde) statt auf rational erklärbare Absicht, politische Willensentscheidung und moralische Legitimierung leistete einer Ideologisierung Vorschub, die in volkstumsmystifizierenden und rassistischen Wahnideen gipfelte. Auch diese triste Perspektive gehört zur Wirkungsgeschichte der Mannusgenealogie. Die historische Analyse der Motive und Traditionsstränge kann zur Entwirrung dieses Geflechts beitragen, soweit das durch Aufklärung möglich ist.

Der Namensatz der taciteischen Germania

Der bekannte Satz in Germ. 2, 3, der von der Herkunft des Namens Germani und seiner Ausweitung zum Volksnamen handelt, seit Ed. Norden der ,Namensatz' genannt, hat den zweifelhaften Ruhm, zu den umstrittensten und meisterörterten Stellen der lateinischen Literatur zu gehören. Schon Norden und Wissowa haben das konstatiert, und ein immenser Ausstoß gelehrter Produktion hat seither ihr Urteil mehr als bestätigt. Man muß den Namensatz, entschließt man sich, über ihn zu reden, nicht vorstellen, wohl aber den Überdruß beschwichtigen, der sich gegenüber jeder neuen Erörterung unvermeidlich einstellt. Denn die ungeheure Literatur, von Bibliographien, Forschungsberichten und Kommentaren immerhin gut erschlossen1, kann als Niederschlag eines Gedankenfortschrittes kaum begriffen werden, und wenn diese Situation etwas beweist, dann dies, daß sie auf dem bisherigen Wege einer allgemein anerkannten Klärung offenbar nicht näherzubringen ist. So verwegen es jedoch scheint, diesen Kampf mit den Waffen der Grammatik und des Lexikons immer wieder aufs neue aufzunehmen, so sehr verdient die Frage, was ihn denn ebenso attraktiv wie aussichtslos mache, emstliche Überlegung. Die antiken Historiker und Ethnographen fassen die Nachrichten über Herkunft, Gliederung und Benennung eines fremden Ethnos, seine natürlichen und

1 Burs. Jahresber 224, 1929, 322-29 (H. Drexler, Ber. Tac. 1913-27); 282, 1943, 119-125 (E. Koestermann, Ber. Tac. 1931-38); Lustrum 16, 1971/72, 1974, 237-241 (R. Hanslik, Ber. Tac. 1939-72). - AAWW 27, 1974,143f. (R. Hanslik, Tac.III); 37, 1984,184f. (F. Römer, Tac. IV). Class. Weekly (World) 48, 1954/55, 121-25 (C.W. Mendell, Tac. 1948-53); 58, 1964/65, 73f. (H.W. Benario, Tac. 1954-63); 63,1969/70,257f. (H.W. Benario, Tac. 1964-68; entMlt nichts z. Namensatz); 71,1977/78,13 (H.W. Benario, Tac. 1969-73); 80,1986,73ff. (H.W. Benario, Tac. 1974-83). - H.W. Benario, Tacitus' Germania. A Third of Century of Scholarship, QS 9, 1983, 209ff.; A.A. Lund, Gesamtinterpretation der .Germania' des Tacitus, ANRW II 33, 3, 1991, 1874-79. 1974-87; ders., Kritischer Forschungsbericht zur .Germania' des Tacitus, ANRW II 33, 3, 1991, 1995-2027. - Kommentare: A. Baumstark 1875; K. Möllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4, 1900 (dazu D.A. 2, 1906, 192ff.); A. Gudeman 1916; H. Schweizer-Sidler - E. Schwyzer "1923; J.G.C. Anderson 1938; R. Much (H. Jankuhn - W. Lange) 31967; A.A. Lund 1988; G.Perl 1990.

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geschichtlichen Grundlagen - geordnet nach Zeugnissen und Indizien, Selbst- und Fremdverständnis - unter der Rubrik origo zusammen. Hierher also gehört auch, was Tacitus im 2. Kapitel der Germania über die Germanen zusammenstellt: Aultochthoniefrage, ethnogonischer Mythos und Zusammengehörigkeitsbewußtsein, faßbar in der Namengebung. Denn mit dem Gegensatz der drei Mannusstämme zu den vier weiteren, die ebenfalls beanspruchen, echt und alt zu sein, soll der mythologischen Einheit der gens Germanorum im Stammvater Mannus ihre reale, aber bereits umstrittene Aufgliederung in Stammesgruppen gegenübergestellt werden; im Hinblick auf die Stammesnamen insgesamt aber soll der eher zufällige, nur historisch begriindbare Gesamtname den Bewußtseinszustand der Gegenwart womöglich als bloßes Ergebnis neuerer politischer Entwicklungen erscheinen lassen. Die als Meinung ungewisser Gewährsleute referierte Aussage zu diesem Problem gipfelt nun eben in der Feststellung, der Gesamtname ,Germanen' sei als solcher nicht alt; er gehe auf eine kleine Gruppe früher rechtsrheinischer Invasoren Galliens zurück, die jetzigen Tungrer, deren eigentlicher Name Germani im Sinne einer Fremdbenennung auf alle rechtsrheinischen Stämme übertragen und von diesen schließlich als Selbstbezeichnung angenommen worden sei . - Wie freilich der gewundenen Formulierung zufolge der Vorgang der Benennung ,aus Furcht' sachlich und psychologisch zu denken sei, das bleibt schwer verständlich. Bekanntlich tauchen hier überall Fragen und Aporien auf, die jene nicht endenden Kontroversen um das Textverständnis, den grammatischen Zusammenhang und die sachliche Bedeutung des Satzes ausgelöst haben. Dabei ist schon unklar, ob dies alles an einer eigentümlichen Verkettung echter Schwierigkeiten liegt oder bloß daran, daß der richtige Schlüssel zum Verständnis des Ganzen nicht gefunden ist. So erscheint das zentrale Problem, wer der siegreiche Namengeber (wenn denn der überlieferte Text stimmt) sei und welches das Motiv der Namensübertragung (a Victore ob metum), verquickt mit anderen: Erörtert wird etwa das eigentümliche logische Verhältnis zwischen Namenswechsel (bei den dann ,Tungrer' heißenden Germanen) und Namensübertragung (von den ursprünglichen Namensträgern auf die neue Gesamtheit); strittig ist die Bedeutung einzelner Begriffe (wie Germaniae vocabulum oder inventum nomen) und Be-

2

Ceterum Germaniae vocabulum recens et nuper additum, quoniam qui primi Rhenum transgress! Gallos expulerint ac nunc Tungri, tunc Germani vocati sint: ita nationis nomen, non gentis evaluisse paulatim, ut omnes primum a Victore ob metum, mox etiam a se ipsis invento nomine Germani vocarentur. - Außerdem sei die Bezeichnung Germanien neu und erst in jüngerer Zeit beigelegt, da ja die, die zuerst den Rhein überschritten und die Gallier vertrieben und jetzt Tungrer (heißen), damals Germanen geheißen hätten: so sei der Name einer Volksgemeinde, nicht eines Stammes allmählich in dem Maße zur Geltung gelangt, wie alle zuerst vom Sieger aus Furcht, dann auch von sich selbst mit dem einmal aufgebrachten Namen .Germanen' genannt worden seien.

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griffspaare (wie natio und gens); grammatische Alternativen (bei der Deutung des ut -Satzes oder der Tempora von vocari) fordern eine Entscheidung. Das exzeptionelle Interesse am Namensatz rührt aber nicht daher, daß von seiner richtigen Deutung das Verständnis der ganzen Schrift entscheidend abhinge (so wie es bei dem anderen locus vexatissimus der Germania, der Formel urgentibus imperii fatis in 33, 2, zu Recht oder Unrecht vorausgesetzt worden ist). Das Referat inl Germ. 2, 3 kann weder als Zentrum der Komposition und Sinnstruktur des ganzen Werkes noch als Schlüssel für das Denken seines Autors angesehen werden. Die Faszination, die von dieser Stelle ausgeht, erklärt sich vielmehr aus ihrem Sachgehalt, der wirklichen oder vermeintlichen Information. - Für die ältere, von romantischen Kategorien geprägte Forschung drückten sich die historische Einzigartigkeit und Würde einer Volksindividualität nicht zuletzt darin aus, daß man sie fühlte und wußte, in lebendiger Einheit und Benennung des Volkstums; die Herkunft und Ausbreitung eines Gesamtnamens spiegelten Werden und Wesen des ethnischen Bewußtseins. Die singulare antike Auskunft über den Germanennamen stimulierte deshalb Identifikationsgedanken, so mühsam die Dialektik von victor und metus, Fremdem und Eigenem, Gewachsenem und Gewolltem zur rechten Synthese zu bringen war. Immer wieder ist die aus dem Namensatz erschlossene Begriffsbildung als Ausdruck wachsenden Einheitsbewußtseins oder als prototypisch für Fremdbenennungen der modernen deutschen Nation aufgefaßt worden, obwohl doch die paradoxe Namensaufgabe gerade des namengebenden Teiles, von der unsere Stelle berichtet, in der typischen Benennung eines Ganzen vom Teil ohne Analogie ist. Und mit der Geschichte des Namens verband man oft seine Etymologie, die ihrerseits gern als Zeugnis ethnischen Werdens, wenn nicht als Selbstoffenbarung des Volksgeistes gewertet wurde. Dann hat das epochemachende Werk Ed. Nordens die Forschung entscheidend intensiviert und in neue Bahnen gelenkt3. Norden sah die Erfahrungen und Erkenntnisse antiker Völkerbeobachtung bis hin zu Tacitus und weit über ihn hinaus vom zeitlosen Grundmuster ionisch-herodoteischer Kategorien durchwaltet und geordnet. Sorgfältige Analyse des Beschriebenen sollte deshalb beim genauen Hinhören auf den Taktschlag der Gattungstradition die Aussicht eröffnen, auch erratische Einzelheiten einer trümmerhaften Überlieferung richtig zu verorten. Damit rückte Norden alle ethnographischen Aussagen der antiken Literatur in eine Perspektive, die ihr authentisches Zeugnis zu relativieren drohte - wenn er selbst ihnen dies auch nicht bestritt und wahrscheinlich überhaupt nur der internen Logik der Forschung folgte, ohne außerhalb ihrer liegende Konsequenzen zu berücksichtigen. Daß er gerade den Namensatz zum Zentrum und Exempel seiner überlieferungsgeschichtlichen Interpretation machte, hat diese dunkle Stelle nun zum 3 Ed. Norden, Die germanische Urgeschichte in Tacitus Germania, 3 1923; vgl. G. Wissowa, Die germanische Urgeschichte in Tacitus' Germania, N. Jbb. 24,1921,14ff.

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Exerzierfeld der traditionsgeschichtlichen Methode werden lassen. Es hat allen Deutungsscharfsinn auf sie gezogen, aber die Erklärung des Sachverhaltes auch dadurch verengt, daß diese immer mit den methodischen Postulaten einer gattungstypologischen Betrachtungsweise verbunden war. Nordens Untersuchung ist zu einem wissenschaftlichen Paradigma geworden, das ungeachtet des weiten Spektrums der seither vorgelegten Lösungsvorschläge als solches in Geltung geblieben ist. Seine Möglichkeiten und Grenzen ergebenl sich aus der Forderung, eine literarisch geprägte Aussage aus Sprachgebrauch und Vorstellungsbereich ihrer Gattung abzuleiten. In der Tradition, die einen Text bedingt, soll die Ursache seiner aktuellen Gestaltung gefunden, die Rückwendung auf die sprachlich-formalen und stofflichen Voraussetzungen soll zum Hebel des Verstehens gemacht werden. Was ein Autor, zumal ein senatorischer Historiker wie Tacitus, will, ist jedoch mehr als Reproduktion der Form, der er sich bedient; selbstverständlich will er, indem er sich in eine Formtradition stellt, etwas ausdrücken, das sich nicht aus der Form allein ergibt. Das geltende Interpretationsparadigma berücksichtigt zu wenig die individuellen Motive, Interessen und Absichten des Autors und hat Methoden zu deren Erhellung zu wenig entwickelt, nicht weil dies für unwichtig gehalten würde, sondern wegen der Fixierung auf andere Bedingungen, nicht weil der Blick ins Leben für unerlaubt gälte, sondern weil der ins Papier ihn allzu sehr verstellt4. Alles spricht aber dafür, daß der Historiker, der in den Historien die selbsterlebte Geschichte des Raumes beschrieben hat, den auch die Germania behandelt, von Zeiterfahrung und Erlebnishintergrund nicht minder beherrscht war als von literarischen Vorbildern und dafür, daß ihn die Absicht, seine eigene Sicht der Dinge zur Geltung zu bringen, nicht weniger bestimmte, als der Ehrgeiz, den von Vorgängerleistungen gesetzten Ansprüchen Genüge zu tun. Dazu kommt, daß die eigentliche Intention der taciteischen Monographie über die Germanen merkwürdig unklar geblieben ist, andererseits Versuche, sie aus zeitgeschichtlich-biographischen Impulsen abzuleiten, der Komplexität und Eigengesetzlichkeit der Schrift nicht genügend gerecht zu werden scheinen. Angesichts der hingebungsvollen Bemühungen um den Text und seine traditionsgeschichtlichen Bedingungen fragt es sich, ob dieses Resultat trotz oder vielleicht gerade wegen dieser forschungsgeschichtlichen Gegebenheiten zu verzeichnen ist. 4

Ein verblüffendes Beispiel bei Norden, Urgeschichte 338, wo der Autor in behaglicher Breite berichtet, daß er wegen der Parallelität a Victore - a se ipsis und auf Grund von Thuk. 1, 3, 2 zuerst a se ipsis ,nach sich selbst' übersetzt habe, bis ihm philologische Zuhörer seiner Interpretation deren logische Unmöglichkeit vorgehalten hätten. „Von der Richtigkeit dieses Einwandes überzeugte ich mich bald" - nicht etwa durch Nachvollzug der Argumentation, sondern - „durch genauere Beschäftigung mit der ethnographischen Literatur". - Eine neuere Arbeit (J. Delz, MH 27, 1970, 225) kann etwa einleitend konstatieren: „alle sachlichen Fragen ... müssen ferngehalten werden", um dann zur textkritischen Prüfung von a Victore ob metum überzugdien.

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Aus dieser Beurteilung der Lage ergibt sich freilich ein Ausweg offenbar nicht von selbst. In Arbeiten zum Namensatz wird oft versichert, den Kontext umfassender berücksichtigen zu wollen, um dann doch die Zuflucht in Parallelstellen oder consecutio temporum zu finden; und wie selbstverständlich setzt meistens die Untersuchung bei den Lösungen oder Ungereimtheiten, den Fragen oder Versäumnissen Früherer ein. Nichts wäre auch abwegiger, als die analytischen Ergebnisse der bisherigen Forschung mißachten zu wollen, aber sie müssen übergeordneten Fragelstellungen eingefügt werden. Die folgende Studie sucht einen anderen Zugang zum Problem des Namensatzes, aber ist deshalb dem Forschungsstand nicht weniger verpflichtet5; sie knüpft nicht bei Vorgängern an, aber berücksichtigt deren Ergebnisse überall da, wo der Gedankengang sie berührt.

1

Der Namensatz enthält nicht eine Tatsachenaussage des Autors, sondern dessen Referat der Meinung ungewisser quidam. Diese einfache Beobachtung zu betonen, besteht ein doppelter Anlaß. Der erste liegt in der modernen Neigung, sie zu ignorieren. Steht doch die extensive Befassung mit dem Namensatz durchweg unter der Voraussetzung, hier würden wesentliche Fakten der Volksgeschichte zutage gefördert, und wird darüber die sonst beherzigte Unterscheidung zwischen Fakten und Meinungen gern vernachlässigt6. Wenn der Modus der Mitteilung überhaupt Beachtung findet, bezieht man ihn eher auf die unsichere Überlieferung 5

Folgende Studien zum Namensatz, die im weiteren abgekürzt zitiert werden, sind vor allem benutzt worden: Norden (wie Anm. 3) 312-428; Drexler (wie Anm. 1) 322-29; J.J. Tierney, A Victore ob metum, RhM 107, 1964, 377f.; K. Kraft, Die Entstehung des Namens .Germania' (1970), in: Gesammelte Aufsätze zur antiken Geschichte und Militärgeschichte, 1973, 96-131; J. Delz, Der .Namensatz' und weitere korrupte Stellen in den kleinen Schriften des Tacitus, ΜΗ 27, 1970, 224-41; W. Theiler, Drei Vorschläge zum Namensatz der taciteischen Germania, MH 28, 1971,118-121; T. Pekkanen, Tac. Germ. 2, 3 und der Name Germani, Arctos NS 7, 1972, 107138; H. Koch, Zum Verständnis des „Namensatzes" in Tacitus' Germania, Gymnasium 82, 1975, 426-48; E. Kraggerud, Der Namensatz der taciteischen Germania. Eine philologische Analyse, Det Norske Vidensk. Ak„ Hist.-Fil. Kl. N. S. 16, 1981; G. Dobesch, Zur Ausbreitung des Germanennamens, in: Pro arte antiqua, Festschrift H. Kenner, 1983, 77-99; A.A. Lund, Neue Studien zum Verständnis der Namensätze in der Germania des Tacitus (2, 2 u. 2, 3), Gymnasium 89, 1982, 296-327; D. Flach, Tacitus über Herkunft und Verbreitung des Namens Germanen, in: Alte Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Festschrift K. Christ, 1988, 167-185; G. Perl, Zu zwei loci vexati in Tacitus' Germania (2, 3 u. 33, 2), AArchHung 30, 1982/84 (1988), 343-51; A.A. Lund, ANRW II 33, 3, 1991, 1974-88. 6

Beispiele hierfür etwa: Norden, Urgeschichte 331. 387; Dobesch (wie Anm. 5) 79ff.; H. v. Petrikovits, Germani cisrhenani, in: H. Beck, Germanenprobleme in heutiger Sicht, 1986, 99 f. Mit Recht betonen den Referatscharakter der Stelle dagegen Kraft (wie Anm. 5) 98. 104. 119; Kraggenind (wie Anm. 5) 7.

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als auf den Inhalt der Aussage, und es überwiegt die Zuversicht, in der referierten Nachricht etwas Zuverlässiges zu fassen7. Dagegen ist schon aus methodischen Gründen Einspruch zu erheben. - Der zweite Anlaß liegt in der Tatsache, daß das Referat nicht beiläufig ist; es findet sich nirgendwo sonst in der Germania eine so lange, in indirekter Rede formulierte Wiedergabe unverbürgter Ansichten anderer wie hier. Zwar wird mit dem Hinweis auf die licentia vetustatis die Unzuverlässigkeit von Hypothesen über die origo der Germanen erklärt. Aber der Namensatz beschreibt einen rezentenl Vorgang und kann deshalb unter jenen Vorbehalt nicht mehr gestellt sein8. Es ist auch nicht zu erkennen, warum sich der Autor hier zu einem eigenen Urteil über den Sachverhalt außerstande sehen sollte; mindestens dürfte man angesichts der vermuteten Wichtigkeit der Sache erwarten, daß er dem Leser durch Nennung seiner Gewährsmänner ermöglichte, die Verläßlichkeit der vorgetragenen Meinung abzuschätzen. Deshalb ist der Modus der indirekten Rede ernstzunehmen und zu fragen, was es bedeutet, daß der Inhalt des Namensatzes als fremde Meinung wiedergegeben wird, wer als deren Vertreter zu vermuten ist und wie der Autor selbst zu der von ihm mitgeteilten These steht, genauer gesagt, warum er sich in dieser Form von ihr distanziert. Die aufgeworfenen Fragen können gewiß nicht ohne weiteres beantwortet werden, und in der Forschungsliteratur sind sie nicht gestellt worden; nur die Identität der quidam hat man diskutiert. Schon die Kommentare des 19Jh.s vertreten dazu die kontroversen Positionen, die ohne neue Begründungen bis in die Gegenwart fortgeführt werden und wegen ihrer gewissen Beliebigkeit und Undifferenziertheit wenig befriedigen. Danach sind es entweder germanische Gewährsleute (wegen des Inhalts und des Anschlusses an die Mannusgenealogie), allenfalls vermittelt durch griechische oder römische Autoren9, oder griechische und römische „Gelehrte oder Antiquare" (wegen des Inhalts und des Referatszusammenhanges mit den Nachrichten in с. 3)10. Naturgemäß müssen freilich indigene Informatio-

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Besonders betonen das z.B. Norden, Urgeschichte 410; Perl, Kommentar 133.

Vorbehalte gegen die Verläßlichkeit von origo-Nachrichten sind häufig (ζ. B. Thuk. 1, 1,3 . 21, 2 oder Tac. Agr. 11, 1), und die hier übliche licentia gilt als spezifisch poetisch (z.B. Arr. Ind. 1, 7; Quint, inst. or. 2, 4, 19), wozu der Hinweis auf die carmina antiqua in Germ. 2, 2 paßt. Eine Bezeichnung, die recens et nuper additum ist, gehört aber nicht dazu: mit den ε ύ ρ ή μ α τ α (vgl. nomen invenirej beginnt benennbare Uberlieferung (so ζ. B. besonders deutlich Megasthenes, Indika, FGrHist 715 F 12 = Arr. Ind. 7,4-9). 8

9 So Baumstark, Kommentar 78; Gudemann, Kommentar 56; Lund, A N R W II 33,3, 1985; Perl, Kommentar 132. 10 Für sie treten fast alle modernen Kommentatoren ein: Müllenhoff, D.A. 2, 191 f. 200 und Kommentar 124; auf ihn beruft sich J.M. Mareks, И eine Studien zur taciteischen Germania, Festschrift der 43. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, 1895, 184, auf diesen wieder Lund, Kommentar 114. 117; weiter etwa Schweizer-Sidler - Schwyzer, Kommentar 6; Theiler,

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nen am Anfang stehen, aber Tacitus kann auf solche auch nicht direkt zurückgegriffen haben. Der dazwischenliegende Überlieferungsweg ist jedoch nicht nur undurchsichtig und vermutlich kompliziert, er dürfte auch mit der Alternative: germanische Tradenten oder römische „Gelehrte" nicht zu bewältigen sein. - Mit Recht ist der durch das Referat gegebene Zusammenhang zwischen den § § 2 und 3 betont worden, der verbietet, den Namensatz als isolierte Aussage zu betrachten, aber andererseits deutet seine Einführung mit ceterum eine gewisse Absetzung vom Vorangehenden an, sol daß auch die Möglichkeit verschiedener Quellen offen bleibt11. - Wenn über diese Feststellungen auch zunächst nicht hinauszukommen ist, so muß doch um so nachdrücklicher festgehalten werden, daß die Form des Referats einer Erklärung bedarf. Wessen Meinung oder Meinungen hier vorgetragen werden und warum Tacitus sie als solche weitergibt, sind Vorfragen, ohne die der Inhalt des Gemeinten schwerlich ausreichend beurteilt werden kann. Wenn sich die genannten Fragen durch äußere Kriterien nicht entscheiden lassen, muß man nach inneren suchen, also prüfen, ob irgend ein Anhaltspunkt erlaubt, die im Namensatz wiedergegebene Meinung dem Ungreifbaren zu entziehen. - Es ist nun sehr deutlich, daß ein solcher Anhaltspunkt am ehesten mit der unerwarteten Einführung der Tungrer gegeben ist: Nach Meinung der quidam sind die früheren Germani mit den jetzigen Tungri identisch. Die belgische civitas der Tungrer ist verhältnismäßig gut bekannt12, aber die Zeugnisse über sie beweisen solche Identität nicht und legen nicht einmal nahe, sie anzunehmen. Ohne die Aussage des Namensatzes käme zweifellos niemand auf den Gedanken, die Tungrer der Kaiserzeit mit den Germani (cisrhenani) früherer Zeit gleichzusetzen. Wie kommen also die ignoti dazu? Unsere Frage ist demnach dahin zu ergänzen: Wer ist es, der die Meinung nunc Tungri tunc Germani vertritt? Was ist an dieser Aussage subjektiv und was unterMH 28, 1971, 119. Die Begründung bleibt meistens allgemein (Malenhoff: weil niemand sonst eine Hypothese über den Ursprung des Gennanennamens aufgestellt haben kann), nur Norden, Urgeschichte 378 hat hinter den quidam eine traditionsgeschichtliche Linie von Tlmagenes über Livius zu Plinius erkennen zu können geglaubt 11 Die Annahme eines Quellenwechsels bei Much, Kommentar 60; sie wird durch das o. Anm. 8 erwähnte Argument gestützt. Besonders Kraft (wie Anm. 5) 99ff. hat aber mit Nachdruck den Zusammenhang des Namensatzes mit dem vorangehenden Teil des Referats betont, um die Bedeutungsgleichheit von gens (in nationis nomen non gentis einerseits und gentis appellationes andererseits) damit zu stützen (zustimmend Theiler, MH 28, 1971, 119; Koch, Gymnasium 82, 1975, 427). In der Tat besteht ein formaler Zusammenhang von quidam... affirmant an, das kontrastierend wieder auf celebrant... assignant zurückverweist (dessen Subjekt fraglos die germanischen Träger des ethnogonischen Mythos sind). 12 Vgl. O. Hirschfeld, CIL XIII 573f.; Norden, Urgeschichte 396ff.; K. Scherling, RE 7A, 1948, 1345ff. s.v. Tungri; v.Petrikovits (wie Anm. 6) 95; C.B. Rüger, Germania inferior, 1968, 35ff.; Forschungsbericht: M.-T. und G.Raepsaet-Charlier, ANRW II 4,1975,143ff.

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scheidet sie von einer schlichten Tatsachenfeststellung? Welchen Sinn oder welche Tendenz hat das Referat dieser Ansicht im Rahmen der taciteischen origol Es gibt oft zitierte Nachrichten über germanische Ost-West-Bewegungen: Hierzu gehört Caesars Angabe über die kimbrische Herkunft der Aduatuker (B.G. 2, 29, 4), die den Remern zugeschriebene Aussage über ein allgemeines germanisches Substrat der Belgica13, das mit der von Caesar behaupteten Germanengefahr (1, 33, 3) und der affectatio Germanicae originis der Nervier und Treverer (Tac. Germ. 28, 4; vgl. Strabo 4, 194) in Verbindung gebracht zu werden pflegt. - Für den vorliegenden Zusammenhang ergibt sich daraus nicht mehr als die unbestimmte Vorstellung einer westwärts gerichteten ethnischen Diffusion ohne eindeutige Grenzen. Sicherlichl hat es ja viele Vorstöße und Festsetzungen größerer und kleinerer rechtsrheinischer Gruppen gegeben, möglicherweise viel mehr, als literarisch bezeugt sind14. Aber auf dieses allgemeine Phänomen kann sich die Aussage des Namensatzes gerade nicht beziehen. Es ist entgegen vielen unklaren und anderslautenden Urteilen vielmehr festzuhalten, daß Germ. 2, 3 die .Germanen' mit den Tungrern, also einem einzelnen, verhältnismäßig kleinen und lokalisierbaren Stamm, identifiziert und damit trotz der allgemeinen Formulierung auf einen viel begrenzteren und spezielleren Zusammenhang Bezug nimmt. Der Namensatz verbindet die .Germanen' eindeutig nicht mit jenem generellen Westdruck, sondern mit den caesarischen Germani cisrhenani. 5 Zu dieser Gruppe gehören nach B.G. 2, 4, 10 die Condrusi, Eburones, Caerosi, Paemani, nach 6, 32, 1 auch die Segni (aber vielleicht nicht die Eburonen)16. Hier handelt es sich also um eine präzis zu bestimmende Gruppe, die sicherlich den Namen Germani führte (denn sonst hätte gar kein Anlaß bestanden, gerade sie so zu nennen), dagegen muß cisrhenani eine notwendige Distinktion Caesars sein, um diesen linksrheinischen Stammesbund von der großen, von Caesar angenom13 B.G. 2 , 4 , 2 plerosque Beigas esse ortos a Germanis Rhenumque antiquitus traductos propter loci fertilatem ibi consedisse Gallosque qui ea loca incolerent expulisse. 14

Richtig daher v.Petrikovits (wie Anm. 6) 89. 100, der diese Vorgänge ,4m Lichte eines weltweit verbreiteten völkerkundlichen Modells sehen" möchte (Plünderung der Reicheren durch die Ärmeren und bei Erfolg Landnahmedruck). 15 Vertreter deqenigen, die primi transgressi auf die allgemeine rechtsrheinische Westexpansion beziehen und folglich mit Caes. B.G. 2, 4, 2 (die meisten Belger stammen nach dem Bericht der Remer von Germanen ab) in Verbindung bringen, ist Norden, Urgeschichte 353f. Er möchte 377f. die taciteische Angabe als Korrektur und Kritik der caesarischen Auffassung ansehen. Kraggerud (wie Anm. 5) 14, bemerkt das Problem, seine Lösung erscheint mir jedoch unannehmbar. 16

Vgl. auch 2, 3, 4 (Aussagen der Remer): reliquos omnes Beigas in armis esse, Germanosque qui cis Rhenum incolant, sese cum his coniunxisse; 6, 2, 3 (z.J. 53) Nervios, Aduatucos, Menapios adiunctis Cisrhenanis omnibus Germanis esse in armis. Vgl. Müllenhoff, D.A. 2, 196ff.; Norden, Urgeschichte 379ff.; v. Petrikovits (wie Anm. 6) 88ff.

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menen rechtsrheinischen Gesamtheit aller Germanen zu unterscheiden. Zu den Germani cisrhenani gehörten bereits die ihnen benachbarten Aduatuker trotz ihrer ebenfalls germanischen Herkunft nicht17. Die Germani cisrhenani werden also durch eigene Stammesorganisation, vor allem Militärorganisation, ihre in der Herkunft begründete Sonderstellung verfestigt und wachgehalten haben18, obwohl sie zugleich inl den Gesamtverband der Belger integriert, z.T. auch von anderen gallischen Stämmen politisch abhängig waren19. Zum belgischen Aufgebot stellten sie die beachtliche Zahl von ca. 40 000 Wehrfähigen (2, 4, 10). Anscheinend werden sie oder Abkömmlinge von ihnen noch als linksrheinische germanische Gegner des Drusus bezeugt (Liv. per. 139). Wichtiger als dieses vereinzelte Zeugnis ist es jedoch, daß die Vernichtung der Eburonen durch Caesar den alten Verband offensichtlich zersprengt hat20. Als organisierte Stammesgruppe gab es schon danach die Germani cisrhenani nicht mehr, und die späteren administrativen Maßnahmen Agrippas und des Augustus haben die Konsequenz daraus gezogen. In einem Teil des ehemaligen Eburonenlandes siedelte Agrippa die Ubier an und konstituierte sie als civitas, die auch zur Auxiliarkonskription herangezogen wurde. Im Jahr 50 n. Chr. wurde die römische Colonia Claudia Ära Agrippinensis gegründet, deren Bürger das ius Italicum erhielten (Dig. 1, 15, 8, 2) und in der die peregrinen Stammesubier aufgegangen zu sein scheinen21. In der Liste der belgischen civitates bei Plinius n.h. 4, 106, einer

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B.G. 2, 4, 10; 6, 2, 3 (vgl. auch 5, 38, 1) werden die Aduatuker von den Germani ausgeschlossen, offensichtlich, weil sie e numero (auf Grund der Aufgebotsordnung) nicht zu ihnen gehörten, obwohl sie nach caesarischen Begriffen (durch Abkunft von den Kimbern) .germanisch' waren: 2, 29, 4; vgl. v. Petrikovits (wie Anm. 6) 89; Dobesch (wie Anm. 5) 81ff. - Damit ist die Frage, was vocari heißt, entschieden: Die Germani hießen so, als sie über den Rhein kamen, auch wenn das sprachlich unentscheidbar wäre (mit Möllenhoff, DA. 2, 199; Norden, Urgeschichte 389f.; G. Perl, Consecutio temporum im Namensatz (Tac. Germ. 2, 3), Philologus 133, 1989, 278ff. und Kommentar 134; gegen Kraft [wie Anm. 5] 113; Lund, Gymnasium 89,1982, 318f.). 18

Das ist mit e gente et numero Germanorum gesagt (B.G. 6, 32,1); Norden, Urgeschichte 380 weist mit Recht auf die Einschränkung, die in arbitrari liege, hin und schließt daraus, daß die Germani auf dem belgischen Konvent nicht vertreten waren, auf dem die remischen Gesandten die genauen Zahlen der belgischen Aufgebote erfahren hätten. Auch wenn das zutreffen sollte, wird der ursprünglich militärisch begründete Zusammenhang der Germani damit nicht in Frage gestellt. 19 20

B.G. 2, 3,4; 4 , 6 , 4 . . . Eburonum et Condnisorum qui sunt Treverorum clientes. Caes. B.G. 6, 34, 8 ... ut... stirps ac nomen civitatis tollatur; Vgl. v. Petrikovts (wie Anm. 6)

92ff. 21 Strabo 4, 194; Tac. Germ. 28, 4; ann. 12, 27, 1. Vgl. H. Schmitz, RE 8 A, 1955, 533ff. s.v. Ubii; R. Hanslik, RE 9 A, 1961, 1234 s.v. M. Vipsanius Agrippa; H. v. Petrikovits, Rheinische Geschichte I, 1978, 53. 308; Rüger (wie Anm. 12) 3ff.;0. Doppelfeld, Das römische Köln I, ANRW II 4, 1975, 715ff. - Hilfstruppen: K. Kraft, Zur Rekrutierung der Alen und Kohorten an Rhein und Donau, 1951, 35ff.; G. Alföldy, Die Hilfstruppen in der römischen Provinz Germania

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schwer zu interpretierenden Quelle22, erscheinen Germani cisrhenani nicht mehr, wohl aber zum ersten Mal die Tungri neben Sunuci, Frisiavones und Baetasi. Darauf gründet sich der berechtigte Schluß, daß im Zuge der Neuordnung der gallischen civitates unter Augustus auch die Tungrer zur civitas erhoben wurden, kaum als neuangesiedelter Stamm, sondern eher als verselbständigter und vergrößerter früherer Teilstamm auf dem Gebiet und aus der ethnischen Erbschaft der alten Germani cisrhenani, insbesondere der Eburonen (s. Anm. 12). Aduatuca wird Vorort, die Condrusi (der einzige erhaltene der alten Namen) erscheinen als pagus der civitas Tungrorum. Diel neue Organisation überschneidet also die alte: Die civitas der Tungrer umfaßt Gebiete und Bevölkerungsgruppen, die den Germani cisrhenani nicht gehörten und schließt solche aus, die ihnen gehörten. Die neue civitas wird in diesem ihrem Umfange zur Auxiliarrekrutierung herangezogen. Die Einheiten der Tungrer sind dabei typisch für die in Gallien übliche Rekrutierungspraxis, sie stehen nämlich unter Präfekten aus dem eigenen Stamm und werden im Aushebungsgebiet verwendet23. Die Tungrer sind also nicht identisch mit den Germani cisrhenani, aber sie stehen weitgehend in ihrer Kontinuität. Sie setzen weder rechtlich noch territorial den alten Gesamtverband fort und stellen auch keinen aus ihm verselbständigten Teil dar; die neue civitaj-Einteilung nahm auf die Organisation der alten Stammesgruppe keine Rücksicht. Aber ethnisch sind die Tungrer doch Erben der Germani cisrhenani, die in ihnen - wenn auch nicht exklusiv - fortleben. Durch die Ansiedlung der Ubier sowie der Bataver nördlich von ihnen, vielleicht von Kontingenten Deportierter24, hat sich außerdem am herkunftsmäßig germanischen Charakter dieser belgischen Populationen nichts geändert. Aus diesem Befund ergibt sich zweierlei: Die Behauptung in Germ. 2, 3, die jetzigen Tungrer hätten bei ihrer Landnahme Germanen geheißen, kann sich in der Tat nur auf die Stammesgruppe der Germani cisrhenani Caesars beziehen; nur in diesem begrenzten Felde hat sie einen Sinn, mit allgemeiner germanischer Westexpansion hat sie nichts zu tun. Gleichwohl stimmt die Gleichung von Germanen und Tungrern aber auch nicht exakt, sie ist mindestens grob vereinfacht; inferior, 1968, 73ff.; J. Smeesters, Les Tungri dans Гагтёе romaine. Etat actuel des nos connaissances, Studien zu den Militärgrenzen Roms II, 1977, 175ff. - Das Verhältnis der civitas Ubiorum zur colonia Agrippinensium (vgl. Rüger [wie Anm. 12] 76ff.) ist wahrscheinlich aus Tacitus nicht präzis zu entnehmen, um so deutlicher aber die Vorstellung politischer Identität (Germ. 28, 4. hist 4, 28, 1; 4, 63, 2 in colonia Agrippinensi... transrhenanis gentibus invisa civitas ... aut disiecta (sedes) Ubios quoque dispersisset Im Sinne dieser Auffassung wird im Folgenden von Ubiern, Agrippinensern oder Kölnern gesprochen. 22 73

Vgl.Norden, Urgeschichte 383ff.; v. Petrikovits (wie Anm. 6) 94f.

Rüger (wie Anm. 12) 35ff.; Alföldy (wie Anm.21) 38ff. 73. 77; Smeesters (wie Anm.21) 175 ff. 24 SueL Tib. 9; Tac. ann. 12, 39, 2; vgl. Rüger (wie Anm. 12) 8ff. 34.

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sie trägt den Verhältnissen nicht korrekt Rechnung, und es fragt sich, was das für einen Grund hat, da doch die unerwartete Feststellung auch nicht beiläufig und unerheblich sein kann. 2 Eine Antwort darauf kann glücklicherweise den Quellen entnommen werden. Denn die reichen und detaillierten Nachrichten der taciteischen Historien aus der Geschichte des Bataverkrieges bestätigen und ergänzen unsere Kenntnis der Tungrer, und sie müssen wir prüfen, um dem Sinn der taciteischen Gleichung Germani (cisrhenani) - Tungrer auf die Spur zu kommen. Vitellius hatte zwei Tungrerkohorten mitgenommen, die in verlustreiche Kämpfe gegen die Othonianer in der Narbonensis verwickelt wurden, bei denen sie ihre Präfekten verloren; nach 70 wurden sie nach Britannien versetzt25. Eine weitere Kohorte, die in der Belgica geblieben war, gehörte zu dem römischen exercitus, dem Civilis nach dessen Rebellion (hist. 4, 15) im oberen Teil der insula Batavorum nahe dem Rhein eine Schlacht liefern sollte. Bei dieser Gelegenheit ging die tungrischel Einheit zu Civilis über und löste damit (improvisa proditione a sociis hostibusque) die Niederlage der römischen milites aus (hist. 4, 16, 2). Freilich hatte deren Verband unter Führung des Primipilars Aquilius mehr den Namen als die Stärke eines exercitus, weil Vitellius die besten Kräfte aus den Kohorten herausgezogen hatte und: e proximis Nerviorum Germanorumque pagis segnem numerum armis oneraverat (4, 15, 3). Offenbar waren also die Kader durch tumultuarisch rekrutierte Leute aufgefüllt worden, die man um der landsmannschaftlichen Geschlossenheit der Einheit willen aus dem alten Rekrutierungsgebiet und seiner Umgebung entnahm. Es werden neben Nerviern nicht ausschließlich Tungrer gewesen sein (sonst würde man Tungrorum statt Germanorum erwarten), aber doch auch solche und außerdem ihre Verwandten und Nachbarn26. Um diese Herkunft auszudrücken, gebraucht der Historiker bzw. seine Quelle wohl den Ausdruck e proximis ... Germanorum pagis, greift also auf den alten Germanennamen zurück. Auch hier decken sich die Namen Tungrer und Germanen demnach nicht, wenn auch die Tungrer der wichtigste und der politisch-militärisch organisierte Teil der alten Geimanengruppe sind, bei dem auch Name und Erinnerung an den alten Zusammenhang erhalten geblieben waren. - Nach dem Übertritt ihrer Kohorten entläßt Civilis die gefangenen Präfekten in ihre civitates, um diese damit für sich zu gewinnen (4, 17, 1); einmal mehr verdeutlicht das den Zusammenhang zwischen Hilfstruppe und Heimatstamm.

25 26

Hist. 2,14f. 28 (CILXII16). Vgl. Alföldy (wie Anm.21) 73; Smeesters (wie Anm.21) 179. Aber nicht etwa Bataver, wie Norden, Urgeschichte 403 vermutete.

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Tacitus hebt nicht nur die militärische und politische Bedeutung dieser Wende hervor, sondern streicht auch die damit ausgelöste Bereitschaft der Rechtsrheinischen zum Eingreifen stark heraus (4, 17, 1). In der dramatischen Kettenreaktion dieser Abfalls- und Solidarisierungsgeschichte ist der Verrat der Tungrer aber das auslösende Moment. - Schwach bleiben demgegenüber die Gegenkräfte: der unfähige und hilflose Legat Hordeonius Flaccus, die Legionäre von Vetera, denen beim Einsatz auf der insula wiederum die Auxilien davonlaufen, und die sich mit Mühe in ihr Lager flüchten (4, 18). Während Civilis seine batavischen Landsleute aufruft und die rechtsrheinischen Germanen in Bewegung setzt27, sind die Legionen gelähmt durch Mißtrauen und Insubordination unter ihre vespasianisch gesinnte Führung (4, 13. 24. 27, 3), das Fehlen militärisch effektiver Hilfstruppen28 und den Abfall der benachbarten civitates (4, 25, 3). In dieser Lage erweist sich als positiver Faktor nur die (zwanzig Jahre alte) colonia Agrippinensium. Die von Civilis herbeigeholten, von Süden zu ihm stoßenden Bataverkohorten meiden die Stadt (4, 20, 4), die den besonderen Haß des Civilis auf sich zieht: quod, gens Germanicae originis eiurata patria Romanorum in nomen Agrppinenses vocarentur (4, 28, 1). Die Kohorten der Ubier aber erweisen sich als treu, wennl auch nicht besonders erfolgreich (4, 28, 2f.), und ihre Niederlage ist es, die Civilis die dreiste Offensive gegen Vetera erlaubt (4, 28, 3). Als sich nach dem Ende des Vitellius der Aufstand des Civilis endgültig als antirömisch statt als proflavianisch enthüllt und er im Zeichen der Freiheit mit der gallischen Rebellion zusammenfließt, kommen die Führer in Köln zusammen, aber privat, denn: publice civitas talibus inceptis abhorrebat. Allerdings befanden sich einige Ubier und Tungrer auf der Seite der Verschwörer (4, 55, 3). Diese neue Frontbildung führt zur Verbindung ganz Galliens und zur schmählichen Auflösung der Legionsverbände. Auf der Höhe ihrer Macht schwanken Civilis und Classicus, ob sie Köln ihren Heeren zur Plünderung preisgeben sollen, obwohl die Kölner sich den Eid pro imperio Galliarum haben aufzwingen lassen (4, 59, 3). Zwar gibt Civilis aus persönlichen Gründen den Plan wieder auf (4, 63, 1), aber seine rechtsrheinischen Bundesgenossen machen ihn sich um so eifriger zu eigen: transrhenanis gentibus invisa civitas opulentia auctuque. Ihnen erscheint die Vernichtung der Stadt geradezu als krönender Abschluß des Krieges (4, 63, 2), und als ihre Sprecher verlangen die Tencterer von den Kölnern die Selbstaufgabe; nur mit Mühe und diplomatischem Geschick kann sie abgewendet werden (4, 64f.).

27 Hist. 4, 19-21. 21, 2 (Civilis) incensus ira universam Batavorum gentem in arma rapit; iunguntur Bructeri Tencterique et excita nuntiis Germania ad praedam famamque. Dem entspricht 28,1 Civilem immensis auctibus universa Germania extollebat. 28

Hist. 4, 20, 2. 24,1. 25, 1 - 3. 26, 1

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Civilis gelingt es dann, auf das taktische Bündnis mit den Agrippinensern gestützt, das zwischen Tungrern und Ubiern gelegene Gebiet der Sunuker zu besetzen und eine neue, von seinem Rivalen Labeo zusammengebrachte Einheit, zu der auch Tungrer gehören, zum Anschluß zu bringen. Zwei primores der Tungrer übergeben Civilis daraufhin den Stamm (universam gentem); erhebliche Machtsteigerung des Bataverführers und der Beitritt der benachbarten civitates sind die Folgen dieses Durchbruches. - Aber als das Blatt sich durch die Tatkraft des Cerialis endlich wendet, bitten ihn die Kölner sogleich um Hilfe, bieten die Auslieferung der Angehörigen des Civilis an, ermorden die sich bei ihnen aufhaltenden Germanen und vernichten die beste, aus Chauken und Friesen bestehende Kohorte des Civilis durch einen Hinterhalt (4, 79, 1-2). Die Kolonie erweist sich damit erneut als romtreu gesinnt, und Cerialis befreit sie endgültig aus der Gefahr, während die Tungrer und Nervier durch die vorrückende 14. Legion zur Dedition gezwungen werden (4, 79, 3). In diesem dramatischen Kräftespiel fallen also den Agrippinensern auf der einen Seite, den Batavern und Tungrern auf der anderen Hauptrollen zu. Die faktisch wichtigsten Gegner der zu römischen Agrippinensern gewordenen Ubier sind gewiß die Bataver des Civilis, ohne deren römisch geschulte Planmäßigkeit auch die wütendsten, die rechtsrheinischen Germanen eine kraftlose Bedrohung bleiben; aber die Tungrer als die wichtigsten Nachbarn der Kolonie auf dem alten Eburonenboden (wenn die kleine civitas der Sunuker vernachlässigt werden darf), erscheinen beinahe als ihre intimsten Gegenspieler. Sind sie es doch, die als civitas ebenso wie die Kolonie eine römische Organisationseinheit im Gebiet der alten Germani cisrhenani bilden29, aber anders als diese (patria eiurata) die Erinnerung an Herlkunft und Vergangenheit bewahren. Dementsprechend verschieden verlaufen Entscheidungen und Schicksalslinien der beiden Nachbarn im Kriege: Die Kölner werden zu treuen und schwergeprüften Verteidigern der römischen Ordnung, die Tungrer gehören zu denen, die der falschen Freiheitsverführung des Civilis und dem fadenscheinigen Appell an germanische Solidarität aus eigener Schuld immer wieder erliegen und dafür büßen müssen. Dieser Gegensatz ist zu deutlich, um nicht als Motiv des Tacitus erkennbar zu sein. Er wird aber auch im gedanklichen Netzwerk von Reden und Gegenreden, kompositionellen Bezügen und Leitmotiven durch den Historiker so entschieden herausgearbeitet und ideologisch überhöht, daß an seiner zentralen Stellung im historischen Denken des Tacitus kein Zweifel bestehen kann. Offensichtlich liegt in der exemplarischen

29 Das parallele Nebeneinander von Agrippinensern und Tungrern bleibt bis in die Spätantike bestehen: Amm. Marc. 15, 11, 7 secunda Germania ... Agrippina et Tungris munita, civitatibus amplis et copiosis; Notitia Gall. 8 in prov. Germania II... metropolis civitas Agripinensium, civitas Tungrorum. - Treffend schildert den Gegensatz der civitas Tungrorum als des Landes älterer Stammeseinheiten zur römisch-militärisch organisierten Rheinzone Rüger (wie Anm. 12) 38.

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Bedeutung des Bataverkrieges für den von Tungrern und Ubiern repräsentierten Gegensatz auch der Grund für seine ausführliche Darstellung in den Historien30. Betrachten wir deshalb noch diesen .ideologischen Überbau'. 3 Die Rebellion des Civilis strebt nach der Freiheit. Als Civilis seinen ersten Sieg errungen hat, feiern Gallien und Germanien den Rebellenführer und seine Mitverschworenen als auctores libertatis (4, 17, 1), und ebenso gilt die Erhebung der Gallier (4, 54, 3) als Gewinnung der Freiheit. Dem entspricht das Selbstverständnis sowohl des Civilis (4, 32, 3) wie das der gallischen Führer (4, 78, 1). Es ist eine Freiheit, in deren Verständnis aufständische Gallier und Bataver ebenso wie rechtsrheinische Germanen einig sind, die jedoch die Kölner nur wider besseres Wissen und in diplomatischer Verstellung in den Mund nehmen (4, 65, 1). Ihr Gegensatz ist das servitium der römischen Herrschaft (4, 14, 2. 17, 4. 32, 2), ein Sklavendasein (4, 14, 2), dessen Quintessenz Steuerbelastung und Aushebung darstellen. Diese Freiheit bedeutet also Verneinung der Ordnung Roms (4, 64, 2); es ist die Freiheit der wilden Tiere (4,17, 5)31, die nur in den Grenzen der eigenen Kraft ein Ende findet (4, 55, 4), historisch aber in der vorrömischen Vergangenheit der Stammeswelt und des Stammesruhms ihren Ort hat (4, 14, 2). - Es wird bereits aus diesen topischen Zügen und ohne alle „römische" Gegenrede hinreichend klar, daß es sich um den eindeutig negativ bestimmten Freiheitsbegriff der Romfeindschaft handelt.1 Die Äußerungen aus römischem Munde und römischer Perspektive explizieren die immanente Entlarvung dieses Freiheitsanspruches aber in andere Richtung. Freiheit bedarf der Freiheit anderer und der Begrenzung um positiver Ziele willen. Es ist nach Tacitus der größte und sträflichste Irrtum der Rebellen, daß sie die gewachsene und bewährte, durch Mißstände allenfalls belastete (4, 14, 1. 74, 2), aber nicht entscheidend in Frage gestellte societas des Imperiums einem durch Erfahrung und Vernunft nicht zu rechtfertigenden Bündnis mit rechtsrheinischen Helfern im Zeichen der Freiheit opfern wollen (4, 76, 1). Die illusionäre Solidarität der gentes - vermeintlich gegründet in naturhafter animalischer Freiheit und genährt durch scheinbare Hilfsbereitschaft der germanischen Nachbarn (4, 17, 1. 61, 6) - beruft sich auf das pseudohistorische Argument, daß die Römer nur mit Hilfe ihrer Verbündeten die Macht gewinnen konnten, also eigentlich Minderheit ohne die Chance dauerhafter Herrschaft seien (4, 17, 3), und auf das pseudoef/mi30 Hist. 4, 12, 1 id bellum quibus causis ortum, quanta externarum sociarumque gentium motu flagraverit, altius expediam. 31 Vgl. Seneca, dial. 4, 2, 15,1-4 (liberae gentes ut Germani et Scythae) non enim humani vim ingenii, sed feri et intractabilis habent

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sehe Argument, daß die Verwandtschaft der Stämme ein stärkeres Bindemittel sei als die Interessengemeinschaft der römischen Ordnung (4, 14, 4. 65, 1). Demgegenüber betrachten die römischen Repräsentanten zunächst die unleugbare Erschütterung des Systems durch den Bürgerkrieg als kontingenten historischen Vorgang, der zur Bestreitung der Herrschaftslegitimation nicht gebraucht werden könne. Im übrigen entlarven sie die angebliche historische Freiheit als Zustand einer fortschreitenden Desorganisation, der die römische Herrschaft zwangsläufig herbeigeführt habe und dauerhaft legitimiere (4, 73, 2), und enthüllen die scheinbare Solidarität der rechtsrheinischen Verbündeten der Rebellen als nackte Habgier und gemeine Beutesucht (4, 21, 2. 63, 1. 73, 3) ohne politische Grundlage (4, 76, 1-2). Damit wird der Freiheitsanspruch der Rebellion auf allen Ebenen als haltlos zurückgewiesen und werden die Axiome der Gegenseite als ideologisch verbrämter Egoismus oder Irrtum desillusioniert: Weder die gegnerische Beurteilung der historischen Ausgangslage noch die Einschätzung der politischen Konstellation durch die Rebellen, auch nicht ihre Wertung der geschichtlichen Potenzen halten einer gründlichen Prüfung stand. Ist damit die gedankliche und argumentative Struktur, die Tacitus über das Geschehen des Bataverkrieges gelegt hat, beschrieben, so wird sie konkretisiert und veranschaulicht vor allem in zwei Reden: derjenigen der Tenkterer in Köln und der des Cerialis gegenüber den geschlagenen Lingonen und Treverern. Nach Umfang und kompositioneller Stellung sind sie zentral und so aufeinander bezogen, daß man sie als Knotenpunkte des gedanklichen Programms des Historikers verstehen muß. Den Tenkterern, Vertretern der gentes transrhenanae, wird eine konzise und konsequente Position zugeschrieben (4, 64); sie wirkt um so schärfer, als sie von der Rheno discreta gens, den unmittelbaren räumlichen Nachbarn der UbierAgrippinenser rechts des Rheines, vertreten wird und der ferocissimus unter ihnen sie auf die Spitze treibt. Die Annahme der Freiheit ist danach identisch mit der Rückkehr in die aktuelle Lebensgemeinschaft der germanischen Stämme und mit der Regression zur Gentilgesellschaft. Liberi inter liberos werden die Kölner deshalb nicht sol sehr mit dem erzwungenen politisch-militärischen Anschluß an die Rebellion als mit der mörderischen Vernichtung der Assimilationsergebnisse von Generationen: der Stadt als Zentrum von Sicherheit, Wohlstand und Zivilisationstechniken, in der die Bindungen der Stammesgesellschaft von der Personalrechtsordnung der römischen Provinzialherrschaft abgelöst worden sind. Es sollen also die cives Romani als fremde Herrschaftsträger oder Kollaborateure umgebracht und ihr Besitz vergesellschaftet werden, die Schutzfunktion der Stadt (durch Einreißen der Mauern) aufgehoben und ihr Lebensstandard auf vorrömische Verhältnisse reduziert werden. In der ungeschiedenen Gemeinschaft mit den alten rechtsrheinischen Nachbarn werde dann ein sincerus et integer populus er-

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stehen. Schon die Umstände entlarven den Angriff auf die städtische Sicherheit als Machtanspruch der Tenderer und ihre Egalisierungsforderung als Ausdruck von Neid und Habgier (4, 63, 2); dazu enthüllt nun die Rede selbst, daß die angebliche Befreiung der Ubier von faktischen und rechtlichen Schranken der römischen Ordnung die schlimmere Absperrung von der Zivilisation bringt, der Rückgang auf die angebliche sinceritas des geschichtlichen Anfangs eine Vision ist, deren Verwirklichung nur zu Mord und Terror führt. Die Cerialisrede (4, 73-74) ist singular als Ansprache eines römischen Feldherrn an Besiegte, deren Haltung und Verhalten damit eine Bedeutung zugebilligt wird, wie man sie gewöhnlich nur der - durch feldherrliche Adhortation zu steigernden - Einsatzbereitschaft der eigenen Krieger beimißt. Wenn die germanischen Romfeinde die romtreuen Agrippinenser mit brutalen Forderungen in i h r e dauernde amicitia societasque zu zwingen suchen, so sollen die Argumente des Römers die abtrünnigen Gallier vom höheren Sinn und historischen Recht der r öm i s c h e n societas überzeugen. Dem historischen Konkurrenzverhältnis zwischen Germanen und Römern entspricht das Ringen um die Bundesgenossen, und deshalb korrespondieren auch die Argumente der beiden Reden einander. - Das Freiheitsprogramm verwirklichen hieße, regna bellaque per Gallias, die Labilität und Brutalität der Stammesgesellschaft, wiederherstellen; libertas lautet nur ein Vorwand der Habgier und Herrschsucht. Römische Herrschaft dagegen ist historisch gerechtfertigt (nulla cupidine, sed maioribus vestris invocantibus) und durch personale Unzulänglichkeiten nicht widerlegt; ihre militärischen und finanziellen Auflagen sind solidarische Leistungen, die allen zugute kommen. Sie gewährleistet die zivilisierte Ordnung, und ihr Sturz wäre das exitium aller. Die Rechtsgemeinschaft der imperialen Reichsgesellschaft versöhnt den historischen Gegensatz zwischen Siegern und Besiegten, bietet gestufte soziale Chancen und die Segnungen des Friedens für alle und verdient deshalb Liebe und Wertschätzung - jene emotionellen Bindungen, die sonst die als Abstammungsgemeinschaft verstandene Gentilgesellschaft zusammenhält. Gefühlsmäßige und verwandtschaftliche Verbindungen mit den Rechtsrheinischen sind dagegen eine Illusion, die durch die geschichtliche Erfahrung vielfach als eine solche erwiesen wird. Zu verhindern, daß aus ihr Emst werde, ist die Aufgabe der römischen Wacht am Rhein, an der die Beschützten selbstverantwortlichen Anteil haben und die sie sich um ihres eigenen Vorteils willen zu eigen machen müßten.l Ist damit jedem Argument der Tencterer eine römische Erwiderung entgegengestellt, so entspricht auch der Perspektive, die germanischer ferocitas zugesprochen wird, eine römische: die Konzentration auf das Problem der Rheingrenze. Germanische Aggressivität (terram Gallorum ingredi), durch das Kulturgefälle zur historischen Konstante gemacht, hat angeblich seit Kimbern und Teutonen den römischen Schutz erfordert und macht ihn auch weiterhin zur Aufgabe der Zu-

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kunft (ne quis alius Ariovistus regno Galliarum potiretur). Mit aller Deutlichkeit wird so eine Linie von den Kimbern über Ariovist zu Civilis konstruiert. Germanische Brüderschaft und Hilfe in Anspruch zu nehmen und die am Rhein errichtete Schutz- und Zivilisationsgrenze niederzureißen, heißt dagegen wie eh und je nicht nur die Realität verkennen, sondern auch, dafür die Strafe erleiden: die Verknechtung und Ausbeutung durch die, denen socii und hostes gleich sind. Die Alternative für die Gallier heißt darum: contumacia cum pernicie oder obsequium cum securitate. Was ihre Verführer als servitium denunzieren, ist friedliches Gedeihen in der societas der Sieger und Besiegten, was sie als Freiheit und Beseitigung des servitium ausgeben, vielmehr Rückfall in die Barbarei der Häuptlingsdespotie und die Preisgabe an ihre räuberischen germanischen Hilfsvölker. In diesem Gedankengefüge und seinen Polaritäten ist die historische Deutung des Bataverkrieges und der gallischen Rebellion durch Tacitus enthalten. Unbestritten ist ihm der selbstverschuldete römische Bürgerkrieg Anlaß der Krise, mag man ihn als schicksalsverhängte Wende überschätzen oder als statistisch erwartbare Panne (Cerialis) verharmlosen. Die Ordnung des römischen Siegers ist angelegt auf Gewinnung der Besiegten und deren Einbindung in die solidarische Gemeinschaft der Reichsgesellschaft, die zugleich Schutzgemeinschaft nach außen, an der von Caesar postulierten und von Augustus befestigten Rheingrenze, ist. Damit werden ethnische Zusammenhänge zerschnitten (denn es gibt alte und auch in römischer Zeit neu hinzugekommene Populationen germanischer origo links des Rheins), aber sie werden, solange die Solidarität gegenüber dem Reichsgedanken trägt, auch entwertet. Deshalb kann ,Rheingrenze' zum Symbol und zur Chiffre romtreuer Gesinnung werden und .Bündnis mit Germanen' Heimkehr in corpus nomenque Germaniae heißen; deshalb schafft die Zugehörigkeit zur Reichsgesellschaft neue Bindungen und Loyalitäten, ohne zur Verleugnung der Herkunft zu zwingen, während der Abfall von der Zivilisationsgemeinschaft des Imperiums die Gentilgesellschaft mit ihrer Betonung der Blutsverwandtschaft32 reaktiviert. Dem Einsichtigen bedeutet freilich das Bündnis mit Rechtsrheinischen nur, daß die Schleusen der Habgier, Grausamkeit und Verelendung geöffnet werden; ihm ist der Rückgriff auf Volkstumsautonomie und eine normative freiheitliche Vergangenheit eine haltlose ideologische Parole33. Aber dieser Einsicht steht gleichwohl das Faktum einer ungelheuren Gefährdung gegenüber, wo die rebellierenden

32 Vgl. hist. 4, 61, 3 pauci centurionum tribunorumque in Gallia geniti reservantur pignus societati. 33

Das wird offenkundig etwa, wenn der Trevererführer und Alenpräfekt Classicus auf den Ruhm königlicher Ahnen pocht (regium Uli genus et pace belloque Clara origo, ipse e maioribus suis hostis populi Romani quam socios iactabat), und der Lingone Iulius Sabinus als Führer der Verschwörung sich gleichzeitig der illegitimen Abkunft von Caesar rühmt (hist. 4,55,1-2).

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Stammesfürsten zugleich römische Auxiliaroffiziere und ihre Aufgebote römisch geschulte Einheiten sind.

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Nach dieser Ausleuchtung zeitgeschichtlicher Hintergründe kehren wir zur Ausgangsfrage zurück, als wessen Meinung die Aussage nunc Tungri tunc Germani anzusehen sei, welche Tendenz sie habe, warum Tacitus sie im Zusammenhang seiner germanischen origo referiere. Die Identifizierung der Germanen mit den Tungrern, so sahen wir, zwingt - wie immer sie im übrigen zu beurteilen ist - zu dem Schluß, daß bei den Germanen, die ,als erste den Rhein überschritten', nicht an die weiträumige und langfristige Infiltration rechtsrheinischer Invasoren gedacht ist, sondern ausschließlich an die Germani cisrhenani im Sinne Caesars, die scharf umgrenzte Stammesgruppe zwischen Rhein und Maas, die nicht einmal alle Ansiedler rechtsrheinischer Herkunft in der Belgica umfaßte. Andererseits kann die von Caesar vielfach bezeugte, angedeutete oder befürchtete germanische Ausbreitung nach Westen nicht als ganze auf die Vorgänger der Tungrer zurückgeführt werden; denn diese lokal klar umrissene Population hatte weder mit nervischem Germanensubstrat noch mit Kimbern noch auch mit Ariovistsueben etwas zu tun und konnte diesen weitabliegenden Invasoren gegenüber auch keine Priorität beanspruchen. Hätte es bei ihnen gegen alle Wahrscheinlichkeit eine dahingehende Tradition gegeben, so müßte Caesar sie berücksichtigt haben, der aber ganz anderen Modellvorstellungen folgt34. Später wurden Caesars Anschauungen bestimmend, und kann deshalb die Annahme, die Vorgänger der Tungrer seien die ersten rechtsrheinischen Invasoren überhaupt gewesen, auch nicht aufgekommen sein.l Demnach gibt die taciteische Nachricht nur eine relativ isolierte, von Caesar ganz unabhängige Spezialtradition wieder, die gewiß ihre Berücksichtigung in der 34

Caesar teilt eigene Beobachtungen mit über Ariovistsueben, Usipeter, Tenkterer, Treverer und Nervier, aber nur beim Eburonenfeldzug über Germani cisrhenani (6, 32). Er beruft sich auf Informationen der Haeduer (1, 31-32. 37), der Remer (2, 3-4) o d » Ubier (4, 16; 6, 29), aber nicht der Germani cisrhenani. Und das bekannte allgemeine Schema der gesamtgermanischen rechtsrheinischen Aggression summiert sich aus jenen Berichten (vgl. G. Walser, Caesar und die Germanen, 1956); aufschlußreich besonders 4, 6 (Feldzug gegen die Usipeter und Tenkterer): Aufgrund von Bündnissen .einiger civitates' kommen die Germanen über den Rhein: qua spe adducti Germani latius iam vagabantur et in fines Eburonum et Condrusorum, qui sunt Treverorum clientes (vgl. o. Anm. 19), pervenerant Caesar beruhigt die Gallier, befiehlt die Stellung von Auxilien und: bellum cum Germanis gerere consütuit - Hier werden die Stämme der Germani cisrhenani also ganz als Gallier betrachtet, und die germanisch-rechtsrheinische Aggression richtet sich auch gegen sie. Es besteht danach keinerlei Anlaß, Caesar die Auffassung zu unterstellen, diese Germani cisrhenani wären ihrerseits die Spitze der rechtsrheinischen Invasionstendenz.

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Germania zunächst dem Vorkommen des Germanennamens verdankt. Nur der Umstand, daß es ihr zufolge wirkliche Namensträger, Germanen der Selbstbezeichnung nach, waren, die ,als erste den Rhein überschritten und in den jetzigen Tungrern fortleben', legte nahe, diese Tradition im Kontext der origo in Germ. 2 zu verwenden. Aber Tacitus tat das immerhin im Wissen um ihre subjektive Einseitigkeit und Begrenztheit; er kennzeichnete deshalb die Aussage als Meinung anderer, für die er sich nicht verbürgte. Es ist eine Aussage, die sich nicht nur bloß auf eine kleine Gruppe belgischer Germanen bezieht, sondern auch spezielle Kenntnis von deren Geschichte verrät; deshalb spricht alles dafür, die unbekannten Repräsentanten der referierten Meinung statt unter „römischen Gelehrten und Antiquaren" unter provinzialrömischen Informanten aus dem nächsten Umkreis der linksrheinischen Germanengruppe selber zu suchen. Können es dann nicht die Tungrer selbst sein, die sich rühmten, die ursprünglichen Träger des Gejmanennamens zu sein und als solche allen rechtsrheinischen Populationen insgesamt ihren Namen gegeben zu haben? - Abgesehen davon, daß nichts für eine solche Tradition spricht, wäre zu fragen, ob der Namenszusammenhang als Erklärung dafür ausreicht, daß Tacitus sie aufgegriffen und referiert hätte. Die Antwort gibt die Tendenz der Aussage, die seinerzeitigen Germanen seien die jetzigen Tungrer, wie sie sich aus dem zeitgeschichtlichen Kontext erschließen läßt. Es hat sich gezeigt, daß die Position, die in den taciteischen Historien die Tenkterer gegenüber den Kölnern vertreten, in den Ausführungen des Cerialis ihr schlüssiges Gegenstück hat. Die Haltung der Kölner erscheint umgekehrt als Exempel eines der Cerialisrede konformen Selbstverständnisses, das, der eigenen Ursprünge bewußt, doch den Appell an die Freiheit der Stammesgesellschaft als grandiose Täuschung und Gefährdung der eigenen Existenz ablehnen läßt. Diese Haltung bildet darum die geeignete Folie für den gefährlichen Irrtum - und eigenen Schaden - derer, die sich mit den Germanen solidarisieren oder selbst als Germanen reklamieren lassen. - Zu denen, die den Verführungen der Parolen von 69 erlagen, gehörten die Tungrer. Sie waren als Nachbarn der ubischen Agrippinenser auf dem Boden der alten Germani cisrhenani besonders geeignet, die andere Möglichkeit zu repräsentieren, die Krieg und Krise den gallischen civitates zuspielten. Die Germani cisrhenani hatten bereits in der Eburonenkatastrophe ihren organisatorischen Zusammenhang und Namen verloren; an ihre Stelle waren neue civitates mit anderer Organisation und veränderten Grenzen getreten, die teilweise - wie eben die Tungrer und Sunuker - ethnisch die Eiben der Germani cisrhenani waren und vielleicht intern etwas von deren Tradition fortführten, teilweise aber auch - wie die Ubier - damit nichts zu tun hatten, obwohl sie gleichfalls - im weiteren und allgemeinen Sinne - germanisch waren. Deshalb war es in der politischen Auseinandersetzung der Bürgerkriegszeit situationsgerecht, wenn die romtreuen Kölner ihren Nachbarn auf eburonischem

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Siedllungsboden Rückfall in die Ursprünge vorwarfen und die Tungrer in polemischer Zuspitzung und entlarvender Absicht Germani (cisrhenani) nannten; sie gaben damit der politischen Parteinahme ihrer feindlichen Nachbarn und Verwandten ein griffiges Etikett, das zu den ideologischen Fronten paßte, die der Aufstand aufgerissen hatte. Das im Namensatz enthaltene Referat lautet in direkter Form also etwa: ,Die Tungrer sind ja nur jene alten Germani cisrhenani, die vor uns über den Rhein gekommen sind und die Vorbewohner vertrieben.' Denn die Kennzeichnung der Einwanderer als primi, die keinen Prioritätsanspruch der Tungrer gegenüber allen rechtsrheinischen Invasoren bedeuten kann, bekommt erst jetzt einen prägnanten Sinn. Die Germani-Tungri waren nach Ansicht der Vertreter dieser Meinung zeitlich vor ihnen selber da, waren früher in ihren linksrheinischen Sitzen als Ubier und Bataver. Die Behauptung, die jetzigen Tungrer seien die seinerzeitigen Germanen - nunc Tungri tunc Germani - erklärt sich also als Schlagwort aus der Kampf- und Konfliktsituation des Bataverkrieges, als Kennzeichnung aus dem Munde politischer Gegner der Tungrer, wie die Kölner sie waren, und als Polemik, die Kenntnis des historischen Hintergrundes voraussetzte. Diejenigen, die in der Not die ansässigen Römer ihre Väter, Brüder und Kinder nannten (hist. 4, 68, 2) und dem corpus nomenque Germaniae nicht mehr angehörten, machten damit anderen den onomastisch formulierten Vorwurf, der trügerischen Berufung auf die origo Germanica und der darauf gegründeten Verbindung mit rechtsrheinischen Räubern verfallen zu sein. Was hat aber politische Polemik mit den allgemeinen Darlegungen der germanischen origo in Germ. 2 zu tun? Wir erwarten dort eine Erklärung über ethnische Einheit und Gesamtbewußtsein der Germanen, allenfalls über deren schicksalhafte Wendung nach Westen und die dadurch veranlaßte Fremdbenennung und sollten statt dessen über den Bürgerkriegshader linksrheinischer сivitates unterrichtet werden? Es handelt sich hier jedoch nicht um Stammesinterna einer provinzialen Randzone ohne allgemeines Interesse, sondern, zumindest für Tacitus, um Positionen von großer Bedeutung und grundsätzlicher politischer Tragweite. Ein Beweis dafür ist es, daß wir den Niederschlag solcher zeitgeschichtlich inspirierten Aufmerksamkeit nicht nur an dieser Stelle finden. Vor allem dürfen die c. 28-29 (und 37) der Germania in diesem Lichte gelesen werden. Dieser Abschnitt beginnt mit Reminiszenen an prähistorische gallische Ostwanderungen, um damit die Rheingrenze in anderer Richtung zu relativieren und das Rhenum transgredi, die Bereitschaft zum permutare sedes und das Gefälle vom Stärkeren zum Schwächeren bei ungefestigter Machtlage in eine allgemeine historische Perspektive zu rücken. Offenbar soll die Angabe den Vergleich mit g e r m a n i s c h e m Druck auf l i n k s rheinisches Gebiet im Zustand g a 11 i s c h e r Schwäche nahelegen, dem ebenfalls nur durch stabile Machtverhältnisse

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zu begegnen ist. - Der in andere Regionen abgleitende Hinweis auf Aravisker und Oser scheint nur durch einen assoziativen Gedankensprung vermittelt zu sein: Die neben dem entgegengesetzten Invasionsgefälle (ut quaeque gens evaluerat) dritte logische Möglichkeit,! der Gleichstand, ist im Westen nicht belegt; aber das Beispiel von der pannonischen Donaugrenze lehrt, daß pari inopia ac libertate die Kriterien sermo, instituta, mores keine Handhabe bieten, um die Herkunft einer Population zu bestimmen, die sich von den Nachbarn nicht unterscheidet. - Dann werden Treverer und Nervier als Stämme genannt, die Anspruch auf germanische origo erheben und die gloria sanguinis zur Distanzierung von den gallischen Nachbarn benutzen. Es sind bedeutende gallische civitates der Kaiserzeit, deren Rolle in der Geschichte der Rebellion bekannt ist und die hier um ihrer ideologisch begründeten Sonderstellung willen genannt werden, denn die unmittelbaren Rheinanwohner heißen haud dubie Germanorum populi. - Unter diesen letzteren ragen die Ubier hervor, die trotz ihrer Rechtslage als Koloniebürger und ihrer Haltung als Assimilationsrömer aus ihrer rechtsrheinischen Herkunft keinen Hehl machen; freilich hat ihre bereits durch fides gerechtfertigte Umsiedlung zur politischen Trennung von der alten Umgebung, zur Umkehrung der Loyalität und so zur Einbeziehung in die römisch-linksrheinische Schutzgemeinschaft (ut arcerent, поп ut custodirentur) geführt. Der komplizierte Satz schichtet nicht nur Zeitphasen, er verbindet auch die Ubier mit anderen civitates unter dem Gesichtspunkt der Herkunft und kontrastiert sie zugleich unter dem der Loyalität, nicht ohne diese als eher ungewöhnlich und rühmenswert hervorzuheben. Es kann deshalb kaum zweifelhaft sein, daß hier der Erfahrungshintergrund des Vierkaiserjahres bemerkbar wird. - Betont wird dann der wichtigste linksrheinische Stamm germanischer Herkunft angeschlossen, die Bataver, deren Kriegstüchtigkeit ihre Sonderstellung (stärkere Rekrutierung, aber dafür Steuerfreiheit) begründe. Möglich, daß der Satz manet honos et antiquae societatis insigne eine Anspielung auf die große zeitgeschichtliche Zäsur enthält. - Gewiß aber klingt in der assoziativ (eodem obsequio) vermittelten Erwähnung der Mattiaker das Hauptmotiv des ^Abschnittes wieder an: sede finibusque in sua ripa, mente animoque nobiscum agunt. Mit diesen Worten wird neben die Treverer und Nervier, bei denen das mente animoque nobiscum agere anscheinend nicht über Zweifel erhaben ist, w e i 1 sie auf die gloria sanguinis pochen, und die Ubier, bei denen es mit dem Sitz in nostra ripa konform geht, о b w о h 1 sie ihre origo nicht leugnen, ein rechtsrheinischer und also ohne Zweifel germanischer Stamm gestellt, dessen verläßliche Loyalität dennoch dem Reichsveiband gilt. Die Darstellung der Grenzstämme bietet Typen des Assimilationsverhaltens, wenn dieses gedankliche Gerüst auch mit geographisch-ethnographischen Einzelheiten umkleidet, insbesondere mit historischen Ergänzungen angereichert ist und den Bezug zur Gegenwart nicht offenlegt. Dennoch erklärt sich der diese Komposition bestimmende Grundgedanke nur aus zeitgeschichtlichen Erfahrungen.

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Insbesondere liest sich der Satz über die Ubier bis in die Wortwahl hinein35 als Anspiellung auf die Vorgänge des Jahres 69; er dürfte sehr wenig mit den wahren Intentionen Agrippas zu tun haben, aber entspricht in allen Punkten dem oben besprochenen Assimilationsprogramm der Historien; er kann als Reverenz vor den romtreuen Agrippinensern des Bataverkrieges verstanden werden36. Damit wird jenes Netz gedanklicher Bezüge, das den Historien zu entnehmen ist und als Ausdruck taciteischer Zeiterfahrung verstanden werden darf, auch in der Germania deutlich erkennbar. Der Autor spricht von Grundfragen der Zeitgeschichte und Reichsordnung auch dort, wo es scheinbar nur um ethnographische Einzelheiten geht. Und so, wie die wenig motiviert scheinende Abfolge der Grenzstämme in c.28-29 historische Urteile über Akkulturation der Barbaren und Voraussetzungen römischer Grenzpolitik formuliert, kann auch das origo-Kapitel wie ein Palimpsest gelesen werden. In Germ. 2 kontrastiert Tacitus der mythisch bezeugten germanischen Abstammungsgemeinschaft die divergierende Realität der Stammeswelt, um schließlich (in c. 4) in naturhaften Faktoren die aus geschichtlicher Stiftung nicht abzuleitende Einheit der Germanen begründet zu finden. Dazwischen stehen die Argumente der quidam; sie haben eine kritische Funktion: Die widersprüchlichen Anschauungen über die Stammesgruppen enthüllen nur die Unzuverlässigkeit (licentia vetustatis) solcher Konstruktionen, statt daß der Völkerstammbaum Gewißheiten vermittelte; der Hinweis auf das Germaniae vocabulum recens et nuper additum läßt den Gesamtnamen als beiläufige Folge politischer Konstellationen erscheinen, statt daß in ihm ein Urgestein des Volksbewußtseins sichtbar würde; die Nachrichten über Heroenpräsenz (c. 3) verlaufen sich in Curiosa, die sich emstlicher Prüfung entziehen (ex ingetiio suo quisque demat vel addat fidem), anstatt daß man sie als Ausdruck von Kulturdiffusion würdigen könnte. Über diese kritische Funktion hinaus sind die drei referierten anonymen Aussagen aber so verschieden, daß sie kaum auf die gleichen Zeugen zurückgeführt werden können (s.o. Anm. 11). Von diesen drei Referaten enthält nun das zweite, der Inhalt des Namensatzes, in politischer und zeitgeschichtlicher Hinsicht die weitaus interessanteste und aufschlußreichste Information. Als Vertreter der hier referierten Meinung kann man 33 Vgl. Germ. 28, 4 ne Ubii quidem, quamquam Romana colonia esse meruerint ac libentius A g r i p p i n e n s e s conditoris sui nomine v o c e n t u r , o r i g i n e e r u b e s c u n t , transgressi olim et experimento fidei super ipsam Rheni ripam collocati, ut arcerent, non ut custodirentur. Und dagegen hist. 4, 28, 1 ... infestius in Ubiis, quod gens G e r m a n i c a e o r i g i n i s eiurata patria Romanorum in nomen A g r i p p i n e n s e s v o c a r e n t u r . 36

Daß in Germ. 28 die Germani cisrhenani ungenannt bleiben, vermißt Perl, Kommentar 207; es erklärt sich aber zwanglos: Im Rahmen der caesarischen Eroberungsgeschichte waren sie nicht so hervorgetreten, daß sie einer Erwähnung bedurften, dem Typus nach werden sie von anderen repräsentiert, den Batavern einerseits, den Treverern und Nerviern andererseits.

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die im Bataverkrieg treu gebliebenen germanischen Nachbarn der belgischen Tungrer, am ehesten die Ubier-Agrippinenser, erschließen, obwohl der Text das nicht direkt zu erkennen gibt. Der Inhalt des Gemeinten muß als bittere Polemik aus der Konfliktsituation des Jahres 69 verstanden werden, als die Parteinahme gegen oder für Civilis, seine Freiheitsparole und seine militärische Koalition mit Rechtsrheinilschen, zugleich Bekenntnis bedeutete: entweder zur imperialen Gemeinschaft und zur politischen und kulturellen Abgrenzung gegen die Stammeswelt oder aber zur erneuerten Solidarität mit germanischen Ursprüngen und Absage an die römische Ordnung. Die Assimilationsrömer verleugnen ihren germanischen Ursprung nicht, aber nehmen an der Verteidigung der Reichsgemeinschaft teil; ihren Nachbarn werfen sie vor, der Verführung des Appells an die Abstammung erlegen zu sein und benennen sie deshalb höhnisch mit dem halbvergessenen und auch historisch höchstens halbrichtigen Namen .Germanen' (Germani cisrhenani) (etwa ähnlich, wie Deutsche Russen als ,Moskoviter' oder Engländer Deutsche als .Teutonen' titulieren können). Sie wären ja als solche vor ihnen gewaltsam, nicht friedlich - über den Rhein gekommen, aber dennoch weit davon entfernt, in ihrem alten Namen wirklich den Zusammenhang mit der weiten rechtsrheinischen Stammeswelt zu dokumentieren, der vielmehr erst später von ihnen auf die Gesamtheit übertragen worden sei - durch den Sieger. Tacitus verwendete diese verkürzende, aber zugleich anspielungsreiche Erklärung (wenn auch unter dem Vorbehalt, fremde Meinung zu referieren), weil sie seiner Vorstellung von germanischer origo entgegenkam und nach ihren Voraussetzungen seinen imperialen Auffassungen konform war. Aber die referierte Ansicht ist keine Hypothese über einen ethnographischen Sachverhalt; sie stammt aus dem Arsenal zeitgebundener politischer Polemik und ist, ohne diesen Hintergrund zu berücksichtigen und die tagespolitische Absicht zu würdigen, nicht voll zu verstehen. Tut man das jedoch, dann erscheinen auch andere Rätsel dieses Satzes in veränderter Sicht.

5 Die, wenn nicht schwierigste, so doch am meisten behandelte Stelle des Namensatzes ist die Wendung, die rechtsrheinische Gesamtheit sei „zuerst vom Sieger aus Furcht37, dann auch von sich selbst" (omnes primum α Victore ob metum, mox a se ipsis) mit dem Geimanennamen benannt worden. Der Hauptanstoß liegt

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Die kausale Bedeutung von ob metum scheint jetzt unbestritten zu sein; vgl. Norden, Urgeschichte 331ff.; Ε Focke, Der Namensatz, in: Satura. Festschrift O. Weinreich, 1952, 33; Kraft (wie Anm. 5) 117f.; Flach (wie Anm. 5) 174; Lund, Gymnasium 89, 1982, 319f. und Kommentar 116; Perl, Kommentar 135.

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bekanntlich darin, daß die Formulierung einen unbegreiflichen logischen Widerspruch zu enthalten scheint: Rechtsrheinische Eindringlinge setzten sich gewaltsam in Gallien fest und vertrieben die dortigen Vorbewohner, waren also ihnen gegenüber die Sieger; die Sieger hätten dann aus Furcht alle Rechtsrheinischen mit ihrem eigenen Namen ,Germanen' genannt, bis diese schließlich den Namen als Selbstbezeichnung übernommen hätten. - Aber Furcht kann man nur beim Besiegten, nicht beim Sieger voraussetzen, und nicht die Sieger, sondern allenfalls die Besiegten konntenl in der Furcht ein Motiv haben, alle Rechtsrheinischen mit dem Namen der von dort gekommenen Eroberer zu benennen. Die verbreitetste Lösung sucht deshalb nach einem Weg, das logische Verhältnis umzukehren und findet ihn in einer Änderung des Textes: a victo (oder: victis) ob metum3S. Damit wären es die Besiegten, die linksrheinischen Opfer der landnehmenden Germanen, die ,aus Furcht' vor diesen oder weiteren rechtsrheinischen Aggressoren die Gesamtheit dieser Stämme mit dem Namen ihrer Besieger benannt hätten. Dieser Vorschlag ist zwar nicht ohne sachliche Schwierigkeiten39, aber doch grundsätzlich möglich. Für einen Eingriff in den Text bietet jedoch die Überlieferungssituation nicht den mindesten Anlaß; diese wie jede andere Konjektur kann nur durch divinatio begründet werden und ist so viel wert wie die interpretatorischen Voraussetzungen des Emendators. Es ist deshalb auch öfter der Konjekturalkritik in diesem Falle jede Berechtigung bestritten worden 40 .- Unter den Versuchen, den überlieferten Text zu rechtfertigen, ist derjenige Nordens am bekanntesten und wirkungsvollsten geworden. Danach ist a victore wie imo τοΰ νικώντος .derivativ' zu verstehen („nach dem Sieger"), und Nordens Interpretation gelangt so ohne Eingriff in den Text zu einer grundsätzlich gleichen Auffassung von der Sache: Der germanische Sieger erzeugte Furcht in der neuen Umgebung, wo nun diese Furcht dazu führte, alle rechtsrheinischen Populationen nach dem furchteinflößenden Sieger zu benennen, weil er von dort stammte. Gegen diese mit großem philologischen Aufwand begründete Auffassung spricht die offensichtliche Parallelität α victore - a se ipsis, in der das zweite Glied - was niemals bestritten worden ist - .kausativ' (Ъф' εαυτών von sich selbst) verstanden werden muß. Norden meinte zwar, Parallelen für Bedeutungswandel der Kon38

Α victis: nach M.A. Muret (16.Jh.) zuletzt Tierney, RhM 107, 1964, 377; Kraggerud (wie Anm. 5) 35; Delz, MH 27,1970, 229 (a victis e victore); Perl, AArchHung 30, 347 und Kommentar 136. - a victo: nach Leipniz und J. Grimm, Geschichte der deutschen Sprache 31, 545, zuletzt Dobesch (wie Anm. 5) 82f. Vgl. die Liste bei Flach (wie Anm. 5)175 f. 39

Die victi (= expulsi) hätten „alle" Rechtsrheinischen mit dem Namen benannt, den ihre Feinde und deren nächste Stammesgenossen auch rechts des Rheinies schon trugen; dafür ist weder ein Motiv noch ein Grund des Erfolges zu erkennen, die Volkstumsgrenze am Rhein scheint naiv antizipiert zu werden. 40

Norden, Urgeschichte 341.

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junktion α in demselben Satz in der ethnographischen Literatur nachweisen, ja die Formel auf eine feste traditionelle Prägung zurückführen zu können41, hat sich aber mit dieser Auffassung nicht durchgesetzt. - Ausdruck der Ratlosigkeit einer unheilbaren Verderbnis gegenüber ist es schließlich, wenn Herausgeber a victore mit einer crux versehen. Trotz ihrer ganz verschiedenen philologischen Konsequenzen liegt diesen Einstellungen zu dem aporetischen Satz doch ein sehr einheitliches, von Volkstumsvorstellungen abhängiges Gedankenmodell zugrunde. Es ist erstaunlich, wie oft von dem vermeintlich feststehenden „richtigen Sinn" oder einer „sachlich zutreffenden! Auffassung" der Stelle gesprochen wird und die Textgestaltung oder das Textverständnis danach beurteilt werden, ob sie das „sachlich Richtige" zum Ausdruck bringen42. „Freilich muß es fast unbegreiflich erscheinen, daß hierüber eine Meinungsverschiedenheit besteht", schreibt Ed. Norden (Urgeschichte 328) und fragt weiter: „Kann es nun etwas Gewisseres geben, als daß unter dem Sieger eben die Völkerschaft Germani-Tungri verstanden ist, die siegreich in Gallien eindrang?" Unbefangener Beurteilung muß diese Einstellung eher als methodisch eklatant unzulässige Voreingenommenheit erscheinen, die aber bemerkenswerterweise gar nicht als solche bewußt wird. Bestimmte axiomatische Vorgaben zwingen hier immer wieder zu Folgerungen in einer bestimmten Richtung: Gemeinsame Abstammung verbindet danach die rechtsrheinischen Einwanderer mit ihrer alten Umgebung stärker als Verhalten und Erleben mit der neuen; denn es ist allemal die Verwandtschaft der Invasoren mit den Rechtsrheinischen und die Kluft zwischen Siegern und Besiegten, die das Verhältnis der Namengeber zu den Benannten bestimmen (s. dagegen o. Anm. 34) Weiter verraten Benennung und Selbstverständnis eher eine bleibende ethnische Wahrheit als erfahrungsgeleitete Zuordnungen; denn die Erkenntnis, der die Furcht der Unterlegenen den Weg weist (ob metum), ist die Erkenntnis eines tatsächlich bestehenden Zusammenhanges. - Aber all das sind weniger Auffassungen, die Tacitus hat oder referiert, als Überzeugungen seiner Interpreten. Was diesen zufolge als Sachverhalt im Namensatz angesprochen ist, darf gleichsam (um die oben entwickelten Chiffren zu verwenden) eine ,tenkterische' Position genannt werden; Tacitus referiert aber eine ,ubische'. Ihm geht es nicht darum, einen Gegensatz zwischen Galliern und Germanen historisch zu begründen, sondern das Aufkommen des Gesamtnamens der Germanen als wenig aussagekräftig für ihren wirklichen Zusammenhang hinzustellen; die Erwähnung der Germani-Tungri soll diesen Stamm nicht als Speerspitze germanischer Expansion erscheinen lassen, sondern die kleine Gruppe originärer Namensträger eher zufällig als Namengeber der Gesamtheit aller

41 42

Norden, Urgeschichte 323ff

42 Z.B. Drexler (wie Anm. 1) 325: „Sinn des Satzes steht fest"; Norden, Urgeschichte 328; Dobesch (wie Anm. 5) 82; Flach (wie Anm. 5) 174; Perl, Kommentar 135.

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rechtsrheinischen Stämme kennzeichnen. Zu diesem Zwecke wird im Namensatz eine Position von Assimilationsrömem und politischen Gegnern ihrer aggressiven rechtsrheinischen Vettern herangezogen. Sie hat eine polemische Tendenz; sie schätzt die Germanität der Tungrer nicht positiv ein, aber bejaht römische Herrschaft; sie beurteilt die Rheingrenze historisch verzerrt, aber aus aktueller Erfahrung nur allzu verständlich; sie hat ein kritisches Verhältnis zur Namensübertragung und schreibt die Ausweitung des alten Namens auch „nur der Furcht des Siegers" zu. Der Sieger, mit dem sich Ubier und Agrippinenser von Caesar bis Cerialis treulich identifizieren, sind allein die Römer. Von ihrem Standpunkt aus ist es entscheidend, daß Caesar die linksrheinischen Germanen unterworfen und damit den Weg zum römischen Frieden, zur provinzialen Rechtsgemeinschaft und zur städtischenl Zivilisation eröffnet hat; es ist in der Tat die Voraussetzung ihrer ethnischen und politischen Existenz. Es geht auch nicht darum, daß die ursprünglichen Germani ihre Vorbewohner vertrieben und diese darauf irgendwie reagierten, sondern daß die siegreichen Römer die linksrheinischen Bewohner nach ihrer Unterwerfung und Assimilierung vor den rechtsrheinischen Invasoren schützten. Diesen Gedanken betont Tacitus allenthalben und läßt deshalb seinen Cerialis programmatisch erklären (hist. 4, 73, 2 f.), die Römer hätten Ariovist (der ebenfalls Rhenum transgressus Gallos expulit) zurückgeworfen, damit zugleich Gallien befriedet und den zivilisatorischen Anschluß eingeleitet. Der Historiker läßt den General natürlich so reden, weil er ihn als Handelnden (und dieser sich selbst wahrscheinlich auch) in einer Position sieht, die typologisch die Caesars gegenüber Ariovist wiederholt. Vergangenheit und Gegenwart, historische Erfahrung und aktuelles Erleben schließen sich in einem einheitlichen Verständnishorizont zusammen43, den Bedrohung Galliens und römischer Sieg, Hilfsbedürfnis, Verführbarkeit oder Treue der gallischen Bundesgenossen konstituieren. Wenn aus diesem Verständnishorizont - worauf die bisherigen Anlaysen immer wieder geführt haben - auch der Namensatz verstanden werden muß, dann muß man α Victore auf die Römer beziehen44. Dies ist eine Deutung, die nur sehr selten einmal erwogen worden ist und dann mit unhaltbaren Gründen empfohlen45, meist aber

43

Vgl. dazu zwar nicht im einzelnen, aber der gedanklichen Richtung nach: H. Nesselhauf, Tacitus und Domitian (1952), in: V.Pöschl (Hrsg.), Tacitus 1969, 208ff.; R. Syme, Tacitus, 1958, 127f.; K. Christ, Germanendarstellung und Zeitverständnis bei Tacitus (1965), in: Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte 2,1983,140ff. 44

Das römische Volk nennt Norden, Urgeschichte 329f., den exemplarischen victor und verweist dafür etwa auf Cie. de domo 90; Veil. 2, 107, 3; was Kraft (wie Anm. 5) 121f. dagegen einwendet, schlägt nicht durch, weil die Bedenken gegen den abstrakten Kollektivsingular die sonst darunter Verstandenen ebenso betreffen wie die Römer. 45

Focke (wie Anm. 37) 31 ff. in wenig konziser Argumentation.

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als offenkundig absurd abgewiesen wurde46. Sie erscheint jedoch zwanglos und naheliegend, sobald die offene oder stillschweigende Voraussetzung aufgegeben wird, daß der Namensatz vom Gedanken des ethnischen Dualismus bestimmt sei, und sobald die bestimmenden gedanklichen Bezüge des Autors erkannt sind. Die Furcht als Motiv der Benennung ist am wenigsten dann ein Einwand gegen die vorgeschlagene Deutung, wenn sie den Römern von der erschlossenen Position aus zugeschrieben wird. Denn fraglos gibt es ja nicht nur einen römischen metus Germanicus, sondern beherrscht er geradezu die römische Grenzpolitik. Von Caesar an über die Okkupationszeit bis zum Bataverkrieg mit seinem Trauma wiederkehrender rechtsrheinischer Invasionen begegnet die Sorge vor dieser Bedrohung. Sie und nur sie hat tatsächlich die Rechtsrheinischen pauschal als Einheit zusammenfassen lassen47. Ein Widerspruch zwischen römischem Sieger und Furchtmotiv besteht nicht. Im übrigen besaß nur eine Namengebung von römischer Seite aus auch genügend Breite und Autorität, um verständlich zu machen, daß sie von den Benannten als Selbstbezeichnung übernommen werden konnte. Die Furcht belgischer Nachbarn der Germani cisrhenani vor den rechtsrheinischen Vettern ihrer Bedrücker könnte allenfalls erklären, warum jene Belger die Rechtsrheinischen nach diesen , Germani1 nannten, keineswegs aber, daß sie damit auch durchdrangen; denn dazu wäre die sprachliche Reichweite belgischer Einzelstämme nicht groß genug gewesen, und ein Motiv, sich solchen Sprachgebrauch zu eigen zu machen, wäre hier bei den Benannten auch nicht zu erkennen. Daß aber der römische Germanenname über Militär, Verwaltung und Schriftgebrauch auch jenseits von Rhein und Donau im Außenverkehr allmählich rezipiert wurde, ist ein verständlicher und bekannter Vorgang48. Schließlich entfällt damit das oft bedachte Problem, daß victor und ipsi keinen echten Gegensatz bildeten, weil der victor in den ipsi enthalten wäre49. Schwerer wiegt ein anderer Einwand: Die Römer können den Germanennamen als Gesamtbezeichnung nicht von den Germani cisrhenani entlehnt haben, weil Ariovist und andere suebische Gruppen am Ober- und Mittelrhein anscheinend schon vor der Begegnung Caesars mit den Germani cisrhenani unter dem allge-

46 O. Hirschfeld, Heine Schriften, 1913, 54 „kann ernstlich nicht in Frage kommen"; zustimmend Norden, Urgeschichte 328; Kraft (wie Anm. 5) 118. 121; Delz MH 27, 1970, 228 Anm. 14 „auf die absurde Vorstellung ... trete ich nicht ein"; Perl, Kommentar 135 „unter victor können nicht die Römer (Caesar) verstanden werden, da von diesen hier überhaupt nicht die Rede ist" 47 Norden, Urgeschichte 416ff. gibt bei anderslautenden Schlußfolgerungen die umfassendste Stellensammlung; vgl. noch H. Bellen, Metus Gallicus - metus punicus. Zum Furchtmotiv in der römischen Republik, 1985. 48 49

Norden, Urgeschichte 425; Perl, Kommentar 137. So etwa Flach (wie Anm. 5) 174; Lund, ANRW II 33, 3,1991, 1985; Perl, Kommentar 136.

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meinen Germanennamen zusammengefaßt wurden50; darüber hinaus konstituierten die Auseinandersetzungen mit den großen Gegnern und den aggressiven Stämmen das römische Verhältnis zu den Rechtsrheinischen (und damit auch ihre Benennung) gewiß mehr als die Berührung mit der Stammesgruppe der Germani in der Belgica. Caesar fand also die Namenserweiterung einerseits schon vor und hätte andererseits wenig Grund gehabt, sie von sich aus vorzunehmen. - Dieser Einwand ist jedoch auf doppelte Weise zu entkräften. Der Namensatz schließt nicht aus, was aus vielen Gründen als sehr wahrscheinlich anzunehmen ist, daß nämlich der Germanenname auch rechts des Niederrheines in begrenztem Ausmaße originär war. Germ. 2, 3 besagt nicht, daß ein ausschließlich links des Rheines beheimateter Name auf die Populationen rechts des Stromes übertragen wurde, sondern daß Rechtsrheinische über den Rhein kamen und ihr Name dann auf omnes, die Gesamtheit aller rechtsrheinischen Stämme, übertragen wurde. Der Namensatz will aber vor allem keinen objektiven Sachverhalt darstellen, sondern er referiert eine subjektive Meinung. In ihm ist eine standpunktsbezogene, politisch tendenziöse Aussage zu erkennen, die durch denl caesarischen Sprachgebrauch nicht widerlegt wird, ja objektiv teilweise unrichtig sein kann. Der Namensatz spiegelt die ,agrippinensische Position' wider und besagt etwa: ,Es ist nicht weit her mit der inneren Einheit der Germanen. Diese Tungrer da haben allerdings durch ihren Abfall im Bataverkrieg ihrer Herkunft alle Ehre gemacht, aber daß sämtliche Stämme rechts des Rheins ihren ominösen alten Namen tragen, ist doch bloß ein Werk der Römer, die zwar die alten Germani cisrhenani unterworfen und die Rheingrenze festgelegt, aber auch die Furcht vor ihrer Gefährdung nie verloren haben und deshalb in allen Rechtsrheinischen „Germanen" sahen.' In diesem Urteil treffen Nachbarschaftskenntnis, verkürzte Perspektive, politischer Gegensatz und polemische Parteilichkeit zusammen; Tacitus hat dem Rechnung getragen, indem er es als fremde Meinung widergab, aber er tat das immerhin, weil es in einem entscheidenden Punkt zu seiner Argumentation paßte. Die Interpretation von zwei weiteren umstrittenen Stellen des Namensatzes kann diese Auslegung ergänzen und abschließen. Der Germanenname als Gesamtname, heißt es an unserer Stelle, sei entstanden, indem der Name einer natio, nicht einer gens zur allgemeinen Geltung gekommen sei. - Der Gegensatz zwischen natio und gens ist in der unterschiedlichsten Weise aufgefaßt worden und hat in allgemein anerkannter Weise nicht bestimmt werden können. Man hat ihn als Antithese von Teil und Ganzem (Stamm - Volk)51, von

50 51

Darauf weist besonders Dobesch (wie Anm. 5) 79ff. hin.

Die Deutungen referiert Η Kothe, Nationis nomen, non gentis, Philologus 123, 1979, 242 ff.; Kraft (wie Anm. 5) 99ff. - Gens - natio als Veihältnis vom Ganzen zum Teil (Gesamtvolk Stamm): Müllenhof, D.A. 2, 199; Norden, Urgeschichte 314ff.; Much, Kommentar 65; Theiler,

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Territorium und Ethnos, von Heimat und Blutsverwandtschaft oder noch anders zu deuten gesucht52. Gens und natio können auch synonym gebraucht werden und sind es sogar gewöhnlich53; diese Möglichkeit scheidet wegen des Gegensatzes hier aber natürlich aus. Es ist methodisch bedenklich, eine anderswo definierte Wortbedeutung auch hier zu unterlegen, wo sie vielleicht nicht gemeint ist; andererseits besteht die Gefahr eines Zirkelschlusses, wenn man, um die Vieldeutigkeit der Begriffe zu umgehen, ihren Sinn aus dem Kontext zu erschließen sucht. In dieser Lage muß, wie es auch schon vielfach geschehen ist, von der Bedeutung des häufigeren Wortes, nämlich gens, ausgegangen und dazu das wiederholte Vorkommen dieses Begriffes in der näheren Umgebung der Stelle beachtet werden. Sol heißen die Germanen insgesamt eine gens (Mannum, originem gentis), aber auch ihre Stämme und Stammesgruppen heißen gentes (gentis appellationes; Germanorum gentes, Germ. 44, 1). Besonders aufschlußreich ist das Nebeneinander Germ. 38, 1, wo von den Sueben gesagt ist, sie bildeten поп una gens (sondern deren mehrere), aber gleich darauf das insigne gentis, der Haarknoten, in Erinnerung gebracht wird. Gewiß ist hier nicht ein jäher Wechsel der Bedeutungen .Stamm' und ,Volk' vorauszusetzen; vielmehr muß man davon ausgehen, daß es ein terminologisches Äquivalent für den modernen Volksbegriff nicht gibt (die Germanen als Volk heißen allenfalls omnes Germani, wie Germ. 27, 2). Gens kann zwar die Gesamtheit, den Großverband, bezeichnen, aber ebensogut seine Untergliederungen54, und dies nicht, weil die Bedeutung wechselte, sondern weil der Begriff auf die Größe oder die Über- und Unterordnung (logische Differenz zwischen Genus und Species) gar nicht abstellt. Er bezeichnet immer nur den Aspekt des Abstammungszusammenhanges. Deshalb zerfallen gentes wiederum in gentes und nur, wo die Opposition ,groß - klein' ausdrücklich gesucht wird, kann populus oder natio einmal die kleinere Einheit meinen55. Aber die verschiedenen Umfangsstufen von gens im selben Kapitel schließen gerade in Germ. 2, 3 diese Möglichkeit aus. MH 28, 1971, 119; Koch, Gymnasium 82, 1975, 436; Flach (wie Anm. 5) 171. 182ff.; Perl, AArchHung 30, 343ff.; F. Gschnitzer, Geschichtliche Grundbegriffe 7,1992,169. 52 Natio als Territorialbegriff vertrat besonders Kraft (wie Anm. 5) 99ff. unter Hinweis auf Charisius, ars gramm. 5,397, natio solum patrium quaerit, gens Seriem maiorum explicat, und den Grammatiker Cincius bei Festus 164 L., natio: in eadem terra hominum genus natum; danach Lund, Gymnasium 89,1982, 312ff. und Kommentar 115. 53 R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung, 1961, 46; Kraft (wie Anm. 5) 103; Kraggerud (wie Anm. 5) 28; Gschnitzer (wie Anm. 51) 168f. mit sehr treffender Bestimmung des semantischen Verhältnisses. 54 Kraft (wie Anm. 5) 103; Kraggerud (wie Anm. 5) 25; G.Perl, Die gesellschaftliche Terminologiein Tacitus' Germania, SB Akad. Berlin 15 G 1982,1983, 56ff. 55 So an der vielziüerten Stelle Veil. 2, 98, 1; weiter siehe Norden, Urgeschichte 316f. (einschränkend dazu aber Kraft [wie Anm. 5] 103); Gschnitzer (wie Anm.51) 169 Anm. 100.

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Natio ist dem Wortsinn nach ebenfalls die Abstammung und Abstammungsgemeinschaft und unterscheidet sich von gens daher in der Grundbedeutung nicht56. Das seltenere Wort gewinnt seine Sonderbedeutung aus Spezialisierung und Verengung und bezeichnet in diesem Sinne engere oder weitere Landsmannschaft, dann Herkunft, Heimat und Heimatgemeinde; es kann so die von Kraft betonte lokale Bedeutung haben, die auch in dem feststehenden Gebrauch von natione zur Bezeichnung der Herkunft vorliegt. In politisch-administrativer Sprache kann die nichtstädtische peregrine Gemeinde natio genannt werden, womit dann wieder der Übergang zur Bedeutungsnuance der relativ kleineren, weil begrenzteren Einheit gegeben ist57. Aber man darf den lokalen Aspekt nicht mit Kraft verabsolutieren, die Bedeutungsaspekte fließen ineinander. Die Tungrer können darum civitas heißen, wenn ihre Gemeindeautonomie unterstrichen wird, gens, wenn sie als Stamm, als Abstammungsgemeinschaft gekennzeichnet sein sollen, und natio, wenn an den ethnisch definierten Heimatkanton in der Provinz gedacht wird. Es geht also nicht darum, unter fixierten Bedeutungen die richtige zu bestimmen, sondern die Nuance zu ermitteln, auf die im gegebenen Zusammenhang die Kontrastierung von gens und natio hinweist. Dafür ist nun einmal entscheidend, daß kurzl vorher von den gentes der Ingvaeonen, Marser usw. die Rede war, großen historisch wirkenden Verbänden der echten Stammeswelt, zum anderen bei natio der politisch denkende Leser und Zeitgenosse zunächst an die zahllose Male begegnende Herkunftsformel erinnert wird; so wie natione Ubius häufiger, ist tatsächlich auch natione Tunger gelegentlich belegt58. Damit dürfte aber vor allem der Gegensatz einer peregrinen (vielleicht sogar einer zur römischen Konskription herangezogenen) Gemeinde zu einem genuinen Namen der Stammeswelt (wie Marser oder Sueben) assoziiert werden. Die Nebenbedeutungen klein - groß, Heimatland - Verwandtschaftszusammenhang sind darum nicht ausgeschlossen, aber der eigentliche Akzent liegt wohl auf dem Gegensatz einer vergleichsweise bescheidenen, durch römische Organisation überprägten Einheit zu einem gewachsenen Stammesverband ungewisser Ausdehnung und potentieller Geschichtsmächtigkeit. Die Pointe der Formulierung scheint darin zu bestehen, daß aus dem Gegensatz natio - gens deijenige des römischen Siegers und der römischen Ordnung zur freien Stammeswelt nicht wegzudenken ist, daß in der Benen-

56

Gschnitzer (wieAnm.51) 168ff.

57

Mommsen, Römisches Staatsrecht 3, 721; Kraft (wie Anm. 5) 108f. (mit unhaltbaren Konsequenzen), Koch, Gymnasium 82,1975,442f. 58 Natione Ubius: CIL VI 4337, 4339, 8805, 8809, XIII 2613; Finke, Nachtr. CIL XIII, 17. Ber. RGK 1927, no. 352; - natione Tunger: CIL VI 10177 (33977). Vgl. Smeesters (wie Anm.21) 175ff.; M. P. Speidel, The Soldier's Home, in: W. Eck - H. Wolff (Hrsgg.), Heer und Integrationspolitik, 1986,467ff.

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nung nach der natio der victor das Verhältnis zur rechtsrheinischen Sphäre von vornherein nach seiner Weise konstituiert. Germaniae vocabulum recens et nuper additum, sagt der Namensatz, und die Kommentatoren schwanken, ob in der Formulierung nur eine Variation für Germanorum nomen zu sehen ist oder wirklich eine geographisch-räumliche Vorstellung ins Spiel kommt - für die dann ein Grund gefunden werden müßte59. Auch hier scheint es darum zu gehen, die entscheidende Nuance und die damit provozierte Vorstellung genauer zu ermitteln. Man denkt bei der eigentümlichen Verwendung des „Landesnamens" (Norden) vor allem daran, daß die Tenkterer (hist. 4, 63, 1) ihre Kölner Nachbarn beglückwünschen redisse in corpus nomenque Germaniae. Damit läßt sich vergleichen, daß es von den Rechtsrheinischen im Civilisaufstand heißt: excita nuntiis Germania ad praedam famamque (hist. 4, 21, 2) und dem die Reaktion entspricht: Civilem ... universa Germania extollebat (4, 28, 1). Nicht zuletzt ist an das berühmte tarn diu Germania vincitur (Germ. 37, 2) zu erinnern. Hier überall steht die räumliche Bedeutung mindestens nicht im Vordergrund, die Grenzen des Raumes schwanken vielmehr, oder sie bleiben ganz unbestimmt. Das Abstraktum ruft stattdessen eine Gesamtvorstellung hervor; innere Einheit undl Zusammengehörigkeit der Gesamtheit werden damit betont, mögen sie nun in dem Anspruch auf die Freiheit der Gentilgesellschaft, in der allgemeinen Bereitschaft zu Plünderungszügen oder in der geschichtlichen Feindschaft des Imperiums zum Ausdruck kommen. Auch vocabulum Germaniae scheint deshalb über die Benennung der rechtsrheinischen Gesamtheit hinaus den inneren Zusammenhang der Benannten hervorzuheben. Der Namensatz bezeugt nicht nur die Meinung, daß ein von einem äußeren Standpunkt aus zusammenfassender , Volks'name für die Germanen neu sei, sondern daß es einen gewissen, die einheitliche Benennung herausfordernden Grad von Homogenität der rechtsrheinischen Stammeswelt erst seit jener Zeit gebe, als der Gesamtname aufkam, als Folge der römischen Präsenz am Rhein. Zum Verständnis der ethnographischen Schrift des Tacitus müssen formale und traditionsgeschichtliche Beobachtungen mit der Berücksichtigung des zeitgeschichtlichen Erfahrungs- und Bewußtseinsstandes verbunden werden. Dieser erschließt sich gerade beim Namensatz erst dann, wenn die volkstumsgeschichtli-

59

Äquivalent für nomen Germanorum z.B. Norden, Urgeschichte 352; Much, Kommentar 60; Anderson, Kommentar 43; Kraggerud (wie Anm. 5) 27. - Räumliche Bedeutung hat vocabulum Germaniae z.B. für Theiler, MH 28, 1971,120; Lund, ANRW II 33,3, 1991,1975f. („Germaniae vocabulum steht nicht im Sinne von Germanorum nomen"), besonders aber Kraft (wie Anm. 5) 106. 109. 126, der weitreichende Folgerungen daraus zieht Dobesch (wie Anm. 5) 82 findet es „heikel", daß der Name der Einwanderer in Gallien plötzlich als Landesname aufgefaßt wird.

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chen Voreingenommenheiten der modernen Rezeptionsgeschichte als solche erkannt und vermieden werden.

Tacitus' Germania als religionsgeschichtliche Quelle

ι Die germanische Altertumskunde hat den singulären Quellenwert der taciteischen Germania auch für die Religionsgeschichte immer gepriesen, den geringen Umfang, die Unsicherheit und Ergänzungsbedürftigkeit ihrer von außen kommenden religionsgeschichtlichen Aussagen aber oft genug beklagt. Die einschlägige Beschäftigung mit diesem literarischen Zeugnis richtete sich deshalb auf Sachkritik an seinen Informationen, vor allem mittels Vergleich und Verknüpfung mit späteren, anderen und indigenen Quellen, sie richtete sich damit auf die Verbreiterung und Befestigung der Kenntnisbasis. Solchem, auf die Einzelaussage und deren Bewertung zielenden Interesse ist jedoch eine andere Frage methodisch vorgeordnet: die nach dem Quellenwert der römischen Monographie für geimanische Religionsgeschichte im ganzen, also die Frage nach der Eigengesetzlichkeit und Blickrichtung der Schrift, ihrer literarischen Form und Traditionsbedingtheit, ihren genuinen Absichten, internen Interessen und immanenten Begrenzungen. Je geformter und bewußter ein Text ist, desto weniger können seine Einzelheiten naiv als schlichte Information genommen werden; je stärker die Einheit des Ganzen durch den Rahmen geprägt ist, den die Tradition vorgibt oder die Subjektivität des Autors setzt, desto mehr muß eine Mitteilung hinsichtlich ihrer Auswahl und ihres Umfanges, ihrer Tendenz und ihrer Genauigkeit zunächst als Element dieses Ganzen verstanden werden, verbietet sich also der einfache Zugriff auf die vermeintlich authentische Primärinformation. Diese hermeneutische Selbstverständlichkeit zu betonen, besteht nicht zuletzt da Anlaß, wo scheinbar unreflektierte Zeugenschaft noch den heutigen Leser teilhaben läßt an Orakelpraxis, Götterfest und Opferkult. Textbezogene Überlegungen, die auch das Anschauliche nicht als Fels der Gewißheit nehmen und Quellenkritik nicht als Suche nach dem verläßlichen ersten Beobachter eines im übrigen eindeutigen Sachverhalts verstehen, aber das Einzelne als Teil des Überlieferungsprozesses und das literarisch Geformte als dessen Ergebnis begreifen, müssen auch dort, wo es um die religionsgeschichtlichen Aussagen derl Germania geht, am Anfang stehen. Solche Überlegungen sind kein intellektueller Luxus, sondern die uner-

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läßliche Voraussetzung jeder methodischen Auswertung des Textes, und sie beginnen notwendigerweise bei Einheit und Charakter des Gegenstandes. Die Germania des Tacitus kennt - ebenso wie ihre gattungsgeschichtlichen Vorgänger von Herodots Logoi an - keinen Gegenstandsbereich „Religion". Sie kennt ihn nicht im Sinne der romantischen Hermeneutik, der das Religiöse ein Ausdrucksphänomen wie die Sprache ist, in dem sich die geistige Realität des Volkes offenbart, konkretisiert und entäußert1; sie kennt Religion auch nicht als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott" oder als Bereich der Erfahrung mit dem „ganz Anderen", Bestimmungen, die den christlichen Monotheismus und die Entgöttlichung der Welt voraussetzen. Die Ausgangsfrage: wo in der Germania finden wir die Religion? was gehört dazu? in welcher Weise wird es begriffen und dargestellt? kann sich nicht auf die Gewißheit stützen, wir wüßten immerhin, wovon wir reden; sie verweist uns vielmehr auf die ethnographische Topik. Die ordnende und charakterisierende Beschreibung fremden Volkstums setzt natürlicherweise (und darum nicht nur in der Antike) den von außen kommenden Betrachter voraus, der das von seinem Standpunkt aus Auffällige und Bemerkenswerte registriert. Den Maßstab der Mitteilungswürdigkeit an einem ethnographischen Sachverhalt liefert also die spezifische Differenz des grundsätzlich Vergleichbaren. Daraus ergibt sich die Form der Rubrizierung von Beobachtungen unter feststehenden Gesichtspunkten, die jedoch untereinander nur aus Gründen der Tradition und der Praxis, nicht durch die Logik eines systematischen Zusammenhanges verknüpft sind2. Ein solcher fester Posten, der im Katalog der nomoi eines fremden Volkes neben Kleidung, Sexualsitten oder Herrschaftsformen seinen Platz zu finden hätte, kann nun gewiß jener Komplex aus Objektivem und Subjektivem, Öffentlichem und Privatem, Profanem und Heiligem, Erfahrung und Offenbarung, den wir „Religion" nennen, nicht sein. Wohl aber berücksichtigt die ethnographische Tradition von Hekataios und Herodot an bestimmte, der Beobachtung sichl anbietende oder als Indikatoren des Volksbios

1 J. Grimm, Deutsche Mythologie I2 (1844), S. VI (Vorrede): jedem volke ist glaube ал götter nothwendig wie die spräche; in Verbindung mit S. XXI und S. XXXCIII: gleich spräche und mythus ist auch in der glaubensneigung unter den Völkern etwas unvertilgbares... 2 K. Trüdinger, Stud. ζ. Gesch. d. griech.-röm. Ethnographie, Diss. Basel 1918; G. Wissowa, Die germ. Urgesch. in Tacitus' Germ., Neue Jahrbb. 24 (1921), S. 14ff.; W. E. Mühlmann, Gesch. d. Anthropologie 3 1984, S.25ff.; D. Timpe, Ethnolog. Begriffsbildung i. d. Antike, in: H. Beck (Hsg.), Germanenprobleme in heut. Sicht 1986, S. 22ff.; B.Patzek, Die hist. Bedingungen des Fremdverstehens in Tacitus' Germania, HZ 247 (1988), S. 27ff.; A. A. Lund, GermaniaKommentar 1988, S. 17ff.; K. Bringmann, Topoi i. d. tac. Germ., in: H. Jankuhn - D. Timpe (Hsgg.), Beiträge z. Verständnis d. Germania d. Tac. 1 (1989), S. 59ff.

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besonders aussagekräftige Bereiche religiöser oder dem Religiösen nahestehender Phänomene wie Götterkult, Magie oder Funeralbräuche. Sicherlich ist das wichtigste Gebiet hierbei die Götterverehrung, verstanden allerdings nicht als persönliche religiöse Erfahrung und subjektives Verhalten, sondern als objektive und äußerlich erkennbare, öffentlich geübte Kultpraxis, die sich auf konstant gedachte Wirklichkeitsfelder und Erfahrungsbereiche bezieht3. Deshalb werden bekanntlich die Objekte der religiösen Verehrung seit den Joniern mit griechischen Namen benannt, ja werden Götternamen wie Appellativa übersetzt, nicht - wie Namen sonst - nur sprachlich angepaßt (Cie., nat. d. 1, 84). In diesem nüchternen, begrenzten und weltimmanenten Sinne gehört die Götterverehrung zur menschlichen Normalität hinzu und kommt ihr deshalb auch ein kompositionell oder inhaltlich herausragender Platz nicht zu; sie ist eine anthropologische Konstante wie andere, aber dabei von einem Variationsreichtum, der die Konzentration auf das Wichtigste notwendig macht4. Wie das Stereotype der Rubrik „Götterverehrung" in ethnographischen Darstellungen dem kategorialen Charakter der Sache Rechnung trägt, so die Beschränkung auf Hauptkulte dem Gebot der Auswahl. - Da die Opfer wichtigster und sichtbarster Ausdruck des Kultes sind, werden sie meistens, aber nicht immer, im Zusammenhang mit ihm erwähnt, während mantische Praktiken einen davon ganz unabhängigen Platz einnehmen. Auch den Bestattungssitten und -riten, die als besonders signifikant in der ethnographischen Beschreibung selten übergangen werden, fehlt der exklusive Bezug zur Kultpraxis, der erlauben könnte, beides unter dem Gesichtspunkt Religion" zusammenzufassen. Schließlich hat Mythologisches samt theogonischen und ethnogonischen Mythen seinen gattungsmäßigen Ort in OrigoErzählungen, die der identitätsstiftenden Selbstvergewisserung und Fixierung verbindlicher Anfänge in der Zeit dienen. So kommt also religiös Einschlägiges in der ethnographischen Tradition an verschiedenen Orten vor, nicht aber ,die' Religion an einem einzigen; so entscheidet über Umfang und Gewicht einer Mitteilung weniger ihre prinzipielle religiöse Relevanz als die Signifikanz des Einzelphänomens für den speziellen Topos, und steht vielfachen Übergängen zwischen den Sachgebieten der ethnographischen Beobachtung der letztlich doch fehlende kategoriale Zusammenhang des Religiösen insgesamt gegenüber. Die Geschichte der ethnographischen Beschreibung kennt nun zwar viele Ansätze zur vertieften und interpretierenden Zusammenschau einzelner Phälnomen-

3 4

So prototypisch Herod. 2,50. 52 - 3; 4 , 5 9 , 1 .

Vgl. Herod. 4, 59, 1 θεούς μεν μόνους τούσδε 'νλάσκονται' Ισιιην μέν μάλιστα. ... Dem entspricht maxime colere bei Caes. B. G. 6,17,1; Tac. G. 9,1.

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bereiche5, aber der einheitlichen Erfassung des Religiösen sind sie wenig zugute gekommen. Sophistische Relativierung menschlicher Ordnungen oder kultuikritischer Preis der bedürfnislosen Naturvölker förderten die Erklärung ethnographischer Einzelheiten aus einer einheitlichen diaita und das ganzheitliche Verständnis des ethnischen bios', die Klimazonenlehre vor allem erlaubte, Naturkonstanten und Volkscharakter aufeinander zu beziehen. Im Peripatos, in der hellenistischen Ethnographie oder in der großen Synthese des Poseidonios sind Wege zur Verinnerlichung des ethnographischen Materials im Sinne eines alle Aspekte verbindenden Charakterisierungsstrebens beschritten worden6. Für Inder, Juden oder Kelten finden sich - an MißVerständnissen und Fehlurteilen reiche! - Versuche, auch die religiösen Lebensäußerungen in ein, Natur und Geschichte umfassendes Bedingungsgefüge der ethnischen Individualität einzufügen. Dabei ist jedoch nirgends (auch nicht in der mit Hekataios von Abdera beginnenden Beschäftigung mit den Juden) die Autonomie des Religiösen und eine davon ausgehende Gestaltung der einzelnen (in den ethnographischen Rubriken registrierten) Lebensbereiche herausgestellt worden, wenn auch die interpretierende Durchdringung der völkerkundlichen Topoi und die Zurückführung der Phänomene auf allgemeine Strukturen methodische Möglichkeiten dafür bereitet haben. Auf den ersten Blick erscheint dementsprechend auch die Art, in der die auf Religiöses bezüglichen Nachrichten im ersten, allgemeinen Teil der Germania ausgewählt und angeordnet sind, wenig einheitlich und läßt sie sich allenfalls vor dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund begreifen. - In c. 9 hat das Thema Götterverehrung seinen Platz, wie der stichwortartige Einsatz (deorum ... ) ausdrücklich ankündigt. Hier werden die göttliche Triade Merkur, Herkules, Mars und die diesen Göttern dargebrachten Opfer erwähnt, die Isis-Verehrung eines Teils der Sueben und ihre fragliche Herkunft besprochen, schließlich der bildund tempellose Kult in den heiligen Hainen als eigentliches Spezifikum der germanischen Götterverehrung hervorgehoben. - Auch das folgende, der Mantik gewidmete Kapitel (10) wird durch das Stichwort auspicia sortesque eingeleitet und thematisiert. Unter dieserl Rubrik bespricht der Autor die Losorakel, die Auspikation durch Tiere, besonders Pferde, und schließlich den Zweikampf als Mittel zur Vorherbestimmung eines Kriegsausganges. - Das Götterkapitel ist mit 5 Als erstes ist (woran mich B. Gladigow in der Diskussion dankenswerterweise erinnert) das homerische Bestreben zu nennen, ,den Sinn (die Einsicht) der Menschen zu erkennen', νόον γ ι γ ν ώ σ κ ε ι ν (Od. 1, 3; vgl. B. Snell, Entd. d. Geistes 5 1975, S. 21ff.; K. v. Fritz, Horn. Gebrauch von noos und noein [ursprüngl. 1943 u. 1945], in: H. G. Gadamer [Hsg.], Um die Begriffswelt der Vorsokratiker 1968, 246-362, zusf. 281); aber der homerische νόος ist nicht die Gesamtheit des menschlichen Bewußtseins und auch das νόον γ ι γ ν ώ σ κ ε ι ν geschieht nicht in einem einheitlichen Erkenntnisakt, sondern setzt sich in ethnographische Einzelbeobachtungen um. 6

S. D. Timpe, Ethnol. Begriffsbildung (wie Anm. 2), S. 28ff.

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dem vorangehenden Abschnitt, der von der Stellung und Verehrung der Frauen handelt, durch eine kontrastive Assoziation verknüpft7. Götterverehrung und Mantik verbindet gedanklich das Motiv .Wahrnehmung des Göttlichen' (deorum nominibus appellant secretum illud, quo ... vident); von der Mantik endlich leitet die Erwähnung der Weissagung aus dem Zweikampf (da die Prognose eines Kriegsausganges auch der Entscheidungsfindung dient) über zum Thema .öffentliche und private Beschlußfassung' in c. 11. Die beiden religiösen Gebiete Kult und Mantik sind also in der üblichen Weise als völkerkundliche Rubriken thematisiert und miteinander sowie mit anderen assoziativ verknüpft. Die Hervorhebung eines Hauptkultes (deorum maxime Mercurium colunt) und grundsätzlich auch die Verbindung von Kult und Opfer (Hauptkult auch mit Menschenopfern, Nebenkulte nur mit Tieropfern verbunden) entsprechen der Tradition. Die andere durch sie gegebene Möglichkeit, über die Kulte zu den dafür zuständigen Priestern zu gelangen, bleibt hier - nicht zufällig - ungenutzt, während die Rolle der Priester bei der Ausübung öffentlicher Strafgewalt erwähnt und auch ausdrücklich als Erfüllung eines göttlichen Auftrages ausgelegt wird (7, 1). Eine kultische Bedeutung der Schwerttänze (c. 24, 1) ignoriert Tacitus mit ihrer Einordnung in die spectacula und den damit geweckten Assoziationen (ludicrum, ars, decor und quaestus). Ähnlich betont er bei den funera (27) nur ihre Prunklosigkeit, die eine Differenzierung nach Stand und Geschlecht nicht ausschließt, und unterstellt der unreflektierten Schlichtheit des germanischen Rasenhügels dasjenige sichere Stilgefühl, das marmorner Prunk vermissen läßt. Allenthalben geht die spezifisch religiöse Interpretation schnell über in den Aufweis eindrucksvoller Schlüssigkeit der barbarischen Lebensordnung im Ganzen. - Schließlich gehört die berühmte Mannusgenealogie (2, 2 - 3), die in Kultliedern (carmina antiqua) gefeierte Herkunft der Germanen vom erdentsprossenen Gott Tuisto, entsprechend der Gattungstradition zu dem Teil der ethnographischen Beschreibung, der - im Gegensatz zu mores- und situsSchilderung - der origo gentis gewidmet ist. Dort hat auch die Herkules-mmona ihren Platz, die so unentwirrbar einmal dem Kulturbringer, dann wieder dem Vorkämpfer gilt und deshalb auch die Assoziation an den mantischen Schlachtgesang des barditus erlaubt. Es ist dagegen weder ergiebig noch durch die kompositionelle Stellung dieser Herkules-Erwähnung nahelgelegt, den Herkules der origo mit der in c. 9 genannten Gottheit der Hauptkulttriade: Merkur, Herkules, Mars in theologisch-systematisierende Verbindung zu bringen. So zeigt der Aufbau der Topik des allgemeinen Teils in der Tat, daß die Aussagen über germanische Religion nach ihrer Verteilung, Anordnung und auch

7 S. dazu D. Timpe, Zum polit. Charakter d. Germanen i. d. Germ. d. Tac., in: Alte Gesch. u. Wissenschaftsgesch. (Fschr. K. Christ) 1988, S.509.

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sachlogischem Verständnis den Vorgaben der ethnographischen Tradition verpflichtet sind. Die größte formale Besonderheit der Germania, die Teilung in einen allgemeinen und einen speziellen Teil, scheint sich allerdings in die von der Tradition gegebenen Fluchtlinien nicht einzufügen. Doch gilt das allenfalls für die Form, für die Verselbständigung der stammesmäßigen Differenzierung, nicht für die Erwähnung religiöser Phänomene im zweiten Teil. An drei Stellen geht Tacitus dort auf religiöse Besonderheiten der Einzelstämme ein, beim Kult im Semnonenhain (39), beim Nerthus-Kult (40, 2-4) und beim Dioskurenkult der Nahanarvalen (43, 3-4); möglicherweise verbirgt sich im nächtlichen Heer (43, 4) ein kultisches Geschehen. Die Isis-Verehrung eines Teils der Sueben (9, 1), die als räumlich begrenzte Besonderheit auch eher im zweiten Teil Erwähnung finden sollte, wird im Götterkapitel neben den drei Hauptgöttern genannt und erweckt dadurch die Vorstellung besonderer Wichtigkeit dieses Kultes. - Einzelnes wird bei den Aestiern erwähnt (Verehrung der mater deum: 45, 2); den Fenni wird unbekümmerte Haltung gegen die Götter (46, 3) nachgesagt; hier gipfelt extremer Mangel und extremes Fehlen normaler, vorsorgender Haltung in einer spezifischen religiösen Primitivität. Es sind also vor allem Kultbräuche, die als bemerkenswert hervorgehoben werden; die Begründung пес quicquam notabile in singulis nisi... leitet deshalb die Beschreibung des Nerthus-Kultes ein. Beim Isis-Kult erregt die durch das Bild des Schiffes dokumentierte Fremdheit das Interesse; ähnlich wirkt wahrscheinlich bei den Aestiern die Verehrung der Göttermutter. Der Kult des regnator omnium deus bei den Semnonen entspricht der Autorität dieses Stammes als des ältesten und vornehmsten der Sueben. Der Alcis-Kult bei den Nahanarvalen verdankt seine Erwähnung anscheinend der römischen Analogie zum römischen Dioskurenkult. Allemal handelt es sich um religiöse mirabilia. Die securitas (Unbekümmertheit) der Fenni gegen Götter und Menschen, ein sinnfälliger Ausdruck ihres extremen Primitivismus, kann schon als religionsgeschichtliche Information kaum noch gewertet werden. Kultdiener, also Priester, gibt es nach Tacitus als Stand nicht, und er stimmt insoweit, mit Caesar überein, dessen Urteil am Vergleich mit den gallischen Druiden orientiert ist (B.G. 6, 23, 1). Aber offensichtlich haben nicht nur einzelne Kulte wie die der Nerthus und der Alcis ihre dafür zuständigen, speziellen Funktionäre, sondern übt beim Vollzug öffentlicher Aufgaben (Opfer, Auspizien, Versammlung, sakrale Strafgewalt) der sacerdos civitatis überall seine Funktion aus (7, 1. 10, 1. 2). Analoges leistet jedoch in seineml Bereich der pater familiae (10, 1, vgl. 13, 1), so daß die priesterliche Funktion auf allen Stufen einer einheitlichen religiös-patriarchialischen Ordnung zutage tritt und wichtiger ist als das priesterliche Amt. Der als universell geglaubten göttlichen Führung, der durchgängigen religiösen Heteronomie der Germanen, die in extensivem Auspiziengebrauch (10, 1 ut qui maxime) oder der Überzeugung, die Menschen seien

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nur ministri, die Pferde aber conscii deorum, zum Ausdruck kommt, entspricht der priesterliche Nebenaspekt jeder sozialen Autorität. Die subjektive Seite der Religion, der Glaube, findet in ethnographischen Beschreibungen, wenn überhaupt, dann nur da Berücksichtigung, wo er sich in Haltung und Verhalten ausprägt, die dem Außenstehenden deutlich werden und dabei oft genug als illusionär erscheinen müssen. In diesem Sinne ist in c. 7 von der Überzeugung die Rede, daß der Kampfgott den Kriegern beistehe und seine den Hainen entnommenen Unterpfänder sie in die Schlacht begleiteten. Von frommer Gesinnung, religiöser Innerlichkeit spricht der Ethnograph aber genau genommen nur in metaphorischem Sinne8 oder als Ergebnis einer interpretierenden Deutung9. Der Überblick über das Material bestätigt also, daß die Germania einen Gegenstandsbereich .Religion' nicht kennt und als solchen nicht behandelt. Wohl aber rubriziert sie, wie ihre traditionsgeschichtlichen Vorgänger auch, einzelne, der Beobachtung zugängliche Sektoren der völkerkundlichen Realität, und unter diesen auch Kult, Opfer, Magie und andere äußere Erscheinungsformen der Religion, die darum auch im wesentlichen im Abschnitt über das öffentliche Leben ihren Platz haben. Die Mitteilungen der Germania über Religiöses können in der Tat nur als Ausfüllung eines Programmes verstanden werden, das durch die literarische Gattung festgelegt war. Π Damit stehen wir vor der alten Erkenntnis der philologischen Toposforschung und deshalb auch vor der alten Frage, wie diese Mitteilungen einzuschätzen sind: als konventionelle, entleerte Klischees (Wandermotive), als aus Voreingenommenheit und Unkenntnis geborene Fehldeutungen oder als wertvolle und einzigartige Sachinformationen Die festen Bahnen, in denen sichl völkerkundliche Beobachtung dank der Prägung durch die Gattungstradition vollzog, konnten den Blick für das Typische schärfen oder auch das Verständnis des Individuellen verstellen. So ist ζ. B. Caesar durch den Topos .Götterverehrung, ausgewiesen 1

So. G. 18, 2 von den martialischen Ehegeschenken: hos coniugales deos arbitrantur.

9

So von dem sacrum der Frauen (8, 2), der Scheu vor den heiligen Hainen (9, 2), dem tempelund bildlosen Kult als der magnitudo caelesüum allein angemessen (9, 2). 10 Es ist das Problem, das mit den Arbeiten von E. Norden (Germ. Urgeschichte in Tac.' Germ. 1922), Wissowa und Trüdinger (s. Anm. 2) formuliert worden ist; zur Orientierung siehe die Vorbemerkungen in Α. A. Lunds Germania-Kommentar (1988), S. 1 Iff., die Einleitung im Sammelband H. Jankuhn - D. Timpe, Beiträge (wie Anm. 2) und B. Patzek, Hist. Bedingungen (wie Anm. 2). 3

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durch Opferkult' innerlich sosehr auf die Ausfüllung einer vorgegebenen Rubrik eingestellt, daß er sogar das - angebliche - Fehlen von Kulten und Opfern bei den Germanen vermerkt (B.G. 6, 23, 1). Wie die wesentlich reicheren religionsgeschichtlichen Angaben des Tacitus nach ihrer Herkunft und inhaltlichen Zuverlässigkeit einzuschätzen sind, kann man deshalb aus der traditionsbedingten Foimung des Stoffes allein noch nicht erschließen, die doch auch in keinem Falle übersehen werden darf. Und weil die Germania bekanntlich im wesentlichen isoliert dasteht, kann diese, für jeden an der Sachaussage Interessierten elementare und entscheidende Frage auch durch Vergleich mit externer Evidenz nicht oder nur ganz ungenügend beantwortet werden. Wir sind deshalb auf Operationen verwiesen, die uns der Bewertung dieser Quelle auf indirekte Weise näherbringen und beginnen sie am besten mit Beobachtungen zur Komposition.

1. Kultisch organisierte Götterverehrung ist wie Mantik deshalb ein fester Topos der antiken Völkerbeschreibung, weil ihr ein klar umgrenzter Wirklichkeitsbereich entspricht. Da Opferkult und Mantik aber für eine nüchterne ethnische Verhaltensforschung ganz gesonderte Gebiete darstellen, haben sie zunächst auch literarisch nichts miteinander zu tun; dem entspricht die gewöhnliche kompositionelle Trennung der beiden Bereiche in der ethnographischen Literatur. Bei Tacitus ist das nun anders: auspicia sortesque folgen auf deorum cultus, und sicherlich liegt der Grund für diese andere kompositioneile Entscheidung in dem Zusammenhang, den für den Autor die Sachgebiete selbst haben. Die Orakeleinholung erscheint nicht mehr bloß als abergläubisches Ritual (wenn es auch auf den ersten Blick so aussieht), sondern erweist sich als durchdrungen von religiösem Erleben. Sie entspricht damit der Haltung, die im bildlosen Kult zum Ausdruck kommt. Als erste Form germanischer Orakelpraxis beschreibt der Historiker unverhältnismäßig detailliert und anschaulich die Herstellung und Deutung der vielleicht mit Runen versehenen 11 Orakelstäbchen: Fruchtholz wird in Stücke geschnitten, markiert und auf einl reines Tuch verstreut; der Priester oder Hausvater nimmt drei davon auf und deutet sie; bei ungünstigem Ergebnis wird die Befragung ausgesetzt, bei günstigem die Bestätigung durch Vorzeichen gesucht. Hier wird bereits durch sprachliche Mittel und assoziative Anklänge die Nähe zu römischer Auspikationspraxis angestrebt, die dem Vergli11 Zum Charakter der notae s. A. Mentz, Die notae d. Germanen bei Tac., Rh. M. 86 (1937), S. 193ff.; K. Düwel - M. Gebühr, Die Fibel von Meldorf und die Anfänge der Runenschrift, Zeitschrift für dt. Altert, u. dt. Lit. 110 (1981), S. 159ff.; E. Seebode, Was haben die Germanen mit den Runen gemacht?, in: B. Brogyania - Th. Kümmelbein (Hsg.), Germanic Dialects 1986, S. 524ff.; K. Düwel, Runenkunde 2 1983.

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chenen den gefühlsmäßigen Respekt des Lesers, eine gewisse emotionale Adäquanz, sichern soll12. - Fremdartig und solcher Angleichung nicht fähig ist die zweite Form der Zukunftserforschung, die Weissagung aus dem Verhalten der Pferde: An einen heiligen Wagen geschirrt tun sie dem sie begleitenden Stammespriester oder -fürsten durch Wiehern und Schnauben den Götterwillen kund, eine Offenbarung, die nicht nur beim abergläubischen Volk, sondern auch bei den Autoritäten Glauben findet. Dieses Abgleiten des Gedankens in die subjektive und religionssoziologische Richtung dient hier wie so oft in der Germania der kontrastierenden Anspielung auf römische Verhältnisse, aber mittels der Kritik des Eigenen auch der interpretierenden Erhellung des Fremden: Auch die mit der Orakelpraxis ex officio Befaßten sind bei den Germanen gläubig Ergriffene; sie lächeln nicht jenes zynische Augurenlächeln beim technischen Vollzug der Riten einer politischen Religion, sondern sie halten sich wirklich für Diener der Götter, die Pferde aber (womit der ursprüngliche Vergleich in einen anderen umschlägt) für numinose Wesen, conscii deorum. Nicht eines bestimmten Gottes Mitwisser und Vertraute heißen die Tiere also, sondern der himmlischen, der überirdischen Mächte generell, denen damit eine für rationale Erkenntnis nicht erreichbare, aber einheitliche religiöse Realität zugeschrieben wird, von der der Fromme ehrfurchtsvoll einen Zipfel hebt. Damit ist in der Tat nicht Mantik im alten Sinne, sondern das Heilige, ist Religion angesprochen. Das Kapitel über die Götterverehrung beginnt mit der Nennung der Triade der Hauptgötter (Merkur, Herkules, Mars), ohne die Kulte oder den Zusammenhang der drei Gottheiten irgendwie zu charakterisieren; allein den Grad ihrer Verehrung bezeichnen die Hervorhebung des Merkur und die unterschiedliche Schwere der Opfer. Nach dieser kurzen Mitteilung läßt sich der zweite, längere Satz über den Isiskult aus, dem ein Teil der Sueben huldige, er sei erstaunlich, meint Tacitus, wegen der erkennbar, aber nicht erklärbar ungermanischen Herkunft. Dann folgt der eigentlich entscheidende und umfangreichste dritte Satz, die mit ceterum angefügte Betrachtung über den tempel- und bildlosen Kult, die wirkungsvoll dem negativen Vermeidenl das positive Verhalten gegenüberstellt. Die Weihung der Haine und die Gestaltlosigkeit der Gottheiten verraten ein lebendiges Verständnis für die Macht der Himmlischen (magnitude» caelestium, ein ähnlicher Kollektivplural wie das schon erwähnte dei im nachfolgenden Kapitel). „Mit den Götternamen" (dagegen), heißt es abschließend, „bezeichnen sie (nur) jenes numinose Geheimnis (secretum illud), das ihre Ehrfurcht sie erschauen läßt".

12

Candida vestis: s. J. G. C. Anderson, Komm. (1938) z. St., A. Lund, Komm. (1988) z. St.; der Ausdruck (so nur bei Liv. 5,22,4, sonst pura vestis: Verg. Aen. 12,169; Tib. 1,10,27. 2,1,13) bezieht sich sonst nur auf menschliche Kleidung. - temere et fortuito: s. A. Gudeman, Komm. (1916) z. St. - Selten und gewählt oder technisch sind: amputare, ter... tollere.

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Der sehr eigenartige Aufbau dieses Kapitels läßt jede sachgerechte Proportion vermissen. Er macht die Hauptsache kurz ab, verweilt bei einer Partikularität und ergeht sich in der Ausdeutung einer Haltung. Die Klimax des Kapitels verbindet sich mit der Tendenz, dem objektiv Faßbaren den untersten Rang zuzuweisen, zum sinnerfüllten Höhepunkt aber etwas kaum Greifbares zu machen, das leicht auch als barbarisch-primitiver Mangel verstanden werden könnte, ohne es logisch doch anders als beiläufig (ceterum) mit dem Anfang zu verbinden. Aber eingehenderer Interpretation erschließt sich der gedankliche Zusammenhang. Wenn über die Götter nichts als ihre Besänftigung durch Opfer, dies aber in beziehungsvollen Ausdrücken13, mitgeteilt wird, so ist der Maßstab der Betrachtung nicht der sektorale Inhalt der Kulte, sondern die Intensität des religiösen Verhaltens. Ihm entspricht die Steigerung und der Umfang des Schlusses, und die Relativierung der Götternamen am Ende (nominibus appellant secretum illud) rechtfertigt die Kürze des Anfangs. Die befremdliche Nennung der Isis (befremdlich auch deshalb, weil sie kein religiöses generale darstellt) erklärt sich am ehesten14 aus kontrastierender Absicht: Nur der fremde Kult kennt die Bildhaftigkeit, die ihnl gerade als solchen ausweist, und das religiös Untypische entbehrt andererseits der allgemeinen Anerkennung. Hier dient also der objektive Kult bloß als Ausgangspunkt für einen Gedankengang, der zur Erfassung religiösen Verhaltens von innen heraus hinführt und damit die Grenzen der alten ethnographischen Rubrik cultus deorum hinter sich läßt. Ebenso gelangte die Schilderung der Orakel weit über Äußerliches, Superstitiöses und Zeremonielles hinaus zur Würdigung der Ehrfurcht vor dem Göttlichen, mit der der Primitive selbst krude und befremdende Bräuche erfüllt und in13

Für das Opfern werden die Verben litare, placare und sacrificare gebraucht; das Opfern von hostiae humanae certis diebus wird Wer mit dem entlegenen pontifkalrechtlichen Terminus litare bezeichnet, der in der Kaiserzeit mit sacrificare synonym gebraucht werden kann. Litare ist das Opfern nach der immolatio und probatio des Opfertieres, d. h. in korrekten Formen und unter gunstigen Vorzeichen; vgl. G. Wissowa, RE 13 (1926), Sp. 740ff. s. v. litatio; K. Latte, Rom. Religionsgesch. I960, S. 388f. Da die litatio eigentlich das positive Ergebnis einer Inspektion der exta bedeutet, weckt die Formulierung die Vorstellung, daß dem Opfer eine fachgerechte Untersuchung der hostia durch haruspices vorausgeht und eine priesterliche Leitung wie beim römischen Staatsopfer anzunehmen ist. Obwohl im Gegensatz zu Bitt- und Dankopfern (in quo voluntas dei per exta disquiritur, Macr. s. u.) bei der Hasse der Sühneopfer meistens die exta gar nicht inspiziert werden (Trebatius, de religionibus 1.1 bei Macr., Sat. 3, 5 , 1 i. Verb, mit Serv. Aen. 2,119 u. 3, 231), dürfte doch eher an regelmäßig wiederkehrende Sühneopfer zu denken sein, weil diese als Substitution ursprünglicher Menschenopfer galten; der germanische Opferbrauch würde damit als besonders archaisch charakterisiert sein. Noch näher liegt vielleicht die Assoziation besonderer religiöser Inbrunst: die Bemühung, die Götter zu versöhnen, müssen bis zum Erfolg (den die litatio anzeigte) fortgesetzt und wiederholt werden, ihr Sinn ist das pacem deum impetrare (Liv. 6, 1. 12. 27, 23,4). 14

Zu einer anderen mit der Isis-Erwähnung verbunden Assoziation s. u. S. 452.

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soweit begreiflich macht. Die Sachgebiete Götterkult und Mantik werden nicht als solche exakt vermessen und für sich beschrieben, sie bieten eher Anstöße zur Erkundung tieferer Haltungen und seelischer Strukturen; diesen gegenüber erscheint umgekehrt das äußerlich Beobachtbare bloß noch als Oberflächenphänomen. Das Stoffliche und Faktische trägt seinen Sinn weniger in sich selber, als daß es etwas bedeutet. Als Bedeutungsträger weist es über sich hinaus und kann über seine Bedeutungsaspekte auch miteinander verknüpft werden, wie eben hier Kult und Mantik durch die ehrfürchtige Scheu vor dem Numinosen miteinander verbunden sind und deshalb auch neben- und nacheinander beschrieben werden. Diese Betrachtungsweise des Autors Tacitus erklärt seine Technik der assoziativen Verknüpfung, die an die Stelle statischer Rubriken einen Fluß von Vorstellungsbildern setzt, den Bedeutungsübergänge ermöglichen15. Aber auch einer ungeheuren Subjektivität und Deutungswillkür wird durch die Suche nach dem Bedeutungshaitigen die Tür geöffnet. Es liegt gewiß nicht an der geringen Bedeutung ihrer Kulte, daß über die drei germanischen Hauptgötter inhaltlich nichts ausgesagt wird, aber es ist ein Gedanke des Tacitus, daß die Rangfolge der Verehrung sich in der Schwere der Opfer ausdrücke, und sehr zweifelhaft, ob ein richtiger. Der unverhältnismäßige Umfang der Beschreibung der Zukunftserforschung durch Stäbchenorakel steht im krassen Mißverhältnis zur lakonischen Nennung des Merkurkultes, aber in den Vorgang der Orakeleinholung mit seinen Begleitumständen (bis zum reinen Tuch unter den Holzschnitzeln) legt Tacitus - vermittelt durch inhaltliche und sprachliche Anklänge an römische Ritualpraxis - ein Höchstmaß an Stimmungsimpulsen. In vergilischen Farben und mit feierlich-epischen Formeln wird das Tremendum des semnonischen Fesselhaines ausgemalt; großartig deutet im Nerthusfest der Kontrast zwischen Festfreude und schauerlichem Geheimnis die Spannweite archaischer Religiosität an. Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, hier überall Deutungslleistungen des Tacitus zu erkennen. Er spürt allenthalben immanente Bedeutungen auf, sei es im Grabhügel, in der Todesstrafe oder im Fehlen von Kultgebäuden, oder er trägt sie von außen heran, selbst bei so entlegenen Anlässen wie den Mondterminen der Volksversammlung oder der Mitgift 6 . Er vertieft damit seine Darstellung ganz außerordentlich, aber macht das Material auch zum Vehikel seiner Reflexion; er scheint sich deshalb bei der Auswahl und Akzentuierung seiner Mitteilungen überhaupt von ihrer Bedeutungshaltigkeit, ihrem wirklichen oder vermeintlichen Sinnpotential eher leiten zu lassen als von der objektiven Faktizität. Er setzt hinter den Erscheinungen der Wirklichkeit eine Hinterwelt der Sinnbezüge und eine 15

Vgl. zur assoziativen Verknüpfung von 8 , 2 mit 9, 1: D. Timpe, Z. pol. Charakter (wie Anm. 7), S. 509, und zum Realitätsverständnis überhaupt: ders., Tacito e la realtä storica, in: Epigrafia e territorio. Politicae societä. Temi di antichitä romane II, Bari 1987, S. 215ff. 16

11,1 hoc auspicatissimum initium credunt; 18,2 hos coniugales deos arbitrantur.

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abstrakte Struktur voraus, die dem Konkreten erst seine Relevanz und Aussagekraft verleiht und die deutend zu erschließen ihm wichtiger ist als das Beobachtbare nüchtern zu ordnen. 2 Das Verständnis dieser Denk- und Kompositionsweise erlaubt eine bessere Einschätzung auch der religionsgeschichtlichen Nachrichten der Germania, zunächst im Hinblick auf ihre Selektion und Stilisierung. Glücklicherweise ist nicht nur den Parallelquellen, sondern sogar Tacitus selbst zu entnehmen, daß es viel mehr und differenzierteres Wissen über Germanien und den bios der Germanen (einschließlich seiner religiösen Aspekte) gab, als die den Germanen gewidmete Spezialmonographie zur Sprache bringt. Vielfach gibt erst solcher Vergleich zu erkennen, wie verkürzt und stilisiert die Darstellung der Germania ist. Daß die heiligen Haine der Germanen mannigfaltige Verwendung als Festwiese (h. 4,14,2), Schlachtort (a. 4,73,4), Versammlungsplatz (a. 2,12,2), Opferstätte (a. 1,59,3), Depot für Weihungen (h. 4,22,2) fanden und nicht einmal terminologisch einheitlich gefaßt wurden17, läßt vermuten, daß sie für Römer eine wohlvertraute Einrichtung ihrer barbarischen Nachbarn darstellten, mit der sich aber eine rechtliche oder religiöse Bestimmtheit offenbar nicht verband. Die hieratische Feierlichkeit, mit der sie verengt als Weihebezirke und Orte der schieren reverentia (G. 9, 2. 43 ,3) geschildert werden, gibt sich von da aus als tendenziöse Stilisierung zu erkennen. - Viele summarische Erwähnungen der Götter, sogar in der Germania selbst, machen klar, wenn es eines Beweises dafür überhaupt bedarf, daß das Pantheon über die Triade Merkur, Herkules, Mars weit hinausreichte. - Die Weihung und Opferung der Schlachtgegner an Mars und Merkur durch Hermunduren undl Chatten (a. 13,57,2) oder die Bezeichnung des Mars als obersten Gottes durch die Tencterer (h. 4,64,1) erweisen die Rangordnung der drei Hauptgötter und ihre Verkoppelung mit dem Opferkult als geistreiche, allzu künstliche Verallgemeinerung. - Der im Zusammenhang der Germanicusfeldzüge genannte Tanfanatempel (a. 1,51,1) relativiert die Aussage über den tempellosen Kult ebenso, wie die häufige Erwähnung von simulacra und Tierzeichen die Bildlosigkeit der germanischen Götterverehrung als Vereinfachung in ethisierender Absicht enthüllt, was ja schon öfter bemerkt worden ist18. - Das romkritische Bonmot über die germanische Frauenverehrung, die sich von Adulation und Menschenvergötterung jedoch freihalte, erweist sich als solches, wenn man eine,

17 Die Haine heißen nemus, lucus oder Silva; J. de Vries, Germ. Religionsgesch. 1 (1970), S. 35Iff.; Α. V. Ström, in: Α. V. Ström - H. Biezais, Germ. u. Bait. Religion 1975, S. 214ff. 18

Bringmann, Topoi (wie Anm. 2), S. 71ff.

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das genaue Gegenteil besagende Formulierung der Historien (4, 61, 2) daneben hält. Es wäre unberechtigt, solche Kritik mit dem Argument abzuweisen, daß von einer skizzenhaft vereinfachten Schilderung mehr als Hauptlinien nicht erwartet werden könnten. Denn Tacitus arbeitet keine Hauptlinien heraus, indem er dem sachlich Wichtigeren das weniger Wichtige opferte; er reduziert den Stoff nicht proportional gleichmäßig, sondern wechselt ständig zwischen Nähe und Distanz zum Objekt, zwischen Ausführlichkeit, Kürze und Weglassen. Das jeweils gewählte Verfahren rechtfertigt er nicht und unterwirft es nicht methodischer Kontrolle, sondern teilt autoritativ seine Ergebnisse mit. Nur selten und eher mit aristokratischer Großzügigkeit als mit forscherlicher Sorgfalt vermerkt er hier und da Grenzen eigener Kenntnis (9, 2. 5, 2. 33, 1. 46, 1) oder das Hypothetische des eigenen Urteils (2, 1.4, 1. 29 ,3. 45, 5), wohl eher um elegant und indirekt Kennerschaft im übrigen zu beanspruchen. Ohne Zweifel ist die Auswahl der Nachrichten mehr von Wertung als von Stoffökonomie abhängig und müssen die Prinzipien der Wertung erkannt sein, wenn der Charakter der Auswahl gewürdigt, ihr Ergebnis beurteilt werden soll. Grundgedanken des Germania-Autors sind die eindrucksvolle Einheitlichkeit, Stimmigkeit und Konsequenz des germanischen Volkscharakters. Den einheitlichen Habitus aller Germanen vom Rhein bis zur Ostsee und Sarmatengrenze stellen folkloristische Besonderheiten, auch die Dualität Sueben - Nichtsueben, nicht in Frage; es gibt für Tacitus nicht Süd- und Nordgermanen. In der genetischen und historischen Unableitbarkeit der Germanen und in der Korrelation von Charakter und Landesnatur ist die ethnische Wesenseinheit naturhaft begründet. Mit untrüglicher Sicherheit prägt sich der Volkscharakter in Sitte und Lebensordnung, in Lastern und Tugenden, in Fühlen und Handeln aus, reguliert unbewußt, was kaum zweckhafte Ordnung zuwege bringen könnte. Die barbarische Primitivität der Germanen kann als Gleichgewichtszustand zwischen Mangel und Bedürfnisllosigkeit idealisiert, als Kraftquelle gefürchtet, als Unfähigkeit für rationale Disziplin geringgeschätzt werden. Sie ist als Gegenwelt kulturkritisches Modell und politische Beunruhigung in einem, für den imperialen Ordnungsanspruch ein barbarischer Rand, für die prinzipatsoppositionelle Freiheitsideologie ein Wunschbild, für die historische Erfahrung ein steter Widerspruch zwischen Potential und realer Erfüllung. Solche Wertungen bestimmen auch die Selektion und die Akzente in der Schilderung der religiösen Phänomene. Statt sie als Beobachtungsmaterial zu rubrizieren, sucht Tacitus mit ihrer Hilfe - nur formal die alte Topik weiterführend, sachlich sie aber aufhebend - eine allgemeine Hintergrundstruktur zu veranschaulichen und deutet das Einzelne - ingeniös, willkürlich oder falsch, jedenfalls mehr autoritativ denn methodisch - als bedeutungshaltigen, über sich hin-

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ausweisenden, partiellen Ausdruck einer tieferen Wirklichkeit. Über sie sagt Religiöses mehr aus als andere Lebensbereiche es tun könnten; deshalb betrachtet Tacitus religiöse Phänomene als besonders bedeutungshaltig und ausdrucksfähig, bedenkt er sie überall mit Aufmerksamkeit, überfrachtet sie mit Deutung und gibt sie für sachlich relevant aus, sofern sie sich seiner Auffassung einfügen, im Rahmen eines mehr oder weniger vorgegebenen Gesamtbildes als signifikant gelten können. So schildert er breit die Losorakel und erwähnt vom Wotanskult nur, daß es ihn gab und er Menschenopfer forderte, behauptet er unglaubwürdigerweise einen geschlechtsspezifischen Unterschied zwischen Trauern und Totengedenken19 und weist er gern überall auf einen machtvollen Aberglauben hin, wenn der sich nur als Indiz ehrfürchtiger Stimmung, kosmischen Abhängigkeitsgefühles oder unbewußter religiöser Lebenssteuerung auslegen ließ. Was wir also bei Tacitus finden und erwarten dürfen (oder müssen), ist ein spezielles Interesse an religiösen Ausdrucksformen germanischer mores mit manchmal tiefem Verständnis und nicht selten auch tiefem Mißverständnis. Der Historiker berichtet nicht viel oder wenig, nicht Informatives oder Unglaubwürdiges, nicht Wichtiges oder Belangloses über germanische Religion, aber weniger als er wirklich wußte und doch mehr als er bei nüchterner Kritik hätte behaupten dürfen. Er hob weniger das Wichtigste als das Bezeichnendste hervor und entnahm den Maßstab dafür nicht der Eigengesetzlichkeit der Religion, sondern den mores der Germanen im ganzen, die durch ihre Schlüssigkeit und unbewußte Sinnhaltigkeit imponierten, ohne deshalb nachahmbar oder auch nur nachahmenswert zu sein, wenn sie sich auch zur Pointierung ethnologisch verfremdeter Zeitkritik anboten. Vor allem haben wir mit einer weitgetriebenen Auswahl, Verformung und Aufbereitung des Materials zu rechnen, das - weit entfernt von naiver, unreflektierter Darlbietung im Stile Herodots - völlig in die gedanklichen Bezüge des Autors eingeschmolzen ist und daraus kaum wieder herausgeholt werden kann, das andererseits auch - und nicht zuletzt - ganz weggelassen wird, wo es dem Autor gedanklich inkommensurabel vorkommt. Darum ist von Mythologie und religiöser Volksüberlieferung, von der ganzen niederen Religiosität nicht die Rede, erfahren wir nichts über ordinären Schadenszauber, nichts über Schicksals- und Jenseitsglauben und vieles andere. Wenn aber in der Germania keine Riesen, Zwerge und Disen, keine Fylgja oder Wiedergänger vorkommen, wenn wir von Thors Hammer nichts hören und nichts von Lokis List und wenn wir den Wotan der Edda höchstens mit Zweifeln im taciteischen Meikur wiedererkennen, wenn nur von der wehmütigen Trauer vor dem Rasenhügel die Rede ist, aber nicht von so deftigen Sachen wie der Pfählung des Toten, um ihn im Grabe zu halten, so wissen wir allemal nicht, ob Tacitus nichts 19

27,1 feminis lugere honestum est, viris meminisse.

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davon sagt, weil es im Germanien seiner Zeit nichts dergleichen gab, oder weil es ihm nicht bekannt geworden war, oder weil er eine Information ausschied, die nicht in sein Bild paßte. Die Barriere, die jeder von außen kommende, durch sachfremde Kategorien geleitete, der Sprache unkundige Beobachter fremder Religion zu überwinden hat, bestand für Tacitus so gut wie für Herodot. Er war dafür bereit, positive innere Kräfte und eine sinnvolle ganzheitliche Lebensgestaltung in der germanischen Welt vorauszusetzen, die fremdartigen Erscheinungen als Ausdruck eines ethnischen Habitus zu würdigen. Dem Religiösen galt unter diesem Aspekt sogar das besondere Interesse des Tacitus, wenn es sich auch weniger in methodisch geregelter und objektiv kontrollierbarer Forschung niederschlug, sondern dem autoritativen Anspruch des Historikers unterlag, dem Kompetenten und Kenner richtige Einsicht in gültiger Form zu vermitteln. In die Germania ist also zwar ein hohes Maß von Wissen und Kenntnis über germanische Religion eingegangen, aber in einer Legierung, die nicht erlaubt, es als Datenmaterial einfach abzufragen. Die Interpretation, die diesem Sachverhalt Rechnung trägt, ist auf Wege angewiesen, die den religionsgeschichtlichen Inhalt durch die gedankliche Prägung hindurch erschließen und dieser Einblicke abgewinnen, die auch inhaltlich ergiebig sind.

Ш Einen solchen Ausgangspunkt bietet die Weise, wie Tacitus von den Göttern der Germanen und der von ihnen repräsentierten religiösen Wirklichkeit denkt und spricht, sein Umgang mit der .religiösen Grammatik' des Polytheismus. Wir werden dafür zunächst auf das bekannte Phänomen der sog. interpretatio Romana verwiesen.! Dieser, der Germania (43, 3) entnommende Ausdruck wird gewöhnlich bezogen auf die „Überzeugung, daß die Gottheiten fremder Religionen nur im Namen sich von den römischen unterscheiden, innerlich aber mit ihnen wesensgleich oder verwandt sind".20 Interpretatio Romana in diesem Sinne stellt also die Funktionsgleichheit oder -ähnlichkeit religiöser Gestaltungen fest und übersetzt darum ihre Namen. Schon die alte Ethnographie gebrauchte dieses Verfahren zum Verständnis der Hauptgötter einer fremden Religion, die Römer im 2. Jahrhundert v. Chr. aber systematisch, um griechischen Göttern und Mythen römi-

20

G. Wissowa, Religion u. Kultus der Römer 21912, S. 85, generalisiert etwa bei G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion 31970, S. 696f.

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sehe Entsprechungen zuzuordnen 21 . Der kulturassimilatorischen Absicht kam dabei die stärker auf Funktionen als auf Personen ausgerichtete Eigenart der römischen Religion entgegen. - Die philosophisch geprägte spätrepublikanische Auseinandersetzung mit der römischen Religion, die in der varronischen Theologie gipfelte, zielte dagegen auf die intellektuelle Relativierung der polytheistischen Kultpraxis, die nur noch als schwacher Abglanz der metaphysischen Wahrheit und lediglich als politisch opportune Veranstaltung anerkannt wurde. Die angemessene, geistige Gottesverehrung bedurfte danach der Riten und Opfer nicht, sie strebte nach Übereinstimmung mit der weltleitenden göttlichen Providentia, wie die Stoiker sagten, oder lehrte wie Lukrez die Befreiung von der superstitiösen Angst 22 . Die philosophische Interpretation fremder Religionen übersetzte nicht mehr Benennungen wesensgleicher religiöser Potenzen, sondern führte alle Formen ziviler Religion auf die ihnen gemeinsam zugrunde liegende geistige Wirklichkeit zurück. Und sie fand im Grade der Annäherung der Ritualpraxis an die kult- und opferfreie philosophische Gottesverehrung einen genuin religiösen Bewertungsmaßstab. - Schließlich verwendete Wissowa den Begriff interpretatio Romana, um die besonders im kaiserzeitlichen Westen gebräuchliche Latinisierung einheimischer Gottheiten zu charakterisieren; diese Interpretation war ein Aspekt der von Militär und Handel getragenen Romanisierung und deshalb auf bestimmte soziale Schichten beschränkt. Der vonl Römern begonnene und dann von romanisierten Einheimischen übernommene Brauch bezweckte keine theologische Deutung, um damit kulturelle Gleichrangigkeit zu demonstrieren, sondern betrieb einfach Verehrung der Landesgötter in Sprache und Stil der Herrschenden, denen sich die anpaßten, die dazugehören wollten 23 . - Die Möglichkeiten, von interpretatio Romana zu sprechen, überschneiden, aber decken sich nicht, und es fragt sich deshalb, was Tacitus meint, wenn er 43, 3 von den Alcis der Nahanarvalen spricht, die interpretatione Romana Castor und Pollux seien, in welcher Weise er überhaupt germanische Götter lateinisch benennt und römisch versteht.

21

ζ. B. Herod. 2, 42, 2. 46, 4. 59, 2. 144, 2. 156, 5. 4, 59, 2. Vgl. G. Wissowa, Interpretatio Romana. Rom. Götter im Barbarenlande, Archiv, f. Rel.wiss. 19, 1916-19, S. Iff.; ders., Religion und Kultus (wie Anm. 20), S. 65ff; F. Drexel, Götterverehrung im römischen Germanien, 14. RGK-Ber. 1922 (1923), S. 4ff„ 47. 22 Aug. c. d. 4, 11 (aus Varros Curio de cultu deorum, frg. 15b Agahd); Ablehnung der Opfer: Arnob. 7, 1. Vgl. Wissowa, Religion und Kultus (wie Anm. 20), S. 69; Latte, Religionsgeschichte (wie Anm. 13), S. 292f. - Q. Valerius Soranus, der Vorgänger Varros (über ihn: R. Hanslik, RE 8A (1955), Sp. 225f.), hatte nach Aug. c. d. 7, 9 Jupiter im Sinne des stoischen Pantheismus gedeutet: Jupiter omnipotens regum rerumque deumque/Progenitor genetrixque deum, deus unus et omnes. Dieselbe Anschauung bei seinem Zeitgenossen Q. Scaevola Pontifex: Aug. c. d. 9,27. 23

Latte, Religionsgeschichte (wie Anm. 13), S. 337f.

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Diejenigen Götter, die Tacitus am konsequentesten römisch interpretiert, sind Merkur, Herkules und Mars (9, 1). Sie bleiben so farblos und unspezifisch, daß es auf Grund dieser Erwähnung allein gar nicht möglich wäre, hinter den Namen germanische Götter zu erkennen. Die zugrundeliegenden indigenen Gottheiten können vom Leser nur als reine Funktionen verstanden werden; darüber hinaus ist der Stelle bloß noch zu entnehmen, daß Tacitus - anders als Caesar (B.G. 6, 21, 2) - mehrere Kulte personaler Gottheiten von unterscheidbarer Intensität und Verbreitung bei den Germanen kannte. - Den entgegengesetzten Typus illustrieren Tuisto und sein Sohn Mannus (2, 2), die keinerlei Übersetzung oder Angleichung oder direkte Funktionsbezeichnung erfahren. Das kann freilich nicht bedeuten, daß den beiden Gestalten die göttliche Qualität abgesprochen werden soll24, denn Tacitus führt ja Tuisto als deus terra editus ein. Bei dem Stiftergott der gens Germanorum dominierte aber anscheinend für den Historiker der individuell germanische Charakter so sehr, daß er ihm weder eine strukturelle Analogie noch eine Hervorhebung seiner Funktion zubilligte. Dazwischen stehen Gottheiten, die zwar durch eine Übersetzung dem römischen Leser verständlich gemacht und ihm dadurch als Funktionsträger nahegebracht werden, so jedoch, daß sie in ihrer Funktion nicht restlos aufgehen und von ihrer indigenen Eigenart etwas erhalten bleibt. - Die suebische Isis heißt zwar so, aber sie wird als ein peregrinum sacrum eingeführt, dessen Weg zu den Germanen unklar bleibe. Diese Isis hat einen Hauch fremdartiger Individualität behalten: sie kann wandern und in neuer Umgebung als fremd erkannt werden, sie bietet deshalb auch für eine religionsgeschichtliche Identifikation mehr Handhaben. - Die mater deum der Aestier ist zwar noch stärker angeglichen, aber auch sie löst sich in der funktionalen Identität nicht ohne Rest auf; im Eberamulett ihrer Anhänger zeigt sich ein individueller indigener Überschuß, der wiederum ein schwaches Licht auf die germanische Identität der Gottheit wirft.l Bei drei göttlichen Gestalten steht umgekehrt die einheimische Besonderheit im Vordergrund, wird aber doch auf eine funktionale Deutung und typologische Interpretation nicht verzichtet; sie sind die religionsgeschichtlich interessantesten und ergiebigsten. - Die Nerthus wird mit ihrem germanischen Namen eingeführt, aber nicht ohne den interpretierenden Hinweis: id est terra mater. Das ist eine Erklärung in der Art eines Scholions, sie nimmt der Gestalt und dem Kult nichts von seiner germanischen Farbe und Individualität. - Ebenso werden die Alcis der Nahanarvalen als genuin germanische Götterbrüder beschrieben, bei denen nur gewisse Eigenschaften die Gleichung als Dioskuren begründen. - Auch der anonyme göttliche Herr des Semnonenhaines erhält zwar das Prädikat der göttlichen Allmacht, aber dieser regnator omnium deus ist eigentlich ein Lokalnumen,

24

So jedoch Wissowa, Interpretatio Romana (wie Anm. 21), S. 11.

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das dem heiligen Hain und dessen Rolle für die Identität und die Vormachtstellung der Semnonen seinen Charakter verdankt. Die Fesselung im Hain, durch die der Verehrer der potestas numinis huldigt, symbolisiert die a-personal gedachte Ortsgebundenheit der religio, deren barbarische Fremdartigkeit durch den römisch formulierten Zug der Universalgöttlichkeit kaum gemildert wird. Man kann demnach die Übersetzung der Götternamen auf Grund von Funktionsgleichheit der Gestalten nicht für den religionsphänomenologischen Regelfall nehmen und in den germanischen Göttemamen oder -funktionen bloß unaufgelöste Restbestände oder stimmungsmäßige Annäherungen an das barbarische Religionsmilieu sehen. Die Skala nuancierter Ausdrucksformen, um die religiöse Welt des Fremden zu bestimmen, reicht bei Tacitus von der (fast) nahtlosen Identität funktionsgleicher Göttergestalten bis zu unübersetzbaren barbarischen Potenzen. Die interpretierende Erfassung und Beschreibung der germanischen Gottheiten erscheint dabei als eine tastende, überall anders gelingende Annäherung, nicht als eine nach einheitlicher Regel erfolgende Übertragung. Die fremden Götter werden, im Bilde gesprochen, nicht uniform umgekleidet, sondern erscheinen in mannigfacher Mischkostümierung, die von der Toga bis zum - sogar die Geschlechtszugehörigkeit, ja die Personalität verwischenden - barbarischen Habit reicht. Deutlich wird das besonders da, wo eindeutigen Funktionen irritierenderweise von einer dazu nicht passenden Emblematik widersprochen wird (wie bei der mater deum der Aestier); andererseits gibt es redende Symbole (wie das Schiff der suebischen Isis), die sich dennoch der scheinbar naheliegenden Deutung widersetzen. Tacitus hat keinen einheitlichen Schlüssel, um das Wesen der germanischen Götter zu erschließen; sein von systematischer Absicht und Konsequenz weit entferntes Annäherungsverfahren bietet aber tendenziell ein zu reicher Differenzierung fähiges Instrumentarium des religiösen Verstehens. Interpretatio Romana im technischen Sinne spielt darin eine gewisse, aber eher untergeordnete Rolle, während das, was Tacitus (43, 3) so nennt, dort nichtl die offiziöse Deutung der Kultpraxis selber, sondern die persönliche des Autors darstellt und zwar nicht in einem normalen und typischen Falle, sondern anläßlich einer erklärungsbedürftigen Ausnahme. Deshalb kann Tacitus auch nicht die Auffassung zugemutet werden, er habe interpretatione Romana germanische Gottheiten als reale religiöse Kräfte gewertet. Der Historiker teilt den philosophischen Glauben seiner Zeit, dem auch die Formen der Kultreligion als superstitio gelten25, wenn sich ihnen auch das psy-

25

Vgl. St. Borzsäk. RE S. 11 (1968), Sp. 494ff.; R. T. Scott, Religion and Philosophy in the Histories of Tacitus, Rom 1968; J. Kroymann, Fatum, fors, fortuna und Verwandten im Geschichtsdenken des Tacitus (1952), in: V. Pöschl (Hsg.), Tacitus 1969 (Wege der Forschung 97), S. 130ff.; J. Beaujeu, La religion romaine a l'apog6e de l'empire 1 (1955), S. 349ff. Zu religio

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chologische oder ethnologische Interesse zuwenden mag. Relevant ist jedoch für eine ernsthafte religionsphilosophische Analyse die hinter den Formen stehende und die Formen hinter sich lassende Haltung. Deshalb taucht Tacitus den begrenzten Befund an germanischer Kultpraxis am Ende in das Licht der Theorie von der Priorität und ethischen Überlegenheit der bildfreien und gestaltlosen Gottesverehrung. Diese vor allem in der stoischen Theologie entfaltete Anschauung erklärte das Göttliche für sinnlich nicht wahrnehmbar, aber geistiger Teilhabe erreichbar. Solches Verständnis vertrug sich mit dem Geltenlassen der politischen Religionen, der Tempel, der polytheistischen Individuation, drückte all dem aber auch den Stempel des religiös Inferioren auf. Große Stifter wie Moses, Pythagoras oder Numa hatten bereits die bildlose Götterverehrung eingeführt und die den Tempeln überlegene Würde heiliger Haine verkündet. Wenn Tacitus den Germanen bild- und tempellose Götterverehrung zuerkennt, greift er auf diese Theorie zurück, in der sich eine Grundüberzeugung der philosophisch Gebildeten mit scheinbar unwiderleglicher ethnographischer Empirie zu einem schlüssigen Ganzen verband. Sie lieferte einen Maßstab, der im äußeren Mangel (dem fehlenden Tempelkult) religiösen Sinn, ja überlegene Würde nachwies und einer negativen Beobachtung (der Bildlosigkeit) einen positiven Sinn gab. Die taciteische Interpretation der germanischen Götterverehrung macht aus den heiligen Hainen und Wäldern, deren weite Verbreitung und vielfältige Verwendung römischen Beobachtern zur Genüge bekannt waren, eine unbewußte Erfüllung von Postulaten der philosophischen Religion und die reverentia zum Zentrum einer ganzheitlich gedachten Lebenshaltung26. Diesel Tendenz erklärt den Gedankengang und Aufbau des c. 9 unmittelbar. Den gallo-germanorömischen Übersetzungsgöttern läßt sich in der Tat nicht mehr abgewinnen als daß nach Ausweis der Opferpraxis auch ihnen schon ernsteste reverentia gilt. Der Isisdienst, dessen Auftauchen an dieser Stelle so schwer begreiflich schien, bedeutet eine erste Steigerung in der Klimax, denn dem Isiskult wurde eine Tendenz der Vergeistigung der Gottesverehrung zugeschrieben27. Und der Kult der und superstito: W. F. Otto, Religio und Superstitio (1909/11); in: Aufs, zur römischen Religionsgeschichte 1975, S. 92ff.; S. Calderone, Supersütio, ANRW I 2 (1972), S. 377ff.; W. Belardi, Superstitio, Rom 1976; G. Perl, Germania-Kommentar (Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas 2,1990), S. 160. 26 Daß der Begriff sozialethisch eindeutig positiv besetzt ist (vgl. ζ. B. D. 40, 4 superiorum г.; h. 1,12,1 sacramenti г.; 3,41,2 ducis г.; а. 12, 23,1 in patres г.; 14, 13, 2 matris г.), präjudiziert auch das positive Urteil über eine durch reverentia geprägte Lebensform. 27 Isis als Weltgöttin und Himmelskönigin: z. B. Diod. 1, 27; Ap. met 11, 1, 2. 5, 1-2. 25; Dessau ILS 4362. Vgl. Latte, Römische Religionsgeschichte (wie Anm. 13), S. 283. - Die Erwägungen, mit denen K. Helm (Isis Sueborum?, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 43 (1918), S. 529ff. und: Altgermanische Religionsgeschichte 1 (1913), S. 308, die Tilgung von .Sueborum' rechtfertigen wollte, erledigen sich damit.

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heiligen Haine enthüllt schließlich das Wesen germanischer Götterverehrung als reverentia vor dem numinosen Geheimnis am reinsten und rückt die Germanen an die Seite von Juden und Brahmanen. Diese Mißdeutung als solche zu erkennen, ermöglicht, auch die Elemente abzuschätzen, aus denen sie sich nährt. Zweifellos war es ja nicht der Eindruck, den die Äußerungen germanischer Religiosität von sich aus auf mediterrane Beobachter machten, was ihre Hochschätzung bewirkte; vielmehr erzeugte die (in diesem Maße erst bei Tacitus vorfindbare) Intention, Germanisches als zivilisationskritisches Gegenmodell und die Barbarenfreiheit als prinzipatsoppositionelles Kontrastbild aufzubauen, eine Deutungsbereitschaft, die Einzelnes neu bewertete und dem Ganzen eine andere Perspektive abgewann. Man kann dieses Verfahren diachronisch am Vergleich mit dem Vorgänger Caesar und synchronisch am Vergleich mit den Gegenmöglichkeiten, die Tacitus nicht realisierte, illustrieren. Bekanntlich hatte Caesar den Germanen nur die Verehrung der Gestirne und des Feuers (Sol, Vulcanus, Luna) zugeschrieben, der Götter, die sie sähen und spürten, von den anderen hätten sie nicht einmal gehört (B.G. 6, 21, 2). Das Fehlen von Kulten und personalen Göttern, die polytheistische Unterentwikkeltheit, gilt hier als Zeichen primitiver Religiosität. Es soll die von Caesar behauptete grundlegende Differenz gallischer und germanischer mores belegen; denn die Gallier verehren nach Caesar Merkur, Apollo, Mars, Jupiter und Minerva, also römisch interpretierbare personale Götter mit abgegrenzten Zuständigkeiten. Wenn Caesar es primitiv findet, nur göttlichen Kräften zu huldigen, die man sieht und spürt, dann steht auch für ihn der höhere Rang der Verehrung des Unsichtbaren fest, er hat also eine theologische Grundüberzeugung mit Tacitus gemeinsam. Trotzdem kommt er zu einer entgegengesetzten Beurteilung der germanischen Religion und Zivilisation. Das liegt zunächst daran, daß er die heiligen Haine der Germanen nicht kennt oder ihnen die Bedeutung nicht beimißt, die Tacitus in ihnen zu finden meint, vorl allem aber doch an einem anderen Vorurteil gegenüber den barbarischen Nachbarn. Beide Autoren ziehen aus einem begrenzten Befund ihre Schlüsse; wenn es einmal ein positiver, das andere Mal ein negativer ist, so liegt das nicht an einer größeren oder geringeren, besseren oder schlechteren Beobachtungsbasis, sondern an der unterschiedlichen Beweisabsicht. Caesar hätte selbst aus seinem Stoff eine entgegengesetzte Folgerung ziehen können. Varro hatte nämlich die Götter aus den Elementen abgeleitet2 und auf der Grundlage dieser Theorie hätte sich germanischem Gestimsdienst auch eine ganz andere Beurteilung abgewinnen lassen.

24 Dedeis praecipuis ac selectis = Antt. rer. div. 16 (R. Agahd, Jahrbuch für Philologie, Suppl. 24 (1898), S. 198ff.); Aug. c. d. 7, 30. Vgl. Wissowa, Religion und Kultus der Römer (wie Anm. 20), S. 69.

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Tacitus läßt sich vom Deutungskonzept der philosophischen Theologie leiten, aber doch ohne ideologische Fixiertheit und Konsequenz, so daß er einen Widerspruch hinnimmt, der eigentlich nur schwer zu überbrücken war. Stoischer Pantheismus und spirituelle Gottesverehrung verwarfen nicht nur die Kulte, sondern vor allem auch die Opfer und hielten zumindest unblutige Opfer für würdiger als blutige29; Menschenopfer verabscheute und verbot die Kaiserzeit überhaupt30. Der Historiker, der vor der Aufgabe stand, die wohlbekannten, exzessiven Menschenopfer der Germanen mit seinem Gedankengang zu versöhnen, erreichte das durch Hinzunahme des anderen Interpretationsmusters, des Rückbezugs auf römische Verhältnisse und Vorstellungen31. Dem Verständnis des blutigen Opfers und des Menschenopfers im besonderen wird nämlich auf dreifache Weise durch römische Analogien der Weg gewiesen: durch die Behauptung eines Rangunterschiedes der Götter in der Sakralordnung32, durch die Betonung der blutigen Opfer als Sühnopfer33 und durch die Bindung der Opfer an den Sakralkalender34. Wahrscheinlich sollen durch diese Verstehensbrücken auch die blutigen Opfer und Menschenopfer als Elemente einer objektiven Sakralordnung gedeutet werdenl und grundsätzlich mehr als Ausdruck von reverentia als von grausam-willkürlicher barbarischer superstitio erscheinen35; sie konnten auf diese

29 Arn. 7,1 quia inquit (Varro) dii veri neque desiderant (sc. sacrificia) neque deposcunt..., carent enim sensu. Dem ältesten römischen Gottesdienst werden deshalb Einfachheit und unblutige Opfer zugeschrieben: ζ. Β. Ov. fasti 1, 347f.; Plut. Numa 8, 15 (pythagoreisches Vorbild); Tert. ap. 25,12 frugi religio. Vgl. Wissowa, Religion u Kultus der Römer (wie Anm. 20), S. 35. 30

Verbot: Plin. n. h. 30, 12; vgl. Latte, Römische Religionsgeschichte (wie Anm. 13), S. 257. Verbot fremder Kulte in Provinzen. Plin. n. h. 30,13; Suet. Claud. 25, 5 (Druiden); Tert. ap. 9, 2 (afrikanischer Saturn). Anläßlich der sacrificia extraordinaria im zweiten punischen Krieg bezeichnet Liv. 22,57, б Menschenopfer als dem römischen Sakralbrauch fremd. 31 Vgl. E. Wolf, Das geschichtliche Verstehen in Tacitus' Germania (1934), in: Pöschl, Tacitus (wie Anm. 25), S. 241ff„ bes. 258ff. 32

s. Wissowa, Religion und Kultus der Römer (wie Anm. 20), S. 414.

33

Das o. Anm. 13 aus dem Verbum litare Erschlossene wird durch die parallele und synonyme Verwendung von placare bestätigt 34 35

diebus certis; vgl. Wissowa, Religion und Kultus der Römer (wie Anm. 20), S. 432ff

Wie doch seit den Erfahrungen mit den Kimbern (Oros. 5,16,5 f.) über Caesar (B. G. 1, 53, 5-8) zu Germanicus (Tac. a. 1, 61, 3 [mactare]) die römischen Beobachter immer wieder empfunden haben und wie auch Tacitus selbst den Kult im Semnonenhain beurteilt (31,1 celebrant barbari ritus horrenda primordia; gleichwohl sind sie ihm Ausdruck von reverentia, wie der folgende Satz zeigt.)

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Weise sogar zu einer Vorstufe der bild- und tempellosen Götterverehrung gemacht werden, deren Kern ebenfalls die reverentia ist36. Wie die Deutung der allgemein bekannten heiligen Haine in völlig andere Richtung wies, als die praktische Erfahrung bis dahin offenbar nahegelegt hatte, so auch die Interpretation der germanischen Opferkulte. Mit ungewöhnlicher Künstlichkeit und Gewaltsamkeit werden hier empirische Elemente den argumentativen Zielen des Autors dienstbar gemacht und in einen Gedankengang eingeschmolzen, der durch die Vielfalt seiner Bezüge, durch originelles und tiefgreifendes Verstehen und durch formale Qualität besticht. Aber er dient nicht seinerseits der geordneten und überprüfbaren Darlegung von Sachverhalten. Weder auf deren wirkliche Bedeutung noch auf ihre verhältnismäßige Wichtigkeit erlaubt der Zusammenhang, in dem allein wir von ihnen Kenntnis erhalten, sichere Rückschlüsse. Immerhin macht die eigenartige Gedankenführung oft auf das Vorhandensein solcher Sachverhalte aufmerksam und kann deshalb die umständliche Erklärung der weitgehend homogenen Mixtur aus Tatsachen und Interpretation hoffen, auch den Faktenelementen gerecht zu werden.

IV

1

Die taciteische Mitteilung, daß die Germanen Merkur, Herkules37 und Mars kultisch verehrten, steht in klarem und ohne Zweifel dem Autor auch bewußten Gegensatz zu der Behauptung Caesars (6, 21, 1-2), den Germanen sei der Opferkult und die Verehrung personaler Götter unbekannt. Sie nimmtl aber darüber hinaus auch auf eine Formulierung Caesars auffällig Bezug; denn der Satz deorum maxime Mercurium colunt ist ein wörtliches Zitat aus Caesar, das einzige in der Germania (B.G. 6,17,1)38 Was Caesar dort von den Galliern sagt, über-

36 Die Auslegungsgeschichte des Abrahamsopfer als Vergleich zeigt, daß das Verfahren reli gionsgeschichtlich nicht absurd ist 37

Gegen Norden, Germ. Urgesch. (wie Anm. 10) S. 173 u. 503 und vor allem H. Hommel, Die Hauptgottheiten der Germanen bei Tac. (1941), in: ders., Sebasmata 1 (1983), S. 178 ff. möchte ich mit der Mehrzahl der Forscher an der inschriftlich bestätigten Triade festhalten; vgl. F. Drexel, Götterverehrung ( wie Anm. 21), S.15; Lund, Komm. z. St. - Concessa animalia (vgl. Hommel a.a.O. S. 179 ff.) verstehe ich als Opfer sakralrechtlich zulässiger Tierarten; der damit berührte Aspekt entspricht also dem, was zum Verständnis der Menschenopfer erschlossen wurde. 38 Die Erklärung Gudemans (Komm. z. St., die Übereinstimmung erstrecke sich nur auf wenige Worte und werde daher nur zufällig sein, „denn wie hätte T. sich kurz anders ausdrücken sollen?") verkennt in naiver Weise die Bewußtheit des Autors, die Meinung Muchs (Komm. z. St., der Zu-

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trägt Tacitus offenbar auf die Germanen. Aber warum verfährt er so, und wie ist die Nachricht der Germania demnach zu verstehen? Ist der gewollte Rückbezug als bloße Korrektur oder auch als Kritik der caesarischen Angabe zu werten? Haben die Germanen also in nachcaesarischer Zeit eine Entwicklungsstufe erreicht, die Tacitus Kulte beobachten ließ, wie sie 150 Jahre zuvor rechts des Rheines noch nicht verbreitet waren, und teilt er mit, was Caesar noch nicht wissen konnte? (Dann müßte der germanische Wotan, der allen Anspruch auf Identität mit Mercurius hat39, erst in der Kaiserzeit Verehrung gefunden haben: eine wenig wahrscheinliche und schwer zu begründende Annahme40.) Oder war Tacitus nur besser informiert, bzw. positiven Zeugnissen germanischer Götterverehrung gegenüber aufgeschlossener, so daß er den Germanen religiöse Formen zubilligte, die Caesar ihnen abgesprochen hatte, obwohl auch der sie hätte kennen sollen? Oder aber kann das Verhältnis des taciteischen Satzes zu der Feststellung Caesars durch den Maßstab des Kenntnisfortschrittes überhaupt nicht erfaßt werden? Der Text gibt keine unmittelbare Antwort auf diese Fragen. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß der gallische und der germanische Hauptgott unabhängig voneinander mit dem römischen Merkur identifiziert wurden. Wenn römische Beobachter in dem keltischen Gott, der angeblich die Attribute des erfindungsreichen Handwerkers, Weggeleiters und Besitzlerwerbers trug, ihren Merkur wiedererkannten41, dann muß es ferngelegen haben, auch den Sturmgott und Todesdämon der Germanen mit Petasos und Caduceus auszustatten. Eher ist anzunehmen, daß der germanische Gott nicht nur später als der gallische mit sammenhang sei nicht nur unerweisbar, sondern auch „belanglos", die Tatsache der Übereinstimmung genüge) sogar das Problem überhaupt. Hinter Caesar steht Herod. 5, 7 von den Thrakern: θεούς δέ σέβονται μούνους τούσδε, "Αρεα και Διόνυσον και Άρτεμη».· ο'ι δέ βασιλέες α