Romanische 'alba'- und 'somni'-Dichtungen
 9783110275148, 9783110259469

Table of contents :
1. Alba und somni: Poetisches Spiel zwischen Imitation und Variation
2. Forschungsstand und Methode
2.1. Wege der Forschung
2.1.1. Das trobadoreske Gattungssystem: Untersuchungen von Diez bis Paden
2.1.2. Der somni oder das Dilemma der Forschungsdiskussion
2.1.3. Bilanz nach fast 200 Jahren alba-Forschung
2.2. Methodische Überlegungen
2.2.1. Originalität durch Variation
2.2.2. Gattung als thematische Einheit
2.2.3. Die Korpusbildung: Zwischen Induktion und Deduktion
3. Das polyphone Spiel der Möglichkeiten: Alba- und somni-Motivik
3.1. Zu den Motivausprägungen der alba
3.1.1. Joc novel mi tol l’alba
3.1.2. Liebesbegegnung und Liebeserwachen im Zeichen der alba
3.1.3. Alva dos alvores: Profane und religiöse Lichtmetaphorik
3.2. Somni als Motiv
3.2.1. Die Erfüllung des joi im songe érotique
3.2.2. Das Erwachen: Der Liebestraum ex negativo
3.2.3. Tota noih me vir’ e-m lansa: Liebeskrankheit und Liebeswahn
3.2.4. Consirar – remirar – trobar
4. Externe Klassifikations- und Deutungsmuster für alba und somni: Zwei exemplarische Studien
4.1. Mittelalterliches Gattungsbewusstsein? Interne und externe Gattungszuweisungen
4.1.1. Zuweisungen der Trobadors
4.1.2. Handschriftenrubriken, Überschriften, vidas und razos
4.1.3. Poetologische Metatexte
4.2. Exkurs: Auf der Suche nach mittelalterlichen Traumdiskursen
4.2.1. Unde veniunt somnia? Traumtypologien und Traumtheorien im Mittelalter
4.2.2. Zur Bedeutung der Somnialia-Danielis-Tradition
4.2.3. Der Traum im Medium illuminierter Handschriften
5. Romanische alba- und somni-Dichtung: Typologie und Deutung
5.1. Romanische Tagelieder
5.1.1. Variationen der erotischen alba
5.1.1.1. Entre moi et mon amin: Abschiedsklagen der Liebenden
5.1.1.2. Dynamisierung und Perspektivierung der Klage im höfischen Kontext
5.1.1.3. Die Poetik der erotischen alba: Die joi-dol-Erfahrung
5.1.2. Intertextuelle Spiele
5.1.2.1. Gattungszitat und thematische Variation
5.1.2.2. Cossirs: Die einsamen Klagen
5.2. Romanische Traumlieder
5.2.1. Somnia: Allegorische Traumbilder
5.2.2. Disputatio in somnio
5.2.3. Liebesträume und erotische Phantasien: Subform des insomnium
5.2.4. Die Bilder der imaginatio und das visum
6. Analogien und Interferenzen: Bemerkungen zur inhärenten Poetik der erotischen alba- und somni-Dichtung
7. Zusammenfassung der Ergebnisse
7.1. Ergebnisse und Desiderata
7.2. Résultats et desiderata
8. Anthologie ausgewählter Tage- und Traumlieder
8.1. Profane alba-Dichtung
a) mittellateinisch
b) altokzitanisch
c) altfranzösisch
d) galego-portugiesisch
e) altitalienisch
8.2. Die Formen des somni
a) mittellateinisch
b) altokzitanisch
c) altfranzösisch
d) galego-portugiesisch
e) altitalienisch
9. Abbildungen
10. Bibliographie
11. Index nominum et rerum

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BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER HERAUSGEGEBEN VON GÜNTER HOLTUS UND WOLFGANG SCHWEICKARD

Band 370

GRAŻYNA MARIA BOSY

Romanische alba- und somni-Dichtungen Ein Beitrag zur Motiv- und Themengeschichte der romanischen Lyrik des Mittelalters

De Gruyter

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Meinen Eltern in Liebe und Dankbarkeit

ISBN 978-3-11-025946-9 e-ISBN 978-3-11-027514-8 ISSN 0084-5396 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. %LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen NationalbiblioJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHUKWWSGQEGQEGHDEUXIEDU ‹:DOWHUGH*UX\WHU*PE+ &R.*%HUOLQ%RVWRQ *HVDPWKHUVWHOOXQJ+XEHUW &R*PE+ &R.**|WWLQJHQ ∞*HGUXFNWDXIVlXUHIUHLHP3DSLHU 3ULQWHGLQ*HUPDQ\ ZZZGHJUX\WHUFRP

Danksagung

Die vorliegende Studie, die hier in leichter Überarbeitung und Aktualisierung erscheint, wurde unter dem Titel «Reflexionen zur mittelalterlichen Ästhetik der variatio: Romanische alba- und somni-Dichtungen» nach der Verteidigung im November 2010 von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn und der Université Paris IV-Sorbonne als Dissertation angenommen. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Zeit und die Möglichkeiten hatte, meiner Leidenschaft für Literatur nachzugehen – nicht jedem wird ein solches Glück zuteil. Für die zuverlässige, kenntnisreiche und warmherzige Betreuung der Arbeit danke ich an erster Stelle meinen Doktorvätern: Herrn Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange (Universität Bonn), der schon im Studium mit seinen Vorlesungen und Seminaren den Grundstein für die Entstehung der Arbeit gelegt hat, und Herrn Prof. Dr. Michel Zink (Collège de France, Paris), der auf französischer Seite die Betreuung mit Begeisterung übernommen hat und dem ich inspirierende Denkanstöße verdanke. Dankbar bin ich ferner ganz besonders Frau Prof. Dr. Angelica Rieger (Universität Aachen) für ihren Zuspruch und die wertvolle wissenschaftliche Begleitung in der gesamten Promotionsphase und darüber hinaus. Danken möchte ich ferner der gesamten Bonner Romanistik für die Unterstützung und den einen oder anderen freundschaftlichen Rat, wobei ich hier stellvertretend Herrn Prof. Dr. Christian Schmitt, Herrn Dr. Willi Jung, Herrn Prof. Dr. Paul Geyer und Herrn Prof. Dr. Michael Bernsen nennen möchte. Für die Übersetzungshinweise, die das Entstehen der am Ende der Studie abgedruckten Anthologie ermöglicht haben, danke ich insbesondere Herrn Prof. Dr. Marc Laureys, Frau Dr. Ute Joppich-Hagemann und Herrn Dr. Manfred Schuh (Universität Bonn). Anregungen, konstruktive Kritik und Unterstützung während meiner Auslandsaufenthalte verdanke ich zudem folgenden akademischen Lehrern und Freunden: Herrn Prof. Dr. Fabio Zinelli (EPHT, Paris), Frau Prof. Dr. Isabel de Riquer Permanyer (Universität Barcelona) und Frau Prof. Dr. Jacqueline Helleguarc’h (Paris IV-Sorbonne). Herrn Prof. Dr. Günter Holtus danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Traditionsreihe der Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie und Frau Dr. Ulrike Krauß und Herrn Norbert Alvermann vom De Gruyter Verlag für die freundliche verlegerische Betreuung. Für die sorgfältige Korrekturlektüre des Manuskripts und die damit verbundene Zeit und Mühe sei meinem lieben Freund, Herrn Dr. Nikolaus Wendling, ganz herzlich gedankt.

V

Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat das Promotionsprojekt in allen seinen Phasen großzügig unterstützt. Ihr und meinem Vertrauensdozenten, Herrn Prof. Dr. Wolfram Kinzig, danke ich dafür herzlich. Auch der Universität Bonn bin ich wegen der finanziellen Anerkennung zum Dank verpflichtet. Die Gewährung von Druckkostenzuschüssen vonseiten der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Kurt-Ringger-Stiftung machte die Drucklegung der Studie möglich. Ohne die Liebe und den Zuspruch meiner Familie und meiner lieben Freunde hätte die Arbeit schwerlich beendet werden können – ihnen gilt mein ganz besonderer und unbezahlbarer Dank.

Bonn, im Juni 2012

VI

GraĪyna Maria Bosy

Inhaltsverzeichnis

1.

2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.1.3. 4.2.

Alba und somni: Poetisches Spiel zwischen Imitation und Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Forschungsstand und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wege der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das trobadoreske Gattungssystem: Untersuchungen von Diez bis Paden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der somni oder das Dilemma der Forschungsdiskussion . . . . . . . . Bilanz nach fast 200 Jahren alba-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Originalität durch Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattung als thematische Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Korpusbildung: Zwischen Induktion und Deduktion . . . . . . . .

6 14 18 34 35 40 43

Das polyphone Spiel der Möglichkeiten: Alba- und somni-Motivik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu den Motivausprägungen der alba . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joc novel mi tol l’alba. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liebesbegegnung und Liebeserwachen im Zeichen der alba . . . . . Alva dos alvores: Profane und religiöse Lichtmetaphorik . . . . . . . Somni als Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erfüllung des joi im songe érotique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Erwachen: Der Liebestraum ex negativo . . . . . . . . . . . . . . . . . Tota noih me vir’ e·m lansa: Liebeskrankheit und Liebeswahn . . Consirar – remirar – trobar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 49 50 53 57 64 65 76 82 90

Externe Klassifikations- und Deutungsmuster für alba und somni: Zwei exemplarische Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelalterliches Gattungsbewusstsein? Interne und externe . . . . . Gattungszuweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuweisungen der Trobadors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handschriftenrubriken, Überschriften, vidas und razos . . . . . . . . . Poetologische Metatexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Auf der Suche nach mittelalterlichen Traumdiskursen . . .

105 105 105 106 109 112 122

VII

5 5

4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 5. 5.1. 5.1.1. 5.1.1.1. 5.1.1.2. 5.1.1.3. 5.1.2. 5.1.2.1. 5.1.2.2. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3. 5.2.4.

Unde veniunt somnia? Traumtypologien und Traumtheorien im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Zur Bedeutung der Somnialia-Danielis-Tradition . . . . . . . . . . . . . . 132 Der Traum im Medium illuminierter Handschriften. . . . . . . . . . . . 135 Romanische alba- und somni-Dichtung: Typologie und Deutung . . Romanische Tagelieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variationen der erotischen alba . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entre moi et mon amin: Abschiedsklagen der Liebenden . . . . . . . Dynamisierung und Perspektivierung der Klage im höfischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Poetik der erotischen alba: Die joi-dol-Erfahrung. . . . . . . . . . Intertextuelle Spiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungszitat und thematische Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cossirs: Die einsamen Klagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Romanische Traumlieder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somnia: Allegorische Traumbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Disputatio in somnio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liebesträume und erotische Phantasien: Subform des insomnium . Die Bilder der imaginatio und das visum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145 145 146 147 155 171 176 178 191 198 201 213 224 243

6.

Analogien und Interferenzen: Bemerkungen zur inhärenten Poetik der erotischen alba- und somni-Dichtung . . . . . . . . . . . . . . 255

7. 7.1. 7.2.

Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Ergebnisse und Desiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Résultats et desiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

8. 8.1.

Anthologie ausgewählter Tage- und Traumlieder . . . . . . . . . . . . . . Profane alba-Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) mittellateinisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) altokzitanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) altfranzösisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) galego-portugiesisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) altitalienisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Formen des somni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) mittellateinisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) altokzitanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) altfranzösisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) galego-portugiesisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) altitalienisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.2.

9.

283 283 283 284 302 311 318 319 319 324 343 346 349

Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

VIII

10.

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

11.

Index nominum et rerum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

IX

1.

Alba und somni: Poetisches Spiel zwischen Imitation und Variation

Auf der Suche nach Typologie und Deutung der mittelalterlichen Lyrik widmet sich diese Untersuchung zwei Motiven und Themen der romanischen Poesie, alba und somni, die sich in vielfältigen Ausprägungen manifestieren und von der Variationskraft der mittelalterlichen Dichtung zeugen. Gleichzeitig handelt es sich bei der Morgenröte (alba) und dem Traum (somni) um Themen und Motive von höchster poetischer Kraft, die archetypische Wünsche und Vorstellungen zu einem prägnanten Bild zu verdichten vermögen. Sie bringen als thematische Bausteine der Literatur menschliche Grundsituationen, Grundwünsche und Grundängste zum Ausdruck,1 sodass deren Kraft und Bedeutung im poetischen Spiel des Mittelalters als epochenspezifische Realisierung das Glied einer langen Traditionskette bildet. Wenn Jeanroy über die Tageliedsituation, in der die alba als gattungsstiftende Chiffre fungiert, schreibt, dass sie «de tous les temps et de tous les pays»2 sein könne, so charakterisiert er die alba, wie später Woledge – in der bis heute umfangreichsten internationalen Untersuchung zur Thematik – als «a touching example of permanency».3 Das Abschiednehmen ist eine «Urszene des Menschen» und «eine Grundfigur der literarischen Phantasie seit ihren Anfängen».4 Eine ähnliche Rolle kommt dem Traum zu, denn «in der Literatur aller Völker und Zeiten» finden sich «Traumberichte, Traumdeutungen und auch gedichtete Träume von authentischem Charakter im Sinne von Ciceros Ausspruch: Diese Träume haben, auch wenn sie von Dichtern erfunden wurden, teil an der Essenz wahrer Träume».5

Die Morgenröte und der Traum durchziehen als Themen und Motive nicht nur die Lyrik. Die Kürze und Flüchtigkeit der Nacht und die Trennung am frühen Morgen werden beispielsweise auch von Aucassin und Nicolette in der gleichnamigen chantefable beklagt (v. 453–460), und die morgendliche Abschiedsszenerie in der Chastelaine de Vergi (v. 459–473) stellt unmissverständlich eine Transposition der lyrischen alba-Thematik dar. «Amour illicite, brève entrevue nocturne, présence menaçante du jaloux, oiseau annonciateur de la fin de la nuit; […] le

1 2 3 4 5

Cf. Frenzel 1980, 38. Jeanroy 41969, 62. Woledge 1965, 357. Bohrer 1996, 9/19. Wagner-Simon/Benedetti 1984, 8.

1

thème du guetteur»6 werden auch von Arnaut de Carcasses in der okzitanischen Verserzählung Novas del Papagai zu einer Szenerie verknüpft, wobei das eindringliche «Car no·us levatz?/Anatz sus e departetz vos» (v. 293s.) deutlich an den warnenden Wächterruf der erotischen alba erinnert. «Als paradigmatisches Beispiel des Traumdiskurses»7 in der Versepik ist wiederum an erster Stelle der Rosenroman zu nennen, der den Traum zum Rahmen des Berichts entfaltet und damit eine immer wieder imitierte Tradition in der romanischen Dichtung einleitet. Allein in der altfranzösischen Literatur findet sich eine Vielfalt an poetischen Träumen und Traumdeutungen, angefangen bei Aimons de Varennes Floriment über Le Bel Inconnu von Renaut de Beaujeu und den Lai de l’Ombre von Jehan Renart bis hin zu Guillaume de Palerne.8 Als außergewöhnliches Beispiel expliziter Traumexegese darf auch der Dit de la Panthère von Nicole de Margival nicht unerwähnt bleiben, der Amor die Rolle des Traumdeuters zuweist und den typischen songe-mensonge-Reim, der in der Literatur in der Regel Traumskepsis zum Ausdruck bringt, ins Positive wendet: «Quant j’oi bien encerchié mon songe,/Riens n’y trouvay qui fust mensonge» (v. 2195s.). Die Vielfalt der poetisierten Traumtypen der romanischen Dichtung spiegelt dabei die Klassifizierung der populären mittelalterlichen Traumtypologien wider, die von allegorischen Träumen über erotische Phantasien bis hin zu Visionen und Wachträumen reichen. Erotische Träume als Wunscherfüllungsträume begegnen zum Beispiel im okzitanischen Flamenca-Roman (v. 6122–6130), ebenso wie die für die Lyrik typische Darstellung Amors als Traumsender (v. 3433–3436) oder die Erklärung der Traumbilder aus Tagesresten (v. 2147–2168/3449–3452/4071s.). Ausführliche Reflexionen über das Wesen der Träume und eine Aufwertung psychologischer Perspektivierung von Träumen zeigt vor allem der Rosenroman, in dessen zweitem Teil die Raison beispielsweise davor warnt, Botschaften des Traums im wörtlichen Sinne verstehen zu wollen (v. 6485–6610), in dem die Auseinandersetzung mit erotischen Träumen (v. 18399–18406) nicht fehlt und Wachträume (v. 18349–18360) ebenfalls als Phänomen kommentiert werden. Welche Realisierungsmöglichkeiten die Morgenröte und der Traum in der romanischen Lyrik entfalten, wie sie zwischen Tradition und Variation am poetischen Spiel der mittelalterlichen Dichtung partizipieren und sich dabei auch gegenseitig beeinflussen, versucht die vorliegende Studie zu klären. Die Untersuchung konzentriert sich auf die romanische Poesie des 12.–14. Jh.s vor Dante und legt den Fokus auf die Lyrik okzitanischer, französischer, galego-portugiesischer und italienischer Trobadors sowie die Poesie der scuola siciliana. Zum Vergleich werden einige mittelateinische Beispiele unterschiedlicher romanischer Kulturräume hinzugezogen. Auf die Einleitung schließt sich ein detaillierter Überblick zum Stand der Forschung an (2.1.), in dem die wichtigsten Studien und Modelle zum Gattungssystem der mittelalterlichen Lyrik im Allgemeinen (2.1.1.) und zu den Genres 6 7 8

Arnaut de Carcasses, 20. Felten 2005b, 5. Cf. z. B. Braet (1977, 109–113).

2

alba (2.1.3.) und somni (2.1.2.) im Besonderen vorgestellt werden. Gefolgt ist dieser Überblick von knappen Überlegungen zum methodischen Vorgehen der Arbeit und zum Wesen der mittelalterlichen Poetik (2.2.). An die Charakterisierung der mittelalterlichen Lyrik als bewusstes Spiel zwischen Tradition und Variation, das essentiell durch intertextuelle Verzahnung und Gattungsinterferenzen bestimmt ist (2.2.1.), schließen sich Überlegungen zum Verständnis und zur Kontextualisierung der thematischen Gattung als literarische Einheit (2.2.2.) und Reflexionen zu induktiven und deduktiven Methoden der Korpuserschließung an (2.2.3.). Die Analyse der Variationsbreite der alba- und somni-Motivik in der mittelalterlichen Lyrik der Romania ist Gegenstand des dritten Kapitels. Dabei richtet sich der Blick auf die Polarstruktur der Motivik und deren Entfaltungsmöglichkeiten innerhalb der evozierten lexikalischen Felder. Herausgearbeitet wird dabei die Funktion der Morgenröte (3.1.) als positives und negatives Zeitmotiv in erotischer und religiöser Dichtung (3.1.1./3.1.2.) und als Metapher im Kontext profaner und sakraler Lichtmetaphorik (3.1.3.). Der Traum (3.2.) wiederum wird in den weiteren Kontext der Nachtthematik integriert. Das Motiv des erotischen Traums in seiner Polarstruktur als Wunscherfüllung (3.2.1.) und desillusionierendes Erwachen (3.2.2.), die mit Schlafentzug und Liebeskrankheit verbundenen poetisierten Klagen (3.2.3.) und der Traum als Metapher für Dichten und schöpferische Imagination (3.2.4.) werden als Variationen der somni-Motivik erörtert. Im vierten Kapitel richtet sich der Blick in zwei exemplarischen Studien auf externe Klassifizierungs- und Deutungsmuster, die zur Erhellung der alba- und somni-Dichtung beitragen können. Im Zusammenhang mit der Frage nach mittelalterlichem Gattungsbewusstsein wird in poetischen Zeugnissen, Handschriftenrubriken und poetologischen Traktaten nach Modellen für das Verständnis der trobadoresken Konzepte von alba und somni gesucht (4.1.). Zur Erhellung der somni-Dichtung liefert ferner ein Exkurs einen Einblick in das Traumverständnis der mittelalterlichen Welt (4.2.). Dabei wird die Frage nach den dominierenden Modellen, den rezipierten Vorstellungen der Antike, der christlichen Umdeutung des Traumphänomens (4.2.1.) sowie nach populären Traumtypologien und Traumbüchern (4.2.2.) thematisiert. Neben dieser Beleuchtung des philosophisch-theologischen Diskurses und der Populärkultur erfolgt zudem eine Annäherung an den Traum aus der Perspektive der Illuminationskunst (4.2.3.). An diesen Exkurs schließt sich das zentrale fünfte Kapitel an, das die Typologie und Deutung der romanischen alba- und somni-Dichtung zum Gegenstand hat. Die alba, die als Genre bereits vielfach und kontrovers diskutiert wurde, wird primär in ihrer erotischen Ausprägung fokussiert (5.1.). Die Typologie der erotischen alba-Dichtung erfolgt über die Analyse der Perspektive und der Figureninteraktion (5.1.1.1./5.1.1.2.). Ein Blick auf die gemeinsame Poetik der diversen Realisierungen beschließt die Betrachtung (5.1.1.3.). Ferner erstreckt sich die Darstellung auf die Gattungsperipherie, indem die Tendenz der alba-Dichtung zu intertextuellen Spielen thematisiert wird. Analysiert werden in diesem Kontext diverse Formen des dichterischen Spiels: angefangen bei Gattungszitaten über Erweiterungen des Schemas durch Umdeutung oder Modifizierung (5.1.2.1.) bis hin zu den sogenannten alba-Abwandlungen, die als cossirs eine Brücke zwischen 3

der alba- und somni-Thematik schaffen (5.1.2.2.). Die erstmalige Beschreibung von Ausprägungen und Strukturen der somni-Thematik wird im zweiten Teil des zentralen Kapitels diskutiert (5.2.). Vier charakteristische Realisierungen des somni-Schemas werden dabei in Anlehnung an mittelalterliche Traumtypologien unterschieden: allegorische Traumbilder, die Traumschilderung und Traumexegese zu einer Einheit verbinden (5.2.1.), erträumte Zwiegespräche zwischen dem Liebenden und Amor, der Dame oder Personifikationen (5.2.2.), erotische Träume, die von subtilen Begegnungen bis zu frivolen Bildern reichen können (5.2.3.), und Wachphantasien, deren poetische Kraft als Schwellenphänomen zwischen der Traum- und der Wachwelt schon im Mittelalter das Interesse der Dichter zu wecken vermochte (5.2.4.). Abschließend erfolgt im sechsten Kapitel eine Konfrontation der erotischen Ausprägungen der alba- und somni-Dichtung, wobei Analogien und Interferenzen zwischen den Konzepten herausgearbeitet werden. Die Frage nach Analogien impliziert die Suche nach einer gemeinsamen inhärenten Poetik der Schemata, die sich auch in der Fruchtbarmachung der Interferenzen zwischen alba und somni widerspiegelt. Solche Überlagerungen der analogen Motivik kündigen sich in der Trobadordichtung an und werden im Minnesang durch Gattungskontaminationen besonders deutlich umgesetzt. Das Abschlusskapitel (7.) bietet in deutscher und französischer Version eine Zusammenfassung der Ergebnisse und Hinweise auf Desiderata im Umgang mit den dictatz no principals. Die Anthologie ausgewählter romanischer alba- und somni-Dichtung am Ende der Studie (8.), die vollständig mit eigenen textnahen Prosaübersetzungen versehen ist, versteht sich als Ergebnis und gleichzeitig Grundlage der Recherchen und Analysen. Gewiss führt die Prosaübertragung zum Verlust der Musikalität der mittelalterlichen Dichtung, was stets bedacht werden muss. Durch die implizite interpretative Leistung kann die Übersetzung aber ein neues Licht auf die poetischen Texte werfen und sie in diesem Sinne ‘aktualisieren’. Die übersetzten Texte erheben keinen Anspruch auf poetische Ausdruckskraft, sondern verstehen sich als Einladung für eine weitere Beschäftigung mit der mittelalterlichen Poesie und möchten ferner die Untersuchung auch für Nicht-Romanisten attraktiv machen und so die komparatistische Perspektive im Umgang mit mittelalterlicher Dichtung schärfen.

4

2.

Forschungsstand und Methode

2.1. Wege der Forschung Die Beschäftigung mit Gattungskonzepten der volkssprachlichen Lyrik der Romania wurde von Friedrich Diez eingeleitet und führte, «um nur die Meilensteine setzenden Literaturhistoriker zu nennen, über Carl Appel, Alfred Jeanroy, Pierre Bec, Erich Köhler und seine Schule bis zu Peter Wunderli».1 Zu diesen Meilensteinen zählt sicher auch Paul Zumthor mit seinem einflussreichen Konzept des grand chant courtois. Der von Paden herausgegebene Band Medieval Lyric: Genres in Historical Context (2000) stellt die Positionen und Entwicklungen der bisherigen Gattungsforschung dar und zeigt gleichzeitig neue Wege auf. Insgesamt betreffen die immer wieder thematisierten Fragen der mediävistischen Gattungsforschung, die in der Regel ausgehend vom Gattungssystem der Trobadordichtung erörtert werden, die Abgrenzung der einzelnen Genres, den Umfang des Gattungssystems und die problematische Unterscheidung zwischen volkstümlichen und ‘kunstvollen’ Gattungen. Generell zeichnet sich in der Forschungsdiskussion die Konzentration auf quantitativ überlegene lyrische Formen bei gleichzeitiger Vernachlässigung der sogenannten dictatz no principals ab. Ein prominentes Beispiel dieser Praxis stellt das im GRLMA erschlossene trobadoreske Gattungssystem dar, das 15 nach heterogenen Kriterien beschriebene ‘Hauptgattungen’ umfasst. Als Repräsentant der dictatz no principals zählt der somni zu den weniger diskutierten Gattungen der volkssprachlichen Lyrik der Romania, sodass lediglich vage Ansätze zur Typologie und Deutung der gattungsstiftenden Funktion des Traums in der Lyrik existieren. Dagegen zählt die alba trotz weniger Zeugnisse zu den am meisten kommentierten Gattungen der mittelalterlichen Dichtung. Ursprungsfrage, Gattungsschema und Kontextualisierung innerhalb des jeweiligen Gattungssystems sind immer wieder kontrovers diskutiert worden. Als Ergebnis der fruchtbaren Auseinandersetzungen sind die internationalen Anthologien zu verstehen, die ein umfangreiches Bild von Abgrenzung und Deutung der albaDichtung bieten.

1

Lindt 1998, 399.

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2.1.1.

Das trobadoreske Gattungssystem: Untersuchungen von Diez bis Paden

Friedrich Diez legt als Erster in seiner Poesie der Troubadours (1826) eine systematische Gattungsuntersuchung vor, die er mit der Feststellung einleitet, dass man «sowohl in den Werken der Dichter, als auch in den Lebensgeschichten derselben, [...] häufig auf gewisse Kunstwörter [stößt], die eine Verschiedenheit der Gedichte dem Inhalt oder der Form nach bezeichnen».2 Die Analyse der Zuordnung bestimmter poetischer Texte zu diesen ‘Kunstwörtern’ bei den Trobadors führt Diez zu dem Ergebnis, dass man in der Trobadorlyrik zwischen drei übergeordneten Gattungen unterscheiden kann, die er folgendermaßen benennt: «1) das Minnelied, [inklusive das religiöse Lied, der Liebesbrief], 2) das Sirventes [1. politisches Sirventes (Kampflied, Turnierlied, Kreuzlied, Lobgesang, Klagelied, Rügeleid, 2. persönliches Sirventes, 3. moralisches Sirventes], 3) die Tenzone; diese zerfallen wieder in verschiedene Unterabtheilungen».3

Canso, sirventes und tenso erscheinen somit als gleichgestellte Ordnungsfaktoren des lyrischen Gattungssystems. Die canso wird als Minnelied – ob es sich um profane Liebe oder Gottesliebe handelt, spielt für die Gattungsbezeichnung keine Rolle – thematisch enger festgelegt als das sirventes, in dem Gefühle und Reflexionen entfaltet werden, die alle Themenbereiche, außer dem der Liebe, zum Gegenstand haben können. Während diese beiden Gattungen thematisch abgegrenzt werden, erscheint die tenso, die Diez als «merkwürdige Gattung» und «Produkt des dialectischen Geistes jener ganzen Zeit»4 charakterisiert, eindeutig als primär formal bestimmtes Genre. Fast 30 Jahre nach Diez führt Karl Bartsch in seinem Provenzalischen Lesebuch (1855), das nach Gattungen geordnet ist, eine Liste von 18 lyrischen Genres auf, die er jeweils kurz kommentiert, wobei er sowohl vers und canso als auch balada und dansa in eine Rubrik fasst: 1. Vers und Canzone, 2. Sirventes, 3. Kreuzlied, 4. Klagelied, 5. Marienlied, 6. Tenzone, 7. Pastorela, 8. Sonet, 9. Sextine, 10. Alba, 11. Serena, 12. Romanze, 13. Retroensa, 14. Breu doble, 15. Balada und Dansa, 16. Descort, 17. Carroussel und 18. Brief.5 Dabei sieht Bartsch das Kreuzlied als eine besondere Form des sirventes6 und die serena als «eine künstliche modification der alba»7 an, womit er die Existenz über- und untergeordneter Gattungen annimmt. Äußerungen zur Systematik dieser Auswahl fehlen. Geht man von Bartschs Behauptung aus, sich in der Darstellung nur auf Hauptgattungen8 der Lyrik beschränken zu wollen, so verwundert diese Auswahl umso mehr, da einige Unica (wie serena, carroussel und breu doble) 9

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Diez 21883, 88. Diez 21883, 119. Diez 21883, 164. Bartsch 1855, XII–XV. Cf. Bartsch 1855, XIII. Bartsch 1855, XIV. Cf. Bartsch 1855, XIII. Guiraut Riquier: Ad un fi n aman fon datz {A b, 14}, Raimbaut de Vaqueiras: Truan,

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darin aufgeführt werden. Zum carroussel bemerkt Bartsch zudem, dass es sich dabei um «eine von den unbedeutenden gattungen» handelt, «die sich nur auf den inhalt beziehen»10 und wertet somit inhaltlich definierte Genres ab. Carl Appel wiederum führt in seiner an Bartschs Lesebuch orientierten und gleichermaßen nach Gattungen geordneten Chrestomathie nunmehr 24 lyrische Gattungen auf: 1. Vers und Kanzone, 2. Escondich, 3. Descort, 4. Lais, 5. Rätsellied, 6. Enueg, 7. Plazer, 8. Balada und Dansa, 9. Estampida, 10. Alba, 11. Romanze, 12. Pastorela, 13. Sirventes, 14. politisches Sirventes, 15. Kreuzlied, 16. moralisches Sirventes, 17. Planh, 18. Tenzone, 19. fingierte Tenzone, 20. Partimen, 21. Reimbrief, 22. Mariengebet, 23. Marienklage und 24. epître farcie.11 Auffällig ist die bereits von Bartsch vorgenommene Zusammenfassung der Gattungen vers und canso sowie balada und dansa. Besonders differenziert werden die Genres sirventes, tenso und religiöses Lied dargestellt. Unterschieden wird – wie schon bei Diez – zwischen dem politischen, dem moralischen und dem persönlichen sirventes, wobei eine weitere Hierarchisierung erfolgt, wenn das Kreuzlied als Beispiel für ein politisches sirventes, der estribot als moralische und der planh als persönliche Variante vorgestellt werden. In Hinblick auf die tenso benennt Appel als zweite Form die fingierte Tenzone und führt als zwei Varianten des religiösen Lieds das Mariengebet und die Marienklage an. Interessant ist die Aufnahme seltener, aber in den Leys d’Amors erwähnter thematischer Gattungen wie plazer oder enueg. Vom Bewusstsein der problematischen Grenzziehung zwischen den Gattungen zeugen Appels skeptische Äußerungen in der Einleitung seiner Anthologie, wenn er über die Romanze schreibt: «der Begriff der Romanze […] ist ziemlich willkürlich gewählt und eine Scheidung von der Pastorela einerseits, von der fingierten Tenzone andererseits nicht recht durchführbar. Aber auch die als Romanzen bezeichneten Gedichte in eine der anderen Gattungen einzureihen, ging nicht an».12

Ähnlich wie bei Bartsch fehlt auch bei Appel eine Erklärung über die Kriterien der Gattungswahl. Keiner der beiden nimmt alle der dictatz principals der Leys d’Amors in seine Liste auf, beide aber nennen Gattungen, die die späteren Poetiken nicht kennen und die uns teilweise nur als Unica13 überliefert sind. Gehen Diez, Bartsch und Appel von einer weitgehend thematischen Abgrenzung der Gattungen aus, so orientiert sich Alfred Jeanroy an der Sprechinstanz und schlägt ein grobes binäres Klassifizierungsmodell an, indem er zwischen subjektiven und objektiven Gattungen unterscheidet. Als genres subjectifs werden

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mala guerra (BdT 392, 32), Guiraut Riquier: Amors m’auci que·m fai tant abelhir (BdT 248, 9). Bartsch 1855, XIV. Appel 61930, 51–147. Appel 61930, IV. So ist beispielsweise der escondich im Sinne seiner Definition in den Leys d’Amors nur mit dem Lied Eu m’escondisc, dompna, que mal non mier (BdT 80, 15) von Bertran de Born überliefert (cf. Burgwinkle 1990, 54).

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dabei Lieder bezeichnet, die als Reflexionslyrik qualifiziert werden können und in denen ein lyrisches Ich spricht, während die sogenannten genres objectifs dialogische oder polyphone Formen zeigen, in denen «des personnages, au reste peu nombreux et dont le rôle est fixé d’avance»14 auftreten. Zu den genres subjectifs zählt Jeanroy die canso, das sirventes und die drei ‘dialogischen’ Gattungen tenso, partimen und cobla – die Letzte wird als reduzierte Form der tenso charakterisiert.15 Ähnlich wie Diez und Bartsch unterscheidet Jeanroy diverse Varianten des sirventes.16 Zur Gruppe der genres objectifs, die, so Jeanroy, im Norden Frankreichs reicher vertreten sind als bei den Trobadors,17 zählen die Gattungen pastourelle, aube, chanson d’histoire/de toile (mit dem Subgenre der Romanze) sowie andere Formen der chanson de femme und zahlreiche Tanzlieder. Mit dieser Liste der genres subjectifs und objectifs möchte Jeanroy die «plus notables représentants»18 der lyrischen Gattungen der Trobador- und Trouvèrelyrik benennen, wie der Untertitel seiner Untersuchung deutlich macht. Auffällig in Jeanroys Studie ist die vehemente Ablehnung der sogenannten dictatz no principals, denen er den Status der Gattungen abspricht und somit gegen das Vorgehen von Bartsch polemisiert.19 In seiner Argumentation ist Jeanroy jedoch inkonsequent, wenn er einige Gattungsnamen rigoros verwirft – darunter Gattungen wie enueg oder plazer – während er andere inhaltlich definierte Gattungen, die zum Teil weder von den Trobadors noch von den Schreibern erwähnt werden (z. B. escondig20), als gerechtfertigt darstellt. Für die Gattungstypologie der mittelalterlichen Lyrik wurden insbesondere die Arbeiten von Pierre Bec wegweisend, die sich einerseits am Modell des grand chant courtois von Zumthor21 und andererseits an der Idee der genres objectifs und

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Jeanroy 1934, II, 282. Jeanroy 1934, II, 274. Jeanroy 1934, II, 174s. Cf. Jeanroy 1934, II, 283. Vollständig lautet der Untertitel: Les genres: leur évolution et leurs plus notables représentants. Cf. Jeanroy 1934, II, 327: «Raynouard et, à sa suite, Bartsch et d’autres érudits ont prétendu distinguer et même définir des variétés de la chanson qui n’ont jamais eu d’existence réelle: il n’y a là, dans la plupart des cas, que des dénominations, émanant soit des auteurs, soit des rubricateurs, soit même des critiques modernes, qui désignent, plus ou moins heureusement, des pièces isolées et non des genres et qu’il serait temps de faire disparaître des manuels d’histoire littéraire». Cf. Jeanroy 1934, II, 328. In seinem Essai de poétique médiévale (22000 [1972]) entwickelt Zumthor in Anlehnung an die Arbeiten der strukturalistischen Linguistik ein am Rede- und Vortragskriterium orientiertes Klassifizierungsmodell für die Gesamtheit literarischer Texte des französischen Mittelalters. Dieses Modell erhebt die forme de discours (cf. Zumthor 22000, 208) zum Kategorisierungskriterium par excellence. Cf. auch Zumthors Artikel von 1972, in dem er seine Klassifizierung am Beispiel der chanson de toile exemplifiziert. Explizit an Zumthor lehnt sich Bec mit seinem Register- und Gattungsbegriff an. Zumthor definiert das Register als «un complexe de motifs et d’expressions formulaires» (Zumthor 1959, 420) und somit als eine Kategorie, die sich zwar den literarischen Gattungen

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subjectifs von Jeanroy orientieren. Schon in seinem Artikel von 1969 stellt Bec das Gattungssystem und die Gattungen als essentielle strukturierende Merkmale der mittelalterlichen Poesie heraus22 und legt 1977/1978 in einer umfangreichen Untersuchung eine typologische Gattungsbestimmung vor. Bec betont das Fehlen systematischer theoretischer Auseinandersetzungen mit Gattungen im Mittelalter und praktiziert – mit Hinweis auf die konfuse Terminologie – eine Gattungsklassifizierung post rem.23 Zum jeweiligen Gattungsbegriff, der ein durchaus durchlässiges Geflecht von Merkmalen darstellt, gelangt Bec durch die Hierarchisierung der distinktiven Merkmale, innerhalb derer er nach der Dominanten sucht.24 Die auf diese Weise gewonnenen Gattungsbegriffe werden den vier Hauptebenen des Systems 1) le grand chant courtois, 2) genres à pertinence thématique, 3) genres à pertinence lyrico-formelle und 4) littera sine musica zugeordnet.25 Im Kern zeigt dieser Entwurf, der den Einzelgenres ein Gattungssystem überordnet, eine binäre Struktur. Gemeint ist damit die Klassifizierung der lyrischen Gattungen nach Registern (registres poétiques), wobei zwischen dem registre aristocratisant (trobadoreske Kunstlyrik) und dem registre popularisant (volkstümliche Formen) unterschieden wird. Letzteres beschriebt Bec als Register der Situationslyrik, deren Exemplare meist anonym überliefert sind, epische Elemente enthalten, ein mehr oder weniger typisiertes Figureninventar und einen Refrain aufweisen. Zum registre aristocratisant zählt Bec die Genres canso, sirventes, planh, tenso und jeu-parti. Das registre popularisant setzt sich vor allem aus thematischen Gattungen wie chanson d’ami, chanson de la malmariée, aube oder chanson de croisade zusammen, die das System der genres à pertinence thématique abbilden.26 Da eine solche binäre Unterteilung bei genauer Untersuchung der Textzeugen schnell an seine Grenzen stößt, führt Bec auf der Ebene der Register den Terminus interférences registrales27 und auf der Ebene der Gattungen das Konzept der genres hybrides28 ein. Denn so wie es kein reines Register gibt, existieren auch keine

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annähert, diesen aber übergeordnet ist. Register können nach Zumthor jeweils in drei Formen vorkommen: (a) in reiner Form, (b) in kontrastierender Form oder aber, im Falle von Interferenzen mit anderen Registern, (c) in gemischter Form (Zumthor 1959, 423). Seinem Gattungsbegriff legt Bec (1977, 35) weitgehend die Definition des type nach Zumthor zugrunde; cf. Bec (ibid., Anm. 42): «La notion du genre n’est donc qu’un aspect élargi de la notion de type, le type étant défini, d’après P. Zumthor, comme ‘une micro-structure constituée par un ensemble de traits organisés, comportant un noyau fixe (soit sémique, soit formel) et un petit nombre de variables’». Cf. Bec 1969, 1325: «La lyrique médévale […] est une poésie de constructions formelles nettement définies, de genres». Cf. Bec 1977, 36. Bec 1977, 40: «Un texte donc […] se définit toujours par une sorte de polyvalence de ses traits distinctifs. Mais il n’en est pas moins vrai que ces traits s’organisent en un ensemble spécifique (qui forme le texte), et dont il est licite de chercher la dominante». Cf. Bec 1977, 38s. Cf. Bec 1977, 33–39. Cf. Bec 1977, 40–43. Cf. Bec 1977, 35.

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genres pures. Als hybride Gattungen in diesem Sinne figurieren bei Bec: «la pastourelle, la reverdie, la chanson de croisade, le motet, l’estampie, la retrouenge, […] la sotte chanson et la fatrasie».29 Einen Meilenstein auf dem Gebiet der Gattungsforschung stellen für die mittelalterliche Lyrik die Beiträge von Erich Köhler und Hans Robert Jauß dar, deren Ergebnisse als Synthese in den GRLMA übergingen. In seinem Modell zur diachronen Beschreibung von Gattungen übernimmt Jauß, ähnlich wie schon Zumthor, von den Formalisten das Konzept des innerliterarischen Gattungssystems,30 setzt jedoch einen anderen Schwerpunkt, indem er den Systemgedanken historisch zu konkretisieren versucht. Jauß nimmt vorliegende strukturalistische Methoden zur Analyse formaler, systemprägender Dominanten auf, erweitert dieses synchronische Verfahren jedoch durch historisch-diachrone Untersuchungen, die sich vornehmlich auf den Erwartungshorizont von Rezipienten und Adressaten beziehen. Die Geschichtlichkeit einer literarischen Gattung, die nicht normativ (ante rem) oder klassifikatorisch (post rem), sondern historisch (in re) zu bestimmen sei,31 zeichnet sich nach Jauß durch einen Prozess der Prägung einer Struktur, deren Variation, Erweiterung und Korrektur ab, die bis zur Erstarrung führen oder auch mit der Verdrängung durch eine neue Gattung enden kann.32 Nach Jauß gehört «jedes literarische Werk einer ‘Gattung’ an, womit nicht mehr und nicht weniger behauptet wird, als daß für jedes Werk ein vorkonstituierter Erwartungshorizont vorhanden sein muß».33 Die Gattungstheorie von Jauß basiert auf der essentiellen Idee der systemprägenden Dominante die als Bezugsgröße für die weitere Gattungsdifferenzierung fungiert. Dieser Terminus wird dabei sowohl auf die einzelnen Gattungen – Ensemble von formalen und inhaltlichen Merkmalen, konstanten und variablen Strukturelementen – als auch für das Gattungssystem angewandt.34 Da-

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Cf. ibid. Zur Bedeutung des Gattungssystems für die Abgrenzung einzelner Gattungskonzepte cf. Jauß (1972, 134). Cf. Jauß 1972, 111. Cf. Jauß 1972, 135. Mit seinem Dreierschritt von Kanonisierung, Automatisierung und Umbesetzung knüpft Jauß an die – in Anlehnung an Darwins Evolutionsmodell und die Essais de critique et d’histoire von Hippolyte Taine (Cf. Hoeges 1980, 15–93) – in der Abhandlung Evolution des genres dans l’histoire de la littérature (1890) von Ferdinand Brunetière entwickelte Gattungstheorie an, in der die Existenz der einzelnen literarischen Genres mithilfe der Lebensmetaphorik von Geburt, Reife und Verfall erklärt und in der bereits eine synchrone mit einer diachronen Gattungsbetrachtung verknüpft wird. Als Schlussfolgerung einer solchen Gattungsbeschreibung ergibt sich eine nicht unproblematische Ableitung des ästhetischen Werts eines Werks/einer Gattung aus dem Grad der Originalität. So wird jeder Reproduktion eines Musters ein geringer Wert zugeschrieben, während Variation und Abwandlung den Wert eines Werks erhöhen. Je stereotyper ein Text das Gattungsmuster wiederholt, desto geringer ist – so Jauß – sein Kunstcharakter, und durch ständige Reproduktion verlieren nach der Kanonisierung und Automatisierung Gattungen ihre Wirkungskraft (cf. Jauß 1972, 135). Jauß 1972, 110. Cf. Jauß 1972, 112.

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bei hebt Jauß die Bedeutung der Annahme eines abstrahierten Gattungssystems35 hervor, in welches die Einzelgattungen einzubetten sind. Die Betonung der gesellschaftlichen Funktion der Gattungen, die Jauß als «Sitz im Leben»36 bezeichnet, wird besonders im historisch-soziologischen Ansatz von Köhler37 zum zentralen Punkt erhoben: Hier wird die sozial- und funktionsgeschichtliche Dimension des Gattungssystems hinterfragt. Orientiert an diesen Ansätzen von Jauß und Köhler ist das Modell des trobadoresken Gattungssystems des GRLMA, das sechzehn als Hauptgattungen der altokzitanischen Lyrik klassifizierte Genres umfasst. Bei der Auswahl dieser Gattungen folgen die Herausgeber hauptsächlich quantitativen Kriterien und stellen so neben die in der Überlieferung zahlenmäßig eindeutig dominierende canso, die als Systemdominante38 verstanden wird, folgende fünfzehn Genres: descort, sirventes, Sirventes-Kanzone, cobla, Kreuzlied, planh, tenso, partimen, pastorela, alba, Romanze, Tanzlied und estampida, religiöses Lied und salut d’amor. Die Begrenzung auf diese fünfzehn (bzw. sechzehn) Gattungen befürwortet Rieger schon in seiner Untersuchung von 1976, in der er die «von der Provenzalistik zumeist nach inhaltlichen Kriterien ausgesonderten Untergattungen [sowie] die Spezifizierungen von Trobadors der Spätzeit – vor allem Cerveris de Girona oder der wahrscheinlich weniger unter empirischen als rein theoretisch-normativen Gesichtspunkten vorgenommenen Klassifikationen später Poetiken»39

aus dem trobadoresken Gattungssystem im engen Sinne ausschließt. Elf der im GRLMA erfassten Genres haben ihre Gattungsnamen schon im Mittelalter erhalten und erscheinen als solche in Poetiken, vidas und razos oder in den Liedern der Trobadors selbst (canso, descort, sirventes, cobla, planh, tenso, partimen, pastorela, alba, dansa , estampida), eine erscheint nur in singulärer Nennung bei Falquet de Romans (BdT 156, 14/v. 1s.: chanso sirventes),40 und die verbleibenden vier Gattungsnamen wurden post rem von der Forschung hauptsächlich nach inhaltlichen (Kreuzlied, religiöses Lied, Romanze) und zum Teil nach formalen (salut d’amor) Kriterien gebildet.

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Cf. einen ähnlichen Gedanken bei Tynjanov (1967, 47): «Wir folgern, daß die Erforschung isolierter Gattungen außerhalb der Kennzeichen jenes Gattungssystems, auf das sie bezogen sind, unmöglich ist». Cf. Jauß 1972, 132. Cf. Köhler 1977, 7–21. Zur Kritik an der Kanzonenzentriertheit der Köhler-Schule cf. z. B. Lindt (1998, 412) und Chaguinian (2008, 46). Rieger, D. 1976, 3. Von diesem singulären Beleg behauptet Köhler (1969, 163), der dem Genre der Sirventes-Kanzone eine theoretische Grundlage geschaffen hat: «Hätte uns ein historisches Mißgeschick des einzigen Belegs für den Terminus chanso-sirventes beraubt, man hätte ihn erfinden müssen».

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Die von Erich Köhler41 zunächst als legitime Gattung postulierte SirventesKanzone nimmt 20 Jahre später in der Gattungstypologie von Peter Wunderli (1991), die strukturell-semantisch verfährt und als Methode ein binäres Klassifizierungsverfahren zugrunde legt, eine zentrale Funktion ein. Diese Typologie erhebt den Inhalt zum primären Differenzierungskriterium und distanziert sich somit deutlich von der Formfixierung verwandter Arbeiten. Mit seinem Ansatz, in dem die Gattungen zunächst hinsichtlich des Inhalts und sekundär in Bezug auf die Registerzugehörigkeit klassifiziert werden, knüpft Wunderli in gewisser Hinsicht an die Gattungsdifferenzierung von Erich Köhler einerseits und die von Pierre Bec andererseits an.42 Wie Köhler und Jauß versteht Wunderli die Gattungen als in einem permanenten Entwicklungsprozess begriffene Einheiten und fixiert seine Untersuchung des Gattungssystems durch einen synchronischen Schnitt auf die Zeit um 1200. Die Anknüpfung an Zumthor und Bec erfolgt durch den Terminus des Registers, den Wunderli als Klassifizierungskriterium geltend macht. Die Form der Gattungen hingegen spielt in seiner Untersuchung eine untergeordnete Rolle und wird in der Gattungsdifferenzierung als Kriterium nicht berücksichtigt.43 Wunderli differenziert die lyrischen Genres auf mehreren Niveaus. Auf der ersten Ebene nimmt er als abstrakte Größe eine absolut unmarkierte Gattung an, «le genre absolument non-marqué du système»,44 die er als canso-sirventes bezeichnet. Diese Gattung beschreibt er als dem vers vergleichbar, der jedoch den Oberbegriff eines «système non encore différencié»45 darstellt, dessen Spezifikationen die Genres canso und sirventes bilden. Für die weitere Klassifizierung der Gattungen betont Wunderli – wie schon Diez über hundert Jahre zuvor – die Notwendigkeit homogener Klassifikationskriterien, die eine Gattungsuntersuchung erst sinnvoll machen. Ein Perspektivenwechsel von einem Kriterium zum anderen sei nur bei gleichzeitigem Wechsel des Abstraktionsniveaus möglich.46

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Cf. Köhler 1969/1987a. Köhler sieht die Funktion der Sirventes-Kanzone in der Wiederherstellung der ursprünglich im vers angelegten und durch die Entstehung der Gattungen canso und sirventes zerschlagenen Einheit Minne- und moralsatirischer/sozialkritischer Thematik. Warum er sich allerdings zur Bezeichnung einer so definierten Gattung nicht mit dem ursprünglichen Namen vers zufriedengibt, bleibt unklar. Wunderli 1991, 602: «Je considère comme distinctifs en premier lieu les traits de contenu, en deuxième lieu les traits de registre. [...] Par ce choix je me rapproche jusqu’à un certain degré de Köhler, mais aussi de Pierre Bec, et je me mets en même temps en contradiction avec Paul Zumthor, pour qui la forme est le critère décisif pour l’interprétation (et non le contenu)». Wie jede andere Untersuchung dieser Art stößt auch dieser Versuch der Gattungsdifferenzierung an seine Grenzen. Wird nämlich die Form als Klassifizierungskriterium ausgeschlossen, so kann zum Beispiel der salut d’amor nicht als eigenständige Gattung betrachtet werden, da er hinsichtlich des Inhalts und des Registers mit der canso kongruent ist. Wunderli 1991, 606. Wunderli 1991, 607. Cf. Wunderli 1991, 601.

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Wunderlis Ansatz ist nicht der letzte geblieben. Neuere Untersuchungen zum Gattungssystem der Trobadorlyrik knüpfen jedoch in der Regel47 weitgehend an die dargestellten Traditionen (Jeanroy, Zumthor, Bec, Jauß) an. Abschließend ist noch auf den von Paden herausgegebenen Band Medieval Lyric: Genres in Historical Context (2000) hinzuweisen, der, wie der Titel schon andeutet, den Schwerpunkt auf das Gattungssystem im Wandel legt. Im einleitenden Beitrag des Bandes präsentiert Paden eine systematische Untersuchung der Gattungsbezeichnungen der Trobadorlyrik, indem er Ergebnisse quantitativer Studien zum Vorkommen und zur Verbreitung der Gattungsnamen vorlegt. Anders als beispielsweise Zumthor versteht Paden das lyrische Gattungssystem im Mittelalter als eine von den anderen Genres wie erzählende Dichtung oder Theater unabhängige Entität, die ein selbstbezogenes System, «[a] world apart»,48 bildet. Paden geht bei seiner Untersuchung chronologisch vor, indem er die Trobadorlyrik in fünf Perioden unterteilt, die er in Anlehnung an die Wirkungszeit bestimmter Trobadors festlegt.49 Die so ermittelten Belege für Gattungstermini stellt Paden in mehreren Diagrammen und Tabellen schematisch dar50 und wendet sich gegen die anachronistische Applikation der aus späten Poetiken entlehnten Gattungstermini auf die Lieder früher Trobadors wie Jaufre Rudel oder Marcabru.51 Padens Untersuchung und Darstellung des sich in einzelnen Perioden stark wandelnden Gattungssystems trägt zur Entmystifizierung der im GRLMA propagierten absoluten Dominanten-Stellung der canso bei, die zwar, wie Paden zeigen konnte,52 zwischen 1140 und 1180 mit fast 80% an der tradierten Gesamtproduktion quantitativ eindeutig überwog, aber schon ab 1220 ihre Spitzenposition verlor und zwischen 1260 und 1300 nur noch 19% der überlieferten Lieder stellte. Eine Anwendung der in den Poetiken des 13. und 14. Jh.s versammelten Gattungsnamen kritisiert auch Pickens in seinem Beitrag als anachronistisch. Für die Beschreibung des Gattungssystems setzt Pickens einen synchronen Schnitt und schlägt für die frühe53 Lyrik ein strukturalis-

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Einen originellen, aber nicht auf alle Genres anwendbaren Zugang zum Verständnis der mittelalterlichen Gattungspraxis bietet Dagenais. Im Anschluss an die antike Rhetorik schlägt er mit seinem «schema of praise and blame» (2000, 246) eine Unterteilung der Gattungen nach der Lob- und Rüge-Thematik vor. Als Stütze seines Zugangs sieht er die Vorgehensweise der mittelalterlichen Poetiken – und insbesondere der Doctrina – an. Dagenais erhellt mit seinem Beitrag einen interessanten Teilaspekt der Gattungssystematik im Mittelalter und kann anhand der Lob/Rüge-Thematik zeigen, «how absolutely fundamental this pair was to medieval thinking about literature» (2000, 247). Paden 2000a, 4. So setzt Paden (cf. 2000b, 24) die erste Periode in der Produktionszeit von Guilhem IX (1100–1140) an, die zweite bei Raimbaut d’Aurenga (1140–1180), die dritte in der Wirkungszeit von Bertran de Born (1180–1220), die vierte in der von Peire Cardenal (1220–1260) und die fünfte bei Guiraut Riquier (1260–1300). Cf. die Diagramme und Tabellen in Paden (2000b, 23/25/26–28). Cf. Paden 2000b, 36. Cf. Paden 2000b, 26. Pickens (2000, 211) bezieht sich mit seinen Ausführungen, auf die vor 1180 entstandenen Lieder.

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tisches 3-Gattungs-Modell vor, indem er – ähnlich wie schon Zumthor – von der Vortragssituation ausgeht. Er unterscheidet zwischen 1) Gattungen, in denen sich der Sprecher an das Publikum/die Dame wendet (vers, canso, sirventes, planh), 2) Dialogen (tenso, partimen) und 3) narrativen Genres (pastorelas).54 Pickens konstatiert, dass man in Bezug auf die frühe Lyrik nur von Prototypen sprechen könne, indem man beispielsweise die Lieder von Jaufre Rudel als Prototypen der canso bezeichnet und die von Marcabru als Prototypen des sirventes. Konstruktiv und wünschenswert wäre der von Pickens geforderte neue Katalog der Trobadorlyrik, der die Repertorien von Pillet/Carstens und Frank ersetzen sollte.55 Gewiss hat die unter der Leitung von Asperti entstandene BEdT (www.bedt.it) bereits einen großen Beitrag zu dieser Forderung geleistet, sie bedarf aber dennoch weiterer Ergänzungen und Spezifizierungen, was die Vielfalt der Gattungsformen und die Herkunft der Gattungsnamen betrifft. 2.1.2.

Der somni oder das Dilemma der Forschungsdiskussion

Vergeblich sucht man in einschlägigen Lexika nach einer Erwähnung des somni. Weder das Lexikon des Mittelalters noch das Dictionnaire des Lettres Françaises: Le Moyen Âge enthält ein Lemma wie somni , chanson de songe oder Traumlied. Zwar erscheinen im Letzteren unter dem Stichwort genres secondaires56 seltene – oder «nicht belegte Gattungen» – wie cossir, enueg oder desconortz, der somni aber wird nicht benannt. Während die germanistische Mediävistik trotz der geringen Zahl der überlieferten Textzeugen57 den Terminus Traumlied in das Gattungssystem des – bekanntlich stark von der Trobador- und Trouvèrelyrik beeinflussten – Minnesangs aufgenommen hat und das traumliet als Minnelied definiert, «in dem das (glückhafte) Minnegeschehen in eine Traumsphäre verlegt ist»,58 schenkt die Romanistik trotz der Existenz einer solchen Gattung in den volkssprachlichen Poetiken des Mittelalters dem somni wenig Beachtung. Bemerkungen zum somni beschränken sich auf kurze Erwähnungen – wie bei Carl Appel, der den somni als Dichtart identifiziert,59 und Kurt Ringger, der ihn als Teil des trobadoresken Gattungssystems sporadisch benennt60 – oder aber auf re54

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Cf. Pickens 2000, 212. Cf. auch einen ähnlichen Ansatz zur Kategorisierung der romanischen Frauenlieder bei Mölk (1989, 24). Einen in diese Richtung weisenden Ansatz verfolgt auch die im Cancioneiro da Biblioteca Nacional überlieferte altportugiesische Arte de trovar. Cf. dazu Kap. 4.1.3. Cf. Pickens 2000, 230. Bossuat 21993, 496a/b. Schweikle (21995, 144) benennt fünf Traumlieder: MF 48, 23 (Friedrich von Hausen), MF 145, 1 und 138, 17 (Heinrich von Morungen) so wie L 74, 20 und L 94, 1 (Walther von der Vogelweide). Schweikle 21995, 143. Cf. Appel 61930, 306. Auch Levy weist in seinem Supplement zum LexRom darauf hin, dass das Lexem somni als «Bezeichnung für eine Dichtungsart» (PSW VII, 805) belegt ist und ergänzt damit die von Raynouard (LexRom V, 258s.) ermittelten Bedeutungen. Cf. Ringger 1991, 104.

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duzierende Urteile. Allen voran ist dabei Marshall zu nennen, der in seiner Untersuchung okzitanischer und katalanischer Poetiken zum Genre somni anmerkt, es sei in der altokzitanischen Lyrik nur ein Lied überliefert, das dem Gattungsnamen zugeordnet werden könne. Marshall benennt es mit Entr’Arago e Navarra jazia von Cerveri de Girona (BdT 434, 7a) und löst mit seinem Kommentar den Mythos von «the sole example of the sompni»61 aus – ein Mythos, der bis in die neuesten Untersuchungen der Mediävistik zu verfolgen ist. So konstatiert beispielsweise Landoni, der somni sei «noto solo in Cerveri de Girona».62 Finazzi-Agrò verweist weniger ausschließlich auf die Gattung des somi oder sompni, «cui si può con sicurezza assegnare almeno una poesia di Cerverí de Girona»63 und auch Chaguinian behauptet in einem Artikel von 2007, somni und gelozesca seien Unica, «dont les seuls exemples sont dus au poète catalan de la seconde moitié du XIIIe siècle, Cerveri de Girona»64 und verweist dabei explizit auf Marshall. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass der Gattungsname somni auch in der Bibliographie von Pillet/Carstens allein im Zusammenhang mit der Komposition von Cerveri fällt («Sompni»), während die aktualisierte elektronische Version der Bibliographie (BEdT) diese Gattungsbezeichnung ohne weiteren Kommentar durch «canzone» ersetzt. Die Herausgeber der Lieder Cerveris, die den somni durchaus als Gattungsbezeichnung verwenden, verzichten auf eine besondere Kommentierung der Gattung. So findet man in der Edition von Riquer im Anschluss an eine kurze inhaltliche Zusammenfassung von Entr’Arago e Navarra jazia (BdT 434, 7a) die lapidare Feststellung: «Según Las Leys d’Amors, el somi, o sompni, es un género de la lírica provenzal»,65 und Coromines stellt fest: «Aquesta composició no constitueix una novetat completa dins la lírica trobadoresca, car s’havien escrit altres poemes comparables en alguna mesura; i els tractadistes occitans havien parlat, fins i tot, d’una varietat secundària de ‘dictatz’ a la qual reconeixien, com les Leys d’Amors, el nom de somis»,66

ohne auf diese «altres poemes comparables» spezifischer einzugehen. Die Vernachlässigung der Gattung somni geht in der Regel mit einer kategorischen Zurückweisung der dictatz no principals einher. Jeanroys ablehnende Haltung gegenüber der «manie classifiante des auteurs des Leys»,67 seine Behauptung, Lieder wie cossir und somni seien überhaupt nur komponiert worden, um die Definitionen der Leys zu stützen,68 oder der Kommentar von Chambers, Termini wie somni «used as generic descriptions for poems of Cerveri de Girona» seien

61 62 63 64 65 66 67 68

Razos de trobar, 139/Anm. 75–77. Landoni 1989, 125. Johan Mendiz de Briteyros, 120. Chaguinian 2007a, 49/Anm. 12. Cf. auch Chaguinian 2007a, 61. Cerveri de Girona b), 42. Cerveri de Girona a) II, 207. Jeanroy 1934, II, 329. Ibid.: «C’est à la manie classifiante des auteurs des Leys que nous devons le somni (songe), la vezio (vision), le cossir (méditation triste), la desconort (découragement), la

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als «titles, not legitimate names of lyric genres»69 zu verstehen, sind nur zwei Beispiele für die Ablehnung der «sekundären» Gattungen. Eine erste speziell den dictatz no principals gewidmete Studie, in der diese sekundären Gattungen als potentielle Genres der Trobadorlyrik beschrieben werden, legt Canettieri (1994) vor. Er benennt neben dem somni von Cerveri de Girona (BdT 434, 7a) die folgenden drei Lieder als mögliche Repräsentanten der Gattung: Guiraut de Bornelh: No posc sofrir c’a la dolor (BdT 242, 51), Guilhem de Saint-Didier: En Guillem de Saint Deslier, vostra semblanza (BdT 234, 12) und Guilhem d’Autpol: Seinhos, auias, c’aves saber en sens (BdT 206, 4).70 Wichtiger als die Hinweise auf mögliche Realisierungen der Gattung in der Trobadorlyrik sind die aufschlussreichen Bemerkungen von Canettieri über die Eigenart der dictatz no principals im Allgemeinen. Die sekundären Gattungen werden dabei als Spielarten der canso verstanden, die die «espressioni del sentimento, dei sensi e dell’interiorità originariamente racchiuse nella canso»71 realisieren. Als Spiegel der Gedanken-, Gefühls- und Traumwelt des Dichters wurzeln diese Gattungen im «ambito semantico dell’interiorità, circoscritto soprattutto da pensiero, sentimenti e spazio onirico».72 In Anlehnung an die Studie von Canettieri liefert ein Ende 2008 veröffentlichter Beitrag von Grimaldi neue Impulse für die Beschreibung des somni. Der Definition des somni in der Doctrina folgend bestimmt Grimaldi die Gattung rein thematisch,73 ergänzt das Korpus von Canettieri um zwei tensos und geht so von sechs Traumliedern aus:74 75 76 {S b, 5}75

Guiraut de Bornelh: No posc sofrir c’a la dolor 76 (BdT 242, 51)

{S b, 6}

Guilhem de Saint-Didier: En Guillem de Saint Deslier, vostra semblanza (BdT 234, 12)

{S b, 7}

Lanfranc Cigala: Entre mon cor e me e mon saber (BdT 282, 4)

{S b, 8}

Joan d’Albusson /Nicolet de Turin: En Niccolet, d’un sognie qu’ieu sognava (BdT 265, 2)

{S b, 9}

Guilhem d’Autpol: Seinhos, auias, c’aves saber en sens (BdT 206, 4)

{S b, 10}

Cerveri de Girona: Entr’Arago e Navarra jazia (BdT 434, 7a)

69 70 71 72 73 74 75 76

gilozesca (chanson de jaloux), etc.: s’il en existe des spécimens, ils ont été fabriqués pour appuyer ces définitions». Chambers 1985, 196. Zu fragen wäre an dieser Stelle, warum Chambers (cf. 1985, 212) z. B. der als Unicum überlieferten serena den Status der Gattung nicht abspricht. Cf. Canettieri 1994, 53. Canettieri 1994, 58. Canettieri 1994, 53. Grimaldi 2008, 9: «I testi censiti sono tutti (tranne appunto la canzone di Giraut) – dall’inizio alla fine ed esclusivamente – il racconto di un sogno, ad una o a più voci». Grimaldi 2008, 8s. Verweis auf die Nummer in der Anthologie am Ende der Untersuchung. Das Lied von Guiraut de Bornelh nimmt Grimaldi (2008, 9) nur unter Vorbehalt in sein Korpus auf, da das Traumbild darin nicht in allen coblas zum thematischen Kern entfaltet wird.

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Ferner weist Grimaldi auf zwei anonyme coblas esparsas hin, Grans gauchs m’ave la noit, quan sui colgatz (BdT 461, 135;{S b, 1}) und Un cavaler conosc qe l’altrer vi (BdT 461, 245; {S b, 2}),77 die den Traum zum zentralen Thema gestalten, und legt in diesem Zusammenhang die These nahe, der somni habe sich aus der Gattung der cobla entwickelt.78 Diese These gewinnt durch die Tatsache an Gewicht, dass auch die Gattung der reverdie bekanntlich aus dem in der Regel in der Exordialstrophe entfalteten Natureingang entstanden ist.79 Nicht als Gattung, jedoch als Motiv der mittelalterlichen Dichtung ist der Traum als beliebtes ästhetisches Ausdrucksmittel der mittelalterlichen Literatur immer wieder beschrieben worden. Schon bevor Le Goff mit seinen Forschungen die ergebnisreiche Tagung zum Thema I sogni nel Medioevo80 angeregt hat, lagen zahlreiche Arbeiten zu Funktion und Darstellung des Traums in mittelalterlichen Texten der Romania in großer Zahl vor. Dabei handelt es sich jedoch fast ausnahmslos um Untersuchungen, die epische Texte zum Gegenstand haben.81 Auch der von Corbellari und Tilliette (2007) herausgegebene Sammelband mit dem vielversprechenden Titel Le rêve médiéval behandelt ausschließlich mittelalterliche Epen und Romane.82 Seltener wird der Traum als lyrisches Motiv besprochen, was im Übrigen auch für die Germanistik gilt,83 obwohl einige Studien eine «funktionale Differenz» der Traumdarstellungen in Abhängigkeit von den Genres einräumen.84 Unter den vereinzelten Studien zum Thema sind für die Romanistik an erster Stelle die wegweisenden Untersuchungen von Braet zu nennen. Schon 1974 legte Braet einen Aufsatz mit dem Titel «Visio Amoris. Genèse et signification d’un thème de la poésie provençale»85 vor, in dem er ein reiches Belegmaterial für das Vorkommen des Traummotivs in der Trobadorlyrik zusammenstellt. Braet zeigt darin die Nähe des Motivs zur Liebesthematik auf, sieht die Funktion des Liebestraums freudianisch in der Wunscherfüllung,86 benennt als Vorbild für die Motivausprägung an erster Stelle die Heroides Ovids87 und weist darauf hin, dass dieses Motiv in der Trobadorlyrik seit Jaufre Rudel88 entfaltet wurde. Sein

77 78 79 80 81

82 83 84 85 86 87 88

Auf diese cobla verweist auch schon Braet (1977, 114/Anm. 12). Cf. Grimaldi 2008, 8/Anm. 22. Cf. Zink 1992, 127. Cf. Gregory 1985. Insbesondere fokussieren diese Untersuchungen, wie Corbellari (2007, 53) treffend feststellt, die «rêves de Charlemagne dans La Chanson de Roland, […] le rêve d’Iseut chez Béroul et ceux d’Arthur dans le Lancelot-Graal». Ebenso streift die gattungsübergreifende Anthologie von Gsteiger (1999) die mittelalterliche Lyrik nur beiläufig. Analoges gilt für die Studie von Gidion (2006). Cf. Haag (2003, 19), die in ihrem Forschungsüberblick dieses Desiderat beklagt. Cf. Schmitz 1934, 16. Cf. dazu die Kritik bei Haag (2003, 19/Anm. 35). Ähnliche Überlegungen trägt Braet (1985) im Rahmen der internationalen Tagung zum Thema I sogni nel Medioevo vor. Cf. Braet 1985, 20s. Cf. diesbezüglich schon die Erläuterungen Scheludkos (1934, 162ss.). Cf. später auch Regueiro-Diehl (1993, 199): «En effet, il est surprenant de constater que

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zu Beginn der Studie geäußertes Vorhaben, eine ähnliche Untersuchung auch für die altfranzösische Lyrik und den höfischen Roman vorlegen zu wollen,89 setzt Braet mit der Studie «Le rêve d’amour dans le roman courtois» (1977) nur zum Teil um.90 Ein eigenständiges Kapitel in der Kommentierung des Traummotivs stellen die Untersuchungen zur Gattung des salut d’amor dar. An erster Stelle ist hier die zusammenfassende Darstellung der Forschungsergebnisse durch Leube91 im zweiten Band (I, 5) des GRLMA zu nennen. Leube beschreibt das Motiv des Liebhabers, der «nach qualvoll unruhiger Nacht im Traum die Wohltaten [genießt], die die Dame ihm in Wirklichkeit vorenthält»,92 als Topos des altokzitanischen Liebesbriefs und versteht es als «gattungsbezogenes Klischee».93 Ferner beschäftigen sich mit dem Traummotiv implizit einige Arbeiten zu Guilhem de Peitieu, vornehmlich Erklärungen zu seinem Lied Farai un vers de dreyt nien (BdT 183, 7{S b, 3}), womit neben der Ausprägung des Liebestraums auch die Verknüpfung zwischen Traum und dichterischer Inspiration thematisiert wird.94 Für die galego-portugiesische Lyrik ist insbesondere auf die Untersuchungen von Fernández-Pereiro (1974), Regueiro Diehl (1991) und Brea (2006) hinzuweisen, die vor allem die starke Abhängigkeit des Liebestraummotivs von okzitanischen (und arabischen) Vorbildern aufzeigen. In eine ähnliche Richtung weist auch die Studie von Meneghetti (1984) über den Einfluss der okzitanischen Traumbilder auf die italienische Lyrik des 13. und 14. Jh.s. 2.1.3.

Bilanz nach fast 200 Jahren alba-Forschung

Kann man im Falle des somni von einer vernachlässigten Gattung sprechen, die noch zu entdecken und zu beschreiben ist, muss man andererseits die alba als «Lieblingskind» der Mediävistik bezeichnen, dem schon Diez Aufmerksamkeit schenkte. Versuche zur Deutung und Typologie der alba-Dichtung liegen in großer Zahl vor.95 In der Deutung des okzitanischen Tagelieds zeichnen sich dabei grob zwei Positionen ab: Die alba wird entweder (1) als integrativer Teil des höfischen Gattungssystems der Trobadorlyrik begriffen oder aber (2) aus dem höfischen

89

90

91 92 93 94 95

c’est Jaufré Rudel le premier troubadour provençal qui nous raconte dans ses poésies ses rêveries nocturnes». Braet 1974, 89/Anm. 1: «La présente contribution se limite au domaine occitan; nous espérons pouvoir aborder dans une seconde étude la fortune du thème chez les trouvères et les romanciers français». Braet (1977, 108) verweist in dieser dem höfischen Roman gewidmeten Untersuchung beiläufig auf die Verwendung des Traummotivs in der Trouvèrelyrik. Form und Funktion des Traummotivs in der Trouvèrelyrik sieht er dabei bereits vollständig in der Trobadordichtung entwickelt. Cf. Leube 1979. Leube 1979, 86. Ibid. Cf. z. B. Rieger, D. (1975) und Bernsen (2000). Cf. z. B. die Arbeiten von Wolf (1968), Müller (1971), Rieger, D. (1971/1979/1983/1990), Malm (1995), Billy (1997) und Stanesco (2001).

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System ausgeklammert und in eine Randposition gerückt. Als Ausschlusskriterium wird neben (2a) den volkstümlichen Ursprüngen der Gattung (2b) die problematische Stellung des Genres zum Grundkonzept der fin’amor geltend gemacht. Die Gattungstypologien wiederum variieren je nachdem, ob ein enges oder ein weites – wie spätestens seit den Arbeiten von Poe (1984a/b) 96 – Gattungskonzept vertreten wird. Dabei werden die als albas im weiten Sinne klassifizierten Zeugen in der Regel in drei Subgruppen unterteilt: 1) erotische albas, 2) alba-Abwandlungen, d. h. Texte, die die typische alba-Thematik variieren, und 3) religiöse albas. Die folgenden Texte wurden in den nun fast 200 Jahren Forschungsgeschichte im Rahmen der zahlreichen Typologien als albas der okzitanischen, französischen, italienischen, galego-portugiesischen und mittellateinischen Lyrik im engen oder weiten Sinne bezeichnet:97 98

a) Mittellateinisch b) Altokzitanisch

96 97

98

{A a, 1}98

Anonym: Phebi claro

{A a, 2}

Anonym: Cantant omnes volucres

{A b, 1}

Anonym: Quan lo rossinhols escria (BdT 461, 203)

{A b, 2}

Anonym: Ab la genser que sia (BdT 461, 3)

{A b, 3}

Anonym: En un vergier, sotz fuella d’albespi (BdT 461, 113)

{A b, 4}

Anonym: Drutç qui vol dreitament amar (BdT 461, 99a)

{A b, 5}

Anonym: Eras diray ço que·us dey dir (BdT 461, 25a)

{A b, 6}

Anonym: E! Quant m’es greu (nicht in der BdT verzeichnet)

{A b, 7}

Guiraut de Bornelh: Reis glorios (BdT 242, 64)

{A b, 8}

Raimbaut de Vaqueiras: Gaita be (BdT 392, 16a)

{A b, 9}

Uc de la Bacalaria: Per grazir la bon’estrana (BdT 449, 3)

{A b, 10}

Cadenet: S’anc fui belha ni prezada (BdT 106, 14)

{A b, 11}

Raimon de las Salas: Dieus, aidatz (BdT 409, 2)

Cf. Poe 1984a, 148. Berücksichtigt sind hier nur Texte aus dem 11.–14. Jh., nicht berücksichtigt wurden in dieser Tabelle die fragmentarischen khardjas, die Wilson (1965, Nr. 1a–d) und Fuente Cornejo (1999, 1–2) in ihre Korpora der alba-Dichtungen aufnehmen. Verweis auf die Nummer in der Anthologie. {…} bedeutet, dass die Komposition nicht in der Anthologie figuriert.

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c) Altfranzösisch

{A b, 12}

Bertran d’Alamanon: Us cavaliers si jazia (BdT 76, 23)

{A b, 13}

Guiraut Riquier: Ab plazen (BdT 283, 3)

{A b, 14}

Guiraut Riquier: Ad un fi n aman fon datz (BdT 248, 4)

{…} RA 199

Bernart de Venzac: Lo pair’ e·l filh e·l sant espirital (BdT 71,2)

{…} RA 2

Falquet de Romans: Vers Dieus, e·l vostre nom e de sancta Maria (BdT 156, 15)

{…} RA 3

Guilhem d’Autpol: Esperanza de totz ferms esperans (BdT 206,1)

{…} RA 4

Guiraut Riquier: Qui100 velha ses plazer (BdT 248, 70)

{…} RA 5

Peire Espanhol: Or levas sus, franca cortoiza gan (BdT 342, 1)

{…} RA 6

Cerveri de Girona: Aixi com cel c’anan erra la via (BdT 434a, 8)

{A c, 1}

Anonym: Est il jors? – Nenil ancores

{A c, 2}

Anonym: L’a[u]be c’apiert ai jor

{A c, 3}

Anonym: Entre moi et mon amin

{A c, 4}

Anonym: Gaite de la tor

{A c, 6}

Anonym: Un petit devant le jor

{A c, 7}

Gace Brulé: Cant voi l’aube dou jor venir

d) Galego-Portugiesisch {A d, 1}

99 100

Pero Meogo: Levóus’ louçana, levóus’ a velida

{A d, 2}

Dom Denis: De que morredes, filha, a do corpo velido?

{A d, 3}

Dom Denis: Levantou-s’ a velida

{...}

Dom Denis: Amad’ e meu amigo (Brea 21999, I, Nr. 25, 4)

{A d, 4}

Nuno Fernandez Torneol: Levad’, amigo que dormides as manhãas frias

{A d, 5}

Juyão Bolseyro: Sen meu amigo manh’eu senlheyra

RA = religiöse alba. Chaguinian notiert hier Qyi. Zur Kritik an dieser Lesart des Incipits cf. Squillacioti 2009, 449: «non si tratta di y, bensí di u maiuscola, graficamente v, che segue la capitale ornata nel ms. C».

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e) Altitalienisch

{A d, 6}

Juyão Bolseyro: Da noyte d’eyre poderam fazer

{A d, 7}

Juyão Bolseyro: Aquestas noytes tan longas

{...}

Johan Airas de Santiago: Pelo souto de Crecente (Brea 21999, I, Nr. 63, 58)

{...} RA 7

Alfonso X.: Virgen Madre groriosa (Mettmann 1964, III, Nr. 340)

{A d, 8}

Roi Paez de Ribela: Maria Genta, Maria Genta da saya cintada

{A e, 1}

Anonym: Pàrtite, amore, a deo

99 100

Schon Diez definiert das okzitanische Tagelied, das den «geheimen Liebschaften [...] sinnlicher Natur» gewidmet ist und «nächtliche Zusammenkünfte, worin die Liebenden zum Ziel verbotener Wünsche»101 gelangen, zum Gegenstand hat, als Subgenre der canso und bringt es in die Nähe der pastorela. Ferner verweist Diez auf die später immer wieder betonte Verwandtschaft zwischen der alba und der als serena bezeichneten Komposition von Guiraut Riquier {A b, 14} und stellt als Gemeinsamkeit der beiden Gattungen den Refrain heraus, «welcher dort das Wort alba und hier das Wort ser zu enthalten pflegt».102 Diese Definition der Gattung benennt – bis auf das essentielle Motiv der schmerzvollen Trennung – bereits alle Merkmale der bis heute geläufigen Charakterisierung der alba. Eine ähnliche Einschätzung der alba zeigt einige Jahre später Bartsch in seinem nach Gattungen geordneten Provenzalischen Lesebuch (1855). Darin charakterisiert er das okzitanische Tagelied als «ganz volksthümlich»103 und betont dessen dramatische Form. Ähnlich wie Diez macht Bartsch auf die Verwandtschaft zwischen der serena und der alba aufmerksam, wobei er die Erste als eine Modifikation des Tagelieds versteht.104 Eine wichtige und umstrittene105 Position in der Diskussion der volkstümlichen Ursprünge der alba nimmt Gaston Paris ein. Die alba wird als Kombination zweier Strömungen beschrieben, in der die volksliedhafte Frauenklage mit dem Wächterlied, das ursprünglich keine Verbindung zur Liebesthematik zeigt, verschmilzt.106 Die Betonung der volksliedhaften Züge der alba findet man auch zwanzig Jahre später in den Beiträgen von Alfred Jeanroy, der sich jedoch, anders

99 100 101 102 103 104 105 106

Diez 21883, 133. Diez 21883, 100. Bartsch 1855, XIV. Ibid. Cf. z. B. die Kritik von Chaguinian (2008, 49). Paris 1966, 587s.: «En résumé il a existé un genre de chanson populaire exprimant la douleur de la femme que son amant est obligé de quitter à la fin d’une nuit d’amour. […] A côté de ces chants en existaient d’autres sans rapport avec l’amour: chants de veille, chants d’éveil, chants de gaite. En Provence, il se fit une fusion entre ces deux genres

21

als Paris, gegen eine Unterscheidung der Gattungen alba und gayta ausspricht.107 Bemüht um eine synchronisch angelegte Erfassung des Systems der Trobadorlyrik versucht Jeanroy ein deskriptives Beschreibungsmodell zu entwerfen, in dem er die alba – ausgehend von ihrer dynamischen und weitgehend «dialogischen» Form – wie auch die pastorela, diverse Tanzlieder oder die Romanze als genres objectifs klassifiziert.108 In seiner primär thematisch orientierten Definition der Gattung betont Jeanroy die Funktion der gayta-Figur für die alba-Dichtung.109 Ferner hebt er die schon von Diez betonten inhaltlichen Kriterien hervor, ergänzt dessen Merkmalsliste um das Motiv der schmerzhaften Trennung und der darin integrierten Verwünschung des Tagesanbruchs und macht auf das formale Merkmal des Refrains bzw. des mot-refrain aufmerksam: «Réveillés, à l’aurore, par le cri du guetteur, deux amants qui viennent de passer la nuit ensemble se séparent en maudisant le jour qui vient trop tôt; tel est le thème […] d’un genre dont le nom est emprunté au mot alba, qui figure parfois au début de la pièce et régulièrement à la fin de chaque couplet, où il forme refrain».110

Ausgehend von dieser Gattungsbeschreibung stellt Jeanroy eine Liste von 16 Trobadorliedern zusammen, denen er die Gattungsbezeichnung alba zuweist.111 Dabei unterscheidet er kategorisch zwischen profanen und religiösen Liedern,112 die er gesondert aufführt, nimmt aber die später als alba-Abwandlungen bezeichneten Texte113 in seine Liste der Tagelieder auf, wobei er die Problematik der Klassifizierung dieser Lieder als albas betont, da sie nur «très artificiellement, que par

107

108 109

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112

113

en sorte que la gaite fut mise en rapport avec les amants (toujours pour les favoriser) et qu’il s’établit un dialogue entre eux». Jeanroy 41969, 64/Anm. 1: «À une certaine époque, on distengua de l’alba la gaita, où le veilleur joue un rôle plus considérable […]. Il ne faut attacher à cette distinction aucune importance au point de vue de l’histoire du genre; elle émane uniquement de ces théoriciens qui poussèrent si loin (on peut le voir surtout par les Leys) la manie de la classification et de la codification». Cf. Jeanroy 1934, II, 282–304. Den Ursprung der Figur erklärt Jeanroy (1934, II, 293) folgendermaßen: «Le motif […] a été emprunté à la coutume médiévale de faire surveiller, la nuit, les abords des châteaux et villes fortes par un guetteur placé au sommet d’une tour. Ce guetteur, nous le savons par de nombreux textes, chantait, en s’accompagnant ou non d’instruments, pour combattre le sommeil ou prouver qu’il était bien éveillé; et, le matin venu, il avertissait le voisinage par une sonnerie de cor, un cri ou quelques paroles (qui pouvaient être assonancées ou rimées) que l’heure était arrivée de reprendre le travail». Jeanroy 1934, II, 292. Jeanroys Korpus (1934, II, 339s.) entspricht den Texten {A b, 1–4, 7–13} und RA 1–5. Dieses Korpus präsentieren auch schon Römer (1884) und Stengel (1885), wobei Stengel (1885, 410) den Text {A b, 2} aus seiner Liste streicht. In Hinblick auf die religiösen Lieder bemerkt Jeanroy (1934, II, 297): «Les aubes religieuses ne se rattachent au genre que par l’emploi, dans le refrain, du mot alba . Il n’y a donc aucune raison de les étudier ici». Es handelt sich um die Lieder {A b, 9} und {A b, 13}. Letzteres bezeichnet Jeanroy in einer Fußnote (1934, II, 296/Anm. 2) sogar als «pseudo-alba». Die serena von Guiraut Riquier {A b, 14} wird in diesem Zusammenhang gar nicht zur alba-Dichtung gezählt.

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la présence du refrain traditionnel»114 an das Gattungsmuster erinnern. Für die Gattung der altfranzösischen aube stellt Jeanroy ein Korpus von vier115 Liedern {A c, 3, 4, 6, 7} zusammen. Die später immer wieder als aubes klassifizierten Texte Est il jors? – Nenil ancores {A c, 1} und L’a[u]be c’apiert ai jor {A c, 2} benennt Jeanroy nur beiläufig, indem er auf deren «refrains empruntés à des aubes anciennes»116 verweist. Die Anzahl der okzitanischen albas wird im Vergleich zu Jeanroy117 in der Studie Las Albas provenzales (1944) von Martín de Riquer um zwei Texte ({A b, 14} und RA 6) erweitert.118 Somit subsumiert Riquer 18 Lieder unter der Gattungsbezeichnung und stellt neben den Typus des erotischen Tagelieds («alba propiamente dicha»), die religiösen Texte («alba a lo divino»), die zwei als contra-albas bezeichneten Lieder und die serena von Guiraut Riquier. Ferner schlägt er im Zuge der Charakterisierung auch eine Chronologie der Varianten vor. Die erotische alba sieht er dabei als Ursprung, gefolgt von der contraalba, während die religiöse Variante das Ende der Entwicklung markiert.119 Wie Poe betont, hat Riquer als einer der Ersten die Bedeutung der alba-Variationen erkannt, indem er sie in die Diskussion der Poetik der okzitanischen Tagelieder integriert und sie sogar in einer gewagten These als «the missing link between the standard profane alba and the religious dawn song»120 versteht. In Anlehnung an Riquer entwickelt Poe (1984a) vierzig Jahre später eine Merkmalsliste für den Erwartungshorizont der drei alba-Varianten, mit deren Hilfe sie die Verwandtschaft zwischen den drei Formen des Tagelieds nachweist, wobei sie nicht von einer Gattung und zwei Subgenera ausgeht, sondern von drei Formen einer und derselben Gattung.121 Als Grundtypus wird implizit – wie schon bei Riquer – die erotische alba angenommen.122 Interessanterweise spricht sich Poe – wie vor ihr schon Stengel123 – gegen eine Klassifizierung der Komposition {A b, 2} als alba124 aus und versteht sie als Parodie der alba von Guiraut de Bornelh {A b, 7}.125 Poe

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Jeanroy 1934, II, 295. Jeanroy 41969, 77/Anm. 1. Ibid., Anm. 2. Jeanroy 1934, II, 339–341. Den Text {A b, 5} ediert Riquer 1950 (151–165) und definiert ihn als «alba propiamente dicha». Cf. Riquer 1944, o. S. [5]. Poe 1984b, 264/Anm. 19. Cf. Poe 1984a, 145s. Cf. Chaguinian 2008, 62s.: «Pour résumer, les réponses fournies par Riquer et Poe à nos deux questios sont que (1) chacune des deux modalités [contre-alba und religiöse alba ; Anm. G. B.] résulte d’un jeu sur l’horizon d’attente d’un type originel qui, pour les deux auteurs, est l’alba de séparation; (2) chacune des deux modalités constitue un type déterminé et repose sur un horizon commun». Cf. Stengel (1885, 410), der das Lied als «freie Nachbildung» der alba bezeichnet, das «aus der Liste der Alben völlig gestrichen zu werden verdient». Cf. Poe 1985a, 87. Poe 1985a, 97: «A literary composition that maintains enough of the characteristic features of its genre to be identified as belonging to it but which reverses the roles of

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verweist in diesem Zusammenhang auf die in beiden Liedern wiederkehrenden Wendungen lo filh Santa Maria, la genser que sia und tro al dia, die in dem anonymen Text teilweise grammatikalisch falsch sind,126 und stellt die Vermutung auf, dass der Text {A b, 2} aus der Feder des Kopisten der Handschrift C stammen könnte.127 Zwar sind die intertextuellen Bezüge nicht zu leugnen, doch eindeutig parodistische Elemente zeigt der Text nicht.128 Eine Merkmalsliste von thematischen und formalen Elementen stellt für die Definition der alba 1965 Woledge zusammen. Er nennt neun albas ({A b, 1–3, 5, 7, 8, 10–12}) und fünf aubes ({A c, 1–4, 7}).129 In seiner Definition führt Woledge fünf Kriterien130 an, die diese Lieder gemeinsam haben: (1) das thematische Kriterium – in dem die Motive (a) gemeinsam verbrachte Liebesnacht, (b) schmerzliche Trennung, (c) früher Morgen und (d) drohende Gefahr zu einem thematischen Komplex verschmelzen –, (2) die Wächterfigur, (3) das formale Merkmal des Refrains,131 (4) den hohen Anteil an dialogischen Partien und (5) die Entstehungszeit zwischen dem 12. und dem 13. Jh. Bereits das erste Kriterium schließt religiöse albas und albaAbwandlungen per defi nitionem aus, in denen Woledge «poems which are not dawn songs in the narrow sense»132 sieht. Die Arbeiten von Woledge einerseits und Jeanroy andererseits bilden die Grundlage für die Gattungsdefinitionen bei Frappier (1966) und Bec (1977/1978). Frappier betont zwar die volksliedhaften Ursprünge der Gattung, hebt aber gleichzeitig die ästhetische Meisterschaft der höfischen albas hervor, die er als «les plus intéressantes et les plus belles»133 bezeichnet. Während Frappier die contre-albas nicht berücksichtigt, die religiöse alba als eine zwar artifizielle, jedoch nicht ganz ungelungene Variante der Gattung versteht,134 scheidet Bec eindeutig zwischen erotischen und religiösen albas und erwähnt die alba-Variationen nur beiläufig. Wie schon Woledge ergänzt Bec die Liste der albas bei Jeanroy um zwei weitere Lieder ({A b, 5}135 und RA 6). Bec

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its characters, pokes fun at its motifs, and teasingly skirts around its central theme is clearly a parody of that genre». Poe 1985a, 98. Poe 1985a, 101. Cf. dazu die kritische Stimme von Chaguinian (2008, 195). Ferner listet Woledge (1965, 375) vier weitere Texte auf – {A b, 4, 9, 13} und RA 2 –, die er in die Nähe der alba rückt. Mit RA 2 benennt Woledge eine religiöse alba und weist darauf hin, dass insgesamt sechs solche Texte existieren (cf. RA 1–6). Die Thematik der religiösen Tagelieder sieht Woledge (1965, 352s.) zu sehr von der erotischen Variante entfernt, versteht die Texte aber als Bestätigung der Popularität der alba-Thematik. Cf. Woledge 1965, 345s. Woledge weist hier auf eine Ausnahme hin: Ab la gensor que sia {A b, 2} enthält weder einen Refrain noch die leitmotivische Wiederholung von alba. Woledge 1965, 375. Frappier 1966, 41. Cf. Frappier 1966, 47: «Dans la poésie provençale, l’aube a connu au XIIIe siècle, après la croisade des Albigeois, […] un développement tardif et artificiel […], mais du moins sans tomber dans le ridicule». Eras diray ço que·us dey dir war Jeanroy zum Zeitpunkt der Edition seiner Sammlung nicht bekannt und ist auch bei Pillet/Carstens nicht verzeichnet.

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platziert die alba innerhalb des registre popularisant als Untergattung der chansons de femme und «variante de la chanson de la départie»136 und – ähnlich wie die pastorela – als genre hybride,137 das «à la fois pré-courtois, para-courtois et, éventuellement franchement courtois»138 sei. Bec nimmt in seiner alba-Definition eine ursprünglich monologische Struktur der Gattung an, «aussi bien au niveau du personnage lyrique (dame, amant ou guetteur) que de l’interprète (jongleur professionnel ou chanteur populaire)».139 Die alba weise – auch in ihren späteren Beispielen – nie einen veritablen Dialog auf und zeige daher keine Nähe zu theatralisch oder choreographisch geprägten Liedern.140 Ferner betont Bec das bis dahin nicht explizit herausgestellte celar-Motiv, wenn er die Thematik der Gattung als «une furtive et souvent illicite entrevue nocturne»141 beschreibt, und er zeigt anhand prägnanter Beispiele die Prädisposition der Gattung für Gattungs- und Registerinterferenzen auf.142 Für den altfranzösischen Bereich stellt Bec (1978) – wie schon Woledge – fünf143 Lieder aus dem 13. Jh. zusammen ({A c, 1–4, 6, 7}), die er als Exponenten des Tagelieds klassifiziert, wobei er in seinem Korpus, im Unterschied zu den altokzitanischen Textzeugen, ein kohärentes Gattungsschema vermisst.144 Ferner betont Bec, dass alba-Abwandlungen und religiöse Tagelieder in der langue d’oïl nicht bekannt sind und konstatiert als Schlussfolgerung die unabhängige Entwicklung von alba und aube.145 Eine im gewissen Sinne versöhnende Position zwischen Integration und Ausgrenzung der alba ins bzw. aus dem trobadoresken Gattungssystem bietet beispielsweise der psychoanalytische Ansatz von Saville (1972),146 der seine Interpretation auf dem Gegensatz zwischen dem Wunsch- und Realitätsprinzip aufbaut und die alba zwar als Teil des trobadoresken Gattungssystems begreift, gleichzeitig aber ihre Sonderstellung hervorhebt. In eine ähnliche Richtung weist die Untersuchung von Rieger (1976). Hier wird die okzitanische alba als Ausdruck

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Bec 1977, 66s. Zwar fällt in der grundlegenden Klassifizierung die alba nicht unter die Kategorie der genres hybrides (Bec 1977, 35), doch wird ihr dieser Status dennoch im Laufe der Untersuchung von Bec (1977, 94) bescheinigt: «En admettant […] que l’aube, dans sa thématique de base, est très vraisemblablement à ranger dans le Registre popularisant, il n’en reste pas moins vrai que, comme la pastourelle, elle est sans doute le plus hybride des genres de ce registre». Bec 1977, 95. Bec 1977, 98. Cf. Bec 1977, 93/98s. Bec 1977, 91. Bec 1977, 99–103. Bec 1978, Nr. 20–24. Bec (1977, 91) betont auch, dass die altfranzösischen Textzeugen «plus près de ses sources populaires» geblieben seien. Cf. Bec 1977, 95. Ein ähnliches Urteil fällt Poe (1984a, 147). Cf. auch den psychoanalytischen Zugang von Malm (1995). Zur Kritik an Savilles Ansatz cf. Wolf (1979, 154ss.).

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eines «Korrektivs der Wirklichkeit»147 interpretiert. Rieger bringt schließlich, ausgehend von der Situierung der alba innerhalb des trobadoresken Gattungssystems, die «Ventilfunktion» der Gattung ins Gespräch: «Dieser im amar desamatz angelegte [...] Widerspruch hat nicht nur die ‹chanson de change› und den ‹comjat› – zwei Untergattungen der Kanzone – als eine Art negatives Ventil zur Folge, sondern aus dieser prinzipiellen Spannung resultiert wohl auf der anderen Seite die höfische Alba als positiver Ausweg».148

Dieser von Rieger vorgeschlagene Entwurf der entlastenden «Ventilfunktion»149 der alba, die sich später als die Kanzone als Gattung konsolidiert, um deren weitere Existenz zu sichern, ist für die Interpretation des Genres als Teil des trobadoresken Gattungssystems im GRLMA zentral. Darin wird die canso als Dominante des Gattungssystems verstanden, von der ausgehend alle anderen Gattungen, so auch die alba – die «in Anbetracht der relativ geringen Überlieferung zu den genres mineurs der altprovenzalischen Lyrik»150 gezählt wird – zu interpretieren sind. Die im GRLMA gebotene Definition der alba, die sich an die von Diez und Jeanroy vorgeprägten Modelle anlehnt, lautet folgendermaßen: «Zwei Liebende – die Dame ist verheiratet – müssen sich nach einer gemeinsam verbrachten Liebesnacht bei Anbruch des Tages («alba»), der ihnen durch einen Wächter («gaita») angekündigt wird, aus Furcht vor dem Entdecktwerden ihrer heimlichen Liebesbeziehung nicht zuletzt durch den Ehemann der Geliebten trennen. [...] Mit einer Ausnahme [...] weisen alle Gedichte entweder nur das refrainartig im Schlußvers jeder Strophe wiederkehrende Wort alba oder aber einen vollentwickelten, jenes alba enthaltenden Refrain von 1 bis 7 vv. auf».151

Unterschieden wird dabei zwischen den insgesamt 19 Variationen der alba, die nicht zu einer Gattung verschmelzen, sondern in drei große Gruppen (10 profane albas, {A b, 1–5, 7, 8, 10–12},152 6 religiöse albas153 (RA 1–6) und 3 alba-Variationen {A b, 9, 13, 14}) unterteilt werden. Insgesamt betont Rieger die ambivalente Struktur der alba, die einerseits konzeptuell einen Gegensatz zur canso

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Rieger, D. 1976, 43. Rieger, D. 1979, 48. Diese Funktion der alba wird von Wolfzettel (1983, 421) für die altfranzösische Ausprägung des Tagelieds bestritten. Die Ventilfunktion sei in Nordfrankreich, so Wolfzettel, von der pastourelle, der «innerhalb des höfischen Gattungssystems wirkende[n] Kontrastgattung der sinnlich-sexuellen Erfüllung» übernommen worden. Wolfzettel nimmt an, dass die Dominanz der pastourelle «indirekt möglicherweise dazu beigetragen hat, daß sich die aube in der nordfranzösischen Lyrik nicht durchsetzen konnte». Rieger, D. 1976, 7. Rieger, D. 1979, 44. Das Lied {A b, 6} wird hier nicht berücksichtigt, obwohl der Dokumentationsband (II, 1, t. 1., fasc. 5) des GRLMA 1990 erschienen ist. Der Refrain sei, so Rieger, D. (1979, 44), «die einzige Gemeinsamkeit von weltlichem und geistlichem Tagelied in der altprovenzalischen Literatur».

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darstellt,154 andererseits aber wegen ihrer evidenten motivischen Verwandtschaft mit der Kanzone (Figureninventar, ehebrecherisches Liebesverhältnis, celar-Motiv) in deren Nähe anzusiedeln ist.155 Die alba-Variationen werden bei Rieger als «Korrektiv» zu den profanen Tageliedern verstanden und rücken so stärker in die Nähe der canso.156 Zwar subsumiert Rieger den Text {A b, 4} unter den Gattungsbegriff, betont aber sowohl im GRLMA als auch in einer gesonderten Publikation die Sonderstellung dieses Textes,157 den er als «theoretischen Verhaltenskodex» begreift.158 Auch im Essai de poétique médiévale von Zumthor begegnet uns diese ambivalente Beurteilung der alba. In seinen Ausführungen weist Zumthor auf dreierlei hin: Die alba ist (1) thematisch159 definiert, ist (2) Teil des registre160 du grand chant courtois, (3) variiert aber das typische Schema dieses Registers.161 Einen ähnlichen Gedanken formuliert Wunderli, der die alba als Element seines système de soupapes darstellt.162 Zur Erweiterung des Korpus möglicher alba-Dichtungen des okzitanisch-katalanischen Kulturraums hat 1987 Isabel de Riquer beigetragen, indem sie auf das in der Hs. Nr. 7 der Biblioteca de Catalunya (fol. 153v–154r) überlieferte anonyme Lied E! Quant m’es greu {A b, 6} aufmerksam machte163 und es wegen seines katalanischen Ursprungs in die Nähe des in derselben Handschrift überlieferten Eras diray ço que·us dey dir {A b, 5} rückte. Die Gattungszuweisung dieses Textes ist umstritten. Von den drei nach 1987 erschienen alba-Anthologien – FuenteCornejo (1999), Gouiran (2005) und Chaguinian (2008) – nehmen es aber zwei ins Korpus auf: Gouiran versteht das Lied regulär als Teil des profanen alba-Korpus, während Chaguinian E! Quant m’es greu {A b, 6} als alba-Variation klassifiziert,

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Rieger, D. 1976, 8s.: «Während der Trobador der Kanzone sich in einem permanenten Spannungszustand zwischen Begehren und Erfüllung befindet, [...] ist der Liebende der Alba zum letzten Ziel seiner Wünsche, dem ersehnten und beanspruchten Lohn seines Dienstes, gelangt». Cf. Rieger, D. 1976, 8. Cf. Rieger, D. 1971, 223s. Cf. Rieger, D. 1979, 48. Cf. Rieger, D. 1971, 224. Zumthor 22000, 313. Der Terminus des registre ist dem weiten Gattungsbegriff vergleichbar und wird von Zumthor als «un ensemble de conventions communicatives dont on est obligé de postuler l’existence pour expliquer la transmission d’une espèce très particulière de messages» definiert (22000, 286). Cf. Zumthor 22000, 314: «La seconde variété, très différente, l’«aube», remonte probablement à une tradition antérieure à la constitution du grand chant courtois. […]. Les troubadours assimilèrent cette tradition et en traitèrent la donnée typique, autant que faire se pouvait, dans le registre de la chanson. […] Le thème en est le retour de l’aube, annoncé par le guetteur et qui va séparer les fins amants, leur laissant soit la tristesse, soit l’espoir d’une nuit prochaine». Cf. Wunderli 1991, 613: «L’alba est un des genres destinés à servir de soupape au paradoxe amoureux». Isabel de Riquer ediert den Text erstmalig (1987, 596s.) und versieht ihn mit einer spanischen Übersetzung.

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die über formale Merkmale an das traditionelle Gattungsschema der erotischen alba anknüpft. Interessant ist der Vergleich des Aufbaus dieser drei Anthologien. Gouiran eröffnet seine Anthologie mit der aube bilingue {A a, 1}164 und unterteilt sein Korpus in die Kapitel I. Albas profanes {A b, 1–13}, II. Albas religieuses (RA 1–6) und III. Serena {A b, 14}. Die profane alba wird darin im gewissen Sinne als «anti-cançon»165 verstanden. Gouiran listet mehrere Merkmale auf, die die alba von der canso trennen, wobei er insbesondere auf dem Gegensatz der alba zu der schon von Zumthor beschriebenen extratemporalité der canso insistiert.166 Sowohl die serena, «qui n’est pas à proprement parler une alba, mais quelque chose comme une alba inverse»,167 als auch die religiösen Texte, deren Gemeinsamkeiten mit den profanen Tageliedern Gouiran mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Registerinterferenzen168 viel stärker betont als die Unterschiede, sind Teile des in der Anthologie vorgeschlagenen Gattungskonzepts. Im Vergleich zu Gouiran differenziert Chaguinian in seinem Textkorpus im Hinblick auf die profanen Lieder zwischen den eigentlichen erotischen Abschiedsliedern, die er als albas de séparation (Typ 1: {A b, 1–5, 7, 8, 10–12}) bezeichnet,169 und den nur formal an das typische Gattungsschema anknüpfenden Liedern, den albas formelles érotiques (Typ 2: {A b, 6, 9, 13}). Daneben stellt er als zweite Variation des Schemas die albas formelles religieuses (Typ 3: RA 1–6), die wir auch bei Gouiran finden. Sein weites Gattungskonzept umfasst somit zwei Modalitäten:170 eine thematische (Typ 1) und eine formale (Typ 2 und 3) Variante der alba, wobei er die thematische als den «type originel du genre»171 versteht. Zum Nenner der beiden Modalitäten erhebt Chaguinian das formale Merkmal des mot-refrain alba, das – bis auf Ab la genser {A b, 2} – alle Lieder seines Korpus aufweisen.172 Für die Entwicklung der alba als Gattung postuliert Chaguinian – ausgehend von der Kritik an einer 164

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Cf. das Argument von Gouiran (2005, 13) für diese Wahl der Einleitung seines Korpus: «Il me paraît néanmoins important de faire figurer ce texte dans les limbes du présent recueil; il me paraît bien poser la question des origines de la poésie occitane: qu’il s’agisse de bas latin ou de haut occitan, on ne peut échapper à l’émotion en voyant se dégager de la langue religieuse une poésie nouvelle». Gouiran 2005, 8. Cf. Gouiran 2005, 3. Gouiran 2005, 6 Cf. ibid. Chaguinian definiert die erotischen Abschiedslieder schon in einem Aufsatz von 2007 (b, 144) folgendermaßen: «La situation lyrique à la base de toutes ces compositions est fort simple. Il s’agit, là aussi, de la séparation, motivée par l’arrivée du jour et le risque d’être vu, d’un couple d’amoureux. Les agents de l’éveil sont soit les oiseaux, soit la lumière du jour naissant». Cf. Chaguinian 2008, 11: «Selon nous, le corpus occitan de l’alba présente, en réalité, deux modalités. D’une part, celle de l’alba de séparation, et caractérisé par une thématique précise, et de l’autre celle de l’alba formelle, ouverte à toutes les thématiques, et dont la seule caractéristique est un trait formel, c’est-à-dire le retour du mot alba comme mot-refrain ou dans le cadre d’un refrain». Chaguinian 2008, 21. Cf. Chaguinian 2008, 90: «Le public médiéval interprétait comme albas des poèmes

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rein thematischen Gattungsdefinition173 – einen Übergang von einer thematischen Gattung über ein genre thématico-formel hin zu einem genre formel.174 Das ehemals zentrale Charakteristikum der Thematik wurde, so Chaguinian, im Zuge der Entwicklung zu einer «modalité parmi d’autres».175 Die serena von Guiraut Riquier {A b, 14} aber schließt Chaguinian aus seinem Gattungskonzept aus und nennt sie «variation individuelle sur l’alba de séparation, […] une pré-alba».176 Ähnlich wie schon Bec weist Chaguinian auf die Registerinterferenzen der alba-Dichtung hin, die aus dem Typus der chanson de femme hervorgegangen ist und durch eine höfische réécriture ins trobadoreske Gattungssystem eingegliedert wurde. Dabei sieht er das der canso und der alba gemeinsame celar-Motiv als Basis177 dieser réécriture an und weist auf den Niedergang der Vorrangstellung der canso hin, der schon im 12. Jh. einsetzte und die Entwicklung einer Gattung, die mit den Grenzen des Systems spielte, begünstigte.178 Entscheidend für die Frage nach dem Vorkommen und der Typologie der albaDichtung in der Romania179 sind die Beiträge der von Hatto (1965) herausgegebenen internationalen Anthologie, darunter die Studien von Lockwood (mittellateinische Lyrik), Faithfull (italienische Lyrik) und Wilson (Lyrik der Iberischen Halbinsel). Lockwood nennt ein Beispiel für eine (erotische?)180 alba {A a, 1},

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de thématiques diverses, à condition que ceux-ci continssent alba comme mot-refrain ou dans le cadre d’un refrain». Cf. hierzu die Kritik Chaguinians (2008, 21) an der alba-Definition von Jeanroy. Cf. Chaguinian 2008, 91: «Du genre thématique, caractérisé par le thème de la séparation, l’alba s’est transformée en genre thématico-formel […]. Devenue un genre thématico-formel, l’alba s’est aisément transformée en genre formel, c’est-à-dire simplement caractérisé par le retour du mot alba, et libre d’exprimer les thématiques les plus variées». Chaguinian 2008, 57. Chaguinian 2008, 32. Als weiteres Charakteristikum der réécriture versteht Chaguinian (cf. 2008, 44s.) die in der okzitanischen alba (im Vergleich zu ihrer typischen Ausdrucksform der chanson de femme) vollzogene Reduktion der Frauenstimme, die bis zum Erlöschen führen kann. Cf. Chaguinian 2007b, 147: «L’analyse de la variante occitane révèle que les troubadours l’avaient adoptée et en avaient fait un genre répondant à des contraintes thématiques et formelles très précises. La raison en est avant tout le hasard, c’est-à-dire la présence en commun avec la canso du thème du secret qui la faisait participer à un système poétique établi. Mais la raison profonde de cette expérimentation est à chercher dans l’évolution que le système générique troubadouresque a connue au cours de son histoire, en particulier la perte relative d’intérêt du public, à partir de 1180 – vraisemblablement la période durant laquelle apparaît l’alba troubadouresque – , pour la canso qui se voit concurrencée par le développement de genres jusque-là mineurs qui la supplanteront numériquement au cours du XIIIe s.». Einen kurzen Überblick zur Geschichte, zum Vorkommen und zur Funktion des Tagelieds in der mittelalterlichen Romania bietet auch Mölk (1989, 30ss.). Cf. Lockwood 1965, 272: «The tenth century poem, Phoebi claro nondum orto iubare offers some difficulty in interpretation, and there has been no agreement as to whether or not it refers to the awakening of lovers».

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die sogenannte aube bilingue,181 zugleich das älteste bezeugte Beispiel dieser Gattung in der Romania. Auch Faithfull verzeichnet für die Zeit vor 1300 nur eine altitalienische alba {A e, 1}, das auf 1286 datierte Lied Pàrtite, amore, a deo.182 Wilson führt neben mozarabischen khardjas, die alba-Motive enthalten, auch mehrere an die alba-Thematik angelehnte Texte aus dem 13. Jh. an:183 drei Lieder von Dom Denis ({A d, 2, 3} und Amad’ e meu amigo184), zwei cantigas von Juyão Bolseyro {A d, 5, 6}, das berühmte Levad’, amigo que dormides as manhãas frias von Nuno Fernandez Torneol {A d, 4}, das er als alborada185 bezeichnet, ein Lied von Pero Meogo {A d, 1} und eine pastorela186 von Johan Airas de Santiago.187 Wilson stellt in seiner Untersuchung fest, dass «conventional poems about how lovers are parted by the dawn are hard to find in Spanish or Portugese literature before the end of the fifteenth century. There may well have been many such poems before that date, but we cannot prove this assertion because only a few traces of them have survived».188

Er weist zudem auf die Differenz zwischen der Thematik der galego-portugiesischen Lieder und der altokzitanischen alba-Dichtung189 hin und konstatiert: «the typically Iberian form of the dawn poem is the alborada, the poem of the dawngreeting, in which lover calls beloved to a meeting early in the morning»190 und stellt der Abschiedsthematik der okzitanischen Variante die Zusammenkunft der Liebenden in der iberischen Dichtung entgegen. Damit verweist Wilson auf die unterschiedlichen Traditionen der beiden kulturellen Räume und betont, dass die Darstellung des Ehebruchs nur in den cantigas de escarnho e maldizer thematisierbar war.191 Ferner hebt er hervor, dass in der galego-portugiesischen Poesie bereits eine andere alba-Tradition florierte:

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Lockwood 1965, 280. Faithfull 1965, 403. Wilson 1965, 323–329. Cf. Brea 21999, I, Nr. 25, 4. Cf. Wilson 1965, 308. Über das Gedicht von Joan Airas de Santiago sagt Wilson (1965, 307) selbst: «the poem is rather a pastourelle than an alba. […] The poem uses dawn conventions for a purpose unusual in Galician poetry». Cf. Brea 21999, I, Nr. 63, 58. Wilson 1965, 301. Wilson 1965, 319: «There are few indications that Provençal albas were sung in the Peninsula during the thirteenth and fourteenth centuries by troubadours and jongleurs. No single Galician lyric can be called an alba without qualification». Cf. auch (Wilson 1965, 309): «These early Portuguese or Galician poems are not dawn poems like the Provençal albas or the German tageliet. They imply other conventions and a less complex theory of love». Cf. dazu auch die Position von Mölk (1989, 30), der Wilson in seiner Einschätzung bestätigt: «Überraschenderweise ist das so volkstümlich anmutende Tagelied (Trennung der Liebenden am Morgen) in der portugiesischen Lyrik praktisch inexistent». Wilson 1965, 319. Cf. ibid.

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«If no poems were composed about how the dawn separated lovers in mediaeval Spain and Portugal, the fact that dawn had other poetical associations might be alleged as an explanation. […] The supposition that other dawn themes, already established in peninsular poetry, discouraged the imitation of a foreign genre seems plausible».192

Die von Wilson eingeführte Unterscheidung zwischen der iberischen alborada und der okzitanischen und französischen alba ist in den folgenden Diskussionen über die Existenz der alba-Dichtung in der galego-portugiesischen Poesie immer wieder thematisiert worden193 und gilt als Konsens. Allein das Lied von Nuno Fernandez Torneol {A d, 4} wird immer wieder als «unico testo che quasi tutti i critici […] hanno senza esitazioni indicato come rappresentante del genere nella lirica galego-portoghese»194 vorgebracht. So wird diese cantiga schon implizit bei Jeanroy195 als alba bezeichnet, eine Klassifizierung, die Beltran Peipó zum «error fundamental»196 der alba-Forschung erklärt. Und auch wenn sich Tavani – ähnlich wie Beltran Peipó – in seinem GRLMA-Beitrag197 ebenfalls von einer solchen Klassifizierung distanziert,198 figuriert das Lied dennoch als einziger Repräsentant in der mit aubes betitelten Rubrik der drei Jahre später erschienenen partie documentaire.199 Auch Dionísio akzeptiert in seinem Artikel im Dicionário da Literatura Medieval Galega e Portuguesa nur für dieses Lied200 die Gattungszuweisung, betont aber, dass diese cantiga zwar einige typische alba-Motive (wie Trennung, Vögel, Tagesanbruch) enthält, andere «requisitos básicos» jedoch fehlen, sodass man auch im Falle dieses Textes nicht von einer «alba de pleno direito» sprechen könne.201 Auch in der unter der Leitung von Brea entstandenen Anthologie (21999) wird die Existenz einer alba-Dichtung im Sinne einer «adaptación total do xénero provenzal da alba»202 negiert. So erscheint die Gattung darin auch nicht etwa unter den «xéneros menores» neben dem descordo oder der bailada.203 Hingewiesen 192 193

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Wilson 1965, 302/319. Diese Bezeichnung erscheint auch immer wieder in späteren Arbeiten zur Klassifizierung der iberischen Tagelieddichtung. Cf. z. B. die Definition der alborada bei Fuente Cornejo (1999, 94). Tavani 1980, 139. Jeanroy 41969, 142s. Beltran Peipó 2002, 48. Tavani 1980, 138–140. Tavani (1980, 138s.) betont bereits zu Beginn seiner Ausführungen: «nella tradizione galego-portoghese lo schema topico del genere non compare mai, né nella sua modalità completa né nelle varianti riduttive. […] In nessun testo l’assenza di uno degli amanti è attribuita al sopraggiungere della luce del giorno». Cf. auch seine Schlussfolgerung (1980, 140): «L’analisi dei testi conferma, quindi, l’assenza del genere, in quanto tale, dalla lirica galero-portoghese, e al tempo stesso riconosce la presenza in essa di ritagli tematici della canzone d’alba, assunti però singolarmente e sporadicamente al solo scopo di arricchire il corredo formulistico della canzone di donna». Cf. Tavani 1983, 83s. (k 106). Cf. Dionísio 1993, 31a–32b. Cf. Dionísio 1993, 32a. Brea 21999, I, 27. Cf. Brea 21999, I, 30s.

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wird aber exemplarisch auf die cantigas {A d, 4} und {A d, 6} und den escarnio de amor {A d, 8}, die alba-Motive enthalten, wobei auch hier das Lied {A d, 4} als «o caso máis cercano ó xénero provenzal»204 bezeichnet wird. Ein weniger rigoroses alba-Konzept vertritt Nunes, der sechs Lieder der cantigas de amigo als albas klassifiziert:205 Neben dem Text von Nuno Fernandez Torneol {A d, 4} verweist Nunes in Anlehnung an Jeanroy206 auf drei Lieder von Juyão Bolseyro207 {A d, 5–7} und auf jeweils eine cantiga von Dom Denis {A d, 2} und von Pero Meogo208 {A d, 1}. Den bedeutendsten Unterschied zwischen dem altokzitanischen Tagelied und seiner altportugiesischen Entsprechung sieht Nunes darin, dass die iberische Lyrik in diesem Zusammenhang keine Wächterfigur kennt.209 Neue Impulse für die Deutung der iberischen Tagelied-Dichtung liefert Greenfield (2000b), der die bis dahin praktizierte Beurteilung der cantigas ausgehend vom okzitanischen Modell kritisiert und den Blick auf den Funktionswandel210 der Gattung im iberischen Kulturraum lenkt und betont, dass die alba in der galego-portugiesischen Dichtung durchaus existiert, jedoch nicht in der Form, in der sie von den okzitanischen Trobadors gepflegt wurde: «Denn inhaltlich bzw. formal betrachtet», so Greenfield, «ist die Gattung Alba in verschiedenen galego-portugiesischen Liedern auszumachen, mal in eindeutiger, mal in subtilerer Form».211 Greenfield verweist auf den bedeutenden Kulturtransfer zwischen dem okzitanischen und dem iberischen Raum und versteht die intertextuellen Bezüge, die auf die Rezeption der alba durch die iberischen Dichter hindeuten, als Gattungssignale.212 Der Perspektivenwechsel 204 205 206 207

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Brea 21999, I, 27. Cf. Nunes 1973, I, 14–17. Jeanroy 41969, 144s. Cf. hingegen Dionísio (1993, 31b), der diese Texte aus seinem Gattungskonzept ausschließt: «Nos dois textos de Juião Bolseiro, a noite tem um carácter disfórico, ao marcar o tempo que se arrasta lentamente sem que o amigo tenha chegado; a luz matinal, pelo contrário precisa o momento em que o amigo volta, e, com esse sentido, exibe valor eufórico». Cf. zur Erklärung Nunes (1973, I, 17): «Só muito latamente se poderá incluir entre as alvas a n.° CCCCXV de Pero Meogo, pois aí apenas o verbo levar-se». Cf. Greenfield 2000b, 260. Zu den Gründen des Funktionswandels, die vor allem ausgehend von den divergierenden Liebeskonzeptionen des okzitanischen und iberischen Kulturraums erläutert werden, cf. Greenfield 2000b, 263: «Die poetische Konvention der iberischen Cantigas de amigo ist nicht mit der auf höfischer Liebe beruhenden Konvention der altprovenzalischen Trobadorlyrik gleichzusetzen. Es handelt sich um eine sehr differenzierte Konvention, eine Konvention, in der gewisse Gattungen nicht zugelassen werden konnten, weil es für sie in ihrer klassischen Form einfach keinen Platz gab: Sie waren nicht möglich – oder auch nicht notwendig. […] Autonomie bzw. Wandel einer literarischen Gattung ist nur aufgrund von Funktionskonstanz bzw. Funktionsentwicklung denkbar, womit in die Bestimmung einer literarischen Gattung eine Reihe wichtiger Faktoren eingehen, u. a. feste Denk- und Gefühlsschemata, Erwartungshaltungen sowie die Existenz anderer Gattungen und deren Abhängigkeit voneinander». Greenfield 2000b, 262. Cf. die Erläuterungen von Greenfield (ibid.) am Beispiel der cantiga von Don Dinis {A d, 2}: «Denn auch dieses Lied des Dom Dinis – obwohl fast ohne jeglichen inhaltlichen

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erfolgt somit von der Suche nach getreuer Nachbildung hin zur Entdeckung der Originalität in der Variation. Auch Brea (2002) plädiert in ihrer Diskussion der galego-portugiesischen Variante des Tagelieds für die Abkehr von der Klassifizierung der iberischen Dichtung ausgehend von der okzitanischen. Sie diskutiert die Lieder ({A d, 2–4} und {A d, 1, 5–7}),213 die «de una u otra manera, han sido puestas en relación con las albas»214 und kommt zu dem folgenden Ergebnis: «en la lírica gallego-portuguesa no encontramos albas, pero sí alboradas».215 Damit sieht sie die Gattungsbezeichnung alba nur für die entsprechenden Beispiele der okzitanischen Dichtung als sinnvoll an. Ferner betont Brea die Originalität der an die alba- und alborada-Dichtung angelehnten Variationen von Dom Denis, denen im Korpus der galego-portugiesischen cantigas eine Sonderstellung zukommt.216 Erotische alba-Dichtungen aber werden nicht als Gattungen, sondern neben pastorelas oder cantigas de romaría als «‘modalidades’ temáticas»217 der cantigas de amigo verstanden. In neueren Untersuchungen wird allein die religiöse cantiga von Afonso X218 als «l’unico sicuro rappresentante del genere in galego-portoghese»219 bezeichnet, ein Lied, das Wilson in seinen Ausführungen zur religiösen albaDichtung nicht berücksichtigt und die volkssprachliche Tradition des geistlichen Tagelieds auf der Iberischen Halbinsel irrtümlich erst mit dem 17. Jh. beginnen lässt.220 Die erste Anthologie mit iberischen alba-Dichtungen hat Empaytaz (1976) vorgelegt. Darin wird zwischen «tres grupos principales» unterschieden. Neben albas («separación de los amantes al apuntar el día») und alboradas («encuentro de los enamorados») eröffnet sie eine dritte Kategorie: «el vasto campo de las cancioncillas (también algunas veces denominadas ALBORADAS) que equivalen a saludos, llamadas, lamentos y otras expresiones de anhelo o añoranza, intensificados por el ambiente mágico de la aurora».221

Aus der Zeit bis zum 14. Jh. zählen die folgenden Kompositionen zu dem von Empaytaz erschlossenen Korpus: {A b, 5}, RA 6, {A d, 1, 2, 3, 4, 5, 6}, eine pastorela von Johan Airas de Santiago222 und die religiöse alba von Alfonso X. (RA 7). Ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Formen der romanischen alba ist schließlich der komparatistischen Untersuchung von Fuente Cornejo (1999) zu

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Bezug zur klassischen Alba – deutet auf der formalen Ebene in intertextueller Art und Weise auf die Gattung des Tagelieds hin». Die cantiga Amad’ e meu amigo von Dom Denis (Brea 21999, I, Nr. 25, 4) schließt Brea (2002, 33/Anm. 37) in diesem Zusammenhang aus, «porque no encontramos expilícito en la cantiga ningún elemento que nos permita obtener esa conclusión». Brea 2002, 33/Anm. 37. Brea 2002, 42. Cf. Brea 2002, 43. Brea/Lorenzo Gradín 1998, 15. Mettmann 1964, III, Nr. 340. Bertolucci 1999, 75. Wilson 1965, 316–319. Empaytaz 1976, 4. Cf. Brea 21999, I, Nr. 63, 58.

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verdanken.223 Wie schon das umfangreiche Korpus seiner Anthologie deutlich macht, geht Fuente Cornejo von einem weiten alba-Konzept aus, wenn er in seine multilinguale Sammlung alle profanen Texte aufnimmt, «que caen dentro de la mouvance del alba»224 und die das obligatorische Merkmal der «separación de los amantes al amanecer»225 aufweisen. Fuente Cornejo unterscheidet grob zwischen zwei Varianten der alba : «una, tradicional, y, otra, provenzal».226 Die okzitanische Form deutet Fuente Cornejo in Anlehnung an Paris als Verknüpfung zwischen der Trennungsthematik des erotischen Abschiedslieds und der angenommenen Gattung der gayta.227 Wie schon Nunes sieht auch Fuente Cornejo das Fehlen bzw. Vorhandensein der Wächterfigur und des Motivs der ehebrecherischen Liebe als deutlichste Differenz zwischen der okzitanischen Variante der alba und den anderen romanischen Tagelieddichtungen. Insgesamt führt Fuente Cornejo drei Formen in seiner Anthologie auf: (1) Texte, die er als albas im eigentlichen Sinne bezeichnet ({A b, 1–3, 5, 7, 8, 10–12},228 {A c, 1–4, 7}, {A e, 1}, {A d, 1–6} und Amad’ e meu amigo von Dom Denis229), (2) alboradas {A d, 1–3} und (3) die Form der alba inversa ({A b, 9, 13} und {A d, 5}).

2.2. Methodische Überlegungen Tradition und Variation sind die beiden Begriffe, die mittelalterliche Poetik am prägnantesten charakterisieren können. Die Nachahmung vorgegebener Muster im Sinne der poésie formelle ist ebenso ein Charakteristikum dieses poetischen Spiels wie deren Umwandlung und Umkehrung, die bis zur Transgression reichen kann. Eine auf ausgewählte populäre Motive und Themen ausgerichtete Untersuchung kann einen Einblick in den Umgang mittelalterlicher Dichter mit traditionellen Schemata bieten und einen Beitrag zum Verständnis der Strukturen mittelalterlicher Poesie leisten. Jede Bestrebung, dieses für mittelalterliche Lyrik typische Spiel zu erfassen, muss von einer Kategorie der lyrischen Gattung ausgehen, wenn man unter dem Terminus eine instabile und transparente Größe versteht, die unter Berücksichtigung homogener Kriterien die Identifizierung zusammengehöriger Texte erlaubt, die einen wiedererkennbaren Kern aufweisen. Für die alba- und somni-Dichtung bietet sich die Thematik als essentielles Kriterium an, das die

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Bedauerlicherweise leidet der engagierte Beitrag von Fuente Cornejo an formalen Mängeln, was sich vor allem an den fehlerhaften französischen Zitaten zeigt. Fuente Cornejo 1999, 13. Fuente Cornejo 1999, 15. Fuente Cornejo 1999, 29. Fuente Cornejo 1999, 66. Das Lied {A b, 4} schließt Fuente Cornejo (1999, 20/Anm. 27) – der Kritik D. Riegers folgend – aus seinem Korpus aus. Der Text {A b, 6} wird ebenfalls nicht berücksichtigt. Cf. Brea 21999, I, Nr. 25, 4. Cf. Wilson (1965, 323), der die cantiga ebenfalls in die Nähe der alba-Dichtung rückt.

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Vergleichbarkeit gewährleistet. Dabei ist jede Realisierung des Gattungsschemas als Teil eines sich ständig wandelnden Gattungsgeflechts zu begreifen. Eine Untersuchung von Typologie und Deutung der alba- und somni-Dichtung der Romania geht zwangsläufig mit einer Korpuserschließung einher. Die vorliegende Untersuchung verfährt dabei nach einer kombinierten Methode aus induktiven und deduktiven Verfahren. In diesem Sinne beleuchtet eine detaillierte Motivuntersuchung die Vielfalt der Ausprägungen der dominierenden Motivik von alba und somni, wobei spezifische Motivverknüpfungen, die gattungsstiftend wirken, ermittelt werden. Als Stütze gelten ferner externe Klassifizierungszeugnisse, die einen Einblick in das mittelalterliche Gattungsbewusstsein erlauben. 2.2.1.

Originalität durch Variation

«Welchen Reiz mag wohl die Lyrik der Trouvères auf ihr ursprüngliches Publikum ausgeübt haben, von der uns ein Corpus von zweitausend Gedichten überliefert ist, die unverdrossen ein denkbar begrenztes thematisches Repertoire umkreisen: die immer gleiche ‘Urszene’ zwischen der vollkommensten, aber unnahbaren Dame und dem sich nach ihr verzehrenden, aber sein Martyrium als Auszeichnung empfindenden Dichter? Auf welche ästhetischen Bedürfnisse antwortete dieses für den modernen Geschmack so unglaublich monotone Spiel?»230

Auf diese Fragen der Forschung, die Jauß hier pointiert zusammenfasst, schien 1949 plötzlich eine Antwort gefunden, als Robert Guiette seinen programmatischen Aufsatz «D’une poésie formelle en France au moyen âge» veröffentlichte, der bald schon einen Paradigmenwechsel in der Forschungsgeschichte der Mediävistik einleiten sollte.231 Guiette charakterisiert darin die Lyrik der Trouvères als «une série de formules» und «un jeu»232 und somit als poésie du lieu commun. Er zeigt gleichzeitig, dass sich hinter dieser Lyrik ein völlig anderes ästhetisches Konzept verbirgt als das seit der Romantik geforderte Postulat nach Originalität.233 Der mittelalterliche Dichter spielt nach Guiette

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Jauß 1977a, 415. Cf. Akehurst 1995, 2: «Even in literary studies, a new and revolutionary view of the material can sometimes change a discipline. Such a view was presented in Robert Guiette’s short article […]. The influence of this essay is everywhere felt in troubadour studies today, and it came as a challenge to the conventional wisdom of its day. For many years before Guiette’s article, troubadour studies had been dominated by a few very influential scholars, especially Alfred Jeanroy. Guiette’s article challenged Jeanroy’s view, showing that what the earlier scholar had seen as weakness in troubadour poetry was actually a strength. This new approach proved an inspiration to many younger researchers». Guiette 1949, 62s. Guiette 1949, 67s.: «Le texte lui-même est construit, par un jeu de la poésie du lieu commun, du langage convenu, des clichés: poésie dont la liberté est constituée par une rhétorique et une technique aux possibilités choisies. La poésie des chansons courtoises ne peut exister que sur un plan opposé à celui sur lequel se place la poésie romantique».

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«(au sens poétique du terme) avec toute une gamme de thèmes préétablis, hérités d’une tradition qui les impose en leur donnant forme; ces thèmes s’actualisent à leur tour, sur le plan de l’expression, par toute une série de motifs consacrés et de termes-clefs».234

Zwar ist die Idee gewiss nicht neu und findet sich in der Forschungsdiskussion schon seit Diez,235 doch besteht die Leistung Guiettes darin, das Konzept pointiert formuliert und ihm einen Namen gegeben zu haben. Avant la lettre findet man ein solches ästhetisches Programm immer wieder schon in der mittelalterlichen Lyrik selbst formuliert, wie beispielsweise eine berühmt gewordene canso von Gui d’Ussel zeigt: Dem Dilemma der monotonen Reproduktion eines etablierten Schemas wird das ästhetische Prinzip der novitas per variationem entgegengestellt: Ben feira chanzos plus soven, Mas enoja·m tot jorn a dire Q’eu plang per amor e sospire, Qar o sabon tuit dir comunalmen […] Aqo meteis dirai d’autre semblan, Q’aisi farai senblar novel mon chan236 (I, 1–4, 8s.) (Ich würde häufiger Lieder machen, aber es langweilt mich, jedes Mal zu sagen, dass ich vor Liebe klage und seufze, denn alle könnten es mir gleich tun. […] Daher werde ich dasselbe auf eine andere Art und Weise sagen, um so mein Lied originell (novel) erscheinen zu lassen.)

In der Tradition der von Guiette eingeleiteten – und gewiss von Curtius237 und dessen Arbeiten inspirierten – Wende in der Bewertung der mittelalterlichen Lyrik stehen die Studien zahlreicher Mediävisten, darunter die umfassenden Untersuchungen von Frappier,238 Vinaver239 und Dragonetti,240 die als thematische Repertorien kon-

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Bec 1969, 1320. Cf. Diez 21883, 119s. Cf. dazu auch Giunta (2002, 19s.). Audiau 1993, Nr. I., 27. Dass Guiette Curtius’ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter vor der Formulierung des Konzepts der poésie formelle kannte, kann zwar nicht nachgewiesen, aber doch angenommen werden. Cf. zu dieser Frage auch Schulze-Busacker (1995, 423), die den Einfluss Curtius’ auf die Vertreter der poésie formelle betont: «Inspired by Curtius, whose subject was above all the Latin tradition and its multiple Western repercussion, not just the Middle Ages, Guiette, Vinaver, and Zumthor continued in the same theoretical vein but concentrated expressly on medieval literature, especially French and Occitan». Frappier folgt in seinen Sorbonner Vorlesungen (1966) der theoretischen Grundlage Guiettes und beschreibt immer wieder das durch Wiederholung und Variation gekennzeichnete Spiel der mittelalterlichen Dichter als spezifische Suche nach Originalität, die sich «non dans le renouvellement de l’inspiration, mais dans un agencement subtil de clichés, une architecture de mots, d’expressions, d’images traditionnels, de formes sonores» (Frappier 1959, 138) offenbart. Die Bedeutung, die Vinaver dem von Guiette 1949 veröffentlichten Artikel beimisst, zeigt sich auch noch über 20 Jahre nach seinem Erscheinen, als Vinaver auf eine Reedition des Beitrags drängt. Cf. Guiette (1972, 13) und Vinaver (1978, X). Dragonetti setzt die theoretische Basis Guiettes in seiner Studie von 1960 als Erster in die Praxis um, führt als terminologische Neuerung den Begriff der «phraséologie

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zipierten Werke von Ziltener (1972–1983) und Camproux (1965) oder das Repertorio von Pagani (1968), in dem 35 Themenkreise der scuola siciliana erschlossen werden. Am umfangreichsten und konsequentesten hat Paul Zumthor241 die Idee der poésie formelle umgesetzt und weiterentwickelt. In seinem berühmten Essai de poétique médiévale erkennt Zumthor dem Ich der mittelalterlichen Literatur im Gegensatz zum modernen lyrischen Ich nur eine «existence grammaticale»242 zu und betont immer wieder den selbstreferentiellen Charakter der mittelalterlichen Lyrik, indem er schon 1970 die viel zitierte Formel der circularité du chant prägt. Die Errungenschaften der Vertreter der poésie formelle können nicht über die Schwächen des Konzepts hinwegtäuschen, deren konsequente Anwendung zwangsläufig (1) zur Annahme einer prinzipiellen Alterität der mittelalterlichen Poesie, (2) zur Absage an jedes Aufscheinen von Individualität und (3) zur Vernachlässigung des Inhalts – und somit der Aussage – in dieser Dichtung führt.243 Es ist nicht verwunderlich, dass die Radikalität der Forschungen im Sinne der poésie formelle bald schon Gegenthesen provozierte, deren einflussreichste die von Dronke darstellt. In expliziter Abgrenzung zu Curtius244 und dessen Nachfolgern besteht Dronkes selbst erklärtes Ziel darin, «to sharpen the focus upon the spontaneity and independence of poetic creation»245 und «to come to see more precisely the kinds of sensibility, the kinds of meanings and images given to love by poets learned and unlearned – and to see where, however far from each other in age or place, they meet on common ground».246

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lyrique» (1986b, 7) ein und betont die Grundprinzipien der von Guiette formulierten mittelalterlichen Ästhetik (1960, 539): «Habitué depuis le Romantisme à juger d’une œuvre en fonction de son originalité, le lecteur moderne sera tenté de considérer monotone la poésie lyrique des trouvères. En effet, dans le poème courtois, le travail d’invention requiert une soumission totale ou quasi-totale à une tradition de style qui impose aux trouvères, lieux communs et formules techniques». Cf. z. B. Zumthor 1959, 1963 und 22000. Zumthor 22000, 232. Cf. dazu auch die Ausführungen von Giunta (2002, 20ss.). Zwar zeigt sich Dronke als Bewunderer Curtius’, dessen Werk er einen unübertroffenen «wealth of detailed insights into medieval literature» (21986, 1) bescheinigt, doch möchte er mit seiner Studie Poetic Individuality in the Middle Ages (21986) ein Ergänzungsmodell (cf. dazu auch Lange 1973, 239) zu Curtius’ «homogenous and essentially anonymous collection of topoi» (Weiss 2000, 126) liefern. Dronke (21986, 20s.) warnt vor dem Ausblenden der Autorpersönlichkeiten und verbalisiert seine Befürchtungen in einer Reihe suggestiver Fragen: «Can we, finally, agree with Curtius that for the study of ancient and medieval poetry the study of the typical must have priority over the study of the individual? […] If we were to give an absolute priority to the investigation of the typical, is there not a danger that we should see the poetry of the Middle Ages in terms of its most stereotyped minds and imaginings, rather than in terms of its most fruitful, unpredictable ones?» In diesem Zusammenhang kritisiert Dronke auch die Vernachlässigung der oralen Tradition und die absolute Konzentration auf die poetae docti – und somit die Annahme einer ausschließlich gelehrten Entstehung der Topoi (cf. Dronke 21986, 1s.). Dronke 21986, V. Dronke 21968, II, 353.

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Anders als Curtius, der die literarische Tradition implizit mit der schriftlichen Überlieferung gleichsetzt, blendet Dronke dabei auch die orale tradition populaire nicht aus. Vielmehr stellt Dronke die Suche nach Brüchen und Originalität, begriffen als Neuschöpfung innerhalb der Tradition, ins Zentrum des Interesses und kündigt Phrasen wie «der Kodex der höfischen Liebe» oder «die Konventionen der Trobadorlyrik» den Kampf an, da sie «den Blick für poetische Lebendigkeit und Individualität»247 der mittelalterlichen Dichtung verstellen. Er sucht nach Lösungen für die in der Mediävistik immer wieder formulierte Frage: «Wo findet [der Interpret] in dem Netz von Abhängigkeiten und Imitationen, die ein literarisches Werk der Zeit prägen, die individuelle Stimme des Autors, seine ‘Originalität’, die ihm eigentümliche, unverwechselbare Brechung des Tradierten, ohne einem nachromantischen Vorurteil oder der naiven Rezeption des Positivismus zu verfallen?»248

In Anknüpfung an Dronke und dessen Tradition sucht die vorliegende Untersuchung nach der Originalität mittelalterlicher Lyrik, ohne jedoch bestimmte Ideen des als poésie formelle bezeichneten Konzepts zu verwerfen. Dass sich mittelalterliche Lyrik als «poésie de topiques»249 im Rahmen einer fest etablierten Rhetorik realisiert, ein festes ‘topisches’ Motivinventar aufweist, einem vorgegebenen Diskursschema unterliegt und stark an ein Gattungssystem gebunden ist, dessen Existenz gleichzeitig «une incontestable disponibilité de variations»250 impliziert, kann nicht geleugnet werden. Imitation, Variation und Zitat sind für mittelalterliche Poesie charakteristisch und stellen als «l’appel à la mémoire, indispensable au poème pour que le lecteur s’y retrouve»251 ein wesentliches Element der mittelalterlichen Poetik dar. Gleichzeitig lenkt gerade diese Feststellung den Blick auf die Werke, die die Grenzen der poetischen Diskurse wenn nicht zu sprengen, so doch zu erweitern versuchen und die Zitate und scheinbaren Imitationen nutzen, um Neues zu schaffen. Topik und Originalität müssen nicht als contradictio in adiecto begriffen werden, denn «bereits der Vergleich weniger Beispiele vermag […] zu zeigen, daß der einzelne Autor aus dem existierenden Motivfundus diesen Zug ausmalt und jenen ausspart, diese Verflechtung aufgreift, jene dagegen liegen läßt».252

So stellt die vorliegende Untersuchung neben die Poetik des lieu commun gleichberechtigt die Poetik der transgressio. Darunter wird die Überschreitung der Grenzen des konventionellen poetischen Spiels verstanden. Schon die Vertreter der poésie formelle lassen an manchen Stellen ihrer Arbeiten anklingen, dass die Trobador- und Trouvèredichtung immer wieder individuelle und überraschende

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Dronke 1977, 124. Lange 1973, 239. Bec 1969, 1325. Ibid. Zink 1977, 1. Cf. Lengeler 1990, 127.

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Züge zeigt. So betont Frappier253 die individuelle Note bei einzelnen Trobadors, die in dem réseau de convention bisweilen aufscheint, und Le Gentil bringt, um die transgressiven Züge der mittelalterlichen Poesie zu beschreiben, den Begriff der mutation brusque in die Diskussion, die er als «résultat d’un acte créateur personnel»254 charakterisiert, der vom Potential der Dichter zeugt «[à] conférer tout à coup à un thème rebattu, à une phraséologie usée, une efficacité nouvelle et une valeur inattendue».255 In ähnlicher Weise folgen beispielsweise Rosenberg und Tischler einem gemäßigten Konzept der poésie formelle, wenn sie in der formelhaften Sprache der nordfranzösischen Sänger «ici et là l’originalité d’un esprit inventif»256 entdecken. Diese Perspektive zeigt auf, dass sich die Originalität der mittelalterlichen Poesie nicht in der Variation der kollektiv tradierten Muster erschöpft, sondern vielmehr eine immer wieder aufscheinende Reflexion und Problematisierung des dominierenden Diskursschemas – die eine Selbstreflexion des lyrischen Subjekts impliziert – offenbart, die Karlheinz Stierle erst im Werk Petrarcas257 und Pierre Bec in den Liedern Villons258 zu entdecken glauben. Dass solche originellen Leistungen in der romanischen Poesie schon vor Petrarca oder Villon zum Durchbruch kommen, ist der Leitgedanke dieser Studie.259 Die Methode der Toposforschung und der poésie formelle kann nur dann zu fruchtbaren Ergebnissen führen, wenn sie «die ‘mutation brusque’ ausmachen hilft, die ein literarisches Werk als eigenständiges Produkt eines bestimmten, seiner Zeit verpflichteten Ingeniums qualifiziert»,260 denn nicht die Verwendung eines Topos bestimmt die Poetik eines Werks, sondern die individuelle Verortung, Neuakzentuierung, Verschiebung und Brechung. Gerade die mittelalterliche Dichtung nämlich ist, so Zink, «un modèle privilégié pour voir comment un mot, une image, un sentiment, peuvent acquérir une valeur générale que les rend ‘obligatoires’ dans tel ou tel genre poétique ou pour accompagner un thème donné, puis, à partir de là, reprendre une valeur particulière dans chaque poème».261

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Cf. Frappier 1966, 5: «Toutefois, répétons-le, le lyrisme au sens moderne du mot n’est pas absent de la poésie médiévale; sans parler des troubadours, les meilleurs des trouvères, un Conon de Béthune, un Châtelain de Couci, un Gace Brulé, un Thibaut de Champagne, un Colin Muset, d’autres encore, laissent percer et quelquefois affirment un tempérament original ou un tour d’esprit personnel. Ils ont su trouver une expression poétique pour leurs émotions». Le Gentil 1963, 19. Le Gentil 1963, 15. Rosenberg/Tischler 1995, 10. Cf. Stierle 1979, 520. Cf. Bec 1969 1321. Cf. einen ähnlichen Gedanken bei Elwert (1980, 31), der in diesem Sinne die Leistung von Bernart de Ventadorn unter den Trobadors und von Giacomo Pugliese in der scuola siciliana hervorhebt. Lange 1973, 243. Zink 1972, 79.

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Die evokativen Elemente thematischer Art tragen den poetischen Diskurs und verleihen ihm eine spezifische Struktur, doch sie beschränken sich nicht allein auf Imitation, sondern zielen durch Variation und Modifikation auf dessen Erweiterung und Bereicherung.262 2.2.2.

Gattung als thematische Einheit

Die Feststellung der faktischen Wandelbarkeit der Gattungen, die zur Aufgabe des Gattungsbegriffs bei Croce führte,263 bedeutet für die Literaturwissenschaft eine Herausforderung und einen Neuansatz zu einer deskriptiven Gattungsdiskussion, die von einem dynamischen Konzept des Gattungsbegriffs ausgehen muss. Über die Tatsache, dass es sich bei Gattungen um eine notwendige Kategorie des literaturwissenschaftlichen Diskurses handelt, die dem Bemühen entspringt, in der Vielfalt der literarischen Formen ein abstrahiertes Ordnungsprinzip theoretisch zu begründen, besteht in der Forschung trotz unterschiedlicher Zugänge relative Einigkeit.264 Besonders für die mittelalterliche Lyrik, deren Poetik grundlegend im intertextuellen Spiel mit konventionellen Elementen besteht, ist die Annahme von Gattungskonzepten als Orientierungsmuster für die literarische Produktion und Rezeption essentiell. Nimmt man eine Kategorie der literarischen Gattungen an, so setzt man voraus, dass es literarische Textsorten gibt, die trotz ihrer individuell und historisch unterschiedlichen Prägung über einen wiedererkennbaren 262 263

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Cf. ibid. Croce 91950, 40: «Ma il trionfo più cospicuo dell’errore intellettualistico è nella dottrina dei generi artistici e letterari, che ancora corre nei trattati e perturba i critici e gli storici dell’arte». Schon früh wandten sich gelehrte Stimmen immer wieder gegen das Konzept der literarischen Gattung, wie beispielsweise Giordano Bruno, der behauptete, dass es genau so viele Gattungen gäbe wie Dichter und Einzelwerke (cf. Paden 2000a, 2). Und auch das Lied Escotatz, mas no say que s’es (BdT 389, 28) von Raimbaut d’Aurenga kann als Kritik am Gattungskonzept gelesen werden, da der Verfasser darin seine Skepsis gegen jeden Versuch äußert, sein Lied einer bestimmten Gattung zuschreiben zu wollen und explizit Bezeichnungen wie vers, estribot oder sirventes dafür ablehnt. Cf. Raimbaut d’Aurenga (XXIV/I): Escotatz, mas no say que s’es Senhor, so que vuelh comensar. Vers, estribot, ni sirventes Non es, ni nom no·l sai trobar; Ni ges no say co·l mi fezes S’aytal no·l podi’acabar, Que ia hom mays non vis fag aytal ad home ni a femna en est segle ni en l’autre qu’es passatz. (Hört zu, Herren, aber ich weiß nicht, was das, was ich beginnen will, ist. Es ist weder ein vers, noch ein estribot oder ein sirventes, noch kann ich einen (anderen) Namen dafür finden. Ich weiß nicht, wie ich es machen sollte, wenn ich es nicht so vollenden könnte, dass man nie zuvor ein solches von einem Mann oder einer Frau in diesem Jahrhundert oder in einem vergangenen sah.) Cf. z. B. Nies (1988) und Fowler (22002).

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Kern verfügen, der als Bündel aus obligatorischen und fakultativen Merkmalen beschrieben werden kann. Ein Gattungsschema kann sich durch nachahmende Wiederholung oder durch Vorbildcharakter eines bestimmten Textes etablieren. Obligatorische Merkmale bilden die feste Grundstruktur, die in verdichteter Form durch die «puissance allusive»265 charakteristischer Elemente bereits als Gattungszitat das vollständige Schema evozieren kann.266 Als zu einer Gattung zugehörig werden Textzeugen in dieser Studie jedoch nur dann verstanden, wenn solche obligatorischen Merkmale explizit oder implizit die gesamte Komposition durchziehen oder an zentralen Stellen derselben zu finden sind. Die Idee der Einheit ist dabei essentiell. Texte hingegen, die Gattungsanspielungen oder -zitate in einzelnen Versen oder Strophen enthalten und auf diese Weise am intertextuellen Spiel partizipieren, stellen lediglich periphere267 Teile des Gattungsschemas dar. Fakultative Elemente, die sich um den Gattungskern gruppieren, ermöglichen die Variation des per se instabilen268 Gattungsschemas, das sich immer wieder neu aktualisieren und somit auch Bedeutungszuwachs erfahren kann. Die mouvance ist ein wesentliches Charakterisitikum der literarischen Gattung. Bei der nur partiell überlieferten mittelalterlichen Literatur stellt sich im Zusammenhang mit dem Gattungsbegriff die Frage, wie viele Exemplare vorliegen müssen, um von einer Gattung sprechen zu können. Gewiss sind Klassifizierungen von Unica als Gattungen – prominente Beispiele der Mediävistik sind dabei die chantefable oder die serena – problematisch.269 Ob man für die besondere Überlieferungssituation mittelalterlicher Texte die Annahme von Unica als hypothetische Gattungsbegriffe akzeptieren kann, wenn zumindest externe Stützen in Form von Gattungstypologien bestehen oder Beispiele aus angrenzenden kulturellen Räumen überliefert sind, wäre einer Überlegung wert. Je nach Perspektive können Texte rein thematisch (planh) oder aber bezüglich der inneren270 (tenso) oder äußeren (ballata) Form einem Gattungsschema zuge-

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Bec 1969, 1323. Cf. auch Chaguinian (2008, 22). Zum Konzept der Peripherie cf. die Differenzierung zwischen Zentrum, Umfeld und Peripherie, die Schnyder (2004, 14s.) – in Anlehnung an Kochs (1928, 35) – erörtert. Cf. auch das verwandte Modell von Fowler (22002, 114), in dem Gattungen – in fortschreitender Entfernung vom Typ – als kind, mode und subgenre bezeichnet werden, wobei die am weitesten vom Kern entfernte Realisierung die Hauptquelle der Innovation darstellt. Zum Merkmal der Instabilität cf. Fowler (22002, 45–49). Cf. dazu z. B. die kritische Stimme von Zymner (2003, 127): «Eine Gattung, die nur in einem Exemplar ‘vorliegt’, ist eben keine (es sei denn, man unterstellt, daß im Laufe der Geschichte alle anderen verloren gegangen sein müssen – oder aber, man vertritt eine typologische Gattungstheorie), und das allererste Exemplar, der gattungsbegründende Text hat zunächst einmal nur Ähnlichkeit mit sich selbst, während die Ähnlichkeiten, die es zwischen einem ersten und einem zweiten Text gibt, zufällig vorhanden sein können. Von einer gewissen Regelhaftigkeit oder Allgemeinheit können wir aber doch wohl erst ab drei Texten sprechen». Zur forma interna als Klassifizierungskriterium am Beispiel der mittellateinischen Lyrik cf. auch Moralejo (1986, 76).

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wiesen werden. Schon die mittelalterlichen Dichter und ‘Poetologen’ definieren lyrische Gattungen «en se fondant tantôt sur le contenu des poèmes, tantôt sur leur forme métrique»271 und bestimmen auf diese Weise je nach Perspektive die Gattungsnamen, indem sie entweder den Inhalt oder die Form als Dominante festlegen. Post rem kann nur eine deskriptive mehrdimensionale Betrachtung bei der Beschreibung der vielfältigen thematischen und formalen Ausprägungen der mittelalterlichen Lyrik zu befriedigenden Ergebnissen führen. So kann ein bestimmter Textzeuge z. B. als pastorela und tenso oder ballata und alba zugleich charakterisiert werden. Je nach Fragestellung der Untersuchung ist es jedoch wichtig, homogene Kriterien festzulegen, um die Vergleichbarkeit der miteinander konfrontierten Textzeugen zu gewährleisten. Für die primär thematisch definierten Gattungen alba und somni ist es sinnvoll, das Merkmal der Thematik zum wesentlichen Kriterium der Gattungszuweisung zu erheben. Generell sind die Verknüpfungspunkte der Isotopieebenen, die die Thematik bilden, als das «stabile Material» der primär oralen Dichtung aufzufassen. Ist das zentrale Thema eines Textes nicht eindeutig zu eruieren, so liegen Hybride272 vor, bei denen zwei oder mehrere thematische Merkmale gleichberechtigt nebeneinanderstehen, was zu einer Mehrfachklassifizierung führen kann (z. B. pastorela und somni). Ein solcher deskriptiver Umgang mit der Klassifizierung lyrischer Texte beugt der Eindimensionalität der Betrachtung vor.273 Ein wesentliches Merkmal der literarischen Gattungen ist nämlich die Transparenz der Gattungsgrenzen, die zu den für mittelalterliche Lyrik typischen Gattungsinterferenzen führt. In diese Richtung weist beispielsweise Bec mit seinem Konzept der genres hybrides, das ähnlich wie das Intergattung-Konzept von Maddox/Sturm-Maddox von der «permeability of generic boundaries»274 ausgeht. Der für die mittelalterliche Poesie charakteristischen Gattungsmischung wird mit einer solchen deskriptiven Gattungszuweisung Rechnung getragen. Dabei ist das Prinzip des generic mixture nur eine der vielfachen Formen der Transformationen des Gattungsschemas, die für die mittelalterliche Lyrik essentiell sind.275 So zählt beispielsweise Fowler acht weitere Prozesse auf – «topical invention, combination, aggregation, change of scale, change of function, counterstatement, inclusion, selection»276 –, die zu solchen Modifikationen führen können und von der Instabilität und Transparenz der Gattungsgrenzen zeugen. Auch die komparatistische Perspektive der Untersuchung, die ausgehend von der Trobadorlyrik die alba- und somni-Dichtung der Romania anvisiert, muss von ähnlichen Transformationen der

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Zink 1972, 18. In dieser Weise wird der Terminus des Hybrids auch bei Fowler (22002, 183–188) als Sonderform der Gattungsmischung (generic mixture) verstanden. Cf. dazu Rosenberg/Tischler (1995, 13), die in ihrer Anthologie nach einem solchen deskriptiven Prinzip der Gattungszuweisung verfahren. So erhält z. B. Chanterai por mon corage von Guiot de Dijon (Nr. 124) die Klassifizierung als chanson de croisade, chanson de femme und rotrouenge. Maddox/Sturm-Maddox 1993, 8. Cf. Fowler 22002, 181ss. Fowler 22002, 170.

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Gattungsschemata je nach Sprach- und Kulturraum ausgehen, um die Realität der dichterischen Produktion nicht zu verfehlen und den Modellcharakter der okzitanischen Lyrik nicht absolut zu stellen. Dass Übertragungsversuche der okzitanischen Konzepte auf die Produktion anderer Kulturräume scheitern müssen, ist selbstverständlich. Die Beachtung soziokulturell bedingter Sonderentwicklungen und die Distanzierung von jeder Behauptung eines einseitigen Einflusses gelten daher als Leitsätze der Untersuchung. Jede Realisierung eines Gattungsschemas partizipiert per se an einem abstrahierten Ganzen, das – in Abgrenzung zum statischen Begriff des Gattungssystems – als Gattungsgeflecht bezeichnet werden soll. Im interaktiven Spiel bedingen sich Gattung und Gattungsgeflecht gegenseitig und die positive oder ablehnende Bezugnahme einer Gattung auf andere kann als Mittel zur Findung von Gattungsabgrenzungen fungieren. Das Gattungsgeflecht impliziert die Idee von ineinander und miteinander verwobenen Gattungen.277 Es stellt eine dynamische und polymorphe Größe dar, in der sich sowohl das volkstümliche als auch das gehobene278 Register konkretisieren und mischen können. Eine solche Perspektive umgeht ein Ausweichen auf Stütz- (Wunderli) oder Nebensysteme (Zumthor) oder auf Konzepte wie Text und Gegentext.279 2.2.3.

Die Korpusbildung: Zwischen Induktion und Deduktion

Ein altes Dilemma der Gattungsforschung besteht in der Spannung, sich literarische Gattungen einerseits als überindividuelle Systeme vorzustellen, sie andererseits aber nur in Form individueller Textmanifestationen erfassen zu können. Ein grundlegendes Problem der konkreten literaturwissenschaftlichen Arbeit stellt daher die Korpusbildung dar, die grob nach zwei Methoden vorgehen kann: (a) der Induktion und (b) der Deduktion.280 Ein rein deduktives Verfahren, das von der Vorstellung eines kodifizierten Systems ausgeht und ein relatives Gleichgewicht zwischen Theorie und Praxis annimmt, scheidet aus, da es die Realität der literarischen Produktion des Mittelalters verfehlt. Eine rein induktive Vorgehensweise

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Cf. eine ähnliche Idee bei Fowler (22002, 251): «Insofar as there is any system, it consists, I believe, of these specific relations between genres». Der Terminus des gehobenen Registers wird für die komparatistische Untersuchung dem des höfischen Registers vorgezogen, um damit auch die Registerunterschiede in der galego-portugiesischen und der italienischen Dichtung abzudecken, bei der nicht mehr von einer Hofdichtung im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann. Cf. ähnliche Überlegungen bei Mölk (1989, 24), wobei Mölk die Poesie der scuola siciliana noch als Hofdichtung bezeichnet. Zur Kritik des Konzepts von Text und Gegentext in der mittelalterlichen Lyrik cf. Rieger, A. (2000, 55s.), die betont, dass sich in der Trobadordichtung «von Anbeginn Text und Gegentext friedlicher Koexistenz» erfreuten und dass bereits der erste bekannte Trobador sowohl Text als auch Gegentext produzierte. Cf. Zymner 2003, 124.

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wiederum trägt stets den Charakter einer Hypothese. Die Untersuchung verfolgt eine kombinierte Methode aus deduktivem und induktivem Vorgehen. Anders als in anderen mittelalterlichen Kulturräumen existieren in der Romania poetologische Traktate aus dem 13. und 14. Jh., die Gattungsnamen und -definitionen überliefern und so Ansätze für mögliche Gattungskonzepte tradieren. Diese Quellen zeugen von zunehmender Verschriftlichung, Festlegung, Ausdifferenzierung und Stabilisierung von Gattungsnamen281 und stützen die in der neueren Forschung immer wieder bejahte Vorstellung vom mittelalterlichen Gattungsbewusstsein.282 Ferner enthalten weitere Quellen interne und externe Hinweise auf Gattungskonzepte. Zu denken ist hier vor allem an Überschriften und Rubriken in Handschriften sowie an die ersten ‘literaturkritischen’ Kommentare in Form von vidas und razos.283 Wesentliche Informationen zur Verbreitung und Form der alba- und somni-Dichtung bieten die lyrischen Texte selbst. Da alba und somni zu den primär thematisch definierten Gattungen zählen, deren Gattungsname bereits auf das dominante thematische Merkmal verweist, fragt die Untersuchung auf dem Weg vom Motiv zur Gattung zunächst nach spezifischen Ausprägungen und Verknüpfungen der alba- und somni- sowie verwandter Motivik. Der eigentlichen Gattungsuntersuchung geht daher eine detaillierte Motivanalyse voran. Auf der Suche nach gattungsstiftenden Motivverknüpfungen werden Formen, Variationen und Realisierungsmöglichkeiten der alba- und somni-Motivik und somit mögliche Isotopieebenen, die diese Motive in spezifischen Verbindungen evozieren können, ermittelt. Dabei erfolgt in Anschluss an die Methoden der Thematologie und in Anknüpfung an die speziell für mittelalterliche Texte von Zumthor284 entwickelte Idee der thematischen Erschließung lyrischer Texte eine Analyse der semantischen Felder des gewählten repräsentativen Korpus der romanischen Lyrik. Diese Analyse operiert mit den Termini Motiv, Thema, lexikalisches Feld, Typ und Formel. Spricht man von literarischen Motiven und Themen, so greift man auf die zentralen und viel diskutierten Termini der Thematologie zurück, die diese Elemente als literarische Bausteine definiert, die sich «im Spannungsfeld von Inhalt und Form, Literarischem und Außerliterarischem, Text und Intertext»285 bewegen. Als Thema wird eine aus dem Werk heraus interpretierbare Kategorie, dessen Grundidee, bezeichnet. Das Thema ist nicht eindeutig an Gegenstände, Personen und Sachverhalte fixierbar, es wird in der Regel – so auch bei Daemmrich286 – primär funktional als strukturbildender Grundbaustein eines literarischen Textes verstanden, der die Verwendung und Verknüpfung von literari281 282 283 284

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Cf. Fausel 2000, 172. Cf. Fowler 22002, 142–147. Cf. hierzu die kritische Stimme von Grubmüller (1999, 195s.). Cf. Gonfroy 1988, 132. Zumthor (1959, 412s.) entwickelt diese auf dem Konzept der poésie formelle basierende Methode schon in einem Artikel von 1959. Die zentralen Termini seines Vorgehens sind objet, thème, motif, terme-clé, type, matériel lexical und formule. Scherer 2001, 39. Cf. Daemmrich 21995, XXIVs.

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schen Motiven und Typen bestimmt. Durch wiederholte Bearbeitung und Variation können Themen zum festen Bestandteil der literarischen Tradition, gewissermaßen zu Topoi oder Archetypen287 werden, die menschliche Grundsituationen zum Ausdruck bringen. Dabei behalten Themen trotz der Variation in Einzelwerken ihre prinzipielle Eigenheit und vergegenwärtigen darüber hinaus «den ständigen Prozeß der Befragung der Tradition und Erneuerung der Literatur».288 Gleichzeitig stellen sie aber dynamische Elemente dar, die sich durch Variation und Kombination ständig weiterentwickeln. Die kleineren, isolierbaren Einheiten des Themas, dessen «Kristallisationskerne»,289 werden als Motive290 bezeichnet. Sie bilden durch die Art und Weise der Motivverknüpfungen das Thema. Motive sind Bedeutungsträger eines Textes, stofflich-thematische bewegliche Elemente, deren «inhaltliche Grundform schematisiert beschrieben werden kann».291 Sie werden nach (a) inhaltlichen und (b) formalen Kriterien klassifiziert. Auf der (a) inhaltlichen Ebene kann man zwischen Situations-Motiven – wie ‘der Traum’, ‘der Ehebruch’ oder ‘die heimliche Liebesbeziehung’ – Typus-Motiven – wie ‘der Eifersüchtige’ oder ‘die mal-mariée’ – oder aber den sogenannten Raum- und

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Die Verwendung der Termini Topos und Archetyp verweist auf die enge Verbindung zwischen der Thematologie und der von Ernst Robert Curtius in den 30er Jahren wohl in Anlehnung an Aby Warburg begründeten Toposforschung, deren Ziel darin besteht, die Konstanz des Geistes in der Variation der Erscheinungen aufzuzeigen. Curtius setzt seine theoretischen und methodologisch-interpretativen Überlegungen, die in mehreren Aufsätzen zwischen 1938 und 1941 erschienen sind, in seiner Studie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) um – ein monumentales Werk, dessen Methode Auerbauch 1952 als «Philologie der Weltliteratur» würdigt. Auf der Suche nach einer gesamteuropäischen literarischen Tradition zeigt Curtius in seinem Hauptwerk einen topischen Grundbestand an Motiven der Literatur auf. In Anlehnung an die Terminologie der antiken Rhetorik bezeichnet Curtius die vorgeprägten stereotypen Bilder und Denkformen, die trotz der jeweiligen epochenspezifischen Prägung einen permanenten Kern aufweisen, als Topoi (loci communes). Laut der Definition handelt es sich dabei um «feste Clichés oder Denk- und Ausdrucksschemata». Da der Topos «in Tiefeschichten der Seele wurzelt» (Curtius 61967, 113) hat er eine archetypische Vorstellung als Basis – womit Curtius den Topos-Begriff in die Nähe der Archetypus-Definition nach Jung rückt. Zur Diskussion dieses Konzepts cf. u. a. Mertner (1972), Veit (1972), Baeumer (1973a), Lengeler (1990). Zum Verhältnis zwischen Toposforschung und Thematologie cf. Wellek (1986, 29s.). Daemmrich 21995, XXV. Frenzel 1980, 36. Die Geschichte der Verwendung des Terminus Motiv in der Literaturwissenschaft stellen Daemmrich (21995, XIVss.) in allen Einzelheiten dar. Zusammenfassend konstatieren Daemmrich (21995, XVI): «Beller (1981), Frenzel (1988), Jost, Petersen, Petsch, Pollmann, Todorov (1967), Weisstein und Wellek erklären das Entstehen und die fortgesetzte Verwendung der Konstanten durch die Charakteristik des Motivs, in äußerst anschaulicher Präzisierung eine typische Denkform, menschliche Verhaltensweise oder Situation auszudrücken. Frenzel (1992), Trousson (1965) und Lüthi (1980) gehen davon aus, daß Motive schematische Muster von typischen, möglicherweise archetypischen Eigenschaften und im Leben wiederkehrenden Situationen darstellen». Schweikle 21990, 312.

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Zeitmotiven – wie ‘der Turm’, ‘die Nacht’ oder ‘die Morgenröte’ – unterscheiden. Ausgehend von ihrer (b) formalen Funktion unterscheidet man hauptsächlich zwischen primären oder Kern-Motiven und sekundären oder Rahmen-Motiven. Des Weiteren werden rein ornamentale oder aber blinde Motive mit dem Attribut detailbildend charakterisiert oder als Füllmotive bezeichnet.292 Primäre Motive können – in Verbindung mit anderen thematischen Elementen oder auch gesondert – themenbildend wirken. Ein wichtiges Charakteristikum des Motivs ist die Reduktion, die Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte in konzentrierter Form zu beleuchten.293 Jedoch besitzen Motive keine Handlungskontinuität, sondern bieten lediglich einen Handlungsansatz, der ganz unterschiedliche Entfaltungsmöglichkeiten in sich birgt. Sie schlagen «nur einen Akkord» an, während das Thema «die ganze Melodie bietet».294 Für die Deutung literarischer Motive ist es wichtig, das von Daemmrich als Polarstruktur bezeichnete Charakteristikum der Motive zu beachten: Motive sind ohne Einbettung in eine thematische Struktur nicht auf eine bestimmte Bedeutung festlegbar, sie zeigen vielmehr, dass «durch die Verknüpfung mit [bestimmten] Figuren, Situationen und Themen […] völlig gegensätzliche Sinnbezüge»295 entstehen können. Die Eruierung dieser diversen Motivausprägungen ist für die Analyse entscheidend, da somit einerseits die Variationsbreite der Motivausprägungen erfasst und andererseits die themenbildenden – und somit primären – Motivausprägungen von den sekundären unterschieden werden können. Dabei situieren sich Motive in einem spezifischen lexikalischen Feld, das dem Motiv semantisch und konzeptuell verwandte Begriffe umfasst, die häufig synonym oder komplementär zu einem bestimmten Motiv gebraucht werden können. Die Verknüpfungen, die das Motiv innerhalb dieses Feldes bildet, bestimmen dessen Struktur und Ausprägung. Formeln wiederum entstehen, wenn sich ein Motiv innerhalb eines festen syntaktischen Schemas konkretisiert. Strikte Motivverknüpfungen bilden schließlich Typen, die in der mittelalterlichen Kunst und Literatur vorzugsweise personifiziert und somit als Figuren fassbar werden. Dabei weisen Typen ein festes Schema auf, «réductible à un ensemble de traits, que l’on peut distinguer en traits stables (formant le ‘noyau’ du type) et en traits variables, en nombre assez étroitement limités».296 Spezifische Themen, Motive, Typen und Formeln sind das Gerüst der mittelalterlichen Lyrik und bestimmen gewissermaßen die Konturen der Poesie. Sie können durch wiederholte Bearbeitung und Variation zu topischen297 Elementen werden, die sich dadurch

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Cf. Schweikle 21990, 37/312. Cf. Daemmrich 21995, XVIII. Cf. Frenzel 91998, V (hier in Bezug auf Motiv und Stoff). Cf. Daemmrich 21995, XVIII. Zumthor 1959, 413. In der von Curtius vorgeschlagenen Topos-Definition ist die Abgrenzung zwischen Topos, Motiv, Metapher und Symbol unklar und geht teilweise in eine Gleichsetzung der Termini über (cf. Wellek 1986, 11). So verwendet Curtius Thema und Topos teilweise synonym (Curtius 61967, 134s.), grenzt aber das Motiv von seinem Topos-Begriff ab. Wenn er folglich den Topos als «etwas Anonymes» begreift, so sieht er auch im Thema

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auszeichnen, dass sie trotz der Möglichkeit zu Variation und Umdeutung ihre prinzipielle Eigenheit und somit ihren permanenten topischen Kern beibehalten, der sich in dem jeweiligen Motiv, Thema oder Typ konkretisiert. Häufig geben gerade solche Kerne, die im intertextuellen Spiel allein schon durch eine Andeutung als Gattungszitate erkannt werden, Hinweise auf die Identifizierung eines primär thematischen Gattungsschemas. In diesem Sinne geht diese Untersuchung von der Annahme aus, dass die Entwicklung einer thematischen Gattung auf der Genese von einer prägnanten Motivausprägung oder Motivverknüpfung hin zum gattungskonstituierenden Thema basiert. Welche Motivverknüpfungen von alba und somni zur Ausbildung von Gattungsschemata führen und an welchen Stellen sich diese Motivverknüpfungen möglicherweise überschneiden und so einer analogen Poetik das Wort sprechen, soll die Analyse klären. Als externe Stütze der Untersuchung zu Typologie und Deutung des somni erfolgt zusätzlich ein als Exkurs konzipierter Blick auf die führenden mittelalterlichen Traumdiskurse, die sich in philosophisch-theologischen Abhandlungen, volkssprachlichen Traumbüchern und bildlichen Zeugnissen spiegeln. Das ausgewählte Korpus, das der Untersuchung zugrunde gelegt wird, setzt sich aus zahlreichen Anthologien und Werkausgaben der Trobador- und Trouvèrelyrik 298 zusammen. Zusätzlich wurden für die mittellateinische Dichtung die Carmina Burana in der Edition von Vollmann (1987), die Carmina Riuipullensia nach der Ausgabe von Moralejo (1986) sowie die Anthologie von Bourgain (2000) konsultiert, für die galego-portugiesische Lyrik die von Nunes (1972) herausgegebenen cantigas de amor, die Lieder des Cancioneiro da Ajuda in der Ausgabe von Michaëlis de Vasconcellos (1980), die zweibändige Anthologie von Brea (21999) und die neueste Edition der cantigas de amigo von Cohen (2003). Für die italienische Poesie des Duecento diente primär die dreibändige Anthologie von Antonelli/Coluccia/Di Girolamo (2008) als Textgrundlage. Was die Gattung des Tagelieds betrifft, so wurde die Korpusbildung durch die Tatsache erleichtert und gestützt, dass bereits thematische Anthologien, die unterschiedliche Ausprägungen der alba-Dichtungen zusammenfassen, existieren. Zu nennen wären für die okzitanische alba die Anthologien von Riquer (1944) und Gouiran (2005)

298

eine im Vergleich zum Motiv objektive Größe (cf. Curtius 61967, 139). Ferner rückt Curtius den Topos in die Nähe des bildnerischen Motivs wegen seiner «zeitlichen und räumlichen Allgegenwart» und nennt die Toposforschung «Kunstgeschichte ohne Namen» (ibid.), womit er auf das Hauptziel der um die Darstellung großer Zusammenhänge und Traditionen bemühten Methode hinweist. In Abgrenzung zum Topos-Begriff versteht die moderne Toposforschung das Motiv entweder als sprachliche Ausdrucksform eines Topos, als dessen konkretisierte Form (Obermayer 1972, 158s.) oder als kleine topische und dynamische Einheit (Beller 1972, 177). Wie Baeumer zeigen konnte, handelt es sich bei Topos, Metapher und Motiv um Termini, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Jedoch kann ein Topos als geprägte sprachliche Ausdrucksform als Metapher oder Motiv verwendet werden, genauso wie sich ein Motiv im Laufe der Literaturgeschichte zum Topos entwickeln kann (Baeumer 1973b, XI). Motive und Themen können in diesem Sinne als topische Einheiten verstanden werden. Cf. die Zusammenstellung in der Bibliographie.

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und die jüngst erschienene und detailliert kommentierte Edition von Chaguinian (2008). Für den komparatistischen Zugang standen die umfangreichen Anthologien von Hatto (1965) und Fuente Cornejo (1999) zur Verfügung. Für die poésie d’oc wurde die Suche nach alba und somni in Motiv- und Gattungsfuktion durch die Möglichkeiten, die die von Ricketts herausgegebene Concordance de l’occitan médiéval (2002) – ein unerlässliches Instrument der modernen Mediävistik – bietet, entschieden erleichtert.

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3.

Das polyphone Spiel der Möglichkeiten: Alba- und somni-Motivik

3.1. Zu den Motivausprägungen der alba «Das Motiv des Tagesanbruchs ist von ausschlaggebender Bedeutung im mittelalterlichen Tagelied (alba). Es bestimmt seine Struktureigenheit. [...] Im Gegensatz zur Dämmerung tritt beim Tagesanbruch die Umwelt deutlich hervor. Die Entfernung des Betrachters zu den Gegenständen verringert sich; der Anspruch der Wirklichkeit setzt sich durch. Er bedingt im Tagelied die Trennung, in anderen Gedichten das freudige Bekenntnis zur Welt. Aus dieser Assoziation entstehen Motivverweise auf das tatkräftige Ergreifen der Gegenwart [...]. Der Anlage des Motivs in der Liebeslyrik entspricht eine parallele, allegorische Verwendung in der christlichen Dichtung.»1

Horst und Ingrid Daemmrich beschreiben das alba-Motiv als polyvalentes Zeitmotiv, das sich durch das Merkmal der Polarität auszeichnet. Es kann zum Begleiter von schmerzvoller Trennung und freudevoller Begegnung werden und konkretisiert sich dabei sowohl in profaner als auch in religiöser Lyrik. Die Analyseergebnisse zur Verbreitung und Variation der alba-Motivik bestätigen diese Charakterisierung Daemmrichs. Das alba-Konzept entwickelt in der Lyrik eine vielschichtige Semantik und ist im Kontext eines lexikalischen Feldes zu sehen, das vor allem von den folgenden Lexemen gefüllt wird: Sonne, Tag, Morgen, Morgenstern, Licht, Glanz, Strahlen. Je nach Kulturraum, Schwerpunktsetzung und Kontext sind diese Lexeme austauschbar, sodass dia, jorn, lum und alba zu Synonymen oder zu Komplementärbegriffen werden können. Die Analyse der Variationsbreite der albaMotivik in der Lyrik der Romania zeigt zwei polyvalente Realisierungsmöglichkeiten, die sich beide vor dem Hintergrund einer impliziten Tag-Nacht-Dichotomie entfalten: A. als Zeitmotiv und B. als Metapher. In Metaphernfunktion ist die alba stets positiv konnotiert und weist Interferenzen zwischen dem profanen und dem religiösen Register auf, die bis zur Registerverschmelzung reichen können. Als Zeitmotiv weist die alba eine deutliche Polarstruktur auf. Die romanische Lyrik zeigt im Wesentlichen folgende Realisierungsmöglichkeiten des Motivs:

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Daemmrich 21995, 339.

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Basis: Tag-Nacht- bzw. Hell-dunkel-Dichotomie A. alba-Zeitmotiv a) positiv (Liebesthematik) + Lob

B. alba-Metapher b) negativ Liebesthematik + Klage

a) Liebeslyrik

Begegnung

Trennung

Verlangen Erneuerung Inspiration

Einsamkeit

Geliebter/ Geliebte

3.1.1.

b) religiöse Lyrik

astrale Metaphorik Gläubiger Jesus/Maria

Joc novel mi tol l’alba

Besonders in der Trobador- und Trouvèrelyrik geht das alba-Motiv eine enge Verbindung mit der Thematik der emotionalen Trennung der Liebenden am frühen Morgen ein und entwickelt so seine Ausprägung als negativ konnotiertes Zeitmotiv.2 In der galego-portugiesischen Lyrik und in der italienischen Poesie des Duecento hingegen sind Abschiedsklagen in der Morgenröte nur vereinzelt überliefert. Ein zentraler Grund für diese Sonderentwicklungen liegt in der Natur der Liebeskonzeptionen dieser unterschiedlichen kulturellen Räume. Die Trobadorlyrik – und teilweise auch die altfranzösische Poesie – zeigt wegen der spezifischen fin’amor-Konzeption, die die heimliche Liebe zelebriert, eine besondere Affinität zur Thematik der häufig in den höfischen Kontext verlegten Abschiedsklagen im Zeichen des celar. In diesem Sinne ist der eingängige Refrain «Et ades sera l’alba» der berühmten canso Reis glorios von Guiraut de Bornelh {A b, 7} zu verstehen, der insistierend die drohende Gefahr vor Augen führt, vor der der treue und von Sorgen geplagte Wächter seinen conpanho warnt. Das rechtzeitige Verlassen der Geliebten vor dem Morgengrauen ist eine der goldenen Regeln der fin’amor, wie der anonyme Dichter in der didaktisch anmutenden cobla Drutç qui vol {A b, 4} bekräftigt: «que·s leu enan l’alba» (v. 10). Die Furcht vor dem Entdecktwerden, der Trennungsschmerz und die letzten Umarmungen gehen eine enge Verbindung mit der alba-Motivik ein. In diesem Sinne entfaltet das quasi die Zeitlichkeit transzendierende Zeitmotiv als «l’instable moment de tous les dangers»3 höchste poetische Kraft. Die alba verliert so im erotischen Kontext ihre neutrale Rolle als Vorbotin des Tages und wird als pars pro toto zur eigentlichen Ursache der

2

3

Zum Motiv der Sonne als zerstörerische Kraft cf. Daemmrich (21995, 244). Bei dieser negativen Motivik ist durchaus auch an biblische Muster zu denken. Vor allem in den Prophetenbüchern (Cf. z B. Joel 1, 15) und in der Apokalypse wird mit lux und dies das Jüngste Gericht assoziiert, das die Vorstellung von Gewalt, Angst und Tod impliziert. So sind warnende Worte und Klagerufe über den nahenden Tag in der Bibel ein verbreitetes Motiv und erinnern in ihrer Intensität an die späteren schmerzvollen Klagen der alba-Liebenden. Gouiran 2005, 2.

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Trennungsklage stilisiert. Mit der negativen Konnotation der alba geht im Kontext der Abschiedsklage auch eine negative Bewertung aller anderen verwandten Termini desselben lexikalischen Feldes (jorn, dia, maitin) einher, wie schon die okzitanische Poesie zeigt. So liegt in Ab la genser que sia {A b, 2} das Liebespaar «tro al dia» (I, 6) und nicht etwa tro l’alba beieinander, und die anklagenden Rufe der Liebenden gelten nicht etwa der alba, sondern dem dia, der sich gewiss nicht ohne Intention auf maldia (IV, 1) reimt. Ähnliche lexikalische Verschiebungen zeigen auch Pàrtite, amore, a deo {A e, 1} mit der Verbindung maitino (v. 3)/ zorno (v. 4), Levad’, amigo von Nuno Fernandez Torneol {A d, 4} mit manhãas (I, 1/II, 1) oder das mittellateinische Cantant omnes volucres {A a, 2}, worin der dies («iam lucescit dies» v. 3) die Trennung motiviert. Eine solche Verschiebung wird in besonderem Maße in der altfranzösischen Lyrik praktiziert.4 So dürfen die Liebenden in dem anonymen Gaite de la tor {A c, 4} ihr Liebesspiel «tresq’a jor» (V, 5) genießen. Ähnlich wird in Entre moi et mon amin {A c, 3} die Trennungsszene durch die verbale Konstruktion «Tant k’il ajornait» (I, 5) eingeleitet, die heimlich Liebenden werden in Li jorz m’a trové, hé! {A c, 5} ganz explizit vom Tag überrascht und der erste Vers in Est il jors? – Nenil ancores {A c, 1} spricht für sich. Auch in Cant voi l’aube dou jor venir {A c, 7} von Gace Brulé übernimmt der Tag die in der okzitanischen Lyrik dem Morgengrauen zugedachte Motivfunktion, wenn es im Refrain heißt: Or ne hais rien tant com le jour, Amins, ke me depairt de vos. (Daher hasse ich nichts so sehr wie den Tag, mein Freund, der mich von Euch trennt.)

Ob man aber in der Verlagerung der Terminologie von alba zu jorn «eine bewußte Abkehr von provenzalischen Traditionen und ein Aufgreifen einer selbständigen nordfranzösischen Überlieferung und Terminologie»5 sehen darf, ist zu bezweifeln, zumal schon die okzitanische Lyrik diese Substitution kennt. Die alba-jornVerbindung wird in Dieus aidatz {A b, 11} von Raimon de las Salas sogar zum motivischen Kern des Refrains und der gesamten Komposition, wobei der jorn noch stärker negativ aufgeladen wird als die alba, da er noch unerbittlicher nach dem comjat verlangt und der letzten Intimität des Abschieds endgültig ein Ende setzt. Die Qualifizierung der alba als Feind des Eros ist – wie motivgeschichtlich orientierte Untersuchungen immer wieder zeigen – ursprünglich an Frauen- oder Mädchenklagen gebunden, so auch in En un vergier {A b, 3} oder in L’a[u]be c’apiert ai jor {A c, 2}. In diese Tradition ist auch das italienische Pàrtite, amore, a deo {A e, 1} einzureihen sowie mehrere cantigas de amigo, in denen die weibliche Perspektive gattungskonstituierend ist. So wirft in Da noyte d’eyre poderam fazer von Juyão Bolseyro {A d, 6} die amiga dem Licht (luz) vor, das nächt-

4 5

Auch in der mittelhochdeutschen Terminologie der alba-Dichtung erscheint der tac als typisches Zeitmotiv, was auch den Gattungsnamen tageliet oder tagewîse erklärt. Wolf 1979, 25.

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liche Beisammensein der Liebenden zu stören (I, 5s.) und in De que morredes, filha, a do corpo velido? von Dom Denis {A d, 2} gemahnt wohl die assoziative alba-Anspielung des Refrains («Alva é, vai liero») an die letzte Trennung der Liebenden, die in den Gedanken des klagenden Mädchens immer noch gegenwärtig ist. In der Trobadorlyrik ertönen jedoch Anklagen und Verwünschungen der alba überwiegend aus männlicher Perspektive. Häufig erhebt neben dem cavalier auch die gayta-Figur die warnende Stimme, so auch in den drei coblas singulars von Eras diray ço que·us dey dir {A b, 5}, in den Schlussversen von Quan lo rossinhols {A b, 1}, im Refrain von Us cavaliers si jazia von Bertran d’Alamanon {A b, 12} oder in dem Wächterruf in Cadenets S’anc fui belha ni prezada {A b, 10}. Besonders in der Trobadorlyrik kann die alba auch personifiziert werden, indem sie gleichberechtigt neben die tatsächlichen personalen Gefahrenquellen der höfischen Kanzonendichtung, den gelos und die lausengiers, tritt. So nennt der Liebende in Reis glorios {A b, 7} die alba in einem Atemzug mit dem gelos: «per qu’ieu non prezi gaire/Lo fol gilos ni l’alba» (VII, 4s.). In ähnlicher Weise wird in Gaita be {A b, 8} die Morgenröte vom cavalier zum summum malum erklärt.6 Die alba, die der Liebende nicht rief («E·l jornz ve/E non l’apel» I, 7s.), verhindert die Fortsetzung des Liebesspiels: «Joc novel/Mi tol l’alba» (I, 9s.). Und wenn der gelos als «envios/Plus que l’alba» (III, 5s.) charakterisiert wird, so wird konkret über das tertium comparationis des Neids das Morgengrauen mit der Figur des Eifersüchtigen in Verbindung gebracht. Nur in seltenen Fällen und wohl in gezielter Anspielung an die morgendlichen Abschiedsszenen kann sich das negativ konnotierte alba-Zeitmotiv aus der typischen Verbindung mit der Thematik des schmerzvollen Abschieds der Liebenden lösen. In der gewiss in Anlehnung an die alba-Dichtung von Guiraut Riquier komponierten serena {A b, 14} motivieren die Einsamkeit des Liebenden und das Warten auf ein für den Abend in Aussicht gestelltes Treffen mit der Geliebten die an den «jorn esquius» (III, 5) gerichtete Anklage. Auch hier ist der Tag Ursache der Trennung, aber in einem anderen Sinne, da er das Zusammensein verzögert. In der iberischen Tradition setzt Juyão Bolseyro mit Sen meu amigo manh’eu senlheyra {A d, 5} diese Motivverknüpfung um. Die Refrainverse der cantiga entfalten erst vor dem Hintergrund der morgendlichen Abschiedsklagen ihre Bedeutung: Mays, se masesse con meu amigo, a luz agora seria migo (Aber wenn ich mit meinem Freund zusammen wäre, dann wäre das Licht gleich mit mir.)

6

Cf. dazu auch Rieger, D. (1983b, 341).

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3.1.2.

Liebesbegegnung und Liebeserwachen im Zeichen der alba

Positive alba-Motivik ist in der okzitanischen und in der galego-portugiesischen Lyrik als intertextuelles Spiel der bewussten Umdeutung der negativen alba-Motivik belegt. Zu nennen wären hier Ab plazen {A b, 13} von Guiraut Riquier, Per grazir la bon’estrana von Uc de la Bacalaria {A b, 9} und Sen meu amigo manh’eu senlheyra von Juyão Bolseyro {A d, 5}. Dass das alba-Zeitmotiv aber auch in ganz anderen Kontexten eine von dem Erwartungshorizont der morgendlichen Abschiedsklagen unabhängige und genuin positive Bedeutung in der Dichtung entwickeln kann, zeigen schon die mozarabischen khardjas und die chansons popularisantes der Trouvères. Der anbrechende Tag wird hier zum tempus amoris und somit zur Zeit der Liebesbegegnung. Die khardjas, die fragmentarisch überlieferten Schlussverse der hispano-arabischen und hispano-hebräischen strophischen Dichtung (muwashshahs) enthalten einige Hinweise auf eine positive Deutung der Morgenröte.7 Fünf8 der 44 überlieferten khardjas enthalten das Lexem alba.9 Zwar bringt die arabisch-hebräische Transkription des romanischen Wortguts viele Probleme mit sich, sodass der Sinn der khardjas häufig nur auf Hypothesen beruht, doch in vielen Fällen bietet die letzte Strophe der entsprechenden muwashshah nicht nur einen Hinweis auf das Verständnis der volkssprachlichen Schlussverse,10 sie ist sogar nicht selten deren «eigentlicher gedanklicher Ausgangspunkt».11 So findet die Interpretation der mit «Je ne dormirai pas, au rayon du matin, bon Abu’lQasim, la face de l’aube»12 von Stern wiedergegebenen khardja als Versprechen eines morgendlichen Treffens ihre Stütze in der letzte Strophe der von al-Laridi verfassten muwashshah. Hier wird ein junges Mädchen geschildert, das schlaflos und allein die Nacht damit verbringt, Lieder zu singen, die das Verlangen und die Hoffnung zum Ausdruck bringen, den Geliebten bei Tagesanbruch zu sehen. Einen fast identischen Wunsch nach einer morgendlichen Begegnung zeigen auch die Schlussverse einer muwashshah von al-A’ma al-Tutili: «Ma mère chérie, au rayon du matin, bon Abu ’l-HajjƗj, la face de l’aube».13 Diese Anspielungen der khardjas 7

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11 12 13

Zur Poetik dieser Texte, die sich aus dem «Spannungseffekt der Zweisprachigkeit» (Wolf 1979, 7) einerseits und der Differenz zwischen gelehrter Kunstdichtung und der volkssprachlichen affektiven Klimax des Gedichts andererseits ergibt, cf. auch Zink (1995, 33): «Tout rend le contraste extrême entre le poème et cette pointe finale: le changement de langue, de style, de sujet. Mais c’est le contraste qui met en valeur l’à-propos de la citation. Plus la distance entre le poème et sa khardja est grande, plus il a fallu au poète d’ingéniosité et d’esprit pour oser le raccourci d’un rapprochement à la fois pertinent et audacieux». Cf. Stern 1953, Nr. 17, 25, 28, 36a und 36b. Cf. Wilson 1965, 303. Zur einführenden und kommentierenden Funktion der letzten Strophe cf. Stern (1953, XVI): «La dernière strophe du poème, celle qui vient immédiatement avant la kharja, sert à introduire les personnages qui parlent dans celle-ci et la rattache à la partie principale du poème». Lange 2004, 2. Stern 1953, Nr. 36b. Stern 1953, Nr. 36a.

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finden in den iberischen cantigas ihr Pendant, in denen «la cita al amanecer»14 ein essentielles Motiv der poetischen Tradition darstellt, was zum Beispiel Levóus’ louçana, levóus’ a velida von Pero Meogo15 oder das wohl in Anknüpfung daran entstandene Levantou-s’ a velida {A d, 3} von Dom Denis suggerieren. Dass auch in der Trobadorlyrik der frühe Morgen («d’un mati» IV, 1) zur Zeit des joi werden kann, zeigt schon Ab la dolchor del temps novel von Guilhem de Peitieu.16 Ähnlich wird auch in der altfranzösischen Poesie der Morgen (matin) – oder sogar ganz spezifisch der Tagesanbruch (ajournant) – zum Zeitpunkt der tatsächlichen oder erhofften Liebesbegegnung stilisiert,17 wobei das positiv gedeutete Zeitmotiv wiederholt mit der Schilderung eines locus amoenus verbunden wird. Als Beispiel sei das einstrophige Bele Aliz matin leva18 genannt, das nur ein Glied in der Kette der zahlreichen altfranzösischen Aeliz-Strophen bildet, die immer wieder mit dem Zeitmotiv des frühen Morgens einhergehen.19 Das Lied verbindet typische erotisch20 konnotierte Motive der Liebeslyrik (Blumenpflücken, Kranzflechten, Eintritt in den Garten) mit dem alba-Zeitmotiv: Bele Aliz matin leva, sun cors vesti e para, enz un verger s’en entra, cink florettes y truva, un chapelet fet en a, de rose flurie. «Pur Deu, trahez vus en la, vus ki ne amez mie!» (Schöne Aliz stand morgens auf, kleidete und schmückte sich, trat in einen Garten ein, fand dort fünf Blümlein, machte daraus einen Kranz mit blühender Rose. «Bei Gott, begebt euch fort, ihr, die ihr nicht liebt!»)

Einen ganz ähnlichen Ton schlägt das gleichfalls anonym überlieferte Deduxans suis et joliette21 an. Der ausdrückliche Liebeswunsch und die Liebesbereitschaft des jungen Mädchens kommen im Refrain22 zum Ausdruck. Die erste Strophe 14 15 16 17 18 19 20

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Beltran Peipó 2002, 55. Cf. dazu schon Wilson (1965, 300). Brea 21999, II, Nr. 134, 5. Guilhem de Peitieu, Nr. X. Cf. für eine ähnliche Umsetzung des Morgen-Motivs z. B. Chrétien de Troyes: Perceval, v. 5383–5407. Mölk 1989, Nr. 14. Cf. z. B. Main s’est levee Aelis (Bec 1978, Nr. 122) oder Bele Aelis par matin se leva (Bec 1978, Nr. 120). Bei mittelalterlichen Exegeten weckte die Komposition auch Erinnerungen an Sulamith (Canticum Canticorum) und das Bild des hortus conclusus. Mölk (1989, 214) weist auf eine allegorische Deutung hin, die eine lateinische Predigt tradiert. Darin steht Aliz für Maria und die fünf Blumen bedeuten Glaube, Hoffnung, Liebe, Jungfräulichkeit und Demut. Mölk 1989, Nr. 23. Cf. ibid.: «Deduxans suis et joliette,/s’amerai» (Lustig bin ich und fröhlich und deshalb werde ich lieben).

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bietet eine noch deutlichere Umsetzung des positiv gedeuteten Zeitmotivs als im vorhergehenden Lied: Ier matin me levai droit au point dou jour; on vergier mon peire antrai ki iert plains de flours; mon amin plus de cent fois i souhaidai.

(I)

(Gestern Morgen stand ich gerade bei Tagesanbruch auf. In den Garten meines Vaters trat ich ein, der voller Blumen war. Meinen Freund wünschte ich mehr als hundertmal herbei.)

Die Verknüpfung des alba-Zeitmotivs mit dem Motiv der Begegnung und der Liebesthematik taucht, ähnlich wie in der Trobadorlyrik, in den Liedern der Trouvères vornehmlich in Verbindung mit zwei spezifischen Gattungen auf: der pastourelle und der chanson de rencontre. In beiden Genres ist der frühe Morgen festes Element der geschilderten Szenerie.23 So sind «Hui main par un ajornant» und «L’autrier par la matinee» typische Einleitungsverse der pastourelle. In dieser Form erscheinen die Einleitungsphrasen sowohl in konventionellen pastourelles24 als auch in parodistischen Abwandlungen des traditionellen Gattungsschemas, wie zum Beispiel bei Thibaut de Blaison.25 Als Beispiel für die Verwendung des albaZeitmotivs in der chanson de rencontre seien die ersten Verse des anonymen Je me levai ier main matin26 zitiert: Je me levai ier main matin Un pou devant soloil luxant, Si m’an antrai an un jardin, Mes mainches aloie lassant, Et oï an un preit chantant Une sade plaisans brunette

(I, 1–6)

(Ich stand gestern Morgen auf, ein wenig vor Tagesanbruch, und trat in einen Garten ein. Ich schnürte dabei meine Ärmel zu und hörte auf einer Wiese eine anmutige und hübsche Brünette singen.)

Diese Konvention übernehmen auch die pastorelas der galego-portugiesischen Tradition. So ist es in Pelo souto de Crecente von Johan Airas de Santiago27 explizit die alba, die die Liebe weckt:

23 24 25 26 27

Zum typischen Eingang der pastourelle cf. z. B. Frappier (1966, 60). Cf. z. B. Rosenberg/Tischler (1995, Nr. 25), Thibaud de Champagne, Nr. LII oder Paden (1987, Nr. 40, 41, 44, 55, 68. 89, 90, 104, 153, 159). Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 120. Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 37. Brea 21999, I, Nr. 63, 58.

55

E as aves que voavan quando saía l’ alvor, todas d’ amores cantavan pelos ramos d’ arredor; mais non sei tal qu’ i ‘stevesse que en al cuidar podesse senon todo en amor

(II)

(Und die Vögel, die umherflogen, als die Morgenröte hinaufstieg, sangen alle von Liebe, in den Zweigen ringsum, und ich kenne keinen, der, wenn er dort gewesen wäre, nicht von etwas anderem hätte denken können als von Liebe allein.)

Dieses positiv konnotierte Zeitmotiv begegnet in der Trobador- und Trouvèrelyrik zudem als Teil eines weiteren topischen Schemas. Neben Frühlingserwachen, Vogelgesang28 und blühender Natur ist der Tagesanbruch mit dem belebenden und wärmenden Licht der Sonne Teil des typischen Inventars der Natureingänge, die als Parallel- oder Kontrastbilder29 zur Stimmung des lyrischen Ich konstruiert sein können.30 Eine Parallelsituation, in der sich das Bild der erwachenden Natur im Mikrokosmos des Liebenden spiegelt,31 illustriert etwa die Eingangsstrophe der Kanzone Lo fuelhs e·l flors, e·l frugz madurs32 von Peire d’Alvernha, in der neben der blühenden Natur (lo fuelhs e·l flors) und dem Vogelgesang (auzelhos) die Sonne (sols) das Dichten inspiriert. Eine ähnliche Funktion kommt dem sol auch in Ab la dolchor del temps novel33 von Guilhem de Peitieu zu, ähnlich inspiriert in L’autrier m’estoie leveis34 der Tagesanbruch den Dichter zu religiösen Lobgesängen. In La douce voiz du rosignol sauvage von Le Châtelain de Coucy35 ist es wiederum der typische alba-Vogel («rosignol» I, 1), der zur dichterischen Inspirationsquelle wird (I, 4). Spezifischer noch als die Trobadors und Trouvères machen die italienischen Dichter den Tagesanbruch zum Katalysator des Liebesverlangens. So folgen der Vogelgesang und das Liebeshoffen auf den Natureingang der ersten Strophe in

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Der Liebesvogel par excellence ist in der Trobador- und Trouvèrelyrik die Nachtigall. Diese Tradition ist auch in der mittellateinischen Poesie stark verbreitet, wovon die zahlreichen phylomena-Anspielungen zeugen. Cf. z. B. Rediviuo uernat flore I, 5–7 oder Tempvs transit horridum, frigus hyemale 2, 4 (Carmina Burana Nr. 139 und Nr. 150). Zum Natureingang als Kontrastbild cf. z. B. die Kanzonen Quant voi la flor boutoner (Nr. III/I) oder A la douçor de la bele seson (Nr. LIV/I) von Gace Brulé. Die ausdrückliche Betonung, dass die Liebe vom Naturgeschehen unabhängig sei, durchbricht das konventionelle Schema des Topos und ist in der Trobador- und Trouvèrelyrik selten. Sie begegnet z. B. bei Guiraut Riquier (Mölk 1989, Nr. XXVI). Cf. in diesem Zusammenhang den komplexen Natureingang in Belh m’es qu’ieu fass’hueymais un vers von Peire d’Alvernha (Nr. 6): Hier erfolgt die Spiegelung nicht nur von außen nach innen, sondern auch von innen nach außen, wie das lyrische Ich hervorhebt: «si que flurisca e bruelh de fors/so que dedins mi gragelha» (I, 7s.). Peire d’Alvernha, Nr. 16. Guilhem de Peitieu, Nr. X (Str. III). Paden 1987, II, 340. Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 98.

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Quando la primavera,36 in dem die Tageszeit als «la matina agli albore» (I, 4) konkretisiert wird. Analog macht das vielleicht aus der Feder von Percivalle Doria37 stammende Come lo giorno quand’è dal maitino38 den Vergleich zwischen dem anbrechenden Tag und der entstehenden Liebe zum Ausgangspunkt einer Reflexion über die Unbeständigkeit der amore.39 Der Zusammenhang zwischen dem erwachenden Tag und der so entstehenden Liebessehnsucht, die wiederum zum Movens der dichterischen Inspiration40 wird, ist auch Thema der als Frauenmonolog41 realisierten Kanzone Ormai quando flore42 von Rinaldo d’Aquino: quando lo giorno appare sento li dolci amori e li versi novelli

(II, 4ss.)

(Wenn der Tag anbricht, fühle ich die süße Liebe und neue Verse.)

Tagesanbruch, Liebe und dichterische Inspiration bilden in diesen Beispielen kraft der in der Dichtung erschlossenen Analogie eine topische Triade. 3.1.3.

Alva dos alvores: Profane und religiöse Lichtmetaphorik

«Im Anschluß an die Identifizierung des Lichts mit der beseelten Welt entstehen Übertragungen der Leuchtkraft auf die weibliche Schönheit»43 konstatiert ein einschlägiges Lexikon über die Verwendung der Lichtmetaphorik in der Dichtung. In der profanen Lyrik des romanischen Mittelalters bewahrheitet sich diese Aussage erst eindeutig in der Poesie der scuola siciliana, in der die Metapher der stella d’albore oder stella diana44 zum Topos der weiblichen Schönheitsbeschreibung wird. Anders als die mittellateinische Lyrik, in der die besungene Frau immer wieder als stella splendida, lumen luminum oder stella matutina apostrophiert wird,45 zeigt die Liebesdichtung der Trobadors nur wenige Beispiele, in denen die Morgenstern- und Lichtmetaphorik auf die Schönheit der Dame übertragen

36 37 38 39

40

41 42 43 44 45

Di Girolamo 2008, Nr. 25.8. Cf. die Attribution in Segre/Ossola (1999, 91). Di Girolamo 2008, Nr. 21.1. Cf. das Sprichwort in II, 10s.: «che follia lo tira/chi lauda il giorno avanti che sia sira» (Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben.). Ähnlich formuliert es Uc de Saint-Circ in der tenso En vostr’aiz me farai vezer (Uc de Saint-Circ, Nr. XXXV/IV, 6s.). Zur Beziehung zwischen Liebe und Dichtung in der mittelalterlichen Lyrik cf. Zink (1985, 51): «Le poème est condamné à répéter indéfiniment qu’il existe comme poème parce que l’amour existe». Das lyrische Ich stellt sich erst in der vierten Strophe der Kanzone als Frauenstimme heraus, wenn es darin heißt: «sono amata» (IV, 1). Di Girolamo 2008, Nr. 7.10. Daemmrich 21995, 245. Die stella diana, auch Venus oder Luzifer genannt, bezeichnet im Sinne der alba den Stern, der dem Sonnenaufgang vorangeht. Cf. Segre/Ossola 1999, 383. Cf. Carmina Burana, Nr. 77: Si linguis angelicis (VI, 3/VIII, 3/IX, 1).

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wird.46 Ein seltenes und eindrucksvolles Beispiel bietet der einleitende Vergleich der Kanzone Tot atressi con la clartatz del dia47 von Rigaut de Berbezilh: Tot atressi con la clartatz del dia apodera totas altras clartatz, apodera, domna, vostra beltatz e la valors e·l pretz e·ill cortesia al mieu senblan totas celas del mon

(I, 1–5)

(Wie das Tageslicht alles andere Licht besiegt, so übertreffen, meine Dame, Eure Schönheit, Eure Tugend, Euer Wert und Eure Höfischkeit in meinen Augen alle anderen dieser Welt.)

Selten sind auch Beispiele für eine dahin gehend interpretierte Metaphorik in der Dichtung der Trouvères. Eine der wenigen Ausnahmen stellt Compaignon, je sai tel cose48 von Gace Brulé dar. Darin wird dem «clers vis» der Dame (III, 7) mehr Glanz zugebilligt als der «estoille jornaus» (III, 8). Auf anders gelagerte Traditionen lassen ebenfalls die Beispiele der iberischen Lyrik schließen,49 in denen astrale Metaphorik zum konventionellen Repertoire der Liebesdichtung gehört. Dabei kann die alba schon in den hispano-arabischen khardjas sowohl zur Metapher der Geliebten als auch des Geliebten werden. Über das tertium comparationis des Strahlens wird die geliebte Person mit der Morgenröte identifiziert: «Aube belle, dis-moi, d’où viens tu?»50 fragt ein Mädchen seinen Geliebten in den Schlussversen einer Dichtung von Todros Abulfia. Zwei weitere khardjas zeigen ebenfalls die Funktion der alba als Metapher für das strahlende Antlitz des Geliebten, der somit mit der Zeit der Liebe, dem Morgen, eins zu werden scheint.51 In der galego-portugiesischen Tradition ist der Phraseologismus meu lum’ e meu ben52 ein repetitives Element, das als Epitheton des Geliebten fungiert. Neben dieser konventionellen Metaphorik kann in den cantigas auch alva diese Metaphernfunktion erfüllen, da das Lexem im Galego-Portugiesischen eine reiche Semantik zeigt und neben ‘Morgenröte‘ und ‘Tagesanbruch’ auch ‘junge Frau’ oder ‘Jungfrau’ bedeuten kann. In dieser Polyvalenz begegnet alva in den cantigas Levantou-s’ a velida {A d, 3} und De que morredes, filha, a do corpo velido? {A d, 2} von Dom Denis sowie in Levóus’ louçana, levóus’ a velida {A d, 1} von Pero Meogo. Über das tertium comparationis des Strahlens und des Glanzes wird das als Zeitmotiv fungierende alva in diesen cantigas de amigo zum Bild für die Schönheit und Reinheit des jungen Mädchens. 46 47 48 49 50 51 52

Cf. das wohl als senhal gebrauchte Solelha in der cobla esparsa Domna, messatg’ eu sui (Kolsen 1917, 289s.). Rigaut de Barbezieux, Nr. VIII. Gace Brulé, Nr. XXIII. Cf. Wolf 1979, 8. Stern 1953, Nr. 17. Cf. Stern 1953, Nr. 36a/36b. Cf. den Refrainvers von Deus, que leda que m’esta noyte vy (Johan Mendiz de Briteyros, Nr. VII).

58

Zum veritablen Topos aber wird die Lichtmetaphorik erst in der scuola siciliana: angefangen bei Giacomo da Lentini, der in Dolce coninzamento53 die Dame als «stella rilucente/che levi la maitina» (I, 6s.) bezeichnet, über Giacomos Pugliese Lobgesang Ispendïente stella d’albore54 und die Metaphorik «la sullimata stella de l’albore» (II, 4) in Amando con fin core e con speranza55 von Pier della Vigna. In diese Tradition reiht sich der Vergleich zwischen der Schönheit der «amorosa donna fina» (I, 1) und der «stella che levi la dia» (I, 2) bei Rinaldo d’Aquino ein.56 In Anlehnung an die Vorstellung des reinen und reinigenden Lichts leuchtet mit diesem Bild die donna angelica schon in der scuola siciliana auf,57 um schließlich im stil nuovo, besonders in der Lyrik von Guido Guinizzelli58 und Guido Cavalcanti,59 zur Vollendung zu gelangen. Ein beeindruckendes Beispiel der ausgehend vom Bild des Morgensterns entwickelten Lichtmetaphorik bietet das anonyme Sonett Vedut’aggio una stella mattutina,60 das insgesamt um die Metapher des Morgensterns kreist: sowohl in den Quartetten mit dem Lob der Dame als göttliche stella mattutina (v. 1) als auch in den Terzetten, in denen der Zustand des Verliebens im Bild des Entflammens durch den Glanz der äußeren und inneren Schönheit zum Ausdruck kommt: «Ed i’ guardando la stella fu’ preso,/ed infiammato d’amor» (v. 9s.). Die veredelnde Liebe der Trobadors, die purgatio ex amore, wird mit dem Bild des reinigenden und zum Leben erweckenden Liebesfeuers, das die Dame ausstrahlt, in der scuola siciliana zum Topos61 entwickelt, der in vielfachen Variationen auftreten kann. Eine Form der Umsetzung dieser Poetik des Liebeserwachens zeigt die anonyme Kanzone Come per diletanza:62

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Antonelli 2008, Nr. 1.17. Di Girolamo 2008, Nr. 17.8. Di Girolamo 2008, Nr. 10.5. Di Girolamo 2008, Nr. 7.8. Cf. auch die Lichtmetaphorik in Quando la primavera (Di Girolamo 2008, Nr. 25.8; II, 3s.) oder in Non me ne maraviglio, donna fi na eines anonymen poeta siculo-toscano (Coluccia 2008, Nr. 49.34; I, 5s.). Cf. beispielsweise die Gedichte Io voglio del ver la mia donna laudare (v. 3: «più che stella diana splende e pare»), Vedut’ò la lucente stella diana (v. 1ss.: «Vedut’ò la lucente stella diana,/ch’apare anzi che’l giorno rend’ albore,/c’à preso forma di figura umana») oder den analogen Sonnenvergleich in Tegno de folle ’mpres’, a lo ver dire (v. 35s.: «la notte, s’aparisce,/come lo sol di giorno dà splendore»); Segre/Ossola 1999, 379–384. Cf. hierzu z. B. den Sonnenvergleich Avete ’n vo’ li fior e la verdura (v. 3: «risplende più che sol vostra figura»); Segre/Ossola 1999, 397s. Coluccia 2008, Nr. 49.105. Cf. ein ähnliches Bild schon bei Peirol: Coras queǜm fezes doler (Peirol, Nr. XXIV): Qeǜl flama qu’amors noiris m’art la nuoich eǜl dia, per qu’ieu devenc tota via cum fai l’aurs el fuoc plus fis. (III, 5–8) (Denn die Flamme, die durch Liebe genährt ist, verzehrt mich Tag und Nacht, weshalb ich gereinigt werde wie das Gold im Feuer). Coluccia 2008, Nr. 49.21.

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Purificami il core la sua vista amorosa sì come fa la spera del sol la margherita, che già nonn·à splendore, ned è vertudïosa infin che la lumera del sol no·ll’à ferita;

(II, 1–8)

(Ihr lieblicher Blick macht mein Herz rein, so wie es der Sonnenstrahl mit dem Edelstein tut, der keinen Glanz und keine Kraft mehr hat, bis ihn das Licht der Sonne trifft.)

«Feruto esendo/del suo chiaro sguardare» (II, 9s.), getroffen durch den hellen Blick seiner Dame, der dem Glanz des untergehenden Morgensterns gleicht («che par che luce espanda/com’ a la randa del giorno la stella» (II, 11s.), erhält der Liebende vom reinigenden Strahl der Liebe neue Lebenskräfte.63 Neben dem Morgenstern spielt auch die Sonne eine essentielle Funktion in der italienischen Lichtmetaphorik. Ähnlich wie bei der stella matutina schöpft die poetische Sprache hier aus dem Vergleich. So erscheint der geliebte Mann in einem anonymen italienischen Frauenlied als «una lucie […],/ch’è più chiara che’l sole» (IV, 7s.) 64 und in Giacomos da Lentini Lobgesang Madonna à ’n sé vertute con valore65 wird die besungene Dame zur Lichtgestalt,66 die sogar mit der Sonne konkurrieren kann: Più luce sua beltate e dà sprendore che non fa ’l sole né null’autra cosa

(I, 5s.)

(Mehr strahlt ihre Schönheit und verbreitet mehr Glanz als es die Sonne oder etwas anderes tut.)

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Zur Analogie zwischen dem wärmenden Sonnenlicht und der wachsenden Liebe cf. auch die Terzette von Se non si move d’ogni parte amore von Maestro Francesco (Coluccia 2008, Nr. 42.3). Mölk 1989, Nr. 33 (Anonym: Part’io mi chavalcava). Antonelli 2008, Nr. 1.36. Die beinahe zum Cliché erstarrte Licht-Metaphorik der italienischen Dichtung fand schon im 13. Jh. parodisierende Gegenstimmen in den zum Teil stark misogynen Liedern der poeti giocosi. So wird vermutlich in Anspielung an die Tageliedsituation einerseits und an die unfehlbare leuchtende donna der Sizilianer andererseits in dem anonymen Quando mie donn’ esce la man del letto (Segre/Ossola 1999, 463) die Dame im Morgenlicht sarkastisch in ihrer Kreatürlichkeit präsentiert. Die enthüllende Sonne bietet hier die Kehrseite der in der scuola siciliana gefeierten Superlative: Quando mie donn’ esce la man del letto, che non n’ha post’ancor del fattibello, non ha nel mondo sí·llaido vasello che lungo lei non paresse un diletto, così ha ’l viso di bellezze netto (v. 1–5) (Wenn meine Dame am Morgen aus dem Bett steigt und noch keine Schminke aufgetragen hat, gibt es in der Welt keinen so hässlichen Körper, der im Vergleich zu ihr, nicht wie ein Vergnügen schiene, so entbehrt ihr Gesicht jeglicher Schönheit).

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Das Strahlen der Geliebten, das jeden anderen Glanz übertrifft (IV, 1–3), macht die Dame zur Auserwählten, zur Inkarnation der einen, beinahe sakralen Liebe, wie es ein anonymer poeta siculo-toscano in den Terzetten seines Sonetts Considerando che Divino Amore67 zum Ausdruck bringt: Che fate sì·ccome ’l sole che appare, che cela claritat’e su’ splendore a tutte stelle ed a·cchi più dà spera: così, bella, poi ch’a Natura pare, a tutte donne celate ’l bellore, quando fra·lloro appar vostra lumera. (Ihr verhaltet Euch wie die Sonne, die erscheint und den Glanz und hellen Schein allen Gestirnen und allem, das mehr strahlt, nimmt: So, Schöne, wie es der Natur gefällt, nehmt Ihr allen Frauen die Schönheit, wenn unter ihnen Euer Licht erscheint.)

Diese Überbietungstopik, in der die Dame zum transzendenten Lichtwesen erhoben wird und als summum bonum sowohl die äußere als auch die innere Schönheit inkarniert, erlaubt Interferenzen zwischen dem profanen und dem religiösen Register, wie beispielsweise die Lauden Jacopones da Todi deutlich zeigen. Darin wird die Muttergottes, die luce divina (v. 5), in ähnlicher Weise gepriesen wie die donna der Sizilianer: als altissima luce (v. 1) oder stella marina (v. 3).68 Solche Interferenzen durchziehen bereits die Lieder der Trobadors: Schon die alba-Motivik bei Guiraut de Bornelh {A b, 7} ist nämlich «charged with the sacred».69 Und gerade diese Überschneidungen verleihen Reis glorios {A b, 7} seinen besonderen Reiz.70 Etwa gegen 1250, wahrscheinlich unter dominikanischem Einfluss und zur Zeit der zunehmenden Marienverehrung,71 wird die religiöse alba-Metaphorik in der Trobadordichtung zum lieu commun. In Anknüpfung an die christliche Lichtsymbolik wird die alba darin zum Bild für die Präsenz Gottes und ausgehend von der in der Bibel72 mehrfach formulierten Dringlichkeit der inneren Umkehr wird die freudevolle Begrüßung des Tages in religiösen Trobadorliedern zur Metapher für die Zuwendung zu Gott,73 der Licht ist und andere Licht werden lassen kann. Wie der Liebende in der Dichtung der scuola siciliana durch das Licht, das die Dame ausstrahlt, gereinigt wird, wird der Gläubige durch das Gotteslicht geläutert und

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Coluccia 2008, Nr. 49.102. Jacopone da Todi: Altissima luce col grande splendore (Segre/Ossola 1999, 324–326, hier: 324) Sigal 1996, 10. Cf. auch Riquer (1980, 344): «Die offensichtlich an der Liturgie inspirierten Elemente erhöhen den Reiz des Gedichtes durch die Unbestimmtheit, die sie ihm verleihen». Cf. Beloiu-Wehn 1989, 123. Cf. Eph (5, 12–14) oder Röm (13, 12). Das so gedeutete alba-Motiv kann dabei zwischen genuin christlicher Symbolik und bewusstem Kontrast zur negativ konnotierten alba-Motivik der Liebeslyrik oszillieren. Ein bewusstes Spiel mit dem negativ konnotierten alba-Motiv zeigt zum Beispiel Axi com cel c’anan erra la via (Chaguinian 2008, 337s.) von Cerveri de Girona.

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wird so selbst zur alba.74 In ihrer typischen Form erscheint die alba in religiösen Liedern der Trobadors aber als Metapher für die Jungfrau Maria. So wird die Muttergottes in Esperanza de totz ferms esperans von Guilhem d’Autpol75 als «de paradis lums e clardatz e alba» (I, 11) apostrophiert, in Vers Dieus, e·l vostre nom von Falquet de Romans76 wird die Gleichsetzung von «sancta Maria» (I, 1) und «estela del dia» (I, 2) schon in den ersten Versen angekündigt. In Lo pair’e·l filh e·l sant espirital von Bernart de Venzac77 erscheint Maria unter der Periphrase «belh’estela d’orien» (VI, 1–3) und in Qui velha ses plazer bei Guiraut Riquier78 wird sie, die «estela de mar» (III, 6), zum «lums de tota bontat» (III, 8) und zur «veraya clartat» (I, 11), die den bekehrten Sündern symbolisch einen neuen Tag verkündet, wie es im Refrain heißt: «Selha qu’a peccadors/Vius penedens es alba». Seltener ist die Identifizierung Jesu mit der Morgenröte,79 wie sie beispielsweise bei Guilhem d’Autpol80 erscheint, der das leuchtende Antlitz Christi («cara resplanden» V, 10) mit der alba assoziiert. Ähnlich wird in Bernarts de Venzac81 Lied der Wunsch geäußert, Jesus, «lo filh reyna pia» (II, 4), der Sohn der frommen Königin, möge den Gläubigen zur «clardat e alba» (II, 7) werden. In Anlehnung an die biblische Selbstcharakterisierung Christi als lux mundi82 begegnet in der Trobadorlyrik aber häufiger die Vorstellung von Jesus als ‘Tag’ oder ‘Tageslicht’, das auf die Morgendämmerung folgt: «[…] que·l jorn ven apres l’alba» (VII, 3) heißt es bei Guilhem d’Autpol83 – vermutlich in direkter Anlehnung an die Refrainverse «qu’ieu vey lo jorn venir/Apres l’alba» von Bertran d’Alamanon {A b, 12}. Dieses Bild kennt auch schon das wohl zwischen 1220 und 123084 entstandene

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Cf. Lo pair’e·l filh e·l sant espirital von Bernart de Venzac (I, 5ss.) (Chaguinian 2008, 264s.) Chaguinian 2008, 291s. Chaguinian 2008, 276ss. Chaguinian 2008, 264s. Chaguinian (2008, 260) – wie schon vor ihm Picchio-Simonelli (1974, 179–183) – zweifelt die Autorschaft von Bernart de Venzac an, da der Stil der Komposition von dem der anderen von Bernart überlieferten Lieder abweicht und die Gattung des religiösen Tagelieds zu dieser frühen Zeit ein isolierter Beleg wäre. So optiert Chaguinian (2008, 257/262) für ein anonymes Werk des 13. Jh.s. Zur Kritik an dieser Schlussfolgerung cf. Squillacioti (2009, 448s.). Chaguinian 2008, 327ss. Chaguinian notiert hier Qyi velha ses plazer. Zur Kritik an dieser Lesart des Incipits cf. Squillacioti (2009, 449): «non si tratta di y, bensí di u maiuscola, graficamente v, che segue la capitale ornata nel ms. C». Anzumerken ist an dieser Stelle, dass die Metapher der «stella splendida et matutina» (Apo 22, 16) durchaus in der Vulgata als Selbstcharakterisierung der Figur Christi erscheint. Chaguinian 2008, 291s. Chaguinian 2008, 264s. Cf. z. B. die folgende Vulgata-Stelle aus dem Johannes-Evangelium (Io 8, 12): «ego sum lux mundi/qui sequitur me/non ambulabit in tenebris/sed habebit lucem vitae» (Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in die Finsternis fahren, sondern wird das Licht des Lebens haben). Chaguinian 2008, 291s. Zur Datierung cf. Peire Cardenal, 234.

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Lied Vera vergena Maria85 von Peire Cardenal, in dessen zweiter cobla (II, 5s.) die folgende Apostrophe erscheint: E tu iest l’alba del dia Don lo tieus filhs solelhs es (II, 5s.) (Und du bist die Morgenröte, die dem Tag vorangeht und dessen Sohn die Sonne ist.)

Auch der Einfluss des Canticum Canticorum (6, 10) 86 wäre hier denkbar. Ganz deutlich wird die Analogie alba – jorn und Maria – Jesus in der canso Or levas sus, franca cortoiza gan von Peire Espanhol87 herausgearbeitet und explizit erläutert. So wird in der ersten cobla die «franca cortoiza gan» (I, 1) zum Aufwachen aufgefordert, weil der Tag von der Morgenröte bereits herbeigeführt wird (I, 3s.). Die zweite Strophe bietet die Auflösung der Metaphorik: Le jors est Dieus, li aus omipotan, Qui vinc an charn, don le mond alumet E l’auba est don sest jors fu naissanz, La reyna mere de piatet

(II, 1–4)

(Der Tag ist Gott, der hohe Allmächtige, der als Mensch kam, weshalb die Welt heller wurde, und die Morgenröte ist das, woraus der Tag geboren wurde, die Königin, Mutter der Barmherzigkeit.)

Maria ist diejenige, die den hellen Tag, und somit die Erlösung verheißt und sie ist zugleich das Medium zwischen Gott und der Menschheit, denn «pres est del jors qui a ab sos sest’auba» (II, 7). Anders als in der altfranzösischen Lyrik, in der religiöse Umdeutungen dieser Art fehlen, entdeckt man in Virgen Madre groriosa von Alfonso X. (RA 7), ein analoges Bild: «Nel processo di riscrittura ‘a lo divino’ dell’alba profana, il re sapiente riprende anche il mot-refranh del modello occitanico per attribuirgli tutt’altro significato che quello originario».88

Alfonso gestaltet seine Komposition als litaneiartige Anbetung Marias als alva, wobei jeweils der erste Vers jeder Strophe mit «Tu es alva» beginnt und der jeweils letzte mit dem Schlüssel- und Reimwort alva endet. Maria, als «alva dos alvores» (II, 1), ist wie schon in der okzitanischen Lyrik der Weg der Menschen zum wahren Licht Gottes: Ca Deus que é lum’ e dia, segund’ a nossa natura

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Peire Cardenal, Nr. XXXVIII. «Quae est ista, quae procedit quasi aurora consurgens?» (Wer ist jene, die der Morgenröte gleich vorangeht?) Chaguinian 2008, 320s. Barbieri 2006, 160s.

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non viramos sa figura senon por ti, que fust’ alva.

(I, 7–10)

(Denn Gott, der Licht und Tag ist, könnten wir, so wie wir geschaffen sind, nicht ins Angesicht sehen, wenn nicht durch dich, die du die Morgenröte warst.)

Wie schon die profane Variante speist sich die religiöse alba-Motivik aus der Tag-Nacht-Dichotomie. Während das Licht auf Gott hinweist,89 wird die Nacht, die «bereits im Mittelalter mit der menschlichen Verfehlung und der teuflischen Versuchung verknüpft»90 wird, zum Bild der ewigen Verdammung,91 vor der die Gläubigen sicher sein können, wenn die Muttergottes (alba) naht.92

3.2. Somni als Motiv Will man sich dem Traummotiv in allen Ausprägungen nähern, so muss man das lexikalische Feld erschließen, das der somni evoziert. Dazu zählen neben den diversen Traumformen auch der Schlaf,93 die unterschiedlichen Zustände, die sich zwischen Schlafen und Wachen bewegen, und insbesondere das Zeitmotiv der Nacht. Mit der Frage, welche Bedeutung die Nacht für die Kultur des Mittelalters gespielt hat und wie die ambivalente Beurteilung der Nacht, die sich in der Polarstruktur des somni-Motivs widerspiegelt, zu erklären ist, beschäftigt sich Verdon in seiner Untersuchung La nuit au Moyen Age. In einer Zeit, so Verdon, in der sich der Tagesrhythmus nach dem Tag-Nacht-Wechsel richtete und so weitgehend die Aktivitäts- und Ruheperioden der Menschen bestimmte, bedeutete die Nacht – neben der nicht nur durch die Omnipräsenz biblischer Deutungsmuster mit der Dunkelheit assoziierten Bedrohung – auch Ruhe und Erholung von der Mühsal des Arbeitstages. Verdon betont aber auch die Funktion der Nacht als Gegenwelt zur vorherrschenden Moral der Zeit und weist auf die in der mittelalterlichen Lyrik typische Verknüpfung des Nacht-Motivs mit erotischer Thematik, die er primär als «transgression des normes prônées par l’Église sur le plan moral»94 versteht. Als Motiv tritt der somni in der romanischen Lyrik vor allem in Verbindung mit der Liebesthematik und in zwei Ausprägungen auf: als Liebestraum

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Spätestens mit den Schriften des Augustinus erhält die christlich gedeutete Lichtmetaphysik, die in der Bibel gründet, feste Konturen. Gott als lucifica lux, geschaffenes Licht und dessen Ursprung zugleich, zeugt seinen Sohn als ihm gleichwertiges Licht, der Wesen und Medium zugleich ist (cf. Ritter/Gründer V, 284). Daemmrich 21995, 260. Cf. z. B. Bernart de Venzac: Lo pair’e·l filh e·l sant espirital (IV, 6) (Chaguinian 2008, 264s.). Cf. die dritte cobla von Peires Espanhol Or levas sus, franca cortoiza gan (Chaguinian 2008, 320s.). Das Lexem somni kann sowohl den Traum als den Schlaf bezeichnen. Cf. LexRom (V, 258s.). Cf. dazu auch den Beitrag von Schalk (1966). Verdon 21998, 53.

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(songe érotique) oder als Zustand zwischen Wachen und Schlaf, der in die Nähe intensiver Reflexion oder innerer Kontemplation rücken kann (consirar). Sowohl in seiner Realisierung als songe érotique als auch als consirar zeigt das Motiv eine ausgeprägte Polarstruktur. Der Traum kann beglücken, da er dem Liebenden den höchsten joi schenkt, doch er bedeutet zugleich Desillusion, wenn nach dem Erwachen das Realitätsprinzip über das Wunschprinzip siegt. Ähnlich bewegt sich das consirar zwischen schmerzvoller Entsagung, die zur Liebeskrankheit werden kann, und der Ableitung schöpferischer Energien aus dem nächtlichen Wachen und den Erinnerungsbildern.95 Folgende Realisierungsmöglichkeiten der somniMotivik sind in der romanischen Lyrik im Wesentlichen zu beobachten: Basis: 1) Liebesthematik 2) Realitätsprinzip vs. Wunschprinzip songe érotique

consirar

a) positiv Traum

b) negativ Erwachen

a) positiv

Erfüllung des joi

Verlust des joi

dichterische Inspiration

b) negativ Reflexion Liebesleid

Auf die Verknüpfung und Nähe der beiden Motivausprägungen weist das lateinische Lexem insomnium hin, das im Singular den (Liebes-)Traum bezeichnet und im Plural (insomnia) den «état, le plus souvent maladif, de la veille nocturne»96 zum Ausdruck bringt. Nicht selten überschneiden sich beide Schemata und treten in variierbaren Verbindungen auf. 3.2.1.

Die Erfüllung des joi im songe érotique

Von der heilenden Wirkung des Schlafs handeln einige mittellateinische Gedichte. Sie beschreiben nach Art der im Mittelalter verbreiteten medizinischen Traktate die sukzessive Erschlaffung der Glieder, das Hinübergleiten in den Zustand der Ruhe und das Nachlassen der körperlichen Aktivität als Wohltat. Die Entspannung des Körpers führt zur Bündelung der seelischen Kräfte, wie der anonyme Dichter in Dvm Curata uegetarem {S a, 2} betont. Die Vorstellung vom wohltuenden Schlaf kennt berühmte antike Vorbilder, so erscheint der somnus als pax animi schon in den Metamorphosen (XI, 624) Ovids. Der Schlaf als Zustand der vollkommenen Entspannung wird sogar bisweilen in einem Atemzug mit der Liebe genannt, so auch in Dum Diane uitrea:97

95 96 97

Cf. ähnliche Überlegungen in Bezug auf die Melancholie bei Zeiner (2006, 43). Foehr-Janssens 2007, 126. Carmina Burana, Nr. 62/III.

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O quam felix est antidotum soporis, quod curarum tempestates sedat et doloris! dum surrepit clausis oculorum poris, ipsum gaudio equiperat dulcedini amoris.

(III)

(Oh, wie glückselig ist das Heilmittel des Schlafs, das die Stürme der Sorgen stillt und die des Schmerzes! Wenn es in die geschlossenen Kanäle der Augen schleicht, kommt es mit seiner Wonne selbst der Süße der Liebe gleich.)

Dabei gebührt trotz der Analogie eindeutig der Liebe der Vorzug, denn süßer noch als der «transitus/amoris ad soporem» (5, 5s.) ist der umgekehrte Weg: die Rückkehr zur Liebe («regressus ad amorem» 5, 8). Die Nacht kann in zweifacher Weise zum tempus amoris werden: als Zeit der tatsächlichen Liebesfreuden und als Spenderin des erträumten joi. Zwar schlafen diejenigen, die sich lieben, sanft («Ki s’antrainment/soweif dorment»98), doch erscheint der Schlaf in der Regel als Zeitverlust, wenn die Liebenden in der Nacht zusammen sind. Die Zeit, in der man schläft, ist eine verlorene Zeit: «pero dormir tempo perdud é» (III, 3), schreibt Johan Airas de Santiago in O meu amigo forçad’ é d’Amor.99 Die Nacht ermöglicht nämlich Liebesfreuden und so wie sich das lyrische Ich in Hebet Sydus leti uisus100 das nächtliche Liebesspiel in seiner Erinnerung vergegenwärtigt, so brennt der Liebende in Ab la genser que sia {A b, 2} die Küsse, die er zwischen Schlafen und Wachen empfängt, in seine memoria ein: Mentre qu’ieu mi jazia, En sobinas m’adormia, Un dous baizar mi tendia, Tan plazenmen Qu’enquer lo·m sen E faray a ma via.

(II)

(Während ich so lag, schlief ich auf dem Rücken ein und sie gab mir so bezaubernd einen süßen Kuss, dass ich ihn immer noch spüre und es mein Leben lang tun werde.)

Der jenseits aller realen Zeit situierte Wunsch nach Verlängerung der Nacht, der schon bei Ovid101 begegnet, wird in diesem Kontext zum Topos der Liebeslyrik. In Entre moi et mon amin {A c, 3} lautet dieser Wunsch programmatisch: «Adonc vocexiens nous lai/Ke celle nuit durest sant» (II, 6s.). Und sogar Gott wird gebeten, in seine Schöpfung zugunsten der Liebenden einzugreifen, wenn in Gaite de la tor {A c, 4} der folgende Appell erklingt:

98 99 100 101

Anonym: Lou samedi a soir fat la semainne (Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 8). Brea 21999, I, Nr. 63, 45. Carmina Burana, Nr. 169/III, 5s. Cf. Amores, I. 13, v. 1–9. Zur Rezeption der Amores cf. Küsters (1989, 352/Anm. 26): «Daß der Text in Früh- und Hochma. rezipiert wurde, belegt die handschriftliche Überlieferung der Amores: Die 4 Leithandschriften stammen alle aus dem 9.–11. Jhdt; weitere Hss. aus dem 12.–13. Jhdt».

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Se salve l’onor Au Criator Estoit, tot tens voudroie Nuit feïst del jor

(VII, 1–4)

(Wäre die Ehre des Schöpfers unversehrt, dann wünschte ich, er würde jederzeit Nacht aus dem Tag machen.)

Genauso wie die Liebenden den Wunsch nach einer endlosen Nacht äußern, verlangt das lyrische Ich im Kontext der songes érotiques nach der Fortdauer des imaginierten joi. So möchte der Träumende in Aissi cum cel c’am’ e non es amaz102 von Arnaut de Mareuil ein ganzes Jahr lang das Traumglück leben – «per qu’eu volgra aissi dormir un an» (V, 7) – und in Domna, eu pren comjat de vos103 von Falquet de Romans soll der Augenblick des joi am liebsten gleich verewigt werden: q’eu volria toç temps dormir, q’en sonjan vos pogues tenir

(v. 29s.)

(Denn ich möchte die ganze Zeit schlafen, damit ich Euch im Traum halten kann.)

Das Motiv des songe érotique wird dabei in den Liebesliedern in der Regel als Zwischenglied in Liebesklagen über unerwiderte oder unmögliche Liebe eingebettet, um den Kontrast zwischen Wunsch und Realität stärker hervorzuheben. Es kann auf zwei Verse reduziert sein oder mehrere coblas umfassen. Häufig speisen sich solche Liebesträume aus den Ängsten oder Wünschen des lyrischen Ich. Als Trost und Surrogat für die Entbehrungen der Realität – und somit auch als Wunscherfüllung – wird das Motiv beispielsweise in der mittellateinischen Lyrik entwickelt, so auch in Si linguis angelicis.104 In der okzitanischen Dichtung entfaltet schon Jaufre Rudel in seiner «poésie d’amour rêveuse»105 das konventionelle Schema der trobadoresken Traumszenerien. So erreicht das lyrische Ich, das in Pro ai del chan essenhadors106 als Inbegriff des mal-aimé auftritt (v. 6), die Überwindung der faktischen Distanz zum besungenen Ideal in der Sphäre des Traums, wobei nur die Seele (esperitz107) des Liebenden bei der Dame weilt und der Traum ganz nach platonischem Muster als Trennung zwischen Körper und Seele gedeutet wird:108 Et en dormen sotz cobertors Es lai ab lieis mos esperitz; (V, 3s.) (Und wenn ich unter der Decke schlafe, ist meine Seele dort bei ihr.) 102 103 104 105 106 107

108

Arnaut de Mareuil a), Nr. IX. Falquet de Romans, Nr. XIV. Carmina Burana Nr. 77/XXI. Spitzer 1944, 26. Jaufre Rudel, Nr. III. PetDic, 171a: «esperit, espirt: esprit; âme; sentiments». Anzumerken sei hier, dass die Begriffe cors (Herz/Körper) und esperitz (Geist/Seele) in der Poesie von Jaufre Rudel weitgehend austauschbar sind (cf. Söffner 2009, 63). Cf. dazu auch Tertullian (De anima 44, 1–3).

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Diese wahrscheinlich an das «ego dormio et cor meum vigilat» des Canticum Canticorum (5, 2) angelehnte Formel wird in der Trobadorlyrik zum topischen Schema.109 So leitet beispielsweise auch in Domna, eu pren comjat de vos110 von Falquet de Romans eine entsprechende Phrase die Traumbegegnung ein: «Qe la nueit, qan soi endurmiz,/s’en vai a vos mos esperiz» (v. 21s.). Die Verbindung des Konzepts der amor de lonh mit der Traumthematik bietet unterschiedliche Realisierungsmöglichkeiten. Eine originelle Variation des Schemas zeigt die Einbettung der Motive in die Kreuzzugsthematik in Al cor m’è nato e prende uno disio111 von Jacopo d’Aquino, worin die Fernliebe als faktische geographische Distanz begriffen wird. Obwohl die Geliebte fern ist, «lontano in altra parte» (III, 1), fühlt sich das lyrische Ich durch die Gewissheit der gegenseitigen Liebe gestärkt (III, 2) und projiziert die Dame in seine Träume: «perzò m’avene ca, s’io sogno, la veo»112 (III, 5), in denen die nächtlichen Visionen beinahe reale Konturen anzunehmen scheinen. In der Poesie der langue d’oc tritt das Motiv des songe érotique vor allem in den konventionellen Gattungsformen canso und salut d’amor113 auf.114 Die Umsetzung des somni-Motivs kann sich zwischen rein mentaler Nähe und offener Erotik bewegen. Die von Jaufre Rudel entwickelte Variante, die zwar erotisch aufgeladen sein kann, aber in der Regel keine körperliche Begegnung beinhaltet, basiert auf der Grundidee der Potenzierung des Verlangens durch die Distanz.115 Gewiss hängt dieses Motiv mit dem von Jaufre entwickelten und schon in der arabischen Lyrik kultivierten116 Konzept der amor de lonh zusammen,117 worauf

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Das im Mittelalter viel kommentierte Canticum Canticorum, «das seit dem 11. Jahrhundert durch Übersetzung in die Vulgärsprachen» (Szövérffy 1970, 47) zusätzliche Verbreitung fand, wurde besonders seit dem 12. Jh. zur Inspirationsquelle der Lyrik: «The Song of Songs had always been familiar; but now fort he fi rst time poets were using it to make more fully articulate some of the heights of human emotions» (Dronke 21968, 271). Falquet de Romans, Nr. XIV. Di Girolamo 2008, Nr. 12.1. Übers.: Deshalb widerfährt mir, dass ich sie sehe, wenn ich träume. Nach Bec (Arnaut de Mareuil, 68) sind die «descriptio puellae, le rêve et les amants célèbres» die drei zentralen Motive des trobadoresken Liebesbriefs. Cf. auch einen ähnlichen Kommentar bei Parducci (1941, 103ss.). Diese Feststellung widerspricht der bisweilen geäußerten Meinung, das Traummotiv sei zwar für den Liebesbrief charakteristisch, für die canso aber äußerst selten und untypisch. So spricht Leube-Fey in ihrer Dissertation vom «Fehlen dieses Motivs in den Kanzonen» (1971, 109/Anm. 14), benennt nur vier Trobadorkanzonen, die das Traummotiv enthalten, und reserviert darüber hinaus das Motiv ausdrücklich für die Gattung des Liebesbriefs. Zur Aufhebung der «distance – affective et spatiale – qui sépare le poète de la dame» im fiktiven Raum der Traumbegegnung cf. Braet (1974, 97). Cf. Croix 22003, 58. Cf. auch die These von Regueiro-Diehl (1993, 199), die von der «probabilité de l’influence arabe dans le cas du rêve d’amour» spricht und dabei auf Das Halsband der Taube von Ibn Hazm verweist, in dem sowohl das Konzept der amor de lonh als auch Liebesträume behandelt werden.

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schon Spitzer118 explizit hinweist. Die Idee der amor de lonh ist in der Trobadorund Trouvèrelyrik ein essentielles Element der fin’amor und wird immer wieder formuliert, so bei Aimeric de Belenoi in No·m laissa ni·m vol retener,119 wenn das lyrische Ich konstatiert: «plus m’en luenh plus la dezir»120 (III, 2). Eine ähnliche Formel begegnet in der Chançon legiere a chanter von Raoul de Soissons: Car quant plus vos sui lointains, Plus vos est mes cuers prouchains

(IV, 4s.)121

(Je weiter ich von Euch entfernt bin, desto näher ist Euch mein Herz.)

Und auch die Dichter der scuola siciliana ästhetisieren immer wieder diesen Gedanken der Intensivierung des Verlangens durch die Distanz. Trotz körperlicher Abwesenheit ist die Dame stets in Gedanken und Träumen des Liebenden präsent, so auch in Quando la primavera:122 Lo suo dolze sembiante e l’amorosa cera tutor mi sta davante la matina e la sera; e la notte dormendo sto co madonna mia

(III, 1–6)

(Ihre angenehme Erscheinung und das liebreizende Gesicht habe ich stets vor mir, am Morgen und am Abend. Und in der Nacht, wenn ich schlafe, bin ich mit meiner Dame zusammen.)

In der Regel geht aber der erotische Traum über die Idee der platonischen unio hinaus, sodass die Dame dem Liebenden unter dem Deckmantel des Traums eine Umarmung oder einen Kuss gewährt und zur Spenderin des joi stilisiert wird – auffällig ist dabei die Beschränkung der Traumszenerien auf nonverbale Akte.123 Die Funktion des Traums wird in der Regel als Surrogat oder Ausdruck der Hoffnung gedeutet. Bilder dieser Art durchziehen die volkssprachliche Lyrik der Trobadors, der Trouvères und der italienischen Dichtung des Duecento, begegnen

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Spitzer 1944, 27: «Car, en effet, le motif de l’amour lointain n’est pas sans rapport avec le motif du rêve amoureux: les deux ont en commun les couples de notions contradictoires ‘réalité’ et ‘irréalité’, ‘être’ et ‘non-être’, ‘quelque chose’ et ‘rien’ […] L’amour lointain doit être une dérivation et variante de l’idée du songe, appelée à exprimer un amour qui ‘possède en ne possédant pas’ et oscillant entre la réalité et l’irréalité». Aimeric de Belenoi, Nr. 2. Übers.: Je weiter ich mich von ihr entferne, desto mehr begehre ich sie. Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 154. Di Girolamo 2008, Nr. 25.8. Nur wenige Exempel weichen von dieser Konvention ab. Als Beispiel sei hier das anonyme Pou set de bien, qui ne se puet tenir (Beck 1927, vol. II, Nr. 168) angeführt, in dem das lyrische Ich betont, dass es in seinen Träumen mit der Dame spricht: «car en dormant me plait a li parler» (IV, 27) (denn im Traum gefällt es mir, mit ihr zu sprechen).

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aber in dieser expliziten Erotik nicht in den galego-portugiesischen cantigas,124 was mit den thematischen Grenzen dieser Poesie zu erklären ist.125 In der Trobadorlyrik weisen erotische Träume ein typisches lexikalisches Inventar mit Schlüsselbegriffen wie joc, joi, ric jausimen und den erotisch konnotierten Verben tener, jazer und jauzir auf. Zusätzlich tritt die explizite Benennung bestimmter Körperteile hinzu. Dass mas nudas oder bratz in diesem Kontext häufig genannt werden, ist nicht verwunderlich, da «entblößte Arme im Mittelalter von großem erotischen Reiz waren».126 So lautet die tornada von Estat aurai estas doas sazos127 von Guilhem de Saint Didier: Lo majer jois qu’anc en mon cor sentic Fon en durmens q’ieu somnhava un ser Que·m laissava sas mas nudas tener. (VII, 1–3) (Die größte Freude, die ich jemals in meinem Herzen verspürte, empfand ich, als ich schlief und eines Abends träumte, dass sie mich ihre nackten Hände halten ließ.)

Die erotische Konnotation des Verbs tener wird auch in Aram pot ma domna saber128 des Monge de Montaudon deutlich: Hier kleidet das lyrische Ich seinen Wunsch nach körperlichem joi in die Formel «Qu’eu tenc vas vos, dompna» (V, 8). Verbunden mit der seit Jaufre Rudel typisierten Einleitungsphrase zeigt auch die fünfte cobla von Be·m cuidava d’amor gardar129 von Rigaut de Berbezilh eine mit dem typischen lexikalischen Inventar besetzte erotische Traumszene: e la nueg, quant eu cug dormir, l’esperitz vai s’ab lei jazer, entre mos bratz la cug tener e del joi c’ai planc e sospir; d’aitan en dei midonz grazir c’al cor m’estai maitin e ser.

(V, 5–10)

(Nachts, wenn ich zu schlafen glaube, geht meine Seele zu ihr, um nah bei ihr zu liegen. Ich stelle mir vor, sie in meinen Armen zu halten und ich weine und seufze vor 124

125

126 127 128 129

Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass diese Feststellung nur auf die cantigas de amor und die cantigas de amigo, nicht aber auf die cantigas de escarnio zutrifft, in denen das Verb dormir immer wieder als Euphemismus für den Liebesakt gebraucht wird. Cf. z. B. Brea (2006, 370–373). Snow 1995, 275. Zum Fehlen des erotischen Traums in den cantigas cf. auch RegueiroDiehl (1993, 205s.): «L’explication de ce fait surprenant est assez logique: les caractéristiques du rêve d’amour provençal n’avaient pas de place dans le système conceptuel des ‘cantigas d’amor’, genre où les poètes, en général, se bornent à un ensemble d’abstractions pour se plaindre de l’indifférence ou du refus de la femme aimée […]. Même les ‘cantigas [d’amigo]’ qui, sans doute, imitent des modèles français, notamment les pastourelles, affichent une retenue, une innocence, une ingénuité que les exemples français ignorent». Backes 22003, 240. Guillem de Saint Didier, Nr. VIII: Estat aurai estas doas sazos. Monge de Montaudon, Nr. 14. Rigaut de Berbezilh, Nr. IV.

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Freude. Daher muss ich meiner Dame so sehr danken, dass sie in meinem Herzen Tag und Nacht weilt.)

Lebendiger und fern der statischen Umarmung gestaltet Peire d’Alvernha in der Romanze Rossinhol, en son repaire130 die Traumszenerie aus der Frauenperspektive: Que tan l’am de bon coratge, c’ades soi, entre dormis, ab lui e ai en guidonatge ioc e ioi e gaug e ris; e·l solatz c’ai en patz no sap creatura, tan quan jatz e mos bratz, tro que·s trasfigura. (IX) (Denn ich liebe ihn so sehr mit aufrichtigem Herzen, sodass ich, wenn ich eingeschlafen bin, bei ihm in sicherem Schutz, Liebesspiel, Liebesfreude und Lachen genieße. Und von dem Glück, das mir in Ruhe zuteilwird, wenn er in meinen Armen schläft, bis er sich verwandelt, weiß niemand.)

Nicht die Fixierung einer Umarmung, in der die Figuren des Traums bewegungslos verbleiben, und auch nicht der wie in einer filmischen Großaufnahme festgehaltene Kuss prägen die Szenerie. Vielmehr bietet uns diese cobla ein buntes und bewegtes Tableau aus joc, joi, gaug, ris und solatz (III, 4s).131 Diese sprachlich evozierte Interaktion zwischen domna und cavalier, die beiden Figuren eine lebendige Präsenz verleiht, kulminiert im letzten kontrastiven Bild der Strophe, in dem sich der Geliebte verwandelt (III, 10) und die Illusion plötzlich und unerbittlich zerschellt. Die Gattung der Traumbegegnung par excellence ist in der Trobadorlyrik aber nicht die Romanze, sondern der salut d’amor, was vermutlich in Anlehnung an die lateinische Tradition der Liebesbriefe, wie sie uns beispielsweise mit den häufig imitierten132 Heroides Ovids begegnet,133 entwickelt wird. Als wichtigster 130 131 132 133

Peire d’Alvernha, Nr. 19 b). Eine ähnliche Darstellung zeigt Aissi cum cel que anc non ac cossire von Arnaut de Mareuil (a), Nr. X/III, 4 s.). Cf. z. B. Brinkmann (1925, 14). Cf. z. B. die folgenden Formulierungen im Brief Sapphos an Phaon (Ovid: Heroides, XV, 123ss.): Tu mihi cura, Phaon; te somnia nostra reducunt – Somnia formoso candidiora die. Illic te invenio, quamvis regionibus absis. (Du bist meine Sorge, Phaon; dich bringen unsere Träume zurück – Träume, strahlender als der schöne Tag. Dort finde ich dich, auch wenn du weit weg bist.) Bourgain (2000, Nr. 46) weist ferner auf einen lateinischen Liebesbrief aus dem 8. Jh. hin, in den folgende Verse eingeflochten sind: Ego quando jaceo tu mihi es in animo,

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Repräsentant dieser Gattung gilt Arnaut de Mareuil, der in seinen Liedern visionsartig den Moment des im Traum erfahrenen höchsten joi dichterisch gestaltet und variiert. In einem seiner salutz – Dona, genser qe no sai dir134 – strebt das seufzend eingeschlafene lyrische Ich zu seiner domna, um sich an ihrem Anblick zu erfreuen, wobei sich die Schilderung zu offener Erotik steigert: Mos huelhs clauzens fas un sospir, En sospiran vau endormitz; Adoncx se·n vai mos esp[er]itz Tot dreitamen, Dona, vas vos De cuy vezer es cobeitos. Tot enaisi co yeu dezir La nueg e·l jorn, can m’o cossir, A son talan ab vos doneya, Embrass’ e baiza e maneya.

(v. 140–148)

(Ich schließe die Augen und seufze und während ich seufze, schlafe ich ein. Daher geht meine Seele geradewegs hin zu Euch, meine Dame, die sie zu sehen verlangt. So wie ich es mir wünsche, in der Nacht und am Tag, wenn ich darüber nachsinne, schenke ich Euch nach Belieben Umarmungen, Küsse und Liebkosungen.)

Umarmungen und Küsse als Elemente des somni-Motivs begegnen auch in der italienischen Dichtung des Duecento. So erfüllt sich in dem wahrscheinlich135 aus der Feder von Giacomo da Lentini stammenden Membrando l’amoroso dipartiri136 die Hoffnung, die Geliebte in den Armen zu halten, im Traum (V, 5–9) – ein Motiv, das auch Al cor tanta alegranza137 entwickelt: E voi, servir che fate, tanto piacer mi date, ch’eo spero ch’eo ne tegna, anzi per sogno vegna, spesse fiate

(III, 9–12)

(Und Ihr, die Ihr jeden zum Diener macht, gewährt mir so viel Freude, dass ich hoffe, Euch halten zu dürfen; sogar im Traum gelange ich viele Male dahin.)

Anders als die vorsichtige Umsetzung in der scuola siciliana zeigen die italienischen Frauenlieder des Duecento eine erotisch aufgeladene Realisierung der somni-Motivik. Ein besonders prägnantes Beispiel stellt die in der Handschrift auf 1260138 datierte anonyme ballata Nova danza più fina139 dar. «Stando ne·letto»

134 135 136 137 138 139

et quando dormio semper de te somnio. (Wenn ich im Bett liege, bist du in meinen Gedanken und wenn ich schlafe, träume ich stets von dir). Arnaut de Mareuil b), Nr. I. Zur Frage der Attribution cf. Antonelli (2008, 562ss.). Antonelli 2008, Nr. 1D.1. Di Girolamo 2008, Nr. 25.5. Cf. Coluccia 2008, 1129. Coluccia 2008, Nr. 50.5.

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(VI, 1) ist die Frau darin im Traum «in grande diletto» (VI, 3) und küsst an einem locus amoenus die Brust, das Gesicht und die hellen Augen des Geliebten (VI, 4ss.). Auch die altfranzösische Lyrik kultiviert diese Idee. So glaubt die Liebende in der chanson d’histoire Oriolanz en haut solier140 ihren ami im Schlaf zu umarmen, «Amis, la nuit en mon couchier/en dormant vos cuit embracier»141 (IV, 24s.). Auch Raimon de Cornet setzt das Motiv der Umarmung in der fünften cobla seiner Kanzone […] yeu de tals crims acuzatz142 in vorsichtiger Zurückhaltung um. So trägt Amor den Liebenden zur Dame, wo er – «Estar ab lies bras e bras totz vestitz» (V, 7) – vollständig bekleidet mit ihr Arm in Arm liegen kann. Während in Qui veut amors maintenir143 von Moniot de Paris Gott als Komplize der Liebenden erscheint, ist es hier explizit Amor, – «E pueus Amors, quan me soy adormitz,/Porta m’en lay»144 (V, 5s.) – der die Vereinigung der Liebenden ermöglicht. Amor und der christliche Gott verschmelzen in der mittelalterlichen Lyrik häufig zu einer Gott-Amor-Figur, welche sowohl die Züge des christlichen als auch die des heidnischen Gottes trägt. Nur selten verbindet sich die Erfahrung des Liebestraums mit einer deutlich artikulierten Hoffnung auf Traumerfüllung, wie im envoi der Kanzone Quant il ne pert fueille ne flours145 von Gautier de Dargies. Vielmehr geht mit dem Motiv des songe érotique häufig eine radikale Abkehr von der Realität zugunsten des Traums einher. Die typische Formel «Per que tostemps volgra viure dormen»146 (V, 8) begegnet uns noch Anfang des 14. Jh.s bei Raimon de Cornet.147 Auf Macht, Reichtümer und andere irdische Güter wird zugunsten des Traumglücks verzichtet, so auch in der Chançon legiere a chanter148 von Raoul de Soissons (IV, 10ss.). Der fiktionale Charakter der fin’amor-Konzeption findet einen seiner Höhepunkte gerade in diesem Wunsch «à s’enfermer à jamais dans la sphère du songe, afin d’assouvir sa passion imaginaire».149 Der befriedigende Rückzug in die imaginäre Sphäre der Wunscherfüllung wird der realen aber mit Sehnsucht und Entsagung assoziierten Welt vorgezogen: Ab quem dures aissi mos soms, Non volria esser reis ni coms. Mai volria jauzens dormir Qe velhan deziran languir.

140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150

(v. 149–152)150

Bartsch 1967, Nr. I/10. Übers.: Freund, in der Nacht in meinem Bett glaube ich, Euch im Schlaf zu umarmen. Noulet/Chabaneau 1973, 26. Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 199. Übers.: Und dann trägt mich Amor, wenn ich eingeschlafen bin, dorthin. Gautier de Dargies, Nr. XXV. Übers.: weshalb ich mein ganzes Leben im Schlaf verbringen möchte. Noulet/Chabaneau 1973, 26. Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 154. Braet 1974, 96. Dona, genser qe no sai dir, Arnaut de Mareuil b), Nr. I. Für die Verse 149s. wird, anders als bei Bec, die Lesart der Hs. N zugrunde gelegt (cf. Arnaut de Mareuil, 85).

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(Damit mein Traum so fortdauert, verzichte ich darauf, König oder Graf zu sein. Vielmehr ziehe ich es vor, beglückt zu schlafen als voller Sehnsucht und Verlangen zu wachen.)

Diese Verse aus dem vielfach rezipierten salut d’amor von Arnaut de Mareuil klingen sowohl in der Trouvèrelyrik als auch in der Dichtung der scuola siciliana nach. Unter den Trouvères ragt dabei insbesondere Thibaud de Champagne heraus, der das trobadoreske Schema ausführlich in den letzten beiden coblas (IV/V) seiner Kanzone Qui plus aime plus endure151 reflektiert: Par maintes foiz l’ai sentie En dormant tout a loisir, Mès quant pechiez et envie M’esveilloit et que tenir La cuidoie a mon plesir, Et ele n’i estoit mie, Lors ploroie durement Et melz vousisse en dormant Li tenir toute ma vie. (IV) (Viele Male habe ich sie, während ich schlief, ganz nach meinem Belieben gespürt, doch als das Vergehen und das Verlangen mich aufweckten und ich glaubte, sie halten zu können, so wie es mir gefiel, sie aber nicht da war, so weinte ich bitterlich und wünschte, sie lieber im Schlaf zu halten mein ganzes Leben lang.) Ma grant joie en dormant iere Si granz que nul puis conter. En veillant ne truis maniere De ma dolor conforter. Bien me deüst trestorner Amors ce devant deriere Li dormirs fust en oubli Et g’eüsse en veillant li; Lors seroit ma joie entiere. (V) (Während ich schlief, war meine Freude so groß, dass ich es nicht zu Ausdruck bringen kann. Da ich nun wach bin, finde ich kein Mittel, um meinen Schmerz zu lindern. Die Liebe sollte es ganz umgekehrt machen: das Vergessen im Zustand des Schlafs und den Besitz im Wachen. So wäre meine Freude vollkommen.)

Auf den Wunsch nach Verlängerung der Traumliebe (IV) folgt eine an die personifizierte Liebe gerichtete Anklage (V). Mit dieser appellatio Amoris akzentuiert Thibaud de Champagne die Thematik neu. Nicht der Wunsch nach endlosem Traumgenuss dominiert hier, sondern die deutliche Forderung nach einer Umkehr der Verhältnisse: Was Amor im Traum gewährt, sollte er dem Liebenden im Wachen zugestehen und vice versa. Stärker noch am trobadoresken Vorbild orientiert – und in fast wortgetreuer Nachahmung der Verse von Arnaut de Mareuil (Dona, genser qe no sai dir, v.151s.) – zeigt sich das anonyme Quando la primavera:152 151 152

Thibaud de Champagne, Nr. XXXV. Di Girolamo 2008, Nr. 25.8.

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e la notte dormendo sto co madonna mia, per ch’eo dormir vorria: megl’ m’è dormir gaudendo ch’aver penzier veghiante.

(III, 5–9)

(Und in der Nacht, wenn ich schlafe, bin ich mit meiner Dame zusammen, weshalb ich zu schlafen wünschte: Besser ist es, freudevoll zu schlafen als in nachdenklicher Sorge zu wachen.) S’io dormo, in mia parvenza tutor l’aggio in ballia, e lo giorno m’intenza, di lei sembianti invia.

(IV, 1–4)

(Wenn ich schlafe, so scheint mir, als hätte ich sie stets im Besitz, und am Tag kehrt sie es ins Gegenteil und zeigt mir unangenehme Dinge.)153

Die Konsequenz aus einer solchen Realitätsflucht ist die Bevorzugung der idealen und fiktiven Dame der Kunst- und Traumwelt vor einer realen Geliebten, wie Arnaut de Mareuil in Ses joi non es valors154 zeigt: qu’ie·us am tant e·us desire, mais m’en val us oratz la nuoich, quan sui colgatz, qu’ie·us tengues e mos bratz, que d’autr’ esser jauzire.

(V, 7–11)

(Denn ich liebe Euch und begehre Euch und so gilt es mir mehr, Euch in der Nacht, wenn ich schlafe, in meinen Armen zu halten, als der (faktische) Geliebte einer anderen zu sein.)

Ähnlich formuliert es Guiraut de Salignac in der chanson de change Ajssi cum selh qu’a la lebre cassada155 (III, 6ss.). Die Erinnerung an den erträumten joi wird höher gestellt als die reale Liebefreude, mit der das lyrische Ich von einer anderen Frau beschenkt werden könnte.156 Diese Vorstellung speist sich aus einem fest verankerten Grundsatz der fin’amor, der sich gegen die Beliebigkeit des Liebesobjekts richtet. Die Höherstellung der Traumliebe bedeutet aber zugleich auch eine Selbsttäuschung, der man sich freiwillig ergibt: ein Gedanke, den Gontier de Soignies im Refrain von Je n’em puis mon cuer blasmer quant il sospire157 unverhüllt illustriert:

153 154 155 156 157

Zur Übersetzung cf. die Erklärung von Di Girolamo (2008, 870). Arnaut de Mareuil a), Nr. XI. Giraut de Salignac, Nr. 2 (nach Strempel ist dieses Lied nicht sicher attribuierbar). Cf. noch im Spätmittelalter eine ähnliche Idee bei Froissart: On me dist, dont j’ai grant merveille (Nr. XXXIII), die den gesamten Text durchzieht. Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 113.

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Car mieus aim de lî songier Belle mençoigne K’avoc une autre couchier De jor sans soigne. (Denn ich will lieber von ihr eine schöne Lüge träumen, als mit einer anderen schlafen bei Tag ohne Traum.158)

Die in der zweiten Strophe der Komposition deutlich herausgestellte Bevorzugung der mit dem Traum gleichgestellten Lüge (II, 3) vor der möglichen Zurückweisung durch eine reale Frau (II, 3s.) drückt die Problematik der radikalen Traumliebe unmissverständlich aus. 3.2.2.

Das Erwachen: Der Liebestraum ex negativo

Negativ werden der Traum und die mit ihm verwandten Motive (Schlaf, Nacht) vor allem in der religiösen Dichtung beurteilt. In Anlehnung an biblische Muster159 galt die Nacht im Mittelalter als Zeit des Schreckens und des Verbrechens und wurde immer wieder mit dem Tod assoziiert. In Anknüpfung an die Metapher des Sündenschlafs galt auch der Schlaf «sowohl im Kloster als auch bei den Laien als etwas, das man fliehen oder dem man sich nicht übermäßig hingeben sollte».160 Diese Vorstellung taucht im 13. Jh. immer wieder in religiösen Liedern der Trobadors auf, wie zum Beispiel die tornada von Esperanza de totz ferms esperans161 von Guilhem d’Autpol zeigt: Lo sons es tals qu’estenh la folla gen. Leu si qui dorm, mentre qu’a merce pren Dieus peccadors, […]

(VII, 1ss.)

(Der Schlaf ist von solcher Art, dass er die dummen Menschen zerstört. Möge derjenige, der schläft, dann aufstehen, wenn Gott noch Mitleid mit den Sündern hat.)

In der profanen Lyrik erhält das Erwachen aus dem Schlaf – und somit der Verlust des Traums – eine radikal negative Konnotation: «Suivant en cela leurs prédécesseurs latins, les auteurs courtois insistent sur le caractère chimérique de l’expérience. Le réveil solitaire est un effet souvent exploité: le dormeur poursuit l’illusion d’une étreinte, mais le lendemain lui apporte une cruelle déception».162 158

159 160 161 162

Rosenberg/Tischler (1995, 996) weisen im Kommentar zu diesem Lied darauf hin «que soigne peut signifier ‘chandelle’ ou ‘songe/rêve’; les deux sens sont compatibles avec le contexte». Zu denken wäre hier vielleicht auch an ein Wortspiel mit dem Namen des Dichters. Formisano (Gontier de Soignies, 132) verwirft die Lesart soigne und notiert songe, das er in der Verbindung sans songe mit ‘realmente’/‘concretamente’ (Gontier de Soignies, 230) übersetzt. Cf. z. B. Ps 104 oder Job 24, 13–17. Wittmer-Butsch 1990, 369. Chaguinian 2008, 291s. Braet 1975, 56.

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Die Hervorhebung der vanitas der Traumbegegnung gehört – wie der songe érotique – zum allgemeinen Repertoire der Liebeslyrik. Diese Motivausprägung fi ndet in den Heroides Ovids ein konkretes Vorbild, denkt man nur an Sapphos lakonische Feststellung: «sed non longa satis gaudia somnus habet».163 Und auch in der lateinischen Lyrik des Mittelalters wird die Entlarvung des Traums als leeren Wahn schon in frühen Beispielen formuliert: vidi ego me tecum falsa sub imagine somni. somnia tu vinces, si mihi vera venis.164

(v. 3s.)

(Ich sah dich mit mir im trügerischen Traumbild. Du übertriffst die Träume, wenn du tatsächlich zu mir kommst.)

Nur selten wird in der mittelalterlichen Poesie nach dem Erwachen aus dem Traum das Liebesglück beschworen, vielmehr dominieren Enttäuschung und die Kontrastierung des Traums mit der Realität.165 Eines der wenigen Beispiele der noch nach dem Erwachen andauernden Freude bietet die tornada der canso Estat aurai estas doas sazos166 von Guilhem de Saint Didier: «Murir cugei de joy quan m’esperic»167 (VII, 4). Ein ähnliches, jedoch etwas differenzierteres Bild bietet Pel doutz chan que·l rossinhols fai168 von Bernart de Ventadorn. Durch den Gesang der Nachtigall aus dem Traum gerissen wird das lyrische Ich in einem Zustand zwischen Liebesrausch («de joi totz esbaïtz» I, 3) und Liebesschmerz («d’amour pensius e cossirans» I, 4) präsentiert. In der Regel folgt aber auf das Erwachen aus dem songe érotique unmittelbar die Klage über den ephemeren Charakter des nächtlichen Erlebens.169 Und wenn der Körper erwacht, ist das Liebesglück zu kurz, lautet die programmatische Formel in der Kanzone Lanquan vei flurir l’espigna170 von Guilhem Ademar. Schon Jaufre Rudel besingt in seinem berühmten No sap chantar qui so non di171 die Nichtigkeit der beglückenden Traumerfahrung («E quan mi resveill al mati/Totz mos bos sabers mi desva, a, a»172 IV, 5s.) und stellt so sein Konzept der amor de lonh höher als das amar en durmen, da in seiner Fernliebe trotz aller Distanz stets eine gewisse Hoffnung erhalten bleibt. Eine intensivere Darstellung der emotionalen Betroffenheit des Erwachenden zeigen die Kompositionen von Arnaut de Mareuil. Die Konfrontation mit dem Realitätsprinzip, der sich das lyrische Ich in der Kanzone Aissi cum cel que anc

163 164 165 166 167 168 169 170 171 172

Ovid: Heroides, XV/126 (Übers.: Aber die Freuden des Traumes hat man nicht lange genug). Waddell 51948, 22. Cf. Braet 1985, 20. Guillem de Saint Didier, Nr. VIII: Estat aurai estas doas sazos. Übers.: Ich glaubte vor Freude zu sterben, als ich erwachte. Cf. Bernart de Ventadorn, Nr. 10. Cf. Braet 1974, 95. Guilhem Ademar, Nr. V. Jaufre Rudel, Nr. VI. Übers.: Und wenn ich am Morgen erwache, ist alle Freude hin, ja hin.

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non ac cossire173 ausgesetzt sieht, führt über eine Bewegung vom sensus (vei) zur cognitio (conosc) und wieder zurück zum sensus (sen) und entlädt sich in einer bitterlichen Klage: pois, quan ressit, vei e conosc e sen que res non es, torn en plor e m’azire.

(III, 4s.)

(Dann, wenn ich aufwache, sehe, erkenne und fühle ich, dass es nichts gibt, und ich weine wieder und hasse mich.)

Die poetisierte Klage des Erwachenden kann sich zwischen Verwirrung, Enttäuschung, tiefer Trauer, Verzweiflung und Wut bewegen. Als Beispiel für eine drastische Umsetzung dieser Schmerz-Ästhetik sei eine Passage aus dem salut d’amor Domna, eu pren comjat de vos174 von Falquet de Romans zitiert, die durch ihre plastische Darstellung überzeugt: […] qan resveil e m’en soven, per pauc no·m voil los oilz crebar qar s’entremettent del veillar; e vauc vos per lo leich cerchan, e, qan no·s trob, reman ploran.

(v. 24–28)

(Wenn ich erwache und mich daran erinnere, kann ich mich kaum davon abhalten, mir die Augen auszukratzen, weil sie sich bemühen zu wachen; und ich suche Euch auf dem Lager und da ich Euch nicht finde, bleibe ich weinend zurück.)

Der Dichter konzentriert sich auf den Augenblick des Erwachens, der sich vor dem geistigen Auge zu einer dynamischen Bilderfolge entwickelt: Das Lager wird wie in Trance nach der imaginierten Geliebten durchsucht und erst als sich der Zustand zwischen Traum und Wachen langsam auflöst und die Realität an Konturen gewinnt, kommt die Enttäuschung zum Ausdruck und der Liebende bleibt desillusioniert zurück. Die Schritte der Bewusstwerdung zeichnet Falquet de Romans genau nach und zeigt, wie sich die Struktur der Traumwelt mit dem Moment des Erwachens verändert: Der Traum wird als erinnerte Zeit im Verlaufe des Wachwerdens immer stärker als Unwirklichkeit empfunden.175 Das schmerzvolle Erwachen wird auch in der altfranzösischen Lyrik ästhetisiert.176 So klagt beispielsweise der Liebende in der Kanzone Chanter me plait qui de joie est norriz177 von Gace Brulé darüber, dass er beim Erwachen («au revoillier» V, 6) vergeblich nach dem erträumten «solaz» (V, 7) sucht. Dieser Gedanke begegnet nicht nur in den höfischen Liedern der Trouvères, sondern auch 173 174 175 176

177

Cf. Arnaut de Mareuil a), Nr. X. Falquet de Romans, Nr. XIV. Cf. dazu Uslar (2000, 115). Cf. Braet 1977, 108: «comme les troubadours, les trouvères font ressortir le prix de ce moment d’extase en l’opposant à ce qui suit. L’image tant désirée disparaît à l’instant même où le dormeur atteint au bonheur suprême». Gace Brulé, Nr. XLI.

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im registre popularisant, so auch in Après aoust, que fueille de bosquet.178 Darin bildet die Gegenüberstellung von «en dormant» (IV, 2) und «au resveiller» (IV, 24)/«en veillant» (IV, 25) die Diskrepanz zwischen Traum und Realität deutlich ab. Auch die chanson d’histoire Oriolanz en haut solier179 drückt den Gedanken der transitorischen Linderung der Liebesqualen aus und bringt zudem den zirkulären Charakter des Leids zum Ausdruck: et qant g’i fail au resveillier, nule riens ne m’i puet aidier. lors me reprent au sohaidier.

(IV, 26ss.)

(Und wenn ich erwachen muss, kann ich nicht umhin, wieder sehnsüchtig nachzusinnen.)

Anders als die Beispiele des galloromanischen Kulturraums greifen die galegoportugiesischen cantigas und die italienische Poesie des Duecento nur selten auf das Motiv des schmerzvollen Erwachens zurück. In Italien floriert dieses Motiv fast ausschließlich unter den auf Okzitanisch dichtenden und von der okzitanischen Kultur stark geprägten Autoren – wie Rambertino Buvalelli180 – oder aber in Frauenliedern, wie die ballata Nova danza più fi na181 zeigt, in der sich an den erotischen Traum der sechsten Strophe die folgende Klage anschließt: E poi, quando mi sveglio, non son a quel solazzo! Di gran doglia asoteglio, raffreddo come ghiaccio.

(VII, 1–4)

(Und dann, wenn ich erwache, ist die Freude dahin! Vor großem Schmerz magere ich ab, ich werde kalt wie Eis.)

Eines der wenigen Beispiele für die Umsetzung der Motivik im Genre der cantiga de amigo wiederum bietet Deus, que leda que m’esta noyte vy von Johan Mendiz de Briteyros {S d, 2}. Auf den «gram sabor» (III, 2) des Traums folgt der «gram pesar» (III, 1) des Erwachens. Ähnlich formuliert es Johan Soarez Somesso in Muitas vezes en meu cuidar,182 indem er ebenfalls den Kontrast zwischen sabor und pesar (I, 3s.) herausarbeitet. Die zitierten Beispiele zeugen indirekt von einer skeptischen Haltung Träumen und dem Traumglauben gegenüber und zeigen, dass die lyrischen Texte durchaus Kommentare zur Beurteilung des Traumphänomens in der Kultur des Mittelalters beisteuern. Ähnlich wie epische Texte des romanischen Mittelalters, die immer 178 179 180 181 182

Jeanroy/Långfors 1918/1919, Nr. V. Bartsch 1967, Nr. I/10. Cf. z. B. die Kanzone S’a Mon Restaur pogues plazer (Bertoni 1915, Nr. VIII), in der «sospir e plor» (II, 8) das Erwachen aus dem Liebestraum begleiten. Coluccia 2008, Nr. 50.5. Brea 21999, I, Nr. 78, 10.

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wieder das seit der Einführung durch den Roman d’Enéas183 beliebte Reimpaar songe und mensonge aufgreifen,184 weist das Erwachen in der Lyrik das Traumerlebnis als transitorisch und desillusionierend aus. Explizite prophetische Träume nach Art der antiken oracula kommen in der volkssprachlichen Lyrik des Mittelalters nicht vor. Ähnlich entdeckt man auch im gesamten Liederkorpus der Carmina Burana185 nur an einer Stelle eine erfüllte Traumprognose. Gemeinsam mit dem Motiv der Klage nach dem Erwachen spricht diese Tatsache eindeutig gegen eine Interpretation der songes érotiques als songes prophétiques, wie sie von Johnston186 behauptet und auch in der neueren Forschung vertreten wird.187 Das zunächst konkret aufgefasste Bild des Erwachens aus dem Traum wird schon im frühen 13. Jh. in der Dichtung der Trobadors vielmehr zur allgemeinen Metapher für die Liebesenttäuschung. In Eu non lausarai ja mon chan188 zum Beispiel entwickelt Peirol diesen Gedanken in einem Vergleich: Dire puosc q’enaissi m’es pres com celui que vai joy sonian e quan rissida, non es res

(III, 2ss.)

(Ich kann sagen, dass es mir so ergangen ist wie einem, der von Liebesglück träumt und wenn er aufwacht, nichts davon findet.)

Amanieu de Sescas wiederum verdichtet in seinem Liebesbrief Dona, per cuy planc e sospir189 diese Metapher zum Bild des illusorischen Kusses, indem er die amor de lonh mit baizar en durmen vergleicht. Und in der anonymen Kanzone Amor voglio blasmare190 klagt der Liebende Amor für den vergeblich geleisteten Dienst an und bedient sich dafür des bekannten Bildes:

183 184

185

186

187

188 189 190

Cf. Corbellari 2007, 65. Cf. Braet 1985, 21: «On pourrait en trouver la preuve dans le fait que la langue littéraire rapproche volontiers, en un jeu de rimes paronomasiques, le terme songe de celui de mensonge; devenu ainsi synonyme de fable ou de tromperie, le mot en vient d’ailleurs à désigner tout produit de l’imagination». Cf. dazu auch Marchello-Nizia (1985, 250). Cf. Carmina Burana Nr. 98: Troie post excidium. In dieser lyrischen Bearbeitung der Aeneas-Sage, einer getreuen Nachahmung der Epos-Handlung, berichtet Dido ihrer Schwester Anna, dass sie Äneas heiraten werde, da ihre Träume es ihr voraussagen: «id uere/protendunt mea sompnia» (III, 7s.). Cf. Johnston (Arnaut de Mareuil a), XXV): «Nous croyons que ces songes ont un rapport avec le songe prophétique. Si le troubadour savait persuader à sa dame qu’il avait rêvé d’elle, et si la dame croyait que les songes révèlent l’avenir, sa résistance était sérieusement entamée». Cf. Regueiro-Diehl 1993, 203: «Peut-être la thèse proposée par Johnston comme explication du rêve chez Arnaut de Maruelh est-elle juste: le rêve d’amour fonctionnerait comme un rêve prophétique». Peirol, Nr. XVII. Schultz-Gora 1919, 10. Cf. auch ein entsprechendes Bild in der Kanzone Aissi cum cel que anc non ac cossire von Arnaut de Mareuil (a), Nr. X). Di Girolamo 2008, Nr. 25.4.

80

Così m’è adivenuto come a l’om ch’à dormuto, che si sogna vedere tuto lo suo volere e tenere si pensa ciò che bole; poi si riveglia e dole e non può avere.

(II, 9–14)

(Es ist mir so ergangen wie einem, der geschlafen hat und im Traum all das sah, was er zu besitzen wünscht, wenn er an das denkt, was er begehrt. Dann erwacht er und leidet und kann es doch nicht haben.)

Nichts als leerer Wahn sind auch die imaginären Traumbegegnungen, die Raimbaut de Vaqueiras in seinem multilingualen descort Eras quan vey verdeyar191 in der in Galego-Portugiesisch verfassten Strophe beklagt. Indem er darin eine Analogie zur vergeblichen und unerwiderten Liebe herstellt, betont er – ganz in der Manier der iberischen cantigas – noch intensiver deren Nichtigkeit: la noit, can jatz en meu leito, so mochas vetz resperado; e car nonca m’aprofeito falid’ ei en mon cuidado.

(V, 5–8)

(Nachts, wenn ich in meinem Bett liege, erwache ich viele Male; und da ich keinen Vorteil davon habe, fühle ich mich enttäuscht in meinem Denken.)

Als «perfectly clear comparison between his former dreamed joy and his present real joy»192 gestaltet schon vorher Raimbaut d’Aurenga die Einleitungsstrophe der Kanzone Ara non siscla ni chanta.193 Darin werden die zuvor besungenen Freuden als Trugbilder gedeutet und die gegenwärtigen als real und daher wertvoll: Ara non siscla ni chanta Rossigniols, ni crida l›auriols En vergier ni dinz forest, Ni par flors groja ni blava; E si·m nais Jois e Chans E creis en veillians; Car no·m ven com sol somnejans.

(I)

(Nun zwitschert und singt die Nachtigall nicht, noch ruft der Pirol im Garten und auch nicht im Wald, noch erscheint die gelbe oder blaue Blume. Und schon werden Freude und Gesang in mir geboren und sie gedeihen, während ich wache, denn sie kommen nicht nur, wenn ich schlafe.)

Diese von Raimbaut d’Aurenga neuartig aufgefassten Konzepte von joi und chan, die die Traumliebe der Trobadorlyrik ins Auge fassen, richten sich im gewissen Sinne gegen die durch die Kunst erhöhte fi n’amor. In eine ähnliche Richtung

191 192 193

Raimbaut de Vaqueiras, Nr. XVI. Raimbaut d’Aurenga, 115. Raimbaut d’Aurenga, Nr. XIV.

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weisen Perdigons Verse, die Tot l’an mi ten Amors de tal faisso194 einleiten. Darin wird der Schlaf zum Bild für den Tod und das Verstummen und Erstarren der Kunst: Tot l’an mi ten Amors de tal faisso cum estai cel qu’a·l mal don s’adormis e morria dormen, tant es conquis, en breu d’ora, entro qu’om lo rissida; atressi m’es tal dolors demezida que·m don’Amors que sol no·m sai ni·m sen, e cuich morir ab aquest marrimen, tro que m’esfortz de far una chanso que·m rissida d’aquelh turmen on so.

(I, 1–9)

(Das ganze Jahr über hält mich die Liebe so, als wäre ich jemand, der an einer Krankheit leidet, die ihn schlafen lässt, und der in kurzer Zeit an diesem Schlaf stirbt, wenn man ihn nicht weckt, so sehr ist er erobert. Der Schmerz, der mir zuteilwurde und der von der Liebe herrührt, ist so, dass ich kein Bewusstsein mehr von mir selbst habe. Und ich glaube an den Folgen dieser Trauer zu sterben, bis ich mich bemühe, ein Lied zu dichten, das mich aus dem Todeskampf, in dem ich mich befinde, erweckt.)

Dieses Lied kann mit seiner originellen Neuakzentuierung des negativen Traummotivs als Verwerfung der traditionellen Liebesideologie der Trobadorlyrik interpretiert werden, die Perdigon zur Metapher des quälenden Schlafs verdichtet. Als Lösung für die Befreiung aus der Gefangenschaft, in die ihn der nie enden wollende Traum195 bringt, nennt er die Erneuerung der Kunst. Lieder, die an anderen und neuartigen Prinzipien orientiert sind, können die bestehende Liebeskonzeption durchbrechen und ihn aus dem Traum der bisherigen Dichtung befreien. Es gilt daher, «una chanso/que·m rissida d’aquelh turmen on so» zu (er)finden (trobar). Eine ähnliche Metaphorik begegnet schon bei Cercamon in Assatz es or’oimai q’eu chant,196 der die Metapher des Schlafs («tant ai estat acondurmitz» I, 2) für das Verharren in alten Mustern und das Erwachen («mas era·m vau ja reveilhant» I, 4) für die Erkenntnis und Erneuerung wählt. 3.2.3.

Tota noih me vir’ e·m lansa: Liebeskrankheit und Liebeswahn

Dass die Liebesqual ein essentielles Moment der Liebe darstellt, ist ein Topos der Liebeslyrik aller Zeiten. Dabei treten körperliche Bedürfnisse (wie Schlafen, Essen und Trinken) zurück und die aus diesem Mangel entstehenden Leiden werden

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196

Perdigon, Nr. IV. Cf. auch die Analogie zwischen dem Schlaf und dem Tod in der Kanzone Luntan vi son ma presso v’è lo core von Carnino Ghiberti (Coluccia 2008, Nr. 37.1, IV, 5s). Nur die geliebte Dame ist in der Lage, den Liebenden aus seinem metaphorischen Schlaf zu wecken. Die Assoziation des Schlafs mit dem Tod tritt schon bei Tertullian in De Anima auf, wo der Schlaf als speculum mortis (50, 1) bezeichnet wird. Cercamon, Nr. V.

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zu Symptomen der Liebeskrankheit,197 deren Darstellung einen breiten Raum in der mittelalterlichen Liebesdichtung einnimmt, denkt man beispielsweise an den berühmten Roman d’Enéas und die darin geschilderten Liebesqualen der Königin Dido. Und dass Schlaflosigkeit eines der primären Symptome der Liebeskrankheit darstellt, weiß auch – schon vor Andreas’ Capellanus De Amore – der arabische Liebestraktat von Ibn Hazm zu berichten:198 «Zu dem, was bei Verliebten vorkommt, gehört auch das Durchwachen der Nächte. Die Dichter haben dies häufig geschildert, sich als der Sterne Hüter bezeichnet und beschrieben, wie ihnen die Nacht lang wurde».199

Doch auch schon antike literarische200 und philosophische201 Texte des Abendlandes tradieren die Vorstellung vom Liebeswahn. Zwar christlich umgedeutet, aber in eine ähnliche Richtung zielend, wird Liebe als passio später auch bei Augustinus als «motus animi contra rationem»202 definiert. Die Symptome der Liebeskrankheit, zu denen Schlaflosigkeit gehört, beschreibt die mittellateinische Dichtung, wie beispielsweise das berühmte carmen Si linguis angelicis203 zeigt: Fugit a me bibere, cibus et dormire, medicinam nequeo malis invenire.

(XX, 1s.)

(Es fliehen mich Trank, Speise und Schlaf, keine Medizin kann ich für meine Krankheit finden.)

Analoge Beispiele begegnen auch immer wieder in volkssprachlichen Liedern, allen voran in der Dichtung der Trobadors. So klagt das lyrische Ich in Per grazir la bon’estrana von Uc de la Bacalaria {A b, 9} die Liebe an, die ihm den Appetit und den Schlaf raubt («E·m tolh manjar e dormir» III, 6), und in dem anonymen Quan vei les praz verdesir 204 seufzt («tota nuit souspir» II, 1) und zittert die Liebende vor Sehnsucht die ganze Nacht über im Schlaf («et tressal tote endormia» II, 2). Ein ähnliches Bild bietet die peguesca205 von Cerveri de Girona, in der der Liebende seine Schlaflosigkeit vor der unerbittlichen Dame beklagt.

197

198 199 200 201 202 203 204 205

Medizinische Deutung der Schlaflosigkeit begegnet schon bei Constantinus Africanus, als deren Ursachen der Gelehrte – im Sinne der Humoralpathologie – das Ungleichgewicht der Säfte im Gehirn versteht (cf. Wittmer-Butsch 1990, 81s). Bei der von Constantinus Africanus vorgeschlagenen Erklärung der Liebeskrankheit handelt es sich aber um eine strikt physiologische Deutung, seelische Faktoren sind in diesem Zusammenhang völlig ausgeblendet. Zum möglichen Einfluss des Traktats von Ibn Hazm auf De Amore cf. Croix (22003, 73). Ibn Hazm, 22. Cf. z. B. Ovid: Metamorphosen (VI, 490–493/X, 368ss.). Cf.: Platon: Bd. V Phaidros (249d–253c). Augustinus De civitate Dei (VIII, 17). Cf. auch ibid. IX, 4ss. Carmina Burana Nr. 77. Mölk 1989, Nr. 7. Cerveri de Girona b), Nr. 2.

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Com es ta mal enseynada, Girmana, c’amar no·m vols, e sabs que tant t’e amada? Ne no puix, sotz la flaçada, dormir, de tal guisa·m dols!

(I, 1s.)

(Warum bist du so abweisend zu mir, Girmana, dass du mich nicht lieben willst und doch weißt, dass ich dich so geliebt habe? Unter der Decke kann ich nicht schlafen, so sehr lässt du mich leiden.)

Der Liebende konzentriert seine Gedanken vollständig auf den Gegenstand seiner Hingabe und keine Medizin kann ihn von dieser Fixierung der Gedanken befreien, die «la nuoich eǜl dia» oder «dormen e velhan»206 begegnet, wie die Trobadors in ihren typischen Phrasen immer wieder zum Ausdruck bringen. Wird das Leiden aber mit einer spezifischen Tageszeit verbunden, so ist es vor allem die nächtliche Einsamkeit, die die Entbehrung in gesteigerter Intensität bewusst macht. «Tota noih me vir’ e·m lansa»207 (IV, 7) klagt das lyrische Ich in Tant ai mo cor ple de joya208 von Bernart de Ventadorn und in Ab plazen {A b, 13} verdoppelt die Nacht sogar das Liebesmartyrium – «E·l sers dobla·m mo martir» (II, 7) – das bis zum Morgen («ans m’ave a levar» v. 38) andauern kann, wie Amanieu de Sescas in A vos, que ieu am deszamatz209 beschreibt. Einen pointierten Vergleich zwischen der nächtlichen Unruhe und den Qualen des Tages bietet Arnaut de Mareuil in Dona, genser qe no sai dir:210 Tot jorn suefre esta batalha, Mas la nueg trac pejor trebalha: Qe can me soi anatz jazer, E cug alcun plazer aver, Adonc me torn e·m volv e·m vir, Pens e repens e pueys sospir.

(v. 109–114)

(Den ganzen Tag erleide ich diesen Kampf, doch in der Nacht ertrage ich noch schlimmere Qualen: Sobald ich mich hingelegt habe und ein wenig Freude zu haben glaube, drehe, wende und winde ich mich. Ich denke nach und denke von Neuem und seufze dann.)

Und doch ist diese Liebespein eine notwendige Basis der Liebe, denn Leid (passio) veredelt den Liebenden, wie es Guiraut de Salignac in Nulhs hom no sap que s’es grans benanansa211 prägnant formuliert:

206 207 208 209 210 211

Cf. z. B. Peirol (Nr. VII und Nr. XVI): Cora qu’amors vuelha (II, 7s.) oder Per dan que d’amor mi veigna (IV, 1s.). Übers.: Die ganze Nacht drehe und wende ich mich. Bernard de Ventadorn, Nr. 4. Riquer 1975, III, Nr. 354. Arnaut de Mareuil b), Nr. I. Giraut de Salignac, Nr. 3.

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Nulhs hom no sap que s’es grans benanansa, S’enans no sap quals es d’amor l’afans

(I, 1s.)

(Niemand weiß, was Liebesfreude bedeutet, wenn er nicht zuvor erfährt, wie Liebespein ist.)

Leiden zu ertragen ist eine der zentralen Herausforderungen, die die fin’amor an den Liebenden stellt. Und wenn das lyrische Ich in Cora qu’amors vuelha212 von Peirol beteuert, dass ihm das Leid («sufrir aquel turmen» III, 9–12) gefalle, so betont es aber dennoch, dass es auf Einlösung der Liebessehnsucht, des «ric joi» (III, 12), hofft. Die Erfahrung der bis ins Unerträgliche retardierten Erfüllung und der Verlängerung der Liebespein verdichtet Peirol in Coras queǜm fezes doler 213 zum Bild einer quasi kultischen purgatio des Liebenden: Qeǜl flama qu’amors noiris m’art la nuoich eǜl dia, per qu’ieu devenc tota via cum fai l’aurs el fuoc plus fis.

(III, 5–8)

(Denn die Flamme, die durch Liebe genährt ist, verzehrt mich Tag und Nacht, weshalb ich gereinigt werde wie das Gold im Feuer.)

Gewiss ist diese Vorstellung – wie schon Auerbach betont – an das christliche Konzept der «gloriosa passio aus glühender Gottesliebe»214 angelehnt, in dem passio mit fervor assoziiert wird und das Leiden zur Quelle der Entzückung, Entrückung aber auch Vervollkommnung wird.215 Eine so verstandene und teilweise als pathologischer Zustand dargestellte Liebe kennen und beschreiben auch die großen Liebestraktate des Mittelalters. Neben De Amore von Andreas Capellanus216 ist hier Das Halsband der Taube von Ibn Hazm zu nennen, in dem über das Wesen der Liebe zu lesen ist: «Die Liebe […] ist eine unheilbare Krankheit, deren Besserung von der Behandlung abhängt. Sie ist ein angenehm empfundenes Leiden und eine ersehnte Krankheit».217 Die nächtlichen Klagen sind besonders in den iberischen cantigas de amigo ein immer wieder evoziertes Motiv. Zwar kennen die cantigas de amor auch das Motiv des nächtlichen cuidado des einsamen Liebenden, wie E por quê me desamades218 von Osoir’ Anes oder Om’ a que Deus coita quis dar 219 von Rodrigu’

212 213 214 215 216 217 218 219

Peirol, Nr. VII. Peirol, Nr. XXIV. Auerbach 1941, 1183. Cf. Auerbach 1941, 1186ss. Cf. Andreas Capellanus: De Amore, II, viii, 47; III, 57s. Ibn Hazm, 16. Brea 21999, II, Nr. 111, 3/IV, 1s.: «Ali me ven gran cuidado,/depois que me vou deitar» (Denn besonders befällt mich bitteres Leid, sobald ich mich zur Ruhe niederlege). Brea 21999, II, Nr. 141, 2/I: Om’ a que Deus coita quis dar d’amor, nunca dev’ a dormir.

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Eanes Redondo zeigen, doch sind es primär die «sleepless girls»,220 die für die galego-portugiesische Dichtung charakteristisch sind. Die «insónia dos amantes nas noites sem fim»221 finden – wie schon Nunes herausgestellt hat – besonders in der Dichtung von Juyão Bolseyro breiten Raum. So werden in Aquestas noytes tan longas {A d, 7} die einsamen Nächte222 von der verzweifelten amiga coitada als «sobejas» (II, 3) und «tan grandes, sen mesura desiguaaes» (III, 1s.) charakterisiert, wobei ein anklagendes und verzweifeltes «Warum?»223 leitmotivisch die cantiga durchzieht. Das Zeitempfinden des Liebenden richtet sich nach der An- oder Abwesenheit der geliebten Person, wie die deutliche Kontrastierung der kurzen Liebesnächte – «Quand’eu con meu amigo dormia,/a noyte non durava nulha ren» (II, 1s.) – mit den langen einsamen Nächten – «e ora dur’a noyt’e vay e ven» (II, 3) – in Sen meu amigo manh’eu senlheyra {A d, 5} zeigt. Die Tatsache, dass diese Nächte als «noites d’Avento» (IV, 4) bezeichnet werden, evoziert einerseits das Bild der langen Winternächte der okzitanischen Sänger, impliziert aber andererseits, dass die Ankunft des Geliebten am folgenden Morgen erwartet wird. Auch Johan Lopez de Ulhoa leitet eine seiner cantigas224 mit einem ähnlichen Gedanken ein: Eu nunca dórmio nada, cuidand’en meu amigo, el que tam muito tarda […]

(I, 1s.)

(Ich schlafe gar nicht und denke an meinen Geliebten, den, der so sehr auf sich warten lässt.)

Das Motiv des von Schlaflosigkeit gemarterten Liebenden ist für die Dichtung von Dom Denis besonders charakteristisch und begegnet darin immer wieder in Form der wenig variierten Phrase «que nunca dormen estes olhos meus». Häufig wird diese Idee mit dem Motiv der Trennung oder der Distanz verknüpft: «Amigo, pois vós nom vi,/nunca folguei nem dormi»225 (I, 1s.).226 Die Verbindung zwischen

220 221 222

223 224 225 226

Ca ja, u sa senhor non vir’, non dormirá; e se chegar’ u a veja, esto sei ben, non dormirá per nulha ren: tant’ á prazer de a catar. (Der, welchen Gott Liebesleid gegeben hat, soll nimmer schlafen. Denn sieht er seine Herrin nicht, so wird er nicht schlafen; kommt er aber dahin, wo er sie sehen kann, wird er keinesfalls schlafen: so große Freude hat er daran, sie anzuschauen). Zu diesem Motiv cf. Wilson (1965, 309ss.). Nunes 1973, I/300. In der Regel ist die Verknüpfung von coita und noite für die cantigas charakteristisch. Die Vorstellung, dass der Tag schlimmere Qualen bereiten kann als die Nacht, ist eher ungewöhnlich. Brea (2006, 366) nennt ein Beispiel: Dizen pela terra, senhor, ca vos amei von Airas Paez. Cf. z. B. «por que as non dormho» (I, 2) oder «por que as Deus fez tan grandes» (III, 1). Brea 21999, I, Nr. 72, 7. Übers.: Freund, seit ich Euch nicht mehr sah, habe ich weder geruht noch geschlafen. Brea 21999, I, Nr. 25, 12.

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dem Motiv der Trennung und dem des consirar zeigen auch die cantigas de amigo von Pero da Ponte227 oder die cantigas de amor von Pero d’Armea.228 Ähnlich wie die einsamen Nächte der Liebenden nicht zu enden scheinen, wird auch das Nachdenken über die Liebe als endloses und daher umso beschwerlicheres Unterfangen gedeutet. Über das tertium comparationis der Länge, Dunkelheit und Undurchdringlichkeit wird die andauernde Nacht als analog zu den zunehmenden Sorgen des Liebenden dargestellt, wie der Parallelismus in Da noyte d’eyre poderam fazer {A d, 6} von Juyão Bolseyro beispielhaft zeigt: E comecey eu eyre de cuydar, e começou a noyte de crecer,

(III, 1s.)

(Und ich begann gestern nachzudenken und die Nacht wurde immer länger.)

Das leitmotivische cuidar der galego-portugiesischen Dichtung kann als Echo des consirar der okzitanischen Trobadors aufgefasst werden. Dieses Verb hat in der okzitanischen Lyrik eine komplexe Semantik entwickelt und fungiert in der Liebeskonzeption als zentrales Element des mal d’amor. Primär bezeichnet consirar das intensive und beschwerliche auf das Liebesobjekt fixierte Nachdenken über die Liebe. In diesem Sinne klagt die pastorela in Gavaudans L’autre dia, per un mati229 ihrem senher ihr Leid, das sie befällt, sobald sie von ihm scheidet (V, 3). Quälende Ruhelosigkeit und zielloses und zirkuläres Nachdenken verhindern die nächtliche Ruhe («la nuech cossir e velh» V, 2). Die unablässige Beschäftigung mit den qualvollen Gedanken, die zwanghafte nach innen gewandte Reflexion und die gleichzeitige Überordnung der idée fi xe über alle anderen Funktionen physischer Art sind die Hauptcharakteristika des Liebeskranken und des Melancholikers,230 wie ihn die mittelalterliche Literatur gern und oft beschreibt. Die Kanzone Una chansoneta fera231 von Raimbaut d’Aurenga führt in aller Deutlichkeit die Macht des consirar vor, das sich vor allem aus dem dezirar und dem esperar speist und sich daher in einem Raum zwischen Klage und Hoffnung bewegt: Domna, can mi colc al sera, La nueyt (e tot iorn) cossir Co·us pogues en grat servir: Cant ieu·m pes, qui·m fer ni·m pela No·m pot far en als entendre; Mos cors de gaug salh e guima, Tan ay en vos mon cor sert E ma voluntat assiza.

(V)

(Dame, wenn ich am Abend zu Bett gehe, denke ich darüber in der Nacht (und den ganzen Tag) nach, wie ich Euch am besten dienen könnte: Auch wenn mich jemand

227 228 229 230 231

Cf. z. B. Brea 21999, I, Nr. 120, 26/I, 1ss. oder Nr. 120, 39/III, 3. Cf. z. B. Nunes 1972, CCXXIV und CCXXV. Cf. Riquer 1975, II, 209. Zur Analogie zwischen der Liebeskrankheit und der Melancholie cf. Zeiner (2006, 37). Raimbaut d’Aurenga, Nr. III.

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schlüge oder meine Haare herausreißen würde, könnte er mich nicht dazu bewegen, an etwas anderes zu denken. Mein Herz hüpft vor Freude und springt, so sehr dient Euch mein Herz, und mein Wille ist auf Euch ausgerichtet.)

Eine ähnliche Entwicklung der consirar-Motivik zeigen auch die Lieder der Trouvères und die italienische Dichtung des Duecento, wobei zahlreiche Variationen und originelle Motivverknüpfungen das consirar aus dem erstarrten Schema befreien. Neben den konventionellen Ausprägungen der Motivik, die sich kaum von den altokzitanischen und den galego-portugiesischen Beispielen unterscheiden232 und somit mittels vorgeprägter Formeln primär den realen Mangel des Traumglücks beklagen, «qui en veillant faut et en dormant vient» (IV, 5),233 entwickeln die Trouvères vor allem in den chansons de femme interessante Variationen. So erinnert die dritte Strophe des Gace Brulé zugeschriebenen Cant voi l’aube dou jor venir {A c, 7} an eine Passage des Canticum Canticorum (3, 1), wenn die amia beim Erwachen vergeblich das Lager nach dem Geliebten durchsucht (III, 1–4). Und in dem mit Kreuzzugs- und Trennungsthematik durchzogenen Frauenlied Chanterai por mon corage von Guiot de Dijon234 wiederum tröstet sich die amia in der erotisch aufgeladenen fünften Strophe der retrouenge mit dem Hemd des Geliebten, das sie nachts statt seiner an ihre nackte Brust drückt: Sa chemise qu’ot vestue M’envoia por embracier. La nuit, quant s’amor m’argüe, La met delez moi couchier, Toute nuit a ma char nue, Por mes malz assoagier. (V, 3–8) (Sein Hemd, das er getragen hat, schickt er mir, damit ich es küsse. In der Nacht, wenn mich seine Liebe bedrängt, lege ich es zum Schlafen neben mich, [und drücke es] die ganze Nacht über an meine nackte Haut, um meine Schmerzen zu lindern.)

232

233 234

Cf. z. B. Bec 1978, Nr. 98: Anonym: Bels m’est l’ans en may quant voi lou tens florir («Toute nuit veil et tressaul, ne puis dormir,/Car a ceu m’estueit penseir ke plux desir»; Die ganze Nacht wache und zittere ich und kann nicht schlafen, denn ich muss an diejenige denken, die ich am meisten begehre./I, 3s.); Blondel de Nesle (Nr. V): Chanter m’estuet, quar joie ai recouvree («Sa fine amour, que tant ai desirree,/Qui me fesoit jor penser, nuit veillier»; Ihre edle Liebe, die ich so sehr ersehnt habe, ließ mich am Tage nachdenken und in der Nacht wachen./I, 9s.; Thibaud de Champagne (Nr. XVII): Je me cuidoie partir («Li douz maus du souvenir/Qui nuit et jor ne m’i faut,/Le jor m’i fet maint assaut,/Et la nuit ne puis dormir,/Ainz plain et pleur et souspir»; Die süße Liebespein der Erinnerung, die mich Tag und Nacht begleitet, setzt mich am Tag so manchem Angriff aus und in der Nacht kann ich nicht schlafen, vielmehr klage ich, weine und seufze./I, 3–7) und (Nr. XXXIII): Une chançon oncor vueil («Que la nuit, quant je sonmeil,/Vet mes cuers merci crïer»; Denn in der Nacht, wenn ich schlafe, geht mein Herz hin zu ihr, um Gnade zu erflehen./II, 6s.) oder das anonyme Lied Hailais! Com est endormis (Gennrich 1921, I, Nr. 204). Gace Brulé, Nr. LVI: A la douçour dou tens qui reverdoie (Übers.: das im Wachen fehlt und im Schlaf kommt). Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 124.

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Eine Verknüpfung der negativen consirar-Motivik mit der Kreuzzugsthematik begegnet auch in der Dichtung der scuola siciliana, so auch in der Kanzone Giamäi non mi conforto235 von Rinaldo d’Aquino. Pensare und tormentare sind die Verben, die mit den entsprechenden Nomen die Phraseologismen der italienischen consirar-Passagen bilden: so beispielsweise in dem quälenden tormento (I, 9) in Pucciandones Martelli Signor sensa pietansa udit’ò dire236 oder in dem zum Schlüsselwort erhobenen tormento (IV, 4) im anonymen Sì m’à conquiso amore.237 Eine Variation der consirar-Thematik zeigen die iberischen cantigas. So verbindet sich die Motivik darin mit dem Thema des Wahnsinns und manifestiert sich in der Zuspitzung der coita des Liebenden, der neben dem Schlaf (dormir) auch den Verstand (senno) verliert.238 In Italien begegnet eine solche Verknüpfung schon bei einem der ersten auf okzitanisch dichtenden trovatori, dem Bologneser Rambertino Buvalelli, der pensar, dormir und follir in seiner Kanzone Ges de chantar no·m voill gequir 239 zu einem Bild verdichtet: E per zo pens, qant dei dormir, Si razos es q’amar mi deia Midonz, qe sobra·m seignoreia Tant qe per pauc no·m fai follir;

(III, 1–4)

(Und deshalb denke ich, wenn ich schlafen soll, daran, ob es recht ist, dass sie mir ihre Liebe gibt, meine Dame, die so über mich herrscht, dass nur wenig fehlt, um mich wahnsinnig zu machen.)

Ein Zeichen für das allmähliche Erstarren des negativen consirar-Motivs und dessen konventioneller Ausprägung sind parodierende Darstellungen des Schemas, die von Peire Cardenal mit seiner Satire240 Ar me puesc ieu lauzar d’Amor 241 eingeleitet werden. In der Trouvèrelyrik macht beispielsweise, nach diesem Vorbild, die anonyme sotte chanson Chans de singe ne poire mal pellee242 den Liebeswahn zum Geschenk für die Dame:

235 236 237 238

239 240 241

242

Di Girolamo 2008, Nr. 7.6. Coluccia 2008, Nr. 46.1. Coluccia 2008, Nr. 49.2. Cf. z. B. Nunes 1972, CCCXLI, João Baveca: Hu vos non vejo, smhor, sol poder (II, 2s.); Nunes 1972, CCLV, Pero Mendes da Fonseca: Sazon sey eu que non ousey dizer (III, 1s.) oder Michaëlis de Vasconellos 1980, 197, Ruy Paes de Ribela: A guarir non ei per ren. Die coita d’amor zieht in der galego-portugiesischen Dichtung häufig auch den Todeswunsch («me faz ora mia morte desejar» I, 4) nach sich, wie z. B. in Sazon sei ora, fremosa mia senhor von Fernan Gonçalves de Seabra (Michaëlis de Vasconellos 1980, 218). Bertoni 1915, Nr. VII. Cf. Chaguinian 2008, 240/3:6. Peire Cardenal, Nr. I. Zum Motiv des consirar cf. I, 1s.: «Ar me puesc ieu lauzar d’Amor,/Que no·m tol manjar ni dormir.» (Nun kann ich die Liebe preisen, die mir nicht den Appetit und den Schlaf raubt). Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 53.

89

Nes an sonjant ne me puet sovenir De vous, si fort vos desir Ke, se les fievres avoie, Dame, je les vos donroie Volantiers de cuer joli. N’est ce dons d’ami? (IV, 4–9) (Selbst im Traum kann ich mich nicht an Euch erinnern, so sehr begehre ich Euch, dass, wenn ich Fieber hätte, Herrin, ich es Euch gern schenken würde, aus heiterem Herzen. Ist das nicht eine Freundesgabe?)

Und auch in Italien schöpfen die Dichter aus dem Potenzial der zum Cliché erstarrten Motivik, wie beispielsweise in dem vor 1250 entstandenen contrasto Rosa fresca aulentisima, ch’apari inver’ la state243 von Cielo d’Alcamo, in dem die brüske und verschmähende Antwort einer Bäuerin mit den sublimen Liebesklagen des Liebenden kontrastiert. Doch besonders die poeti giocosi spielen mit der consirar-Motivik. Als Beispiel sei das anonyme Lied Qualunque giorno non veggio ’l mi’ amore244 genannt, das ein sehr plastisches Bild (serpe, bigello) von dem durch nächtliche Qualen getriebenen Liebenden zeichnet: Qualunque giorno non veggio ’l mi’ amore, la notte come serpe mi travollo, e sí·mmi giro, che paio un bigello tanta è la pena che sente ’l meo core.

(I, 1–4)

(An jedem Tag, an dem ich meine Liebe nicht sehe, winde ich mich in der Nacht wie eine Schlange und drehe mich so, dass ich einem Kreisel ähnle, so groß ist der Schmerz, den ich im Herzen fühle.)

3.2.4.

Consirar – remirar – trobar

Das Nachsinnen über die Liebe (consirar) kann aber auch zum positiven Motiv entwickelt werden, wenn die tiefe Reflexion in einen Schwebezustand zwischen Traum und Realität übergeht respektive den genuinen Traum oder Dichtung motiviert. Wie der Traum kann daher auch das consirar zur Quelle der Inspiration und zum Synonym für Dichtung werden. Dass das Lexem consirar im Kontext trobadoresker Liebesklagen mehr als nur ‘nachdenken’ oder ‘quälendes Nachsinnen’ bedeuten kann,245 zeigt ganz deutlich die Dichtung Peirols, die dieses Verb zu einem der zentralen Bedeutungsträger macht. Darin wird consirar im literalen Sinne von ‘in Gedanken sein bei’ gebraucht, so auch in M’entencion ai tot’ en un vers mesa,246 wenn der Liebende gesteht, am Tage und in der Nacht in Gedanken bei seiner Dame zu verweilen («De midonz cossir nuoich e dia» II, 5) oder in

243 244 245 246

Di Girolamo 2008, Nr. 16.1. Segre/Ossola 1999, 453. Cf. dazu auch Kap. 3.2.3. Peirol, Nr. XX.

90

Del sieu tort farai esmenda247 (III, 1s.). Doch Peirol verwendet consirar auch in der Bedeutung von ‘sich etwas vorstellen’, wie die Kanzone Tot mon engeing e mon saber 248 zeigt: La nuoich qan sui anatz jazer eǜl jorn maintas ves s’esdeve, cossir com li clames merce qand ab lieis poiria parlar.

(V, 1–4)

(In der Nacht, wenn ich mich zur Ruhe gelegt habe, und am Tag geschieht es oft, dass ich mir vorstelle, wie ich ihre Gnade erbitten würde, wenn ich mit ihr sprechen könnte.)

In Anknüpfung an diese Semantik kann das altokzitanische consirar 249 auch mit ‘träumen’ oder ‘Traum’ übersetzt werden, so auch das consirar/cossir (I, 5) in Lo clar temps vei brunezir von Raimon Jordan.250 Diese Bedeutung ist schon zu Beginn der Trobadorlyrik belegt, wie in Mout jauzens me prenc en amar 251 von Guilhem de Peitieu deutlich wird: Anc mai no poc hom faissonar Co’s, en voler ni en dezir ni en pensar ni en cossir

(III, 1ss.)

(Niemals kann sich jemand vorstellen, wie sie ist [die Liebesfreude], weder durch das Wollen oder das Verlangen, noch durch Denken oder Träumen/Phantasieren.)

Einen Hinweis auf die semantische Nähe der Begriffe cossir und somni geben auch die Leys d’Amors, die in der Aufzählung der sekundären Genres neben dem somni auch den cossirs als thematisch definierte Form benennen und zugleich implizit die Verwandtschaft zwischen den beiden Genres thematisieren.252 Auf die Ähnlichkeit der Konzepte von consirar und cuidar, die in der altokzitanischen und galego-portugiesischen Lyrik analoge Funktionen erfüllen, ist bereits hingewiesen worden.253 Kann folglich consirar die Bedeutung von ‘träumen’ annehmen, so ist diese Semantik auch für das galego-portugiesische cuidar möglich, wie Michaëlis de Vasconcellos in ihrer Übersetzung von Muitas vezes en meu cuidar 254 von Joan Soaires Somesso zeigt, indem sie das nominal gebrauchte cuidar (I, 1), cuidà (III, 247

248 249 250 251 252 253 254

Peirol, Nr. XII. Zu dieser Bedeutung von consirar cf. auch Raimon Jordan: Vas vos soplei, en cui ai mes m’entensa (Raimon Jordan, Nr. XII/II, 3: «Ir’ ai e joi e quan de vos cossir»/Trauer und Freude empfinde ich, wenn ich an Euch denke und II, 7: «Neis quan cossir de vos tem lauzengiers»/Selbst wenn ich an Euch denke, fürchte ich die Verleumder). Peirol, Nr. IV. LexRom II, 463b: consirier/cossirier: ‘chagrin, rêverie, pensée, souci’. Raimon Jordan, Nr. IV. Guilhem de Peitieu, Nr. IX. Leys d’Amors I, 348. Cf. Kap. 3.2.3. Michaëlis de Vasconcellos 1980, I, Nr. II/16.

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7) – über die primäre Bedeutung (‘Nachdenken’, ‘Nachsinnen’) hinausgehend – mit ‘Traum’ (I, 1) und ‘Traumdenken’ (III, 7) wiedergibt.255 Die intensive Reflexion führt zum Traum und wird darin fortgesetzt. Eine ähnliche Verwendung des Verbs begegnet in der cantiga de amor Toda’-las gentes mi-a mi estranhas son256 von Nun’Eanes Cêrzeo, in der cuidar leitmotivisch das gesamte Lied durchzieht. Der Liebende, der sich der Welt entfremdet fühlt («estranho» III, 1), denkt stets («pensando» I, 3; «en vos cuidar» III, 6) an seine Dame und imaginiert sie so in seinen Gedanken («cuid’ en vos, como vus soyo veer/[…] eno meu coraçon» I, 5s.) und seinen Träumen257 («cuidando/en vos» II, 2s.; «bon cuidar» II, 6). In diesem Sinne kann das consirar auch in den Wachtraum führen, der eine exponierte Rolle für die mittelalterliche Poetik spielt. Eine originelle Umsetzung des Wachtraum-Motivs zeigt die Kanzone Tant m’a mené force de seignorage258 von Gace Brulé, in der der amant durch den Anblick der Dame in einen kontemplativen Trancezustand («dormir veillant» IV, 2) verfällt. Verwandt mit dem Wachtraum sind die so genannten hypnagogen und hypnopompen Zustände,259 die den Moment des Übergangs vom Wachszustand in den Schlaf und umgekehrt bezeichnen. Was die moderne Forschung heute bestätigt, dass nämlich diese Schlafphasen von äußerst lebhaften sensorischen Wahrnehmungen – oder gar Halluzinationen – begleitet sind, zeigt schon die mittelalterliche Dichtung, indem sie nämlich diesen Zuständen hohe poetische Kraft und Eingebung zuschreibt. In diesem Sinne deutet Cerveri de Girona das Motiv des qualvollen Nachdenkens über die Liebe, das Schlaflosigkeit zur Folge hat, in Lo vers del destretg260 um. Das lyrische Ich wird darin durch das permanente Auftauchen poetischer Bilder vom Schlaf abgehalten.261 Nicht amor, sondern trobar verursacht die unruhigen Nächte des Liebenden, der sich zum Dichten geradezu gedrängt fühlt: Car temps e locs mi forçon de pessar e de trobar […]

(I, 1s.)

(Denn die Zeit und der Ort zwangen mich, nachzudenken und zu dichten.)

Durch die Anspielung auf das negative consirar-Motiv der Liebesdichtung kommt hier die nicht nur für die mittelalterliche Poesie charakteristische Analogie zwischen Liebe und Dichtung auf besonders prägnante Weise zum Ausdruck. An den nach nächtlicher Ruhe und Erholung suchenden Dichter («Que can en patz me cuig

255 256 257 258 259

260 261

Michaëlis de Vasconcellos 1980, I, 38. Brea 21999, II, Nr. 104, 11. Cf. dazu auch die Übersetzung von Michaëlis de Vasconcellos (1980, I, 754s.). Gace Brulé, Nr. V. Cf. Amos 1999, 16: «Zu den Unterbewusstseinserscheinungen gehören das hypnoide Erleben, d.h. ein schlafähnliches Bewusstsein, das hypnagoge und das korrespondierende hypnopompe Bewusstsein, d.h. beim Einschlafen und beim Erwachen vorkommende Phänomene und endlich das Traumerleben». Cerveri de Girona b), Nr. 86. Cf. Cabré 1999, 81.

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durmen pauzar/o sojornar» IV, 1s.), tritt die personifizierte Poesie heran – hier als pars pro toto im Bild der razon – und fordert ihn auf, sie zum Leben zu erwecken: una razo mi ve qui·m ditz «Moria si·m laixavatz ses dir chantan anar.»

(IV, 3s.)

(Ein poetisches Thema kommt zu mir und sagt: «Ich werde sterben, wenn du mich gehen lassen solltest, ohne mich in gesungene Worte zu fassen.»)

Reflexionen über den Traum oder den traumähnlichen Zustand als Medium der Kreativität – und somit über «the intervention of sleep in the process of creation»262 – begegnen auch in einer anderen canso von Cerveri de Girona. In Si nuyll temps fuy pessius ne cossiros263 verfällt der Dichter in tiefes Nachdenken und kann sich so der ‘inneren’ Kontemplation hingeben («pesan vey ley e sas plasens beutatz» III, 6). In einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen264 widmet er sich der Dichtung («coblas fatz» IV, 7) und bemerkt: e no vis mays nuyll trobador aytal ne qui·n durmen fezes vers e chanços; qu’en durmen fo aycest chanz començatz

(V, 3–5)

(Und niemals sah ich einen solchen Dichter, der im Schlaf vers und cansos dichtete, denn im Schlaf wurde dieses Lied begonnen.)

Ob Cerveri das berühmte Farai un vers de dreyt nien {S b, 3} von Guilhem de Peitieu, auf das er mit diesen Versen anspielen könnte, kannte, lässt sich nicht mit Gewissheit beantworten. Sicher ist, dass hier der ‘erste’ und einer der letzten Trobadors in ähnlicher Art und Weise die Poetik des trobar entwickeln. Der Dichter als «dormeur vigilant qui ouvre les trésors du songe révélateur à la parole»265 wird nämlich schon in dem immer wieder als «dream poem»266 bezeichneten Farai un vers de dreyt nien {S b, 3} thematisiert: Das Gedicht ist der in Worte gefasste Zustand der dorveille.267 Eine andere Art der Ableitung der Dichtung aus dem consirar zeigt die Kanzone S’a Mon Restaur pogues plazer 268 von Rambertino Buvalelli. Die Inspiration tritt hier infolge eines Liebestraums ein. Auf die joidol-Erfahrung des Erwachens folgt nicht – wie im negativen somni-Motiv – allein

262 263 264

265 266 267

268

Ibid. Cf. Cerveri de Girona b), Nr. 50. Während Riquer den in der canso beschriebenen Zustand als Traum deutet, was seine Übersetzung und die Inhaltsangabe (Cerveri de Girona b), 141ss.) zeigen, sieht Coromines (Cerveri de Girona a), I, 106) hier hypnagoges Erleben («estat de semi-vigília»). Dragonetti 1986a, 183. Kendrick 1988, 19. Cf. dazu auch Leube-Fey (1971, 29), die das Lied explizit als Traumlied bezeichnet. Godefroy 2003, 177b–178a: «dormeveille, s. f. l’état où l’on est à moitié endormi et à moitié éveillé; état d’assoupissement; faire la dormeveille, faire semblant de dormir, faire l’homme à moitié endormi, être assoupi; fig., rêverie, folie». Bertoni 1915, Nr. VIII.

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die Klage. Vielmehr erweitert Rambertino Buvalelli das bekannte trobadoreske Schema um das Motiv der dichterischen Inspiration: E qand m’esveill, sospir e plor, Puois chant per leis e sui ioios Qan mi soven del gen respos.

(II, 8s.)

(Und wenn ich erwache, seufze und weine ich. Dann singe ich für sie und bin glücklich, da ich mich an ihre freundliche Antwort erinnere.)

Das consirar-Motiv, das in der galloromanischen und in der iberischen Tradition von zentraler Bedeutung ist, wird in der italienischen Dichtung des Duecento zum essentiellen Element der Poetik entfaltet. Dabei erfolgt die Aufwertung des consirar-Gedankens über eine Umdeutung und Neuakzentuierung des trobadoresken remirar (en somnian). Remirar und somnar sind zentrale Begriffe der trobadoresken Poetik, sie können einander bedingen und fungieren vor allem immer wieder als inspirierende Kräfte des trobar. Beide Zustände zeichnen sich durch eine meist partielle Ausblendung der äußeren Realität bei gleichzeitiger Konzentration auf die inneren Bilder aus, die durch assoziative Verknüpfungen entstehen. Die Grenzen zwischen der tatsächlichen und der erträumten Kontemplation, die in die Nähe des songe érotique rückt, sind dabei oft fließend. Schon die bloße Möglichkeit, in die Nähe der domna treten zu dürfen, «la première faveur qu’une dame puisse accorder à son amant»,269 beschreiben die Trobadors als Quelle des joi, da sie das ungestörte remirar erlaubt. So erfährt der Liebende in Pel joi del temps qu’es floritz270 von Gaucelm Faidit allein durch die Präsenz der domna Befriedigung und sendet nach platonischem Muster seine Seele aus, damit sie die Dame auch nachts anschauen («vezer» III, 9) kann. In Qui veut amors maintenir 271 von Moniot de Paris durchzieht der Gedanke der nächtlichen Kontemplation als Quelle des joi die Refrainzeilen272 und in dem anonymen Après aoust, que fueille de bosquet 273 kommt die erträumte Kontemplation der Geliebten im Traum paradiesischen Freuden gleich: Souvent m’avient, quant je sui endormis, Qu’en mon dormant la regart et remir, Et m’est a vis que soie en paradis Quant je lo voi, si me fet resjoïr;

(IV, 21ss.)

(Es widerfährt mir oft, wenn ich schlafe, dass ich sie im Schlaf anschaue und betrachte und es scheint mir, als sei ich im Paradies, wenn ich sie sehe, so sehr erfreut sie mich.)

269 270 271 272 273

Braet 1974, 97. Gaucelm Faidit, Nr. 12. Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 199. Ibid.: «Deus me lest anuit venir/En tel lieu que m’amie voie.» (Gott lässt mich diese Nacht an den Ort kommen, wo ich meine Freundin sehen kann). Jeanroy/Långfors 1918/1919, Nr. V.

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Dass die Kontemplation der Dame, die «imagination fiévreuse et précieuse du corps féminin»,274 ein tragendes Moment der Trobadordichtung darstellt, ist spätestens seit den Forschungen von Lazar allgemeiner Konsens.275 Der Körper wird auch schon aus der Distanz zum Spender des joi und entflammt durch seine beutat das Liebesverlangen (dezirar), denn «l’amour naît de la contemplation du corps de la dame, de la blancheur éclatante de sa peau, de la douceur troublante de son regard».276 Die contemplatio nährt das Verlangen und die Liebe, was Aimeric de Belenoi in No·m laissa ni·m vol retener 277 prägnant in eine Formel fasst: «e plus l’am on plus la remir»278 (III, 3). Auch die altfranzösische Dichtung kultiviert diese Thematik und erhebt das remirar zur Quelle der Liebesfreude, wovon beispielsweise die anonymen estampidas Doucement, sovent (II, 12) und Je chans sovent (I, 8) zeugen.279 Der Wunsch nach ungestörter contemplatio äußert sich in der Trobadordichtung bisweilen im Metamorphosen-Wunsch, dem man zum Beispiel in Tant ai mo cor ple de joya280 von Bernart de Ventadorn begegnet: Ai Deus! car no sui ironda, que voles per l’aire e vengues de noih prionda lai dins so repaire?

(V, 1–4)

(Oh Gott, warum bin ich keine Schwalbe, die durch die Lüfte fliegt und in tiefer Nacht in ihre Kammer gelangen kann?)

Die doppelte Verhüllung, die wir an dieser Stelle vorfinden – die Metamorphose und die Nacht – trägt zur Steigerung des celar-Gedankens bei. Jedoch zielt der Wunsch nicht auf eine bloß in die Traumsphäre transponierte Nähe, sondern auf die tatsächliche Überbrückung der Distanz. Verwandt mit diesem Gedanken ist auch der Wunsch des Liebenden in Can l’erba fresch’ e·lh folha par 281 nach Zauberkräften, um die Liebesfeinde in Kinder zu verwandeln und somit unwissend zu machen (V, 1s.) 282 und auf diese Weise ungestört die Liebe seiner Dame genießen zu können:

274 275

276 277 278 279 280 281 282

Zink 1992, 106. Cf. dazu auch Nelli (1989, 121): «[...] la contemplation de la dame nue avait été pour ainsi dire cérémonialisée dès l’origine de la courtoisie et [...] elle avait toujours constitué, par la suite, l’une des récompenses les plus précieuses promises à l’amant fidèle». Lazar 1964, 64. Aimeric de Belenoi, Nr. 2. Übers.: Und ich liebe sie umso mehr, je mehr ich sie betrachte. Cf. Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 19/Nr. 20. Bernart de Ventadorn, Nr. 4. Bernart de Ventadorn, Nr. 20. «S’eu saubes la gen enchantar,/mei enemic foran efan» (Könnte ich zaubern, so würde ich meine Feinde in Kinder verwandeln).

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Adoncs sai eu que vira la gensor e sos bels olhs e sa frescha color, e baizera·lh la bocha en totz sens, si que d’un mes i paregra lo sens.

(V, 5–8)

(Ich weiß, dass ich dann die Edle sehen würde, ihre schönen Augen und ihre frische Farbe und ich würde ihren Mund auf alle Arten küssen, sodass man einen Monat lang den Abdruck sehen würde.)

Ähnlich wie die Darstellung in Tant ai mo cor ple de joya,283 in welcher der Metamorphosen-Gedanke einen subtilen Voyeurismus erkennen lässt, zeigt auch diese canso das lyrische Ich als Voyeur und beweist einmal mehr, wie stark dieses Motiv das Werk des Trobadors prägt:284 Be la volgra sola trobar, que dormis, o·n fezes semblan, per qu’e·lh embles un doutz baizar

(VI, 1ss.)

(Ich würde sie gern allein antreffen, wenn sie schläft oder zu schlafen vorgibt, um ihr einen süßen Kuss zu stehlen.)

Ein solcher Voyeurismus, der in der Poesie als «Ästhetik, Sinnlichkeit und Kreativität des Sehens»285 zu verstehen ist, lässt das lyrische Ich, unbeobachtet und von jeder Rechtfertigungspflicht befreit, verbotene Freuden genießen. Die Motive des Heimlichen und des Verbotenen laden die dargestellte Erotik zusätzlich auf. Dass die Befriedigung des voyeuristischen Verlangens bisweilen dem höchsten joi gleichgesetzt wird, zeigt beispielsweise Guilhem Ademar in Pos vei que reverdejaǜl glais286 – das lyrische Ich möchte sogar auf das Paradies verzichten («Que no dezir tan paradis» VI, 4), wenn es stattdessen in das Gemach der Dame gelangen könnte, in dem sie sich entkleidet («Qu’eser lai on si despueilla» VI, 5). Guilhem Ademar greift hier einen Topos auf, der immer wieder von den Trobadors und Trouvères entwickelt wird, wie schon Lazar betont: «Tous répètent ce même désir: se trouver dans l’alcôve de la dame pour contempler son corps nu, être couché auprès d’elle, assister au moment où la dame se déshabille, etc. Il y a là une obsession commune: la nudité de la dame quand celle-ci va au lit».287

Vezer und remirar, die zentralen Begriffe der Liebeskontemplation, treten häufig auch in Kombination auf, wie beispielsweise Be·m cuidava d’amor gardar 288 von 283 284

285 286 287 288

Bernart de Ventadorn, Nr. 4. Die Prägnanz dieses Motivs im Werk von Bernart de Ventadorn hat vielleicht auch die razo (Boutière/Schutz 21973, VI, 29) zu Can vei la lauzeta mover (Bernart de Ventadorn, Nr. 31) inspiriert, in der Bernart selbst zum Voyeur wird und heimlich ein Liebestreffen beobachtet, wie die razo zu berichten weiß: «E B[ernart] vi tot, car una donzela de la domna li ac mostrat cubertamen» (Und Bernart sah alles, denn ein Kammermädchen der Dame hat es ihm heimlich gezeigt). Roloff 2003, 27. Guilhem Ademar, Nr. III. Lazar 1964, 59. Rigaut de Berbezilh, Nr. IV.

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Rigaut de Berbezilh zeigt (III, 4ss.). Ein besonderer Stellenwert kommt in diesem Zusammenhang der in der Trobadorlyrik reich kultivierten289 Metapher des remirar ab los huoills del cor zu, die schon in der Antike bekannt war (oculos cordis) und bei den Trobadors spätestens seit Bernart de Ventadorn immer wieder gepflegt wurde. So ruft der Liebende in Can par la flors josta·l vert folh290 aus: Domna, si no·us vezon mei olh be sapchatz que mos cors vos ve

(VI, 1s.)

(Dame, wenn meine Augen Euch auch nicht sehen, so sollt Ihr wissen, dass mein Herz Euch sieht.)

Und auch in Tant sui ferms e fis vas amor 291 von Gaucelm Faidit (II, 7) oder in Tant m’abellis e·m plaz292 von Arnaut de Mareuil (v. 130) betrachtet (remir) der Liebende seine Dame mit den huoills del cor. Mit Vorliebe wird die Metapher von Folquet de Marselha gepflegt, wie Chantan volgra mon fin cor descobrir 293 (IV, 9) und in Tan mou de cortesa razo294 (IV, 5) deutlich zeigen. Anders als in der Trobadorlyrik entwickelt sich diese Metapher in der altfranzösischen Poesie295 und in den cantigas der galego-portugiesischen trovadores296 nicht zum Topos. Vezer und remirar stehen in der Trobadorlyrik nicht nur im Zusammenhang mit einer contemplatio realis oder mit den Bildern der memoria, die sich der Liebende im Wachen vergegenwärtigt, sondern sie treten auch in Bezug auf eine Innenschau en durmen auf. In diesem Sinne betrachtet («regart et remir» IV, 21) das lyrische Ich beispielsweise in Après aoust, que fueille de bosquet 297 die Geliebte «en dormant» (IV, 21) und erschafft im Zustand des Schlafs kraft des trobar sein Traumbild. Bisweilen erhält das lyrische Ich sogar explizit die dichterische Inspiration im Traum. So gibt der Verfasser von L’autrier m’iere rendormiz298 vor, den Auftrag, ein religiöses Lied auf der Vorlage einer Liebeskanzone299 zu schreiben, von der Muttergottes selbst im Traum erhalten zu haben: 289 290 291 292 293 294 295

296 297 298 299

Cf. Schultz-Gora 1905, 337s. Zur Deutung und zum Ursprung der Metapher cf. Schleusener-Eichholz (1985, II, 769–787). Bernart de Ventadorn, Nr. 24. Gaucelm Faidit, Nr. 52. Arnaut de Mareuil b), Nr. III. Cf. auch Arnaut de Mareuil (a), Nr. XXII/III, 6s.). Folquet de Marselha, Nr. XVII. Folquet de Marselha, Nr. IX/IV, 5: «qu’inz el cor remir sa faisso» (IV, 5). Cf. aber Douce dame, tout autre pensement von Thibaut de Champagne (Nr. X/I, 8s.) mit der Metapher der «euz du cuer», mit denen der Liebende seine Dame «en penser» anschaut (remirer). Für ein Beispiel cf. Pai Gomez Charinho: Sennor fremosa, pois que Deus non quer (Brea 21999, II, Nr. 114, 20). Jeanroy/Långfors 1918/1919, Nr. V. Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 65. Rosenberg/Tischler 1995, 951s.: «Bien que bon nombre de chansons pieuses soient manifestement des contrafactures de compositions profanes, il est extraordinaire d’en trouver une qui reconnaisse explicitement son modèle, ce qui se produit ici dans la str. 2. Il s’agit de RS 1559, chanson d’amour composée par le Châtelain de Coucy ou par

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L‘autrier m’iere rendormiz Par un matin en esté; Adonques me fu avis Que la douce mere Dé M’avoit dit et commandé Que seur un chant qui jadis Soloit estre mout joïs Chantasse de sa bonté, Et je tantost l’ai empris. Dieus doint qu’il il viegne en gré.

(I)

(Neulich war ich an einem Sommermorgen eingeschlafen, es schien mir dann, dass die liebevolle Muttergottes mir sagte und befahl, ich solle auf die Melodie eines einst sehr geschätzten Lieds ihre Herzensgüte besingen. Alsbald unternahm ich es. Möge Gott mir helfen, dass es ihr gefalle.)

Die bereits im Werk der Trobadors angelegte Erkenntnis der Analogie zwischen (Wach)Traum und Dichtung formuliert Dante später viel expliziter. In seiner Commedia führt er «dem Leser ständig die Ähnlichkeit und Verwandtschaft der Traumwelt mit der Welt der visionären Phantasie, mit der Welt einer visionären Kunst»300 vor Augen. In seiner Poesie lösen sich der Traum und die sich zwischen Schlafen und Wachen bewegende Phantasie ständig gegenseitig ab und können eine Fülle von Formen und Inhalten annehmen. «Wenn aber sogno», so Schalk über die Dichtung Dantes, «zusammenhängt mit pensamento, vaghezza, visione, so kann sognare nicht nur träumen heißen, sondern auch sich besinnen, denken und dichten».301 Dass diese semantische Erweiterung von sogno im stil nuovo immer wieder thematisiert und variiert wird, zeigt Mentre ed umíle e più di mille sporte302 von Onesto da Bologna, in dem Träumen, Dichten und Nachsinnen – sognando (v. 2), rimando (v. 4), filosofando (v. 6), imaginando (v. 8) – in eine Reihe gestellt werden. Stärker noch als das trobadoreske somnar entwickeln die Dichter der scuola siciliana die Entsprechung des positiven consirar zum Movens der dichterischen Inspiration. Zwar greift die italienische Lyrik vereinzelt auf das Medium des Traums zurück, löst sich aber zunehmend von der Poetik des Traums, um der Poesie neue (Aus)Wege zu eröffnen. So wird der kreative Akt der Schöpfung des Traumbildes in der anonymen Kanzone Come per diletanza303 zwar noch als Übergang der intensiven Reflexion in den Schlaf hinein nachgezeichnet, doch ist die Neuakzentuierung evident. Dem eigentlichen Traum geht die Erschaffung der figura mentis voraus:

300 301 302 303

Raoul de Ferrières et qui est conservée dans plusieurs chansonniers, y compris les deux sources de la contrafacture». Schalk 1966, 306s. Schalk 1966, 309. Segre/Ossola 1999, 426. Coluccia 2008, Nr. 49.21.

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E sì gli ochi ne formo ca, come omo a lo speglio si vede afigurato, così il suo stato paremi vedere.

(III, 9–12)

(Und wenn ich vor meinen Augen ihr Bild entstehen lasse, so scheint mir, wie einem Mann, der im Spiegel sein Abbild erblickt, als sähe ich ihre Gestalt.)

Das Bild der Dame entsteht somit vor dem geistigen Auge als Resultat der Reflexion und selbst geschaffenes Substitut: «Der Liebende löst sich von der Erscheinung der Herrin. Indem er mit dem geistigen Auge, der denkenden Phantasie, ihr imaginiertes Bild liebt, gelangt er zur innigsten Verschmelzung mit Amor und zur reinsten Erkenntnis von dessen Wesen».304

So entwickeln die italienischen Dichter die in der altokzitanischen und altfranzösischen Dichtung kultivierte Idee des remirar und des remirar en durmen weiter, indem sie sich einerseits immer stärker von der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung der Dame lösen und so einen höheren Abstraktionsgrad erreichen305 und andererseits das imaginierte Bild als bewusste Schöpfung der wachen Phantasie begreifen. Gewiss bleibt dabei die Bedeutung des Sehsinns als Ursprung und Basis der figura mentis erhalten.306 Die Idee der inneren Anschauung klingt in Ansätzen auch schon in der Trobadorlyrik an,307 ohne jedoch zur festen Metapher zu werden. In der scuola siciliana hingegen wird die Poetik der figura mentis voll entfaltet, indem das leibliche Sehen über das Nachsinnen in ein inneres Erschaffen übergeht und so das Bild kreiert. Die Metapher des pingere nella mente gibt diesen Prozess wieder. Und noch Dante wird seine Beatrice in der Vita Nova als «donna della mia mente» bezeichnen. Dieses geistige Erschaffen ist als aktiver Akt vorzustellen und unterscheidet sich so von den Bildern der Dame, die die von den Trobadors besungenen Liebenden im Herzen tragen. In der trobadoresken Konzeption implantiert nämlich Amor als externe Kraft das Bild der Geliebten ins Herz des Liebenden. So betont zum Beispiel Aimeric de Belenoi in No·m laissa ni·m

304 305

306

307

Friedrich 1964, 60. Abstraktion und philosophisch fundierte Neuorientierung des trobadoresken Motivinventars sind immer wieder betonte Merkmale der Dichtung der scuola siciliana ; cf. z. B. Wittschier (2000, 135). Besonders die verstärkte Aristoteles-Rezeption im 13. Jh. hat zusätzlich zur Aufwertung des Sehsinns und der Visualität beigetragen, da die Erkenntnis als Bewegung von außen nach innen verstanden wurde, sodass die konkrete Anschauung als conditio sine qua non des psychophysiologischen Verlaufs der Liebesphänomenologie erhalten blieb. Cf. z. B. Aimeric de Belenoi: Nulls hom non pot complir adreizamen (IV, 1ss.): Cant e mon cor remir son bel cors gen le dous pensars m’abellis tant, e·m plai c’ab ioi languisc […] (Wenn ich in meinem Herzen ihre schöne und edle Erscheinung betrachte, ist mir mein Nachdenken so angenehm und gefällt mir so sehr, dass ich vor Freude Sehnsucht empfinde/Aimeric de Belenoi, Nr. 7).

99

vol retener,308 das Bild der Dame, das er im Herzen trage («qu’el cor/la tenc» III, 5s.), sei ein Werk Amors («Amor la·m mes e·l cor» IV, 5). Auch an dieser Stelle wird das «gesteigerte Abstraktionsniveau»309 der scuola siciliana im Vergleich zur Trobadorlyrik deutlich. Zusätzlich tritt die memoria310 in der scuola siciliana als essentielles Element der Poesie und Poetik hinzu, wie Al cor m’è nato e prende uno disio311 von Jacopo d’Aquino besonders deutlich zeigt: Membrandomi la sua cera piagente, veder la crëo tuta per sembianti: com’om ch’a lo spechiare tene mente, così mi pare ch’io l’aggia davanti

(IV, 1–4)

(Und wenn ich mir ihr fröhliches Gesicht ins Gedächtnis rufe, glaube ich sie in voller Erscheinung zu sehen, wie jemand, der in einen Spiegel schaut,312 so scheint mir, als hätte ich sie vor mir.)

Vezer und remirar sind schon in der Trobadorlyrik die treibenden Kräfte, die die Liebe entzünden, was Andreas Capellanus in De Amore folgendermaßen zusammenfasst: «Die Liebe (amor) ist im Inneren geborenes Erleiden (passio), welches aus dem Anblick (ex visione) und der unmäßigen gedanklichen Beschäftigung (cogitatio) mit der Wohlgestalt (forma)» (I, 1) hervorgeht. Der visuelle Eindruck und die darauf folgende intensive Reflexion sind die Kennzeichen der als passio charakterisierten Liebe. In Anknüpfung an die aristotelische Erklärung des erotischen Begehrens313 wird diese Idee in der Dichtung der scuola siciliana reflektiert. Ähnlich wie Giacomo da Lentini in Amor è un desio che ven da core314 in einer geradezu philosophischen Reflexion das Entstehen der Liebe erklärt, zeichnet Jacopo d’Aquino das Werden des inneren Bildes nach. Dabei kommt neben der vista und der memoria auch dem pensamento und dem Verb rafigurare eine zentrale Rolle zu. So entsteht das Bild der Dame beispielsweise in Luntan vi son, ma presso v’è lo core315 aus dem Material, das die Gedanken liefern («così, ’n pensero voi rafigurando» I, 11), und in Amor mi fa sovente316 von Re Enzo gebiert das stets auf die Dame fixierte Nachsinnen das innere Bild (II, 9ss.). Das trobadoreske Konzept der 308 309 310 311 312 313

314 315 316

Aimeric de Belenoi, Nr. 2. Neumeister 1993, 399. Zur Idee der memoria cf. auch Folquet de Marselha (Nr. XI): En chantan m’aven a membrar. Di Girolamo 2008, Nr. 12.1. Cf. Panvini 1964, 100b: tenere mente: ‘guardare’. Die von Aristoteles beschriebene Rezeption des Abbildes des begehrten Objekts mittels des Sehsinns und die Entstehung der Liebe nach einer Reihe von Abstraktionsprozessen wird im Mittelalter von Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae (II, 26, 2) rezipiert. Darin wird die visio zum «principium amoris» erklärt und die Liebe als Bewegung in drei Phasen beschrieben: Ergriffenwerden und Wohlgefallen (complacentia), Hingezogenwerden (desiderium) und Erfüllung und freudiges Verweilen (gaudium). Antonelli 2008, Nr. 1.19c. Coluccia 2008, 220. Zur Frage der Attribution cf. Panvini (1962, p. XLVIII). Di Girolamo 2008, Nr. 20.1.

100

amor de lonh klingt darin nach. In ähnlicher Weise begegnet es auch in Per forza di piacer, lontana cosa317 von Caccia da Siena: Auch wenn die Dame faktisch fern ist («lontana cosa» I, 1), ist sie dem Liebenden als inneres Bild nah («è prossimana al core» I, 2). Diese sembianza, figura318 oder pintura wird in der scuola siciliana sowie bei den poeti siculo-toscani mit einer bemerkenswerten Eigendynamik und Autonomie versehen. Kraft der imaginatio (IV, 9s.) erreicht der Dichter trotz körperlicher Ferne (IV, 7)319 eine spezifische Nähe, die der Körperlichkeit nicht bedarf. Der Dichter wird eins mit dem Objekt der Verehrung, die Grenzen zwischen dem Ich und dem Du werden transparent, wie die in der scuola siciliana immer wieder gebrauchte Spiegel-Metapher320 deutlich macht. Was den okzitanischen Sängern der Traum ist, sind den Dichtern der scuola siciliana der Spiegel und die memoria: Mittel der Selbsterkenntnis, die das Innere reflektieren, denn «l’uomo può scoprirsi e identificarsi solo all’interno della sua stessa memoria».321 Von einer solchen Kraft der imaginatio handelt auch das Sonett Eo viso e son diviso da lo viso322 von Giacomo da Lentini, ein Spiel mit etymologischen und pseudoetymologischen Variationen323 von viso. Die conclusio lautet: E credo per aviso che da ‘viso’ giamai me’ non pos’essere diviso, che l’uomo vi ’nde possa divisare

(v. 12ss.)

(Und ich glaube, aufgrund tiefen Nachsinnens, dass der Mann nicht ganz von dem Antlitz getrennt werden kann, da er fähig ist, es sich mit der eigenen Phantasie vorzustellen.)

Der Liebende trägt das Bild seiner Dame im Herzen eingraviert: «che ’nfra lo core meo/porto la tua figura»324 (I, 8s.) heißt es in Meravigliosa-mente325 von Giacomo

317 318

319 320 321 322 323 324 325

Coluccia 2008, Nr. 36.1. Ausführliche Überlegungen zur Bedeutung der figura in der Patristik und darüber hinaus hat Auerbach (1938) angestellt. Allerdings kreisen seine Reflexionen hauptsächlich um die theologische Figurallehre. Zur Dichtkunst bemerkt Auerbach (1938, 476s.): «Nicht ganz deutlich ist es mir, wie weit die ästhetischen Vorstellungen figural bestimmt sind – wie weit also das Kunstwerk als figura einer noch unerreichbaren Erfüllungswirklichkeit aufgefasst wird. Die Frage der künstlerischen Naturnachahmung hat im Mittelalter nur wenig theoretisches Interesse erregt; dafür umso mehr die Vorstellung, dass der Künstler, gleichsam als Figur des Schöpfers Gott, ein im eigenen Geiste lebendes Urbild verwirklicht. Das sind, wie man sieht, Gedanken neuplatonischen Ursprungs». Ferner bemerkt Auerbach (1938, 457), dass das figura-Konzept durchaus auch Traumgebilde und Visionen umfasst. Anonym: La gran sovrabbondansa (Coluccia 2008, Nr. 49.24, IV, 9s.). Cf. z. B. Jacopo d’Aquino: Al cor m’è nato e prende uno disio (IV, 3/Di Girolamo 2008, Nr. 12.1). Bordini 2008, 123. Antonelli 2008, Nr. 1.29. Cf. die folgende Semantik: viso: ‘Gesicht’ und ‘ich sehe’; diviso: ‘getrennt’, ‘inneres Schauen’, ‘Reflexion’. Übers.: Denn in meinem Herzen trage ich dein Bild. Antonelli 2008, Nr. 1.2.

101

da Lentini. Da der Dichter das Werk von Folquet de Marselha kannte,326 ist hier ein Einfluss von En chantan m’aven a membrar 327 denkbar, in dem es analog heißt: «qu’inz el cor port, domna, vostra faisson» (I, 9). Wie prägnant dieses Bild für die mittelalterlichen Rezipienten gewesen sein mag, zeigt eine Randzeichnung der in Italien des 13. Jh.s kompilierten Handschrift N (fol. 59), die neben der canso von Falquet de Romans platziert ist und eine literale Umsetzung der Verse ins Medium des Bildes bietet. Eine männliche Figur trägt anstelle seines Herzens den Kopf einer blonden Frau.328 Während aber das innere Bild bei Folquet de Marselha als internalisiertes Abbild erscheint, macht Giacomo da Lentini den Liebenden nicht nur zum passiven Träger der figura, sondern zugleich zum Schöpfer dieses Bildes.329 Die vom Verlangen animierte imaginatio lässt den Liebenden zum Künstler werden, der – Pygmalion gleich – das Abbild seiner Liebe in der Kunst zum Leben erweckt: Avendo gran disio, dipinsi una figura, bella, a voi simigliante; e quando voi non vio guardo in quella pintura, e par ch’eo v’agia avante.

(III, 1–6)

(Erfüllt von großem Verlangen zeichnete ich ein Bild, Schöne, das Euch ähnelt. Und wenn ich Euch nicht sehe, schaue ich dieses Bild an, und es scheint, als ob ich Euch vor mir hätte.)

Es ist ein «kreative[r] Prozess reflexiven Imaginierens»,330 der zur Entstehung der so verstandenen pintura führt. Die Leistung Giacomos331 und der scuola siciliana besteht in der Internalisierung der Wirklichkeit zum Gedankenbild durch die 326

327 328

329

330 331

Von der Berühmtheit des Trobadors in Italien des 13. und 14. Jh.s. zeugt zum Beispiel die Erststellung seiner Lieder in der in Italien kompilierten Hs. N und gewiss auch die Tatsache, dass er der einzige Trobador ist, den Dante ins Paradiso (IX) beruft. Folquet de Marselha, Nr. XI. Cf. Rieger, A. 1985, 385: «‹Ins e·l cor port, dona, vostra faisso›, ce vers de Folquet de Marselha évoque l’image d’un visage de femme d’une beauté idéale dont la description, dans la lyrique troubadouresque, nous est très familière; mais quelle surprise de la voir concrétisée, dessinée par une main du XIIIe s. en marge d’un chansonnier, à côté de ce vers – une jolie tête blonde à la place du cœur d’un personnage masculin». Cf. Zeiner 2006, 45: «Im Unterschied zum bildenden Künstler allerdings, der sein Gemälde als räumlich und dinglich von sich selbst differenziertes Gegenüber auf einer Leinwand gestaltet, schreibt sich der Liebende die figura der Dame als figura mentis direkt in das eigene Bewusstsein ein, wo sie als permanent Anwesendes letztlich nicht vom eigenen Selbst unterscheidbar ist». Zeiner 2006, 46. Cf. Zeiner 2006, 111: «In der neueren Giacomo-Forschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich die Dichtung des Sizilianiers hauptsächlich durch die Aufwertung der Phantasie und die Autonomie des inneren Bildes von der provenzalischen Tradition abhebt. Die reale Person der Geliebten wird in vielen Texten klar vom phantasma der Vorstellung unterschieden, wobei letzteres mit dem relativ eindeutigen Terminus

102

gestaltende Kraft der imaginatio. Kraft der schöpferischen Inspiration wird das Anschauungsbild zusätzlich idealisiert und aufgewertet. Die Distanz beflügelt die Phantasie, und die Reflexion der Liebe hat Dichtung zur Folge.332 Eine solche Innenschau geht gleichzeitig mit einer Aufwertung der individuellen Imagination einher: Mittels des selbst erschaffenen Bildes reflektiert der Dichter immer auch sich selbst.333

332 333

figura als mentale Wirklichkeit definiert wird und als eigentliches Anschauungsobjekt fungiert». Cf. die Auffassung der Dichtung als Eingebung Amors schon bei Platon (Bd. III Gastmahl, 196e). Cf. dazu auch Zeiner 2006, 46.

103

4.

Externe Klassifikations- und Deutungsmuster für alba und somni: Zwei exemplarische Studien

4.1. Mittelalterliches Gattungsbewusstsein? Interne und externe Gattungszuweisungen Unser heutiges Wissen über die im Mittelalter gepflegten lyrischen Gattungen, über deren Benennung und Abgrenzung, beziehen wir aus den Gattungszuweisungen, die uns mittelalterliche Quellen überliefern. Dabei kann zwischen internen und externen Hinweisen unterschieden werden. Interne Informationen können durch sogenannte Autozuweisungen den poetischen Texten selbst entnommen werden, die häufig in Exordialstrophen oder tornadas zu finden sind. Solche Gattungsbezeichnungen werden in der Trobadorlyrik bisweilen von längeren metapoetischen Reflexionen begleitet oder im Zusammenhang mit der Stilfrage diskutiert. Einen externen Hinweis auf Gattungszuweisungen bieten die in der Regel später hinzugefügten Liedüberschriften und Bezeichnungen in Handschriftenrubriken. Ferner enthalten auch die als Kommentare und Ergänzungen konzipierten vidas und razos der Trobadortradition Hinweise zur Verbreitung und Praxis bestimmter Genres. Einen Glücksfall stellen schließlich die im 13. und 14. Jh. im romanischen Kulturraum entstandenen Poetiken dar, die nicht nur Namen lyrischer Gattungen überliefern, sondern teilweise auch Definitionen und Abgrenzungen derselben thematisieren. Insgesamt zeugen die internen und externen Hinweise von einem, wenn nicht im klassischen Sinne kodierten, so doch existierenden Gattungsbewusstsein,1 nämlich von der sich seit dem 12. Jh. immer stärker abzeichnenden Bemühung, die Vielfalt der lyrischen Produktion ordnen und reflektieren zu wollen. So zeigen die genannten Quellen im Falle von alba und somni kein eindeutiges Bild, doch sie beweisen die Existenz und Verwendung der Termini in unterschiedlichen Kontexten. Mehr noch als der somni wird die alba im okzitanischen Raum insbesondere im 13. Jh. als ‘Gattung’ empfunden,2 wobei die unterschiedlichen Zeugnisse für ein weites Konzept der Gattung sprechen, das die profane und die religiöse Variante umfasst und ebenfalls alba-Abwandlungen unter dem Gattungsschema subsumiert.

1

2

Cf. dazu die Gegenstimme von Bec (1977, I, 35): «Et pourtant, les hommes du moyen âge ne paraissent pas avoir eu l’idée que les textes poétiques pouvaient être rangés en ensembles génériques». Cf. Monari 2005, 670.

105

4.1.1.

Zuweisungen der Trobadors

Erich Köhler hat die Zeit um 1170 als die Periode benannt, zu der sich «für nahezu alle Gattungen ein bestimmter Terminus durchsetzt»,3 von einer tatsächlichen Ausdifferenzierung aber, die über die Termini vers, canso, sirventes und cobla hinausgeht, kann man sicher frühestens ab Ende des 12. Jh.s sprechen. Untersucht man die Trobadorlieder auf Gattungsbezeichnungen hin, so stellt man fest, dass etwa bis 1150/1160 vers die einzige Bezeichnung innerhalb des lyrischen Systems der Trobadors darstellt.4 Erst nach 1160 tritt zum Terminus vers die Bezeichnung canso hinzu – «Guillaume IX, Cercamon, Marcabru et Peire d’Auvergne qualifient leurs chansons de vers; Guillem [de Saint Didier], comme B. de Ventadour, emploie vers et chanso».5 Die Kanzone entwickelt sich rasch zur Hauptgattung der Trobadorlyrik und behält ihre Position bis etwa 1200. Während aber Bernart de Ventadorn die Termini canso und vers noch weitgehend synonym gebraucht,6 fällen andere Trobadors unterschiedliche Urteile über Funktion und Verwendung der Bezeichnungen.7 So versucht beispielsweise Guiraut de Bornelh vers und canso über den Stil zu differenzieren und ordnet den vers dem dunkeln Stil zu, während die chanso oder cansoneta mit dem trobar leu in Verbindung gesetzt wird.8 In einem solchen Zusammenhang kann in die Unterscheidung auch eine Wertung einfließen, wie es beispielsweise bei Peirol der Fall ist, der in einer seiner Kanzonen (BdT 366, 20) 9 ganz klar zwischen dem vers und der canso differenziert und dem vers das Urteil «mais valer» (I, 7) zuspricht.10 Nach der Einführung und Etablierung der canso als literarische Form gewinnt neben der cobla, die etwa 19 % des okzitanischen Liedguts ausmacht,11 der Terminus sirventes nicht nur quantitativ immer mehr an Bedeutung. Zwar gilt der Mitte des 12. Jh.s aktive Marcabru in der Forschung als Hauptvertreter des sirventes, doch verwendet er den Terminus an keiner Stelle und bezeichnet fast alle seiner Kompositionen als vers. Erst Bernart Marti führt Mitte des 12. Jh.s die grundlegende Unterscheidung zwischen canso und sirventes ein.12 Weitere Ausdifferenzierungen und Kategorisierungen zeigen sich erst in der zweiten Hälfte des 12. Jh.s, wobei

3 4 5 6 7 8 9 10

11 12

Köhler 1987b, 48. Cf. Gonfroy 1988, 128. Guillem de Saint Didier, 106/Anm. 2. Cf. Paden 2000b, 29s. Zur Problematisierung des Terminus vers als Gattungsbezeichnung cf. Mölk (Guiraut Riquier a), 121–133). Cf. Schlieben-Lange 1997, 96. Peirol, Nr. XX. Schlieben-Lange (1997, 87) bemüht sich zu zeigen, dass die Trobadors vers und canso nicht als genuine Gattungsbezeichnungen verstanden haben, sondern als «Bezeichnung unterschiedlicher Gesichtspunkte […]: ein als vers kategorisiertes Produkt soll unter dem Gesichtspunkt des Textes gesehen werden; ein als chanso kategorisiertes Produkt unter dem Gesichtspunkt der Melodie und des Vortrags». Cf. Ringger 1991, 110. Paden 2000b, 29s.

106

die Gattungsbezeichnungen vornehmlich in Exordialstrophen und tornadas zu finden sind – so etwa in den Liedern von Peire d’Alvernha.13 Terminologische Ausdifferenzierungen, die von einem Gattungsbewusstsein zeugen, begegnen um 1190 bei Raimbaut de Vaqueiras, der nun «fast jedes Gedicht kategorisiert, als sirventes, als descort, als estampida».14 In diese Zeit fällt auch die Wirkungsphase von Uc de la Bacalaria, dem wir wohl die erste uns überlieferte Benennung der alba als Gattung verdanken. Während der somni in den poetischen Texten selbst an keiner Stelle als Gattung figuriert, überliefert das Liederkorpus ({A b, 9}/RA 3) zwei Stellen, die die alba eindeutig als Genre ausweisen, hinzu kommt eine in diesem Zusammenhang kontrovers diskutierte Textstelle {A b, 10}: Autor/Lied

Datierung

alba als Gattungsbezeichnung im Text

Uc de la Bacalaria: Per grazir la bon’estrana {A b, 9}

Ende 12./ Anfang 13. Jh.

«Vuelh far alb’ab son novelh» (I, 4)

Cadenet: S’anc fui belha ni prezada {A b, 10}

Anfang 13. Jh.

«son d’alba» (I, 9)

Guilhem d’Autpol: Esperanza de totz ferms esperans15

Ende 13. Jh.

«A totz ayssels que diran aquest’alba» (T2, 3)

15

Wie die Belege zeigen, erscheint die Gattungsbezeichnung alba in einer TageliedVariation des wohl zwischen Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts poetisch aktiven Uc de la Bacalaria. In seinem Lied kündigt der Trobador an, eine alba mit einer neuen Melodie (son novelh) dichten zu wollen. Die Betonung, die Uc de la Bacalaria auf den son legt, könnte als Hinweis auf die Existenz eines traditionellen musikalischen alba-Schemas gelesen werden.16 Als externe Stütze dieser These könnte die Formulierung «son d’alba» (I, 9) aus dem Tagelied von Cadenet {A b, 10} verstanden werden, die, neben interner Beobachtungen entsprechender musikalischer Strukturen der überlieferten alba-Notationen,17 möglicherweise von der «tradició musical del gènere»18 zeugt. Als Hinweis auf die noch im 14. Jh. möglicherweise blühende musikalische alba-Tradition ist ferner eine Bemerkung aus dem Jeu de sainte Agnès zu nennen, die ebenfalls den son d’alba als terminus technicus tradiert, wenn darin ein «planctum in sonu albe REI

13 14 15 16

17 18

In diesem Sinne stellt Arnaut Daniel eine Ausnahme dar, da er als Einziger konsequent die Gattungsbezeichnung canso für alle seine Kompositionen verwendet. Schlieben-Lange 1997, 89. Chaguinian 2008, 291s. Cf. Monari 2005, 760: «Che esistesse comunque un tipo de melodia comune nelle albas lo mostra anche Uc de la Bacalaria quando sente la necessità di specificare, in un testo da molti considerato ai margini o fuori dal genere, di volere fare un’alba con un son novelh, rinunciando forse a quello che doveva essere un son di tradizione». Cf. dazu Monari (2005, 721) und ausführlich Rossell (1992, 233–243). Rossell 1992, 241.

107

GLORIOS VERAI LUMS E CLARDAT»19 angestimmt wird. Dass es sich bei die-

sen Hinweisen sicher nicht um Zufallstreffer handelt, zeigt das Ende des 13. Jh.s entstandene religiöse Lied von Guilhem d’Autpol. Darin spielt der Trobador mit dem Erwartungshorizont der Rezipienten und gleichzeitig mit der Semantik von alba. Er verwendet das Lexem alba im Sinne von ‘Morgenröte’ als Refrainwort der sechs coblas und der ersten tornada, lädt es aber bei seiner letzten Nennung am Ende der Komposition semantisch auf, womit er einen Überraschungseffekt erzielt und gleichzeitig der gesamten Komposition einen Namen gibt. Diese Belege bedeuten nicht nur, dass der Terminus alba bereits zu Beginn des 13. Jh.s vermutlich die Funktion einer Gattungsbezeichnung hatte, sondern sie verweisen – ähnlich wie die zahlreichen Anspielungen auf die alba-Thematik in anderen Gattungen20 – auf die Popularität des Schemas. Zwei der genannten Lieder stellen nämlich Variationen des typischen Tageliedschemas dar, wenn man die erotische alba als Ursprung der Thematik versteht – und bekanntlich setzen Variationen eines Gattungsschemas stets dessen Etablierung voraus. Ferner stützt ein weiteres Beispiel aus dem 13. Jh. die Annahme des hohen Bekanntheitsgrades der Gattung. Es handelt sich dabei um ein poetologisches Zeugnis, die wohl im Namen von König Alfons von Guiraut Riquer verfasste declaratio21 (1275), in der der Trobador ein System zur Bezeichnung der Sänger und Dichter (v. 198–322) 22 entwirft. Darin stehen in hierarchischer Dreiteilung vor den joglars (welche die Dichtung anderer vortragen) die trobadors (die Verse und Melodien komponieren) und vor jenen die doctors de trobar (die Meister auf dem Gebiet der Dichtung). Zu den Gattungen, die von den trobadors gedichtet werden, zählt auch die alba : car qui sap dansas far e coblas e baladas d’azaut maistreiadas, albas e sirventes, gent e be razos es c’om l’apel trobador

(v. 250–255)

(Denn derjenige, der dansas machen kann und sowohl schön gedichtete coblas als auch baladas, albas und sirventes, wird ganz zu Recht trobador genannt.)

Einige Verse weiter erscheint die Gattungsbezeichnung alba noch einmal neben den Termini dansa, sirventes und partimen (v. 356–361). Dieser Beleg spricht 19 20

21 22

Cf. Jeu de Sainte Agnès, 16/v. 361. Cf. z. B. Woledge (1965, 349–353). Cf. auch die implizite und ex negativo vorgebrachte Charakterisierung des erotischen Tagelieds in den Strophen IV und V der religiösen alba von Cerveri de Girona, Axi com cel c’anan erra la via (RA 6), in der derjenige, der Maria anbetet, dem Liebenden der erotischen alba entgegengesetzt wird. Guiraut Riquier b), XI, 2. Schon 1274 legt Guiraut Riquier mit der sogenannten an den spanischen König gerichteten supplicatio (cf. Guiraut Riquier b), XI, 1) eine Klassifikation der Sänger und Dichter vor, in der er zwischen Unterhaltungskünstlern, Sängern, Jongleuren, einfachen und weisen (v. 810–819) Dichtern (trobadors) unterscheidet.

108

nicht nur für die Bekanntheit der Gattung unter den Trobadors des okzitanischen Raums, sondern lässt auch auf eine Vertrautheit mit der Dichtungsform auf der Iberischen Halbinsel – oder zumindest am Hofe von Alfons X. – schließen. Jedoch sind Belege für den Gebrauch von alba /alva als terminus technicus in den Liedern der galego-portugiesischen Sänger nicht bekannt. Ähnliches gilt, wie schon Jeanroy23 betont, für die nordfranzösische aube, die in den Texten der Trouvères an keiner Stelle als Gattungsbezeichnung auftritt. 4.1.2.

Handschriftenrubriken, Überschriften, vidas und razos

Für die externen Gattungszuweisungen, die Handschriften in Rubriken und Liedüberschriften tradieren, steht eine systematische Untersuchung aller bekannten Manuskripte der romanischen Lyrik noch aus und wäre wünschenswert. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit konnten exemplarisch über zwanzig Trobador- und Trouvère-Handschriften der Bibliothèque Nationale und der Arsenal-Bibliothek in Paris eingesehen werden24 sowie zwei Manuskripte der Biblioteca de Catalunya,25 sodass durchaus repräsentative Aussagen bezüglich der Gattungszuweisungen (alba /somni) getroffen werden können. Während implizite Gattungsbezeichnungen in den Liedern selbst auf ein Gattungsbewusstsein der Dichter schließen lassen, sind Gattungsnennungen in den Überschriften und Rubriken der Handschriften in der Regel dem Bedürfnis der späteren Kopisten nach einer gewissen Ordnung der Sammlungen geschuldet. Gattungszuweisungen in Handschriften stellen ab dem Ende des 13. Jh.s keine Seltenheit dar. Parallel zu dem sich entwickelnden Gattungsbewusstsein und der Herauskristallisierung und allmählichen Konsolidierung eines ‘Gattungssystems’ beginnen die Kopisten in Südfrankreich und Italien – und nicht nur dort – die Handschriften nach Gattungen zu gliedern, was zum Teil auch auf die für uns interessanten Hs. A, C, D, E, G, I, K, N, P, R, Sg, T und VeAg zutrifft. Dabei kann die Gattungszuweisung als Randbemerkung, als Titel oder aber als Rubrikbenennung am Anfang der Hs. oder zu Beginn einer bestimmten Sektion erfolgen. Insgesamt werden in den untersuchten Trobador-Handschriften acht Kompositionen explizit als albas bezeichnet:

23

24

25

Jeanroy 41969, 61/Anm. 1: «Nous n’avons jamais rencontré dans les textes français ce mot s’appliquant à un genre poétique; mais c’est un pur hasard sans doute, car il devait exister dans ce sens, parallèlement au provençal alba, puisque le genre était connu au nord comme au midi». B. N. fr. 1592, B.N. fr. 856, B. N. fr. 1749, B. N. fr. 854, B. N. fr. 12473, B. N. fr. 12474, B. N. fr. 22543, B. N. fr. 15211, B. N. fr. 1745, B. N. fr. 12472, Paris, Arsenal 5198, B. N. fr. 844, B. N. fr. 845, B. N. fr. 846, B. N. fr. 1591, B. N. fr. 12581, B. N. fr. 12615, B. N. fr. 20050, B. N. fr. 24406, B. N. nouv. acq. fr. 1050, B. N. fr. 12786 und B. N. fr. 795. Barcelona, Biblioteca de Catalunya, Ms. 7 und Ms. 146 (letzteres ist vollständig digitalisiert unter: http://mdc.cbuc.cat/cdm4/document.php?CISOROOT=/manuscritBC&CI SOPTR=24511&REC=1). Zum Ms. 7 cf. die Studie von Alberni (2003).

109

Lied

Hs., fol.

Bezeichnung

Guiraut de Bornelh: Reis glorios {A b, 7}

T, fol. 86r

alba (Überschrift)

Guiraut Riquier: Qui velha (RA 4)

C, fol. 311rA

Alba de la maire dieu (Überschrift)

Cerveri de Girona: Axi com cel (RA 6)

Sg, fol. 11v

alba (Überschrift)

Guiraut Riquier: Ab plazen {A b, 13}

C, fol. 310rB

La primeira alba que fes Guiraut Riquier l’an 1257 (Überschrift)

Anonym: Quan lo rossinhols {A b, 1}

C, fol. 383vB

albas ses titol (Rubrik, erstes Lied)

Anonym: Ab la genser que sia {A b, 2}

C, fol. 383vB

albas ses titol (Rubrik, zweites Lied)

Anonym: En un vergier {A b, 3}

C, fol. 383vB

albas ses titol (Rubrik, drittes Lied)

Anonym: Eras diray {A b, 5}

VeAg, fol. 51r–v26

alba (Überschrift)

26

Interessant erscheint die Tatsache, dass die Hs. C, die insgesamt 14 der 19 überlieferten albas tradiert, in der Gattungszuweisung keinen Unterschied zwischen der erotischen alba und der in der Forschung als contre-alba bezeichneten Ausprägungen macht, jedoch zwischen der religiösen (Alba de la maire dieu) und der profanen Form differenziert, während die katalanischen Manuskripte (VeAg und Sg) keine Unterschiede diesbezüglich zeigen. Alba als terminus technicus fällt zudem in der Hs. C (fol. 288) im Rahmen der Einführung der Lieder von Guiraut Riquier. Darin werden exemplarisch Gattungen aufgelistet, die im Liedkorpus des Trobadors zu finden sind: «de cansos e de verses e de pastorellas e de retroenchas e de descortz e d’albas e d’autras diversas obras».27 Im Falle der Trobadors der Spätzeit wie Guiraut Riquier oder Cerveri de Girona kann man vermuten, dass die Klassifizierungen der Lieder in Form der vorangestellten Titel von den Dichtern selbst stammen.28 Das gilt sowohl für die überlieferten Titel der Lieder von Guiraut Riquier in der Hs. C, wozu die in der Tabelle genannten alba-Zuweisungen zählen, als auch für die Überschriften der Lieder von Cerveri de Girona in der Hs. Sg. Gattungsnennungen in Liedtiteln durchziehen die gesamte Handschrift Sg, die fast das komplette Werk von Cerveri de Girona überliefert. Dabei wird der jeweiligen Komposition entweder eine simple Gattungsbezeichnung wie estampida (z. B. fol. 9r) oder dança (z. B. fol. 34v) als Titel vorangestellt oder aber sie wird mit einer Paraphrase betitelt, die den Gattungsnamen enthält, wie im Falle von 26 27 28

Chaguinian (2008, 217) richtet sich nach der alten Zählung der Handschrift und gibt fol. 101–102 an. Cf. Poe 1985a, 91. Cf. Schlieben-Lange 1997, 96.

110

Entr’Arago e Navarra jazia (fol. 33r), das den folgenden Titel trägt: lo sopni q(ue) fetz en cerueri. Diese Überschrift kann durchaus als Gattungszuweisung verstanden werden.29 Solche Paraphrasen tauchen in manchen Fällen in Verbindung mit Genres wie canso (z. B. la canço del comte f. 6r), planh (lo plant den R de cardona q(ue) feu en cerueri f. 32r), cobla (cobla en .vi. lengatges f. 32v) oder vers (z. B. f. 19r lo u(er)s de falsa femna) auf. Sie enthalten neben einer möglichen Angabe zum Verfasser und zu eventuellen Besonderheiten der Lieder häufig Hinweise auf die Thematik der Kompositionen. Auch die sogenannten vidas und razos tradieren Gattungsbezeichnungen. Fünf der vierundzwanzig Handschriften, die vidas und razos überliefern, stammen aus dem 13. Jh. (A, B, H, I, K). Neben Informationen zur Herkunft, zum sozialem Stand und Liebesleben eines Trobadors liefern die Texte auch Hinweise darauf, «what kind of poems he wrote».30 Auch den in vidas und razos formulierten Hypothesen über einen bestimmten Trobador als Erfinder einer Dichtungsform oder über die Vorliebe bestimmter Trobadors für spezielle Gattungen kann man interessante Informationen für die Beschäftigung mit Gattungskonzepten entnehmen. So weiß der Verfasser der vida von Peire d’Alvernha zu berichten, der Trobador hätte keine cansos geschrieben, sondern seine Lieder ausschließlich vers genannt. Ferner wird Guiraut de Bornelh als Erfinder der canso gepriesen («fetz la premeira canson que anc fos faita»31) und Garin lo Brun wird in seiner vida ausschließlich als Tenzonendichter präsentiert: «Non fo trobaire de vers ni de chansos, mas de tensos».32 Vidas und razos kennen eine breite Palette an Gattungsbezeichnungen, zu denen alba, canso, cobla, comjat, dansa, descort,33 pastoreta, planh, retroenga, sirventes, somni, (e)stampida, tenso und vers gehören. Am häufigsten begegnen die Gattungsbezeichnungen canso /chanson – immer wieder auch als Sammelbezeichnung für unterschiedliche Liedformen. Ferner sind cobla, vers und tenso den übrigen Gattungsnennungen quantitativ deutlich überlegen. Neben comjat und pastoreta werden auch alba und somni jeweils einmal als Gattungen benannt. Raimon de las Salas, der laut seiner vida weder «mout conogutz» noch «prezatz» war, wird als alba-Dichter präsentiert: «E trobet cansos et albas e retroenzas».34 Zwar ist keine retroenge dieses Trobadors erhalten, doch überliefern drei Hs. (C, D, R) seine alba {A b, 11}. Die Gattungsnennung somni wiederum begegnet in

29 30 31 32 33

34

Cf. Grimaldi 2008, 6. Poe 1995, 186. Boutière/Schutz 21973, XXXIX, 263 (Übers.: [Er] machte die erste canso, die je gemacht wurde). Boutière/Schutz 21973, XLIII, 299 (Übers.: Er dichtete keine vers und keine cansos, sondern tensos). In seinem Beitrag zum mittelalterlichen Gattungsbewusstsein und den frühen poetologischen Texten der Romania bemerkt Pickens (2000, 211): «It is perhaps significant that dansas, descorts, and escondigs are not mentioned in the vidas or razos». Diese Aussage trifft aber auf die Genres dansa (drei Nennungen) und descort (fünf Nennungen) nicht zu. Boutière/Schutz 21973, LXXXIV, 510.

111

der razo zum Lied No posc sofrir c’a la dolor {S b, 5} von Guiraut de Bornelh, wie sie die Hs. Sg (fol. 92) tradiert:35 «el fez un somni, lo qual vos auziretz en aquest libre, qui comensa aissi».36 Möglicherweise hat der Kopist der Handschrift, die ja bekanntlich auf fol. 33r auch das als solches benannte Traumlied von Cerveri de Girona enthält, im Lied von Guiraut de Bornelh das Gattungsschema des somni erkannt.37 4.1.3.

Poetologische Metatexte

Von besonderem Interesse für die Frage nach mittelalterlichem Gattungsbewusstsein sind die zwischen dem frühen 13. und dem späten 14. Jh. entstandenen okzitanischen und katalanischen «Metatexte»,38 die theoretische Auseinandersetzungen mit dem Gattungssystem überliefern und einen Glücksfall darstellen, der für keine andere europäische Lyrik des Mittelalters in dieser Form besteht. Die Frage nach der Relevanz solcher Texte für die Gattungsforschung hat stets zu Kontroversen geführt. Vergleicht man nämlich die Aussagen der Poetiken mit den so benannten Textzeugen, so stellt man in vielen Fällen eine Diskrepanz fest. Jede Beurteilung der Metatexte muss von der Annahme ausgehen, dass die Schriften Ergebnis einer an Ort und Zeit gebundenen Dichtungspraxis sind, sodass deren Verfasser beim Versuch einer Klassifikation nur eine gewisse Anzahl von Texten eines ähnlichen Schemas vor Augen hatten. Dass sich im Falle einer sehr rudimentär überlieferten Gattung das Verständnis vom gegebenen Gattungsbegriff bei einem Trobador des 12. Jh.s aus dem Limousin von dem eines katalanischen Poetologen des 13. Jh.s unterscheidet, sollte nicht überraschen. Die Forschung zeigt einen sehr ambivalenten Umgang mit diesen poetologischen Texten, der von völliger Ablehnung bis zu absoluter Akzeptanz reicht.39 Während einige Bezeichnungen und Erläuterungen der Poetiken zum Gattungssystem uneingeschränkt befürwortet werden, stoßen andere auf Ablehnung, ohne dass ausreichende Begründungen für diesen selektiven Umgang vorgebracht werden. Zwar gilt es, die Warnung Becs vor dem Rückgriff auf poetologische Texte des Mittelalters, deren Reflexion über die Dichtung «toujours fluctuante»40 sei, zu bedenken, doch darf sie nicht zur kategorischen Verwerfung dieser wichtigen Zeugnisse führen. Es zeichnet sich ab, dass das In-

35

36 37 38 39 40

Nach der Hs. N2 (fol. 23rA) wird die Liedform hingegen allgemein als chanson bezeichnet. Auf diese divergierende Benennung der Gattung in den beiden Handschriften macht schon Kolsen (Guiraut de Bornelh a), 79) aufmerksam, ohne sie jedoch weiter zu thematisieren und ordnet das Lied der Kategorie «reine Minnelieder» zu. Boutière/Schutz 21973, VIII, 51 (Übers.: Er machte einen somni, den ihr in diesem Buch hören könnt, das folgendermaßen beginnt). Diese Vermutung äußert auch Grimaldi (2008, 11). Schlieben-Lange 1997, 91s. Cf. Schlieben-Lange 1997, 81s. Bec 1977, 36.

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teresse der Forschung an diesen seltenen Zeugnissen zurzeit wieder steigt.41 Ein bedachter Umgang mit den frühen ‘Poetiken’ kann für die Vervollständigung unseres Wissens über mittelalterliche Gattungen nur förderlich sein. 18 Traktate zur Grammatik und Poetik der okzitanisch-katalanischen Tradition sind bekannt, wovon 1242 tradiert sind.43 Vier dieser Texte enthalten lyrische Gattungsnamen – die die Schemata eher «by their theme than by their form»44 charakterisieren – und können daher zur Erhellung der Verwendung und Beurteilung der darin erwähnten, diskutierten oder gar definierten Genres beitragen: 1) die um 1215 entstandenen Razos de trobar von Raimon Vidal aus Besalú,45 2) die anonym überlieferten – aber wahrscheinlich aus der Feder eines Autors stammenden46 – kleinen poetologischen Texte, die in der Forschung als Traités de Ripoll (Hs. Ripoll 129) bezeichnet und auf das 13./14. Jh. datiert werden, 3) die wohl in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s.47 auf Katalanisch verfasste und anonym überlieferte Doctrina de compondere dictats 4) und die etwa hundert Jahre nach der ersten okzitanischen Grammatik (um 1330–1350) von Guillaume Molinier niedergeschriebenen Leys d’Amors. Für den iberischen Raum ist hier ergänzend noch die frühestens auf die erste Hälfte des 14. Jh.s48 zu datierende und als Fragment überlieferte 5) Arte de trovar zu nennen. Die in okzitanischer Sprache 49 verfassten Razos de trobar sind die erste Grammatik der okzitanischen Sprache – und gleichzeitig die erste Grammatik einer romanischen Sprache überhaupt. Gedacht ist diese Grammatik – und zugleich Poetik – als «introduction à la langue littéraire, celle de la lyrique troubadouresque».50

41

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Cf. Chaguinian 2007a, 46. Cf. auch die optimistische Position von Schlieben-Lange (1997, 83): «Meine eigene Position in dieser Sache wäre also die, die Kategorisierungen der Dichter und Poetologen ernst zu nehmen. [...] Weiterhin scheinen mir die Arbeiten der letzten Jahre zu den literarischen Techniken der Trobadors deutlich gemacht zu haben, mit welchem Raffinement die Dichter aufeinander Bezug nehmen, so daß es kaum denkbar erscheint, daß sie gerade hinsichtlich der Gattungsbezeichnungen wenig überlegte Äußerungen tun sollten. Und schließlich habe ich den Eindruck, daß sich häufig auf den ersten Blick verwirrende Kategorisierungen als sehr schlüssig erweisen, wenn man den Gesichtspunkt der Relevanzsetzung zu rekonstruieren versucht». Cf. Liste bei Gonfroy (1988, 134). Cf. Gonfroy 1988, 122. Zumthor 1972, 27. Zur Verfasserschaft cf. Swiggers (2001, 494). Cf. Razos de trobar, lxxviii. Cf. die Datierung von Marshall (Razos de trobar, lxxvii): «The Doctrina is certainly to be placed no earlier than the second half of the thirteenth century, as the definition of the vers and the inclusion of the gelozesca indicate». Cf. Mölk 1989, 14. Dass die Grammatik auf Okzitanisch verfasst ist, stellt für einen Prosatext dieser Zeit im katalanischen Raum eine Ausnahme dar. Für die Sprachwahl war hier das Sujet ausschlaggebend, während sie in der Regel textsortenabhängig erfolgte. Swiggers 2001, 494.

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Eine explizite Auseinandersetzung mit Gattungen im eigentlichen Sinne findet man aber in dieser frühen Poetik nicht und Angaben zu Dichtformen gehen nicht über eine bloße Erwähnung der drei Gattungen vers, canso und sirventes hinaus.51 Ein ähnliches Bild bietet die grobe Klassifizierung der im Cancioneiro da Biblioteca Nacional überlieferten Arte de trovar, der ersten volkssprachlichen Poetik der Iberischen Halbinsel, «contemporânea da recolha final da produção poética trovadoresca peninsular».52 Differenziert wird darin zwischen den drei thematisch weit gefassten Hauptgenres cantiga de amor, cantiga de amigo und cantiga de escarnho e de mal dizer. Ferner werden die Formen tenso und seguir marginal gestreift. Wie für den somni liefert die Poetik auch für die alba «nenhuma referência […], na sua modalidade profana ou noutra».53 Die Gattungsbezeichnungen der Arte de Trovar werden weder von den galego-portugiesischen trovadores rezipiert54 noch erscheinen sie in den Handschriftenrubriken. Ausführlichere Gattungsbeschreibungen und -typologien bieten die drei übrigen Texte, die folgende Genres benennen: 55 56 Leys d’Amors *55

vers

Doctrina vers

(2) 56

Traités de Ripoll vers (5)

* canso

canço (1)

canço (1)

* sirventes

serventesch (4)

sirventesch (3)

* dansa

dansa (7)

dança (6)

* descort

discort (14)

* tenso

tenso (16)

tenso (2)

* partimen * pastorela

pastora (6)

* retroncha

retronxa (5)

* plang

plant (8)

* escondig somi

sompni (12)

vezio

51 52 53 54

55 56

Razos de trobar, 6. Rosário Ferreira 1997, 43. Dionísio 1993, 31b. Einen Hinweis auf die Verwendung der Gattungsbezeichnung cantiga de amigo bietet aber der Refrainvers von Sedia la fremosa seu sirgo torcendo (Brea 21999, I, Nr. 29, 1) aus der Feder von Estevan Coelho (1372 urkundlich bezeugt). Die mit einem * versehenen Gattungen werden in den Leys zu den dictatz principals gezählt. Die Zahlen in den Klammern geben die Reihenfolge der Nennung in der gegebenen Poetik wieder.

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Leys d’Amors

Doctrina

Traités de Ripoll

cossir reversari enueg desplazer desconort plazer conort rebec relay gilozesca

gelozesca (13)

bal garip estampida

estampida (11)

redondel viandela

viadere (8) lays (3) alba (9) gayta (10) cobles esparses (15)

cobla (4) desdaça (7)

In den Traités de Ripoll stößt man auf eine Liste einer vagen Beschreibung von acht lyrischen Gattungen: «s son les diferencias entre les cançons, tençons, sirventesch, cobles, vers, dançes, nçes, e viaderes».57 (Das sind die Unterschiede zwischen den cansos, tensos, sirventes, coblas, vers, dansas, desdansas und viandelas.)

Zwar fällt die Erststellung der canso auf, doch gibt es in der folgenden Charakterisierung der Gattungen hinsichtlich der Form und des Inhalts keine hierarchisierende Absicht. Auffällig ist das Fehlen der in der Überlieferung allein schon quantitativ relativ stark vertretenen Gattungen wie planh, descort oder partimen58 und vor allem die Unvollständigkeit des Traktats im Hinblick auf die Gattungen, die

57 58

Razos de trobar, 101, v. 1s. Das Fehlen des partimen könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Genres tenso und partimen als Variationen einer Gattung verstanden worden sein könnten.

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zum registre popularisant59 gezählt werden. Auch alba und somni werden in den Traités de Ripoll nicht als Teile des Gattungssystems benannt. In der Handschrift folgt auf die Traktate eine Anthologie katalanischer Trobadorlieder. Es ist möglich, dass die begrenzte Zahl der in den Traités behandelten Genres aus der Tatsache resultiert, dass die theoretischen Texte als Erläuterungen zu den tatsächlich in der Anthologie vorkommenden Spielarten der Trobadordichtung intendiert waren.60 Die Doctrina, die nur in einer Handschrift (Barcelona, Biblioteca Central Ms. 239) überliefert ist, folgt darin unmittelbar auf die Razos Raimons de Vidal. Als möglicher Verfasser des Traktats wird in der Forschung Jofre de Foixà diskutiert,61 womit die Gattungstypologie als Komplement der Regles de trobar (entstanden ca. 1286–1291) 62 zu verstehen wäre.63 Präsentiert werden in der Doctrina sechzehn Gattungen: «canço, vers, lays, serventesch, retronxa, pastora, dança, plant, alba, gayta, estampida, sompni, gelozesca, discort, cobles esparses, tenso».64 Wie schon in den Traités de Ripoll fällt auch hier die Erststellung der canso auf. Es folgen traditionelle höfische und popularisierende Gattungen und auch alba und somni wird vom Verfasser ein fester Platz im Gattungssystem zugewiesen. Die Doctrina ist systematisch aufgebaut und zerfällt in zwei methodisch unterschiedlich ausgerichtete Teile. Während im ersten Teil die Gattungen hinsichtlich der razo, der motz und des son charakterisiert werden, versucht der Verfasser im zweiten Teil, die Gattungsbezeichnungen (‘etymologisch’) zu erklären. Die Systematik der Darstellung ergibt sich aus den immer wiederkehrenden Einleitungsformeln, die für den ersten Teil nach dem Schema «Si vols far x, deus parlar de y» aufgebaut sind und im zweiten Teil die folgende Grundformel zeigen: «X es appelatz per ço x cor».65 Während der zweite Teil des Traktats lediglich kurze und etymologisch oft fehlerhafte Erklärungen der sechzehn darin enthaltenen Gattungsnamen bietet, sind dem ersten Teil interessante Bemerkungen zur Gattungsdifferenzierung zu entnehmen: «Hinsichtlich der razo, der Thematik, gibt es zunächst die fundamentale Unterscheidung zwischen solchen Gattungen, die amor zum Gegenstand haben, und solchen, die ein anderes Thema haben. [...] Hinsichtlich des so ergibt sich ebenfalls eine klare Alternative, nämlich die, ob es gattungskonstitutiv ist, daß eine neue Melodie (so novell)

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Cf. Bec 1970, 70s. Cf. Asperti 1999, 360: «Alcune affinità d’interessi fra i due Trattati e le liriche del Canzonieretto di Ripoll suggeriscono un rapporto fra le compilazioni precettistiche e la piccola scuola poetica rappresentata nella raccolta». Cf. dazu z. B. Landoni (1989, 125): «L’anonima Doctrina de compondere dictats sembra in qualche modo connessa con le Regles de trobar di Jofre de Foixa, se non addirittura composta dallo stesso autore, per la complementarietà della matiera trattata, la probabile origine comune degli autori, lo stesso tipo di destinatario e alcune identità terminologiche e sostanziali». Zur Datierung cf. Landoni (1989, 123). Cf. Chaguinian 2007a, 47. Razos de trobar, 95, v. 1–4. Cf. Gonfroy 1988, 124.

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erfunden wird, oder ob die Wahl der Melodie beliebig ist. [...] Die Angaben zu den mots betreffen [mit einigen Abweichungen; Anm. der Verf.] die Zahl der coblas und tornadas. [...] Und schließlich wird mit der tenso noch das völlig neue und in der Systematik einmalige Kriterium der Dialogizität eingeführt».66

So wird der somni (sompni) in der Doctrina nach diesem Schema der dreifachen Charakterisierung wie folgt definiert: «Si vols far sompni, deus parlar d’aquelles coses qui·t seran viiares que haies somiades, vistes o parlades en durmen. E potz hi far ·v· o ·vj· cobles , e so novell».67 (Wenn du einen somni verfassen willst, musst du von jenen Dingen sprechen, von denen dir scheint, du habest sie im Traum erlebt, im Schlaf gesehen oder gesagt. Und du kannst fünf oder sechs coblas machen und eine neue Melodie.)

Somit hat der somni erträumtes Geschehen zum Gegenstand (razo) – und diese Thematik stellt sein primäres Gattungsmerkmal dar, zu dem das formale Kriterium der Begrenzung der Komposition auf fünf bis sechs Strophen hinzukommt. Ferner wird die Notwendigkeit einer neuen Melodie (son) hervorgehoben. Auch die alba erfährt in der Doctrina eine dreifache Kennzeichnung hinsichtlich der razo, der mots und des son: «Si vols far alba, parla d’amor plazentment; e atressi [deus] lauzar la dona on vas o de/ que la faras. E bendi l’alba si acabes lo plazier per lo qual anaves a ta dona; e si no·l acabes, fes l’alba blasman la dona et l’alba on anaves. E potz hi fer aytantes cobles com te vulles, e deus hi fer so novell».68 (Wenn du eine alba machen möchtest, dann sprich angenehm von Liebe, und du musst ebenfalls die Dame loben, zu der du gehst oder über die du schreibst. Und du musst die Morgenröte (alba) preisen, wenn dir die Freude zuteilwurde, um welche zu erreichen, du zu deiner Dame gegangen bist. Und wenn du sie nicht erhalten hast, mach eine alba, in der du die Dame und die Morgenröte tadelst, wohin du gingst. Und du kannst so viele coblas machen, wie du möchtest, und du musst eine neue Melodie machen.)

Die razo des altprovenzalischen Tagelieds ist die Liebe. Diese festgelegte Thematik der amor wird – wie schon für die canso69 – zum konstitutiven Kriterium erhoben. Je nach Erfolg oder Misserfolg der Werbung ist die alba ein Lob- oder ein Klage-/Scheltlied, das als Adressaten die Dame und die Morgenröte hat. Das zweite gattungskonstituierende Merkmal ist der son, denn die alba soll nach einer neuen Melodie komponiert werden. Formale Charakteristika werden nicht erwähnt, vielmehr wird auf die beliebige Anzahl von Strophen hingewiesen, die der dichterischen Phantasie zur thematischen Entfaltung Freiraum lassen. Die De-

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Schlieben-Lange 1997, 93s. Razos de trobar, 97, v. 75ss. Razos de trobar, 96, v. 62–66. Razos de trobar, 95, v. 7s.: «E primerament deus saber que canço deu parlar d’amor plazenment» (Und du sollst vor allem wissen, dass die canso angenehm von der Liebe sprechen soll).

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finition erstaunt angesichts der überlieferten Textzeugen: Sie erwähnt weder die Trennung der Liebenden bei Tagesanbruch, noch das von der Forschung immer wieder geforderte formale Element der leitmotivischen Wiederholung von alba im Refrain oder am Strophenende. Ferner wird nicht die Trennung, sondern das Treffen der Liebenden auf den Zeitpunkt der Morgendämmerung (alba) fixiert. Welche Lieder mag der Verfasser der Doctrina vor Augen gehabt haben, als er die Definition niederschrieb? Mehrere Hypothesen sind als Antworten auf diese Frage geäußert worden. Marshall70 und Gonfroy71 assoziieren mit dieser Definition die serena von Guiraut Riquier {A b, 14}, Chaguinian hingegen sieht in ihr den Typ der alborada beschrieben.72 Beiden Thesen ist bedingt beizupflichten. Die von Chaguinian vorgeschlagene Beeinflussung der Definition durch den auf der Iberischen Halbinsel bezeugten Typ der alborada, die durch die Kontakte zwischen galego-portugiesischen Trobadors und katalanischen und okzitanischen Sängern durchaus realistisch erscheint,73 ist nicht von der Hand zu weisen. Ganz sicher ist aber, dass zur Entstehungszeit der Doctrina die alba-Dichtung bereits in all ihren Formen florierte: als erotisches Trennungslied, als religiöses Tagelied und in anderen Variationen. Deckt sich die Definition der Doctrina als solche zwar nicht mit einem spezifischen Lied, wie es Marshall und Gonfroy vereinfacht darstellen, so bildet sie aber deutlich die Polyvalenz der alba-Zeitmotivik ab, die Lob oder Klage implizieren kann. Ferner weist sie darauf hin, dass sowohl die Dame als auch die Morgenröte als Adressaten fungieren können. Vielleicht ist auch die Ähnlichkeit zwischen der Formulierung «alb’ab son novelh» der alba-Variation von Uc de la Bacalaria {A b, 9} und der Forderung der Doctrina nach einem «so novell» der alba kein Zufall. Überraschend ist gewiss das Fehlen der für das gängige Verständnis der alba-Dichtung typischen Wächterfigur in der Definition. Die gayta taucht aber als conditio sine qua non einer anderen und nach der Figur benannten Gattung (gayta) der Doctrina auf, die folgendermaßen definiert wird: «Si vols fer gayta, deus parlar d’amor o de ta dona, desigan e[n] semblan que la gayta te pusca noure o valer ab ta dona e ab lo dia qui sera a venir. E deus la far on pus avinentment pugues, preyan tota via la gayta ab ta dona que t’aiut. E potz hi far aytantes cobles com te vulles, e deu haver so novell».74 (Wenn du eine gayta machen möchtest, dann musst du von der Liebe oder von deiner Dame sprechen, indem du vortäuschst, dass der Wächter dir schaden oder nützlich sein kann in Bezug auf die Dame und die Morgenröte, die kommen wird. Und du musst sie

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Razos de trobar, 138/Anm. 62–66. Cf. Gonfroy 1988, 129. Cf. Chaguinian 2008, 33: «Étant donné que dans l’alborada la rencontre des amants se produit à l’aube, alors, si c’est bien ce type de poème que cherchait à décrire la définition de l’alba, l’appelation alba lui convient». Cf. die These von Chaguinian (2007a, 48s.) und dessen Schlussfolgerung (2007a, 64): «Parmi les diverses modalités de l’alborada , le type de la visite matinale où se fait entendre la voix de l’amant priant sa bien-aimée d’accepter son amour, apparaît comme le candidat le meilleur pour servir de source». Razos de trobar, 96, v. 67–71.

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so gut machen, wie du nur kannst, indem du den Wächter stets bittest, dir zu helfen, zu deiner Dame zu gelangen. Und du kannst darin so viele cobals machen, wie du möchtest, und sie muss eine neue Melodie haben.)

Die gayta75 wird als thematisch definierte Gattung charakterisiert. Als gattungskonstituierende thematische Elemente werden amor und domna bezeichnet, wobei in der folgenden Spezifizierung die gayta-Figur erscheint. Allerdings soll der Wächter die Zusammenkunft und nicht den Abschied der Liebenden in der Morgenröte bewachen. Die Charakterisierung des Wächters als potentiellen Helfer oder aber Feind der Liebenden entspricht der Variation der Figur in der Darstellung der überlieferten Texte. Hinsichtlich des son und der mots sind die Definitionen von gayta und alba kongruent. Der Gattungsname gayta wird im zweiten Teil des Traktats nach dem vorgesehenen Zeitpunkt des gesanglichen Vortrags bestimmt. Während die alba in der Morgendämmerung oder am Tag vorgetragen werden soll, wird für die gayta die Nacht zum rechten Zeitpunkt des Vortrags erhoben.76 Interessanterweise entspricht die beschriebene razo der gayta genauer der Thematik der in der Forschung als albas bezeichneten Lieder, worauf immer wieder hingewiesen wurde.77 Auch in Bezug auf diese Definition ist nach dem Textkorpus gefragt worden, den der Verfasser der Doctrina gekannt haben könnte. Chaguinian schlägt die Texte {A b, 1, 2, 8} vor.78 Auch andere Hypothesen wären denkbar, auf die wir an dieser Stelle wegen des rein hypothetischen Charakters verzichten. Sicher ist nur, dass die in der Forschung als albas klassifizierten Lieder Elemente aus den Doctrina-Definitionen von alba und gayta verbinden. Ob man diese Tatsache als Bestätigung der berühmten These vom «mariage biséculaire [qui] a consacré un genre»79 verstehen darf, bleibt offen, zumal volkssprachliche gaytaDichtungen ohne alba-Elemente als solche nicht belegt sind, sieht man von dem Fragment aus der Abhandlung Mirall de trobar von Berenguer de Noya ab, das möglicherweise rein zu methodischen Zwecken vom Verfasser erfunden worden sein könnte.80 75 76

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Für die Existenz der Gattung spricht sich z. B. Bec (cf. 1973, 20) aus. Razos de trobar, 98, v. 122s.: «Gayta es dita per ço gayta cor es pus covinent a fer de nuyt que de dia, per que pren nom de la hora [a] que hom la fa.» (Gayta wird daher gayta genannt, weil es passender ist, sie in der Nacht als am Tag zu machen, denn sie nimmt den Namen der Zeit an, zu der sie gemacht wird). Cf. schon die Bemerkung von Gonfroy (1988, 129): «Curieusement encore, la Doctrina semble décrire l’alba, telle que nous la connaissons, lorsqu’elle définit la gayta […]». Cf. Chaguinian (2008, 26s.) und (2007a, 48–55). Bec 1977, 107. Die hier zitierte These geht auf Paris (cf. 1966, 587s.) zurück. Cf. Berenguer de Noya, 38s./[8], 807–816/817–819. Das folgende Fragment wird als Beispiel für die rhetorische anapolensis-Figur zitiert: Gaita, be gardatz Que no·us sia amblatz Lo castell que tant beyl Vos ha Deus comanatz, Car, [s]i es noveyl, Non es aycell

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Ähnlich wie die Doctrina, die oft als «product of the decadence of troubadour poetry»81 bezeichnet wird, zeigen auch die Leys d’Amors eine «mania for classification, for the naming of new poetic genres, which one finds in the work of Guiraut Riquier and Cerveri de Girona».82 Unterschieden wird in dieser Poetik zwischen 28 Gattungen, die in elf dictatz principals – oder genres nobles – und 17 dictatz no principals zerfallen. Dabei zählt Molinier zur Kategorie der dictatz principals die Gattungen vers, canso, sirventes, dansa , descort, tenso, partimen , pastorela , retroncha, plang und escondig.83 Bei seiner summarischen Charakterisierung der Genres geht der Verfasser methodisch vor, indem er Erläuterungen zu deren Form, Melodie und Thematik vorlegt, die er als konstante Merkmale beschreibt. Die als sekundäre Gattungen beschriebenen dictatz werden – wenn auch nicht explizit, so doch durch die Art und Weise und den Umfang der Darstellung – qualitativ abgewertet. Während Molinier nämlich die primären Genres in elf Kapiteln präsentiert, widmet er den sekundären Gattungen nur zwei knappe Kapitel. In der Versfassung der Leys werden sie überhaupt nicht berücksichtigt.84 Die Liste der sekundären Genres wird von den somis (somnis) angeführt, es folgen «vezios. cossirs. reversaris. enuegz. desplazers. desconortz. plazers. conortz. rebecz. relays. gilozescas» und der Zusatz «o en ayssi de trops autres».85 Diese Liste kann um fünf weitere Genres ergänzt werden, die zwar in der Auflistung fehlen, jedoch weiter in der Abhandlung genannt werden: bals, garips, estampidas, redondels und viandelas.86 Während die feste Form das wesentliche Merkmal der dictatz principals darstellt, ist für die sekundären Gattungen die Offenheit in Hinblick auf die Form charakteristisch. So kann die Strophenzahl von Fall zu Fall variieren und auch die Verwendung von tornadas ist nicht obligatorisch: «Et en aytals dictatz. no trobam cert nombre de coblas. perque en aytals dictatz pot hom far aytantas coblas quos vol. […] aytals dictatz no principals podon haver tornada o no. e pot hom en loc de tornada repetir la una cobla del comensamen o de la fi».87

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Qui mantz n’a enganatz; No·us fisetz en l’enemich, Qui per plazer vos destrich, Ans faytz gens queix vostra gayta. (Wächter, gebt gut acht, damit Euch nicht fortgerissen wird das Schloss, das Gott Euch so schön zum Bewachen überließ. Denn wenn es neu ist, derjenige, der viele betrogen hat, ist es nicht. Vertraut Euch dem Feind nicht an, der Euch mit Vergnügen verwirrt, sondern jeder soll lieber gut Wache halten.) Zur Erklärung der rhetorischen Figur, die zugleich als formales Gattungskonstituens fungiert, folgt der Zusatz: «Axi totes les cobles comencen en gayta e feneix[en] en gayta» (So beginnen alle coblas mit gayta und sie enden auch mit gayta). Razos de trobar, xcv. Ibid. Cf. Leys d’Amors, I, 338–348. Für die version versifiée cf. Leys d’Amors (I, 350–365). Leys d’Amors, I, 348 (Übers.: und viele andere solcher Art). Leys d’Amors, I, 350s. Leys d’Amors, I, 348s.

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(Und für solche dictatz gibt es keine bestimmte Anzahl von coblas, denn in diesen dictatz kann man so viele coblas machen, wie man möchte. Solche dictatz no principals können eine tornada haben oder nicht, und man kann anstelle der tornada eine cobla am Anfang oder am Ende wiederholen.)

Somit wird das Merkmal der Form in den Leys d’Amors zum distinktiven Kriterium für eine Abgrenzung zwischen primär formal bestimmten Hauptgattungen und primär thematisch definierten dictatz no principals erhoben. Auf diese Weise ist auch für die Letzteren die Entsprechung zwischen den Gattungsnamen und der Thematik zu erklären, auf die Molinier gesondert hinweist.88 Trotz der relativ großen Freiheit in der Bildung sekundärer dictatz betont Molinier die Bedeutung der angemessenen Benennungen der Genres und somit die Wichtigkeit der Übereinstimmung von nomen und res.89 Der Gattungsname solle demzufolge «tal noms que sia consonans. et acordam. a la cauza»90 sein. Ausgerechnet der somni dient Molinier als Exempel, wenn er vor einer fehlerhaften Verwendung von Gattungsnamen warnt und die Verwechslung von somni und cossir thematisiert, was auf die Nähe der beiden Konzepte hinweist: «Autres dictatz pot hom far. ed ad aquels. nom enpauzar segon la voluntat de cel que dicta. e segon que requier le dictatz. quar hom se poyria be pecar en la enpozitio del nom. quar si hom apelava cossir. somi. o per le contrari. ja le noms no seria be enpauzatz».91 (Man kann andere dictatz machen und sie je nach der Thematik nach Belieben benennen, aber je nachdem, was die Gattung ausmacht. Denn man kann sich leicht in der Gattungsbenennung täuschen. Wenn man nämlich den cossir als somi benennt und andersherum, so ist der Name nicht gut gewählt.)

Die Tatsache, dass der Gattungsname somni zwar nur beiläufig, aber dennoch an zwei Stellen der Poetik fällt, die alba92 aber nicht einmal als Exponent der dictatz no principals erscheint, lässt gewiss viele Fragen offen.93 Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Molinier die Gattung des Tagelieds nicht kannte, da ihm zumin-

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Leys d’Amors, I , 348. Cf. dazu auch Canettieri (1994, 51): «Per Molinier esiste quindi un duplice piano di azione nella creazione del dictat: un livello legato direttamente alla voluntat de cel que dicta, cioè impositor-inventor che esprimendo un nuovo genere vi appone anche un nuovo nome, e un altro livello relativo alle distinctiones dei dictatz rispetto agli altri». Leys d’Amors, I, 348 (Übers.: ein solcher Name, der angemessen ist und mit dem Werk übereinstimmt). Ibid. Römer (1884, 4) weist darauf hin, dass die Leys d’Amors zwei Verse aus einem uns nicht überlieferten Lied zitieren, die einer alba entnommen sein könnten: «Tota la nueg tro venc al dia/L’amicx a dormit am s’amia.» (Die ganze Nacht bis zum Tagesanbruch schlief der Freund bei seiner Geliebten.). Cf. dazu auch Gonfroy (1988, 129): «L’absence de l’alba, inconnue des Leys et des textes associés, s’explique d’autant moins que l’on assiste, à la fin du 13e siècle, à une évolution du genre vers le domaine religieux, ce qui ne pouvait manquer de séduire Guilhem Molinier et ses collaborateurs».

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dest die in mehreren Hs.94 überlieferten albas von Cadenet {A b, 10} und Guiraut de Bornelh {A b, 7} bekannt gewesen sein dürften. Weshalb aber die erotische alba in den ausführlichen Leys d’Amors völlig fehlt, bleibt unklar, zumal die ebenso erotische Gattung der pastorela zu den dictatz principals gezählt wird, sodass das Argument der Zensur in diesem Zusammenhang wohl keine Substanz hat. Als Resultat der Untersuchung der poetologischen Texte kann man festhalten, dass alba und somni im Bewusstsein der Poetiken des 13. und 14. Jh. zwar nicht zu den zentralen Gattungen der Trobadorlyrik zählen, als Termini zur Bezeichnung lyrischer Gattungen aber durchaus bekannt waren. Dabei bezeichnen die Termini primär thematisch definierte Gattungen. Eine Ausnahme stellt die Begrenzung der Strophenzahl für den somni in der Definition der Doctrina dar. Dieser formalen Spezifizierung steht die Auffassung des somni als rein thematische Gattung in den Leys d’Amors gegenüber. Laut der Definition der Doctrina sind für den somni die folgenden thematischen Ausprägungen möglich: Traum von einem Gespräch, einer Handlung oder einer visuellen Wahrnehmung. Versteht man alba und gayta, deren thematische Verwandtschaft evident ist, als unterschiedliche Realisierungen und Variationen eines Themas, so kann man für den hypothetischen Begriff des Tagelieds nach der Definition der Doctrina folgende Merkmale ableiten: Liebesthematik, negatives oder positives alba-Motiv, Klage oder Lob, Wächterfigur (als Freund oder Feind der Liebenden) und domna, alba oder gayta als Adressaten des Lobs oder der Klage.

4.2. Exkurs: Auf der Suche nach mittelalterlichen Traumdiskursen Die epochentypische Sicht auf den Traum ist bereits Gegenstand zahlreicher Studien geworden. Genannt seien hier exemplarisch die Arbeit von WittmerButsch (1990) und der von Gregory (1985) herausgegebene Sammelband I sogni nel Medioevo, der die Beiträge eines als Antwort auf die Forschungen von Le Goff entstandenen Symposions umfasst. Essentiell sind zudem die Studien von Speckenbach (1976/1990/1998), in denen drei Traditionsstränge der mittelalterlichen Traumdiskussion behandelt werden, «die sich gegenseitig in einem auffällig geringen Maße beeinflusst haben und die in ganz unterschiedlicher Weise vergesellschaftet sind. Als erstes wäre die Traumtheorie zu nennen, die vor allem die Gelehrten beschäftigt und somit in der Wissenschaftssprache Latein überliefert ist. Daneben stehen als zweites die auch volkssprachlich gut bezeugten fiktionalen Träume der Dichtung und drittens die Traumbücher als Nachschlagewerke für die Traumbedeutung».95

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Die alba von Cadenet ist in 10, die von Guiraut de Bornelh in 7 Hs. tradiert. Speckenbach 1998, 298 [ohne Hervorhebungen].

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Das Traumwissen der Quellen, die Speckenbach neben den poetischen Zeugnissen nennt – die theologisch-philosophischen Diskussionen und die populären volkssprachlichen Traumbücher – bietet einen Einblick in das mittelalterliche Traumverständnis und kann so zur Erhellung der literarisch überformten Träume der Lyrik beitragen. Ergänzend zu den von Speckenbach aufgezählten Traditionssträngen soll eine repräsentative Auswahl von Miniaturen, die Träumende und Träume darstellen, einen zusätzlichen Einblick in die mittelalterliche Welt des Traums bieten, wobei die Frage nach dem Text-Bild-Verhältnis im Vordergrund stehen soll. 4.2.1.

Unde veniunt somnia? Traumtypologien und Traumtheorien im Mittelalter

Die Frage nach Sinn und Ursprung des Traumphänomens stellt im Mittelalter ein viel diskutiertes Thema dar. Die Überlegungen der Traumtheoretiker knüpfen dabei an biblische Traumdarstellungen und -deutungen an und vor allem an die häufig indirekt überlieferten Traumtypologien und -theorien der Antike mit der charakteristischen Zweiteilung in physische und metaphysische Träume. Schon Homers 19. Gesang der Odyssee kennt diese Zweiteilung, wenn darin das Bild der Pforten aus Horn (göttlicher Ursprung) und Elfenbein (Schein) entworfen wird. Die antike Traumtheorie und Traumdeutung, die sich auf griechischem Boden erstmalig mit der Lehre des Sophisten Antiphon96 manifestiert, unterscheidet zwischen vier Vorstellungen: (1) der theologischen Auffassung, die den Traum als eine von außen auf den Schlafenden herangetragene Botschaft einer Gottheit oder eines anderen personifizierten Wesens versteht, (2) der anthropologischen Auffassung, die den Traum als Tätigkeit der im Schlaf vom Leib getrennten Seele erklärt, (3) der von Aristoteles begründeten physiologischen Auffassung mit der Vorstellung von Leibreizträumen und der Definition des Traums als Seelenleben im Schlaf und (4) der kosmologischen Auffassung, die auf der Vorstellung basiert, dass der Traum im Mikrokosmos ein Geschehen im Makrokosmos widerspiegele.97 Während man bei Platon noch die Vorstellung von divinatorischen Träumen findet, die jedoch allein Menschen zuteilwerden, die sich von sinnlicher Erregung fernhalten,98 setzt mit Aristoteles – nach ersten gegen die mantische Traumdeutung gerichteten Einwänden von Heraklit, Xenophanes, Pythagoras und Empedokles99 – eine ‘wissenschaftliche’ Traumerforschung ein. Aristoteles betrachtet Träume nicht mehr unter religiösem Aspekt, sondern erläutert mögliche Traumursachen ausgehend von der Vorstellung vom Menschen als psychophysische Einheit und erklärt Träume als Reflexe der Sinneswahrnehmungen, wobei die Sinneseindrücke auch dann noch in den Sinnesorganen wirksam bleiben, wenn der

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Antiphons Schrift über Traumdeutung ist nicht überliefert, allerdings findet man bei Cicero (De divinatione I, 39 und II, 144) Hinweise darauf, dass es ein solches Werk gegeben hat, da Antiphon darin als Traumdeuter auftritt. Cf. Niessen 1989, 6s. Cf. Alt 2002, 34. Cf. Speckenbach 1998, 299.

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eigentliche Wahrnehmungsvorgang abgeschlossen ist.100 Die Bilder des Traums resultieren so aus physiologisch verstandenen ‘Überresten’, womit Aristoteles auch der psychologischen Traumdeutung im gewissen Sinne den Weg bahnt, denn «von hier war es für Rezipienten des Aristoteles nur ein kleiner Schritt zur psychologisierenden Ansetzung von Tagesresten und Erlebnisverarbeitung via Traum».101 Sowohl gottgesandte Träume als auch den Glauben daran, Träume könnten etwas Zukünftiges voraussagen, weist Aristoteles zurück.102 Seinen Einwand gegen divinatorische Träume begründet er damit, dass die nächtlichen Erlebnisse offensichtlich kein Privileg besonders weiser oder guter Menschen sind, sondern ein allgemeinmenschliches Phänomen darstellen und daher vor allem auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden müssen, wie krankheitsbedingte Körperreize oder psychische Dispositionen.103 Aristoteles analysiert wohl als erster «the psychology of dreams as analogous to the psychology of waking»104 und unterscheidet zwischen Träumen, die auf Sinnesreize zurückgehen und solchen, die auf Reflexionen zurückzuführen sind. Scharfen Einwänden gegen die Mantik begegnet man auch in der römischen Antike, so bei Seneca (De providentia) oder bei Cicero (De divinatione). Letzterer spricht Träumen jede divinatorische Eigenschaft ab und erklärt ähnlich wie Aristoteles, dass er den Traum als Medium für die Zwiesprache der Götter mit den Menschen als unzuverlässig erachtet.105 Die einzige Erklärung für Träume sieht Cicero hingegen in einer «weniger physiologisch als psychologisch verstandene[n] Überreste-Theorie […] wie sie ähnlich auch von Lukrez vertreten wird».106 Wichtig für die im Mittelalter vollzogene christliche Umdeutung der antiken Traumlehren sind das Werk Tertullians, die Schriften von Macrobius, Augustinus und Papst Gregor dem Großen.107 Zwar knüpft Tertullian (ca. 150–225) an das traditionelle Zweierschema an, wenn er in De anima (46, 2) in Anlehnung an Homer erklärt: «Homerus duas portas divisit somniis, corneam veritatis, fallaciae eburneam; respicere est enim, inquiunt, per cornu, ebur autem caecum est»,108 doch er ergänzt das bekannte binäre Modell um die dämonischen Träume (47, 1) – die vor allem auch für verwirrte und erotische Traumbilder verantwortlich sind – und

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Cf. Haag 2003, 62. Ibid. Ritter/Gründer X, 1461. Cf. Wittmer-Butsch 1990, 148. Bundy 1977, 259. Cf. Alt 2002, 39. Ritter/Gründer X, 1461. Eine interessante Gegenüberstellung der Traumtheorien von Macrobius und Gregor dem Großen zeigt das Speculum naturale von Vincent de Beauvais (cf. Foehr-Janssens 2007, 116). Tertullian: De anima, 46, 2.

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formuliert somit ein im Mittelalter allgegenwärtiges109 Dreierschema (47, 1–3).110 Ferner stellt Tertullians Schrift ein frühes Zeugnis auf dem Weg zur psychologischen Traumauffassung hin, da sie die anima «zur Aktionsinstanz allen Träumens erklärt»111 und das Träumen im Vergleich zum Wacherleben als authentisch und unverfremdet charakterisiert. Das im Mittelalter bis ins 13. Jh. am stärksten112 verbreitete Modell der Traumklassifizierung stammt von Macrobius, von dessen Allpräsenz113 auch die handschriftliche Verbreitung seiner Commentarii in Somnium Scipionis zeugt: Überliefert sind «230 Handschriften, von denen allein 106 aus dem 12. Jahrhundert stammen».114 Die um 400 entstandenen Commentarii präsentieren eine Fünfteilung115 der Träume in insomnium, visum, visio, oraculum und somnium.116 Dabei stützt sich Macrobius als Neuplatoniker einerseits auf den Timaios-Kommentar des Calcidius,117 folgt andererseits aber auch den Einsichten des Aristoteles.118 Das visum, der Tagtraum/Wachtraum, der in der «prima somni nebula» (I, 3, 7) auftritt, wenn der Schlafende noch wach zu sein glaubt, ist ein «état intermédiaire entre la veille et le sommeil».119 Insomnia (I, 3, 4) stellen den natürlichen Traumtypus dar, der hauptsächlich auf physischen (z. B. Fülle oder Leere des Magens) und psychischen («qualis vigilantem fatigaverat, talem se ingerit dormienti» I, 3, 4) Reizen beruht. Sie entstehen «ex habitu mentis» (I, 3, 5) und verfliegen nach dem Erwachen, «zeigt sich doch nach dem Schlaf, daß sie keinerlei Nutzen (utilitas) und Bedeutung (significatio) haben. Die Bedeutungslosigkeit bzw. Falschheit dieser Träume unterstreicht Macrobius mit zwei Vergilzitaten, deren ersteres grundsätzlich die Möglichkeit falscher Träume illustriert, während das zweite speziell dem amor gilt ‹cuius curam semper sequuntur insomnia›».120

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Cf. Dulaey 1973, 89. Genau genommen handelt es sich um ein Viererschema, denn Tertullian unterscheidet, wie Dulaey (1973, 56) betont, zwischen zwei Arten der vom Menschen selbst kommenden Träume: Neben die Bilder, die auf Tagesresten basieren, stellt er Traumbilder, die die Seele selbst hervorbringt. Cf. Haag 2003, 55. Cf. dazu Hüttig (1990) und Peden (1985, 60). Cf. Ricklin 1998, 108. Zur Macrobius Rezeption cf. auch Macrobius (b), LXVI–LXVII). Ricklin 1998, 108/Anm. 419. Zur Frage der Fünfteilung cf. Ricklin 1998, 115: «Vielleicht rührt die Sicherheit, mit der Macrobius diese Fünferliste präsentiert[,] daher, daß es sich um eine traditionelle Einteilung der Träume handelt, die sich ähnlich auch bei Artemidor findet». Zur These, dass Macrobius mit seiner Typologie Prophyrius folgt cf. Speckenbach (1976, 171). Cf. Macrobius a): Commentarii I 3,2–10. Ob Macrobius’ Traumsystematik tatsächlich auf der Traumauffassung des Calcidius fußt, der Traummantik mit aristotelischem Gedankengut vermischte, ist unklar. Calcidius unterscheidet im Übrigen nur zwischen drei Traumarten (cf. Speckenbach 1978, 171). Speckenbach 1998, 300. Zink 1985, 143. Ricklin 1998, 116.

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Visio121 (I, 3, 9) – unverschlüsselte und klar verständliche Verkündigung –, oraculum (I, 3, 8) – Prophezeiung oder Warnung durch Boten aus dem Jenseits oder Gott selbst – und somnium (I, 3, 10) – symbolisch verhüllte und der Interpretation bedürftige Prophetie – bilden bei Macrobius die Klasse visionärer Träume. Das somnium, dem der höchste Rang unter diesen Traumarten zugewiesen wird und das Macrobius als die geläufigste der divinatorischen Traumgattungen versteht,122 wird in fünf Untergruppen klassifiziert: «aut enim proprium aut alienum aut commune aut publicum aut generale est».123 Während das somnium proprium allein den Träumenden selbst fokussiert und das somnium alienum eine andere Person, bezieht das somnium commune sowohl das Träumer-Ich als auch eine oder mehrere andere Personen mit ein. Das somnium publicum hat einen öffentlichen Rahmen – wie das Forum oder das Theater – zum Gegenstand, und das somnium generale schließlich betrifft den Lauf der Gestirne oder die Welt.124 Macrobius ist der erste lateinische Autor, der eine solche Unterteilung des somnium formuliert.125 Die Popularität seiner Traumklassifizierung beruht zum großen Teil auf der Demonstration der konkreten Umsetzung des theoretischen Schemas anhand des Scipio-Traums,126 die zudem deutlich macht, dass ein Traum mehrere Traumformen zugleich repräsentieren kann. Macrobius versteht ferner den Träumer selbst als den besten Exegeten seiner Traumbilder,127 da jener mit dem persönlichen Bildervorrat, aus dem sich die nächtlichen imagines speisen, am besten vertraut ist. Einen entscheidenden Beitrag zur Modifizierung und christlichen Umdeutung der antiken Traumtheorien leisten die Kirchenväter, allen voran Augustinus (354– 430) und Gregor der Große (540–604). Ähnlich wie Aristoteles interessiert sich Augustinus auch für den «rêve ordinaire, et fait sur son mécanisme des réflexions dont la profondeur égale celle des réflexions d’Aristote».128 Aus zwei Gründen erkennt Augustinus die aristotelische Traumtheorie «nur als eine Seite der Wahrheit»129 an. Neben natürlichen Ursachen für Träume lässt der Kirchenvater – der Autorität der Bibel folgend – auch übernatürliche causae exteriores (Gott, Dämonen, Engel) gelten. Was die causae interiores betrifft, so beschreibt Augustinus – anders als Aristoteles130 – die Traumbilder nicht nur als Produkte der «imagination reproductrice», sondern auch als Schöpfungen der «imagination créatrice».131 Auch

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Zum visio-Begriff cf. Niessen (1989, 45): «Die Vision ist gewissermaßen der von allem Dunklen und Dämonischen geläuterte Traum, lichtdurchflutete Schau einer transzendenten Wirklichkeit». Ricklin 1998, 117. Macrobius a): Commentarii I, 3, 10s. Cf. Zink 1985, 144s. Cf. Ricklin 1998, 118. Ricklin 1998, 120. Cf. Macrobius a): Commentarii I 3, 10. Dulaey 1973, 96. Speckenbach 1976, 175. Cf. dazu Dulaey 1973, 98–193/227. Zu dem Terminus cf. Dulaey 1973, 103: «L’imagination créatrice […] est la faculté de

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als Reaktion auf Wünsche und Sehnsüchte beschreibt Augustinus den Traum,132 doch entbindet er den Menschen in den Confessiones (X, 30) gleichzeitig aus der Verantwortung für die nächtlichen Traumbilder, wenn er zwischen dem wachen und dem schlafenden Ich differenziert.133 Einen großen Einfluss auf die mittelalterliche Scheidung zwischen Traum und Vision hat zudem die von Augustinus in De genesi ad litteram (XII/2,3) formulierte visio-Lehre ausgeübt,134 mit der Augustinus die visio gegenüber dem somnium aufwertet und auf diese Weise den von christlichen Autoren favorisierten unverschlüsselten Botschaften den Weg ebnet.135 Eine besondere Errungenschaft von Augustinus stellt die in De Trinitate (XI IV, 7) geäußerte Erkenntnis dar, dass das menschliche Gedächtnis mit schöpferischer Kraft begabt ist, da es bekannte Bilder imaginieren und aus dem Erinnerungsschatz neue Szenenfolgen kombinieren kann,136 die vor dem geistigen Auge entstehen.137 Dabei ist für die Entstehung der inneren Bilder entweder die Begierde (cupiditas) oder aber die Furcht (metus) verantwortlich – und je stärker diese passiones sind, desto deutlicher werden die Konturen des im Raum oder vor dem geistigen Auge vorgestellten Bildes.138 Die Nähe der beschriebenen Erscheinungen zum Phänomen des Wachtraums ist evident.139 Und in der Tat beschreibt Augustinus in De Trinitate auch den Wachtraum explizit, wenn er von einem Mann berichtet, dem «nocte media» eine Vision zuteil wurde, wobei jener «nec dormiebat, nec perfecte uigilare poterat».140 Zwar galt Augustinus als auctoritas, doch «wer im Mittelalter über Träume schrieb, zitierte zunächst Gregor den Großen, der für alle Gläubigen verbindlich festgelegt hatte, woran Traumvisionen zu erkennen seien».141 Als Referenz galt dabei insbesondere das vierte Buch der Dialogi, in denen Gregor die

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créer des représentations imaginaires (phantasmata) à partir des images réelles fournies par les sens (phantasiae); elle subsiste la nuit». Cf. Dulaey 1973, 101. Cf. Dulaey 1973, 129–132. Cf. Bundy 1977, 264. Die Unterscheidung zwischen verschlüsselten und unverschlüsselten prophetischen Träumen kennt schon die Bibel. Dabei sind verschlüsselte Träume in der Bibel «beaucoup moins nombreux que les rêves où Dieu, ou un ange envoyé par lui, donnent des instructions parfaitement claires» (Dulaey 1973, 34), was christliche Autoren zusätzlich als Stütze des Arguments für den Vorrang unverschlüsselter Traumbotschaften vorbringen konnten. Wittmer-Butsch 1990, 100. Wie lebendig diese imaginierten Bilder sein können und wie der Körper bisweilen von ihnen getäuscht wird, macht Augustinus (De Trinitate XI IV, 7) an einem Beispiel deutlich, in dem er von unwillkürlichen nächtlichen Samenergüssen berichtet: «Et memini me audisse a quodam quod tam expressam et quasi solidam speciem feminei corporis in cogitando cernere soleret ut ei se quasi misceri sentiens etiam genitalibus flueret». Cf. Augustinus: De Trinitate (XI IV, 7): «Itaque aut metus aut cupiditas quanto vehementior fuerit, tanto expressius formatur acies, sive sentientis ex corpore quod in loco adjacet, sive cogitantis ex imagine corporis quae memoria continetur». Cf. Morrissey 1979, 266. Augustinus: De Trinitate III 38, 2. Bogen 2001, 23.

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sechs causae somniorum darstellt.142 Die Fülle oder Leere des Magens, Trugbilder, Illusionen, die auf Reflexionen folgen und Enthüllungen, die aus Reflexionen resultieren, können folglich Traumbilder erzeugen, wobei aber meist nur sehr schwer auszumachen sei «quo inpulsu ueniant».143 Zusammengefasst unterscheidet Gregor der Große, wie schon Tertullian, zwischen drei Traumquellen.144 Neben (1) die natürlichen Träume, die vom Menschen kommen, stellt er (2) die vom Teufel gesandten dämonischen Träume (inlusiones) und (3) prophetische Träume mit Gott als Traumquelle, wobei die Letzteren nur den «vires sancti»145 zuteilwerden können. Gemeinsam ist den Überlegungen der Kirchenväter der Glaube an die Existenz gottgesandter Träume, die als unverschlüsselte Botschaften an den Menschen herangetragen werden (visio, oraculum), die gleichzeitige Warnung vor verschlüsselten Bildern (somnium)146 wegen der Annahme, dass diese sowohl von Gott als auch vom Teufel stammen können, und die damit verbundene Warnung vor den im Mittelalter sehr populären147 Traumdeutern. Machte man sich in der Antike folglich «vorwiegend darüber Gedanken […], wie ein Traum als mantischer Traum vom sinnlichen zu unterscheiden sei, kennt das christliche Mittelalter zusätzlich das Problem des falschen Traums, der bewußt zur Irreführung vom Teufel geschickt wird».148

Die von Gregor dem Großen vorgeschlagene Einteilung der Traumquellen klingt in dem Anfang des 12. Jh.s von Honorius von Autun verfassten und sehr verbreiteten149 Elucidarium an, in dem auf die Frage Unde veniunt somnia? die Antwort «aliquando a Deo, […], aliquando a diabolo, […], aliquando ab ipso homine»150

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Cf. Gregor der Große: Dialogi IV 50, 2. Gregor der Große: Dialogi, IV 50, 6. Cf. dazu Speckenbach (1985, 320) und Schmitt (2001, 303). Cf. Gregor der Große: Dialogi IV, 50, 6. Während Gregor den vires sancti ganz klar die Fähigkeit zuspricht, zwischen gottgesandten und dämonischen Träumen unterscheiden zu können («sciant uel quido a bono spiritu percipiant, uel quid ab inlusione patiantur»/ Gregor der Große: Dialogi IV 50, 6), täuscht der Teufel nach Hildegard von Bingen im Traum auch jene (cf. Ricklin 1998, 241). Zur Höherwertung der Vision cf. Speckenbach (1991, 26/Anm. 3): «Die Tatsache, daß in religiösen Kontexten die Vision häufiger gegenüber dem Traum bevorzugt wird, erklärt sich durch die Höherbewertung der Vision als Erfahrung Gottes im wachen Zustand. Die theologische Traumtheorie anerkennt den Traum gemäß den biblischen Zeugnissen zwar einerseits als göttliche Offenbarung, andererseits neigt sie dazu, die unmittelbare Offenbarung höher einzuschätzen und vor der Traumtäuschung zu warnen». Dass die Traumdeutungspraxis im Mittelalter sehr verbreitet war, kann an den wiederholt ausgesprochenen kirchlichen und gesetzlichen Verboten abgelesen werden. Hinweise auf solche Verbote findet man beispielsweise im Decretum Gratiani (1140), einer der bedeutendsten mittelalterlichen Gesetzessammlungen (cf. Bogen 2001, 35). Speckenbach 1976, 175. Das Elucidarium war als Katechismus konzipiert und daher sehr verbreitet. Es wurde schon im 13. Jh. ins Französische und ins Deutsche übersetzt (cf. Wittmer-Butsch 1990, 116). L’ Elucidarium, III 32 (cf. Lefèvre 1954, 452).

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folgt. Aus dem 12. Jh. stammt auch die anonyme und zunächst Augustinus zugeschriebene Schrift Liber de spiritu et anima,151 in der die Traumtypologie des Macrobius wiederbelebt wird. Eine solche Aktualisierung der macrobischen Klassifizierung ist auch der wohl umfangreichsten Traumdiskussion des Hochmittelalters zu entnehmen, die das Werk von Johannes von Salisbury (gest. 1180) bietet. Schon dessen Lehrer Wilhelm von Conches (gest. 1154) äußert sich in seinen Schriften Philosophia und Dragmaticon über den Schlaf, den er aristotelisch als Ruhe der virtutes animales definiert, und vor allem in den Glosae super Platonem (§ CXLs.) kommentiert er die causae somniorum, die er in interne und externe152 unterteilt. Anknüpfend an die Traumvorstellungen seines Lehrers Wilhelm von Conches, an die Lehren der Patristik und vor allem an Macrobius153 macht Johannes von Salisbury im Policraticus (1156–1159) den Traum zum Gegenstand der Reflexion und unterscheidet dabei grundsätzlich zwischen wahren und falschen Träumen.154 Der Einfluss von Macrobius, dessen Commentarii als eine der vier155 Säulen des von der Schule von Chartres vertretenen Neuplatonismus gelten, wird insbesondere an der Traumklassifizierung deutlich, die Johannes von Salisbury vollständig von seinem spätantiken Vorbild übernimmt. Allerdings nimmt der Gelehrte einige Modifizierungen in Wertung und Beurteilung vor. In Bezug auf das somnium betont Johannes von Salisbury die «Polysemie der Somnialelemente als Vielfalt durch similitudines motivierter Bezüge von Traum-res und bezeichnete[r] res»156 und konstatiert so die Mannigfaltigkeit kontextabhängiger Deutungsmöglichkeiten. Ferner wertet er im Vergleich zu Macrobius das insomnium auf, indem er dieser Traumart «eine Relevanz als Ausdruck von passiones zuerkennt».157 Sowohl Wilhelm von Conches als auch Johannes von Salisbury kennen – im Gegensatz zu Gregor dem Großen, der diese Traumart stillschweigend übergeht – erotische Träume, die psychologisch gedeutet werden. Wilhelm von 151

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Schmitt 2001, 303. Die Schrift Liber de spiritu et anima stammt wahrscheinlich aus der Feder von Alcher de Clairvaux, der die Terminologie von Macrobius nicht buchstäblich übernimmt, sondern adaptiert. So bezeichnet er zum Beispiel alle nicht prophetischen Träume mit dem Kollektivterminus fantasma. Wie die Ausführungen über die externen Traumquellen zeigen, hält Johannes von Salisbury an der Existenz divinatorischer Träume fest: «sed ea [somnia; Anm. G. B.] quorum causa est exterior aliquid significant. Que fiunt tribus modis: aliquando Deus aliquid ita ut futurum est manifestat, aliquando introducit personam in somnis alloquentem, aliquando per simile vel per contrarium quod futurum est insinuat» (Glosae super Platonem, § CXLI, 243). Cf. dazu Ricklin (1998, 227). Cf. auch Haag (2003, 55), die die Traumreflexionen von Johannes von Salisbury als «modifizierende Fortentwicklung der von Macrobius vorgelegten Theoreme» charakterisiert. Cf. Johannes von Salisbury: Policraticus II, 14–17. Jeauneau 1960, 7: «Car le platonisme chartrain s’appuie sur quatre écrits majeurs: le Timée traduit et commenté par Chalcidius, la Consolation de Boèce, le Commentaire sur le Songe de Scipion de Macrobe, le De Nuptiis de Martianus Capella. Tels sont les quatre maîtres-pilliers sur lesquels s’appuie le temple de la sagesse chartraine». Haag 2003, 56. Ibid.

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Conches erklärt Träume dieser Art in den Glosae super Macrobium als Tagesreste («ut quemadmodum homo in die cogitabit de amica sua et in nocte uidebit eam et tenebit»158) und Johannes von Salisbury sieht sie im Policraticus unter anderem als Symptom der Liebeskrankheit: «Male sanis amantium mentibus insomnia numquam desunt».159 Diese Perspektive der Traumbeschreibung zeigt, dass sich schon im 12. Jh. neben die mittelalterliche Leib-Seele-Konzeption eine immer schärfer konturierte Dominanz des Körpers stellt. Dabei geht «die neue Beschreibbarkeit des Körpers […] nicht einfach zu Lasten der Seele, aber sie führt dazu, daß sich die Rede über die Seele mit einer zuvor unbekannten körperlichen Komplexität konfrontiert sieht».160

Neben der Körperlichkeit ist die immer wieder formulierte Lehre von den ‘Tagesresten’ eine der zentralen Gemeinsamkeiten der hochmittelalterlichen Traumtheorien. Wurde der Mensch durch die Kirchenväter aus der moralischen Verantwortung für seine nächtlichen Bilder entbunden, so gilt eine solche Freisprechung im 12. Jh. gerade und trotz der Betonung der Körperlichkeit nicht mehr.161 Noch stärker verlagert die im 13. Jh. vertretene aristotelische Traumauffassung den Blick von außen nach innen162 und somit vom Bild des fremdbestimmten Menschen zur Selbstreflexion des als psychophysische Einheit begriffenen Subjekts. Diese Anschauung, die vor allem durch den medizinischen Diskurs163 getragen wird, vertreibt zunehmend übernatürliche Wesen – und somit externe Traumquellen – aus dem Traumglauben, wovon insbesondere die Schriften von Albertus Magnus und Thomas von Aquin zeugen. Bleibt Macrobius bis ins 12. Jh. hinein die zentrale Autorität auf dem Gebiet der Traumdeutung, was noch in literarischen Werken des 13. Jh.s nachklingt,164 so wird er in der theoretischen Auseinandersetzung spätestens Anfang des 13. Jh.s von Aristoteles verdrängt,165 als dessen Schriften De somno et vigilia, De somniis und De divinatione per somnum166 ins Lateinische übersetzt werden. Diese Traktate stellen der divinatorischen Traum-

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Wilhelm von Conches: Glosae super Macrobium (I, 3), nach der Hs. 266 von Bern, fol. 4 ra (Braet 1974, 91/Anm. 5). Johannes von Salisbury: Policraticus II 15, 8s. Cf. Ricklin 1998, 409. Ricklin 1998, 411. Cf. Speckenbach 1998, 298. Vor allem der medizinische Diskurs der mittelalterlichen Traumtheorien zeigt Spuren des von Constantinus Africanus übersetzen Korpus arabischer Fachliteratur (cf. Ricklin 1998, 408). Constantinus Africanus (gest. 1087), der Werke griechischer und arabischer Ärzte ins Lateinische übertrug, war einer der frühesten Vermittler zwischen arabischer und christlicher Welt, er «war jahrzehntelang als Kräuterhändler tätig und bereiste in dieser Eigenschaft das ganze Mittelmeergebiet und den vorderen Orient» (WittmerButsch 1990, 56). So gilt im ersten Teil des Rosenromans Macrobius (v. 7) als auctoritas für die Bedeutung der Träume (v. 1–20). Cf. Peden (1985, 67), Hüttig (1990, 94), Kruger (1992, 85). Die drei Texte stellten ursprünglich eine geschlossene Einheit dar, die jedoch in unserer

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deutung unmissverständlich das psychophysische Traumverständnis entgegen.167 Als erster Gelehrter des Abendlandes liefert Albertus Magnus (1193?–1280) einen Kommentar zum Gesamtwerk des Aristoteles und setzt sich auch mit dessen traumtheoretischen Schriften auseinander,168 wovon De somno et vigilia zeugt. Wie der Titel verrät, bezieht sich Albertus mit seinen Ausführungen explizit auf Aristoteles «sowie auf Beiträge von Denkern aus dem islamischen Kulturraum»,169 wie er in der Einleitung zum ersten Buch angibt. Er beschreibt Träume als «Eindrücke aus dem Schatz des bildlich-formalen Gedächtnisses»170 und entwirft ein mehrstufiges Schema von Traumformen, angefangen bei verworrenen und bedeutungslosen Traumszenen über interpretationsbedürftige Wahrträume bis hin zu visionären Prophetien. Zu den ‘bedeutungslosen Träumen’ zählen auch erotische Träume, die als Täuschungen qualifiziert werden, da die intellektuellen und moralischen Instanzen bei deren Entstehung ausgeschaltet sind, womit Albertus – wie vor ihm schon Augustinus – unkeusche Träume rechtfertigt und entschuldigt. Da nach Albertus metaphorisch verhüllte Träume zum alltäglichen Erfahrungsbereich gehören und die klar verständlichen in der Klassifizierung über den auslegungsbedürftigen rangieren,171 erhebt Albertus – ähnlich wie Augustinus – den Entrückungszustand und die klar verständliche Vision als «Ausnahme-Leistung der menschlichen Seele»172 auf die höchste Stufe. Zwar erkennt Albertus – anders als Aristoteles – Wahrträume an, deutet aber die externen Traumsender als «körperlose himmlische Intelligenzen» um, «die mittels Lichtstrahlen Einfluß auf die menschliche Seele nehmen. Die menschliche Seele setzt diese Einflüsse in Bilder um, wobei die Traumerscheinungen sich je nach dem Gemüt des Träumers und der Stärke des himmlischen Einflusses unterscheiden».173

Diese astrologische Umdeutung der externen Traumsender übernimmt auch Thomas von Aquin (1215–1274)174 und ordnet sowohl Gott und Engel als auch den Einfluss der Elementarwelt der Gestirne den causae exteriores somniorum zu, während er physische und psychische Ursachen als causae interiores beschreibt.175 Divinatorische Kraft spricht er den auf psychophysischen Reizen basierenden Träumen ab, wenn er in der Summa Theologiae konstatiert: «Et talis causa

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Aristoteles-Überlieferung in drei Einzelschriften mit eigenen Titeln gegliedert wurde (cf. Latacz 1984, 30/Anm. 4). Cf. Kruger (1992, 84): «These Aristotelian works reinforced the growing tendency to associate dreams with somatic and psychological process. More radical, they reintroduced into European discourse the possibility that dreams are never divine in origin». Cf. Ricklin 1998, 10. Wittmer-Butsch 1990, 59. Wittmer-Butsch 1990, 144. Ritter/Gründer X, 1462. Wittmer-Butsch 1990, 147. Ritter/Gründer X, 1462. Wittmer-Butsch 1990, 149s. Thomas von Aquin: Summa Theologiae II, 95, 6.

131

somniorum non est causa futurorum eventuum».176 Trotz der Anknüpfung an aristotelisches Gedankengut bleibt Thomas von Aquin aber – wie alle Vertreter der Hochscholastik – wegen der Autorität der Bibel stets darum bemüht, die sowohl im Alten als auch im Neuen Testament bezeugten gottgesandten Träume und prophetische Traumdeutungen mit seinem Traumverständnis zu vereinbaren. Aus dieser ambivalenten Haltung den nächtlichen Bildern gegenüber entspringt auch die scharfe Trennung zwischen den beiden causae exteriores: So sind divinatorische Träume mit Gott, Engel oder Dämonen als Traumsender, deren Interpretation den Gottesmännern überlassen werden sollte, von den vom Lauf der Gestirne verursachten Traumbildern zwingend zu unterscheiden.177 Bleiben folglich die Traumtheorien der Hochscholastik trotz des stärkeren psychophysiologischen Akzents eindeutig christlich überformt, so kommt ihnen doch das Verdienst zu, dass «der Traum als Phänomen spätestens seit dem 13. Jahrhundert auch in kirchlichen Kreisen differenzierter betrachtet wurde und die Beschäftigung damit nicht mehr von vornherein verdammt wurde».178 4.2.2.

Zur Bedeutung der Somnialia-Danielis-Tradition

Einen spezifischen Einblick in das mittelalterliche Traumverständnis bieten die Traumbücher, die vor allem seit dem 12. Jh., der Zeit in der sich nach Le Goff der Traum ‘demokratisiert’,179 in die Volkssprachen übersetzt werden. Die Tradition lexikonartiger Traumbücher wird im 2. Jh. mit den Oneirokritika von Artemidoros Daldianos begründet, die das seit den Vorsokratikern gesammelte Traumwissen enthalten und den ersten «Versuch einer wissenschaftlichen Systematisierung […] der populären Traumdeutung»180 unternehmen. Allerdings existiert von diesem Traumbuch keine lateinische Übersetzung, und «obwohl nun immer wieder eine Einwirkung Artemidors auf das Mittelalter angenommen worden ist, konnte bis jetzt der Weg der Überlieferung nicht aufgedeckt werden».181 Zuweilen geht man sogar von einer vollständigen Unterbrechung der Rezeption Artemidors im Mittelalter aus182 und führt dabei die überaus populären183 Traumbücher des Mittelalters, deren Verbreitung vielleicht als Reaktion auf die schwer verständlichen philosophischen Traumauslegungen gedeutet werden könnte,184 auf andere Traditionen

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Ibid. Ritter/Gründer X, 1462. Cf. dazu auch Thomas von Aquin (Summa Theologiae II, 95, 6). Wittmer-Butsch 1990, 153. Le Goff 22007, 244. Kamphausen 1975, 15. Speckenbach 1976, 173. Cf. Kamphausen 1975, 17. Zum Gebrauch der Traumbücher im Mittelalter cf. Guillaume de Palerne (4798–4800): «Maintenant a .I. livre pris/Et voit del songe la samblance/Et tote la senefiance». Cf. Kamphausen 1975, 17.

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zurück. Fünf185 Traumbuchtypen werden unterschieden: (1) die laienastrologischen Traumbücher mit der häufigsten Form der Traumlunare, in denen die Deutung des Traums und der Zeitpunkt der Traumerfüllung vom Stand der Gestirne abhängen, (2) die Somnialia Joseph, sogenannte Losbücher oder Traumalphabete, die Prognosen durch Zufallsentscheidungen verschiedenartiger Losverfahren aufstellten, (3) die auf den persischen Gelehrten Rhazes (ca. 865–925) zurückgehenden physiologisch-medizinischen Traumbücher, die auf der Humoralpathologie fußen und genutzt wurden, um Krankheiten zu diagnostizieren,186 (4) die auf den Oneirokritika Artemidors von Ephesus und Achmets Ibn SƯrƯn basierenden Traumbücher,187 die eine sehr differenzierte Traumauslegung darbieten, und (5) die berühmten – aus der Spätantike geerbten – Somnialia Danielis. Das Somniale Danielis, das bei weitem beliebteste Nachschlagewerk zur Traumdeutung, «von dessen außerordentlicher Verbreitung […] 82 erhaltene lateinische, 14 volkssprachliche Handschriften und 38 Inkunabeln»188 zeugen, geht wahrscheinlich auf eine griechische Vorlage aus dem 4. Jh. zurück, die jedoch bisher nicht identifiziert werden konnte. Es war spätestens seit dem 9. Jh. im westlichen Europa189 sehr populär, sodass auch die seitens der Kirche vorgebrachte vehemente Kritik190 an dessen Gebrauch – wie sie uns beispielsweise bei Johannes von Salisbury begegnet191 – nichts an seiner Verbreitung ändern konnte. Verwendet wurde das Somniale nicht nur in der Volkskultur, sondern auch im Rahmen philosophischer Traktate, wie beispielsweise die Macrobius-Glossen von Wilhelm von Conches zeigen192 – und «dies ist umso erstaunlicher, als die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandene kirchenrechtliche Sammlung Gratians die Benützung des Somniale Danielis ausdrücklich verbietet».193 Das typische Somniale Danielis ist in Prosa verfasst und enthält eine

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Cf. Speckenbach 1998, 313ss. Cf. die Vierteilung der altfranzösischen Traumbuchtypen bei Bloch (1970, 74ss.). Die Schriften von Rhazes wurden im 12. Jh. durch Gerhard von Cremona ins Lateinische übersetzt (cf. Haag 2003, 47). Cf. Speckenbach (1990, 126s.): «Wegen des spärlichen Überlieferungsbefundes dieser Übersetzungen wird man aber kaum für Artemidor und nur bedingt für Achmet eine größere Wirkung im lateinischen Mittelalter annehmen dürfen. […] Erst mit dem griechischen Erstdruck von 1518, der lateinischen Übersetzung von 1539 durch Janus Cornarius und den sich an diese anschließenden volkssprachigen Ausgaben setzt für Artemidor eine breitere Rezeption ein. Etwas günstiger sieht es für Achmet aus, von dessen Traumbuch immerhin zehn lateinische, drei altfranzösische und zwei tschechische Handschriften aus dem Mittelalter bekannt geworden sind». Forner 2005, 34. Cf. SD, 1: «[…] the Latin Somniale was known throughout western Europe from at least the ninth century and during the entire medieval period. In addition, medieval vernacular versions of the Somniale are extant in Old English, Middle English, Old Icelandic, Welsh, Irish, German, French, and Italian». Die altfranzösischen SomnialeTexte wurden von Suchier (1957) ediert. Cf. Dulaey 1973, 188s. Johannes von Salisbury: Policraticus II 17, 22–27. Cf. Ricklin 1998, 205. Ibid.

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alphabetisch geordnete Liste von Traumgegenständen, denen jeweils die Bedeutung gegenübergestellt ist. In der interpretatio verfährt das Traumbuch nach den Prinzipien der Assoziation, des Gegensatzes und der Analogie,194 wobei die beiden Letzteren (per simile und per contrarium), die auch von späteren Traumtheoretikern immer wieder genannt werden,195 überwiegen. So bedeutet beispielsweise ein heller Himmel Freude und ein dunkler Sorge,196 während nach dem Prinzip der Verkehrung ins Gegenteil erträumtes Glück Leid ankündigt, Weinen im Traum hingegen als Hinweis auf baldige Freude gelesen werden kann: «Qui somge avoir dueil, joye ara en brief» oder «Plorare in somnis, gaudium significat».197 In der Einleitung der Somnialia wird aber – wie schon bei Artemidor – explizit darauf hingewiesen, dass jede Deutung stets die individuellen Lebensumstände des Träumers berücksichtigen müsse. Bei den ältesten volkssprachlichen Versionen der Somnialia handelt es sich um drei altenglische Texte aus dem 11. Jh., «neben mittelenglischen Vers- und Prosafassungen sind altfranzösische (13.–15. Jh.), italienische (15. Jh.), kymrische (14. Jh.), irische (14. Jh.) und isländische (um 1500) Versionen überliefert worden».198 Fischer, der Herausgeber einer multilingualen Synopse der mittelalterlichen Somnialia Danielis, bezeichnet dieses Traumbuch als Quelle der mittelalterlichen Topoi und der Psychologie, Denkmal mittelalterlicher Literatur, Schlüssel zur Interpretation literarischer Träume des Mittelalters199 und somit «the medievalist’s primary tool for the identification and interpretation of dream topoi in medieval literature».200 Die Frage allerdings, ob das Somniale Danielis auch in der literarischen Darstellung fiktiver Träume Spuren hinterlassen hat, wird in der Forschung ganz unterschiedlich beurteilt.201 Eine kritische Stellung nimmt beispielsweise Speckenbach ein, der die Bedeutung der Traumbücher für die literarischen Träume des Mittelalters als sehr gering einschätzt,202 da die Rezeption oft schwer oder gar nicht zu ermitteln sei, auf Hypothesen beruhe und viele der Traumsymbole Bestandteil einer übergreifenden jüdisch-christlichen Tradition seien. Ein ähnliches Urteil fällt auch Schmitt, indem er die Logik der Deutung in den mittelalterlichen Traumberichten einerseits und in den Somnialia Danielis andererseits als «fort différente» einstuft. Auch Fischer modifiziert in neueren Arbeiten seine extreme Position und mahnt zur Vorsicht: 194 195 196 197 198 199 200 201

202

Cf. Speckenbach (1990, 198) und Schmitt (2001, 298). Cf. z. B. Wilhelm von Conches (Glosae super Platonem, §CXLI, 243). Cf. MultilingSD, 132. MultilingSD, 98/158. Speckenbach 1990, 129. MultilingSD, 9s. Fischer 1983, 5. So hält beispielsweise Steinmeyer (1963) einen Einfluss des Somniale Danielis auf die Gestaltung der Träume in der Chanson de Roland für möglich, während Colin-Roset (1969) sie kategorisch ablehnt. Cf. Speckenbach 1990, 210: «Nur selten wird das Beachten einer Traumbuchdeutung die Interpretation eines literarischen Traums fördern. Das ‹Somniale Danielis› hat, wie Überlieferung, Kritik und Bekämpfung zeigen, seine eigentliche Wirkung im konkreten Leben, nicht in der Welt der Dichtung».

134

«In conjunction with an exact and deliberate methodology, medieval dreambooks, in particular the Somnia Danielis, can be an indispensable tool in the interpretation of medieval literary dreams, above all in the identification and description of traditional dream topoi. […] The dream topoi we find listed can never be posited by themselves as conclusive ‘proof’ of any one dream interpretation in a given work of the Middle Ages, but can only suggest possibilities or lend convincing support to a proposed argument».203

4.2.3.

Der Traum im Medium illuminierter Handschriften

Die pictura, die in den Schriften der Gelehrten immer wieder als laicorum litteratura204 bezeichnet wird, erreichte in der culture visuelle205 des Mittelalters als primäres Medium einer im hohen Maße nicht alphabetisierten Welt einen viel höheren Grad an Öffentlichkeit als die Schrift. Bilder sind daher als eine zeittypische Form der Kommunikation zu verstehen206 und erfüllen eine ähnliche Funktion wie Rituale im Sinne Althoffs (2003). Eine Auseinandersetzung mit der Repräsentation und Reflexion von Träumen im Medium illuminierter Handschriften kann daher eine sinnvolle Ergänzung zur Erschließung mittelalterlicher Traumdiskurse bieten.207 Zahlreiche Arbeiten haben die mittelalterliche Repräsentation von Träumen zum Gegenstand ihrer Untersuchung gemacht und so die Konventionen der Traumrepräsentationen im Mittelalter sowohl exemplarisch als auch umfassend beschrieben. Zu nennen sind hier insbesondere der unter dem Titel Träume im Mittelalter (1989) von Paravicini Bagliani und Stabile herausgegebene Band, die thematische Studie von Carty (1991), die eine reiche Auswahl von fast 350 unterschiedlichen Traumdarstellungen der Kunst des europäischen Früh- und Hochmittelalters bietet, sowie die Arbeiten von König (1989/1992), die sich mit dem Text-Bild-Bezug der illuminierten Rosenroman-Handschriften auseinandersetzen. Diese Untersuchungen zeigen, dass die mittelalterliche Kunst Konventionen der Traumdarstellung entwickelt hat, die – ähnlich wie Texte – auf mannigfaltige Weise das Traumverständnis der mittelalterlichen Welt reflektieren. Das Bild ist als Medium mit einer «capacité réflexive» begabt, die mit Mitteln wie «dédoublement du même personnage, division du champ, contact et éloignement

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Fischer 1983, 1. So werden zum Beispiel Bilder bei Honorius Augustodunensis als laicorum litteratura und bei Albertus Magnus als libri laicorum bezeichenet (cf. Duggan 2005a, 71s.). Diese Vorstellung geht auf das viel zitierte Diktum von Gregor dem Großen zurück, nach dem das Bild dem illiteratus den Zugang zur Heiligen Schrift ermöglicht, den die scriptura dem literatus bietet (cf. Duggan 2005a, 63). Zur Problematisierung dieser von Gregor dem Großen vorgenommenen Paralleliserung cf. Duggan (2005a/b). Zum Terminus der culture visuelle cf. Schmitt (2002, 132s.) und (379/Anm. 83). Bei aller Hervorhebung des Visuellen betont Schmitt (2002, 97) aber auch die Bedeutung des gesprochenen und gesungenen Wortes für die mittelalterliche Kultur. Cf. Hageman/Mostert (2005) sowie Wenzel/Jaeger (2006). Cf. dazu Wittmer-Butsch 1990, 14.

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des objets, orientation des regards et mouvement des gestes»208 eine Art figurativer Reflexion über das Traumphänomen erlaubt. Im Vergleich zur Literatur, die in der Regel expliziter209 verfährt als die Bildkunst, stößt man bei der Identifizierung von bildlichen Traumdarstellungen bisweilen auf Schwierigkeiten, wenn nämlich schriftliche Verweise wie Kommentare, Überschriften oder begleitende Texte fehlen.210 Ferner sind bildnerische Repräsentationen träumender, toter und blinder Menschen211 im Medium des Bildes oft nur schwierig zu differenzieren,212 wie die Studien von Garnier (21982) und Schmitt (1990) zeigen, die das nötige Werkzeug für einen adäquaten Zugang zur Deutung der symbolischen Gestik der mittelalterlichen Bildkunst bieten. Erleichtert wird die Identifizierung der Traumszenen als solcher in der Regel in der spezifischen Form der Illuminationskunst,213 die die Systeme Bild und Text miteinander koppelt. Die mediale Transformation bringt Text und Bild in eine direkte Wechselbeziehung.214 In der Regel wird dabei der Text als primäres Medium und die Miniatur als rezeptionsästhetisches Pendant verstanden, da die Illuminationen gewöhnlich erst nach der Niederschrift der Texte erstellt wurden, worauf die für Miniaturen vorgesehenen und später nicht mehr ausgefüllten Lücken in vielen mittelalterlichen Handschriften hindeuten.215

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Cf. Schmitt 2007, 237/241. Cf. dazu Marchello-Nizia (1985, 248s.), die in diesem Zusammenhang von einer medienabhängigen Diskordanz zwischen dem ikonographischen und dem textuellen System spricht. Zur Vorstellung des Textes als expliziteres Medium im Vergleich zum Bild cf. auch die optimistische Einschätzung von Duggan (2005a, 106). Cf. Carty 1991, 11. Zu mittelalterlichen Visualisierungsstrategien cf. auch den Sammelband von Wenzel/Jaeger (2006). Cf. Garnier (21982, 135) zum Merkmal der geschlossenen Augen: «Les yeux fermés signifient le sommeil, la cécité ou la mort. L’aveugle est actif. Le dormeur se distingue du cadavre par la position du corps et des membres». Wie wichtig eine genaue Auseinandersetzung mit der epochentypischen Zeichensprache, aber auch – falls vorhanden – mit den historischen Quellen und Hintergründen der Miniaturen ist, zeigt z. B. ein Missverständnis, das die Darstellung des Minnesängers Reinmar von Zweter in der Manessischen Liederhandschrift betrifft. Die Miniatur zeigt den Sänger mit geschlossenen Augen (Cf. Karg-Gasterstädt 1999, Tafel 21), was Clausberg (21988, 96) in seiner Studie als Zustand träumerischer Inspiration deutet. Dagegen weist Karg-Gasterstädt (1999, 40) auf die auffällige Haltung des Kopfes in der Darstellung des Minnesängers hin, die sie als Zeichen dafür interpretiert, «daß der Dichter, was schriftliche Überlieferung bestätigt, blind war». Zur Sonderstellung der Illuminationskunst und zu den unterschiedlichen Verfahren dieser Sonderform cf. Willems (1990, 416/419s.). Cf. in diesem Zusammenhang die zwar überspitzte, aber nicht ganz unberechtigte Kritik von Curtius (61967, 21) an dem von Oskar Walzel postulierten «höchst fragwürdigen Prinzip der ‹wechselseitigen Erhellung der Künste›». Heute bedürfen Untersuchungen, die den wechselseitigen Bezug von Bild und Text in der mittelalterlichen Kultur zum Gegenstand machen, keines apologetischen Vorworts mehr, anders als beispielsweise noch die Studie von Stammler (1962). Cf. Schmitt 2007, 237: «Ce qui caractérise aussi les images médiévales de rêves, c’est qu’elles glosent toujours un texte antérieur, souvent explicite (dans le cas d’un manuscrit enluminé) […]».

136

In diesem Sinne kann das Bild in den Dienst des Textes treten und so als eine spezifische Form der Textexegese fungieren sowie Hinweise auf eine zeitgenössische Lesart des illuminierten Textes liefern. Die Wechselwirkung zwischen Text und Bild216 kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Die Miniaturen illuminierter Handschriften können, müssen aber nicht Illustrationen 217 im eigentlichen Sinne des Wortes darstellen.218 Häufig fungieren Illuminationen und Randzeichnungen als (Um-)Deutungen der scriptura und in manchen Fällen ist ein Text-Bild-Bezug nicht oder kaum zu eruieren. In diesem Sinne ersetzen Miniaturen und Randzeichnungen nicht den Leseakt, sondern ergänzen ihn und die «visualization» fungiert als «an important part of reading» und «a visual gloss – even a visual translation».219 Profane Traumdarstellungen mittelalterlicher Illuminationskunst schließen an die Tradition religiöser Traumrepräsentationen an, die gewöhnlich, wie Schmitt zeigt,220 nach festgelegten Regeln verfahren. Drei stereotype Elemente sind dabei zentral: das Bild des Schlafenden, das Traumbild und formale Elemente, die beide Bilder einander zuordnen. Zu ergänzen wäre diese von Schmitt vorgeschlagene Liste um das häufige Element des Traumsenders.221 Da religiöse Traumdarstellungen in der Regel222 göttliche Träume zeigen, fungieren Engel, die am Bett des Schlafenden platziert sind, als Traumboten. Die göttliche Präsenz kann aber auch durch eine Hand oder Lichtstrahlen angedeutet sein, die gewöhnlich über dem Bett rechts oben im Bild zu sehen sind. Was die Formen der Abgrenzung zwi-

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Zum Thema der Wechselbeziehungen zwischen Text und Bild im Mittelalter cf. insbesondere die Beiträge von Curschmann (1999), Sansterre (1999) und Stolz/Mettauer (2006). Für weitere Informationen cf. die umfangreiche Bibliographie von Jäger/ Mazzoni (1990). Zur Kritik am Terminus der Illustration cf. Schmitt (2002, 43). Cf. Curschmann (1999, 421), der zum Ergebnis kommt, dass die französischen Illustratoren in der Regel ganz nah am Text arbeiten. Huot 1992, 10/5. Schmitt 1989, 10. Cf. dazu auch Bogen (2001, 32): «Wer in den christlichen Traumdarstellungen nach ebenso frei gestalteten wie phantastisch anmutenden Bildmotiven sucht, muß enttäuscht werden». Laut Schmitt (2002, 307) ist das Element des Traumsenders kein fester Bestandteil der mittelalterlichen Traumdarstellungen: «Bien que le rêve soit reconnu par la culture médiévale comme une manifestation du surnaturel, l’image médiévale de rêve, paradoxalement, ne semble pas avoir exprimé par un ‘marqueur’ spécifique l’intrusion du surnaturel dans l’imaginaire du rêveur; là encore, elle se contente de juxtaposer l’image d’un dormeur et celle de l’objet rêvé». Die Repräsentation dämonischer Träume ist im Mittelaler eher selten. Le Goff (22007, 247) weist auf eine illuminierte Initiale aus einem Manuskript des 12. Jh.s (Milano, Biblioteca Ambrosiana, ms. B 41 inf.) hin, die einen im Bett liegenden Kranken zeigt, dessen Augen geöffnet sind und der seine rechte Hand, mit der er die Zahl drei andeutet, den ihn angreifenden geflügelten und gehörnten blauen Dämonen entgegenhält. Es scheint als würde der Träumer samt dem Bett von den Dämonen in eine andere Welt gezogen, «des éclairs zèbrent le ciel et un renard, portant un serpent dans sa gueule, entraîne le rêveur vers une terre infernale».

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schen Trauminhalt und Träumer betrifft, so wird in der Regel zwischen vier Arten unterschieden: (1) Träumer und Trauminhalt werden separat in angrenzenden Bildfeldern dargestellt, (2) Träumer und Trauminhalt werden ohne weitere Trennmarkierung zusammen dargestellt, (3) der Trauminhalt wird durch Wolkenbänder, Lichterscheinungen etc. aus der Sphäre des Träumers herausgenommen und (4) der Trauminhalt erscheint als Bild im Bild und wird so in das Bild des Schlafraums eingegliedert.223 Von diesen Formen der Traumdarstellungen ist für die Illuminationskunst vor allem die zweite relevant. Wird der Trauminhalt verbildlicht, so gilt gewöhnlich die folgende Regel: «Les images médiévales de rêve ont en propre de juxtaposer dans le même champ iconique l’image d’un dormeur […] et l’image de l’objet d’un rêve».224 Im Vergleich zu religiösen Traumdarstellungen ist die Externalisierung des Traumsenders, wenn dieser nicht Teil des Trauminhalts ist, in profanen Traumbildern selten. Eine Ausnahme stellen beispielsweise die Eröffnungsminiaturen zum Débat de la demoiselle et du clerc225 (Abb. 1/2) dar, in denen ein geflügeltes Wesen – rechts oben im Bild – auf Amor als Traumsender verweist. Abb. 1 könnte den Beginn des Traums illustrieren, während Abb. 2 das Erwachen aus dem Traum darstellt, da die Augen der Figur geöffnet sind und von dem wohl entschwindenden Traumsender Amor nur noch ein Flügel zu sehen ist. Diese Darstellungen des Träumenden entsprechen den stereotypen Konventionen der mittelalterlichen Traumrepräsentationen. Sowohl in religiösen Vorbildern als auch in profanen Adaptationen ist der Träumende in der Regel mit geschlossenen Augen dargestellt.226 Als Zeichen der Aufmerksamkeit können insbesondere in der Darstellung von Visionen, in denen das Schauen von zentraler Bedeutung ist, die Augen auch geöffnet sein.227 Was die Position und Körperhaltung betrifft, so liegt – oder sitzt228 – die Figur gewöhnlich im Bett und ihr Kopf ruht auf der Hand oder dem Unterarm,229 wobei der Körper in der Regel bis zur Brust bedeckt 223 224 225

226 227

228 229

Ringbom 1980, 39. Schmitt 2007, 236. Cf. dazu auch Bogen (2001, 68). Der débat wird auf das 14. Jh. datiert. In der Hs. (BnF, nouv. acq. 4531), die ihn überliefert, bricht der Text nach 199 Versen ab. Jeanroy (1914, 3) verweist auf eine spätere Bearbeitung des Textes (cf. Jardin de Plaisance fol. 137v), die Hinweise auf ein mögliches Ende enthält, nach dem die Frau schließlich den Bitten und Verführungskünsten des clerc nachgibt. Cf. Schmitt 1989, 10. Cf. Garnier 21982, 116. Cf. in diesem Zusammenhang auch die Darstellung von Heinrich von Morungen in der Manessischen Liederhandschrift (Cod. Pal. germ. 848, fol. 76v). Der Minnesänger ist hier «als liebeskranker Träumer gezeigt, dem die Geliebte – samt Schoßhund – am Bette erscheint» (Clausberg 21988, 186). Seine Augen sind geöffnet, ohne jedoch in die Richtung der Traumerscheinung zu blicken. Wahrscheinlich handelt es sich bei dieser Darstellung um eine Anspielung auf die zweite Strophe von Mir ist geschehen als einem kindelîne (MF 145, 1), in der dem Liebenden seine Dame «in troumes wîs» (II, 2) erscheint. Cf. Schmitt 1989, 10. Cf. Garnier 21982, 117. Cf. auch Garnier 21982, 184: «La main placée sous la tête d’un personnage couché sur le côté, les yeux fermés, signifie qu’il dort. Cette position correspond souvent au songe». Cf. auch Schmitt (1989, 10).

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ist. Der nackte Oberkörper der dargestellten Figur (Abb. 1/2) ist damit zu erklären, dass man – wie historische Quellen nahelegen – im Mittelalter unbekleidet schlief, «wobei man allenfalls den Kopf mit einer Nachtmütze gegen Kälte schützte».230 Nur im klösterlichen Milieu ging man in Kleidern zu Bett.231 Typisch an diesen Miniaturen ist auch, dass sie eine männliche Figur zeigen.232 Interessant ist der nicht existente Text-Bild-Bezug der Miniaturen, der eine über den Text hinausgehende Deutung nahelegt. Der débat berichtet nämlich an keiner Stelle von einem Traum. Vermutlich rekurrieren die Miniaturen auf die Tradition der Verbindung der débat-Dichtung mit dem Traummotiv, wie sie von dem wohl im 12. Jh. entstandenen Débat de l’âme et du corps eingeleitet wurde. Einen expliziten Text-Bild-Bezug zeigen hingegen die Miniatur zum Songe du Verger (Abb. 4) und zwei unterschiedlich konzipierte Rosenroman-Miniaturen (Abb. 3/5), die sich in die reiche Tradition der Rosenroman-Illuminationen einreihen und auf unterschiedliche Art und Weise die seit etwa 1350 stereotyp gewordene Standarderöffnung233 derselben umsetzen. Die Traumdarstellungen der Rosenroman-Handschriften stellen, wie Bogen in seiner Studie zeigen konnte,234 den ersten Versuch der profanen Kunst dar, sich aus dem sakralen Kontext und dessen Konventionen zu lösen und autonome Darstellungsformen zu entwickeln.235 Und schon die älteste durchgehend illustrierte Rosenroman-Handschrift, die im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts in Paris gefertigt und nach dem Schreiber und Buchmaler als Rosenroman des Berthaud d’Achy benannt wurde, zeugt von dieser Entwicklung. In der Initialminiatur (Abb. 2) wird der Schlafende in der typischen Körperhaltung mit geschlossenen Augen236 und bis zur Brust bedecktem nackten Oberkörper dargestellt. Wie in zahlreichen Miniaturen fallen auch hier die beinahe sitzende Position des Schlafenden und das extrem kurze Längenmaß des Bettes auf.237 Wittmer-Butsch238 erinnert in diesem Zusammenhang an eine Stelle

230 231 232

233 234 235 236

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Wittmer-Butsch 1990, 21s. Cf. Verdon 21998, 194/200s. Diese Sitte sollte, so Wittmer-Butsch (1990, 35), «die Wahrscheinlichkeit einer erotischen Empfindung» während des Schlafs vermindern. Carty 1991, 17s.: «The overwhelming majority of dreamers represented in art in the Early Medieval period are male. In fact, of the forty-eight dreamers discovered in the art of this period to date, only one is female. It is also interesting that the one depicted female dreamer, Procula, the wife of Pilate, whose dream is depicted in the Hortus Deliciarum […], has not a good but an evil dream inspired by the Devil». Cf. Bogen 2001, 312. Cf. Bogen 2001, 301–326. Cf. Bogen 2001, 376. In den Eröffnungsminiaturen ist die Darstellung des schlafenden Liebenden des Rosenromans mit geöffneten Augen selten. Eine Ausnahme stellt die Hs. Reg. lat. 1522 (fol. 1r) dar, in der der Liebende Dangier, der am Fuße seines Bettes mit einem Knüppel bewaffnet steht, direkt anschaut. Dieses Traumbild ist wie eine Vision konzipiert. Verdon (21998, 201) weist in seiner Untersuchung aber auch auf die im Mittelalter verbreitete Tradition großer Betten hin, in denen mehrere Personen zusammen schliefen. Cf. Wittmer-Butsch 1990, 61s.

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aus den Schriften des katalanischen Gelehrten Arnald von Villanova, der dazu rät, das Haupt und den Oberkörper im Schlaf hoch zu lagern, um unangenehme Völlegefühle zu vermeiden. Dieser Beleg könnte eine mögliche Erklärung für die «in mittelalterlichen Buchmalereien und Wandfresken regelmäßig anzutreffenden Darstellungen von Schlafenden mit übertrieben hoch gelagertem Kopf»239 liefern. In der Rosenroman-Darstellung (Abb. 2) dominieren – wie in den meisten TraumMiniaturen – die Farben Rot und Blau, wobei vor allem Rot, die Farbe, die im Mittelalter als «la couleur noble par excellence»240 galt, der Figur des Träumenden (Kleidung, Bettdecke) zugedacht wird, was deren Hervorhebung gilt. Nicht der Traumsender, wie in den zuvor besprochenen Miniaturen (Abb. 1/2), sondern Hinweise auf den Trauminhalt sind in dieser Illumination (Abb. 3) 241 dargestellt. Dabei besteht keine räumliche Trennung zwischen Träumendem und Trauminhalt. Das Bett ist als Hinweis auf die erträumte rose mit den Ranken eines blühenden Rosenstocks verbunden, der sich von Beginn an als Hintergrundornament zum stereotypen Inventar der Rosenroman-Illustrationen entwickelt.242 Rechts neben dem Bett steht Dangier, der Widersacher des Liebenden, der, mit einem Knüppel243 bewaffnet, drohend auf den Schlafenden weist. Die Miniatur, die Bogen treffend als «Kopfgeburt» des Träumers bezeichnet,244 fasst symbolisch und präzise den zentralen Konflikt der Rosenroman-Handlung zusammen: die ersehnte Liebe und die Hindernisse, denen sich der amant stellen muss. In ähnlicher Weise verdichtet auch die einzige Miniatur (Abb. 4) des Songe du Verger in zwei durch Rahmung voneinander getrennten Bildern – eigentliche Miniatur und Initiale – den Inhalt des wohl aus der Feder von Evrard de Trémaugon245 stammenden Textes, den jener 1378 aus dem Lateinischen ins Altfranzösische übertrug. Links unten im Bild ist der Protagonist dargestellt, der in einem Garten unter einem Baum sitzend und mit abgestütztem Haupt schläft. Rechts oben sieht man das Traumbild in Form von zwei Frauenfiguren, deren Identifizierung durch die über den Köpfen platzierten Spruchbänder erleichtert wird. Die rot gekleidete puissance temporelle, die eine Krone trägt und die säkulare Macht darstellt, spricht mit der blau gekleideten puissance spirituelle in Nonnentracht. Die Tren239 240 241 242

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Wittmer-Butsch 1990, 62. Verdon 21998, 91. König 1992, 23. Als Vorbild des Hintergrundornaments gelten religiöse Wurzel-Jesse-Darstellungen. Cf. z. B. Ringbom (1980, 47): «The Tree of Jesse, in turn, was adapted to fit a genuine dream motif in the illustrations to the Roman de la Rose. The dreamer of the prologue of the Roman is lying in bed, while the rose tree grows like the tree of Jesse in the background». Cf. auch eine ähnliche Darstellung in der Hs. 5017D der NLW (= National Library of Wales, Aberystwyth). Die Eröffnungsminiatur (fol. 1r) der Mitte des 14. Jh.s entstandenen Handschrift zeigt rechts neben dem Bett mit dem schlafenden Liebenden Dangier, der jedoch nicht einen Knüppel, sondern einen Zweig des im Hintergrund drapierten Rosenstocks hält. Cf. Bogen 2001, 306. Cf. Bossuat 21993, 1403a.

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nung zwischen dem Träumer und dem Trauminhalt ist durch die Raumaufteilung der Miniatur angedeutet. Die mit der Miniatur verbundene Initiale stellt den Disput zwischen einem Kleriker und einem Ritter dar, der weiter im Text als Fortsetzung des Traumbildes geschildert wird. Interessant ist, dass hier die Farbgestaltung der Kleidung im Kontrast zur farblichen Kennzeichnung der oben dargestellten Allegorien steht. Wie der Ritter trägt ferner der Träumende eine Rüstung, was die Positionierung des Autors und dessen Zuordnung zur säkularen Welt erleichtert. So erfüllt die Miniatur nicht nur eine abbildende, sondern auch eine kommentierende und deutende Funktion. Neben solchen interpretierenden Traumbildern, die den Grundkonflikt des Gesamttextes zu einem Bild verdichten, kennt die mittelalterliche Illuminationskunst auch Bilderfolgen, die als textbegleitende Veranschaulichung konzipiert sind. Solche Bildsequenzen können auch zu thematischen Gruppen zusammengeschlossen werden, wie die Initialminiatur (Abb. 5) einer Mitte des 14. Jh.s entstandenen Rosenroman-Handschrift zeigt. Vier einzeln gerahmte kleeblattförmige Bildfelder werden darin durch einen quadratischen Gesamtrahmen verbunden. Sie stellen den Liebenden in vier Situationen dar, wobei der Text-Bild-Bezug evident ist, sodass jede Szene einer bestimmten Textpassage zugeordnet werden kann. Das erste Bild links oben zeigt den Liebenden schlafend im Bett (cf. v. 23ss.), das zweite Bild stellt das Ankleiden und die Vorbereitung der Morgentoilette dar (v. 89s.). Auf den ersten Blick scheint hier nicht ein Traum, sondern vielmehr das Erwachen dargestellt zu sein und «auch im Text scheint der Ich-Erzähler bereits am Anfang der Geschichte zu erwachen, aber dieses Erwachen ist geträumt».246 Die Grenzen zwischen Traum und Realität sind sowohl im Text als auch in der Miniatur bewusst verwischt, sodass «die Erzählhaltung des Textes […] ein rezeptionsästhetisches Pendant in der Titelminiatur»247 findet. In der Szene links unten spaziert der Protagonist durch eine Frühlingslandschaft und lauscht dem Vogelgesang (v. 94–102) und rechts unten tritt er durch eine Gartenmauer (v. 631). Der Eintritt in die eigentliche Traumwelt wird dadurch hervorgehoben, dass das vierte Bildfeld als Einziges einen auffälligen roten Hintergrund trägt. Ohne Trauminhalt oder Traumquelle und allein auf das träumende Ich konzentriert zeigt sich die Miniatur (Abb. 6) zum Traumlied L’autre nuit en mon dormant von Thibaud de Champagne {S c, 2}, die uns die Trouvèrehandschrift O neben dem Text überliefert. Diese Darstellungsform ist als Verweis auf die sich in der mittelalterlichen Kunst schon seit dem 13. Jh. abzeichnende Tendenz zur Identifizierung des Träumenden mit seinem Traumbild zu verstehen, was wiederum von der Deutung des Traums als Produkt der eigenen Psyche zeugt. Bei der Miniatur (Abb. 6) handelt es sich um die einzige somniIllustration der untersuchten Handschriften, sodass die von Gonfroy formulierte Hoffnung, die «mise en relation de l’iconographie avec le genres des pièces»248 könnte zur Erhellung des Gattungsbegriffs führen – zumindest im Falle des som246 247 248

Bogen 2001, 312. Bogen 2001, 315. Gonfroy 1988, 132.

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ni – enttäuscht werden muss. Die Miniatur zeigt den Liebenden bekleidet unter einer roten Decke und auf weißem Laken. Seine Augen sind geschlossen und der Kopf auf dem rechten gewinkelten Arm abgestützt. Der auffällige Schatten des Träumenden, der sich im Hintergrund abzeichnet, könnte als Hinweis auf die Deutung der Traumquelle und des Trauminhalts – und somit der im Lied mit dem Liebenden disputierenden Amor-Figur – als Produkte des eigenen Ich verstanden werden. Diese Darstellung, die allein die Figur des Träumenden fokussiert, ähnelt sehr einer anderen Konvention der Illuminationskunst: der Darstellung des Dichters in melancholischem Zustand innerer Versenkung.249 In ihrem Beitrag zur Ikonologie der Trouvère-Handschriften beschreibt Huot250 diese Darstellungsform neben der Porträtierung als Ritter251 als typische Art der Dichter-Repräsentation. So wird Thibaud de Champagne in der Hs. O an zwei Stellen in dieser Art und Weise dargestellt. Die Miniatur zum Lied Nuls hons ne puet ami reconforter (Abb. 7), das die Klage des Sängers über Liebesschmerz und Einsamkeit zum Gegenstand hat, zeigt eine Figur, die gebeugt mit gesunkenem Blick sitzt und den Kopf mit der linken Hand stützt, was anders als von Le Goff 252 behauptet, nicht für Darstellungen von Träumen, sondern für die Figuration innerer Versenkung und Melancholie typisch zu sein scheint.253 Eine fast identische Umsetzung der Thematik zeigt auch eine analoge Darstellung aus derselben Handschrift (Abb. 8), die Miniatur zur Liebesklage Qui plus aime plus endure254 von Thibaud de Champagne, in der sich explizite Traummotivik, die die vierte und fünfte Strophe durchzieht, zum melancholischen Gestus der Poesie gesellt. Die «grant joie en dormant» (V, 1) wird darin dem grenzenlosen Schmerz nach dem Erwachen entgegengestellt (V, 3s.). Diese Form der Porträtierung, die den Traum in die Nähe der dichterischen Inspiration rückt, findet im Mittelalter ein Pendant in der Parallelisierung der Pygmalion-Geschichte mit der Traumthematik, wie sie auch in einer Handschrift aus der Mitte des 14. Jh.s zu einer Illumination verdichtet wird (Abb. 9), die an die charakteristischen Rosenroman-Handschriften erinnert. Die Analogie zur Eröffnungsminiatur derselben Handschrift (Abb. 5), was die Darstellung der Figur, die Gestaltung der Decke und die Farbgebung betrifft, ist frappant. Die Darstellungsform und Deutung dieser Miniatur kommentiert Huot treffend folgendermaßen:

249 250

251 252 253

254

Cf. Marchello-Nizia 1985, 259. Huot bezieht sich in ihrer Untersuchung (1987) auf die folgenden Handschriften: A = Arras, Bibl. Mun. 657, C = Bern, Bibl. Mun. 389, K = Paris, Arsenal 5198, M = Paris, Bibl. Nat. fr. 844, N = B. N. fr. 845, O = B. N. fr. 846, P = B. N. fr. 847, T = B. N. fr. 12615, U = B. N. fr. 200500, V = B. N. fr. 24406, W = B. N. fr. 25566, X = B.N. fr. 1050 und a = Rom, Vat. Reg. 1490. Cf. Huot 1987, 57. Cf. Le Goff 22007, 246. Cf. z. B. die Darstellungspraxis der Manessischen Liederhandschrift beispielsweise anhand der Repräsentation von Heinrich von Veldeke, Heinrich von Morungen oder Walther von der Vogelweide (Karg-Gasterstädt 1999, Tafel 7, 8 und 11). Thibaud de Champagne, Nr. XXXV.

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«This association of Pygmalion with the dream motif is most clearly expressed in MS Bibl. Nat. fr. 1565 (copied in 1352), where the story of Pygmalion is announced by the rubric, Ci commence l’ystoire de Pygmalion et de son songe (Here begins the story of Pygmalion and of his dream [fol. 136]). The accompanying miniature represents Pygmalion asleep in bed and is very much the same as the opening miniature of the poem, which, as in the vast majority of Rose manuscripts, represents Guillaume’s dreamer asleep in bed. Pygmalion here is the explicit reworking, and dépassement, of the poet-dreamer of the Rose».255

Nicht nur die Analogie zwischen Traum, Melancholie und dichterischer Inspiration wird in der Miniaturkunst zum Ausdruck gebracht, sondern auch das in der Lyrik zum Topos stilisierte schmerzvolle Erwachen aus dem Liebestraum. So greift der Liebende in der Randzeichnung der Hs. N256 (Abb. 10) 257 zum salut Aissi cum cel c’am’e non es amaz258 von Arnaut de Mareuil, in dem der ric jausimen (V, 3) mit dem Schmerz des Erwachens (V, 6) kontrastiert, im Halbschlaf und mit schon geöffneten Augen nach dem Traumbild seiner Geliebten: Plakativer könnte die Problematik der Traumliebe nicht dargestellt werden. Kommentierende Randzeichnungen dieser Art sind im Korpus der Trobador- und TrouvèrelyrikHandschriften einzigartig.259 Sie sind direkt von den lyrischen Texten inspiriert und bisweilen verweisen sogar kleine geometrische Figuren, die neben den Zeichnungen platziert sind, auf die entsprechenden Textstellen.260 Ob die Farblosigkeit und Transparenz der Miniatur, in der nur die darin auffälligen goldenen Bettbeine im wahrsten Sinne des Wortes fest mit dem Boden verbunden zu sein scheinen, intendiert sind oder nicht, lässt sich nicht mehr beantworten, zumal auch andere Miniaturen der Handschrift nicht mehr koloriert wurden.261 Gewiss intendiert ist aber eine ähnliche und wohl bewusst gewählte Blässe einer anderen Miniatur. Ähnlich wie der Liebende in der salut-Illustration nach dem Erwachen in die Leere greift, klammert sich der erwachende amant der Schlussmininatur einer Ende des 14. Jh.s entstandenen Rosenroman-Handschrift (Abb. 11) an eine Blume des im Hintergrund drapierten Rosenstocks, der als Reminiszenz an das Traum-

255 256

257 258 259 260 261

Huot 1987, 99. Die Hs. N wurde im 13. Jh. in Norditalien, wahrscheinlich in Padua, kompiliert. Neben «historiated miniatures» enthät die Handschrift auch Randzeichnungen, die etwa zu der Zeit entstanden sind wie die Miniaturen. Cf. Huot 1992, 3: «The marginalia are not by the same hand as the initials, although if not executed at the time the manuscript was made, they could not have been completed much later». Aissi cum cel c’am’e non es amaz von Arnaut de Mareuil (BdT 30, 3) folgt in der Hs. N auf fol. 65. Arnaut de Mareuil a), Nr. IX. Cf. Huot 1992, 11. Cf. z. B. NY, Pierp. Morg. Libr., M. 819, fol. 56v. Cf. Huot 1992, 13/Anm. 4: «Marginalia appear on folios 56–61v; 63–69; 72v–73; 187– 190; 211–212v; 214–218v. While many of the marginalia are painted in full color, many others are simple line drawings. I can discern no pattern to the distribution of painted versus non-painted images; it is likely that the artist’s work was simply interrupted for some reason».

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bild gemahnt. Das Bett und der Liebende, die zu einer Einheit zu verschmelzen scheinen, stehen im frappanten Kontrast zu dem kobaltblauen Hintergrund und den blühenden roten Rosen des Traumbildes. Die ausgewählten Bespiele zeigen, dass man Schmitt, der vom kategorischen Festhalten der mittelalterlichen Traumdarstellungen der arts figurés an traditionellen Modellen spricht262 und jenen die «subjectivité littéraire»263 der Traumdichtungen entgegenstellt, gewiss nicht beipflichten kann. Die Illuminationen reflektieren nämlich durchaus die sich wandelnde Vorstellung vom Traum und dessen Ursachen und Formen.

262 263

Cf. Schmitt 2001, 314. Cf. Zink 1985.

144

5.

Romanische alba- und somni-Dichtung: Typologie und Deutung

5.1. Romanische Tagelieder «Bei einer in dieser Weise angelegten Beschäftigung mit den einzelnen Texten steht man Versuchen, die umfassende Wesenserklärungen liefern möchten nach der Art ‘das Tagelied ist…’, recht fremd gegenüber».1

Die alba ist in erster Linie als eine Gattung zu verstehen, die aus der Variation lebt. So spiegelt sich die beschriebene Vielfalt der Motivfunktionen,2 die die alba erfüllen kann, auch in der Ausbildung mehrerer Modelle wider, die in der romanischen Lyrik nach dem zentralen Motiv als albas bezeichnet werden. Ein gemeinsames Charakteristikum dieser Ausprägungen stellt in der Regel der explizit oder implizit evozierte Gegensatz von Licht und Dunkelheit oder von Tag und Nacht dar3 und die damit verbundene Entgegenstellung von Ankunft bzw. Verweilen und Abschied. Zum festen Gattungsschema der erotischen alba entwickelt sich in der Romania die Verbindung der Liebes- und Trennungsthematik mit der Klage und dem negativ konnotierten alba-Zeitmotiv,4 «le motif temporel qui fonde la rupture».5 Trotz der relativ fixen distinktiven Merkmale erlaubt die erotische alba insbesondere durch die Figurenkonstellation und die Verteilung und Gewichtung der Sprecherrollen eine Vielfalt an Realisierungsmöglichkeiten. Spätestens im 13. Jh. zeigt die romanische Dichtung diverse Variationen und Kontrafakturen des albaSchemas, die in unterschiedlicher Art und Weise im intertextuellen Spiel auf die erotische Tageliedsituation Bezug nehmen. Neben Erweiterungen und Modifikationen der alba-Thematik mit der Übernahme des zentralen negativ konnotierten Zeitmotivs findet man explizite oder implizite Umkehrungen des alba-Motivs, die die Tageliedthematik durch Zitat oder Anspielung evozieren, ohne sie nachzuahmen. Dass das intertextuelle Spiel für die alba-Dichtung konstitutiv ist, beweist nicht nur die literaturwissenschaftliche Analyse. Auch die Musikwissenschaft bestätigt diese Annahme, wenn sie in Bezug auf die tradierten alba-Melodien von der «intermelodicitat»6 der Gattung spricht. 1 2 3 4 5 6

Wolf 1979, 156. Wolf hat in seiner komparatistischen Studie das Zitat und die Variation als essentielle Momente der alba-Dichtung herausgearbeitet. Cf. Kap. 3.1. Cf. Chaguinian 2008, 78/85s. Cf. Kap. 3.1.1. Billy 1997, 40. Rossell 1992, 233.

145

5.1.1.

Variationen der erotischen alba

Die intime Klage der Liebenden über den Abschied in der Morgenröte ist ein Archetypus, der sich, wie Hatto (1965) in seiner internationalen Anthologie zeigen konnte, zum Topos der Weltliteratur entwickelt hat. Das essentielle Moment der erotischen Tageliedsituation, das die Liebenden primär in ihrer Zweisamkeit fokussiert und gleichzeitig erotische Spannung und Trennungsschmerz zu einer Einheit verbindet, spiegelt sich in der Romania im 12. und 13. Jh. vor allem in den Frauenliedern des französischen Kulturraums wider. In der okzitanischen Poesie hingegen erfährt die alba eine Fixierung im Kontext der höfischen Lyrik, die vor allem zu einer Perspektivierung durch Erweiterung des Figureninventars führt.7 Diese Erweiterung betrifft vor allem den Typ des gelos und die gayta-Figur. Während der Eifersüchtige stets an das Figurenduo des Liebespaares gebunden bleibt, kann der Wächter zu einer autonomen Figur werden, die von außen die Tageliedsituation kommentiert. Diese Loslösung der Wächterfigur spiegelt sich im Gattungskonzept der gayta wider, wie es die Doctrina8 tradiert. Die höfische Fixierung der Gattung, die ferner zur Etablierung und Intensivierung des celarMotivs führt, rückt die okzitanische alba in die Nähe der Hauptgattung canso und verlagert so die erotischen Momente häufig in die Erinnerung oder die Wunschvorstellung. Jede Aufstellung von strengen Merkmalskatalogen, wie sie in früheren Arbeiten praktiziert wurde, wird der poetischen Kraft der alba nicht gerecht. Ein abstrahierender Blick auf die diversen Umsetzungen der alba erlaubt aber bei der Annahme eines evokativen thematischen Kerns, der sich auf unterschiedliche Art und Weise konkretisieren kann, die Hervorhebung folgender distinktiver und variabler Elemente, die diverse Verknüpfungen erlauben: Modell der erotischen alba Liebesthematik mit (dargestelltem oder erinnertem) joi distinktive Elemente (explizit oder implizit)

Trennungsthematik und Klage negative alba-/dia-Motivik celar-Motiv (mit paor) Realitätsflucht variabel (explizit/implizit 1+)

7

8

Figureninventar: Dame /Ritter, Freund/Freundin, Wächter, Eifersüchtiger, Vogel, Neider/Verleumder

Cf. dazu Wolf (1979, 11), der kritisch von einer Vereinseitigung der «eher offenen tageliedartigen Traditionen» spricht, die dazu führt, dass die ehebrecherische Liebe in den Mittelpunkt gerückt wird und «Szenerie und Personal [...] eine damit zusammenhängende Fixierung» erfahren. Cf. Razos de trobar, 96, v. 67–71.

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Die Verbindung des alba-Zeitmotivs mit der tragenden Liebes- und Trennungsthematik ist für die erotische alba des galloromanischen Kulturraums konstitutiv, wobei das Zeitmotiv als Feind des Eros eindeutig negativ konnotiert ist.9 Ferner ist das explizite oder implizite celar-Motiv, das auf die Heimlichkeit und Gefahr der Begegnung hinweist und häufig die Furcht der Liebenden oder des Wächters zum Ausdruck bringt, ein distinktives Element der alba-Dichtung. Die Zusammenstellung des Figureninventars ist variabel – wobei hier – mit Ausnahme des Liebespaares – zwischen abhängigen (gelos, lausengiers) und unabhängigen (gayta) Figuren zu unterscheiden ist. Distinktiv ist ferner die Darstellung oder Verbalisierung des letzten intensiven joi vor dem Abschied. Ferner ist die Realitätsflucht ein Merkmal der alba : Sie kann in dem in der Regel an Gott gerichteten Wunsch nach Verlängerung der Nacht zum Ausdruck kommen oder in der betonten Vernachlässigung (Überhören und/oder Übersehen) der Zeichen, die den anbrechenden Tag ankündigen und so an die Notwendigkeit der Trennung erinnern. 5.1.1.1. Entre moi et mon amin: Abschiedsklagen der Liebenden Auf fol. 83v der im 11. Jh. kompilierten Handschrift XI. 58 aus Sankt Florian ist das mittellateinische Cantant omnes volucres {A a, 2} überliefert: Cantant omnes volucres, iam lucescit dies. Amica cara, surge sine me per portas exire! (Alle Vögel singen, schon beginnt der Tag zu leuchten. Steh auf, geliebte Freundin, um ohne mich vor die Türen zu gehen.)

Im Vergleich zu den typischen volkssprachlichen Beispielen zeigt diese alba, deren zweite Strophe stark verderbt ist,10 einen essentiellen Unterschied: Es ist nämlich die Dame, die zur nächtlichen Verabredung kommt und den Liebhaber im Morgengrauen verlässt. Und doch weisen diese Verse das auch für die romanische Tagelieddichtung typische lexikalische Material auf, wenn sich darin die Liebesthematik mit den Motiven des Vogelgesangs (v. 1), des Tagesanbruchs (v. 2), des Erwachens (v. 3) und des impliziten Abschieds (v. 4) verbindet. Vor allem die Poetisierung des in seiner Ausschließlichkeit gelebten Trennungsschmerzes ist für die romanische alba-Dichtung essentiell. In Anknüpfung an diese Idee stellt schon Jeanroy die alba in einen weiteren Kontext, indem er das Tagelied als Subform der «chanson de séparation ou d’adieux»11 beschreibt und es so als spezifische Variante des Abschiedslieds definiert. Dass die Trennungsthematik unterschiedliche

9 10 11

Cf. Rieger, D. 1983, 341. Cf. den Versuch einer Transkription und Deutung bei Dronke (21968 II, 352). Cf. Jeanroy 21904, 144.

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«sous-genres de la chanson amoureuse»12 gestiftet hat, bestätigt ein Blick auf den trobadoresken Gattungskatalog, denkt man an Genres wie comjat, escondig oder chanson de change. Und wenn Wilson13 beispielsweise die cantiga Amad’ e meu amigo von Dom Denis14 mit der Tagelieddichtung in Verbindung bringt, was in der Forschung Kritik fand,15 so geht er von einem sehr weiten Konzept aus und stellt das Lied genau in diesen thematischen Kontext. Abschiedslieder, die der Frauenstimme eine signifikante Rolle zuweisen und somit in der Tradition der chansons de femme stehen, sind ein Gemeingut der (romanischen) Dichtung und können unterschiedlich motiviert sein, wie beispielsweise die italienische Poesie des Duecento zeigt. Die sikulo-toskanische Lyrik bietet mit Lo vostro partimento, dolze spene16 und Dolze mia donna, ’l vostro partimento17 von Maestro Francesco zwei prägnante Beispiele für die Umsetzung der Trennungsthematik. Solche Abschiedslieder kennt auch die scuola siciliana. So ist die Verbindung der Trennungs- und Kreuzzugsthematik eine mögliche Realisierung, wie die Kanzone Giamäi non mi conforto von Rinaldo d’Aquino18 oder das dialogische Dolze meo drudo, e vaténe! von Federico II19 zeigen. Dabei erhält der Kreuzzug hier kein geschichtliches Gewicht wie in der okzitanischen chanson de croisade, «sondern steht vor den Augen der Seele als der schmerzliche Grund für eine Trennung zweier Liebender».20 Auffällig ist der in den italienischen Abschiedsliedern immer wieder formulierte Aspekt der tornata, die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr und ein Wiedersehen. Ein frühes und prominentes Beispiel stellt in diesem Zusammenhang Membrando l’amoroso dipartire21 von Giacomo da Lentini dar. Die Kanzone schildert den Abschied aus der Retrospektive, wobei die Unmittelbarkeit der Trennung aus der direkten Wiedergabe der erinnerten Worte der Frau entsteht. Der Gedanke der Rückkehr durchzieht die Kanzone und kulminiert in der Feststellung, dass der Geliebte bis zum tatsächlichen Wiedersehen im Traum und in der Phantasie mit seiner Dame zusammen sein will (cobla V), wobei sich der Liebende mit dem Ersatz, den die imaginäre Sphäre bietet, nur temporär während der Abwesenheit der Geliebten zufriedengeben möchte. Einen ähnlichen

12 13 14 15 16 17 18 19

20 21

Billy 1997, 39. Wilson 1965, 323. Brea 21999, I, Nr. 25, 4. Cf. z. B. Brea 2002, 33/Anm. 37. Coluccia 2008, Nr. 42.5. Coluccia 2008, Nr. 42.6. Di Girolamo 2008, Nr. 7.6. Di Girolamo 2008, Nr. 14.1. Bei diesem Lied handelt es sich um «l’unico componimento siciliano di cui esista un accompagnamento musicale, anche se quasi certamente posteriore» (Di Girolamo 2008, 441). Zur kontrovers diskutierten Frage um den ‘divorzio tra musica e poesia’ in der sizilianischen Dichterschule cf. die kritische Untersuchung von Schulze (1989). Friedrich 1964, 34. Antonelli 2008, Nr. 1D.1. Zwar figuriert die Kanzone in der Edition von Antonelli unter dubbie attribuzioni, doch stellt der Herausgeber fest (Antonelli 2008, 564): «Sembra […] difficile negare la paternità della canzone a Giacomo da Lentini».

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Gedanken zeigt die Kanzone Oi lasso! non pensai22 von Ruggerone da Palermo. Auch hier wird der Abschied von der Dame (I, 3) aus der Retrospektive reflektiert und der Gedanke an die – wenn auch ferne (I, 10) – Rückkehr durchzieht die Verse. Trotz der intensiven Klage über die Trennung überwiegt dabei der Trost, den die Erinnerung (memoria) verstärkt (II, 7s.). Dass die Verbindung der Abschiedsthematik mit dem negativ konnotierten alba-Zeitmotiv von den frühen Dichtern Italiens nicht kultiviert wurde, ist unwahrscheinlich. Gewiss ist jedoch, dass diese thematische Verknüpfung eher ins Register volkstümlicher Formen fiel und möglicherweise nicht als überlieferungswürdig erachtet wurde. Die erste gut dokumentierte poetische ‘Schule’ in italienischer Sprache nämlich, die von gebildeten Vertretern des Beamtenstaats Friedrichs II. getragen wurde und die okzitanische Poesie kannte und schätzte,23 entwickelt die idealisierte, aber stets erotisch fundierte Liebesvorstellung der Trobador- und Trouvèrelyrik zu einem immer stärker sublimierten und philosophisch-reflexiven Konzept.24 In diesem Sinne weisen die Dichter der scuola siciliana «volkstümliche oder politisierende Formen aus der Provence, wie Alba, Pastorelle oder Sirventes»25 eindeutig zurück.26 So ist auch die Überlieferung der «única alba italiana medieval» einem Zufall geschuldet und gründet in der «obligación, surgida en 1265 en Bolonia, de escrituritar los contratos privados y la imposibilidad de que existiesen espacios en blanco entre contratos, condujo a algunos notarios a insertar proverbios, plegarias o textos poéticos».27

Dieser Regelung folgend hat der Notar Nicholaus Phylippi in den Memoriali Bolognesi (fol. 152v) 1286 das vielleicht fragmentarisch28 überlieferte Pàrtite, amore, a deo {A e, 1} niedergeschrieben. In diesem Lied verbindet sich die Trennungsthematik mit dem für die Tagelieddichtung typischen Zeitmotiv, das als zorno (v. 4) realisiert wird. Das Ritornell, Pàrtite, amore, a deo, durchzieht die Komposition und erinnert als repetitives Element an die Dringlichkeit und Notwendigkeit der Trennung. Die Sorge der Frau, die mala celosia (v. 16) könnte die cellata (v.

22 23

24 25 26

27 28

Di Girolamo 2008, Nr. 15.1. Cf. z. B. dazu das immer wieder zitierte Beispiel von Madonna, dir vo voglio von Giacomo da Lentini (Antonelli 2008, Nr. 1.1.), das ohne Zweifel eine Nachdichtung von A vos, moidontç, voill retrair’ en cantan von Folquet de Marselha (Nr. XXII) darstellt. Cf. dazu Lange (2004, 4). Wittschier 2000, 124. Cf. auch Neumeister (1993, 386) und Elwert (1980, 34). Cf. dazu auch Sigal (1996, 6): «Although Italian literature took its inspiration as well as many verse forms from Old Provençal lyrics, there are no albas in the whole of the poetry of the Sicilian school nor in the corpus of poems written in the dolce stil nuovo. The first comparable material appears not in lyric but in Boccaccio’s Il Filostrato». Fuente Cornejo 1999, 194. Darüber, ob es sich bei der Komposition um ein Fragment handelt oder nicht, besteht in der Forschung keine Einigkeit (cf. Fuente Cornejo 1999, 195). Gegen die Deutung der alba als Fragment cf. Dronke (1977, 287/Anm. 8), der auch den «besonderen Ton» der Komposition im Vergleich zu anderen romanischen albas hervorhebt (Dronke 1977, 202).

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7) der Liebenden entdecken und so deren Geheimnis enthüllen, durchzieht die ballata.29 Nicht der Vogelgesang oder die Himmelszeichen verweisen aber in dieser Komposition auf den Tagesanbruch, sondern das Glockenläuten zur Matutin: Pàrtite, amore, adeo, ché tropo ce se’ stato: lo maitino è sonato, zorno me par che sia.

(v. 1–4)

(Brich auf, Geliebter, Adieu, denn zu lang bist du hier geblieben: Zur Matutin hat es geläutet, der Tag, so scheint mir, ist da.)

Dieses Motiv ist von besonderem Interesse, zumal die Wendung ‘suonare mattutino’ im mittelalterlichen Gebrauch auch eine sexuelle Konnotation haben konnte, wie Magnani in Bezug auf Boccaccio zeigt. Der Dichter spielt nämlich in der zehnten Novelle des zweiten Tages im Decameron «sul significato proprio di suonare mattutino ‘recitare l’ufficio divino’ e su quello metaforico ‘congiungersi carnalmente’».30 Diese Metapher, die zwischen dem Sakralen und dem Profanen oszilliert, fasst die ambivalente Natur der alba-Dichtung in eine prägnante – und für die romanische Tageliedpoesie – einzigartige Formel. Ähnlich wie das italienische Tagelied fokussieren auch die typischen altfranzösischen albas allein das Liebespaar. Ist aber der Aspekt der tornata (v. 11) – wie in den Trennungsklagen der scuola siciliana – in Pàrtite, amore, a deo {A e, 1} essentiell, so ist die Hoffnung auf ein Wiedersehen den Abschiedsszenerien der französischen Tradition fremd. Vielmehr scheint darin die Trennung den joi unwiederbringlich zu zerstören. Die Thematisierung der Hoffnung oder die Verlegung der Liebesfreude in die (imaginäre) Sphäre des Traums oder der memoria wird in den französischen Abschiedsklagen nicht zum Thema. Und auch in den okzitanischen albas verbinden sich die Treueversprechen und Liebesschwüre der Trennungsszenerien ({A b, 2}/«ieu remanh vostr’amia» V, 2; {A b, 12}/«Vostres suy, on que ieu sia» IV, 2–4) in der Regel nicht mit einer Ankündigung der Rückkehr. Die Komposition von Bertran d’Alamanon {A b, 12}, die ein solches Versprechen formuliert («tost retornarai» V, 4), stellt dabei eine Ausnahme dar.31 Denn mag die Literatur in der Regel den Abschied lieben, der ein Wiedersehen impliziert,32 für die okzitanische und französische alba-Dichtung gilt diese Feststellung nicht – vielmehr potenziert die implizite Vorstellung der Endgültigkeit des Abschieds den Schmerz und das Verlangen. Zwar sind nur sechs altfranzösische Lieder überliefert, in denen die morgendliche Trennung zum tragenden Element entwickelt wird, doch zeigen zahlreiche

29 30 31 32

Zur metrischen Form der Komposition cf. Mölk (1989, 233). Magnani 1980, 101. Wolf (1979, 35) zählt auch dieses Motiv zu den typischen Tageliedelementen, was die Textüberlieferung jedoch nicht bestätigen kann. Cf. dazu Bohrer 1996, 9.

150

Einsprengsel, die insbesondere im 13. Jh. häufig in Tanzliedern und anderen Formen des registre popularisant auftreten,33 dass die alba-Thematik im französischen Kulturraum in der Poesie durchaus produktiv war. Folgende fünf 34 Lieder zelebrieren den Abschied in der Morgenröte allein aus der Perspektive der Liebenden, zeigen einen nur geringen höfischen Einfluss und sind – mit Ausnahme des vielleicht fragmentarischen Est il jors? – Nenil ancores {A c, 1} – der Tradition der chansons de femme35 verpflichtet: Anonym: Est il jors? – Nenil ancores {A c, 1} Anonym: L’a[u]be c’apiert ai jor {A c, 2} Anonym: Entre moi et mon amin {A c, 3} Anonym: Li jorz m’a trové, hé! {A c, 5} Gace Brulé: Cant voi l’aube dou jor venir {A c, 7}

Vollständig als Frauenmonolog realisiert ist der wahrscheinlich im 13. Jh.36 entstandene motet L’a[u]be c’apiert ai jor {A c, 2}: L’a[u]be c’apiert ai jor, Ki la nuit depairt, Mi fait soffrir grant dollor, Can cilz de moi se depairt Cui je tant amaixe. Pleüst ore a saint Jaike Ke nuns ne nos puist veoir ne reprandre Et la nuit durast trante, S’avroit chascuns son desir! Ne puet estre ke partir Vos conviene, amins, de moi; Et sachiés en bone foi, Ke malz nos fait, Dex li dont pix, Ki moi et vous depairt, dous amins! (Die Morgenröte, die am Tag aufgeht, der sich von der Nacht trennt, bereitet mir großen Schmerz, wenn der von mir scheidet, den ich so sehr liebe. Gefiele es doch dem heiligen Jakob, dass niemand uns sehen noch tadeln könnte und die Nacht dreißig Nächte dauerte, dann hätte jeder seine Erfüllung! Es kann nicht sein, dass es Euch angenehm ist, von mir 33 34

35 36

Cf. Woledge 1965, 350ss. Fünf altfranzösische Tagelieder sind überliefert, eine recht geringe Zahl, wenn man die Popularität der chansons de femme in diesem Kulturraum bedenkt. Wolfzettel (1983, 421) möchte diesen Umstand damit erklären, dass die aube der Trouvères – anders als die alba der Trobadors – keine «innerhalb des höfischen Gattungssystems wirkende Kontrastgattung der sinnlich-sexuellen Erfüllung» darstellt, und dass «eine solche Rolle […] eher der außerordentlich beliebten Pastourelle zuzweisen [wäre], die dann indirekt möglicherweise dazu beigetragen hat, daß sich die nordfranzösische aube in der nordfranzösischen Lyrik nicht durchsetzen konnte». Cf. Mölk 1989, 31. Datierung nach Woledge (1965, 374).

151

zu scheiden, mein Freund. Und Ihr sollt bei meiner Treu’ wissen, dass derjenige uns Böses antut – Gott möge es ihm zurückzahlen – der uns voneinander trennt, süßer Freund.)

Der Geliebte, an den die Frau appelliert, ist nur passiv präsent. Der Gegensatz von Tag und Nacht stellt das zentrale Bild dieser alba dar und bringt – ganz im Sinne der Abschiedslieder – die Thematik der Trennung in den Vordergrund. Durch die figura etymologica des repetitiven depairtir (v. 2/4) und partir (v. 10) wird dabei eine Analogie zwischen der Trennung des Tages von der Nacht und der Trennung von der Geliebten hergestellt. Dabei begünstigen die grammatischen Genera von nuit und jour das poetische Spiel, indem das weibliche Prinzip der Nacht und das männliche des Tages die Liebenden präfigurieren. Im gesamten Bild aber wird die aube (v. 1) zur causa der Trennung stilisiert. Sie verursacht den großen Schmerz (grant dollor/v. 3) der Liebenden, da sie den ungeliebten Abschied vorantreibt und die Heimlichkeit der nächtlichen Begegnung gefährdet. Die Liebenden finden nur in der Flucht vor der Wirklichkeit (v. 8) Trost. Das Motiv der Realitätsflucht entwickelt das ebenfalls auf das 13. Jh.37 datierte und als motet realisierte Lied Est il jors? – Nenil ancores {A c, 3} zum Hauptthema: Est il jors? – Nenil ancores; Vos lou hasteis trop: Bien m’avroit navreit a mort Ke si tost l’amoinroit ores. Je ne m’an vuel mie aleir, Car m’amiete m’acolle. Faixons mesdixans crever, E gixons un poc ancores: Deus! keil parleir d’amour fait ores! (Ist’s schon Tag? – Nein, noch nicht. Ihr habt es zu eilig: Der verletzte mich tödlich, der ihn jetzt schon so schnell herbeibrächte. Ich will überhaupt nicht fortgehen, denn meine kleine Freundin umarmt mich. Sollen doch die Verleumder umkommen, bleiben wir doch noch ein wenig liegen: Ach, Gott, möge er nun Liebesworte flüstern!)

Hier wird der Tagesanbruch zwar registriert, jedoch werden die Anzeichen zurückgewiesen, denn der jour verlangt nach der Trennung, und der Liebende will nicht scheiden, wie er explizit betont (v. 5). Der Aufschub der Trennung kommt auch in dem Wunsch zum Ausdruck, die mesdixans (v. 7) mögen umkommen, damit das Liebesspiel nicht gestört werde. Eine Variante dieser Motivik bietet das im Kehrreim des Rondeau38 Li jorz m’a trové, hé! {A c, 5} enthaltene oblier: Die Verdrängung und das bewusste Vergessen werden als Strategien der Liebenden

37 38

Ibid. Zwar ist in der Handschrift (k = B. N. fr. 12786, fol. 81v–82r) ein dreistimmiger Satz vorgesehen, doch ist die Notation nicht nachgetragen worden, nur für den Refrain ist sie erhalten. In Anschluss an Jeanroy glaubt Woledge (1965, 350), der das Lied aber nicht in seine Sammlung altfranzösischer alba-Beispiele aufnimmt, dass die ersten zwei Verse der Komposition Fragmente einer verlorenen alba darstellen könnten.

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entlarvt. Auch in der «pièce hybride, lyrico-narrative»39 Entre moi et mon amin {A c, 3} deuten mehrere Signale auf die Kluft zwischen Wunsch und Realität hin: die sprechende Lerche (I, 6s.), der implizite Wunsch nach Fortdauer der Liebesfreuden durch bewusstes Ignorieren des anbrechenden Tages und dessen Anzeichen (Refrain) sowie der explizite Wunsch nach Verlängerung der Nacht (II, 6s.), der den verzweifelten Versuch der alba-Liebenden darstellt, den temporären joi durch die Kreation eines zeitlosen Raums40 zu verewigen. Dabei spielt die Szenerie von Entre moi et mon amin {A c, 3} bei Béthune (I, 2), «einer nordfranzösischen Stadt, die zu den stereotypen Orten der Pastourellentradition gehört».41 Diese präzise lokale Fixierung ist für die gewöhnlich ortsentbundene alba untypisch und lässt einen Einfluss der pastourelle erkennen. Neben der Umsetzung der Realitätsflucht fällt in dieser als Frauenmonolog realisierten alba die Erweiterung des Figureninventars durch die personifizierte Lerche (I, 6) auf, die Wolf – ausgehend von der altokzitanischen Variante – als «hübsche Funktionsverlagerung»42 im Vergleich zum Wächterruf der Trobadors bezeichnet. Ferner wird in dieser Komposition die Steigerung des joi angesichts des anbrechenden Tages zu einem wirkungsvollen Bild verdichtet (cobla II). Die Intensität der im Augenblick der Trennung gesteigerten Liebesfreude ist generell neben der Darstellung der Klage und des Schmerzes für die alba-Dichtung konstitutiv, denn «dawn stands as a visible representation of both the fusion and separation of alba lovers. Dawn and its metaphorical movement (from night to day) mime the actions and psychological experiences of alba lovers».43

Diese Ambivalenz des Tagelieds macht den Reiz der Gattung aus. Dabei wird der Schmerz in den meisten Tageliedern stärker ästhetisiert als die vergangenen oder noch in den letzten Atemzügen anhaltenden Liebesfreuden, wie auch Cant voi l’aube dou jor venir {A c, 7} zeigt. Die Entstehung dieser alba aus der Feder von Gace Brulé ist wohl auf die Zeit um 1200 anzusetzen, wenn die nicht unbestrittene44 handschriftliche Zuschreibung an den etwa zwischen 1179 und 1212 poetisch aktiven Trouvère stimmt. Das Lied zeigt eine «structure archaïsante […] de retrouenge»45 und ist vollständig als Frauenmonolog realisiert. Die innere Leere und Verzweiflung der Liebenden in Cant voi l’aube dou jor venir {A c, 7} findet ihr Pendant im Suchen des Geliebten auf dem leeren Lager – vielleicht eine Reminiszenz an die berühmten Verse des Canticum Canticorum (3, 1):

39 40 41 42 43 44 45

Bec 1978, 26. Bec hält das Lied für ein Fragment. Cf. Sigal 1996, 155. Wolfzettel 1983, 422. Wolf 1979, 23. Die hier von Wolf implizit postulierte Richtung der Rezeption ist rein hypothetisch. Sigal 1996, 175. So hält z. B. Frappier (1966, 44) die Zuweisung für falsch und auch Jeanroy (41969, 77/ Anm. 1) bestreitet die Autorschaft. Bec 1978, 27.

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Quant je me gix dedens mon lit Et je resgairde encoste mi, Je n’i truis poent de mon amin, Se m’en plaing a fins amerous. Or ne hais rien tant com le jour, Amins, ke me depairt de vos.

(III)

(Wenn ich mich in mein Bett lege und neben mich schaue, finde ich meinen Freund nimmermehr, und so klage ich vor den wahrhaft Liebenden. Daher hasse ich nichts so sehr wie den Tag, mein Freund, der mich von Euch trennt.)

Diese Strophe zeigt zudem deutlich, dass die Trennung aus der Retrospektive evoziert wird und die Dichtung die Bilder der memoria wiedergibt. Auffällig stark entfaltet ist in Cant voi l’aube dou jor venir {A c, 7} auch die Verwünschung der Liebesfeinde, die in dreifacher Nennung erscheinen: als envious (II, 4), medixans (V, 3) und mavais maris jalous (V, 4). Verbunden mit diesem Kollektiv der Liebesfeinde ist das celar-Motiv, das in der zweiten Strophe entfaltet wird und als Exkurs die Problematik der heimlichen Liebe reflektiert. Eine solche explizite Auseinandersetzung mit dem celar ist in altfranzösischen Beispielen eher ungewöhnlich. In der Regel werden darin die Gefahrenquellen, die den Abschied notwendig machen, nicht weiter spezifiziert. Dass die alba stets eine ehebrecherische Liebe zelebriert, wie Mölk46 für die französischen und okzitanischen Beispiele betont, ist nicht evident, denn die Gleichsetzung zwischen heimlicher und ehebrecherischer Liebe ist zu restriktiv. Nicht das Element des Ehebruchs ist für das Tagelied zentral, sondern vielmehr die imaginierte Gegenseitigkeit.47 Die von Erotik geprägte alba-Liebe wird als «freely chosen, mutually fulfilling love»48 dargestellt. Dem gegenüber steht das Konzept der 1215 von der Kirche in die Liste der sieben Sakramente aufgenommen Ehe. Aufgrund der kirchlich auferlegten Beschränkung der innerehelichen Sexualität auf die Funktion der Fortpflanzung49 wird das Konzept der Ehe in der mittelalterlichen Literatur immer wieder als unvereinbar mit Liebe diskutiert. Das prominenteste Beispiel einer solchen Auseinandersetzung stellt De Amore von Andreas Capellanus dar, in dem die These von der Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe der Gräfin Marie de Champagne zugeschrieben wird.50 Anders als der Dame der Kanzonendichtung kommt der weiblichen Stimme in der romanischen Tagelieddichtung eine eminente Rolle zu, die im gewissen Sinne im Gegensatz zu dem in die Ferne gerückten und nahezu als unerreichbar dargestellten Verlangen des canso-Liebenden steht, das oft nur konjunktivisch Befriedigung erfährt. Die alba-Dame formuliert die Forderung nach Erfüllung und offener Erotik unverhüllt und in einer überraschenden Unmit46 47 48 49 50

Cf. Mölk 1989, 31s. Cf. Saville (1972, 220), der von der «mutual love relationship» der alba spricht. Sigal 1996, 116. Cf. dazu auch Passagen aus dem zweiten Teil des Rosenromans, insbesondere die Rede der Natura (19373–19393) und des von ihr entsandten Genius (19547–19564). Cf. Andreas Capellanus: De Amore, I, vi, 397; I, vi, 444; II, vii, 41–42.

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telbarkeit und bringt so die «sexualité ‘déculpabilisée’»51 der alba-Liebenden zum Ausdruck. Sigal spricht in diesem Zusammenhang von der «multidimensional alba lady»,52 die nicht nur passiv, sondern auch aktiv lieben darf und ihren Schmerz, ihre Liebe, ihre Wut und Angst gleichermaßen zu verbalisieren versteht. 5.1.1.2. Dynamisierung und Perspektivierung der Klage im höfischen Kontext Im Vergleich zu den altfranzösischen und altitalienischen Beispielen, in denen die Liebenden in ihrer Zweisamkeit poetisiert werden, zeigen die okzitanischen Texte eine stärker dynamisierte Struktur, was auf die Verteilung der Sprecherstimmen und die Erweiterung des Figureninventars zurückzuführen ist. Die trobadoreske alba zeichnet sich durch interférences registrales im Sinne Becs53 aus und zeugt von einer Höfisierung der Gattung, die mit einer Herausbildung der in der Forschung immer wieder als typisch bezeichneten Gattungsstrukturen einhergeht: «Diese aristokratischen, von höfischer Liebeskonzeption geprägten, altprovenzalischen Tagelieder weisen bekanntlich bestimmte epische Grundkonstanten auf: Sie poetisieren den Schmerz eines Paares, das nach einer Liebesnacht im Morgengrauen Abschied voneinander nehmen muss, da beide Angst haben, dass ihre heimliche Liebe bei Tage entdeckt wird (nicht zuletzt vom betrogenen Mann der Frau). Zu den inhaltlichen Konstanten gehört auch oft die Figur des Wächters, der dem Liebespaar den Tagesanbruch ankündigt, zu den formal charakteristischen Konstanten der refrainartige Schlussvers bzw. Refrain mit dem wiederkehrenden Wort ‘alba’».54

Zu unterscheiden ist hier noch zwischen den von der Perspektive der Wächterfigur dominierten Liedern (gayta) und albas, in denen der Wächter implizit oder explizit präsent ist, jedoch nicht zum zentralen Element ausgestaltet wird. alba (Typ: Trennungsklage)

alba (Typ: gayta)

Anonym: Quan lo rossinhols escria {A b, 1}

Guiraut de Bornelh: Reis glorios {A b, 7}

Anonym: Ab la genser que sia {A b, 2}

Cadenet: S’anc fui belha ni prezada {A b, 10}

Anonym: En un vergier {A b, 3}

Raimon de las Salas: Dieus aidatz {A b, 11}

Raimbaut de Vaqueiras: Gaita be {A b, 8}

Anonym: Drutç qui vol {A b, 4}

Bertran d’Alamanon: Us cavaliers si jazia {A b, 12}

Anonym: Eras diray ço que·us dey dir {A b, 5}

51 52 53 54

Zink 1972, 71. Sigal 1996, 30. Cf. Bec 1977, 40–43. Greenfield 2000b, 259.

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In die Rubrik der von der Wächterfigur dominierten albas fällt zudem das anonym überlieferte altfranzösische Gaite de la tor {A c, 4}, das stark an den okzitanischen Modellen orientiert ist – und vielleicht in direkter Anlehnung an die alba von Raimbaut de Vaqueiras {A b, 8} komponiert wurde55 – und sich so von den übrigen altfranzösischen Beispielen, die das Zwiegespräch der Liebenden fokussieren, unterscheidet. Die Tatsache, dass dieses Lied zusammen mit nur einer anderen altfranzösischen Komposition in der Hs. U inmitten okzitanischer Lieder platziert ist, zeigt, dass auch der Kopist der Handschrift die Affinität dieser Komposition zur okzitanischen Dichtung erkannt haben darf.56 Über Gaite de la tor {A c, 4} gibt es, wie Rieger betont, «kaum eine Theorie, die nicht geäußert worden wäre, so z. B. Gaite de la tor sei einschließlich Refrain ein Dialog zwischen Ritter und Dame (Wächter nur im Hintergrund); oder ein Dialog zwischen zwei Wächtern, auf den die Klage des Liebhabers folge, wobei dieser Dialog in eine Handlung eingebettet sei; oder gar ein kleines Theaterstück, ein mimisch und tänzerisch dargestelltes ‹Wächterspiel› (Personen: Wächter, Liebhaber, Freund des Liebenden); oder ein ‹Spiel› in drei Akten (1: Begegnung der Liebenden, 2: Einbruch der Dunkelheit, 3: Morgengrauen)».57

Wenn Bec wiederum in Anlehnung an Cocito58 in Bezug auf dieses Lied von einer «bi-partition en deux sous-genres»59 spricht, wobei er die coblas I–V als Repräsentanten der gayta versteht und die letzten beiden als alba-Strophen, so benennt er den zentralen Aspekt dieser Komposition, die davon zeugt, dass der Typus der gayta-alba auch im französischen Kulturraum bekannt war. Die innere Form und die quantitative und qualitative Verteilung der Sprecherrollen dieser Lieder zeigt eine Vielzahl von Gestaltungsmöglichkeiten. So sind die Merkmale der Perspektive und der Realisierung der Rede, die Mölk60 für die Formalisierung der Beschreibung romanischer Frauenlieder vorschlägt, auch für die Erfassung der unterschiedlichen Varianten der immer wieder als ‘typisch’ qualifizierten alba-Dichtung des okzitanischen Raums von Bedeutung. Bezüglich der Perspektive kann zwischen den folgenden drei Varianten unterschieden werden, die das zentrale Figurendreieck der höfischen alba abbilden: 1. Mann, 2. Frau, 3. Wächter. Was die sprachliche Realisierung der Perspektive betrifft, so unterscheidet Rieger im GRLMA zwischen drei Formen: der rein 55 56 57

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Cf. Bec 1977, 95s. Cf. Tyssens 1992, 321/Anm. 3. Rieger, D. 1983a, 191. Cf. zu den unterschiedlichen Deutungen und zur Stimmenverteilung die tabellarische Zusammenstellung von Tyssens (1992, 323s.), die selbst – in Anschluss an Jeanroy – die Annahme von zwei Wächterfiguren favorisiert, die neben dem Liebenden in dieser Komposition handelnd auftreten. Cf. Cocito (1971, 51): «A noi pare indubbio che l’azione si svolga in due successivi momenti che corrispondono con esattezza, il primo a quello che il ‘Trattato catalano di grammatica e poetica’ edito dal Meyer [Doctrina de compondere dictats; Anm. G. B.] definisce consono e proprio ai canti di ‘gaita’ […], il secondo all’‘alba’ […]”. Bec 1978, 30. Cf. Mölk 1989, 24.

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monologischen, der rein dialogischen und einer Kombination von narrativen Elementen und direkter Rede.61 Ausgehend von der Vorstellung, dass sich die albaDichtung aus monologischen Frauenklagen entwickelt hat, wird in der Forschung überwiegend angenommen, dass die dialogischen Partien erst «dans les formes plus évoluées»62 der Lieder auftreten. Was die okzitanische alba betrifft, so erweisen sich die Beobachtungen von Rieger und Bec als problematisch. Narrative Elemente treten nämlich vor allem in monologischen Liedern {A b, 3, 12} auf und unter den okzitanischen Tageliedern ist nur eines der Lieder als monologische Frauenklage realisiert. Es handelt sich dabei um das schon von Jeanroy als «une des perles de la poésie provençale»63 bezeichnete En un vergier {A b, 3}, das als dritter und letzter Text der unter der Überschrift albas ses titol in der Hs. C (fol. 415v–416r) 64 überlieferten anonymen albas erscheint und wohl im 12. oder 13. Jh. entstanden sein darf.65 Die Frauenklage wird darin von zwei Erzählerstrophen umrahmt. In cobla I erfolgt die narrative Situierung der Szenerie und die vierte cobla gilt dem Lob der Dame durch den bis dahin passiven Geliebten. Die vier zentralen Strophen wiederum geben die Perspektive der Dame wieder, wobei zwei (III und IV) einen direkten Appell an den Geliebten zeigen. Auch die Lieder Quan lo rossinhols escria {A b, 1}, Gaita be {A b, 8} von Raimbaut de Vaqueiras und Us cavaliers si jazia {A b, 12} von Bertran d’Alamanon sind dominant monologisch, jedoch wird darin das alba-Geschehen aus der Perspektive des Mannes reflektiert. Das einstrophige Quan lo rossinhols escria {A b, 1}, das als Fragment gehandelt wird66 und in der Hs. C (fol. 383v) die Sektion der albas ses titol eröffnet, schildert die Tageliedsituation aus der Perspektive des Liebenden, wobei in den letzten zwei Versen in direkter Rede der Wächterruf erklingt. In dem wohl Ende des 12. Jh.s entstandenen Gaita be {A b, 8} von Raimbaut de Vaqueiras67 durchzieht ebenfalls der Rittermonolog, ganz ohne Sprecherwechsel oder narrative Einschübe, die vier coblas. Wolf sieht darin einen starken Eingriff «in die Substanz der Albatradition»68 durch die Einführung der Sprecherperspektive der canso. Allerdings übersieht Wolf, dass die ‘Perspektivierung’ durch die alternierende Anrede der Adressaten durchaus implizit erzielt wird: So appelliert der Ritter zunächst explizit an den Wächter (I–III) und dann an die Dame (IV) und lässt so das typische Figurendreieck erstehen, das ganz im Gegensatz zur

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Cf. Rieger, D. 1979, 44. Bec 1977, 92. Jeanroy 1934, II, 297. C = B. N. fr. 856. Die Angabe der folios richtet sich hier nach der Zählung der Handschrift, in der das Inhaltsverzeichnis mit fol. 1r–31r nummeriert ist und danach wieder bei I (= 32r) beginnt. Cf. Woledge 1965, 358. Cf. z. B. die Angabe «cobla isolata estratta certamente da un’alba» in der BEdT. Das Lied ist in der Hs. Sg (Biblioteca de Catalunya, Ms. 146) auf fol. 44r (Riambaut de Vaqyras) überliefert. Die Autorschaft von Raimbaut de Vaqueiras ist – so Chaguinian (2008, 156) – kaum anzuzweifeln. Wolf 22003, 57.

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‘Einsamkeit’ der Minnekanzone steht. Keinen Perspektivenwechsel – jedoch eine narrative Einleitung des alba-Geschehens – zeigt das im 13. Jh. entstandene Us cavaliers si jazia {A b, 12} von Bertran d’Alamanon,69 in dem der Liebende seine Rede an die durch den Appell implizit präsente Freundin adressiert. Auch Wächtermonologe kennt die okzitanische Tradition, angefangen bei dem im 12. Jh. entstandenen und in sieben70 Handschriften überlieferten Reis glorios von Guiraut de Bornelh {A b, 7}. Auf die invocatio Dei der ersten cobla folgen fünf Strophen, in denen der Wächter an den Liebenden appelliert und gleichzeitig die eigene Position reflektiert. Die siebte Strophe gibt die etwas überraschende Replik des Liebenden wieder, die nur in zwei (R und T) der sieben Handschriften überliefert ist und daher häufig als apokryph eingestuft wird.71 Insgesamt zeugt die divergierende Abfolge der Strophen in den unterschiedlichen Handschriften72 einmal mehr von der mouvance der mittelalterlichen Lyrik und somit auch von der Problematik der Deutung der inneren Form dieser Dichtung. Ob auch die in der Hs. N (fol. 87r) überlieferte cobla73 Drutç qui vol {A b, 4} die Wächterperspektive wiedergibt, ist strittig, gewiss stellt aber das in der Hs. VeAg (fol. 51r/v) tradierte und wohl erst im 14. Jh. im katalanischen74 Raum entstandene Eras diray {A b, 5} einen Wächtermonolog dar, der mit einem allgemeinen Appell an

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Zur Frage der Verfasserschaft cf. Chaguinian (2008, 187). Das Lied wird in der Hs. C (fol. 298v–299r) Bertran d’Alamanon zugewiesen, in der Hs. Kp/Y (fol. 108v) aber Gaucelm Faidit. Jean Mouzat nimmt dieses Lied in seine Edition auf, lässt die Frage der Verfasserschaft offen und führt die alba als Nr. LXVIII unter der Rubrik acceptables auf. Das Lied ist in den folgenden Hs. überliefert: C fol. 30v, E fol. 56 [Chaguinian (2008, 127) gibt fol. 56v an, jedoch weist die Hs. keine r/v–Zählung auf], P fol. 19v–20r (attribuiert an Gui d’Uisel), R fol. 8v (mit Notation), Sg fol. 80r–v, T fol. 86r–v (Gattungszuweisung im Titel: Alba) und Mu fol. 1. Cf. Rieger, D. 1990, 497. Cf. die tabellarische Zusammenstellung bei Chaguinian (2008, 129). Die Forschungsdiskussion darüber, ob das aus acht achtsilbigen Versen bestehende Lied ein Fragment ist oder nicht, hat mehrere Artikel gefüllt. Die neueren Ansätze (cf. z. B. Chaguinian 2008, 214) sehen in dem Text ein vollständiges Lied, während Jeanroy (1934, II, 295) darin ein Fragment vermutet. Für eine cobla esparsa plädiert auch Rieger, D. (1971, 223): «Es ist nicht eindeutig festzustellen, ob es sich bei dieser nur in einem einzigen Ms. aus dem 14. Jh. anonym überlieferten Strophe um das Fragment einer Alba – vielleicht deren Einleitung – oder aber, wie wir glauben, um eine die Tageliedsituation lehrhaft verarbeitende Cobla handelt, deren Geschlossenheit und didaktisches Crescendo – der Höhepunkt der Dynamik dieser Strophe ist in den beiden letzten zusammenfassenden Versen erreicht – ihr in großem Maß den Charakter einer cobla esparsa verleihen». Wie schon Jeanroy (1934, II, 295) nimmt auch Rieger, D. (1971, 223) jedoch das Lied nicht ins Korpus der alba-Dichtungen auf. Zur Datierung und Kontextualisierung der alba anhand sprachlicher Auffälligkeiten cf. Chaguinian (2008, 220/224): «Etant donné que les erreurs de notre composition, déclinaison, vocabulaire, phonétique, sont typiques de la langue des compositions des poètes catalans du quatorzième siècle, tout porte à croire qu’il faille dater de cette période cette alba. […] La confusion entre le nominatif et l’accusatif était l’une des erreurs les plus courantes des catalans s’essayant à rimer dans la langue des troubadours, et les

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die höfischen Liebenden beginnt (I–II) und mit einem persönlichen Rat (III) endet (cf. {A c, 7}/IVs.). Neben diesen dominant monologischen Texten sind auch einige albas überliefert, in denen mehrere Figuren handelnd auftreten. Die im GRLMA von Rieger75 vorgeschlagene Qualifizierung dieser albas als dialogisch erweist sich allerdings als problematisch, denn keines der Lieder zeigt die kommunikative Situation des Dialogs, wenn man unter dem Terminus ein Zwiegespräch versteht, das sich in der Interaktion von aufeinanderbezogener Rede und Gegenrede realisiert. Vielmehr sind die Lieder als Wechsel zu charakterisieren, als Abfolge von «monologues successifs» im Sinne Becs,76 und somit eine Kombination aus monologischen Reden, in denen die Rollenfiguren nicht miteinander, sondern vielmehr übereinander sprechen. Untersuchungen zur alba-Dichtung zeigen, dass die Annahme einer szenisch-dramatische Konzeption des Tagelieds, in der mehrere Figuren – wie in der Pastourelle – dialogisch interagieren, nicht haltbar ist. Vielmehr heben neuere Studien den Status der alba als poésie non discoursive hervor und qualifizieren sie als Repräsentant einer Lyrik, in der «la séquence des thèmes (poétiques) n’est pas linéaire [et] qui est essentiellement une succession des moments lyrico-émotifs».77 So stellt das anonyme Ab la genser que sia {A b, 2},78 der zweite Text aus der Reihe der albas ses titol der Hs. C (415v), einen in diesem Sinne verstandenen Wechsel dar. Woledge klassifiziert dieses Tagelied fälschlicherweise als «a narrative by the lover that grows into a dialogue».79 Tatsächlich folgt hier aber auf den Monolog des Liebenden (I–IV), der sich zum Teil explizit an den Wächter richtet (III–IV), nicht – wie man erwarten könnte – eine Replik des Wächters, sondern eine Warnung seitens der domna, die ihren amic zur Flucht animiert. Einen Wechsel, in dem die Wächterstrophen (II–IV) von zwei Frauenstrophen umrahmt sind,80 stellt Cadenets S’anc fui belha ni prezada {A b, 10} dar. Die beachtliche Verbreitung dieses Lieds lässt sich an der Überlieferung ablesen.81 Die von Cha-

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grammairiens catalans, témoin Jofre de Foixà, insistaient longuement sur la distinction des cas». Cf. Rieger, D. 1979, 44. Cf. Bec 1977, 22. Ibid. Cf. Woledge 1965, 364. Woledge 1965, 385. Für die alba sind zudem zwei tornadas überliefert (Hs. A, D, I, K, G), die sowohl der Frauen- als auch der Wächterstimme zugeordnet werden können. Chaguinian (2008, 177) plädiert in beiden Fällen für Wächterstimmen «qui se complètent l’un l’autre» (2008, 178). Cf. dagegen Lavaud (Cadenet, 257): «Le regret exprimé dans ce IIe envoi appartient bien à la dame qui se désespère en voyant le jour s’approcher. […] L’attribution des deux envois au guetteur (VI) et à la dame (VII) est par là absolument intelligible, sans qu’il y ait nécessairement dialogue». Das Lied ist vor 1254 (Entstehung der ältesten Hs., die es tradiert) entstanden und ist in zehn Handschriften überliefert: A fol. 144v–145r, C, fol. 156v–157r (im Inhaltsverzeichnis findet man die Zuweisung Folquet de Marcelha), D fol. 73r, E fol. 56r (Guiraut d’bor), G fol. 102r–v, I fol. 114r–v, K fol. 99r–v, P fol. 65v, R fol. 52r ( folqtz), Sg fol.

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guinian vorgeschlagene Verteilung der Strophen ist eine Möglichkeit unter vielen und bleibt insofern diskutabel, als nur eine der Handschriften (R) die Erstposition der Frauenstrophe und gleichzeitig auch beide Frauenstrophen tradiert, die die älteren Handschriften nicht kennen.82 Da aber die coblas keine dialogischen Einheiten darstellen und die Handschriften mehre Möglichkeiten der Strophenverteilung überliefern,83 wird die Aussage und Deutung der alba durch die Variation der Strophenstellung nicht verfälscht. Für den wohl in der ersten Hälfte des 13. Jh.s84 entstandenen Wechsel von Raimon de las Salas {A b, 11} wiederum geben alle drei85 Handschriften eine identische Strophenfolge an: Auf zwei Wächterstrophen folgt eine Frauenstrophe. Wie schwierig manchmal die Abgrenzung der Perspektiven ist und wie problematisch es ist, dabei auch nur im entferntesten Sinne von Dialogen zu sprechen, zeigt das als Unicum (Hs. U fol. 83r–v) tradierte altfranzösische Gaite de la tor {A c, 4}, in dem ein Mosaik von Stimmen eine polyphone Einheit ergibt, in der die Wächterstimme (II–V) dominiert. Wesentlicher als die Realisierung des Lieds als Monolog oder Wechsel ist für die Beschreibung und Deutung der Tagelieddichtung die Figurenperspektive, da sie das Figureninventar und dessen Interaktionen abbildet. Nicht immer sind die Figuren als Typen so greifbar wie in Cadentes S’anc fui belha ni prezada {A b, 10}, in diesem kleinen Schauspiel der Figurenpräsentationen,86 in dem die Komposition «zu einem Vorwand für eine Selbstdarstellung des Wächters»87 und der Dame wird. Die Charakterisierungen der Rollenträger und deren Zusammenspiel sind die eigentlichen essentiellen Elemente der alba-Dichtungen, die den einzelnen Kompositionen eine individuelle Note verleihen. Die Dame, «normally the most important character in the dawn song»,88 erscheint häufig als aktiver Part, entweder neben dem Wächter oder dem Geliebten. Sie wird durch den Liebenden entweder in Superlativen präsentiert («la genser que sia» ({A b, 2}/I, 1) oder sie erhält ein affektives Epitheton wie «doussa res» ({A b, 12}/I, 4), das zum Beispiel als Anapher (II, 1; III, 1; IV, 1; V, 1) die gesamte alba von Bertran d’Alamanon durchzieht. Sie ist sowohl die gewährende (bell’)amia ({A b, 1}/I, 3; {A b, 2}/IV, 6; V, 2; {A b, 12}/III, 3) als auch die domna (valen) ({A b, 3}/I, 2; {A b, 8}/IV,

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80v (Guiraut de borneill) und fol. 85v (Arnaut daniel). Die metrische Struktur der alba hat Alfonso X. für die cantiga de Santa Maria Virgen madre groriosa (Mettmann 1964, III, Nr. 340) als Vorbild gedient. Cf. Chaguinian 2008, 173. Cf. Rieger D. 1990, 495. Zur Strophenfolge in den einzelnen Handschriften cf. die tabellarische Zusammenstellung bei Chaguinian (2008, 164). Jeanroy (1934, II, 422) gibt den Zeitraum von 1215 bis 1230 als poetisch aktive Phase des Trobadors an. Es handelt sich um die Handschriften: C fol. 373r, E 111 (Bernart Marti) und R fol. 30v. Cf. Sayce 1972, 118s. Wolf 1979, 39. Malm 1995, 79.

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1; {A b, 10}/III, 8), sodass neben ihrer Schönheit (beutat) ihre höfische Position und Gesinnung ({A b, 3}/VI, 3) stets hervorgehoben werden, was insbesondere das Lob der Geliebten in der letzten cobla von En un vergier {A b, 3} deutlich macht. Die Betonung liegt dabei auf dem «amar leyalmens» (VI, 3), das sich die Dame zur Pflicht gemacht hat: La dompna es agradans e plazens, Per sa beutat la gardon mantas gens Et a son cor en amar leyalmens. Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba , tan tost ve!

(VI)

(Die Dame ist lieblich und anmutig, ihrer Schönheit wegen betrachten sie viele Leute, und sie hat ihr Herz aufrichtigem Lieben geweiht. Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf!)

Nur selten ist die Dame in der okzitanischen Tagelieddichtung so passiv wie in dem wahrscheinlich fragmentarischen Quan lo rossinhols escria {A b, 1}, in dem «la situation de l’énonciation […] est analogue à celle des cançons».89 So begegnet man zum Beispiel in Ab la genser que sia {A b, 2} einer Frauenfigur, die die Liebesszenerie eindeutig dominiert, wie schon Sigal betont: «The lady […] appears as the more active partner, while the lover paints himself as passive, reclining, sleeping, responding – a self-portrait that might tempt some readers to characterize him as ‘feminine’, especially because he presents himself as the object of another’s desire».90

Und auch die Frauenstrophen (III–V) von En un vergier {A b, 3} zeigen die Dame offen in ihrer Begierde als amia: III. «Bels dous amicx, baizem nos yeu e vos, Aval e·ls pratz, on chanto·ls auzellos, Tot o fassam en despieg del gilos.» Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba, tan tost ve! IV.

«Bels dous amicx, fassam un joc novel Yns e·l jardi, on chanton li auzel, Tro la gaita toque son caramelh.» Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba , tan tost ve!

V.

«Per la doss’aura qu’es venguda de lay, Del mieu amic belh e cortes e gay, Del sieu alen ai begut un dous ray.» Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba , tan tost ve!

(III. «Schöner süßer Freund, lass uns küssen, ich und Ihr, unten auf der Wiese, wo die kleinen Vögel singen, und lass es uns dem Eifersüchtigen zum Trotz tun.» Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf!

89 90

Bauer 2006, 294. Sigal 1996, 56.

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IV. «Schöner süßer Freund, lass uns erneut vergnügen, im Garten, wo die Vögel singen, bis der Wächter seine Schalmei spielt.» Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf! V. «Dank einer süßen Brise, die von dort gekommen ist, von meinem schönen, höfischen und fröhlichen Freund, habe ich von seinem Atem einen süßen Hauch getrunken.» Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf!)

Die Frau fordert ihren Freund selbstbewusst zum Liebesspiel auf (III, 1) und verlangt nach einem «joc novel» (IV, 1) und zwar, wie sie betont, «en despieg del gilos» (III, 3). Insgesamt kann sich die alba-Geliebte in ihrer Rolle zwischen wacher Rationalität und extremer Emotionalität bewegen. Während sie zum Beispiel in Ab la genser que sia {A b, 2} den rationalen Part übernimmt und ihren Geliebten zur Flucht animiert (V, 1), wehrt sie sich in Dieus aidatz {A b, 11} dagegen, sich aus der Umarmung des Geliebten zu lösen und zum verhassten Ehemann zurückzukehren (III, 5–10). Eine originelle Variation der Frauenfigur gelingt Cadenet {A b, 10}, der die alba-Thematik mit einer mal-mariée-Klage verbindet. Ganz im Sinne einer Rechtfertigung erklärt die Dame die Gründe ihrer Untreue. Da sie unfreiwillig mit einem Unhöfischen («vilan» I, 3) wegen seines großen Reichtums («per sa gran manentia» I, 4) verheiratet wurde, versucht sie sich diesen Zustand mit einem fi n amic (I, 6) und einem freundlichen Wächter («guaita plazen» I, 8) erträglicher zu machen. Die unerschrockene Dame will sich trotz der Bedrohung («menassa» V, 1) durch den mals maritz (V, 2) nicht von ihrem höfischen Freund trennen: I.

– S’anc fuy belha ni prezada, Ar suy d’aut en bas tornada, Qu’az un vilan suy donada Tot per sa gran manentia; E murria S’ieu fin amic non avia Cuy disses mo marrimen E guaita plazen Que mi fes son d’alba.

(«War ich einst schön und geschätzt, so bin ich nun tief gefallen, denn man hat mich einem unhöfischen Mann gegeben, nur wegen seines großen Reichtums. Und ich würde sterben, hätte ich nicht einen aufrichtigen Freund, dem ich mein Unglück klagen kann, und einen freundlichen Wächter, der mir die Morgenröte ankündigt.»)

Insgesamt erscheint die alba-Dame als die am meisten differenzierte und personalisierte weibliche Figur der Trobadorlyrik. Sie ist, wie Sigal in ihrer Genderstudie plakativ, jedoch durchaus treffend beschrieben hat, «the link between the mute but exalted canso domna and the loud but lowly pastourelle shepherdess. […] Because the canso lady is perfect and the pastourelle peasant girl all too human, the alba lady reconciles these two opposing aspects of the female».91 91

Sigal 1996, 13/29.

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Ähnlich wie im Falle der Frauenfigur bewegen sich die Bezeichnungen des männlichen Rollenträgers in der okzitanischen alba-Dichtung zwischen der höfischen Anrede cavalier ({A b, 12}/I, 1; {A b, 5}/II, 1) und der Bezeichnung amic, die durch adjektivische Attribute nuanciert wird – fi n amic ({A b, 12}/II, 5) oder amic belh e cortes e gay ({A b, 3}/V, 2). Was ein fin’amic ist, weiß der Verhaltenskodex der cobla Drutç qui vol {A b, 4} zu berichten: Er liebt «dreitamen» (I, 1) und benimmt sich «ab cortesia» (I, 2), und zwar mit Verstand und Geschick («Ab sen et ab maïstria» I, 4), um sich vor den lausengiers (I, 3) zu schützen. Doch ist diese Charakterisierung weit vom faktischen Facettenreichtum der Figur in der alba-Dichtung entfernt. So kann die Figur als reflektierter Liebender dargestellt werden, der über den Trennungsschmerz meditiert, wie in der alba von Bertran d’Alamanon ({A b, 12}/III, 1–5). Der Liebende kann sich aber auch – ganz in der Tradition der Prahllieder und entgegen dem celar-Gebot – seiner Liebeserfolge rühmen, wie in dem Lied Gaite de la tor {A c, 4}, in dem er betont, «d’amie et d’amor» (VI, 4) das erhalten zu haben, was er am meisten begehrt, und zugleich das kurze Verweilen in der «chambre de joie» (VI, 9) beklagt. Doch kann der Liebende auch den besonnenen Part des Liebespaares darstellen. So verweist er zum Beispiel in Us cavaliers si jazia {A b, 12} auf den Wächterruf, zitiert ihn und formuliert so die Aufforderung zum Scheiden selbst. Die okzitanische Tradition kennt aber auch den aggressiven und unbesonnenen Ritter, der in Ab la genser que sia {A b, 2} den Wächter bedroht (III, 2) und verflucht (IV, 1): III.

– «Gaita, s’ieu ti tenia, De mas mans t’auciria. Ja res pro no·t tenria, Aur ni argen Ni hom viven Ni res que el mon sia.»

IV.

«Gaita, Dieus ti maldia, Lo filh sancta Maria, Quar tant cochas lo dia, Gran paor ay E gran esmay Que no·m perda m’amia.»

(III. «Wächter, wenn ich dich zu fassen bekäme, würde ich dich mit eigenen Händen töten. Nichts würde dich retten, weder Gold noch Silber, noch ein lebender Mensch oder etwas anderes, das auf der Welt existiert.» IV. «Wächter, Gott verfluche dich, der Sohn der heiligen Maria, denn du rufst den Tag zu eilig herbei, und ich habe große Angst und bin voller Unruhe, dass ich meine Geliebte verliere.»)

Cavalier und domna werden in den albas wiederholt als Einheit, als Typus des Liebespaares begriffen und in diesem Sinne kollektiv als ( fins) drutz ({A b, 10}/ III, 7; {A b, 1}/I, 6) bezeichnet. Die Präsenz der einen Figur setzt in einem solchen Konzept die der anderen voraus. Die Liebenden müssen nicht als handelnde Figu163

ren auftreten, was auch Chaguinian92 in Abgrenzung zu Jeanroys alba-Definition betont, doch sie sind per definitionem ein tragendes und sinnstiftendes Element der Tagelieddichtung. Auffällig ist, dass in den okzitanischen albas, anders als in vielen Beispielen der Kanzonendichtung, drutz und fin’amants weitgehend synonym gebraucht werden. Die Vorstellung, dass «drudaria […] im Unterschied zur fi n’amors die fleischliche Erfüllung, den fach»,93 impliziert und als konträr zum fin’amor-Konzept zu denken ist, wird in der Tagelieddichtung aufgehoben. Die zentrale Dreieckskonstellation der erotischen alba vervollständigt der Wächter (gayta), der in den Liedern {A b, 1–5, 7, 8, 10–12} und {A c, 4} implizit oder explizit agiert. Die Figur trägt zur thematischen Dynamisierung der Gattung bei und wird zum «prétexte à l’introduction dans la chanson de mélismes et de fantaisies musicales»,94 womit sie die alba-Dichtung auch musikalisch bereichert. Die Einführung und Ausgestaltung dieser «feudal figure»95 ist für die «Höfisierung»96 der Gattung im okzitanischen Kulturraum entscheidend. Der Ruf des Wächters galt im Mittelalter der Wohngemeinschaft der Burg, denn es war – so Jeanroy – ein mittelalterlicher Brauch, «de faire surveiller, la nuit, les abords des châteaux et villes fortes par un guetteur placé au sommet d’une tour. Ce guetteur, nous le savons par de nombreux textes,97 chantait, en s’accompagnant ou non d’instruments, pour combattre le sommeil ou prouver qu’il était bien éveillé; et, le matin venu, il avertissait le voisinage par une sonnerie de cor, un cri ou quelques paroles (qui pourraient être assonancées ou rimées) que l’heure était arrivée de reprendre le travail».98

Im höfischen Kontext der okzitanischen alba-Dichtung ersetzt oder ergänzt folgerichtig der Ruf des Burg- oder Turmwächters – gaiteta del chastel ({A b, 8}/I, 2), gaiteta de la tor ({A b, 8}/III, 2) – den für die Tageliedsituation der Weltliteratur typischen Vogelgesang, der noch in vier der okzitanischen Texte präsent ist ({A b, 3}/III, 2; {A b, 1}/I, 1; {A b, 7}/III, 2; {A b, 11}/I, 14). Bec benennt den Vogelgesang, «celui de l’alouette (ou de tout autre oiseau) messagère du jour et que les amants traitent de menteuse parce qu’ils se refusent à croire à la fin de leur nuit d’amour»,99 neben der Wächterfigur und der Abschiedsthematik als drittes zentrales Charakteristikum der alba. Allerdings zeigt das Textkorpus, dass der Vogelgesang in der okzitanischen alba sekundär ist und neben dem Motiv der aufgehenden Sonne – «estela creguda» ({A b, 7}/II, 3), «Que·l jorn ve» ({A b, 12}/I, 5), «jorn clar» ({A b, 1}/I, 7) – die Funktion eines Randmotivs oder eines Stützmotivs des Wächterrufs einnimmt. Der feudale Entstehungskontext der

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Cf. Chaguinian 2007a, 52. Ringger 1991, 115. Zink 1992, 127. Hatto, 1965, 31. Cf. Rieger D. 1976, 8/Anm. 18. Cf. z. B. Chrétien de Troyes: Perceval, v. 3064s. Jeanroy 1934, 293. Bec 1977, 105.

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Lieder hat die Prägnanz des archaischen Vogelgesang-Motivs geschwächt, denn «je mehr [sich] die Ritterschaft [...] vom Volk, von den vilans distanzierte, desto weniger konnte ihr ein Vogel aus der Gemeinschaftsdichtung, am allerwenigsten ein Hahn100 genügen».101 Im Unterschied zu den anderen Vorboten des Tages (Vogelgesang, Licht) ist die Figur des Wächters als personifizierte Vernunft angelegt, was ganz im Sinne des höfischen Entstehungskontextes der alba ist.102 Dass die Wächterfigur in der Regel im Dienst der fin’amor handelt, weiß in aller Deutlichkeit die alba von Cadenet {A b, 10} zu berichten. Darin präsentiert sich der Wächter als «corteza guayta» (II, 1) und «leials guaita» (III, 4), stilisiert sich selbst zum Beschützer der «leials amors a dreit faita» (II, 3) und distanziert sich gleichzeitig (IV) von der fals’amors (IV, 2) und der als synonym verstandenen falsa drudaria (IV, 6). Zwar sind die Benennungen fin’amor und fals’amor keine festen Formeln in der Trobadorlyrik, doch umreißt die Gegenüberstellung der Termini eine Wertung, die das Lied primär transportieren möchte. Der Wächter sieht seine Aufgabe darin, den Abschied (comjat), den die wahren Liebenden mit Küssen und Umarmungen («Baizan e tenen» II, 8) voneinander nehmen, beschützend zu bewachen. Weder Kälte («freidura» III, 3) noch die Länge der Nacht («longua nuegz» III, 1) kann ihn von seinem Dienst abhalten, den er für die fins drutz (III, 7) gern verrichtet. Die gayta-Figur warnt die Liebenden, wie das anonyme Eras diray {A b, 5} zeigt, stets im Sinne des celar-Gebots achtsam zu sein, und zwar «anans ez apres l’alba» (II, 18). In diesem wohl im katalanischen Raum entstandenen Tagelied reflektiert der Wächter zudem seine paradoxe Situation: Von seinem warnenden Gesang können auch andere profitieren, die nicht im Sinne der höfischen Liebe handeln (I, 2s.), doch stellt er seine Loyalität denjenigen gegenüber, denen er seinen Dienst versprach (I, 4–9), höher als diese Gefahr: I.

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Eras diray ço que·us dey dir E ben lieu poran tal ausir Que valgre mays estes susaus. Mas ges per ço no dey felhir A celh qui·m fe mon dieu plavir, La nuyt, preyan dins mon hostaus Qu’ieu ans xantes Qu’eperagues L’alb’e·[l] jorn clar, Per qu’yeu posques Mils e saubes Son joy celar.

Der Hahn begegnet in der trobadoresken alba nicht. Auf eine mögliche Ausnahme in der okzitanischen Lyrik weist Chaguinian (2008, 54/Anm. 1) hin, indem er auf die zweite cobla der alba von Bertran d’Alamanon {A b, 12} verweist, wie sie in der Hs. Kp/Y überliefert ist, in der anstelle von li gaita (Refrain) li galli zu lesen ist. Hatto 1962, 503. Cf. dazu die Deutung von Poe (1985b, 175).

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(Nun werde ich sagen, was ich euch sagen muss, und vielleicht werden mich diejenigen hören können, deretwegen ich lieber schweigen sollte. Aber aus diesem Grund darf ich nicht falsch handeln demjenigen gegenüber, der mich das meinem Gott versprechen ließ und mich darum nachts in meiner Unterkunft bat, zu singen, bevor die Morgenröte und der helle Tag erscheinen, damit ich sein Glück besser geheim halten kann.)

Wie reflektiert diese Wächterstrophen sind, zeigt auch die Tatsache, dass die Figur darum bemüht ist, die Position und den Ruf des Wächters im Allgemeinen zu rehabilitieren. Wer sich dem Wächter anvertraut, muss weder den Pförtner (portier) noch Schlüssel oder Schloss («clau ne fer» II, 14) fürchten und niemand mehr solle glauben, «que ço que dits no es vertats» (II, 5). Die gayta-Figur versteht sich zum einen im Dienst eines Kollektivs von höfischen Liebenden, wie die alba von Cadenet {A b, 10} oder die zweite cobla von Eras diray {A b, 5} zeigen. Doch in der Regel fokussiert der Wächter ein bestimmtes Liebespaar, für das er die Verantwortung trägt, wie beispielsweise der Perspektivenwechsel von der zweiten zur dritten Strophe von Eras diray {A b, 5} deutlich macht. Der Wächter beobachtet das Tageliedgeschehen von außen und appelliert dabei an den Liebenden, den er unter seinen Schutz gestellt hat und dessen falsch verstandenen Mut («ardimen» III, 4) er als Leichtsinn bezeichnet («poch sen» III, 5). Erst als er den Liebenden fortreiten sieht, nimmt er seine Anklage zurück («A tort reptat/L’ay» III, 10s.) und lässt das Horn in der Morgenröte erklingen (III, 20). Nur selten wird der Wächter, wie in dem anonymen Ab la genser que sia {A b, 2}, zum Liebesfeind stilisiert. Die gayta-Figur, vielleicht «un employé du gilos»,103 wird in dieser alba vom Liebhaber bedroht (III und IV, 1). Die Anspielung auf die Käuflichkeit und Bestechlichkeit des Wächters (III, 4), die in diesem Lied begegnet, wird im Minnesang zum Topos104 und zeugt von der Vielschichtigkeit der Figur, die schon in der okzitanischen Dichtung angelegt ist. In Ab la genser que sia {A b, 2} wird die gayta-Figur mit der alba assoziiert, die Differenz «between the messenger and his message»105 wird dabei aufgelöst. In der Regel zeigen die romanischen Tagelieder aber ein anderes Wächterbild: Entweder ist die Figur auf ihren Warnruf und somit auf ihre Funktion reduziert, ohne dass die Beziehung zwischen ihr und dem Liebespaar thematisiert wird {A b, 3, 12}, oder aber sie erscheint als Freund, Vertrauter und Komplize der Liebenden. Interessant ist in diesem Zusammenhang Das Halsband der Taube, in dem Ibn Hazm die Rolle des Beobachters der Liebenden reflektiert. Die typische Wächterfigur der romanischen Poesie entspricht weitgehend dem dritten von Ibn Hazm erläuterten Typus: «Weiter ist der Beobachter zu nennen, der den geliebten Menschen überwacht. Das einzige Mittel, ihm zu entrinnen, besteht darin, daß man ihn günstig stimmt. Gelingt es, ihn günstig zu stimmen, so bedeutet dies den Gipfel der Glückseligkeit. Das ist der Beobachter, den die Dichter in ihren Gedichten erwähnen. Ich habe mal jemand gese103 104 105

Gouiran 2006b, 679. Cf. z. B. Backes 22003, Nr. XXV (Wenzel von Böhmen: Ez taget unmâzen schône) oder Nr. XVIII (Heinrich von Frauenberg: Gegen dem morgen). Poe 1985a, 96.

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hen, der sich mit solcher Geschicklichkeit bemühte, einen Beobachter günstig zu stimmen, daß er, der ursprünglich auf ihn aufgepaßt hatte, schließlich sogar für ihn spähte, sich zu der Zeit, wenn Unaufmerksamkeit erwünscht war, unaufmerksam stellte und ihn beschützte und für ihn tätig war».106

Stellte der Wächter in der realen mittelalterlichen Situation in der Regel eine Gefahr für die Liebenden dar, da er als Teil der Burggemeinschaft der Vasall seines Herrn und somit dessen Verbündeter war, so verleiht die dichterische Wunschvorstellung dieser Figur im Kontext der alba eine andere Bedeutung. Die gayta-Figur wird zum Komplizen der Liebenden – ihr eigentlich allgemeiner Weckruf wird zum Warnruf für die drutz umfunktioniert. In einigen Beispielen wird dieser Ruf des Wächters zum Warngesang erweitert, was durch die Erwähnung typischer Wächterinstrumente wie caramelh ({A b, 3}/IV, 3) oder durch periphrastische Zusätze (z. B. «en chantan vos apel»/{A b, 7}/III, 1) zum Ausdruck gebracht wird. In dem anonymen Eras diray ço que·us dey dir {A b, 5} fungiert ein befreiender Hornruf in der Morgenröte («Sonech un corn en l’alba» III, 20) sogar als musikalisches und evokatives Abschlussbild der alba. Das altfranzösische Gaite de la tor {A c, 4} liefert zudem ex negativo einen Hinweis darauf, dass auch der Vortrag von Liebesliedern als Weckruf dienen konnte, wenn der Wächter darin auf ein Lied über Blancheflor (II, 1–3) anspielt. Mit dieser Bemerkung will sich die gayta wohl von käuflichen und bestechlichen Wächtern distanzieren, wie sie die Literatur kennt, denn ein solcher Wächter tritt auch im Roman von Floire et Blancheflor auf.107 Das älteste Beispiel einer alba, in der die Wächterfigur108 explizit als Freund des Liebenden dargestellt wird, bietet Reis glorios {A b, 7}. Hier erscheint die Ankündigung des Tagesanbruchs explizit als Freundschaftsdienst. Der amic oder cavalier der alba wird so zum companho (I, 3) – eine Bezeichnung, die als Anapher (II, 1; III, 1; VI, 1) die gesamte Komposition durchzieht. Es geht sicher zu weit, mit Chaguinian109 zu behaupten, dass der maestre dels trobadors mit seinem Lied den «Erwartungshorizont» der alba geschaffen hat, zumal die völlig abwesende weibliche Perspektive dieser alba eher untypisch ist. Sicher hat aber diese vielfach tradierte Komposition zu Verbreitung des gaytaTypus der alba beigetragen, der auf spätere Kompositionen modellbildend gewirkt haben könnte. So ist die Verknüpfung der gayta-alba mit der invocatio Dei im

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Ibn Hazm, 69s. Cf. dazu Tyssens (1992, 335): «le gardien-portier, chargé officiellement d’empêcher toute intrusion masculine dans la tor as pucelles, se laisse acheter par Floire et l’aide dans son entreprise de voleur d’amour en le dissimulant dans une corbeille remplie des fleurs». Di Girolamo (2009, 89) interpretiert den Wächter als Schutzengel («angelo gaita»). Cf. auch Di Girolamo (2009, 80): «Il suo accorato appello a Dio […] si giustifica se lo leggiamo come l’implorazione dell’angelo affinché gli venga restituita l’anima in pericolo che si è allontanata da lui». Cf. Chaguinian 2008, 128.

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Tagelied von Raimon de las Salas ({A b, 11}/I, 1–3) durchaus als Anlehnung an Reis glorios {A b, 7} denkbar:110 I.

– «Dieus aydatz, S’a vos platz, Senher cars, E dos e verays, E vulhatz Que ab patz, Lo jorns clars E bels c’ades nays Nos abratz, Car solatz E chantars E voutas e lays Ay auzitz, D’auzels petitz Pel playssaditz.» L’alb’ e·l jorns Clars e adorns Ven, Dieus aydatz! L’alba par E·l jorn vey clar De lonc la mar E l’alb’ e·l jorns par.

(«Gott, helft uns, wenn es Euch gefällt, Ihr lieber, sanftmütiger und wahrhaftiger Herr, und macht, dass uns der helle und schöne Tag, der nun heraufkommt, friedlich entflammt, denn ich habe die Freude und den Gesang, das Zwitschern und das Trällern der kleinen Vögel in den Hecken vernommen.» Die Morgenröte und der helle und schöne Tag kommen. Gott, helft! Die Morgenröte erscheint, und ich sehe den hellen Tag am Meer entlang. Die Morgenröte und der Tag erscheinen.)

Die invocatio Dei durchzieht hier die gesamte erste cobla, in der nichts auf eine erotische Tageliedsituation hinweist. Die so reich ausgestaltete Anrufung Gottes, die gewiss auch an den liturgischen hymnus matutinus angelehnt ist,111 ein Mor110 111

Cf. dazu schon Schlaeger (1895, 43) und Kolsen (Guiraut de Bornelh a, II, 95). Neben der Komposition von Guiraut de Bornelh {A b, 7}, kommt noch ein anderer Text als Inspirationsquelle für die alba von Raimon de las Salas {A b, 11} infrage. Es handelt sich dabei um die aube bilingue {A a, 1}, «le plus ancien exemple d’insertion, dans un texte latin, de vers en langue vulgaire» (Bec 1977a, 100). Der seit 1881 bekannte und auf das 10./11. Jahrhundert datierte Text, der im Kloster von Fleury aufgezeichnet wurde, ist mit Sorgfalt aufgeschrieben und mit Neumen versehen worden. Besonderes auffällig ist die sprachliche und stilistische Divergenz der Strophen- und Refrainverse, in denen «ein gelehrtes, etwas preziöses Latein des Haupttextes mit der auf jeden Fall, bei allen Verständnisschwierigkeiten, simpleren Aussage des [romanischen] Refrains» (Wolf 1979, 6) kontrastiert. Der frühchristliche Morgenhymnus hat in den lateinischen Strophen eindeutig Modell gestanden, worauf schon allein das lexikalische Inventar des Lieds hinweist (spiculator, surge, piger, praeco). Die Deutung des Textes bleibt trotz zahlreicher Interpretationsversuche weiterhin im Dunkeln. So plädiert – um nur einige

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gengebet, das die Burgwächter als Wecklied anzustimmen pflegten,112 erinnert stark an die religiöse Variante der alba. Auch Reis glorios {A b, 7}, in dem sich das sakrale und das profane Register überschneiden – Di Girolamo spricht hier von «giocare sui due registri» und von einer «ambiguità […] certo non involontaria»113 – wird in der Forschung immer wieder in die Nähe der religiösen alba gerückt.114 Dass die Spannung zwischen dem religiösen Habitus und der expliziten Erotik gewiss den Reiz der Komposition ausmacht, hat am deutlichsten Spence herausgestellt: «For both Christian sinners and the lovers in an alba, the key word announces an undesired change of state. The refrain of Reis Glorios encourages the listener to make a connection between its lovers and Christian sinners, and between the dawn and the Last Judgement».115

Wie in Reis glorios {A b, 7} erscheint auch in Gaita be von Raimbaut de Vaqueiras {A b, 8} der Wächter explizit als Freund («amics» II, 1) des Ritters und wird von jenem mehrfach «mit der Koseform gaiteta»116 (I, 2; III, 2) adressiert. Der Überraschungseffekt dieser alba, der sich aus der Figurenkonstellation ergibt, besteht darin, dass die Warnung vor dem Tagesanbruch mehr dem Wächter als dem Liebespaar zu gelten scheint. Hier ist es der Ritter, der um seinen Freund besorgt ist und ihm rät, sich vor dem malvays seynor (III, 4), dem gelos (III, 3), in Acht zu nehmen. Folglich beendet hier auch nicht der Wächterruf die Zweisamkeit und den «joc novel» (I, 9), sondern die Morgenröte, die der Liebende nicht rief: E·l jornz ve E non l’apel. Joc novel Mi tol l’alba, L’alba , Oc, l’alba .

(I, 7–12)

(Und der Tag kommt, und ich rufe ihn nicht. Die Morgenröte raubt mir ein neues Spiel, die Morgenröte, ja, die Morgenröte.)

112 113 114 115 116

Beispiele zu nennen – Scudieri Ruggieri (1943, 191–202) für einen religiösen Charakter der volkssprachlichen Refrainverse und sieht daher seine These bestätigt, die erotische alba sei aus religiösen Morgenhymnen abzuleiten. Stengel (1885, 407) sieht im Auftritt des spiculator wiederum seine Auffassung bekräftigt, dass «das Wächterlied als älteste Form der prov. alba anzusehen ist», während Römer (1884, 9) für die entgegengesetzte Position eintritt. Darauf, dass Raimon de las Salas die viel gedeuteten romanischen Refrainverse vielleicht kannte, deuten die mots-clefs (alba , par, clar, mar) hin, aus denen sich der Refrain der okzitanischen alba zusammensetzt. Bec (1977, 100) spricht in diesem Zusammenhang von «assez troublantes analogies – dont on hésite à dire qu’elles sont fortuites». Cf. Picchio Simonelli 1974, 195s. Di Girolamo 2009, 83/73. Cf. z. B. Picchio Simonelli (1974, 191–207). Spence 1981, 216. Wolf 22003, 61.

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In den Kompositionen, die aus dem Typus des Wächters einen differenzierten Charakter machen, kommt häufig auch die Hilflosigkeit und Menschlichkeit der Figur zum Ausdruck. Der Wächter wird nicht als übermenschlicher Helfer präsentiert, sondern häufig in seiner Furcht und Sorge dargestellt. So sind die Wächterstrophen von Reis glorios {A b, 7} von kummervoller und ängstlicher Reflexion geprägt, die Befürchtungen widerspiegelt, aber auch retrospektive Einschübe (VI) bietet. «Aras no·us platz mos chans ni ma paria» (VI, 4), wirft der Wächter seinem Freund vor und wird in seiner Einschätzung bestätigt, wenn jener in seiner Replik – für Wolf der unerwartete «Knalleffekt»117 der Komposition – den Warnungen des Wächters den realitätsfernen Wunsch nach endloser Nacht entgegenstellt (VII, 2). Eine typische alba-Situation wäre aber auch ohne die Liebesfeinde, die als personifizierte Gefahrenquelle neben das alba-Zeitmotiv treten und das typische Figurendreieck ergänzen, nicht denkbar. Es handelt sich dabei um den Ehemann der domna und die in seinem Auftrag handelnden lausengiers, die als nebulöse und stark typisierte Figuren erscheinen, da sie in den Kompositionen nie das Wort ergreifen. In der Regel erstarrt die Figur des maritz zum gelos ({A b, 3}/III, 3; {A b, 7}/III, 4; {A b, 8}/III, 3) und diese Reduktion auf die Eigenschaft der Eifersucht trägt zu einer starken Typisierung bei. Die Charakterisierung des Ehemanns erfolgt in der alba-Dichtung stets aus der Perspektive einer anderen Figur. Als plakatives Gegenbild zum amic valen (V, 8) wird der maritz in der Regel zur personifizierten vilania stilisiert, so auch in der alba von Cadenet {A b, 10}, in der der Ehemann vilan (I, 3) und mals maritz (V, 2) zugleich ist. Eine solche negative Darstellung der Figur als schlechten Ehemann sowie die Betonung der vilania als deren Grundhaltung tragen dazu bei, den faktischen Ehebruch, den die domna begeht, in einem positiven Licht erscheinen zu lassen. Dass die Dame, die einen schlechten Ehemann hat, nach den Gesetzen der fin’amor einen Liebhaber haben darf, ist ein viel verbreitetes Thema der Trobador- und Trouvèredichtung.118 Auch im Hinblick auf das zunächst verräterisch anmutende Verhalten des Wächters seinem Herrn gegenüber wirkt die Charakterisierung des gelos als malvays seynor ({A b, 8}/III, 4) entlastend, da sie Gründe für den offensichtlichen Loyalitätsbruch angibt, indem der gelos als Inbegriff des schlechten Herrn und des schlechten Ehemanns zugleich erscheint. Ob als Schmeichler ({A b, 10}/«per guap» V, 1) oder als Inkarnation der Bedrohung und Gefahr ({A b, 10}/«per menassa» V, 1; {A b, 11}/II, 13ss.) versucht er seine Frau und deren Freund zu trennen und somit die höfische Liebe zu gefährden. In diesem Sinne ist er der traïtor ({A c, 4}/II, 5), der stets negativ konnotierte Verräter der fin’amors. Die lausengiers, diese «escor117 118

Wolf 1979, 33. Cf. z. B. das anonyme Quant je chevauchoie (Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 34). In der dritten Strophe dieser chanson de rencontre begegnen die prägnanten Zeilen: Dame qui a mal mari, S’el fet ami, N’en fet pas a blasmer. (III, 14ss.) (Eine Dame, die einen schlechten Ehemann hat, ist nicht zu rügen, wenn sie sich einen Geliebten nimmt.)

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te d’espions [qui] jouissent d’une existence, toujours collective, qui leur donne la valeur d’un type»119 und denen die mesdixans ({A c, 1}/I, 7) der altfranzösischen Dichtung entsprechen, werden als hinterhältige und bedrohliche Komplizen des gelos gezeichnet, die, wie es der Dichter von Gaite de la tor {A c, 4} darstellt, wie Diebe («larron» I, 6) oder Räuber («robeor» IV, 2) auf Beute aus sind («vont en proie» I, 6).120 Die lausengiers ergänzen in einigen albas ({A b, 4}/I, 3; {A b, 5}/I, 18) als Helfer des gelos die negative Figurenfront und sind als Gegner der fin’amor und Spione des gelos als komplementäres Prinzip zum positiven Figurendreieck zu begreifen. Als Kollektiv werden die Liebesfeinde auch in der alba von Gace Brulé {A c, 7} aufgefasst, in der sie als «envious» (II, 4) und «mavais maris jalous» (V, 4) erscheinen. Und dass der Verleumder eine «Widerwärtigkeit der Liebe»121 darstellt, ist nicht nur ein Topos der Liebesdichtung, sondern auch der mittelalterlichen Liebestraktate, wie beispielsweise das Halsband der Taube von Ibn Hazm zeigt. 5.1.1.3. Die Poetik der erotischen alba : Die joi-dol-Erfahrung Im Gattungssystem der Trobadorlyrik spielt die alba stärker als jede andere Gattung am Rande der Integration mit der Differenz. Es sind gewiss die Ähnlichkeiten und Unterschiede zur canso, aus denen die typische «gattungssystematische Spannung»122 des okzitanischen Tagelieds resultiert, die dem Genre zu einer gewissen Sonderstellung verhilft, die bereits zahlreiche Arbeiten motiviert hat und auch in den neuesten Untersuchungen von Chaguinian die Diskussion dominiert.123 Die trobadoreske alba fasziniert, da sie als Subgenre der chanson de femme im gewissen Sinne «le contre-pied de la poésie courtoise»124 darstellt und sich dennoch in das Geflecht der trobadoresken Poesie eingliedert. Gewiss ist es gerade dieses Spiel mit den Registerinterferenzen, das punktuelle Einflechten dessen, was als archaisch verstanden wird, das die mittelalterliche Lyrik charakterisiert und deren schönste Beispiele auszeichnet.125 Das Liebespaar ist zwar Teil der höfischen Welt, doch partizipiert es im Liebesspiel gleichsam an der dem Regelwerk der sozialen Ordnung entgegengestellten Natur: Denn «so wie rossinhols ab sa par singt, so befindet sich eben der Liebhaber ab (sa) bell’amia,

119 120

121 122 123 124 125

Bec 1970, 18. Die Metapher des Räubers, die das Lied durchzieht, wirkt keinesfalls transparent, sodass sie sich sowohl auf die Liebesfeinde als auch auf die Liebhaber beziehen könnte. Sicher liegt im letzten Fall nicht fern, an eine sexuelle Konnotation von larron und robeor zu denken. Cf. dazu auch Tyssens (1992, 336), die in Bezug auf die Komposition vom «goût du double jeu et du double sens» (1992, 337) spricht. Ibn Hazm, 71. Mölk 1989, 32s. Cf. Chaguinian 2007a/b sowie 2008. Zink 1977, 62. Zink 1995, 29ss./44–51.

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jos la flor»,126 wie die parallele syntaktische Struktur des zweiten und dritten Verses von Quan lo rossinhols escria {A b, 1} deutlich macht. Und die Szenerie der alba-Liebe spielt nicht selten {A b, 3} «en un vergier» (I, 1), «aval els pratz» (III, 2) und «yns el jardi» (IV, 2), bis der – die höfische Welt repräsentierende – Wächterruf die Harmonie stört. Die erotische alba ist als poetisch verdichtete Sehnsucht zu verstehen, die das Paradox der Liebe aus der ewigen Bewegung zwischen Begierde, Lust und Schmerz thematisiert und so zwischen höchster Freude und bitterer Trauer oszilliert. Die Thematik der Trennung fungiert dabei als poetisches Movens. Dass kein Unglück in der Welt der Trennung der Liebenden gleicht, weiß schon Ibn Hazm zu berichten und assoziiert die Trennung dabei mit dem Tod.127 Ähnliche Überlegungen stellt auch der cavalier in der Komposition von Bertran d’Alamanon {A b, 12} an, wenn er den Schmerz des Abschieds über jeden anderen stellt (III, 3). Diese joidol-Erfahrung, die Zink als «le sentiment à la fois diffus et déchirant de la fragilité de l’amour, l’ombre des souffrances endurées pour parvenir à une joie peut-être éphémère»128 definiert, ist der Kern der erotischen alba-Dichtung. Als Katalysator der essentiellen Trennungsthematik dient dabei das negativ konnotierte alba-Zeitmotiv. Die assoziative Kraft dieses Motivs vermag eine komplexe Isotopieebene zu evozieren, die Motive wie Trennung, Klage und Wunsch nach Realitätsflucht beinhaltet. Während in der okzitanischen Dichtung weitgehend eine Fixierung des Motivs auf das Lexem ‘alba’ zu beobachten ist, weisen die altfranzösischen Kompositionen und das italienische Tagelied eine solche Festlegung nicht auf. So gilt in der altfranzösischen Tradition die Anklage nicht etwa der Morgenröte (alba/aube), sondern dem Tag, was nominal (jor) oder verbal (ajorner) ausgedrückt werden kann. In diesem Sinne enthüllt zum Beispiel in Li jorz m’a trové, hé! {A c, 5} explizit der Tag das Geheimnis der wohl verbotenen Liebe und in Entre moi et mon amin {A c, 3} genießen die Liebenden ihre Zärtlichkeiten, bis es tagt («tant k’il ajornait» v. 5). Ob diese Tatsache als «eine bewußte Abkehr von provenzalischen Traditionen und ein Aufgreifen einer selbständigen nordfranzösischen Überlieferung und Terminologie»129 gedeutet werden kann, ist zweifelhaft, zumal Bec und Poe130 betonen, dass sich die altfranzösische Variante wahrscheinlich unabhängig von der okzitanischen alba entwickelt hat. Dass die Präsenz des Lexems ‘alba’ für die Tageliedsituation nicht obligatorisch ist, zeigt schon die okzitanische Lyrik mit Ab la genser que sia {A b, 2}, in dem das charakteristische Schlüsselwort fehlt und dessen Gattungszugehörigkeit dennoch nie ernsthaft angezweifelt wurde.131 Schon das mittellateinische Cantant omnes volucres {A a, 2} trägt – der lateinischen Tradition folgend – dies (v. 2) in der Funktion des Zeitmotivs. Ähnlich

126 127 128 129 130 131

Wolf 1979, 15. Cf. Ibn Hazm, 104. Zink 1977, 63. Wolf 1979, 25. Cf. Bec (1977, 95) und Poe (1984, 147). Cf. die Argumentation von Poe (1985a) gegen eine Gattungszuweisung.

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weist die italienische alba {A e, 1} dem zorno (v. 4) diese Motivfunktion zu und verstärkt die Wirkung zusätzlich durch das evokative Bild «lo maitino è sonato» (v. 3). Auch in der Tradition des altfranzösischen Tagelieds kann jors allein ({A c, 1}/v. 1; {A c, 5}/Refrain) oder in Verbindung mit aube ({A c, 2}/v. 1; {A c, 7}/v. 1) zum Auslöser der Trennung und der Klage werden. Im Falle von Ab la genser que sia {A b, 2} genügt ein Blick auf textimmanente Merkmale, um den möglichen Grund für den Austausch des konventionellen Lexems alba durch dia zu erklären: Die ia-Reime, die die coblas unissonans von Ab la genser que sia {A b, 2} durchziehen, fordern geradezu dieses Reimwort. Auffällig ist dabei die Akkumulation der (im Kontext) negativ konnotierten ia-Reimwörter des Textes, wozu vor allem auciria (III, 2), maldia (IV, 1), via (V, 1) und vilania (V, 6) gehören. Dass die iaReime für die alba-Dichtung typisch sind, zeigt zum Beispiel auch das Tagelied von Bertran d’Alamanon {A b, 12} mit seinem Wechsel aus ia-/ai-Reimen. Hier wird das Lexem dia strategisch neben das typische alba gestellt, um das mot-clé zu bewahren und gleichzeitig den Reim beizubehalten (II, 2). Die Nebeneinanderstellung von alba und dia/jorn ist in der okzitanischen Tagelieddichtung häufig und nur selten erfolgt eine qualitative Differenzierung zwischen beiden Lexemen, wie in der zweiten Strophe der Komposition von Raimbaut de Vaqueiras {A b, 8}: Mais enics Sui de l’alba E·l destrics Que·l jornz nos fai Mi desplai Plus que l’alba, L’alba , Oc, l’alba .

(II, 5–12)

(Doch die Morgenröte verärgert mich. Und die Bedrängnis, die der Tag mit sich bringt, missfällt mir mehr noch als die Morgenröte, die Morgenröte, ja, die Morgenröte.)

Auch wenn die Stilisierung der alba zum Liebesfeind durch den Parallelismus «tan greu…tan leu» (IV, 5/7) verstärkt wird, erhält der jorn (II, 8) hier eine noch negativere Wertung als das Morgengrauen («mi desplai/Plus que l’alba» II, 9s.), da er nicht nur den bevorstehenden Abschied ankündigt, sondern mit der Zeit der schon vollzogenen Trennung assoziiert wird. In der Regel werden aber alba und dia/jorn als analoge Begriffe verstanden, die gleichberechtigt die Funktion des Zeitmotivs erfüllen können. So versteht sich die gayta in der Komposition von Cadenet {A b, 10} als «guarda del dia» (II, 4), warnt aber zugleich vor der alba. Die Austauschbarkeit der Lexeme wird auch in Drutç qui vol {A b, 4} deutlich, wenn die Aufforderung an den Liebenden, «enan lo jorn» (I, 6) aufzustehen, noch einmal in der Formel «enan l’alba» (I, 10) aufgegriffen wird. Und in der Komposition von Raimon de las Salas {A b, 11} bildet die alba-jorn-Verbindung, die als solche schon in der lateinischen Dichtung ihr Vorbild hat (aurora/dies),132 den

132

Cf. z. B. Ovid: Amores I, 13 v. 1ss.

173

motivischen Kern des Kehrreims. Das negativ konnotierte Zeitmotiv ist konstitutiv für die Tagelieddichtung der Romania, seine Realisierung aber ist variabel. Allein die okzitanische Form des Tagelieds konventionalisiert stark alba als Zeitmotiv und zeigt sogar eine Tendenz, es als Refrainwort zum formalen Merkmal der Gattung zu entwickeln. Dargestellter oder erinnerter joi ist die positive Seite der Tageliedsituation. Dabei wird die erotische Sehnsucht und Interaktion in der Regel unverhüllt verbalisiert, wie das spezifische lexikalische Material der untersuchten Texte zeigt: «baizem nos» ({A b, 3}/III, 1), «joc novel» ({A b, 3}/IV, 1), «baizan e tenen» ({A b, 10}/II, 8), «soven baizan» ({A b, 12}/I, 3), «grans dezirs» ({A b, 12}/V, 3); «dos fars» ({A b, 11}/II, 7), «plazens bays» ({A b, 11}/II, 8), «jauzen jatz» ({A b, 11}/III, 10). Die Erkenntnis «que drutz ni druda/non es per cuda» (32s.), die Raimbaut de Vaqueiras in seiner Calenda maja133 unmissverständlich formuliert, ist auch ein Teil der fi n’amor-Konzeption. Anders als die canso formuliert die alba-Dichtung Sehnsucht und Erotik ohne den stilistischen Griff des spezifischen Modus- und Tempusgebrauchs. Auch die italienische und französische Lyrik kennt die ‘Freizügigkeit’ der alba, wenn sich beispielsweise Freund mit Freundin in Entre moi et mon amin {A c, 3} «juwant» (I, 3) mit Küssen («me baixait il» II, 3) vergnügen, in Li jorz m’a trové, hé! {A c, 5} das «baisier» und «acoler» (v. 10) genießen und die Frauenfigur in Pàrtite, amore, a deo {A e, 1} nach Küssen verlangt («or me bassa» v. 9). Unter diesen konventionalisierten Darstellungen offener Erotik sticht die poetisierte Begierde der fünften cobla von En un vergier {A b, 3} hervor. Die Frauenfigur imaginiert den abwesenden Freund und berauscht sich an dessen Atem, den eine Brise aus der Ferne zu ihr bringt:134 V.

«Per la doss’aura qu’es venguda de lay, Del mieu amic belh e cortes e gay, Del sieu alen ai begut un dous ray.» Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba , tan tost ve!

(«Dank einer süßen Brise, die von dort gekommen ist, von meinem schönen, höfischen und fröhlichen Freund, habe ich von seinem Atem einen süßen Hauch getrunken.» Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf!)

Der joi der Liebesbegegnung wird in der alba-Dichtung jedoch stets von der unmittelbar bevorstehenden Trennung überschattet, sodass die erotischen Szenerien

133 134

Cf. Bec 1970, 242. Diese Darstellung könnte seine Inspirationsquelle im Lied Altas undas von Raimbaut de Vaqueiras (Nr. XXIV/II, 1–4) gefunden haben: Oy, aura dulza, qui vens dever lai un mun amic dorm e sejorn’ e jai, del dolz aleyn un beure m’aporta·y! La bocha obre, per gran desir qu’en ai. (Oh süße Brise, die von dort kommt, wo mein Liebling schläft, ruht und weilt, bring mir hierher seinen süßen Atem, damit ich ihn trinke! Ich öffne meinen Mund in meiner großen Begierde nach ihm.)

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im gewissen Sinne bereits als Antizipation der «célébration de l’Absent»135 zu verstehen sind. Die Vorahnung des Mangels erklärt die Intensität und Freizügigkeit der dargestellten Erotik, die sich beispielsweise in den Aufforderungen der Frauenfigur in En un vergier {A b, 2} äußert, worin die domna noch im Augenblick der Trennung nach Küssen («baizem nos yeu e vos» III, 1) und Liebespielen («fassam un joc novel» IV, 1) verlangt. Angst ist ein ständiger Begleiter der Abschiedsszenen. So wird das Liebesspiel (III, 7s.) bei Tagesanbruch in der alba von Raimbaut de Vaqueiras {A b, 8} stark durch die «paor» (III, 9) dominiert. Das Motiv kommt sowohl in der Angst des Wächters ({A b, 7}/III, 4) als auch in der Beklemmung der Liebenden ({A b, 10}/V, 1s.; {A b, 2}/IV, 4s.) zum Ausdruck. Die Präsenz dieses Motivs ist so zentral, dass die alba nicht etwa durch die Darstellung der nächtlichen Liebesbegegnung ihren Reiz gewinnt, «sondern vor allem durch die Gefahr, die die[se] heimliche Zusammenkunft mit sich bringt».136 Diese paor der Liebenden vor dem Entdecktwerden ist implizit mit dem celar-Motiv verbunden. Das Postulat der notwendigen Geheimhaltung der Liebe hebt auch Andreas Capellanus in seinem Traktat De Amore137 als essentielles Merkmal der darin diskutierten trobadoresken Liebe hervor. Und in der Tat gilt die Diskretion, die «première qualité de l’amant»,138 als wichtigstes Gebot im Verhaltenskodex der fin’amor. So betont der anonyme Dichter von Drutç qui vol {A b, 4}: «Qe sos jois saubutz no sia» (I, 5). Und auch in Eras diray {A b, 5} deutet der Wächter seinen Warngesang als Dienst im Sinne der fin’amor und als Beitrag zur Erfüllung des celar-Gebots, denn mit seinem Warnruf hilft er den Liebenden, den joi geheim zu halten («celar» I, 11s.). Die Ästhetisierung der Heimlichkeit und Diskretion, die im Minnesang als touge minne rezipiert wird, kann explizit zum Ausdruck kommen, wie in der alba von Cadenet («celava» ({A b, 10}/IV, 3) oder in Eras diray («celar» ({A b, 5}/I, 12), doch häufig tritt sie auch implizit in Verknüpfung mit der immer wieder thematisierten paor vor den Liebesfeinden auf. Rieger hat als Erster auf die Bedeutung des celar-Motivs für die Höfisierung der alba-Dichtung hingewiesen: «Die Alba der Trobadorlyrik ist […] nichts anderes als die auf die Spitze getriebene dramatisierte Form und Illustration des celar-Motivs, das sich als Postulat und Grundregel der höfischen Liebe durch die gesamte Kanzonenliteratur zieht. Wie prädominant dieses Motiv als ‘Fundament’ der Gattung auch den Trobadors erschienen ist, vermag etwa die geistliche Alba von Serveri de Girona zu zeigen».139

Und doch ist das celar-Gebot weder eine Erfindung der höfischen Lyrik noch die von Andreas Capellanus,140 wie beispielsweise Das Halsband der Taube von Ibn Hazm zeigt.141 135 136 137 138 139 140 141

Bauer 2006, 302. Frenzel 51999, 452. Andreas Capellanus: De Amore, I, vi, 453; II, i, 1; II, viii, 46. Zink 1992, 105. Rieger D. 1971, 225. Zum Hüten des Liebesgeheimnisses bei Andreas Capellanus cf. De Amore (I, vi, 453 und II, i, 1). Cf. Ibn Hazm, 51.

175

Auch die Kontrastierung von Wunsch und Realität, die die Liebenden in gewissem Sinne in eine der Wirklichkeit enthobene Sphäre verlegt, trägt zur Verstärkung der joi-dol-Thematik bei. Die Realitätsflucht, die beispielsweise En un vergier {A b, 3} in der zweiten cobla durch die Häufung der Negationen und konditionalen Konstruktionen zum Ausdruck bringt, weist implizit auf die Fiktionalität der als Momentaufnahme präsentierten alba-Liebe hin: II. «Plagues a Dieu, ja la nueitz non falhis Ni·l mieus amicx lonc de mi no·s partis Ni la gayta jorn ni alba no vis!» Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba , tan tost ve! («Gefiele es doch Gott, dass die Nacht nie endete und mein Freund sich nicht für lange von mir trennte und der Wächter weder die Morgenröte noch den Tag sähe.» Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf!)

Es handelt sich dabei um den ersehnten Rückzug in die geschützte Sphäre der Nacht, in der Moral, Regeln, Rechte und Pflichten ausgeblendet erscheinen. So möchte auch der Liebende in Reis glorios {A b, 7} den Tag vollständig abschaffen (VII, 2), um in seinem «ric sojor» (VII, 1) für immer zu verweilen. In der alba von Bertran d’Alamanon {A b, 12} formuliert der cavalier einen ähnlichen Wunsch (II, 1–3). Die Liebenden schrecken auch nicht davor zurück, die realitätsferne Hoffnung an Gott zu richten, damit jener als Komplize in den Lauf der Welt eingreift. «Plagues a Dieu, ja la nueitz non falhis» (II, 1), reklamiert die Frauenfigur in En un vergier {A b, 3} und ähnlich appelliert der Liebende in Gaite de la tor {A c, 4} an Gott, er möge endlose Nächte erschaffen («Nuit feïst del jor» VII, 4). Eine Variation dieses Motivs stellt das Lob langer und dunkler Nächte (III, 1–3) aus der Perspektive des Wächters in Cadenets S’anc fui belha ni prezada {A b, 10} dar. Die Verlegung der Liebesszenerien in die Sphäre der Nacht lässt die Liebesspiele der erotischen alba wie erträumte Wunschbilder erscheinen.

5.1.2.

Intertextuelle Spiele

Die vielfältigen Ausprägungen der erotischen alba haben nicht nur Imitation motiviert, sondern auch Umwandlung und Umdeutung, wovon eine Reihe von Beispielen zeugt, die in unterschiedlicher Art und Weise an das Gattungsschema des Tagelieds anknüpfen und so dessen Popularität bestätigen. Erweiterungen, Modifizierungen oder Umdeutungen des thematischen Kerns bei gleichzeitiger Wahrung des zentralen negativen alba-Zeitmotivs sind in der altfranzösischen Lyrik, in galego-portugiesischen cantigas und auch schon in der okzitanischen Poesie überliefert. Besonders das intertextuelle Spiel der cantigas und die darin manifeste Anknüpfung an die polyphone alba-Motivik erlaubt einen Einblick in die Vielschichtigkeit der Deutungsmuster: Die Antonyme Abschied und Ankunft und die entsprechenden Verben bedingen und lösen einander ab und kreieren auf 176

diese Weise die Magie der alba-Dichtung.142 Diese Kontrapunkte evozieren ein «komplexes psychisches Reflexionsgeschehen», in dem der Abschied, so Bohrer in seiner Studie zum Motiv, «als Codewort einer Lebenstotalität [zu verstehen ist], wie das Omega zum Alpha».143 Die Anspielung auf das Gattungsschema kann dabei auch in reduzierter Form durch Gattungszitate erfolgen, die durch den «symbolisme approximatif» der Anspielung das gesamte Schema zu evozieren vermögen, denn – so Zink – «c’est simplement parce que ces poèmes se ressemblent tous qu’il suffit d’en entendre un pour évoquer tous les autres».144 In dieser Weise kann das Fragment durch punktuelles Einflechten seine spezifische Poetik entfalten. So erheben einige Beispiele den typischen Klageruf der alba-Liebenden oder der gayta zum Leitmotiv, indem sie ihn gleichzeitig in andere Kontexte verlagern. Das Gattungszitat wird wegen seiner Prägnanz automatisch als solches erkannt und kann so zum Verständnis und zur Deutung der gegebenen Dichtung beitragen. Andere Variationen rekurrieren wiederum auf das Gattungsschema der erotischen alba, indem sie das zentrale alba-Zeitmotiv in seiner Wertung umkehren. Dazu gehören die sogenannten religiösen Tagelieder,145 die den alba-Ruf um142 143 144 145

Zu den Formen des inter- und intratextuellen Spiels in der iberischen alba-Dichtung cf. die theoretischen Überlegungen von Berlanga Reyes/Bustos Tovar (1981, 31–36). Bohrer 1996, 11/9. Zink 1972, 81. Die religiöse alba-Motivik und -Metaphorik, die in Kap. 3.1.3. erläutert wird, hat zur Ausbildung eines Gattungsschemas geführt, das gewöhnlich als religiöses Tagelied bezeichnet wird. Diverse Theorien sind zum Ursprung und zur Entstehung dieser Gattung geäußert worden. So wird die religiöse Variante entweder als 1) Imitation (Woledge, Jeanroy, Riquer, Poe) oder 2) Vorbild (Scheludko, Scudieri Ruggieri, Rajna) der profanen alba verstanden, oder man nimmt an, 3) dass sich die religiöse Variante unter dem Einfluss der latenischen Morgenhymnen unabhängig von der profanen Form entwickelt hat (Hatto, Saville). Für die «indépendance des albas religieuses de leurs consœurs érotiques» plädiert auch Chaguinian (2008, 336). Alle religiösen Variationen sind auf das 13. Jh. zu datieren und als Frucht der soziokulturellen Hintergründe der Zeit zu verstehen. Besonders die Gründung des Dominikanerordens (1215) in Toulouse und der Marien-Kult der Zeit haben zur Entwicklung dieser Gattung und zur Blüte der Marienlyrik beigetragen (cf. Chaguinian 2008, 71–75). Sechs okzitanische Kompositionen (RA 1–6) und ein galego-portugiesisches Lied (RA 7) werden in der Regel als religiöse albas bezeichnet (cf. dagegen die Position von Fidalgo [2002, 112s.], die nur drei der Kompositionen [RA 4–6] als religiöse Tagelieder im eigentlichen Sinne versteht, die übrigen Texte aber ganz allgemein unter der Bezeichnung «poesia de carácter religioso» fasst [2002, 113]). Vier der sieben Lieder (RA 3–5 und RA 7) sind als Marienlieder konzipiert. Weder die italienische Lyrik des Duecento noch die Poesie der Trouvères überliefern geistliche Tagelieder. Die von Alfonso X. (RA 7) komponierte alba, die eine formale Kontrafaktur des Tagelieds von Cadenet {A b, 10} darstellt, ist wahrscheinlich von den okzitanischen Beispielen inspiriert worden. Bekannt ist nämlich, dass drei Tagelieddichter (Bertran d’Alamanon (zwischen 1260 und 1265), Cerveri de Girona (1269) und Guiraut Riquier (von 1269 oder 1270 bis 1280 oder 1281)) den Hof des Königs besuchten. Ein Argument dafür, das religiöse Tagelied als Umdeutung der erotischen alba zu verstehen, liefert die religiöse alba von Cerveri de Girona (RA 6), die einen durch das erotische Tagelied vorgeprägten Erwartungshorizont voraussetzt. In seinem Lied vergleicht Cerveri «l’amant spirituel de Marie à celui typique de l’alba

177

funktionalisieren und sogar explizit an die Liebesthematik des erotischen Tagelieds erinnern können. Die Umkehrung des Zeitmotivs begegnet ferner in einer Reihe von Liedern, die in dieser Untersuchung als cossirs bezeichnet werden und denen die Thematik der (nächtlichen) Klagen einsamer Liebender gemeinsam ist. Die Anknüpfung an das alba-Schema erfolgt dabei entweder durch explizite Anspielungen oder durch eine beiden Formen gemeinsame Poetik: die Verbindung der zentralen Tag-Nacht-Dichotomie mit der Liebesthematik und der Klage. Folgende Formen des intertextuellen Spiels – in Abhängigkeit von der Wertung des albaZeitmotivs – begegnen in der romanischen Lyrik: Alba im intertextuellen Spiel alba-Zeitmotiv

negativ

positiv

Bezug auf die albaThematik

Erweiterung

Umkehrung

Modifizierung

Umdeutung (durch Sakralisierung)

Zitat/Anspielung

Zitat/Anspielung

5.1.2.1. Gattungszitat und thematische Variation Anspielungen auf das in der okzitanischen Poesie geprägte alba-Schema kennt schon die Trobadorlyrik. Im Unterschied zu den im okzitanischen Kulturraum entstandenen Variationen, die die Opposition zwischen Tag und Nacht und die Klage des einsamen Liebenden fokussieren,146 bietet die aus der Feder eines katalanischen Trobadors des späten 13. oder frühen 14. Jh.s147 stammende Komposition E! Quant m’es greu {A b, 6} eine abweichende Funktionalisierung der alba-Thematik. Davon, dass das typische Gattungsschema der okzitanischen alba im katalanischen Raum bekannt war, zeugen zwei alba-Dichtungen aus der Feder katalanischer Trobadors: das anonyme Eras diray ço que·us dey dir {A b, 5}, das eine typische gayta-alba darstellt,148 und das religiöse Tagelied von Cerveri de Girona, das in der vierten und fünften cobla149 ex negativo die erotische Tage-

146 147 148

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de séparation» (Chaguinian 2008, 336), wobei der Vergleich zwei coblas (IV und V) durchzieht. Cf. dazu die Ausführungen zu den okzitanischen cossirs in Kap. 5.1.2.2. Cf. Chaguinian 2008, 247ss. Ausgehend von der Tatsache, dass sowohl E! Quant m’es greu {A b, 6} als auch Eras diray ço que·us dey dir {A b, 5} in einer Handschrift überliefert sind (VeAg 51 r–v und 153v–154r) und eine ähnliche metrische Struktur aufweisen (cf. Chaguinian 2008, 250), ist die Vermutung geäußert worden, dass beide Kompositionen aus der Feder eines Autors stammen könnten (cf. Riquer 1987, 599). Diese These wird von Chaguinian verworfen, cf. dessen linguistische Begründung (2008, 250). Cf. Cerveri de Girona: Axi com cel c’anan erra la via (Chaguinian 2008, 337s.) IV. Eu no soy ges cel qui va a sa mia De nuyt, car cil cuy m’autrey m’asegura Pessan a leys, e d’altre non ay cura. E lays la nuyt e voil pendre·l clar dia,

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liedszenerie evoziert. Die Komposition E! Quant m’es greu {A b, 6} spielt auf die typische alba-Kulisse an, wenn im klagenden Monolog des fin’amic die Figur des descortes (I, 7) als «envegos falç e lausenger» (II, 2) bezeichnet wird und der Terminus alba als Refrainwort erscheint. Das Thema des Lieds ist der desir (I, 4) des Liebenden nach dem bel cors (I, 2) und der beutat (I, 3) der Dame, wobei das remirar (I, 1) zur Voraussetzung und Quelle des Liebesglücks wird. Der Liebende ist seiner Dame – dem gelos zum Trotz («a son despit» II, 9) – ergeben, von nah und fern und zu jeder Tagesstunde («Lo jorn, la nuyt e l’alba»/I, 19). Das Refrainwort alba zeigt in dieser Komposition eine für die alba-Variationen charakteristische Polyvalenz. Während es in der ersten Strophe als temporale Angabe in der Funktion eines Zeitmotivs auftritt, hat die Verwendung des Lexems im Refrainvers der zweiten cobla kontroverse Deutungen erfahren: Que manta gen desir’aver un’alba (II, 18s.) (sodass viele Menschen wünschten, sie [= die Dame] in der Morgenröte zu haben; oder: sodass viele Menschen wünschten, eine alba zu haben)

Zwar könnte alba auch hier als Zeitangabe verstanden werden, doch der unbestimmte Artikel irritiert und lässt an eine Interpretation der Verse als generalisierenden Wunsch denken. In dieser Deutung wäre alba als abstrahierte Idee der Tageliedszenerie und Chiffre zu verstehen, die genügt, um das gesamte Gattungsschema zu evozieren. Eine andere Lösung bietet das Verständnis von alba als Me-

Car il no tem lauzenjar ne mal dir, Enans, li pusc ab jorn denan venir, Per qu’eu asir La nit, desiran l’alba. (IV. Ich bin keineswegs jemand, der zu seiner Freundin geht in der Nacht, denn diejenige, der ich mich geweiht habe, beschützt mich, wenn ich an sie denke, und andere interessieren mich nicht. Und ich lasse ab von der Nacht und will mich dem hellen Tag widmen, denn er fürchtet weder Verleumdung noch Lästereien. Vielmehr kann ich am Tag zu ihr kommen, deshalb hasse ich die Nacht und wünsche die Morgenröte herbei.) V. Altr’amador say, c’a ir’e feunia Can ab si dons es, e descre e jura Can le jorn ve e la nuytz tan pauc dura, E jamays jor ne alba no volria. Ez eu, car tan dura la nuytz, cossir C’ab nuit no pusc de leys, cuy soy, jausir Ne·l lum chausir Que·ns fa clar e gran l’alba. (Ich kenne einen anderen Liebenden, der, Verdruss und Zorn empfindet, wenn er bei seiner Dame ist, und er flucht und verwünscht den Tag, da er anbricht und die Nacht so kurz dauert. Und er wünscht, dass es niemals Morgenröte noch den Tag gebe. Aber mich, wenn die Nacht andauert, quälen sorgenvolle Gedanken, denn nachts kann ich mich nicht an derjenigen, der ich gehöre, erfreuen, noch das Licht sehen, das die Morgenröte hell und großartig macht.)

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tapher für die Geliebte – eine in der iberischen Dichtung verbreitete Vorstellung,150 die für den katalanischen Kulturraum in einer nicht religiös motivierten Verwendung ein Novum darstellen würde. Variationen der alba-Thematik bietet auch die altfranzösische Dichtung. Dabei kann es sich um die Verwendung von Gattungszitaten in anderen thematischen Kontexten handeln. Ein immer wieder zitiertes Beispiel stellt dabei die Anspielung auf das Tageliedschema in Verbindung mit der Abschieds- und Kreuzzugsthematik, wie sie das anonyme Vos ki ameis de vraie amor,151 ein «song written to gain support for the third152 crusade (1189)»,153 darstellt. Die Eröffnungsverse der Komposition könnten aus einem erotischen Tagelied stammen: Vos ki ameis de vraie amor, Esvelliés vos, ne dormeis pais! L’alüete nos trait lou jor.

(I, 1ss.)

(Ihr, die ihr mit wahrer Liebe liebt, wacht auf, schlaft nicht mehr! Die Lerche singt uns den Tag.)

Erst die folgenden Verse154 enthüllen die wahre Intention des Weckrufs. «Verschiedene Faktoren mögen», so Wolf, «die Übernahme der Grundstruktur der erotischen Alba ins Kreuzlied erleichtert haben. Erotische Alba wie Kreuzlied knüpfen an eine Abschiedssituation an. Die erotische Alba erzählt vom eben vergangenen irdischen Glück, das Kreuzlied ist auf künftiges, beständiges, geistliches Glück ausgerichtet».155

Da keine Beispiele für religiöse alba-Dichtung aus dem französischen Kulturraum überliefert sind, ist es möglich, dass der Dichter von Vos ki ameis de vraie amor156 hier in origineller Weise mit dem Erwartungshorizont der Rezipienten spielt. Die Komposition zeigt, dass das alba-Schema im französischen Kulturraum vermut150 151 152 153 154

155 156

Cf. Kap. 3.1.3. Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 51. Ob es sich in diesem Lied um eine Aufforderung zur Teilnahme am dritten oder vierten Kreuzzug handelt, ist umstritten. Cf. Rosenberg/Tischler 1995, 940. Woledge 1965, 353. Et se nos dist en ses retrais Ke venus est li jors de paix Ke Deus per sa tres grant doussor Donrait a ceals ki por s’amor Panront la creux et por lor fais Soufferront poene nuit et jor. Or vairait il ses amans vrais! (I, 4–10) (Und sie [die Lerche] sagt uns auf ihre Art: Der Tag des Friedens ist gekommen, den Gott in seiner großen Milde denen geben wird, die aus Liebe zu ihm das Kreuz nehmen und für ihre Taten Leid ertragen werden Tag und Nacht. So wird er seine wahren Freunde sehen.) Wolf 1979, 48. Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 51.

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lich schon vor 1189 populär war, denn die Kenntnis des Gattungsschemas ist die Voraussetzung für die Wirkung des wohl intendierten intertextuellen Spiels dieser Komposition. Während das alba-Gattungszitat in Vos ki ameis de vraie amor157 nur in der ersten Strophe begegnet, durchzieht es als Leitmotiv die Refrainverse einer weiteren altfranzösischen Komposition. Mit dem wohl 1229/30158 komponierten L’autrier gaitai une nuit jusqu’au jour159 knüpft Philippe de Novare an den Typus der gayta an, wenn er die erste Strophe mit den folgenden Versen eröffnet: L’autrier gaitay une nuit jusque au jour, Bien pres des murs, tout soul, sans autres gens.

(I, 1s.)

(Neulich wachte ich nahe der Mauern in der Nacht bis zum Morgen; ich war ganz allein, niemand war bei mir.)

Der Wächter belauscht in diesem «mock dawn song»160 einen Dialog, wobei die Strophen I und VII den narrativen Rahmen bilden und die restlichen coblas das Zwiegespräch der Belauschten wiedergeben. Nicht die Trennungsklage eines Liebespaares wird hier vernommen, sondern die Unterhaltung zweier Soldaten, die eine Festung bewachen. Der letzte und neunte Vers jeder Strophe hat dabei aube als Refrainwort.161 Diese Variation der alba-gayta ist ein deutlicher Hinweis auf die Produktivität und Popularität des Gattungsschemas und liefert zudem eine Stütze für die These von Brea, die neben der «tradición litúrgica de cantos matutinos» und der traditionellen Variante der «separación amorosa» die Linie «procedente del ámbito guerrero» als einen der drei Stränge der Tageliedformen starkmacht.162 Aus der Idee der «separación amorosa» lebt eine weitere alba-Variation, das im 13. Jh. entstandene und in acht Handschriften tradierte163 anonyme Lied Un petit devant le jor {A c, 6}. Die Komposition, die von Jeanroy164 als Repräsentant der

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162 163 164

Ibid. Cf. Woledge 1965, 350: «A more distant imitation of the dawn song, but one which clearly suggests that it had a considerable vogue, is the satirical poem which Philippe de Novare wrote in 1229–30 while laying siege to a castle in Cyprus». Philippe de Novare, 40. Woledge 1965, 350. Das Lied (Philippe de Novare, 40) zeigt folgende Variationen der Refrainverse: I, 9 Que saens vint ains l’aube. II, 9 Avant que veigne l’aube. III, 9 Fuions nous ent ains l’aube. IV, 9 Ja ne voient il l’aube. V, 9 Toute nuit jusqu’à l’aube. VI, 9 Et a tant parut l’aube. VII, 9 Par tout esclarsi l’aube. Cf. Brea 2002, 30. K 320 [mit Notation], N 153, P 168, C 247v (Duchesse de Lorraine), U 67 v [mit Notation], H 218r–v (Moniot d’Arras), T 79 (Chapelain de Laon) und a 109. Cf. Jeanroy 41969, 77/Anm. 1. Cf. auch Jeanroy (1934, II, 295): «La pièce est une aube, car l’héroïne congédie l’amant en voyant paraître le jour».

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Tageliedgattung klassifiziert und seitdem nie wieder in dieser Kategorisierung thematisiert wurde, modifiziert und erweitert das typische Schema der alba-Szenerie. Die Liebenden, die vor der morgendlichen Trennung letzte Treueversprechen austauschen und über die unerfüllte Liebe klagen, genießen darin nicht den joi des Abschieds. Die typische erotisch aufgeladene Trennung in der Morgenröte wird vereitelt, da die Liebenden räumlich voneinander getrennt sind. Die Dame, die sich – ähnlich wie Cadenets domna {A b, 10} – selbst zur mal-mariée stilisiert, wird nämlich vom «desloiaus jalos» (V, 10/I, 18), den sie zum Inbegriff der vilania (V, 5–12) erklärt, in einem Turm gefangen gehalten. Ferner wird die Tageliedsituation von außen geschildert und als Bild im Bild inszeniert, da ein männliches Ich – wie in der Komposition von Philippe de Novare165 – das Zwiegespräch der Liebenden belauscht. Auch hier situieren die narrativen Passagen der ersten (I, 1–16) und sechsten (VI, 13s.) Strophe das Bild und schaffen so den Rahmen für die eigentliche Abschiedsszenerie. Die Verbindung zur Tageliedsituation – so Woledge – «lies chiefly in the fact that the lover has to leave at dawn because of the danger of their being seen talking together».166 Das Gespräch zwischen den Liebenden ist dabei – anders als in der alba-Tradition – als genuiner Dialog zwischen dem Ritter (chevalier) und der als loiax drue und loial amie (I, 16; III, 16) bezeichneten Dame konstruiert. Der alternierende Perspektivenwechsel verleiht dem Lied Dynamik, die der narrative Rahmen wieder einfängt. Die letzte Strophe imitiert dabei vollständig das Schema der erotischen alba : VI.

Douz amis, vos en irez, Car je voi le jor; Des ore mais n’i pöez Fere lonc sejor. Vostre fin cuer me lerez Et n’aiés pöor, Que vous avez et avrez La plus fine amor. Des ke vos ne me pöez Geter de ceste tor, Plus souvent la regardez De vos ieus par douçor. Lors s’en part cil toz irés Et dist: «Las, tant mar fui nés, Quant mes cuers est ci sans moi remés. Dolans m’en part; A deu conmant je mes amors, qui les me gart.» (Schöner Freund, Ihr müsst fortgehen, denn ich sehe den Tag. Von jetzt an könnt Ihr hier nicht mehr lang bleiben. Euer höfisches Herz lasst mir da und habt keine Angst, denn Ihr habt und werdet immer aufrichtigste Liebe genießen. Da Ihr mich nicht befreien könnt aus diesem Turm, betrachtet sie [die Liebe] immer wieder ganz sanft mit 165 166

Philippe de Novare, 40. Woledge 1965, 349.

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Euren Augen. Da geht jener sehr erzürnt dahin und sagt: «Welch Unglück, an einem Unglückstag wurde ich geboren, da mein Herz hier ohne mich zurückbleibt. Betrübt gehe ich fort: Gott befehle ich meine Liebe an, möge er sie für mich bewachen.»)

Die Dame fordert den Ritter zum Gehen auf, denn sie sieht den Tag anbrechen (VI, 2), als Zeichen seiner Liebe soll dieser aber sein fin cuer (VI, 5) als Pfand zurücklassen. Das Lied schließt mit dem Scheiden des Ritter, der «toz irés» (VI, 13) fortgeht und sein Unglück beklagt. Es scheint als spiegele die Tageliedsituation, in die das lyrische Ich zufällig eindringt und dabei in die Position eines Voyeurs rückt, die Reflexion des lyrischen Ich wider, das wegen seiner «novele amor» (I, 3) nicht schlafen kann und zum Zuschauer eines evokativen Bildes unerfüllter Liebe wird. Dominiert wird die Szenerie von der Klage über den Schmerz («dolor» III, 4) und die Qual («torment» II, 14) der Liebenden. Die amor de lonh (III, 11s./17) ist den Liebenden der letzte Trost. Und an die Stelle der typischen Furcht der Liebenden tritt eine aggressive Bedrohung des gelos, dem sowohl der Ritter (IV, 17) als auch die Dame (V, 2) den Tod wünschen. Ähnliche Transpositionen der alba-Thematik kennt auch die altfranzösische Epik. In Anknüpfung an die räumliche Trennung der Liebenden erinnert Woledge in diesem Zusammenhang an die chantefable Aucassin et Nicolette, in der «the lovers carry on a conversation through a hole in the prison wall».167 Die Abschiedsszenerie von Aucassin et Nicolette zeigt das typische lexikalische Material der alba – congié prendre (v. 465), besier doner et besier rendre (v. 466), sospirer (v. 467) und plorer (v. 468) – und kennt auch die warnende Stimme des Wächters. Essentieller und charakteristischer als die räumliche Trennung ist für die Variation der alba-Szenerie in Un petit devant le jor {A c, 6} vielmehr die Erweiterung des Figureninventars und das damit verbundene voyeuristische Moment, das in ähnlicher Weise in der Chastelaine de Vergi (13. Jh.) begegnet. Die Abschiedsszene zwischen dem Ritter und der Chastelaine (v. 459–473) ist wie eine «transposition du thème principal de l’aube»168 gestaltet, wobei die Szenerie vom Herzog beobachtet wird. Variation zeigt die Verserzählung auch in der Gestaltung des Figurendreiecks: Die konventionelle Konstellation (Dame, Ritter und gelos) wird umfunktioniert, indem die Dame in die Rolle des gelos schlüpft und so zum Dreh- und Angelpunkt des tragischen Ausgangs wird. Die Thematik der Chastelaine erwächst vor allem aus dem vielfach variierten celar-Motiv,169 das für die erotische alba konstitutiv ist. 167 168 169

Ibid. Frappier 1966, 43. Die Chastelaine de Vergi ist als Erzählung über die «amor douce et celee» (v. 41) und die Folgen des Missachtens des celar-Gebots zu verstehen. Celer und descovrir durchziehen als Schlüsselbegriffe das gesamte Werk. Der Ritter bittet den Herzog, er möge das Geheimnis «celer» (v. 499) und ähnlich verspricht auch die Herzogin ihrem Ehemann «celer ceste oevre» (v. 665). So lautet auch die Moral der Chastelaine: «Et par cest example doit l’en/s’amor celer par si grant sen/c’on ait toz jors en remembrance/que li descouvrirs riens n’avance/et li celers en toz poins vaut» (951–955) (Und dieses Beispiel zeigt, dass man seine Liebe so verständig verbergen soll, dass man sich stets daran erinnert, dass es nichts bringt, das Geheimnis aufzudecken und es in jeder

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Die Popularität der Tageliedthematik hinterließ auch in der galego-portugiesischen Dichtung ihre Spuren. Obwohl keine erotische alba nach dem okzitanischen oder französischen Muster in der frühen Poesie der trovadores überliefert ist, ist davon auszugehen, dass die okzitanische Varietät der Gattung auf der Iberischen Halbinsel durchaus bekannt war. Studien zum interkulturellen Austausch in der mittelalterlichen Romania haben zeigen können, dass «after about 1135 many troubadours and jongleurs from Provence visited the Iberian peninsula».170 Guiraut de Bornelh, der Dichter der ältesten attribuierten alba, besuchte beispielsweise die Höfe von Kastilien und Aragon,171 und die Lyrik Guirauts Riquier war zumindest am Hof von Alfonso X. bekannt, was die Korrespondenz zwischen dem Trobador und dem König bezeugt, die auch poetologische Fragen berührt.172 Guiraut verbrachte über zehn Jahre (1269/1270 bis 1280/1281) am Hof des kastilischen Königs, und auch die alba-Dichter Bertran d’Alamanon (1260–1265) und Cerveri de Girona (1269) sind dort bezeugt.173 Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang die einzige religiöse alba der galego-portugiesischen Poesie, die eine formale Kontrafaktur des in zehn Handschriften tradierten Tagelieds von Cadenet {A b, 10} darstellt. Rezeption muss aber keineswegs Imitation bedeuten und Jensen betont in diesem Zusammenhang folgerichtig: «whether or not the alba was cultivated by the Galician-Portuguese trovadores depends, of course, on the definition of which constituent elements go into the making of the particular poetic genre».174 Alba-Dichtung nach dem galloromanischen Muster existiert in der galego-portugiesischen Poesie nicht, aber die poetische Kraft des polyfunktionalen alba-Motivs hat zahlreiche cantigas inspiriert. Studien über das Tagelied führen dabei als deutlichste Adaptation des Tageliedschemas immer wieder das in zwei Handschriften175 tradierte Levad’, amigo que dormides as manhãas frias {A d, 4} von Nuno Fernandez Torneol an, die cantiga, «que más ríos de tinta ha hecho verter»176 und «una de las más justamente conocidas y estimadas de los trovadores».177 Das Lied beginnt mit dem typischen Weckruf – allerdings ist es hier – wie in der mittellateinischen alba {A a, 2} – die Frau, die vom Geliebten scheidet: I.

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Levad’, amigo que dormides as manhãas frias; todalas aves do mundo d’ amor dizian: leda m’ and’ eu.

Hinsicht günstig ist, es zu verbergen). Zur kunstvollen Fruchtbarmachung binomischer Wendungen in der Chastelaine – und insbesondere von conseil celer und conseil descouvrir cf. Lange (1966, 18ss.). Wilson 1965, 305. Ibid. Cf. die 1274 entstandene Supplicatio (Guiraut Riquier, b), XI). Fidalgo 2002, 113. Jensen 1978, 74. A fol. 210 und B fol. 335. Brea 2002, 35. Alvar/Beltrán 21989, 357s.

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(Erhebt Euch, Freund, der Ihr am kühlen Morgen schlaft. Alle Vögel der Welt sprachen von Liebe: Froh gehe ich dahin.)

Nunes beschreibt die Komposition als alba oder alvorada, die «apresenta a amante, acordada ao amanhecer pelo canto das aves, convidando o seu amigo a levantarse».178 Diese knappe Charakterisierung suggeriert eine Tageliedthematik, die das Lied jedoch nicht zeigt. Gewiss ist der Weckruf – und somit das Movens der Trennung – von Beginn an präsent,179 jedoch erweist sich die durch die Wiederholung kreierte Tageliedszenerie der acht parallel aufgebauten Strophen, in denen alva als Schlüsselwort, Reimwort und Strukturierungselement fungiert, spätestens ab der fünften cobla als Klage über eine vergangene Liebe, in der die Liebesfreude, so Brea, «totalmente ausente en el momento de la rememoración de momentos felices compartidos»180 scheint. Während in den ersten vier Strophen nur das Imperfekt von dizer (I, 2/III, 1) oder cantar (II, 2/IV, 1) als Hinweis auf die retrospektive Sicht und den symbolischen Bruch181 zu lesen ist, zerschellt im zweiten Teil der cantiga die scheinbare Harmonie des durch aves, ramos und fontanas evozierten locus amoenus, wie schon Jensen herausarbeiten konnte: «the idyllic love setting does not extend beyond the first four distichs at which point it clashes dramatically with a bitter and almost grotesque description of a lover bent on destroying the scenery and thereby love itself».182

Die Vögel, die als Medium der Liebe fungieren, werden ihres Lebensraums beraubt und mit deren Scheiden schwindet auch die Liebe, die sie besangen. Die Szenerie wirkt wie ein negativer Natureingang, den beispielsweise auch Folcacchiero in Tutto lo mondo vive sanza guerra entwickelt.183 Einen Hinweis auf eine 178 179 180 181 182

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Nunes 1973, I/336. Cf. Bertolucci 1999, 74. Brea 2002, 36. Cf. Lorenzo 1993, 481. Jensen 1978, 75. Gegen diese «interpretación más comúnmente aceptada» (Lemaire 1983, 290), die eine solche Zweiteilung der cantiga annimmt, argumentiert Lemaire (1983, 293s.) und verweist dabei auf volkstümliche Riten, die sich hinter den Symbolen der Quelle und der blühenden Zweige verbergen: «Esperar al amante al pie de la fuente, encontrarlo ahí, beber juntos el agua fría antes de hacer amor, constituía un acto mágico de anticipación nupcial. [...] En muchas regiones de Europa existía la costumbre siguiente: el hombre, antes de pasar al acto sexual, debía cortar un rama de uno de esos árboles y ofrecérsela a la mujer». In ihrer Deutung übersieht Lemaire jedoch, dass das Brechen der Zweige und das Trockenlegen der Quellen als Akt nicht auf die amiga bezogen wird, sondern auf die aves, deren Lebensraum somit zerstört wird, was einer positiven Deutung dieser Symbole, wie Lemaire (1983, 295) sie versteht – «la mujer que, al momento del despertar, se da cuenta de que todos sus sueños se han vuelto realidad» – widerspricht. Coluccia 2008, Nr. 34.1/I, 7–10: Non paiono li fiori per me, con’ già soleano, e gli auscei per amori dolzi versi faceano agli albori.

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solche Lesart der cantiga bietet auch das Lied Vayamos, irmana, vayamos dormir184 von Fernand’ Esquio, eines Zeitgenossen von Dom Denis. Darin erklingt die Furcht um das Leben der Vögel wie ein Echo der Furcht um das Gedeihen der Liebe. Nicht eine temporäre alba-Trennung wird daher in der cantiga von Nuno Fernandez Torneol {A d, 4} besungen, sondern eine tatsächliche. Die Abschiedsthematik fungiert dabei als tertium comparationis und Anknüpfungspunkt. Die Melancholie und Trauer der erinnerten Bilder, der «lamento en tempo pasado»,185 kontrastiert dabei mit dem Refrain: «Leda m’and eu». Trotz der thematischen Differenz zur erotischen Tagelieddichtung erkennt der mit der Gattung der erotischen alba vertraute Rezipient deutlich eine Reihe von Gattungssignalen: Neben den Verben levar (I, 1) und dormir (I, 1) sind hier insbesondere die Lexeme manhãas (I, 1/II, 1) und aves (I, 2/II, 2/III, 1/IV, 1) zu nennen. Die Kontextualisierung der einzelnen Merkmale entspricht zwar nicht dem Schema des Tagelieds, doch die Elemente wirken in ihrer Gesamtheit und evozieren ein Netz von Assoziationen. Dionísio spricht in diesem Zusammenhang von «um inteligente e irónico186 jogo de reelaborações feitas a partir de motivos de alba».187 Dass es sich hier – wie auch in anderen alba-Variationen der iberischen trovadores – um ein bewusstes Spiel mit der Tradition handeln kann, ist durchaus möglich.188 Die überraschende Kontextualisierung der alba-Motivik, der unerwartete Bruch und das Spiel mit dem Erwartungshorizont zeugen von der Originalität des Dichters, sodass man Jensen durchaus beipflichten kann, wenn er konstatiert: «Nuno Fernández Torneol emerges as an original poet, fully capable of modifying foreign elements and of adapting them to a native tradition».189 Gleich mehrere Variationen der alba-Motivik sind Dom Denis, dem – so Gonçalves – «poeta-rei ostensivamente provençalizante»,190 zu verdanken. Eine dieser cantigas, De que morredes, filha, a do corpo velido? {A d, 2}, stellt einen Dialog zwischen Mutter und Tochter dar, wobei die filha über die Abwesenheit ihres Freundes und ihren Liebesschmerz klagt, der in seiner Intensität dem Liebestod («moiro d’ amores» II, 2/III, 1) nahekommt – ein in der iberischen Lyrik mit Vorliebe kultiviertes Thema, das vielleicht in der arabischen Poesie seine Wurzeln hat.191 Der Gürtel (cinta), den die amiga aus Liebe zu ihrem Freund trägt, weckt Assoziationen und Erinne-

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(Die Blumen sehen nicht mehr so aus für mich wie sie einst zu sein pflegten, und die Vögel machen in der Morgenröte keine süßen Liebeslieder mehr.) Brea 21999, I, Nr. 38, 8. Brea/Lorenzo Gradín 1998, 223. Zur Lesart der Komposition als Parodie cf. Dionísio 1994. Unter den kritischen Stimmen zu dieser Deutung cf. z. B. Rosário Ferreira (1997, 51). Dionísio 1993, 32a. Cf. Brea/Lorenzo Gradín 1998, 224: «Non é impensable que – igual que sucedía coa pastorela – algúns trobadores galego-portugueses utilizasen conscientemente esas referencias ocasionais ás albas ultrapirenaicas, aínda que só fose na utilización do termoclave do xénero». Jensen 1978, 75. Gonçalves 1993, 209b. Cf. Croix 22003, 58.

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rungen, die die Liebespein verstärken. In diesem Lied evoziert nur der Refrain, der wie ein Fremdkörper192 in das Lied eingebettet erscheint, als Gattungszitat die Tageliedsituation: «Alva é, vai liero» (Es tagt, geh rasch fort.). Der Refrain könnte als Formel gedeutet werden, die aussagt, was von der amiga verschwiegen bleibt: die Erinnerung an die Trennung. Alva kann zudem, je nach Deutung des Verses,193 sowohl als Zeitmotiv als auch als Metapher für die amiga verstanden werden,194 was das poetische Spiel zusätzlich auflädt. Als Beispiele für «references […] to early-morning scenes»195 führt Jensen zwei weitere Lieder auf, die wegen des leitmotivisch gebrauchten alva mit der Tagelieddichtung in Verbindung gebracht werden können: Levantou-s’ a velida {A d, 3} von Dom Denis und Levóus’ louçana, levóus’ a velida {A d, 1} von Pero Meogo. Beide Lieder weisen die Form des Parallelismus auf, indem sie den gleichen Gedanken in jeweils zwei alternierenden, fast identischen Versen variieren. Wie die meisten cantigas de amigo erzielen beide Lieder auch eine starke poetische Kraft allein durch die Variation der Stimmung, die durch die Technik der leixa pren den so wiederholt evozierten Bildern «eine mehrdimensionale Bedeutung zu geben»196 vermag. Die Lieder von Pero Meogo {A d, 1} und Dom Denis {A d, 3} stellen die einzigen in galego-portugiesischen Handschriften überlieferten Exempel «del tipo de narración conocida como ‘diegemática’»,197 sie sind somit Beispiele für eine originelle narrative Struktur der cantiga de amigo. Die motivische und formale Verwandtschaft zwischen den beiden cantigas ist nicht zufällig, denn das Lied von Dom Denis stellt eine Variation der Komposition von Pero Meogo dar.198 Drei Bilder tragen die Thematik von Pero Meogos Levóus’ louçana, levóus’ a velida199 {A d, 1}: «unha nena que vai á fonte, un amigo que pasa, un cervo carregado de simbolismo que tolda a iauga. Ren máis».200 Dominiert wird die Szenerie dabei von einem jungen Mädchen, das bei Tagesanbruch aufsteht, um seine Haare zu waschen. Die Metaphorik des Haarewaschens, die eine sexuelle Konnotation tragen kann,201 wird durch das Wortspiel zwischen den phonetisch ähnlichen Lexemen levar und lavar in den ersten beiden Strophen zusätzlich aufgeladen. Erotische Symbolik ist in den volkstümlich inspirierten Liedern der Romania häufig mit dem Element des 192 193 194 195 196 197 198 199

200 201

Cf. Brea 2002, 34s.: «aquí no se advierte una relación clara entre ese refrán, dificíl de interpretar, y el resto de la composición». Cf. Brea 2000, 198. Zur Polyvalenz des alba-Konzepts im Galego-Portugiesischen cf. Kap. 3.1.3. Jensen 1978, 73. Dronke 1977, 106. Brea 2002, 37. Cf. dazu auch Brea/Lorenzo Gradín (1998, 48). Cf. Brea 2002, 37. Cf. auch Brea (2000, 211). In den beiden Handschriften (B 1188, V 793), die das Lied überliefern, fehlt von Strophe I und II je der erste Vers. Aufgrund der Form des Parallelismus besteht in der Forschungsliteratur aber über die Ergänzung der Verse relative Einigkeit (cf. Brea 2002, 37). Pero Meogo, 38. Zum Motiv lavar cabelos in der galego-portugiesischen Lyrik cf. Lorenzo Gradín (1990, 213–220).

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Wassers und insbesondere – so Beltran Peipó – «a las labores femeninas vinculados con ella en las sociedades rurales hasta no hace muchos años»202 verbunden. Das Syntagma lavar cabelos bei Pero Meogo {A d, 1} bezeichnet – wie auch lavar camisas in der cantiga von Dom Denis {A d, 3} – symbolisch die Begegnung mit dem amigo.203 Ferner wird die Symbolik durch das Wortspiel zwischen lavar und alva in den Refrainversen204 intensiviert: Reinheit, Strahlen, Glanz und Jugend verbinden sich hier zu der vieldeutigen Chiffre alva. Diese Trias aus levar, lavar und alva durchzieht leitmotivisch auch die cantiga von Dom Denis {A d, 3}, in der wiederum die Vieldeutigkeit der Chiffre alva sichtbar wird, wie Brea herausarbeiten konnte: «el término alva es ambiguo en esta cantiga, pues parece referirse tanto al despuntar del día como a la blancura, y por consiguiente a la pureza, da la muchacha».205 Die Polyvalenz von alva in Motiv- und Metaphernfunktion führt zu einer Überlagerung der evozierten Konzepte, sodass die Figur des jungen Mädchens mit dem Strahlen des Tagesanbruchs verschmilzt. In der Komposition von Pero Meogo {A d, 1} wird die Szenerie des morgendlichen Wäschewaschens am Fluss in der dritten Strophe durch das Erscheinen des Freundes unterbrochen. In Anknüpfung an die typische alborada-Thematik der galego-portugiesischen Dichtung kreiert der trovador hier ein originelles Bild. Nicht die Freude des morgendlichen Treffens wird hier geschildert. Vielmehr zerstört der Berghirsch (cervo), der das Wasser trübt, in den letzten beiden Strophen die Harmonie des Bildes und steht im frappanten Kontrast zum Refrainvers: «Glückerfüllt vor Liebe, vor Liebe glückerfüllt». Das getrübte Wasser206 als verlorene Unschuld der noch als alva bezeichneten amiga zu deuten, greift sicher nicht zu weit, zumal «a purificação ritual e o encontro amoroso»207 – und damit verbunden die Metaphern des cervo, der fontana208 und des lavar – zu den zentralen erotisch209 aufgeladenen Motiven der Dichtung Pero Meogos gehören.210 Genau wie die cervas (Hirschkühe), 202 203 204

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Beltran Peipó 2002, 61. Brea/Lorenzo Gradín 1998, 118. Wahrscheinlich ist das auf phonetischer Ähnlichkeit beruhende Wortspiel als poetische Antwort auf den leitmotivischen Wechsel von alva und levar-se der als Vorlage dienenden cantiga von Pero Meogo (cf. Brea 21999, II, Nr. 134, 5) zu verstehen. Brea 2002, 39. Cf. dazu auch Greenfield (2000a, 189s.). Zum Motiv des getrübten Wassers cf. auch den Hinweis von Jeanroy (41969, 200), der als Beispiel ein französisches Lied aus dem 16 Jh. zitiert (Par un matin la belle s’est levée), in dem das Thema der fontaine troublée, in die die Nachtigall ihren Schwanz eintaucht («Le rossignol […] a sa queue baignée», v. 6) erscheint. Lindeza Diogo 1997, 38. Ausführliche Erläuterungen zu den Motiven cervo und fontana bietet Méndez Ferrín (cf. Pero Meogo, 54–85 [cervo] und 86–110 [entrevista na fonte]). Cf. auch das biblische Bild des cervus ad fontes (Ps. II, 42.1) und die Bezeichung des Geliebten als cervus im Hohelied (2, 7ss.). Cf. Brea/Lorenzo Gradín 1998, 119. Cf. z. B. das Bild des «cervo ferido» (I, 1/II, 1) in Tal vai o meu amigo con amor que lh’ eu dei (Brea 21999, II, Nr. 134, 9), die Verbindung von cervas/cervos und lavar in Enas verdes ervas (Nr. 134, 3) oder von cervos und fonte in Pregunta vos quer’ eu, madre (Nr. 134, 8) und im Refrain von Fostes, filha, eno bailar (Nr. 134, 4).

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die in der Poesie Meogos das Ungezähmte und Leidenschaftliche des weiblichen Wesens symbolisieren,211 sind die cervos do monte als männliche Entsprechung des Prinzips zu verstehen.212 Ein analoges Bild, jedoch ohne alba-Motivik, bietet Digades, filha, mia filha velida,213 in dem das Mädchen vor seiner Mutter sein Zuspätkommen zunächst mit den cervos do monte entschuldigt, die das Wasser trübten. Das Bild wird jedoch durch die entlarvenden Worte der Mutter aufgelöst: – «Mentís, mia filha, mentís por amigo, nunca vi cervo que volvess’ o río.»

(V, 1s.)

(«Du lügst, meine Tochter, du lügst wegen deines Freundes, nie habe ich einen Hirsch gesehen, der den Fluss trübte.»)

Eine ähnliche Kontrastierung zeigt auch die cantiga von Dom Denis {A d, 3}. Auch dieses Lied knüpft an die alborada-Thematik an, doch ist auch hier, so Jensen, «the mood […] one of wrath rather than joy as the shirts are carried away on the wind».214 Wie der amigo der cantiga von Pero Meogo {A d, 1} im Bild des Berghirsches die Harmonie zerstört, so wird in der Komposition von Dom Denis {A d, 3} der Wind (vento) zur Ursache der metaphorischen Unordnung. Offen bleibt, ob die Szenerie lediglich – wie Brea und Lorenzo Gradín annehmen – «o encontro amoroso entre a doncela e o vento, alter ego do amigo»215 darstellt oder aber dem fin’amic der okzitanischen alba-Dichtung den «disloyal lover» der cantigas entgegenstellt, wie Jensen glaubt: «The fundamental motif is not joy over the reunion of lovers nor sedness over their parting, but rather variations on the romaria theme of the disloyal lover and the prazo saido».216 Für eine solche Deutung spricht in der cantiga von Dom Denis {A d, 3} auch der betonte Zorn («ira» V, 3; «sanha» VI, 3) des Mädchens, wobei das Lexem sanha spezifisch als «ira ou arrufo (entre namorados)»217 zu verstehen ist. Die Insistenz aber, mit der der rei trovador das Schlüsselwort alva gebraucht, deutet auf eine bewusste Anspielung auf die alba- und alborada-Tradition hin. Die Umdeutung der Thematik ist ein Hinweis auf die Originalität des Dichters, denn er kreiert mit seiner cantiga, in Anlehnung an Pero Meogo, wie auch Brea betont, «un producto totalmente novedoso y, por la misma razón, resistente a cialquier intento de clasificación».218

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Cf. Dronke 1977, 107: «In vielen galicischen Liedern sind die Hindinnen (cervas) symbolisch die Vertrauten des verliebten Mädchens, als seien sie die Verkörperung alles Ungezähmt-Scheuen und Leidenschaftlichen in deren eigenem Wesen». Zur Metaphorik des cervo in den Liedern Pero Meogos cf. Lorenzo Gradín (1990, 249–252). Brea 21999, II, Nr. 134, 2. Jensen 1978, 76. Brea/Lorenzo Gradín 1998, 125. Jensen 1978, 76. Nunes 1973, III, 680. Brea 2002, 41.

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Neben thematischen Variationen und Gattungszitaten, die in neue Kontexte gebracht werden, kennt die galego-portugiesische Lyrik eine frühe Parodie der alba, wie sie die in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s entstandene Komposition Maria Genta, Maria Genta da saya cintada {A d, 8} von Roi Paez de Ribela zeigt. Diese cantiga de escarnho spielt formal und thematisch an die alba-Dichtung an. Sie zeigt das charakteristische alva im Refrain219 und – so Barbieri – «ricalca il noto parallelismo»,220 eine Form, die allen galego-portugiesischen alba-Variationen gemeinsam ist. Ob der trovador das Lied Levad’, amigo que dormides as manhãas frias {A d, 4} von Nuno Fernandez Torneol kannte, ist ungewiss, dass er aber mit dessen Dichtung vermutlich vertraut war, zeigt, so Barbieri, die «coincidenza metrica delle strofe II–III»221 mit der cantiga Dizede-m’ora, filha, por Santa Maria von Nuno Fernandes Torneol. Die metrische Übereinstimmung der beiden cantigas ist im gesamten Korpus der galego-portugiesischen Lyrik einzigartig.222 Möglich ist ferner, dass Roi Paez de Ribela die okzitanische albaDichtung kannte, denn er war «poeta coevo di Alfonso X e frequentatore della sua corte».223 So kann er neben der religiösen alba des kastilischen Königs auch das als metrische Vorlage gebrauchte Tagelied Cadenets gekannt haben.224 Ähnlich wie auch die übrigen cantigas, die um die alba-Thematik kreisen, zeigt auch dieses Lied eine auffällige Polysemie von alva. Während aber die cantigas de amigo positive oder neutrale Semantik von alva favorisieren, könnte für diese Parodie – worauf Barbiero hinweist – der pejorative Gebrauch einiger Derivate von alva im Galego-Portugiesischen, wie alvanária, alvarenga oder alvariada «nel significato peggiorativo di ‹mulher sem propósito›, ‹estouvada›, ‹leviana›»225 für die Deutung des hier präsentierten alva-Konzepts von Interesse sein. Zum Figureninventar des «osceno spettacolo da ‘orto priapeo’ che l’alva è chiamata a illuminare»226 gehören nämlich Maria Gente und deren Freundin, die wohl als soldadeiras227 zu verstehen sind, eine Bezeichnung, die in den cantigas de escarnho e de maldizer gewöhnlich synonym zu prostituas gebraucht wird.228 In diesem Zusammenhang lässt auch das Attribut «da saya cintada» (I, 1) parodistische Absicht erkennen, da Termini wie cinta, touca oder corda in den cantigas de amigo als Symbol der 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228

Cf. dazu Jensen (1978, 79) und Brea (21999, I, 27). Barbieri 2006, 151. Ibid. Cf. Barbieri 2006, 151/Anm. 8. Barbieri 2006, 161. Barbieri (2006, 162) weist in diesem Zusammenhang auf die ada-Reime hin, die sowohl bei Cadenet als auch bei Roi Paez de Ribela begegnen. Barbieri 2006, 158. Barbieri 2006, 150. Cf. Michaëlis de Vasconcellos 1980, II, 390. Cf. Lacarra Lanz 2002, 79. Zahlreiche mittelalterliche Quellen zeigen die Gleichsetzung von Spielfrauen und Prostituierten. Dass es im Umfeld der Spielfrauen sexuelle Dienstleistungen gegen Entgelt gegeben hat, ist belegt, die Verallgemeinerungen der Quellen weisen aber auf eine Diskriminierung hin, die mit der Randposition der Musikerin im sozialen Gefüge der mittelalterlichen Gesellschaft zu erklären ist.

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«casta fedeltà d’amore»229 galten, während die evozierte Szenerie der cantiga von erotischen Anspielungen und sexueller Symbolik bestimmt wird. Das Problem, das Jensen noch in der Frage sah, «how to interpret the theft of cevada and avͅa»,230 beantwortet Barbieri mit seiner Deutung der «gran cӁa» (III, 1) mit cevada, ceveyra und «avӁa» (III, 2) als «processo metaforico ‘erotico-alimentare’».231 Und auch die Verben maer und albergar können als erotische Metaphern für copular verstanden werden. Barbieri weist dabei auf die lateinischen Ausdrücke noctem manere, noctem locare oder noctem promittere hin, die in der Liebeslyrik begegnen und deren Semantik ins Galego-Portugiesische übergegangen ist.232 In seiner Vieldeutigkeit erscheint das Konzept der alva in dieser cantiga im gewissen Sinne mit der Morgenröte verwandt, die das Liebesspiel der fins drutz der okzitanischen Lieder aufzudecken droht. Der Refrainvers «Alva, abríades-m’ alá!» (Morgenröte, leuchtet mir dort/vertraut es mir an!) 233 könnte so als Parodie auf den Wächterruf verstanden werden. Während die gayta-Figur – und insbesondere in der Komposition von Cadenet {A b, 10} – betont, dass ihr Ruf nicht unhöfischer Liebe gelte, verkündet der Dichter im gewissen Sinne «il sorgere del giorno ai suoi ‘cortesi’ personaggi, soldadeiras e rapazes».234 5.1.2.2. Cossirs: Die einsamen Klagen Unter der Bezeichnung contre-alba – nach de Riquer «sin duda [un] término poco feliz»235 – wird in der Forschungsliteratur in der Regel eine Gruppe von okzitanischen Liedern subsumiert, die eine spezifische Anknüpfung an das Gattungsschema der alba zeigen. Nach Rieger stellen diese Lieder eine «Korrektur der Gattung in Richtung auf den – in der Alba aufgehobenen – Spannungszustand»236 der canso dar. Poe hingegen betont vor allem die Umkehrung des Gattungsschemas und die in der contre-alba vollzogene Abstraktion der Liebesthematik: «Generally speaking, the disparity between the alba and the counter-alba corresponds to a movement from the concrete to the abstract. Possession yields to deprivation; presence to absence».237 Während über die Bezeichnung der Kompositionen {A b, 9} und {A b, 13} als contre-albas relativer Konsens besteht,238 wird der serena von Guiraut Riquier {A b, 14} häufig ein Sonderstatus verliehen, wie in der Antholo-

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Barbieri 2006, 152. Jensen 1978, 79. Barbieri 2006, 155. Cf. Barbieri 2006, 153. Wir folgen hier der Deutung des Verses durch Barbieri (2006, 158), der das Ritornell mit «Alba, fatemi luce laggiù» übersetzt und darin eine «allusione al luogo dove si è consumato l’allegro incontro notturno di soldadeiras e rapazes» sieht. Barbieri 2006, 163. Riquer 1944, o. S. [4]. Rieger D. 1971, 229. Poe 1984b, 267. Cf. dazu Kap. 2.1.3.

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gie von Gouiran, in der sie separat aufgeführt wird.239 Chaguinian schließt sie in seiner Sammlung okzitanischer albas aus dem Gattungskonzept sogar aus240 und zweifelt den Typus der contre-alba als solchen an, indem er die Lieder von Uc de la Bacalaria {A b, 9} und Guiraut Riquier {A b, 13} als «essais individuels, indépendants d’un quelconque type, et dont les similarités sont fortuites»241 charakterisiert. Und doch sind die Gemeinsamkeiten der drei Kompositionen nicht von der Hand zu weisen. Nicht nur die beiden Umkehrungen der alba-Situation – {A b, 9} und {A b, 13} – die den Tag als gewollt herbeirufen, präsentieren die Klage eines einsamen Liebenden, in der die Tag-Nacht-Dichotomie das poetische Spiel motiviert. Auch die serena von Guiraut Riquier {A b, 14}, die schon Diez242 in die Nähe der alba-Thematik rückt, ist in diesem Kontext zu sehen. Aus dem iberischen Kulturraum fallen drei cantigas von Juyão Bolseyro {A d, 5–7} in dieses Schema der einsamen und intensiven Liebesreflexion und Klage, der in dieser Studie als cossirs bezeichneten Lieder. Die Tatsache, dass auch die Leys d’Amors243 der bis heute in der Forschungsliteratur kaum diskutierten cossir-Idee der Trobadordichtung wegen der spezifischen Thematik eine Gattung zuordnen, stützt zusätzlich die Wahl des Terminus zur Bezeichnung dieser Gruppe von Liedern. Und auch die Abschiedsthematik der alba klingt in diesen Kompositionen im gewissen Sinne nach, denn auch hier ist der – allerdings bereits erfahrene – Mangel, «a ausencia do namorado»,244 den auch Brea und Lorenzo Gradín hervorheben, zentral. Die Poetik der cossirs steht, wie Ovid in seinen Fasten betont, am Anfang der Liebesdichtung, denn «primus amans carmen vigilatum nocte negata/dicitur ad clausas concinuisse fores».245 Ganz im Sinne einer Umkehrung des alba-Spiels ist die Komposition Per grazir la bon’estrana {A b, 9} von Uc de la Bacalaria konzipiert, die sich selbst als Variation der alba versteht («Vuelh far alb’ab son novelh» I, 4).246 Ob es sich bei diesem cossir um das erste Beispiel dieses Schemas handelt, ist ungewiss.247 Die Thematik der vier coblas singulars der Ende des 12. oder Anfang des 13. Jh.s entstandenen und in zwei Handschriften248 überlieferten

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Cf. Gouiran 2005, 120–123. Cf. Chaguinian 2008, 32. Chaguinian 2008, 69. Cf. Diez 21883, 100. Cf. die Gattung cossir bei Molinier (Leys d’Amors, I, 348). Brea/Lorenzo Gradín 1998, 162. Ovid: Fasti IV, 109s. (Übers.: Ein Liebender, den seine Geliebte nachts nicht einließ, soll als Erster ein nächtliches Liebeslied gesungen haben). Cf. dazu die konträre und wenig überzeugende Argumentation von Chaguinian (2008, 234), der feststellt, dass es nicht richtig sei, in dieser Komposition «le résultat d’un jeu sur l’horizon d’attente de l’alba de séparation» zu sehen, vielmehr sei das Lied «avant tout une variation sur la canso». Mit diesem Statement lehnt sich Chaguinian an Riquer (1944, o. S. [5]) an. Cf. dazu Riquer (1944, [4s.]), der trotz der wenigen Beispiele dieser thematischen Variante einen «mayor cultivo» derselben vermutet und gleichzeitig nicht an eine innovative Leistung von Uc de la Bacalaria glaubt, ohne diese Annahme jedoch zu begründen. Hs. C, fol. 379v (Huc de la Bacallaria) und R, fol. 99v (G. de la Bacalaria).

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Komposition wird durch den Refrain verbunden, in dem der Tagesanbruch und das Ende der Nacht herbeigesehnt werden: Dieus, qual enueg Mi fay la nueg, Per qu’ieu dezir l’alba. (Gott, welchen Kummer bereitet mir die Nacht, deshalb sehne ich die Morgenröte herbei.)

Zwei Gründe gibt das lyrische Ich in diesem Lied für das Dichten an: Es will die Dame loben («per grazir» I, 1) und die eigenen Liebesqualen lindern («per alleujar» I, 3). Der Vogelgesang («lo chan d’un auzelh» I, 6) wird – anders als in der erotischen alba – nicht als störend, sondern als wohltuend erlebt, denn er macht, ähnlich wie das Dichten, den Schmerz erträglicher («en que mos mals se refrena» I, 7). Nicht das Verb aïr wird hier mit dem alba-Zeitmotiv verknüpft, sondern die Verben querre (I, 8) und dezirar (Refrain). Nicht flüchtig erlebte Liebe motiviert die Klage, sondern die Sehnsucht nach dem joi. Ganz in der Tradition der salutz d’amor steht dabei der Vergleich der eigenen Liebe mit der berühmter Helden der Literatur (André de Paris,249 Floire, Tristan und Amile/II, 2s.) und mystifizierter Liebesdichter (III, 8s.).250 Die Macht der Liebe, der man sich nicht entziehen kann (III, 1s.) und gegen die es keine Mittel gibt (IV, 2), bestimmt den Liebenden in seinem Handeln und Denken. Die Kontemplation der Dame, die in die Nähe des songe érotique oder der consirar-Motivik rückt, wird höher gestellt als die adoratio Dei.251 Dass sich Guiraut Riquier bei der Komposition von Ab plazen {A b, 13}, seiner primeira alba que fes (C fol. 342r), von Per grazir la bon’estrana {A b, 9} inspirieren ließ, ist möglich, zumal nicht nur die Thematik und der Refrain (E dezir/Vezer l’alba.) an das Lied von Uc de la Bacalaria erinnern, sondern auch die Form des Lieds (vier coblas singulars mit Refrain). Die Komposition ist nach Angabe der Handschrift 1257 entstanden und führt als ältestes Glied die Trias252 der alba-Variationen von Guiraut Riquier an. Die Klassifizierung des Lieds als «‘anti-aube’ ou ‘pseudo-aube’» begründet Rieger

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Cf. Chaguinian 2008, 238: «André de Paris ou de France est le héros d’un roman perdu, mais souvent cité par les troubadours […]. Il serait mort d’amour pour une reine de France». Cf. Chaguinian, (2008, 241), der vermutet, dass es sich bei den Versen III, 8s. um eine Anspielung auf Jaufre Rudel handelt: «puisque Rudel légendaire avait, dès le Moyen Age, intégré le panthéon des amants illustres». Cf. Rieger D. 1990, 500: «depuis qu’il est amoureux, le poète ne peut plus réciter le Pater, il s’arrête avant même d’avoir prononcé les mots in coelis». Darauf, dass die drei alba-Dichtungen von Guiraut Riquier bewusst als ‘Trias’ konzipiert waren, weisen intertextuelle Bezüge dieser Lieder hin. So ist die erste Strophe von Qui velha ses plazer (Chaguinian 2008, 327ss.) nach dem Thema von Ab plazen {A b, 13} angelegt. Ohne Kenntnis dieses Lieds mag es erstaunen, weshalb man, wie Qui velha ses plazer formuliert «l’alba deu dezirar» (I, 3).

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mit dessen Thematik, die er im weitesten Sinne als Umkehrung, als «inversion de la thématique de l’aube», versteht: «l’amant désire et attend l’arrivée de l’aube, qui le délivera des cauchemars et des préoccupations amoureuses causées par sa solitude».253 Der Liebende schildert seine einsame Sehnsucht als qualvolle Liebespein, die in tautologischer Betonung klassische Symbole der Liebeskrankheit (I, 7s.) zeigt. Die Liebe wird in diesem cossir durch Antithesen (I, 1–6) als paradoxes Konzept evoziert – «plazen/pessamen/amoros» (I, 1ss.) – in dem aber das Leiden überwiegt: Was zurückbleibt, ist ein betrübtes Herz («cor morn» II, 6). Die Klage über den «loncs sers» (III, 2) und die gran nueg (IV, 3), die das remirar (IV, 7) unmöglich machen, erinnert an den entgegengesetzten alba-Wunsch nach Verlängerung der Nacht. Was hier besungen wird, ist die Erfahrung des Mangels, der durch die repetitive Präposition ses der dritten cobla, die phonetisch an sers anknüpft, auch rhetorisch hervorgehoben wird: Mals sabers Es loncs sers Per velhar Ses plazers, E jasers Ses pauzar E ben amars ses jauzir

(III, 1–7)

(Unerfreulich ist der lange Abend, da man ohne Freuden wacht und liegt, ohne sich zu erholen, und aufrichtig liebt ohne Liebesfreude. Deshalb wache ich am Abend und seufze, und ich wünsche, die Morgenröte zu sehen.)

Die Erfahrung des Mangels motiviert einen weiteren cossir aus der Feder von Guiraut Riquier, der eine Klage des Liebenden über Entbehrung und Einsamkeit präsentiert. Rieger fasst die Thematik von Ad un fin aman fon datz {A b, 14} folgendermaßen zusammen: «l’amant attend le soir du rendez-vous que sa dame lui a donné et maudit le jour et la longue attente qui lui font craindre de mourir avant le rendez-vous».254 Einsamkeit und Sehnsucht motivieren den Gesang. Nicht nach dem Tag, sondern nach der Nacht sehnt sich der Liebende, was die Refrainverse deutlich zum Ausdruck bringen: Jorns, ben creyssetz a mon dan, e·l sers auci·m e sos loncx espers. (Tag, Ihr zieht Euch zu meinem Unglück in die Länge, und der Abend tötet mich mit dem langen Warten.)

Bis auf die Umkehrung der Zeitmotivik im Vergleich zu den beiden besprochenen cossirs ({A b, 9} und {A b, 13}) zeigt auch dieses Lied, das als Unicum in der Rubrik der Hs. C (fol. 342v–343r) überliefert ist und auf 1263 datiert wird, eine analoge Thematik. Interessanterweise besteht auch diese Komposition aus vier co253 254

Rieger D. 1990, 498. Ibid.

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blas unissonans und weist einen Refrain auf. Die Gattungszuweisung serena, die die Handschrift tradiert, leitet sich von dem Refrainwort (sers) ab – ein formales Charakteristikum, das analog zum mot-refrain alba zu sehen ist. Im narrativen Stil werden hier die Leiden des «fin aman» (I, 1) geschildert, der seinen «respiegz d’amor» (I, 2) nicht erwarten kann und am Tage «pessius» und «sospiran» (I, 5s.) voller Sehnsucht klagt und seine Tränen («plor» III, 4) und seinen Schmerz («dolor» III, 2) vor niemandem verstecken kann. Die Furcht («gran temor» II, 4) des Liebenden, die in der erotischen alba dem gelos oder den lausengiers gilt, wird hier in einer ironischen Wendung zur Angst des Liebenden, er könnte noch vor der Erfüllung des Liebesglücks sterben. Die Wirkung der Szenerie, die wie ein Vorspiel zur erotischen alba anmutet, wird durch die Kenntnis der typischen Tageliedsituation zusätzlich intensiviert.255 Das intertextuelle Spiel macht die Poetik der okzitanischen cossirs aus. Während die galego-portugiesische Poesie keine getreuen Imitationen der okzitanischen Variante der erotischen alba kennt, erinnern drei cantigas von Juyão Bolseyro {A d, 5–7}, die «variaciones del mismo motivo»256 darstellen, an das Schema der als cossirs bezeichneten Gruppe von Trobadorliedern. Juyão Bolseyro, der «joglar provavelmente galego, activo no terceiro quartel do século XIII»,257 macht die Reflexion von Einsamkeit, Liebesschmerz, sehnsüchtigem Hoffen und die Qual der schlaflosen Nächte der amigas zum Thema seiner Lieder. Zwar wird die Erfahrung des Mangels verbunden mit dem Motiv der schlaflosen Nächte immer wieder in den cantigas de amor thematisiert,258 doch zeigen die cossirs von Juyão Bolseyro – so Brea – «un tratamiento bastante original»,259 da darin zusätzlich die Tag-Nacht-Dichotomie zum zentralen Merkmal erhoben wird. So durchzieht die Reflexion des subjektiven Zeitempfindens je nach der Situation der Einsamkeit oder Zweisamkeit schon die erste Strophe von Da noyte d’eyre poderam fazer 260 {A d, 6}: Da noyte d’eyre poderam fazer grandes tres noytes, segundo meu sen; mays na d’oje mi vӁo muyto ben: ca veo meu amigo, e, ante que lh’envyasse dizer ren, veo a luz e foy logo comigo.

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Cf. Rieger D. 1971, 230: «Hier ist der Spannungszustand der höfischen Liebe zwischen Begehren und Erfüllung wieder voll rekonstituiert, ja die dem Vorverständnis des Trobadors präsente Gattung der Alba mit ihrer realisierten Liebeserfüllung intensiviert ihn noch». Brea 2002, 34. Indini 1993, 367b. Cf. z. B. Vivo coitad’ en tal coita d’amor von Vasco Rodriguez de Calvelo (Brea 21999, II, Nr. 155, 13). Darin bilden die coita d’amor (I, 1) und die Erfahrung der schlaflosen einsamen Nächte («Vivo coitad’ e sol non dôrmio ren»/II, 1) den thematischen Kern. Brea 2002, 34. Das Lied ist in zwei Hs. überliefert: B 1166, fol. 249r–v und V 772, fol. 121v.

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(Aus der gestrigen Nacht hätte ich, so glaube ich, drei lange Nächte machen können, aber in der heutigen erging es mir gut, denn mein Freund ist hergekommen und bevor ich ihm etwas sagen konnte, ist das Licht gekommen und war dort mit mir.)

Während die einsamen Nächte endlos zu sein scheinen (I, 1s.), sind die Liebesnächte mit dem amigo stets zu kurz (I, 5s.), denn das Licht überrascht und trennt die Liebenden wie in der typischen alba-Szenerie. Zwar dominiert die Klage über die Kürze der gemeinsamen Nächte das Lied, doch zeigt die Komposition einen Umschwung in der dritten Strophe, der sich in einem expliziten Ausdruck von Freude entlädt («e faland’eu con el a gran prazer» III, 5). Gewiss begegnet die «felicità per la presenza dell’amato»261 auch in den ersten beiden coblas (I, 4/II, 4), doch folgt auf diese Verse – anders als in der dritten Strophe – die Desillusion der erzwungenen Trennung. Angesichts des thematischen Bruchs ist eine Polyvalenz des Lexems luz möglich, das ähnlich wie alva einerseits im literalen Sinne als Licht und Zeichen für den Tagesanbruch zu verstehen ist und andererseits zur Metapher des Geliebten werden kann – ein Gedanke, der durch die Popularität der Lichtmetaphorik in der iberischen Poesie zusätzlich gestützt wird.262 Während also das Licht (luz) der ersten beiden coblas zur Chiffre der Trennung wird, kann luz – ähnlich wie das charakteristische lum der cantigas – als Metapher für den Freund stehen. Wilson interpretiert die Refrainverse aller Strophen in diese Richtung, wenn er «e foi logo comigo» mit «er [d. h. der Freund] war dort mit mir»263 übersetzt, er weist aber auch auf die Möglichkeit der wörtlichen Übersetzung hin.264 Eine solche homogene Übersetzung verkennt aber den thematischen Bruch. Das als unbeschwert dargestellte Verweilen des Freundes (III) könnte als imaginiertes oder erträumtes Bild gedeutet werden, worauf auch die Analogie zwischen dem Nachdenken («cuydar» III, 1) der amiga und dem sich Hinziehen («crecer» III, 2) der Nacht hindeutet. Und das falar, das die vereinten Liebenden «a gran prazer» (III, 5) genießen, kann in diesem Zusammenhang durchaus als erotisch konnotiert gedacht werden.265 Auf eine analoge Polyvalenz des Schlüsselbegriffs luz in den Refrainversen von Sen meu amigo manh’eu senlheyra {A d, 5}266 von Juyão Bolseyro weist schon Dronke267 hin: Mays, se masesse con meu amigo, a luz agora seria migo. (Aber wenn ich mit meinem Freund zusammen wäre, dann wäre das Licht gleich mit mir.)

Der Refrain kann hier sowohl als Angst vor dem Licht als auch als Sehnsucht nach dem Licht gedeutet werden. Als Verlangen nach luz, und somit nach dem Freund, werden die Verse von Brea interpretiert: 261 262 263 264 265 266 267

Juyão Bolseyro, 262. Cf. dazu Kap. 3.1.3. Cf. Wilson 1965, 326. Cf. ibid./Anm. 17. Cf. Brea/Lorenzo Gradín 1998, 75/Anm. 32. Überliefert ist die cantiga in den Hs. B 1165, fol. 249r und V 771, fol. 121v. Cf. Dronke 1977, 201.

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«cuando el amigo está a su lado, las noches le parecen muy cortas a la muchacha enamorada, poque su amado es la luz para sus ojos; en contrario, si él está ausente, ella se siente inmersa en la oscuridad de las noches más largas del año».268

Die «amiga senlheyra» (I, 1) fleht Gott um ihren Geliebten an, damit jener als personifiziertes Licht (luz) die Dunkelheit ihrer Einsamkeit erhellt. Die Deutung von luz allein als Zeichen für den Tagesanbruch wiederum bringt die Thematik stärker in die Nähe der Tageliedszenerie. Wie in Da noyte d’eyre poderam fazer {A d, 6} zieht sich die einsame Nacht dahin (II, 1ss.) und weder das Licht noch der Tag erscheinen («non ven [a] luz, nen pareç’o dia» II, 4). Sehr zum Ärger der amiga schenkt Gott der einsamen Liebenden nur «noites d’Avento» (IV, 4),269 während der Tag stets zu rasch anzubrechen scheint, wenn die Liebenden zusammen sind. Dass die einsam verbrachte Zeit als verlorene Zeit verstanden wird, macht ein anderes Lied von Juyão Bolseyro deutlich.270 Auch in Aquestas noytes tan longas271 {A d, 7}, der letzten der drei cantigas «dedicate alla notte»,272 klagt die amiga coitada (II, 2) Gott an, die langen einsamen Nächte «en grave dia» (I, 2) erschaffen zu haben. Mit der Frage, weshalb Gott die einsamen Nächte lang macht, während er der nächtlichen Zweisamkeit zu rasch ein Ende setzt, formuliert die amiga die topische und der Realität enthobene Anklage der Liebesdichtung aller Zeiten. Dabei wird die Kürze der nächtlichen Liebesfreuden auch hier in einen scharfen Kontrast zu den einsamen Nächten gestellt, die als «tan longas» (I, 1), «tan grandes» (II, 1/III, 1) und sogar «sen mesura desiguaaes» (III, 2) bezeichnet werden. Die coita wird zum Movens der Klage und somit zum Katalysator der Dichtung. Ein guter Dichter macht Verse, die das Herz bewegen, weiß Juião Bolseiro in Fez hunha cantiga d’amor273 zu betonen, und mit den drei cantigas {A d, 5–7}, in denen er, so Jensen, «of a […] intimate love, of long and lonesome nights»274 singt und die Thematik zu variieren versteht, beweist er, dass er diesem Anspruch gerecht wird. Die Tatsache, dass diese Lieder die einzigen cossirs der galego-portugiesischen Lyrik darstellen, zeugt zudem von der «true originality» von Juião Bolseiro, über die sich die Forschungsliteratur unisono einig ist, wie die Herausgeberin der fünf268

Brea 2002, 34. Cf. dazu auch Brea (2006, 369). Zur Deutung der «noites d’Avento» (IV, 4) cf. die Überlegungen von Dronke (1977, 201): «Der wiederholte Kontrapunkt von Licht und Dunkelheit gewinnt an Intensität und führt zu dem Schlußgebet, in dem das Wort avento das Spiel der Gegensätze auflöst: die Nächte des Advents sind die längsten des Jahres, in denen die Qual des Wartens am drängendsten ist. Doch sie sind auch Vorbereitung auf das darauffolgende Fest der Freude […]». 270 Cf. die cantiga Ay mha senhor, todo ben mh-a mi fal (Juião Bolseiro, Nr. XVIII). 271 Überliefert ist die cantiga in den Hs. B 1176, fol. 251r und V 782, fol. 123r. 272 Juião Bolseiro, 243. 273 Juião Bolseiro, Nr. XI/I, 4ss.: Mays como x’é muy trobador, fez hunhas lírias no son que mi sacam o coraçon. (Weil er ein großer Dichter ist, macht er Verse mit Melodien, die mein Herz erzittern lassen.) 274 Jensen 1978, 178. 269

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zehn überlieferten cantigas des joglar betont: «La felice originalità espressiva e tematica delle ‘cantigas d’amigo’ di Bolseyro trova d’accordo tutta la critica».275

5.2. Romanische Traumlieder Ähnlich wie die alba stellt auch der somni eine primär thematisch definierte Gattung dar. Das in der Doctrina276 geforderte Kriterium der Begrenzung der Strophenzahl auf fünf oder sechs coblas wird durch das untersuchte Textkorpus nicht bestätigt. Dagegen zeigt der somni aber ein charakteristisches Merkmal strukturierender Art, das mit Regelmäßigkeit auftritt: einen als rhetorische Klammer konzipierten Rahmen mit stereotypen Formeln zu Beginn und vereinzelt auch am Ende eines somni,277 den Grimaldi in seiner knappen Gattungscharakterisierung zu den «caratteristiche morfologiche»278 zählt. Formeln wie en durmen/en somnian, can dormia, un sognie qu’ieu sognava und «verbi legati alla sfera visiva»,279 wie beispielsweise en durmen vezia, leiten den für die Gattung zentralen Traumbericht ein. Geschlossen wird der Rahmen bisweilen durch das Erwachen oder den «ritorno del pensiero alla realtà»,280 worauf eine emotionale Reaktion auf das Traumbild oder eine Reflexion über dessen potentielle Bedeutung folgen kann. Die rhetorische Klammer muss dabei nicht den Beginn und das Ende der Komposition markieren. Lebt die romanische alba-Dichtung in erster Linie aus thematischer Variation, so gilt diese Feststellung ebenso für den somni . Die vielfältigen Realisierungsmöglichkeiten der Traumdichtung sind als Reflex der im Mittelalter vielschichtigen Traumdeutungsmuster und Traumtypologien zu verstehen und bieten so einen Einblick in das implizite – wenn auch nicht konturierte – Bewusstsein von Traumtypen, das sich in der Lyrik spiegelt. Interessant sind die somnis, die nicht nur einen Traum darstellen, sondern ihn als Phänomen kommentieren oder diskutieren, denn solche reflektierenden Einwürfe bereichern zusätzlich den Einblick in das mittelalterliche Traumverständnis. Gewiss ist es müßig, nach einem allgegenwärtigen philosophischen Modell zu suchen, das den poetisierten Träumen Pate gestanden haben mag. Fischers Diktum von der Übertragbarkeit der macrobischen Klassifizierung auf die Dichtung281 unterstellt den mittelalterlichen Autoren ein

275 276

277 278 279 280 281

Juião Bolseiro, 242. Razos de trobar, 97, v. 75ss. Auch die Behauptung von Marshall, die Doctrina stütze sich bei ihrer somni-Definition auf das Traumlied von Cerveri de Girona {S b, 10} wird unter Berücksichtigung der formalen Charakterisierung hinfällig. Analog werden auch in den Romanen der Zeit Traumschilderungen durch einen entsprechenden Rahmen strukturiert. Cf. als prominentestes Beispiel den Rosenroman. Grimaldi 2008, 9. Ibid. Ibid. Cf. Fischer 1978, 22: «using the Macrobian classifications, one can successfully specify the scope and nature of almost all dreams in medieval literature».

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«Typenbewusstsein»,282 das trotz der auctoritas, die Macrobius im Mittelalter genoss, sicher die Realität verfehlt. Als «grobes Raster»283 kann die von Macrobius vorgeschlagene Klassifizierung, die in gewisser Weise eine Synthese darstellt und die wichtigsten Konzepte der noch im Mittelalter gültigen Traumdiskussion abbildet, jedoch beansprucht werden. Mithilfe eines solchen Rasters kann die Vielfalt der Traumarten – wenn auch hypothetisch und idealisiert – geordnet werden. Nicht die Terminologie des Macrobius ist dabei von Bedeutung, zumal die Termini zur Bezeichnung von Traumformen im Mittelalter lexikalisch gar nicht festgelegt waren.284 Wichtig ist vielmehr die von dem spätantiken Philosophen entwickelte systematische Unterscheidung der Traumformen. Vier Traumarten, die zum Teil den von Macrobius charakterisierten Traumtypen entsprechen, können in der mittelalterlichen Lyrik der Romania grob unterschieden werden: 285 somni-Dichtungen der Romania Realisierung der Traumform (Traum als gattungsstiftender Rahmen; ‘rhetorische Klammer’)

(Teil-)Entsprechung im Klassifizierungsmodell des Macrobius

allegorischer Traum (inklusive Traumdeutung)

somnium

Vision (von Gott, Amor, der Dame oder Personifikationen) und Debatte (disputatio in somnio 285)

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erotischer Traum (bzw. Liebestraum)

insomnium

Wachphantasie

visum

Ist das divinatorische somnium in mittelalterlichen Epen und Romanen die populärste Traumform, da sie die Handlung antizipierend kommentieren, strukturieren und implizit Figurencharakterisierungen und Einblicke in die Figurenkonstellationen liefern kann, so konzentriert sich das lyrische somnium im 12. und 13. Jh. in der Romania allein auf den okzitanischen Kulturraum. Dabei entsprechen die überlieferten somnia weitgehend der von Macrobius in seinen Commentarii vorgelegten Definition.286 Allegorische Träume stellen bunte Tableaus dar und schöpfen dabei hauptsächlich aus dem Symbolfundus der Flora und Fauna. Solche 282 283 284

285 286

Zur Kritik von Fischers Ansatz cf. Haag (2003, 26). Cf. eine ähnliche Beurteilung in Bezug auf die Träume der Figuren Shakespeares bei Hammerschmidt-Hummel (1992, 23). Zur Problematik und Uneindeutigkeit der Terminologie cf. die Untersuchung von Schalk (1966) und die Bemerkungen von Braet (1975, 63). Cf. z. B. auch die variierende und synonyme Bezeichnung der Traumformen bei Guibert de Nogent – der allerdings vor der Wiederentdeckung der von Macrobius entwickelten Traumtypologie schrieb (cf. Schmitt 2001, 272). Für ein literarisches Beispiel einer bewussten Reflexion der terminologischen Problematik cf. Chaucers Vorwort von The House of Fame, in dem die Schwierigkeit der Abgrenzung von avision (I 7), revelacion (I 8), drem, sweven (I 9), fantome und oracles (I 11) reflektiert wird. Cf. dazu Haag (2003, 42). Um die Traumart von der macrobischen visio abzugrenzen, wird hier der Terminus vezio (Leys d’Amors, I, 348) nicht gebraucht. Cf. Macrobius a): Commentarii I, 3, 10.

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somnia werden – wie schon bei Macrobius und anders als die «cura interpretationis indigna»287 insomnia und visa – als verschlüsselt verstanden und gehen daher eine feste Verbindung mit der explicatio somniorum ein, die primär als Fremdanalyse realisiert wird. Die von Macrobius vorgelegte Unterscheidung zwischen den fünf Formen des somnium (proprium, alienum, commune, publicum und generale)288 bietet ein nützliches Modell für eine nähere Charakterisierung der lyrischen Traumbilder. Während die von Macrobius definierte Kategorie der somnia eine Entsprechung in der Lyrik findet, sind die in der antiken Literatur beliebten oracula289 in der Poesie der Romania nicht produktiv. Ähnliches gilt für visiones290 im Sinne Macrobius’. Was in dieser Untersuchung als disputatio in somnio bezeichnet wird, ist die Erscheinung einer Person oder einer Personifi kation im Traum, die zu einem Dialog mit dem Träumenden führt. Diese Traumform zeigt nur selten divinatorischen Charakter und fungiert in der Regel deutlich als Spiegel der Selbstreflexion. Neben Amor-Erscheinungen überliefert die romanische Lyrik apparitiones von Gott, der Dame und Personifikationen. Nicht die von divinatorischen Träumen abgeleiteten Formen der nächtlichen Bilder werden jedoch in der Lyrik bevorzugt dargestellt, sondern die von Macrobius abgewerteten auf psychophysische Ursachen zurückgeführten Traumtypen, was auf eine Verlagerung der Interessen von der primär divinatorischen hin zur psychologischen Traumdeutung hinweist. Eine solche Schwerpunktsetzung, die die Psychologizität von Träumen fokussiert und sie primär als Spiegel von Wünschen, Hoffnungen und Ängsten versteht, ist in der Lyrik besonders auffällig291 und tritt ab dem 12. Jh. immer stärker hervor.292 Diese Feststellung spricht der mehrfach betonten Tatsache das Wort, dass die Literatur des 12. und insbesondere des 13. Jh.s eine immer stärker werdende Tendenz zur Verinnerlichung, Subjektivität und Psychologisierung293 zeigt. Neben den immer wieder thematisierten Figuren des Narziss und des Pygmalion wird in der Literatur dieser Zeit auch der Spiegel zum beliebten Mittel für Reflexion des «birth of self-consciousness».294 Die fingierte Innenschau der Traumdichtung reiht sich in diese Tradition ein.295 Die Hervorhebung des Sub-

287 288 289 290 291 292

293 294 295

Macrobius a): Commentarii, I, 3, 3. Macrobius a): Commentarii, I, 3, 10s. Cf. Macrobius a): Commentarii, I, 3, 8. Cf. Macrobius a): Commentarii, I, 3, 9. Cf. Haag 2003, 65. Cf. Schmitt 2001, 303s.: «Au XIIe siècle, les rêves, pourrait-on dire, prennent corps, sont de plus en plus rapportés à la personne singulière du rêveur, à son existence concrète, à ses émotions propres, au sommeil dans sa réalité physique, au moins autant qu’à l’influence des anges et des démons». Cf. Schnell 1991, 395. Goldin 1967, 21s. Cf. Kruger 1992, 136: «This view of the dream vision as self-reflexive receives support from the striking and pervasive medieval association between dreams and the premier instrument of self-examination, the mirror. Calcidius treats dreams and mirrors side by side, including each within a larger discussion of the senses and of visual images. The Arabic philosopher Algazel explicitly associates true dreams with a process of

200

jekts als causa somniorum tritt besonders im Liebestraum oder erotischem Traum hervor, der bei Macrobius als Subform des insomnium verstanden wird. Der Liebestraum erfreut sich als literarischer Topos in allen Sprachräumen der Romania großer Beliebtheit. Hier entfaltet die Dichtung das Motiv des songe érotique zum tragenden Element und beschließt das Traumbild häufig mit dem desillusionierenden Erwachen.296 Mit der Betonung der Psyche als Movens der Traumbilder geht auch die Aufwertung psychisch bedingter traumähnlicher Zustände einher. In Anknüpfung an die in der Lyrik in Motivfunktion immer wieder thematisierte Trias aus consirar, remirar und trobar 297 wird die Thematik des Wachtraums, die bisweilen auch als Entrückung durch Inspiration dargestellt wird, zu einer spezifischen Realisierung des somni. Diese Traumform zeigt Berührungspunkte mit dem von Macrobius beschriebenen hypnagogen Zustand, der im Klassifizierungsmodell als visum298 bezeichnet wird. Selbstverständlich soll eine solche als Stütze konstruierte terminologische Differenzierung und Fixierung auf vier Traumtypen nicht die Undurchlässigkeit der Konzepte behaupten, denn Mischformen – zum Beispiel zwischen insomnium und visum – kommen immer wieder vor und verleihen den poetisierten Träumen eine dankbare Komplexität. 5.2.1.

Somnia: Allegorische Traumbilder

Mag Fischers Diktum vom somnium als «the most widely employed type of dream in medieval European literature»299 für die Epik gelten, so zeigt die Lyrik ein anderes Bild. Die romanische Poesie überliefert nur drei allegorische Träume, die in okzitanischer Sprache verfasst und in Südfrankreich respektive Norditalien entstanden sind: 300 Guiraut de Bornelh

No posc sofrir c’a la dolor {S b, 5}299

Guilhem de Saint-Didier

En Guillem de Saint Deslier, vostra semblanza {S b, 6}

Joan d’Albusson /Nicolet de Turin

En Niccolet, d’un sognie qu’ieu sognava {S b, 8}

296 297 298 299 300

mirroring. […] Nature in Jean de Meun’s Roman de la rose, follows her discourse on mirrors with a discussion of dreams. […] Often, mirror and dream serve as parallel or complementary modes of self-knowledge». Cf. Kap. 3.2.1. und 3.2.2. Cf. Kap. 3.2.4. Cf. Macrobius a): Commentarii, I, 3, 7. Fischer 1983, 10. Anders als in den übrigen Beispielen durchzieht in dieser Komposition die Traumthematik nicht explizit alle coblas, weshalb Grimaldi (2008, 9) die Gattungszuweisung für diskutabel hält. Zwar werden nur drei der neun coblas explizit von der zentralen Traumthematik berührt, doch stellen auch die Strophen I und V–IX einen indirekten thematischen Bezug zum Liedkern her. Das Traumbild fungiert somit als zentrales Element der Komposition, von dem aus die übrigen coblas zu verstehen sind.

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Diese drei Beispiele zeugen von den «possibilities for poetic variation»,301 die den somnia – so Fischer – innewohnen. Gemeinsam ist den Kompositionen der auch für Epen und Romane von Corbellari betonte «symbolisme animalier […] totalement prépondérant».302 Neben der Fauna ist die Flora eine willkommene Quelle für den Bilderschatz der lyrischen Träume. Die Vorliebe für Tiersymbolik geht gewiss auf die Tradition der Bestiarien zurück, die seit dem 5. Jh. in lateinischer Sprache bezeugt sind und Anfang des 12. Jh.s durch die volkssprachliche Übertragung von Philippe de Thaon auch in Frankreich Verbreitung fanden. Die Tiersymbolik der Bestiarien, die auf eine sakrale Deutung hinzielt, kann aber nur wenig zur Erhellung des Bilderschatzes der als Minneallegorien oder als Herrscherlob konzipierten lyrischen Träume beitragen. Und die erste weltliche Umdeutung der Symbolik, das beliebte Bestiaire d’amour von Richard de Fournival, ist erst Mitte des 13. Jh.s entstanden und muss für die ins 12. Jh. zu datierenden somnia als Quelle ausscheiden. Auch der vielversprechende Versuch der Dechiffrierung der einzelnen fiktiven Traumbilder mithilfe des Somniale Danielis – das Fischer als adäquateste Quelle für den Umgang mit poetischen somnia preist303 – liefert nur bedingt befriedigende Ergebnisse. Zu bedenken ist ferner, dass die Problematik der Auslegung selbstverständlich auch aus der Vieldeutigkeit der Symbolik resultiert. Der Umgang mit den allegorischen Träumen der Lyrik wird jedoch dadurch erleichtert, dass alle drei Beispiele, nicht nur verschlüsselte Traumbilder präsentieren, sondern auch eine partielle oder vollständige Deutung derselben bieten. Der manifeste Trauminhalt wird dabei dem latenten deutlich gegenübergestellt, wie später in dem wohl Ende des 13. Jh.s entstandenen altfranzösischen Dit de la Panthère aus der Feder von Nicole de Margival, in dem Amor die Rolle des Traumdeuters zukommt. Und auch in der Lyrik fungiert – ganz der mittelalterlichen Tradition folgend – nicht der Träumer selbst als Exeget, sondern eine zweite Figur, die um Auslegung gebeten wird. Dabei kann es sich um einen Vertrauten des Träumenden handeln, wie im somni von Guiraut de Bornelh {S b, 5}, in dem die Deutung durch den senhor und amic (II, 1s.) erfolgt, denn einem Freund, so das Lied, solle man von seinen Träumen berichten («C’a son amic lo deu hom dir» III, 2). Während diese Komposition die Exegese aus der Retrospektive wiedergibt, zeigen die dialogischen Lieder {S b, 6} und {S b, 8} eine Deutung in actu, in der im Wechsel auf eine Traumbild-cobla eine Auslegungsstrophe folgt. Ganz der im Mittelalter beliebten Instrumentalisierung von allegorischen Träumen als Herrschaftslegitimation304 verpflichtet erscheint die als Unicum305 tradierte Komposition En Niccolet, d’un sognie qu’ieu sognava von Joan d’Albusson und

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Fischer 1978, 22. Corbellari 2007, 61. Cf. MultilingSD, 9: «It is through the Somnia Danielis that these manipulated images, and with them often the poet’s intention, can best be identified and explained». Cf. Wittmer-Butsch 1990, 352. Hs. U, fol. 129r–130r.

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Nicolet de Turin {S b, 8}, die Bertoni als «preziosa, sebbene alquanto oscura»306 charakterisiert. Das Lied, das in den Repertorien (PC, BEdT)307 unisono ausgehend von der Form als tenso bezeichnet wird, besteht aus sechs coblas unissonans und zwei tornadas, in denen der somni eine deutliche Markierung als Herrscherlob – und zwar als «éloge de tout nouvel empereur Frédéric II»308 – zeigt. Die Intention der Autoren zielt nicht nur auf einen «poetic effect», sondern auch auf eine die Zeitgeschichte betreffende Wirkung und macht das Lied zum «case of hoping to control the (immediate) future by (re)writing the present».309 Die exakte Datierung des somni ist nicht unproblematisch, da Anspielungen auf historische Ereignisse darin sehr vage bleiben.310 Als gesichert gilt, dass das Lied nach dem 22. November 1220 zu datieren ist, da Friedrich II. darin als emperador tituliert wird. Strittig bleibt aber, ob das Lied entstanden ist, als Bonifatius II. von Monferrat noch zu den Gegnern Friedrich II. zählte, wofür beispielsweise Bertoni311 plädiert, oder eher erst nach der Schlacht von Cortenuova verfasst wurde, wie Paterson312 vorschlägt. Je nach gewählter Datierung ist der somni als eine auf die Zukunft gerichtete Propaganda für den Kaiser und indirekter Appell an Bonifatius II. von Monferrat, seinen Widerstand gegen den Kaiser aufzugeben, zu verstehen, oder aber als retrospektive Rechtfertigung, die einen mantischen Traum konstruiert, um vergangene Ereignisse als vorherbestimmt darzustellen. Der zweite Fall, und somit die späte Datierung auf 1238, erscheint wahrscheinlicher und macht dieses Lied zum politischen Statement. Konzipiert ist das Traumlied als somnium publicum im Sinne Macrobius’.313 Darin berichtet der um 1230 in Norditalien aktive Trobador Joan d’Albusson314 von einem Traum und bittet den italienischen trovatore Nicolet de Turin315 um dessen Deutung («Voil m’esplanez» I, 3). Die auctoritas des Interpreten kommt, so Paterson, durch das «honorific En (Sir) […] which suggests a difference of status»316 zum Ausdruck. Dabei wird der Traum als wundersam («maravillios» I, 2) und Furcht einflößend («molt m’espaventava» I, 3) näher charakterisiert. Protagonist des somnium ist ein Adler («aigla» I, 4), der sich während seines Flugs von Salerno Macht und Ansehen verschafft. Als edler Vogel ist der Adler im Somniale Danielis überwiegend positiv konnotiert, wie beispielsweise die folgende Somniale-Danielis-Deutung zeigt: «Aquilam su-

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Bertoni 1915, 62. Die BEdT beschreibt die Thematik der tenso näher als «commento ed esplicitazione di una visione notturna in sogno». Fabre 2006, 180. Paterson 2008, 3. Cf. Bertoni 1915, 63. Cf. ibid. Cf. Paterson 2008, 11. Macrobius a): Commentarii I, 3, 10s. Cf. Paterson 2008, 2. Nicolet de Turin ist 1220–1225 als Ritter im Dienst von Geoffrey de Biandrate bezeugt (cf. ibid.). Ibid.

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per se videre volare significat honorem».317 Diese positive Auslegung bestätigt auch die Exegese der Komposition: Der Adler steht für den Kaiser («emperador» II, 2) und der hohe Flug («volars tant aut» II, 3) wird als Bild für die «gran valor» (II, 4) ausgelegt, die dem Kaiser als «del tot segner» (II, 8) zuteilwird. Der windartige Atem des Adlers («tan grant aura» III, 1), so das folgende Traumbild, entfacht das Feuer eines lodernden («plena de foc» III, 5) Schiffes, das aus Köln kommt («una naus de Coloingna» III, 3). Erfährt das Feuer im Somniale Danielis stets eine negative Deutung,318 so steht es hier überraschend für den Schatz des Kaisers («tesaur» IV, 2), den jener nach Belieben vermehren und einsetzen kann, um das verbannte Heer der Deutschen (IV, 4), für die das Schiff steht, für sich zu gewinnen. Das Bild des Feuers erfährt in diesem Lied ambivalente Deutungen, wie die Auslegung in der sechsten cobla zeigt. Das Löschen des Feuers durch den Adler («l’amorzamentz del foc» VI, 1), das in der fünften Strophe thematisiert wird, wird nämlich als Symbol des Friedens («patz» VI, 2) ausgelegt, den der Kaiser nach seiner Rache bringen soll. Die Lichter, die der Adler auf Monferrat und andere Orte wirft, bedeuten Belohnungen («guierdon» VI, 5) für diejenigen, die sich dem emperador friedlich ergeben. Das letzte Symbol, der Adler, der sich in den Lüften («en l’aire/En tant alt luoc» V, 7s.) niedersetzt, um von dort die Welt («tot lo mond» V, 8) zu beobachten, verleiht dem Traumbild ein wirkungsvolles Ende und präsentiert den Kaiser als Weltherrscher («Qe·l mondz er pois toz a sa segnoria» VI, 8). Die Gegenüberstellung der manifesten Traumbilder und des latenten Trauminhalts erfolgt in der Komposition mithilfe der Verben significar, demostrar und semblar, die als bindende Glieder auf die Analogie verweisen. Besonders significar ist ein Verb, das immer wieder auch in der explicatio des Somniale Danielis begegnet. Ob hier aber eine Kenntnis der Deutungspraxis dieses Traumbuchs angenommen werden kann, bleibt unklar. Deutlich wird jedoch, dass der somni stark in der Tradition mantischer Träume der Antike steht und anders als viele fiktionale Träume des Mittelalters keine «awareness […] of the potential ambiguity and dangers of dreams and their interpretations»319 zeigt, wie Paterson betont. Anders als die auf ‘überindividuelle’ Wahrheiten zielende tenso von Joan d’Albusson und Nicolet de Turin sind die beiden anderen Traumlieder somnia propria im Sinne Macrobius’ und zeigen durch Kontextualisierung der Träume und Thematisierung der Subjektivität der Traumdeutung per se implizit ein reflexives Moment. So rückt neben den prophetischen Charakter des somnium in Ansätzen die Vorstellung vom Traum als Ausdruck innerer Konflikte des träumenden Subjekts. Sieht Schmitt in der mittelalterlichen Literatur «le lieu de la découverte et de l’approfondissement de la subjectivité»,320 so gilt diese Feststellung, wie Zink

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MultilingSD, 62. Cf. z. B.: «Ignem de celo cadere significat magna facienda.» oder «Incendia in somnis videre: pericula vite signat.» (MultilingSD, 70). Paterson 2008, 2. Schmitt 2007, 237.

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anhand der altfranzösischen Dits zeigen konnte,321 besonders für allegorische Werke. Häufig konstruieren literarische Texte Traumberichte nämlich so, dass sie einen Einblick in die Psyche des Träumenden erlauben, indem sie die Traumbilder kontextualisieren und mit Tagesresten verknüpfen. Durch dieses Verfahren zeigen die Traumdarstellungen deutlich, so Zink: «quelle que soit la vérité générale de la révélation allégorique, elle n’existe que par les accidents d’une subjectivité et les contingences du vécu».322 Eine solche Kontextualisierung begegnet in der «tenzone fittizia» (BEdT) des vor 1200 poetisch aktiven Guilhem de Saint-Didier {S b, 6}. Darin schläft das lyrische Ich «em bon esperanza» (I, 3) nach einem «salut d’un ver messatge» (I, 4) ein. Dieser Hinweis auf den Gemütszustand des Träumenden (Hoffnung) und die Situation kurz vor dem Einschlafen (Gruß durch den Boten der domna) bietet die Basis für die Interpretation des verschlüsselten Traums. Das Traumbild erweist sich somit als Spiegel der aufgrund der unmittelbaren Ereignisse des Wachlebens gehegten Hoffnung.323 Der somni von Guilhem de SaintDidier {S b, 6} bietet, so schon Kolb, «das wohl älteste überlieferte allegorische Minnegedicht in einer Volkssprache des Mittelalters»324 und ist als originelle325 Leistung des Trobadors zu verstehen. Diese frühe Minneallegorie im Bild eines belebten Gartens kann vielleicht sogar allegorische Dichtungen wie den Rosenroman, dessen Thematik sie – so Fabre – «avec vingt ans d’avance»326 im gewissen Sinne antizipiert,327 beeinflusst haben.328 Der Form nach ist das zweifach329 überlieferte Lied, das sich aus sechs coblas doblas zu je acht Versen zusammensetzt, eine fiktive Tenzone, die als explicatio somniorum realisiert ist.330 Dass dieses außergewöhnliche Lied nur in zwei Handschriften tradiert wurde, könnte mit der Verurteilung jeglicher Traumdeutung weltlicher Art durch die Kirche im 12. Jh.

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323 324 325 326 327 328 329

330

Cf. Zink 1985, 127–170. Zink 1985, 162. Cf. auch Zink 1985, 167: «Dans cette poésie, cependant, l’écriture ne se prétend jamais simultanée à l’expérience et à l’état de conscience supposés qu’elle décrit. Elle en conserve le souvenir. […] C’est sur cette distance que repose précisément tout l’effort réflexif et du même coup rétrospectif du poème, pour définir l’état de conscience du narrateur, rêverie ou rêve, pour retrouver les circonstances de l’endormissement et du réveil, pour saisir les relations entre les circonstances extérieures et la nature de la vision». Eine solche Kontextualisierung ist auch für die mittelalterliche Visionsliteratur charakteristisch; cf. Meneghetti (1986, 245). Kolb 1960, 361. Cf. auch Sakari (1986, 253). Cf. dazu die Beurteilung der dichterischen Leistung des Trobadors in der Edition von Sakari (Guillem de Saint Didier, 22). Fabre 2006, 141. Cf. dazu die Überlegungen von Kolb (1960, 364s.). Einen Ansatz zum allegorischen Liebesgarten findet man schon in Al departir del brau tempier von Marcabru (Marcabru, Nr. III). Überliefert ist das Lied in den Hs. a2 und Da, wobei Da nur die ersten beiden coblas tradiert. Hs. a2 überschreibt den somni mit «la tenzo d’en Guillem de Sain Leidier e d’una dona [!]» (cf. Kolb 1960, 361/Anm. 10). Cf. Guilhem de Saint-Didier, 22.

205

zusammenhängen.331 Durch das Wechselspiel aus Darlegung des Trauminhalts und Deutung stellt das Lied nämlich eine wahre clef des songes dar, die dem Trobador, der als Exeget bemüht wird (I, 1s.), gewiss die Reputation als Traumdeuter bei Nostradamus einbrachte.332 Dabei folgt die reiche Symbolik des somni einer Systematik, in der jedes Tier- und Pflanzensymbol auf eine bestimmte Idee verweist. Das bunte Tableau der Natur fügt sich so zu einem komplexen Sinnzusammenhang333 und macht die Komposition zu einem «frühen Bestiaire d’amour».334 Eröffnet wird das Lied durch eine für die Traumdichtung typische Formel – «somjava, can […]/M’adurmi» (I, 3s.) – und die Bitte um Auslegung («vostra semblanza/Mi digatz» I, 1s.) des «som leugier» (I, 2). Bereits die erste cobla bietet mit der Einführung des Liebesgartens das erste der drei dynamischen Traumbilder der Komposition. Präsentiert wird hier «un vergier plen de flors/ Frescas, de bellas colors» (I, 5s.), in dem ein heftiger Wind («venz isnels» I, 7) wütet, der die Harmonie des locus amoenus stört. Die Deutung des Bildes in der folgenden cobla hinterlässt kaum Leerstellen. Der Garten («vergiers» II, 3) steht als Rahmen und Kulisse für die Liebe335 («amor» II, 4), die Blumen («flors» II, 4) versinnbildlichen gemäß der Tradition336 Damen («domnas» II, 4), wobei das Attribut «d’aut paratge» (II, 4) auf die Höfischkeit der domnas verweist. Die Vielfarbigkeit der Blumen (I, 6) verweist – wie später im Dit de la Panthère von Nicole de Margival die Farbenpracht des Panthers337 – nicht nur auf die Schönheit der Damen, sondern auch auf den Facettenreichtum ihrer Tugenden. Wind («venz» II, 5) und Lärm («bruiz» II, 6), die beiden Störfaktoren der Szenerie, sind Bilder für das Kollektiv der Liebesfeinde, die «lauzenjadors» (II, 5) und «fals fegnedors» (II, 6). Das Brechen der Zweige («frascha dels ramels» II, 7), das als Symbol der Störung der fin’amor das Bild beschließt, verweist auf die Schwierigkeiten, denen sich der Liebende im Kampf um seine Liebe stellen muss.338 Die fin’amor und die 331

332 333 334 335

336

337 338

Cf. Sakari 1986, 255: «Au XIIe siècle, le Décret de Gratien réservait l’interprétation des rêves aux seuls théologiens. Serait-ce là la raison pour laquelle la tenson de Guillem ne s’est conservée que dans deux manuscrits, dont l’un ne contient que les deux premières strophes?». Cf. Guilhem de Saint-Didier, 133. Cf. die tabellarische Zusammenstellung der Analogien bei Sakari (Guilhem de SaintDidier, 132s.). Kolb 1960, 363. Cf. aber die ambivalente Symbolik des Gartens im Somniale Danielis: «Ortum uidere, dampnum significat.»; «Ortum videre significat gaudium.»; «Courtil vir senefie leeche.»; «En gardin aler senefie angoisse.» und «Qui songe soi veoir en vergier, si chiet en quelque peril ce soit.» (MultilingSD, 110s.). Zur Blume als «Bild irdischer Schönheit und Lieblichkeit» cf. Heinz-Mohr (1971, 54). Cf. auch die überwiegend positive Deutung der Blumen im Somniale Danielis (MultilingSD, 73). Cf. Nicole de Margival, 31. In seiner Edition von 1956 schlägt Sakari für II, 8 die Lesart «en jois novels» vor, bietet aber keine Deutung dieser Stelle, sondern kommentiert sie folgendermaßen: «Reste à savoir pourquoi les rameaux brisés nous changent en de joies nouvelles» (Guilhem de Saint-Didier, 133/Anm. 15). In der Korrekturfassung von 1986 plädiert Sakari dann für

206

Hindernisse auf dem Weg dorthin werden auch im zweiten Traumbild thematisiert. Berichtet wird nun von einem wundersamen Baum, der in unbeschreiblicher Farbenpracht erstrahlt («Deguizat mais de colors c’om non sap pegnier» III, 2). Auch hier wütet der Wind und zerbricht die anmutigste Blume («genzor flor» III, 3), die sich im Laub versteckt. Erneut steht die florale Symbolik für die domna (IV, 1). Die Blume, die sich vor dem Wind verbirgt, versinnbildlicht eine wegen der Beschuldigungen der Liebesfeinde in Ungnade gefallene Dame (IV, 3s.). Steht die florale Symbolik für die Dame und rückt die Figur so in eine statische und passive Rolle, die sie auch in der traditionellen canso einnimmt, so wird die dynamische Symbolik der Naturgewalten und der Fauna der Männerwelt zugeordnet. Von besonderem Interesse ist dabei die Vogelmetaphorik: E vi mai: d’un surigier En l’air’ un astor gruier, Con un falco montargi C’ab una grailla fai ni.

(III, 5–8)

(Und ich sah mehr noch: in Begleitung eines Turmfalken einen Waldhabicht mit einem Bergfalken, der mit einer Krähe ein Nest baute.) E·l vezins del surigier Drutz qe fan amar dinier, E del falcon atressi Drutz valenz que lai s’aizi.

(V, 5–8)

(Und der Begleiter des Turmfalken ist ein Liebender, der das Geld liebt, und genauso ist es mit dem Falken: Es ist ein edler Liebender, der sich dort wohlfühlt.)

Dass man «sans une certaine connaissance de la fauconnerie médiévale» nicht in der Lage ist, «la valeur des deux images ornithologiques qui se trouvent dans le dernier quatrain de ces deux strophes»339 zu verstehen, betont schon Evans und weist gleichzeitig unter Angabe zahlreicher literarischer Quellen auf die im Mittelalter weitverbreitete Hierarchisierung der Vogelwelt hin. Die Gegenüberstellung von edlen und unedlen Raubvögeln war im Mittelalter selbst dem einfachen Volk geläufig, wovon zahlreiche Sprichwörter zeugen.340 Zu Ersteren zählten der Ha-

339 340

«en enois novels». Zu bedenken wäre hier, dass die Lesart «en jois novels» durchaus haltbar ist, wenn man das entsprechende manifeste Traumbild des Brechens der Zweige als sexuelle Metapher deutet. Cf. Lemaire 1983, 293s.: «En muchas regiones de Europa existía la costumbre siguiente: el hombre, antes de pasar al acto sexual, debía cortar un rama de uno de esos árboles y ofrecérsela a la mujer». Ferner kann ungestümer Wind in der romanischen Lyrik durchaus zum Sinnbild für einen unbeherrschten Liebhaber oder sogar eine Vergewaltigung gelesen werden (cf. Brea 2002, 39). Joi wäre somit als mit Gewalt erlangte Liebesfreude zu verstehen. Eine konträre Deutung der positiven Lesart schlägt – in Anlehnung an zahlreiche Bibelstellen und Zeugnisse der mittelalterlichen Exegese – Bambeck (1981) vor. Evans 1962, 420. Cf. Evans 1962, 432.

207

bicht (astor III, 6), der Sperber und der Falke ( falco III, 7), während der Bussard, der Milan und der Turmfalke (surigier III, 5) der Klasse der geringgeschätzten Jagdvögel angehörten.341 Dagegen wurde die Krähe (grailla III, 8), die kein Singund Jagdvogel ist, im Mittelalter zu den unedlen Vögeln gerechnet. Das Lexem ‘Krähe’ konnte zudem wie ein Schimpfwort gebraucht werden «pour désigner des personnes méprisables»,342 worauf Evan hinweist. Die Kenntnis dieser Klassifizierung erlaubt eine sinnvolle Deutung des zweiten Traumbildes und die Auflösung der scheinbaren und von Lazzerini behaupteten «oscurità di certi simboli (come le diverse specie di uccelli-amanti)»343 als doppelte Kontrastierung von fin und vilan. Das im somni dargestellte und zentrale Bild der ungewöhnlichen Paarbildung der Vögel zeugt dabei von der Originalität des Autors, da weder die mittellateinische noch die volkssprachliche Dichtung ähnliche Beispiele kennt. Der Habicht und der Bergfalke,344 die in der traditionellen Symbolik als edle Vögel Höfischkeit implizieren,345 werden durch diese Kontrastierung zu Inbegriffen der pervertierten fin’amants, die gegen die Regeln der höfischen Liebe verstoßen. Nicht nur die Geldgier, wie der Exeget explizit betont («Drutz qe fan amar dinier» IV, 6), weist die Liebenden als Anhänger der fals’amor aus. Vielmehr mindert besonders der schlechte Umgang deren Wert.346 Der Habicht stellt nämlich – so schon Evans – einen edlen Liebenden dar, «qui s’avilit en choisissant une compagne indigne de lui»,347 denn er ist der Begleiter des als Beizvogel kaum geschätzten Turmfalken.348 Ähnliches gilt für den Bergfalken – «une ‘espèce’ de faucon très appréciée, selon une des traditions de la fauconnerie médiévale»349 –, der sich in das Nest einer Krähe350 begibt. Diese Charakterisierung der Minnenden könnte als Hinweis darauf gelesen werden, weshalb die zunächst als vorbildlich dargestellte Dame in Ungnade fällt (IV, 3s.): Sie lässt sich nämlich von unedlen Liebenden umwerben. Bleibt der Träumende in den ersten beiden Traumbildern passiver Beobachter, so wird er in der letzten Sequenz selbst zum Werbenden. Er erblickt eine weiße und

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345 346 347 348 349 350

Evans 1962, 434. Evans 1962, 428. Lazzerini 2001, 181. Cf. auch eine analoge Symbolik des Falken als Bild des Liebenden in der mittelhochdeutschen Dichtung. So ist der valke im Nibelungenlied in Kriemhilds Traum (I, 13–15), der eine doppelte Exegese durch die Mutter Ute und den Erzähler erfährt, Sinnbild für Kriemhilds späteren Ehemann Siegfried. Auch in dem ca. 1160/1170 entstandenen Lied Ich zôch mir einen valken (MF 8, 33) des Kürnbergers ist der Falke Sinnbild des Geliebten. Zur positiven Deutung der im Mittelalter als edel verstandenen Jagdvögel cf. die Symbolik des Somniale Daniels (z. B. MultilingSD, 68/86). Cf. einen ähnlichen Gedanken bei Uc de Saint-Circ: Nuilla ren que mestier m’aia/IV, 1–7 (Uc de Saint-Circ, Nr. VIII). Evans 1962, 429. Cf. Kolb 1960, 362. Evans 1962, 426. Zur negativen Deutung von Krähen und Raben cf. MultilingSD, 53: «Rappenn oder kreen sehen: abziehende frund.».

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schöne Blume («bell’ e blancha» V, 1), die alles überragt und die selbst der Wind intakt lässt (V, 3s.). Der Träumende fasst den Entschluss, zu ihr hinaufzuklettern («Cujei montar lai on fon» V, 5) und sieht, dass die Blume von einem Löwen und von knurrenden Hunden bewacht wird. Die Blume stellt «la genssor del mon» dar, die der Dichter in seinen Kompositionen immer wieder besingt,351 und inkarniert mit den drei Attributen beutatz, pretz und joia (VI, 1s.) die Trias der höfischen Vollkommenheit (VI, 1–3).352 Die Absicht, um diese domna zu werben, kommt im Bild des Hinaufkletterns zu Ausdruck, und verweist – folgt man der Deutung des Somniale Danielis353 – auf zukünftigen Liebeserfolg. Doch die Liebesfeinde führen dem entschlossenen Liebenden gleichzeitig die unüberwindbare Distanz zwischen ihm und der Dame vor Augen. Symbolisiert werden sie durch die im Mittelalter negativ konnotierten Hunde354 – Symbole der «Laster des Neides und des Zorns»355 –, die für die «malvatz lauzengier fellon» (VI, 6) stehen. Hinzu kommt der Löwe356 als Bild für den «gelos» (VI, 7). Schlief das lyrische Ich «em bon esperanza» (I, 3) ein, so kommt es im Traum seinem Ziel zwar näher, doch wird es gleichzeitig auf die Gefahr seiner Werbung hingewiesen. Auffällig ist in dem somni von Guilhem de Saint-Didier {S b, 6} die wiederholte Betonung des subjektiven Charakters der Deutung, die sowohl aus der Perspektive des Träumers («vostra semblanza/Mi digatz» I, 1s.) als auch aus der Sicht des Deutenden, der den Traum nach subjektivem Ermessen («segon q’en penz» II, 1–3) auslegt, zum Ausdruck kommt. So betont der Exeget unmittelbar zu Beginn der explicatio: Don, d’est sompni vos dirai, segon m’esmanza, Q’eu en conoisc ni m’es vis en mon coratge.

(II, 1s.)

(Herr, ich werde Euch sagen, was ich meiner Meinung nach in diesem Traum erkenne und was ich dazu in meinen Gedanken gesehen habe.)

Diese Subjektivierung der Auslegung relativiert die auctoritas des Exegeten und offenbart zudem Zweifel an allgemein verbindlichen Wahrheiten der Traumdeu-

351 352

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355 356

Cf. Guilhem de Saint-Didier, Nr. XIII/I, 2. Kolb (1960, 363) sieht in diesem Bild die höchste Stufe der Vollkommenheit einer domna. In seinem Stufenmodell erkennt er drei Damen: «die Dame, die es sich gern gefallen läßt, umworben zu sein, ohne auf die Qualität ihrer Liebhaber zu achten; die Dame, die vom lauten Minnetreiben angewidert und verletzt, sich in die Verborgenheit zurückzieht; die souveräne, von allem Treiben um sie herum unberührte Dame, die in ihrer Unerreichbarkeit dennoch Zielpunkt und fortwährende Antriebskraft höfischen Minnens bleibt; [d. h] die Skrupellose, die Empfindliche, die Unantastbare». Cf. MultilingSD, 148s. So bedeuten Hunde im Somniale Danielis primär Feinde (MultilingSD, 59). Zu bellenden Hunden cf. «Quant tu vois chiens toi abaier/Ou angoussier ou engressier,/Anemi sunt qui mal te quierent/Et contre toi par mal s’en viennent» (MultilingSD, 60). Heinz-Mohr 1971, 140. Das Somniale Danielis differenziert zwischen dem Bild des wachen (Sicherheit) und des schlafenden (Gefahr) Löwen (cf. MultilingSD, 100s.).

209

tung. Reflexive Elemente dieser Art enthält auch der somni – canso in der BdT und in der BEdT – aus der Feder von Guiraut de Bornelh {S b, 5}, der aber – anders als die zuvor besprochene Komposition – die Betonung nicht auf die Subjektivität der Deutung legt, sondern die Auslegung des Traums an sich infrage stellt und reflektiert (cobla IV). Die Popularität dieses somni {S b, 5} lässt sich an der Überlieferung ablesen, denn 16357 Handschriften tradieren das kunstvoll in isometrisch aufgebauten coblas unissonans verfasste Lied vollständig oder partiell. Der «schöne Traum»,358 wie Kolsen das Lied überschreibt, wird auf das Ende der poetischen Aktivität von Guiraut de Bornelh datiert, kurz bevor er Spanien endgültig verlässt und nach Limousin zurückkehrt. In Anlehnung an die razo zum Lied und an verstreute Bemerkungen mehrerer Lieder, die die Teilnahme Guirauts de Bornelh am dritten Kreuzzug nahelegen,359 kann man mit Kolsen schlussfolgern, dass das Lied im Winter 1191/1192 entstanden sein muss.360 In der ersten cobla von No posc sofrir c’a la dolor {S b, 5} fungiert der Natureingang als Medium der Selbstreflexion und antizipiert im gewissen Sinne die positive Botschaft des Traumbildes, das in der zweiten Strophe wiedergegeben wird. Der Trobador stellt hier das Dichten – und somit das Werben – als Notwendigkeit heraus, die einerseits aus dem persönlichen Schmerz (causa interior) resultiert und andererseits unter dem Eindruck der erwachenden Natur (causa exterior) entsteht. Die Reimwörter dolor (I, 1) und flor (I, 3) fassen die Bipolarität der Inspiration zusammen. Beflügelt durch den «chan […]/dels auzeletz enamoratz» (I, 5s.) und den Anblick der «novela flor» (I, 3) erwacht im lyrischen Ich eine neue Hoffnung («Eu renovel» I, 10) – eine topische Analogie, die der Trobador mit der figura etymologica herausarbeitet. Der manifeste Trauminhalt des somni erscheint in der zweiten cobla komprimiert in nur acht Versen: C’una noch somnav’ en pascor Tal somnhe que·m fetz esbaudir D’un esparver ramatge Que m’era sus el ponh pauzatz E si·m semblav’ adomesgatz, Anc no vi tal salvatge, Mas pois fo maners e privatz E de bos getz apreizonatz.

(II, 3–10)

(Ich träumte nämlich eines Nachts im Frühling einen solchen Traum, der mich sehr erfreute, von einem noch ungezähmten Sperber, der auf meiner Faust saß, und auch wenn 357

358 359 360

A fol. 21, B fol. 6v–7r, C fol. 22 r–v, D fol. 13, Dc fol. 244, G fol. 72, I fol. 19r–v, K fol. 8v, M fol. 5r–v, N fol. 165, N2 , Q fol. 96, R fol. 83v [mit Melodie], Sg fol. 70v, V fol. 73, a fol. 9. Cf. Guiraut de Bornelh, 229. Cf. Guiraut de Bornelh, Nr. LXs., XXXVIIIs. und LII. Cf. Guiraut de Bornelh, II, 79: «Verfaßt ist es gemäß v. 38 vor der Überfahrt in die Heimat, d. h. im Winter 1191/1192, vor der Rückkehr von Antiochia, wo sich der Dichter laut razo IV nach der Belagerung Akkons (12. Juli 1191) am Hofe Bohemunds III. (†1201) den Winter über aufgehalten und wahrscheinlich dieses Lied gedichtet hat».

210

er mir zahm zu sein schien, so habe ich zuvor niemals einen so wilden gesehen. Aber dann wurde er gefangen und war vertraulich und wurde mit guten Riemen gezähmt.)

Ein junger Sperber (II, 6), der als wild und zahm zugleich beschrieben wird, fliegt dem lyrischen Ich zu und setzt sich auf seine Faust. Der Vogel lässt sich trotz seiner wilden Natur schnell fangen und abrichten (II, 10). Zwei Informationen, die den Traumbericht einleiten, bereiten die positive Deutung des Bildes in der dritten cobla vor. Erstens wird der Traum als angenehm und erfreulich bezeichnet: «Tal somnhe que·m fetz esbaudir» (II, 4). Ferner wertet die Situierung des Traums in einer Frühlingsnacht («una noch […] en pascor» II, 3) das Bild gleichzeitig auf, glaubte man doch im Mittelalter an die Abhängigkeit der Traumaussage von der Jahreszeit, in der ein Traumbild geschaut wurde. Frühlingsträumen schrieb man dabei größere Glaubwürdigkeit zu als Winter- oder Herbstträumen.361 Die Exegese der dritten cobla gibt den latenten Trauminhalt wieder, wobei das somnium als Liebestraum «tot en amor» (III, 3) als «présage d’un grand amour»362 ausgelegt wird. Dem lyrischen Ich wird zukünftiges Liebesglück in Aussicht gestellt, jedoch ist die persönliche Anstrengung und Bemühung («pro trebalhatz» III, 7), wie die Auslegung betont, die Voraussetzung für die Erfüllung der Traumprophezeiung. Nicht die Prädestination bestimmt das Traumverständnis, sondern ein konsequentes Ursache-Wirkungs-Schema. War die Tiersymbolik im somni von Guilhem de Saint-Didier ganz der Männerwelt vorbehalten, so fungiert der Sperber in diesem Traumlied als Bild einer hochstehenden domna (III, 9s.).363 Ähnlich wie der Habicht und der Falke zählte der Sperber im Mittelalter als Jagdvogel zu den edlen Vögeln.364 Wenn folglich das Somniale Danielis das Bild des Falken oder Habichts in der Hand – «Cum falcone ire seu super manum portare significat honorem» und «Accipitrem in manu portare: honorem»365 – als Zeichen der Ehre deutet, so darf Analoges für das Sperber-Bild angenommen werden, was die Exegese bestätigt. Auffällig bleibt in der Deutung der dritten cobla dennoch, dass sie Leerstellen hinterlässt. Ein wesentliches Bild des Traums wird nicht explizit ausgelegt: die ambivalente Darstellung des Sperbers als überraschend zahm und naturgemäß wild zugleich («E si·m semblav’ adomesgatz,/Anc no vi tal salvatge» II, 7s.). Und gerade dieses Bild, das die Annäherung bei gleichzeitiger Distanzierung zum Ausdruck bringt, ist eine geeignete Metapher für das paradoxe Spiel der fin’amor. 361 362 363

364

365

Cf. Foehr-Janssens 2007, 119/Anm. 16. Anglade 1908, 133. Der Sperber als Bild für eine anmutige und schöne Frau begegnet auch bei Chrétien de Troyes (cf. Perceval, v. 1753ss.). Der Minnesang wiederum kennt den Falken als Sinnbild der liebenden Frau, die selbstbewusst ihren Geliebten erwählt, in Dietmars von Eist Ez stuont ein vrouwe alleine (MF 37, 4). Cf. Evans 1962, 434. Cf. auch das italienische Sperber-Lied Tapin’aimmè ch’amava uno sparvero (Coluccia 2008, Nr. 49.69). Es ist bekannt, dass Friedrich II., der eine Schrift über die Falkenbeize verfasst hat (De arte venandi cum avibus), «auch ein Werk über die Beize mit dem Sperber, die mithin ebenfalls in Italien gepflegt wurde», plante (cf. Mölk 1989, 236). MultilingSD, 68/86.

211

Dass die Werbung schließlich zum Erfolg führt, bringt das Bild des abgerichteten Sperbers zum Ausdruck. Besonders interessant ist die vierte cobla der Komposition, in der die Reaktion des lyrischen Ich auf die dargebotene Traumdeutung thematisiert wird. Zu Scham («vergonh’» IV, 1) und Angst («paor» IV, 1) gesellen sich Seufzer und Klagen hinzu (IV, 2). Der somnhe wird als «gran folor» (IV, 3) bezeichnet und dessen prophetischer Charakter infrage gestellt («E no cut posch’ endevenir» IV, 4). Zweifel an der Traumbotschaft kennt auch die Epik und inszeniert sie häufig, so Gollut, als «une discussion ou une contestation de la valeur de vérité du songe»,366 die sich zwischen absoluter Ablehnung und begründeter Zurückhaltung bewegen kann. Doch am Ende solcher retardierenden Betrachtungen steht in der Regel die Entscheidung zugunsten des Traumglaubens. Ähnlich siegen in der Reflexion des somni, die sich zwischen Zweifel und Furcht vor Vermessenheit («Orgolhos e desmezuratz» IV, 7) bewegt, schließlich die Hoffnung und der Glaube an den vorausdeutenden Charakter des Traums: Sai que·l somnhes sera vertatz Aissi drech com me fo narratz.

(IV, 9s.)

(Ich weiß, dass der Traum nach unserer Überfahrt wahr wird, genauso wie er mir erzählt wurde.)

Der Träumer fühlt sich durch die Botschaft des Traums und den Glauben daran in seiner Hoffnung bestärkt, dichtet neue Lieder, sendet sie voller Zuversicht an seine Dame («enviar mo messatge» V, 5), um sie damit zu erfreuen («Ab que·s deport e·s do solatz» VI, 10) und äußert die Intention, dem Ziel Schritt für Schritt «pro trebalhatz» (III, 7) näher kommen zu wollen (VI). Auf eine wohlbedachte Absicht der lyrischen Traumschilderung durch Guiraut de Bornelh weist schließlich die siebte cobla hin, die einen indirekten Appell an den Herrn des Trobadors beinhaltet, jenen bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Die in den tornadas formulierte Intention, sich nun ganz dem trobar leu zu verpflichten, könnte als weiteres Zugeständnis an den Herrn zu verstehen sein, da dem Trobador, wie die Überlieferung belegt, vorgeworfen wurde, nur schwer verständliche Lieder zu dichten.367 Dass diese am Ende des somni formulierte Absage an das trobar clus in dem – so Burwinkle – «not altogether clear context in which it is found»368 überrascht, kann nicht behauptet werden, zumal die Auslegung des allegorischen Traumbildes nicht dem Rezipienten überlassen wird.

366 367

368

Gollut 2007, 47. Cf. Burgwinkle 1990, 25. Poetologische Reflexionen zu trobar leu und trobar clus entfaltet Guiraut de Bornelh in mehreren Liedern. Cf. z. B. Guiraut de Bornelh a), I, Nr. 4: A penas sai comensar (I), Nr. 28: Tot suavet e de pas (I) oder Nr. 58: Era·m platz, Giraut de Bornelh (II). Burgwinkle 1990, 25.

212

5.2.2.

Disputatio in somnio

Anders als die somnia, in denen das Visuelle und somit die Konzentration auf bewegte Bilder und deren Interaktion eine zentrale Rolle spielt, fokussieren lyrische disputationes den verbalen Akt zwischen zwei oder mehreren Figuren. Diese Traumart entspricht weder der visio noch dem oraculum nach Macrobius, an dessen Konzeption sie sich jedoch mit der Darstellung einer Erscheinung und der Konzentration auf das gesprochene Wort anlehnt, ohne die Traumerscheinung aber zwangsläufig als auctoritas zu verstehen. Vielmehr präsentiert die disputatio eine kontroverse Auseinandersetzung, die sogar nach Art der quaestiones konstruiert sein kann. Der Träumende fungiert dabei nie als passiver Beobachter, sondern nimmt stets eine aktive Rolle ein. Durch die innere Form des Dialogs zeigt die disputatio in somnio eine Nähe zur tenso. Die Verknüpfung der Traumthematik mit diesem Merkmal der inneren Form macht diese Ausprägung des somni sogar zu einer Art Untergattung der tenso.369 Es sei daran erinnert, dass gemäß der uns einzigen überlieferten Definition des somni in der Doctrina diese Gattung neben «coses […] vistes en durmen» auch «coses […] parlades en durmen»370 zum Gegenstand haben kann. Variation erlaubt die disputatio nicht nur durch die Wahl der Thematik, sondern auch durch die Konzeption der Figur, die dem Träumenden erscheint. In Anlehnung an die Tradition divinatorischer Träume kann es sich dabei um Gott selbst oder – in profanisierter Form – um eine Amor-Erscheinung handeln, die in der lateinischen Dichtung ihr Vorbild findet: Amor-Debatten

andere disputationes

Anonym: Dvm Curata uegetarem {S a, 2}

Guilhem d’Autpol: Seinhos, auias, c’aves saber en sens {S b, 9}

Thibaud de Champagne: L’autre nuit en mon dormant {S c, 2} Paolo Lanfranchi: L’altrer, dormendo a mi se venne Amore {S e, 2}

Lanfranc Cigala: Entre mon cor e me e mon saber {S b, 7}

Paolo Lanfranchi: Dime, Amore, vorestù tornare {S e, 3} Paolo Lanfranchi: L’altrer, pensandomi, emaçinay {S e, 4}

Erträumte disputationes fungieren in der Regel als Spiegel der inneren Konflikte des träumenden Ich. Die Erkenntnis im Medium des Traums ist dabei nicht das Produkt einer von außen herangetragenen (prophetischen) Warnung oder Belehrung, sondern sie resultiert aus einer auf die Zukunft gerichteten (Selbst-)Reflexion. Zwar tangieren disputationes in der Regel Liebesfragen, doch überliefert die okzitanische Lyrik mit Seinhos, auias, c’aves saber en sens {S b, 9} aus der Feder

369 370

Cf. Grimaldi 2008, 12/Anm. 33. Razos de trobar, 97, v. 75ss.

213

von Guilhem d’Autpol371 eine tenso, die den Dichter im Disput mit Gott zeigt372 und eine ganz andere Darstellung von «coses […] parlades en durmen»373 bietet. Diese «tenzone fittizia» (BEdT) reiht sich in die Tradition der von den Trobadors kultivierten Debatten mit Gott ein, die besonders von Monge de Montaudon gepflegt wurde.374 Innovativ ist an der tenso von Guilhem d’Autpol {S b, 9} die Wahl des Traums als Rahmen für die fiktive Debatte.375 Berührt wird in den acht coblas doblas und den zwei tornadas der als Unicum376 tradierten Komposition eine politische Frage: «Grâce à la fiction du songe, le troubadour en profite pour reprocher à Dieu tous les malheurs du temps: les clercs et les princes sont mauvais et ont détourné la croisade de son but, l’inégalité sociale mène le monde à sa perte».377

Der fiktive Traumbericht wird so zum Medium einer kritischen Auseinandersetzung mit der Problematik der Kreuzzüge. Es ist Forschungskonsens, dass das Lied 1269 entstanden sein muss,378 als der in den tornadas adressierte König Jaume I. von Aragón (1213–1276) einen Kreuzzug in den Orient unternehmen wollte. Damit ist der somni als wertvoller Zeitzeuge des «criticism of crusading»379 zu verstehen, der seinen Höhepunkt in der Zeit zwischen 1270 und 1291 erreichte. Der Traumbericht dieser «curieuse tenso avec Dieu»380 beginnt mit einer typischen Einleitungsphrase – «l’autre ser can dormia» (I, 2) –, wobei der Traum «sus el sel» (I, 3) lokalisiert wird. Gott, der wie ein weltlicher Herrscher im Himmel eine Versammlung abhält («on Dieu tenc parlament» I, 3), wird als Dialogpartner des Träumenden präsentiert. Eröffnet wird die disputatio von der Klage Gottes über das falsche Verhalten der Christen («com reinhon falsament» I, 6), wobei sowohl weltliche als auch geistliche Vertreter – comte, duc, prinse, clesia (I, 8) – gleichermaßen beschuldigt werden. In der zweiten cobla tritt der Trobador als Beschützer der angeklagten Christenheit auf und richtet selbstbewusst eine Anklage gegen Gott: Es sei der Ungerechtigkeit Gottes, der die falschen Leute mit Reichtümern («aur e argent» II, 6) und Macht («poder» II, 3) beschenkt und

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Von dem Trobador, der im letzten Drittel des 13. Jh.s lebte, sind neben dieser tenso (BdT 206, 4) eine religiöse alba (BdT 206, 1), eine pastorela (BdT 206, 3) und ein planh (BdT 206, 2) auf den Tod von König Louis IX. (1270) überliefert (cf. Bossuat 21993, 596b). Cf. Riquer 1975, 1520. Razos de trobar, 97, v. 75ss. Zufferey (1999, 319s.) nennt in diesem Kontext neben drei Kompositionen von Monge de Montaudon (BdT 305, 7; BdT 305, 11 und BdT 305, 12) jeweils eine tenso von «Rostaing» (BdT 461, 43) und eine von Raimon de Cornet (Bels Senhers Dieus, ab tu que m’as format). Cf. Zufferey 1999, 320. Hs. f, fol. 11r–v. Bossuat 21993, 596b. Cf. z. B. BEdT, Bossuat (21993, 596b) oder Riquer (1975, III, 1520). Paden 1993, 436. Bossuat 21993, 596b.

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erhöht, geschuldet, dass die Christen entmutigt seien. Wider Erwarten reagiert Gott nicht mit Verständnis und Mitleid, sondern droht neue Strafen an: Unglück, Armut und Krankheit (III, 2–5) für den Klerus und finanzielle Verluste (III, 6ss.) für die Fürsten. Darauf richtet der Trobador erneut einen provokativen Vorwurf an Gott, der von seinem «luoc segur» (IV, 2) das Blutbad beobachtet, während die Christen im Kampf sterben und – anders als die Sarazenen (IV, 4) – nicht einmal entlohnt werden. Darauf rechtfertigt Gott die Kreuzzugidee als Erinnerung an den qualvollen Tod Jesu (V, 3–6). Vorgeworfen wird den Christen, dass sie nicht «ab vera caritat» (V, 3) dieses Ziel verfolgen. Die sechste cobla gibt die Replik des Dichters wieder, der Gott darum bittet, den Sarazenen Einsicht zu schenken, um das zu leichtfertig hingenommene Blutbad (VI, 8) für den «viell peccat» (VI, 7) zu beenden. Dieu, der als Rachegott auftritt, kommentiert diesen Vorschlag mit einer erneuten Anklage, die sich nun gegen die Orden (Templer und Hospitaler) richtet, da ihnen Hochmut («erguelh» VII, 5) und Gier («avareza» VII, 5) vorgeworfen werden. Die dabei gewählte Metapher des Schlafs («e volon trop dormir en lur maleza» VII, 4) unterstreicht zusätzlich die Passivität und die mangelnde Erkenntnis derer, in die Gott seine Hoffnung gelegt hat. Ein weiteres Mal erwidert der Dichter «sapchament» (II, 1) und betont in der Schluss-cobla, dass es nicht um Rache, sondern um Einsicht gehen müsse. Er wirft Gott vor, dass jener die schändlichen Taten zulässt und richtet an ihn die anklagende Frage: «per que·[l]s laisa[s] reinhar en lur vileza?» (VIII, 4). Als conclusio formuliert er die Forderung nach Gleichheit («que tutz siam egual» VIII, 6), die er als Basis für Frieden versteht (VIII, 7s.). Mit einer invocatio an die «gloria rial» (VIII, 1) Gottes beendet der Trobador seine Rede. Die rhetorische Klammer wird in der ersten tornada mit «E pueis m’esprit» (IX, 1) geschlossen. Es folgt eine erneute Anrufung Gottes durch den Trobador, er möge seinen Rat befolgen und die weltliche (rei, prinser) und geistliche (cardenal, prelat) Macht weise und verständig machen. Nicht ohne Absicht apostrophiert der Trobador Gott wie einen weltlichen Herrscher, wenn er an dessen «gloria rial» (VIII, 1) erinnert. Auf diese Weise stellt er nämlich eine Analogie zwischen Gott und dem König von Aragon her, dem der Traumbericht gilt («mon som ie·us dic» X, 3). So wird der somni mit seinem doppelten Kunstgriff als Poesie und Verlagerung des Geschehens in die Traumsphäre zum schützenden Medium einer zeitkritischen Stimme. Ganz der Liebeskasuistik verpflichtet ist hingegen ein anderer okzitanischer somni, die in vier381 Handschriften überlieferte «tenzone fittizia» (BEdT) Entre mon cor e me e mon saber von Lanfranc Cigala {S b, 7}, der neben Sordel zu den berühmtesten italienischen Trobadors zählt. Der inneren Form nach erinnert das Lied an das Muster scholastischer quaestiones und mit der Thematik reiht sich der somni in die Tradition der Debatten zwischen einer oder mehreren Personifi kationen ein, die die Trobador- und Trouvèrelyrik382 überliefern. Im Unterschied zu 381 382

Hs. I fol. 93v, K fol. 76v–77r, a2 fol. 391 (134), d fol. 295 (91). Cf. Zueffrey (1999, 318), der in diesem Zusammenhang zwei Beispiele nennt: Nueg e jorn sui en pensamen von Garin lo Brun (BdT 163, 1) und Cor, diguas me per cal razo

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den anderen Kompositionen präsentiert Lanfranc Cigla {S b, 7} seine disputatio aber «comme le récit d’un rêve».383 Die Personifizierung von Herz und Verstand wurde nicht nur in der Trobadorlyrik, sondern auch in der Dichtungspraxis der scuola siciliana gepflegt, sodass die Inspiration den Dichter auch auf diesem Wege erreicht haben könnte. Genannt sei hier als Beispiel die anonyme Kanzone La mia amorosa mente,384 in der der personifizierte Verstand (mente) den Schlafenden an die Nichtigkeit seiner erträumten Bilder erinnert und zum Handeln animiert: Risguardami la mente e dicemi in dormente: «dolente, non dormire, levati e va vedire, chè nullo amor s’aquista se no per dolze vista».

(II, 6–11)

(Der Verstand schaut mich an und sagt mir im Schlaf: «Unglücklicher, schlaf nicht, steh auf und geh zu ihr, um sie anzuschauen, denn keine Liebe siegt, wenn nicht durch lieblichen Blick».)

Hier wird der Traum zum Medium der Selbstreflexion, da der Liebende aus der erträumten Belehrung Konsequenzen für sein reales Handeln zieht. Er verharrt nicht in einer Klage oder in tatenlosem Nachdenken, sondern begreift den Traum als Motivation, der Dame tatsächlich gegenüberzutreten (IV, 1ss.). Eine solche belehrende und reflexive Funktion des Schlafs, die diese Kanzone motivisch verarbeitet, entwickelt auch Lanfranc Cigala in Entre mon cor e me e mon saber {S b, 7} zum thematischen Kern. In den ersten vier der sechs coblas unissonans lässt der «poet of the dolce stil nuovo in Provençal»385 die Personifikationen von Herz (cor) und Verstand (saber) mit dem lyrischen Ich über die Irrungen der Liebe («Del faillimen don si plaignon l’aman» I, 3) debattieren. Eingeführt wird dieser «Traum von einem Streit»386 durch die typische Phrase «l’autra nueig qe’m dormia» (I, 2), während die Zeitangabe «tro al dia» (I, 8) den zweiten Teil der rhetorischen Klammer markiert. Indem das Erwachen auf den frühen Morgen situiert wird, erfolgt implizit eine Aufwertung des Traumbildes, die aus dem im Mittelalter verbreiteten Glauben resultiert, dass Träumen am Morgen besondere Bedeutung zukommt.387 Die erste cobla fasst als Überblick die im Folgenden von den drei Gesprächspartnern vertretenen Positionen zusammen: Während der Träumende die minnenden Männer beschuldigt (I, 4), klagt das Herz die Liebe («es amors cel qui fai tot l’engan» I, 6) und der Verstand die Damen («E·l senz carget las domnas de faillia» I, 7) an. Dass das personifizierte Herz und der Verstand nicht gene-

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von Bertran Carbonel de Marseille (BdT 82, 9). Für die Trouvèrelyrik cf. z. B. Jehan de Grieviler: Entre Raison et Amour grant tourment (Jehan de Grieviler, Nr. II). Zueffrey 1999, 319. Di Girolamo 2008, Nr. 25.17. Healy 1948, 444. BdT 282, 4. Verdon 21998, 213.

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relle Allegorien darstellen, sondern die widerstreitenden Kräfte des Träumenden selbst veranschaulichen sollen, wird durch das Possessivpronomen «mon» schon im Incipit angedeutet und auch im weiteren Verlauf des Streits – «mos cors» (II, 1), «mos senz» (III, 2) – wiederholt. In der zweiten cobla vertritt das Herz seine Position, indem es die Liebe für das Unglück der amants verantwortlich macht und sie als ungerecht, unbeständig, launisch und undurchschaubar – wie Fortuna – darstellt. Im Anschluss sucht der Verstand die Schuld bei den Damen – «car si fan pregar tan» (III, 3) – und stilisiert die Frauenwelt zum Bild der dame sans merci. Ferner wirft er den domnas inkonsequentes und absurdes Verhalten vor, da sie ihre Liebe niemals denen schenken, die sich darum bemühen, während sie diejenigen ehren, die sie ignorieren (III, 4–8). In der vierten cobla folgt die an cor und sen (IV, 1) gerichtete Erwiderung des Liebenden, die zugleich eine Widerlegung der zuvor präsentierten Positionen («Senz, vos e·l cor failletz, al mieu parer» IV, 1) und eine Synthese anstrebt. Der Träumende sieht die Problematik in der Unbeständigkeit und im Wankelmut der liebenden Männer («leuiaria/Dels amadors» IV, 2s.) und überträgt so das vom Herzen gezeichnete Bild der Liebe auf die Liebenden selbst. Es folgt eine Apologie der Damenwelt: Langes und intensives Werben vor dem Zugeständnis der merce (IV, 5) ist deshalb notwenig, da die Frauen den Liebenden nicht vertrauen können und Zeit benötigen, um den treuen Geliebten («leial» IV, 6) vom Betrüger («truan» IV, 6) zu unterscheiden. Einem «amic senz tricharia» (IV, 7) schenkt die Dame, so das lyrische Ich, ihre Liebe nämlich gern. Lanfranc Cigala argumentiert hier gegen die Positionen von sen und cor, wie auch an anderen Stellen seines Werks. So stellt er in der canso Quant en bon luec flors bona semenza388 sowohl das Herz als auch den Verstand als machtlos gegen die Kraft der Liebe dar (II, 4–8). Und in der tenso Car es tant conoissenz vos voil389 führt er beispielsweise aus, dass es in der Liebe keine Vernunft gebe (II, 1–6), dass zu viel Verstand der Liebe hinderlich sei («E granz senz l’es contrarios» II, 8)390 und dass daher nicht alles, was in der Liebe gegen den Verstand getan wird, gleichzeitig der Dummheit gleiche: Anz dic per ver Tot zo non es ges foudatz granz, Qi non es senz als amors.

(IV, 8–10)

(So sage ich fürwahr, dass nicht alles, das bei den Liebenden unvernünftig erscheint, gleichzeitig eine große Dummheit ist.)

Wie eine Bestätigung der Position des Träumenden wirkt schließlich die Erscheinung der Dame in der fünften Strophe von Entre mon cor e me e mon saber {S b, 7}. Die domna betritt («mi fon venguda per vezer» V, 1) wie ein unwirkliches

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Bertoni 1915, Nr. XLV. Bertoni 1915, Nr. LVII. Zu diesem Topos der Trobadordichtung cf. auch Uc de Saint-Circ, Nr. III: Dels huoills e del cor e de me (II, 1s.). Für weitere Belege cf. Uc de Saint-Circ, 173s.

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(«So·m fon semblan» V, 2) Bild im Bild die Szenerie. Anders als in den üblichen trobadoresken domna-Erscheinungen391 folgt hier auf die apparitio ein verbaler Akt. Denn bevor der Träumende in der tornada seiner Dame ewige Treue schwört («Vostre sui eu e serai a ma via» VI, 2) und fortwährendes Lob verspricht, dankt ihm die Dame, preist ihn als treuen Diener und Beschützer der Damenwelt und stellt das Wesen des aufrichtigen fin’amant als notwendige Basis einer vollkommenen Liebe dar: Si·l drut fosson tal can vos, ia blasman Non s’anera negus de drudaria.

(V, 6s.)

(Wenn alle Liebenden wie Ihr wären, so würde niemand mehr über Liebe klagen.)

Wenn die Dame in dieser tenso das Wort an den Träumenden richtet, so erfüllt sie eine Funktion, die in der Dichtung gewöhnlich dem Liebesboten Amor zukommt. Dass jedes «Gespräch der Götter mit den Menschen […] sowohl im Wachen als im Schlaf»392 allein durch Eros geschieht, betont schon Platon im Symposion. Und die Erscheinung des Liebesgottes im Traum zählt seit jeher zu den Topoi der Weltliteratur. In der okzitanischen Dichtung ist hier insbesondere an den Flamenca-Roman zu denken, in dem Amor als Traumsender393 auftritt und somit auch als die Instanz, die der Liebende um einen Liebestraum bittet (v. 3433–3436). Trotz dieses Vorbildes sind explizit im Traum lokalisierte Erscheinungen Amors in der uns überlieferten okzitanischen Lyrik nicht belegt. Zwei Trobadorlieder aber, die Zufferey als «débats intérieurs»394 charakterisiert, tradieren Amor-Debatten: die berühmte und viel kommentierte395 Komposition Quant amors trobet partit (BdT 366, 29) von Peirol396 und die zwischen 1160 und 1185397 entstandene tenso Raimon Jordan , de vos eis vuelh aprendre.398 Letztere bietet einen möglichen Hinweis darauf, dass für Zwiegespräche mit dem Liebesgott im Mittelalter in der Regel der Rahmen eines Traums oder einer Vision vorgestellt wurde. Dabei liefert nicht das Lied, sondern die in vier Handschriften399 überlieferte razo die Kontextualisierung der tenso als Traumdichtung:

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Cf. Kap. 5.2.3. Sogar in der mittelalterlichen Vollendung der Liebesträume und -visionen in der Vita Nova Dantes erscheint Beatrice stets als rein visuelle Phantasie, die ihre Wirkung durch die den Auftritt begleiteten Gesten und Farben – und nicht (primär) durch das Wort – erzielt. Platon: Bd. III Gastmahl, 203a. Auch Dante praktiziert in seiner Vita Nova (III) eine solche Umdeutung des christlichen Gottes, der Traumsender und Trauminhalt zugleich wird, stellt sich doch darin Amor dem Träumenden auf Lateinisch vor und erinnert so an die Worte Gottes in Exodus 20, 2 («Ego sum Dominus Deus tuus»). Zufferey 1999, 318. Cf. Raimon Jordan, 353. Peirol, Nr. XXXI. Cf. Bossuat 21993, 1225b. Raimon Jordan, Nr. IX. A 128r, B 78v, I 81v, K 65v.

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«Et enanz qu’el fezes la chanson, una nuoit, quant dormia, li fo a vis que Amors l’asaillis d’una cobla que dis […]».400 (Bevor er dieses Lied machte, schien ihm eines Nachts, als er schlief, als ob Amor an ihn eine cobla adressierte, die da heißt: […].)

Wird die apparitio Amoris in diesem Fall nur extern als Traumbericht identifiziert, so kennt die romanische Dichtung Beispiele, in denen die Kontextualisierung als Traum die Amor-Erscheinung expressis verbis einleitet. Angelehnt sind solche Traumberichte gewiss an die mittellateinische Lyrik. Ein interessantes Beispiel dieser Tradition stellt das viel diskutierte 401 und in der Sammlung der Carmina Burana überlieferte anonyme Dvm Curata uegetarem {S a, 2} dar. Dass der Dichter das typische Schema bereits variiert und die Botschaft der Komposition – wie Walsh zeigt – als «hardly serious»402 einzustufen ist, lässt sich kaum bestreiten. Dvm Curata uegetarem {S a, 2} ist als Unicum403 tradiert und darf «sicher nach Walters von Châtillon Lied Versa est in luctum cithara Waltheri»404 (Ende des 12. Jh.s) entstanden sein. Das Gedicht zerfällt in zwei formal und thematisch unterschiedliche Teile: Die Strophen 1–5 geben die Traumvision und somit die Erscheinung Amors wieder, während die restlichen Strophen in wörtlicher Rede die Klage Cupidos referieren. Eingeleitet wird der Traum durch eine Beschreibung des physiologischen Vorgangs des Einschlafens mit Abnahme der auch für Sinneswahrnehmungen zuständigen «virtutes animales» (I, 3) und Zunahme der vegetativen «virtutes naturales» (I, 4), die an De natura corporis et animae (um 1130) von Guillaume de Saint-Thierry angelehnt zu sein scheint.405 Die wie eine Ekphrasis konstruierte zweite Strophe zeichnet die überraschende Erscheinung Cupidos nach, der, eines Liebesgottes unwürdig, sich mit zerzausten Flügeln und «mesto uultu» (II, 4) zeigt. Dabei geht 400 401

402 403 404 405

Boutière/Schutz 21973, XVII, 162. Die Intention der Komposition ist in der Forschung umstritten. Der Behauptung, dass sich der Dichter hier mit Amor identifiziert und zur höfischen Liebe auffordert, indem er rein auf Sexualität basierende Passion verurteilt, steht die Lesart des carmen als «disguised satire» (Elliott 1981, 427) gegenüber. Cf. Carmina Burana, 1086s. Walsh 1976, 98s. Cf. Walsh 1976, 98. Carmina Burana, 1086. Cf. ibid.: «Diese Naturlehre scheint den Vorstellungen von CB 105 exakt zu entsprechen: Während des Schlafs ist die uirtus animalis […] ausgeschaltet oder reduziert, während die vegetativen Funktionen überwiegen». In De natura corporis et animae (um 1130) von Guillaume de Saint-Thierry (§12) wird der Traum als Produkt des Seelenlebens beschrieben: «In quo cessantibus omnibus animae uirtutibis, sola uiget uirtus naturalis, quae tunc tanto intensius operatur quanto tota ei uacat natura. Anima uero interius requiescens, exclusis omnibus sensuum officiis, reuoluit penes se praeterita, praesentia et futura. Et haec sunt somnia.» (In diesem Zustand unterbrechen alle Kräfte der Seele ihre Aktivität; die natürliche Kraft, die allein ihre Stärke behält, übt diese mit umso mehr Intensität aus, weil die Natur ihrerseits inaktiv ist. Die Seele aber, die innen ruht, wenn alle Sinnesfunktionen eingestellt sind, betrachtet noch einmal in sich gekehrt das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige: das sind Träume.)

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«die Erscheinung einer edlen Gestalt in zerrissenem Gewand als Zeichen für großes Unheil […] wohl auf Vergil, Aeneis II, 268–297 zurück, wo Hektor so dem Äneas erscheint. (Auch der Aufbau von CB 105 folgt genau dieser Passage: Einschlafen – Auftreten der jenseitigen Gestalt – Staunen – Frage – Antwort)».406

Betroffenes Staunen («stupor» III, 3) und Ergriffenheit sind die Reaktionen des verwunderten Träumenden, der an Cupido die Frage nach dem Grund seiner Trauer und seines Kommens (IV) richtet. «Merore graui grauis» (V, 2), wie der Dichter mit dieser figura etymologica betont, legt Amor in prägnanten Antithesen die Gründe für seinen Schmerz und seine Trauer dar: «his disorderly appearance is a sign of his internal agitation».407 Amor gibt sich als direkter Lehrer Ovids zu erkennen («Naso meis artibus feliciter instructus» VIII, 1) und klagt darüber, dass die «artes amatorie […] a Nasone tradite» (VII, 1s.) und die «mysteria» (IX, 1) der Venus nicht mehr gelehrt und gelebt, sondern vielmehr missbraucht und pervertiert werden.408 Dieser «lament for the decline of courtly love described within the framework of a dream»409 ist einzigartig in der mittellateinischen Literatur. Hebt in diesem carmen Amor als personifizierte Liebe eine Klage über den allgemeinen Sittenverfall an, so zeigt die volkssprachliche Dichtung der Romania eine persönlichere Beziehung zum Liebesgott. Wie schon in der okzitanischen Tradition in den tensos von Raimon Jordan410 (BdT 404, 9) und Peirol (BdT 366, 29) wird auch in L’autre nuit en mon dormant von Thibaud de Champagne {S c, 2}411 Amor zum persönlichen Berater und Tröster des Liebenden.412 Nicht die Niedergeschlagenheit und die Trauer des Liebesgottes werden hier thematisiert, sondern die Zweifel und der Schmerz des Liebenden, den jener aufsucht. Die Verlegung der Szenerie in eine Traumsphäre markiert schon das Incipit, an das sich in sechs coblas doblas die Diskussion zwischen Amor und dem Liebenden anschließt. Kummer («grant dotance» I, 2) und durch den Vortrag eines jeu-parti (I, 2) hervorgerufenes Nachdenken motivieren das Traumbild. Es ist Amor, der unmittelbar nach seinem Erscheinen (I, 5) das Wort an den Liebenden richtet, ihn

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Carmina Burana, 1086. Elliott 1981, 432. Durchsetzt ist die Rede Amors mit zahlreichen Ovid-Zitaten, wobei «fast alle wörtlichen Übernahmen […] aus Ars II 493–640, einer Passage, in der Ovid Apoll und Venus als Lehrer der richtigen Liebe einführt» (Carmina Burana, 1087), stammen. Walsh 1971, 14. Cf. dazu Raimon Jordan, 353. Das Lied ist in 10 Hs. überliefert: K fol. 4b–5a, M fol. 59r–v, N fol. 3r–v, O fol. 69v– 70r, R fol. 176r–v, S fol. 317r, T 3v, V 2v–3r, X 10v und Z 1r. Ob die tenso von Raimon Jordan (BdT 404, 9) als Vorbild für die Komposition von Thibaut de Champagne gedient haben kann, lässt sich nicht mit Gewissheit beantworten. Auffällig ist aber, dass die durch die razo konstruierte Kontextualisierung der tenso als Traum in Verbindung mit der Debatte zwischen Amor und dem Dichter eine mögliche Inspirationsquelle darstellen könnte. Eine der Handschriften (A), die die razo überliefern, notiert für «una nuoit quant dormia» «una nuoich en dormens» (cf. Boutière/Schutz 21973, XVII, 162), was stark an das Incipit L›autre nuit en mon dormant erinnert. Es ist die einzige razo, die diese Hs. überliefert.

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nach dem Grund seiner Verwirrung fragt und ihm gleichzeitig sein unreifes Benehmen vorwirft («Ce te muet d’enfance» I, 8). Der Gemütszustand des Liebenden wird durch die Reim-Trias «dotance» (I, 2), «balance» (I, 4) und «enfance» (I, 8) zusätzlich hervorgehoben. Der Träumende reagiert auf die Erscheinung Amors mit Furcht (II, 1s.), wirft ihm gleichzeitig vor, schuld an seiner Verzweiflung zu sein und teilt ihm seinen Entschluss mit, sich von ihm trennen zu wollen («partir vueil» II, 7). Der Träumende adressiert Amor als «dame» (II, 3), wobei hier an okzitanische Vorbilder zu denken ist.413 Während die Trobadordichtung Amor nämlich «mehr als allegorische Formel, denn als mythische Gestalt»414 auffasst und daher überwiegend die feminine Form für amor zeigt, folgt die französische und italienische Literatur des Mittelalters eher den mittellateinischen Vorbildern mit der Vorstellung von Amor als männliche Figur. Der Liebende bezichtigt in L’autre nuit en mon dormant {S c, 2} Amor der Heuchelei («faus senblant» II, 5) und der kundige Rezipient fühlt sich an das direkte Gegenbild, die Pfeile Amors aus dem Rosenroman erinnert. Der fünfte Pfeil, der den sprechenden Namen «biaus semblanz» (v. 1839) trägt, soll verhindern, dass der Liebende jemals Reue über den Liebesdienst empfindet (v. 11839ss.). Dieser Pfeil scheint in L’autre nuit en mon dormant {S c, 2} seine Wirkung eingebüßt zu haben. Amor erwidert auf diesen Vorwurf hin, dass Schmerz zum Lieben gehöre und der Liebende «por mal ne paine avoir» (III, 3) seine Intention nicht ändern dürfe. Der amant setzt darauf seine Klage fort: «Decevoir» (IV, 1) sei die höchste Liebeskunst und Hoffnung der einzige erwartbare Lohn. Nicht mehr Anklage, sondern Versprechen erfüllen die letzte cobla (V), in der Amor das Wort ergreift. Er appelliert an den Träumenden, ihm zu vertrauen und verspricht baldige und reiche Entlohnung in Form von bonté, valor und largeté (V, 5s.). Es folgt die Unterwerfung des Liebenden, der sein Leben («vie» VI, 4) und seinen Willen («volenté» VI, 5) in die Hände Amors legt, um Gnade («merci» VII, 1) fleht und in Demut vor jenem niederfällt. In der französischen Tradition tritt Amor nicht nur als Lehrer, Berater und Tröster auf, sondern auch als zwischen den Liebenden vermittelndes Medium. Diese Funktion Amors zeigt das anonyme Dieus qui le mont soustient et garde.415 Darin begrüßt der Liebesgott den amant mit den folgenden Worten: «Je t’aporc nouveles/De t’amie bonnes et belles»416 (v. 65s.), womit er sich selbst als Boten und Medium zu erkennen gibt. Die floralen Elemente der Ekphrasis, die Amor in diesem salut d’amor charakterisieren, erinnern an die Darstellung des Liebesgottes im Rosenroman von Guillaume de Lorris.417 Als Bote begegnet Amor auch in der italienischen Tradition. Gewiss ist hier in erster Linie an die als Verkettung

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Während amor als Abstraktum im Altfranzösischen eher feminin ist (cf. Tobler/ Lommatzsch, I, 363), zeigt es als Personifizierung des Liebesgottes eher eine maskuline Form (cf. ibid., 365s.). Friedrich 1964, 12. Meyer, P. 1867, 141 (= Bibl. nat. fr. 795, fol. 6r–7r, hier 6r). Übers.: Ich bringe dir gute und schöne Nachrichten von deiner Freundin. Cf. Meyer, P. 1867, 141 v. 57–61 und Rosenroman v. 872–900.

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von Visions- und Traumberichten konzipierte Vita Nova Dantes zu denken. Und auch die Poesie des dolce stil nuovo kultiviert diese Thematik, wovon beispielsweise das Sonett Vinta e lassa era già l’anima mia418 von Cino da Pistoia zeugt. Auf der Suche nach früheren Beispielen für lyrische Amor-Erscheinungen im Traum wird man nicht etwa in der scuola siciliana, sondern in der höfischen Poesie Norditaliens fündig, wie die Sonette von Paolo Lanfranchi zeigen. Die poetische Leistung dieses italienischen Dichters, der Ende des 13. Jh.s in Bologna bezeugt ist und sich etwa 1283/84 am Hof von Aragon aufgehalten hat,419 wird in der Forschung kontrovers beurteilt.420 Während Zaccagnini ihm beispielsweise einen Mangel an «ispirazione poetica»421 vorwirft und seine Lyrik eher in die Nähe der poesia populare als in die der scuola siciliana oder des dolce stil nuovo rückt, charakterisiert Kleinhenz den trovatore als «one of the more original sonneteers of the late Duecento».422 Überliefert sind von Paolo Lanfranchi sieben Sonette, für deren Einheit,423 bewusste Verkettung und Konzeption als Canzoniere Kleinhenz als Erster plädierte: «The first four sonnets present the interrupted dream, which occasions the poet’s contemplative pose in the final three».424 Das bindende Glied der ersten vier Sonette stellt die Traumthematik dar. Dabei sind die ersten drei Komplementär-Sonette des Canzoniere – L’altrer, dormendo a mi se venne Amore {S e, 2}, Dime, Amore, vorestù tornare {S e, 3} und L’altrer, pensandomi, emaçinay {S e, 4}425 – als disputationes konzipiert und inszenieren Dialoge des Träumenden mit Amor. Als Vorbild für diese im 13. Jh. singuläre 426 Behandlung der Thematik in der italienischen Lyrik kann, so Savino, der populäre Flamenca-Roman gedient haben,427 sicher ist hier aber eher an das Erbe der klassischen und der mittellateinischen Tradition zu denken.428 Die von Paolo

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Cino da Pistoia, Nr. LXXIV. Savino (1982, 71) spricht von «una presunta ma non indispensabile dimora alla corte d’Aragona, intorno al 1283–84». Zur Leistung und Einordnung von Paolo Lanfranchi cf. Savino (1982, 75ss.). Zaccagnini 1907, CIII. Kleinhenz 1972, 187. Anders als die übrigen sechs Sonette (Savino 1982, Nr. I–VI) ist Quatro homin sum dipincti ne la rota (Savino 1982, Nr. VII) nicht im Codex Barberin. XLV, 47 überliefert. Zur Frage der Überlieferung und der Einheit des Canzoniere cf. Savino (1982, 71ss.). Kleinhenz 1972, 192. Cf. dazu auch Savino (1982, 74) Überliefert sind diese Sonette in: Codex Barberin. XLV, 47 (Vat. 3953), c. 158s. Cf. dazu Kleinhenz (1972, 194), Savino (1982, 78) und Catenazzi (1977, 180s.). Cf. Savino 1982, 80: «Non c’è difficoltà a credere che il Lanfranchi abbia conosciuto (già in piena circolazione al tempo del suo probabile soggiorno alla corte d’Aragona) […] questo attraente romanzo». Grimaldi (2008, 13) weist zudem darauf hin, dass Paolo Lanfranchi auch während seines Aufenthalts in Aragon auf die im katalanischen Raum kultivierte Gattung des somni gestoßen sein kann: «Come si sa, il piccolo canzoniere di Paolo Lanfranchi, pistoiese e ghibellino, è fortemente caratterizzato dal tema del sogno. Per localizzare le fonti del Lanfranchi, notoriamente poeta d’oc oltre che di sì, è già stata evocata la serie di scene oniriche di Flamenca […]; È evidente che, se un genere sompni è esistito in Catalogna all’epoca di Cerveri, risulterà più economico immaginare che il poeta toscano abbia

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Lanfranchi imaginierten Amor-Erscheinungen bewegen sich zwischen Schlaf- und Wachträumen. Während das letzte Glied der Kette {S e, 4} als hypnagoger oder reflexiver Zustand («pensandomi, emaçinay» v. 1) in die Nähe des visum rückt, zeigt das erste Sonett {S e, 2} mit der typischen Einleitungsphrase «L’altrer, dormendo» (v. 1) eindeutig eine Kontextualisierung als Traum. Hier erscheint der Liebesgott als Bote der Dame («Eo so mesazo/de la tua dona» v. 2) dem Liebenden im Traum und bestätigt ihm deren Zuneigung («t’ama di core» v. 3). Darauf überreicht Amor dem Träumenden eine Blume, die in jenem Assoziationen an das Gesicht der geliebten Dame weckt («parse per semblanti’l so visazo» v. 6). Meneghetti interpretiert dieses Bild als Anspielung auf den Rosenroman, «ma forse anche dell’episodio delle fanciulle-fiore del secondo Alexandre».429 Der Anblick der Blume und die Bilder, die sie evoziert, lassen den Träumenden, der auf Amors Auftritt mit Unsicherheit reagiert, erröten. Nur «cum grand temença» (v. 9) gelingt es ihm, sich nach dem Wohlbefinden der Dame zu erkundigen. «Ben, se tu ben stay» (v. 11) lautet die kryptische Antwort Amors, worauf der «spir[i] to sotile» (v. 14) verschwindet. Diese Replik verweist auf eine Identifizierung des Liebenden mit dem Liebesobjekt und vice versa. Das zweite Sonett, Dime, Amore, vorestú tornare {S e, 3}, bietet zwar keine Kontextualisierung als Traumbericht, ist aber als Fortsetzung der disputatio in somnio konzipiert. Nun empfängt der Liebende Amor nicht, sondern sendet ihn selbst als Boten aus (v. 1), indem er ihn bittet, sein Herz zur geliebten Dame zu begleiten (v. 5). Amor willigt ein und fragt nach der Nachricht, die er überbringen soll. Nicht um Erbarmen will der Liebende nun flehen, wie Amor zunächst glaubt (v. 9s.), sondern der Geliebten mitteilen, dass er ganz ihr angehöre und dass sein Herz ohne ihren Anblick nicht weiter leben könne («e ’l cor non pò durar se no la vede» v. 14). Die Kühnheit dieses «insistente invito del poeta ad Amore»430 wird indirekt zum Thema des dritten Amor-Sonetts, L’altrer, pensandomi, emaçinay {S e, 4}, wobei Paolo Lanfranchi darin die Analogie zwischen dormire und immaginare bewusst ausspielt. In seinem Wunschbild bittet der Liebende Amor so sehr («tanto nel pregay» v. 4), in seinem Namen zur Dame zu gehen, dass jener einwilligt («a luy plaque» v. 3). Von der Dame zurückgekehrt berichtet der Liebesgott, dass jene beabsichtigt, den Liebenden aufzusuchen, sollte er es nicht selbst tun (v. 5–8). Contra diese imaginierte Szenerie, die gegen den höfischen Code verstößt, protestiert «un penser de l’altro lato» (v. 9). Diese Stimme der Vernunft, die – so Savino treffend – «riaffiora coi suoi ammonimenti all’assennatezza»,431 tadelt den Liebenden für dessen «folle pensato» (v. 10) mit einer Reihe rhetorischer Fragen:

429 430 431

ereditato modi e forme attraverso la lirica piuttosto che postulare una metamorfosi (certamente possibile) dalla narrativa». Meneghetti 1986, 240. Savino 1982, 74. Ibid.

223

Or crede t[u] ch’ ella a [te] venisse? E tu anderesti a ley? Se’ tu en estato?” (v. 12s.) (Glaubst du nun, dass sie zu dir käme? Und würdest du zu ihr hingehen? Bist du in der Verfassung, es zu tun?)

Das Sonett endet mit erneuter Ohnmacht des Liebenden, der entmutigt innerlich zu sterben glaubt («che l’alma se partisse» v. 14). Die Intensivierung der Verzweiflung,432 die sich in der Furcht und der zaghaften Frage des Liebenden im ersten Sonett {S e, 2} ankündigt und sich in der zum Scheitern verurteilten Zuversicht und Kühnheit der zweiten Amor-Erscheinung {S e, 3} manifestiert, findet in der Erfahrung des Liebestodes ihren ersten emotionalen Tiefpunkt. Im Canzoniere schließt sich an diese Szene der zentrale erotische Traum {S e, 5} an, der den Höhe- und Wendepunkt der Sonett-Kette darstellt, da er einerseits die Wunscherfüllung bietet, andererseits aber den Liebenden durch die Desillusion des Erwachens in Verzweiflung stürzt.433 Es folgt im fünften Sonett eine Reflexion434 über das eigene Leben, den – so Savino treffend – «violento contrasto fra Dio e la natura e una dichiarata rinuncia al paradiso».435 Das Canzoniere schließt mit zwei Fortuna-Sonetten,436 die mit ihrem Motivinventar an die Vagantendichtung erinnern. Als roter Faden durchzieht der Kontrast zwischen Traum und Wirklichkeit die Kompositionen von Paolo Lanfranchi, wobei dem Dichter die poetische Aufwertung des Traums als «proiezione del desiderio, il sopravvento della fantasia, la verità del surreale» gelingt, so Savino, denn «al sogno è ricuperato tutto ciò che l’uomo crede di essere o vorrebbe essere; alla realtà resta consegnata tutta la pena dell’esistenza. E se al reclamo della verità positiva il sogno è bruscamente interrotto, si frange il piacere dell’immagine ma almeno resta la libertà dell’immaginazione».437

Zwar fungiert auch im Rahmen des Canzoniere die disputatio in somnio wie schon in der Trobador- und Trouvèrelyrik als Spiegel der Seele, neu ist aber die Verknüpfung von drei Visionen zu einer Kette, die den Fortschritt und den Weg der Selbstreflexion mit allen sie begleitenden emotionalen Höhe- und Tiefpunkten, Hoffnungen und Zweifeln wiedergibt. Dantes Vita Nova sollte diese Idee vollenden. 5.2.3.

Liebesträume und erotische Phantasien: Subform des insomnium

Wenn Guibert de Nogent in seinem mit zahlreichen Träumen und Visionen durchsetzten autobiographischen Bericht die «catégorie intermédiaire des rêves 432 433 434 435 436 437

Cf. Savino 1982, 79. Cf. Kap. 5.2.3. Cf. Paolo Lanfranchi: Ogni meo fatto per contrario façço (Savino 1982, Nr. V). Savino 1982, 75. Paolo Lanfranchi: De la rota son posti exempli asay (Savino 1982, Nr. VI) und Quatro homin sum dipincti ne la rota (Savino 1982, Nr. VII). Savino 1982, 78.

224

qui viennent de l’homme lui-même»438 völlig vernachlässigt, so stellt er im 12. Jh. eine Ausnahme dar. Auf psychophysische Ursachen zurückgeführte Traumbilder stoßen nämlich zu dieser Zeit auf zunehmendes Interesse. Das Subjekt wird als eigentliche causa somniorum erkannt, die Annahme externer Traumsender tritt zurück und der Traum wird «la simple expression d’un état psychique – à la fois révélation du désir et assouvissement de ce désir dans l’imaginaire»,439 wie Braet herausarbeiten konnte. In diesen Zusammenhang gehören auch erotische Träume, die Macrobius noch abwertet und als Untergattung des insomnium plakativ den divinatorischen Traumarten gegenüberstellt. In der Macrobius-Rezeption der Schule von Chartres erfährt das insomnium – und mit ihm der Liebestraum – vor allem als Ausdruck der passiones (Johannes von Salisbury) eine Aufwertung. Ferner wird auch die Theorie der Tagesreste immer wieder im Zusammenhang mit dem Liebestraum diskutiert (cf. z. B. Wilhelm von Conches).440 In der Lyrik ist der erotische Traum die am häufigsten dargestellte und variierte Traumform, deren Palette von naiven und zum Teil derb-erotischen Wunschbildern – die immer wieder an die pastourelle-Dichtung anknüpfen – bis hin zu Liebesträumen mit durchdachter expliziter oder impliziter Kontextualisierung durch Einbindung von Tagesresten reicht. Reine Phantasiegebilde – nach Ibn Hazm «der Gedanken Spiel, […] der Sehnsucht Bild […] und doch ein leerer Wahn»441 –, die keine Entsprechung in der (fiktiven) Wachwelt haben, sind in den Liebesträumen dabei äußerst selten. Die Vorstellung, dass man nur eine Dame besingen kann, die man tatsächlich gesehen hat, begegnet immer wieder in der romanischen Dichtung. Als Beispiel sei hier die prägnante Formel von Guilhem de Saint-Didier442 genannt: Quar mielhs pot hom lauzar senes mentir Aquo que ve que quan fai per albir.

(IV, 7)

(Denn man kann, was man sah, besser ohne Lüge loben, als das, was man sich nur vorstellt.)

Ähnlich betont schon Ibn Hazm in seinen Ausführungen zu Liebesträumen, dass die Anziehung durch fern jeder Realität imaginierte Traumerscheinungen «das Entlegenste» sei, «was Ursache der Liebe sein kann».443 Nicht ein Traumbild entzündet in der Regel das Verlangen, vielmehr entsteht dieses Traumbild erst unter dem Eindruck einer sinnlich wahrgenommenen Gestalt – eine Unterscheidung, die der in der griechischen Philosophie praktizierten Differenzierung zwischen phan-

438 439 440 441 442

443

Schmitt 2001, 273. Braet 1975, 203. Cf. dazu Kap. 4.2.1. Ibn Hazm, 28. Guilhem de Saint-Didier, Nr. I. Cf. einen ähnlichen Gedanken in einer anderen canso (Guilhem de Saint-Didier, Nr. II/IV, 3), in der der Trobador zwischen der Dame «en faich» und der «en semblan» unterscheidet. Ibn Hazm, 27.

225

tasia und phantasma entspricht.444 In der dominierenden Vorstellung der mittelalterlichen Dichter entsteht Liebe in der Wachwelt, wobei Sehnsucht und Entbehrung die nächtlichen Bilder inspirieren. Der Traum wird so zum Surrogat und Medium der Wunscherfüllung: Der Liebende genießt unter dem Schutzmantel des Traums, was ihm die Realität versagt. Ibn Hazm geht sogar so weit, «die Sehnsucht nach dem Traumgesicht [zur] Ursache des Schlafes»445 zu erklären. Die im Traum erfahrene unio mystica stellt er dabei über die reale körperliche Erfahrung446 und bildet so eine Möglichkeit der Bewertung von Traumbegegnungen in der romanischen Dichtung vor. Die im «leichten, frühen Schlummer»447 erträumte Begegnung mit dem geliebten Menschen zerschellt aber in der Regel nach dem Erwachen durch die Konfrontation mit der Realität. Wenn der Liebende erwacht, so weiß Ibn Hazm weiter zu berichten, «erfüllt ihn Schmerz, und er seufzt, da er erkennt, daß das, was er erlebt hat, nur die Wünsche und Einflüsterungen der Seele sind».448 Der arabische Philosoph schildert auch den umgekehrten Fall der Angstträume des im Wachleben glücklichen Liebenden, dem seine Träume den Mangel und die Einsamkeit vor Augen führen, und der nach dem Erwachen Erleichterung erfährt.449 Da aber vor allem der Typus des unglücklich Liebenden und die nicht erfüllte Liebessehnsucht die Themen der romanischen Dichtung darstellen, poetisieren die Dichter solche Angsträume nicht, sondern variieren in ihren Liedern stets den topischen Kontrast zwischen erfüllter Traumwelt und mangelhafter Wirklichkeit. Ausführliche Reflexionen zum Liebestraum, die in eine ähnliche Richtung zielen, durchziehen auch den Rosenroman,450 den wohl einflussreichsten art d’aimer des

444

445 446

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Cf. Dulaey 1973, 93. Als phantasia wird «la représentation imaginative issue d’une sensation antérieure dont le souvenir a été conservé dans la mémoire» verstanden, während das Konzept phantasma «la construction purement imaginaire sans correspondance sinon fortuite dans la réalité» bezeichnet. Ibn Hazm, 120. Cf. Ibn Hazm, 118s. Ich habe acht, daß dich mein Blick nicht streift, Sorg, daß du schmilzt, wenn meine Hand dich greift. Dies darf nicht sein! Darum muß ich vor dir fliehn Und suche dich, wenn ich entschlummert bin. Die Seele ist im Schlaf mit dir allein, Verborgen und entrückt den Gliedern mein. Der Seelen Einheit bei dir süßer ist, Als wenn mein Leib dich tausendmal umschließt. Ibn Hazm, 119. Ibid. Zu den diversen Arten der Traumbegegnung cf. Ibn Hazm, 119s. Allerdings wird kein endgültiges Urteil über das Traumphänomen gefällt, wenn es am Ende der Überlegungen heißt: Ne ne revueill dire des songes S’il sont voir ou s’il sont mençonges, [...] Ou se Dieus par tels visions Envoie revelacions

226

13. Jh.s. Schon im ersten Teil lässt Guillaume de Lorris Amor die Funktion des Liebestraums kommentieren, wenn er Liebesleid und Liebesglück als dessen polare und sich zugleich ergänzende Kräfte beschreibt. Drei der im Motivkapitel dieser Studie beschriebenen somni-Ausprägungen451 werden dabei tangiert: Die qualvolle Unruhe der Nacht gehört genau so zur douce souffrance wie der beglückende Traum und das schmerzvolle Erwachen (v. 2421–2502). Ähnlich erhält der Traum in Jeans de Meun Fortsetzung in der Rede der Nature den Beinamen grant maladie (v. 18333), deren Ursachen psychischer und physischer Natur sein können. Neben Hass, Liebe und Melancholie können auch Tagesreste das Traumgeschehen beeinflussen oder gar evozieren (v. 18331– 18371). Primär werden Liebesträume dabei als Wunscherfüllung gedeutet, denn die fin amants sehen darin «les choses amees/Que tant ont par jour reclamees» (18405s.). Liebe ist das primäre Movens des Träumens, wie schon Diez in Bezug auf die Trobadordichtung betont, denn «wunderbar sind die Wirkungen der Liebe; sie verwickelt die Seele in die seltsamsten Gegensätze, sie entrückt sie der Gegenwart und führt sie von dannen, sie beseligt ihre Träume, um sie beim Erwachen nur um so bitterer zu enttäuschen».452

Die Poesie der Romania zeigt diverse Variationen des insomnium-Schemas, wobei den Traumbildern die Verbindung aus realer Sehnsucht, temporärer Traumerfüllung und desillusionierendem Erwachen gemeinsam ist und deren Poetik bestimmt. mittellateinisch

Anonym: Foebus abierat {S a, 1} Anonym: Si uera somnia forent que somnio {S a, 3} Anonym: Illud si uerum fieret quod somnia monstrant {S a, 4}

altokzitanisch

Anonym: Grans gauchs m’ave la noit, quan sui colgatz {S b, 1} Anonym: Un cavaler conosc qe l’altrer vi {S b, 2} Cerveri de Girona: Entr’Arago e Navarra jazia {S b, 10}

altfranzösisch

Anonym: C’est en mai au mois d’esté que florist flor {S c, 1}

galegoportugiesisch

Johan Mendiz de Briteyros: Ora vej’eu que non á verdade{S d, 3}

altitalienisch

Paolo Lanfranchi: Un nobel e çentil ymaçinare {S e, 5}

Johan Mendiz de Briteyros: Deus, que leda que m’esta noyte vy {S d, 2}

Dante da Maiano: Provedi, saggio, ad esta visïone {S e, 6}

451 452

Ou li malignes esperiz Pour mettre les gens es periz De tout ce ne m’entremetrai. (18503s./18513–17) (Ich will über Träume nicht urteilen, ob sie wahr sind oder nur Schäume […]; ob Gott durch solche Visionen den Menschen Offenbarungen zuteilwerden lässt, oder ob sie vielmehr Einflüsterungen böser Geister sind, um Menschen zu gefährden. Da will ich mich nicht einmischen.) Cf. Kap. 3.2.1.–3.2.3. Diez 21883, 134.

227

Mit dem in Norditalien wohl Ende des 10. Jh.s453 entstandenen anonymen Foebus abierat454 {S a, 1} überliefert die mittellateinische Lyrik ein außergewöhnliches Traumlied, das Dronke als «one of the most remarkable poems in Medieval Latin»455 bezeichnet. In der ersten der fünf coblas singulars wird einleitend der Übergang vom Tag zur Nacht beschrieben, der wie ein Gegenbild zu den Einleitungsversen der berühmten aube bilingue ({A a, 1}/I, 1s.) anmutet: Der Gott des Lichts verlässt die Bühne, Diana verkündet den Einbruch der Nacht (I, 1–4) und die Menschen schlafen ein (I, 5). Im anschließenden Bericht schildert die Liebende aus der Retrospektive die nächtliche Traumerscheinung ihres Geliebten («fidelis imago» II, 2), wobei der Zeitpunkt des Traums betont in die Aprilzeit verlegt wird («Aprili tempore quod nuper transiit» II, 1) – eine Zeitangabe, die, ähnlich wie im somnium von Guiraut de Bornelh {S b, 5} die Verazität der Traumbegegnung unterstreichen soll.456 Das Traumbild begegnet der Liebenden nicht nur als visuelle Wahrnehmung, sondern erhält durch akustische und taktile Eindrücke (II, 3) zusätzliche Lebendigkeit. Dominiert in typischen Liebesträumen zunächst das Traumglück, so steht dieses Traumbild von Beginn an unter dem Vorzeichen der Trauer, wenn der Geliebte «oppressa lacrimis vox» (II, 4) zu seiner Freundin spricht. Dass es sich bei dem Traumbild wahrscheinlich um eine Erscheinung aus dem Jenseits handelt, ist seit Dronke immer wieder betont worden.457 Diese Annahme macht das Gedicht zu einer außergewöhnlichen und originellen Schöpfung, und zwar – wie Lorenzo Gradín betont – «no sólo dentro de la producción latina de la época, sino de la romance en general».458 Die revenant-Thematik, die zwar ein, wie Dulaey betont, «thème folklorique universel»459 darstellt, das besonders in der römischen Antike gepflegt460 wurde, hat nämlich kaum Spuren in der romanischen Traumdichtung hinterlassen. Zusammen mit dem Traumsonett von Dante da Maiano {S e, 6} stellt Foebus abierat {S a, 1} eine singuläre Umsetzung der Verknüpfung aus Liebes- und Todesthematik im Rahmen eines Traums dar. Bis auf diese Variation des Liebestraums bewegt sich Foebus abierat {S a, 1} aber innerhalb des konventionellen insomnium-Schemas. In dem Moment, in dem die Liebende das Traumbild umarmt («extensis brachiis corpus applicui» 453 454 455 456 457 458 459 460

Kopiert wurde der Text im Kloster von Fleury-sur-Loire Anfang des 11. Jh.s. Zur Datierung und Überlieferung cf. Lorenzo Gradín (1990, 22). Tradiert ist der Text in zwei Handschriften: Oxford, Bodley. 38, fol. 56v–57r und Roma, Vat. lat. 3251, fol. 178v (fragmentarisch). Dronke, 1968, II, 337. Cf. Foehr-Janssens 2007, 119/Anm. 16. Cf. z. B. Dronke (21968, II, 338) und Lorenzo Gradín (1990, 22). Lorenzo Gradín 1990, 22. Dulaey 1973, 35. Cf. Dulaey 1973, 16s.: «L’attention particulière qu’ils [les Romains; Anm. G. B.] portent à l’aspect ominal du rêve les amène à accorder plus d’importance aux rêves où apparaissent les morts et les dieux. Si les Romains portent une attention toute spéciale aux rêves où apparaissent les morts, c’est parce qu’ils s’intéressent de préférence à des récits qui font intervenir des êtres qui ne sont pas imaginaires, et ceci dans un passé relativement proche».

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III, 3), entschwindet es unwiederbringlich. Die Frau beklagt im Erwachen den Verlust, wobei sie ausruft: «Quo fugis, amabo? Cur tam celeriter? Siste gradum, si vis inibo pariter, nam tecum vivere volo perenniter!» (IV, 2ss.) («Wohin entfliehst du, ich bitte dich? Weshalb so eilig? Halt deine Schritte an. Wenn du willst, werde ich mit dir gehen, denn mit dir will ich ewig leben.»)

Voller Reue über die eigenen Worte (IV, 5), die mit der Sehnsucht nach dem Geliebten zwangsläufig die Sehnsucht nach dem Tod implizieren, gibt sich die Liebende ihrer Trauer hin, wobei sie unter Tränen (V, 3s.) und voller Schmerz im Mondenschein (V, 2) bis zum Tagesanbruch trauert (V, 5). Dass sich diese Dichtung, die keinen simplen erotischen Wunschtraum darstellt, sondern ein Klagelied über die faktische Unwiederbringlichkeit des Geliebten anstimmt, jeder Klassifizierung entzieht, hat Bourgain in seiner knappen Deutung besonders prägnant herausgearbeitet: Foebus abierat {S a, 1} sei «une sorte de ballade baignée dans une atmosphère lunaire, onirique», in der «un art consommé de la réticence»461 den Rezipienten Schritt für Schritt zum unsagbaren Schmerz der Schlussszenerie führe. Zahlreiche Beispiele mittellateinischer Poesie schlagen einen betont erotischen Ton an. In dieser Tradition goliardischer Dichtungen stehen zwei im 12. Jh. entstandene mittellateinische Traumpoesien: Si uera somnia forent que somnio {S a, 3} und Illud si uerum fieret quod somnia monstrant {S a, 4}. Die wahrscheinlich von einem katalanischen Mönch462 verfassten Gedichte sind im Manuskript 74 von Ripoll überliefert.463 Die Sammlung ist wohl im Kloster von Ripoll, einem der wichtigsten Zentren des literarischen Betriebs im Hochmittelalter, entstanden.464 Die Ripoller Lieder sind nicht wegen ihrer Qualität von unschätzbarem Wert, sondern weil sie – so Lorenzo Gradín – «la única contribución de la lírica hispánica a la producción amorosa mediolatina»465 überliefern. Obwohl die Ripoller Traumlieder anders als Foebus abierat {S a, 1} – nach der treffenden Charakterisierung durch Offermanns – von der «Stereotypie als Stilprinzip»466 zeugen, ist die Verwandtschaft zwischen den Dichtungen und dem norditalienischen carmen 461 462 463

464

465 466

Bourgain 2000, 212. Cf. Paden 1987, II, 543. Aus den Anspielungen in den Liedern geht hervor, dass der Dichter sich auch in Nordfrankreich aufgehalten haben muss (cf. Delbouille 1926, 19). Die Liebeslieder des Manuskripts, das heute im Archivo de la Corona de Aragón de Barcelona aufbewahrt wird, befinden sich auf den folios 96v–101r (beide Traumlieder figurieren auf fol. 96v). Cf. Asperti 1999, 332s.: «Tra i centri culturali catalani d’epoca altomedievale spicca per importanza il monastero di Ripoll […]. Nella storia letteraria il nome di Ripoll è specialmente legato alla scuola poetica latina che vi fiorì tra l’XI e il XIII secolo». Lorenzo Gradín 1990, 20. Diese Charakteristik der Ripoller Sammlung arbeitet Offermanns (1970, 157–163) deutlich heraus.

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immer wieder thematisiert worden.467 In eindeutiger Anlehnung an Foebus abierat {S a, 1} scheint das zweite der Ripoller Traumgedichte, Illud si uerum fieret quod somnia monstrant {S a, 4}, das in der Handschrift mit «Aliud somnium» überschrieben ist, konstruiert zu sei, wie schon Offermanns zeigen konnte: «Hier wird das Motiv von ‹Foebus abierat› umgekehrt, der Mann träumt vom Erscheinen der geliebten Frau; bei dem Versuch, das Bild zu umarmen, flieht es […], erwachend hält er nichts in den Armen zurück».468

Das Gedicht beginnt mit einer indirekten Erklärung der Träume als Wunscherfüllung (v. 1s.) und eröffnet den Traumbericht mit einer Spezifizierung des insomnium als Nachttraum («Nocte sub obscura» v. 3) eines einsamen Liebenden («dum solus forte cubabam» v. 3). Das Traumbild manifestiert sich zunächst rein visuell («Ante mei uultum uidi» v. 4), wobei die Erscheinung Assoziationen an eine dem Träumenden bekannte Person weckt (v. 4). Die in der Schwebe verbleibende Charakterisierung des Traumbildes als «hec uirgo fuerat que luce uocata» (v. 6) verleiht der Dichtung eine gewisse Rätselhaftigkeit. Delbouille deutet «luce» als weiblichen Namen und spricht von der Erscheinung der «belle Luce»,469 während eine Interpretation von «luce» als Ablativ von ‘lux’ die apparitio einer Toten nahelegen könnte.470 Die Erkenntnis des Träumenden, dass es sich nicht um das vermutete Mädchen handelt, die mit einer expliziten Bevorzugung der Traumerscheinung einhergeht («quod erat speciosior illa» v. 7), leitet die zentrale erotische und nonverbale Szenerie ein (v. 9– 13). Die Favorisierung der similitudo corporis ist ein Topos der mittelalterlichen Liebesdichtung, der mit der Erkenntnis einhergeht – so Schmitt – «que l’objet de l’amour n’est pas la personne que l’on dit aimer, mais le ‘fantasme’ que l’amant se donne pour en user imaginairement à sa guise».471 Während des Liebesspiels, als der Träumende die Erscheinung umarmen möchte, entschwindet sie wortlos («Nescio quo fugit, nec uerbum protulit unum» v. 14). Die empfundene Trauer über die Flüchtigkeit des Traumglücks verbindet sich hier als conclusio mit dem Wunsch nach der Erfüllung des Traums im Wachleben: Vnde nimis doleo, puto sed magis inde dolebo, Ni, quod per somnum tenui, uigilans retinebo. (Daher leide ich sehr, doch ich glaube, dass ich mehr noch leiden werde, wenn ich nicht, was ich im Schlaf hielt, im Wachen besitzen werde.)

Einen ähnlichen Wunsch und eine analoge Konstruktion als Kontrast zwischen Traum- und Wachwelt durch Entlarvung des Traumglücks als Phantasieprodukt zeigt auch die mit «De somnio» betitelte Komposition Si uera somnia forent que 467 468 469 470 471

Cf. z. B. Latzke 1975, 157. Offermanns 1970, 160. Delbouille 1972, 52. Cf. die Diskussion dieser Stelle bei Moralejo (1986, 215/Anm. 8, 6). Schmitt 2002, 347.

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somnio {S a, 3}. Anders als das zweite der Ripoller Traumlieder {S a, 4}, das in der Regel – und so auch bei Moralejo – zu einer bloßen Stilübung in Hexametern «de inferior calidad»472 degradiert wird, und in dem beispielsweise Latzke nichts als eine «brave, normgerechte Arbeit»473 sieht, verbinden sich in dem von Dronke als «masterpiece»474 gerühmten «De somnio» {S a, 3} mehrere literarische Traditionen zu einem Bild, das durch die Art der Darstellung und das gekonnte Einflechten komischer und beinahe grotesker Elemente besticht. Je nach Schwerpunktsetzung hat die Komposition unterschiedliche Gattungszuweisungen erfahren. Wird die Thematik des Traums als zentral hervorgehoben, so erhält die Dichtung Charakterisierungen als «Traumgedicht»,475 «love-dream»476 oder «Visio mit Liebeslehre».477 Gestützt wird eine solche Einordnung durch die zentrale Thematik und die Überschrift. Die Herausarbeitung der eindeutigen pastourelleZüge führt wiederum zu einer dahin gehenden Klassifizierung, die beispielsweise Paden mit der Aufnahme der Komposition in seine Anthologie praktiziert,478 und die auch Raby favorisiert, der betont, das Gedicht sei «a pastourelle, although the title is De somnio».479 Die Dominanz beider Elemente ist evident, und diese Gattungsinterferenzen machen den Reiz der somni-pastourelle aus. Der Traum beginnt mit einem Natureingang, der auf die für mittelalterliche Liebesdichtung konstitutive symbiotische Trias aus Liebe, Jugend und Frühling verweist. Der Liebende schläft «Aprilis tempore/[…] in prato uiridi, iam satis florido» (v. 3s.) einsam ein («dum solus dormio» v. 3). Diese Schilderung des locus amoenus wirkt wie ein Tagesrest auf die Szenerie des Traumbildes ein, das der Träumende wie eine Wachphantasie als poetisierte Fortsetzung des Wacherlebens gestaltet. Dabei bietet sich das Traumbild zunächst als rein visuelle Erscheinung («ante me uisa est» v. 7) dar, deren Schönheit durch Lichtmetaphorik («uultu sydereo» v. 5) hervorgehoben wird. Die Gestaltung der Traumerscheinung als Wunschbild in diesem «humorous piece of wishful thinking»480 beschränkt sich nicht nur auf die äußere Gestalt, denn die virgo ist zudem von edler Abstammung («proles sanguine progressa regio» v. 6). In selbstloser Hingabe dient sie dem Träumenden (v. 8), beschenkt ihn mit Küssen («basia» v. 10) und ist als Gesandte der Venus 472 473 474 475

476 477

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Moralejo 1973, 117. Latzke 1975, 158. Dronke 21968, II, 341. Offermanns 1970, 160. Cf. dazu auch die kritische Stimme von Moralejo, der sich trotz des «tema marco del ensueño» (Moralejo 1986, 78) gegen eine solche Gattungszuweisung ausspricht und generell gegen thematisch definierte Gattungen plädiert: «No nos hemos decidido a considerar como un género-tema el del somnium» (ibid./Anm. 272). Dronke 21968, II, 339. Latzke 1975, 200. Latzke (1975, 156) begründet diese Charakterisierung folgendermaßen: «Dem Genre nach eine Visio – auch der Titel: ‹De somnio› drückt diese Intention des Dichters aus –, zeigt es daneben gewisse Charakteristika der Pastourelle: Frühlingszeit, die blumenübersäte Wiese, auf der der Dichter eingeschlafen ist». Cf. Paden 1987, Nr. 14. Raby 21957, 242s. Cf. dazu auch Moralejo (1973, 114). Dronke 21968, II, 339.

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(v. 13s.) mit Körper und Seele («Mente te diligo cum toto corpore» v. 16) in Liebe zu ihm entbrannt (v. 17s.), wobei sie mit den Worten «Hic sum; me teneas, quia te diligam» (v. 27s.) ihre Hingabe deklariert. Während der Träumende schweigend die Wohltaten und Worte genießt, wirbt die Traumerscheinung mit allen Mitteln der Kunst um ihn, indem sie ihm für seine Liebe Belohnung durch Geschenke verspricht (v. 23ss.). Geschenke als Angebote des Ritters an die Schäferin bilden ein festes Merkmal der altfranzösischen pastourelle-Dichtung, womit sich der Ripoller Dichter an diese Tradition anlehnt.481 Durch ihr insistierendes Werben und ihr einnehmendes Wesen erhält die virgo aber auch dämonische Züge. Und wenn Dronke in ihren Worten eine Anlehnung an «Satan tempting Christ»482 erkennen möchte, so assoziiert er die Erscheinung gewiss mit den succubi, die nach mittelalterlicher Vorstellung zu den Gefolgsleuten Satans gehörten und im christlichen Kontext bemüht wurden, um erotische Träume zu erklären.483 Die Deutung der Werbungsszenerie insgesamt – wie Latzke – als «Persiflage der Traumliebe und des dämonischen Liebhabers in Gestalt einer Nymphomanin»484 greift vielleicht zu weit. Dass die Darstellung aber burleske Elemente enthält und an «Werbung und Verführung in der frivolen Manier Ovids»485 angelehnt sein darf, ist gewiss nicht zu leugnen. Durch die insistierende Werbung fühlt sich der Träumende dazu animiert, das Liebesspiel bis zur Erfüllung («secretum compleo» v. 34) fortzusetzen und trägt die erträumte Liebesfreude als Hoffnung in die Wachwelt hinein. So formuliert er am Ende die folgende conclusio, die er mit inferre, einem – so Moralejo – «término muy escolástico»,486 einleitet: Inferre igitur possum quod nimium Felix ipse forem et plus quam nimium, Illam si uirginem tenerem uigilans, Quam prato tenui, dum fui uigilans. (v. 35–38) (So kann ich nun nachdrücklich sagen, dass ich selbst überglücklich wäre – und mehr noch als das –, wenn ich jene zarte Jungfrau auch wachend halten könnte, wie ich sie auf der Wiese gehalten habe, als ich wachte/bis ich erwachte.)

Dabei hat das Schlusswort der Komposition, das überraschend «uigilans» (v. 38) und nicht «dormiens» oder «somnians» lautet und so das als Kontrast Erwartbare

481 482 483

484 485 486

Cf. dazu auch Raby (21957, 236): «And the poetry of Ripoll, both religious and profane, followed the fashions current in France». Dronke 21968, II, 339. Cf. Verdon 21998, 72. Cf. dazu auch Wittmer-Butsch (1990, 336): «Frauen erscheinen in Männerträumen des Mittelalters auffällig selten und dann meist nur als Heilige oder allenfalls noch als Mutterfigur. Wenn es sich aber um eine erotische Situation handelte, so deutete man attraktive Mädchenfiguren bekanntlich als ‘Succubi’, also als Dämonen in menschlicher Gestalt». Latzke 1975, 198. Latzke 1975, 158. Als mögliche literarische Vorlagen diskutiert Latzke (1975, 157) Ovids Metamorphosen (IV 305ss.) und Amores (III, 5, 32). Moralejo 1986, 41.

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nicht einlöst, zahlreiche Deutungen erfahren. Der erste Herausgeber der Ripoller Traumgedichte, Nicolau D’Olwer, versieht «vigilans» mit einem «[sic!]»,487 während spätere Kommentatoren, darunter Latzke,488 häufig eine Korrektur zu «somnians» vornehmen.489 Ein Blick auf die Reimgestaltung der letzten vier Verse legt die Vermutung nahe, dass «uigilans» (v. 38) – wie auch das als identisches Reimpaar gebrauchte «nimium» (v. 35/36) – durchaus intendiert sein kann. Um eine sinnvolle Deutung der Schlussverse zu erreichen, schlägt Moralejo vor, «dum» (v. 38) nicht als «mientras», sondern als «hasta que» zu übersetzen.490 Gewagter wäre eine andere Hypothese: die Beibehaltung der Grundbedeutung von dum bei gleichzeitiger Differenzierung in der Übersetzung von vigilare in den aufeinanderfolgenden Versen. Während das erste vigilare wörtlich als ‘wachen’ zu verstehen wäre, wäre für v. 38 eine figurative Bedeutung im Sinne von ‘tagträumen’/‘dichten’ denkbar. Lat. vigilare zeigt eine ähnliche Semantik wie okzit. consirar und kann neben ‘wachen’ auch ‘(krankhaft) schlaflos sein’ bedeuten, aber auch, in Verbindung mit Dichtung, den schöpferischen Akt umschreiben, wie das «carmen vigilatum» Ovids zeigt.491 In diesem Sinne wäre die ephemere Liebesfreude von «Aliud somnium» {S a, 4} als Produkt der dorveille zu lesen. Dass der locus amoenus «phantasticarum imaginum fecundior est» als ein gewöhnlicher Ort, betont beispielsweise schon Johannes von Salisbury.492 Und in der Tat favorisieren mittelalterliche Dichter für die Darstellung von Liebesträumen oder erotischen Phantasien häufig abgeschiedene Naturplätze als Kulisse, die sowohl als Szenerie des Traums als auch als inspirierender Tagesrest erscheinen kann. Eine Verbindung aus locus amoenus und invitatio, wie sie «De somnio» {S a, 3} zeigt,493 setzt auch das anonym und als Unicum494 tradierte altfranzösische Lied C’est en mai au mois d’esté que florist flor {S c, 1} um, das wegen typischer Merkmale495 immer wieder als Beispiel der pastourelle-Dichtung496 klassifiziert wird. Das insomnium beginnt mit einem Natureingang (I, 1–4): Es ist Mai («en mai» I, 1), die Blumen blühen («florist flor» I, 1) und der Vogelgesang entzündet

487 488 489 490 491 492 493 494 495

496

Cf. Nicolau D’Olwer 1915–1919, 47. Cf. Latzke 1975, 179. Cf. Moralejo 1986, 213/Anm. 7, 38: «Creo que fue Delbouille 1927, p. 29, el primero en introducir la corrección somnians, seguida por Raby y Latzke 1975». Cf. Moralejo 1986, 213. Ovid: Die Fasten (IV, 109). Johannes von Salisbury: Policraticus II, 15, 66s. Cf. Moralejo 1973, 115. Hs. X 216r–v. Cf. dazu die Merkmalsliste von Paden (1987, IX), der das Lied als pastourelle klassifiziert. Paden benennt fünf Elemente, die für die Klassifizierung ausschlaggebend sind: 1) ländliche Umgebung und Figur der Schäferin, 2) Figureninventar: Mann und junge Frau, 3) Plot: Entdeckung und Versuch der Verführung, 4) narrative Elemente und Dialog, 5) Darstellung aus der Perspektive des Mannes. So erscheint das Lied als Exponent der pastourelle in der Anthologie von Paden (1987, Nr. 122). In der Anthologie von Rosenberg/Tischler (1995, 328) wird die Komposition als chanson pastorale bezeichnet.

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das Liebesverlangen («Dou douz chant des oiselons li cuers m’esprent» I, 3). Der locus amoenus löst hier nicht das Dichten, sondern den Traum («En cel lieu je m’endormi» I, 5) von einem jungen Mädchen aus, das dem lyrischen Ich «mult cortoisement» (I, 6) begegnet. Noch bevor ein Wort gewechselt wird («demaintenant» II, 1), beginnt der «gieu d’amors» (II, 3), den die «pucelette» (I, 6) mit einer spielerischen invitatio unterbricht und gemäß der Konvention den Mann um eine Gabe bittet (II, 4ss.). Es folgt eine als Herzstück des somni gestaltete descriptio puellae497 (III, 1–4): Ele avoit les euz si vairs come faucon Et si avoit bele bochë et bele façon; Ele avoit les euz rians, le nes traitis, Sa facete vermeillete com rosier floris. (III, 1–4) (Sie hatte so glänzende Augen wie ein Falke und sie hatte in der Tat einen schönen Mund und ein schönes Gesicht. Heitere Augen hatte sie und eine wohlgeformte Nase, ihr kleines Gesicht war so rosig wie ein blühender Rosenstrauch.)

Wenn die Augen hier als «vairs come faucon» (III, 1) beschrieben werden, so folgt der Dichter dem konventionellen Bilder- und Wortschatz der altfranzösischen Schönheitsbeschreibungen. Vair ist das häufigste Epitheton der Augen in der littérature d’oïl und bezeichnet deren Glanz und unbestimmte helle Farbe, wobei in den meisten Fällen Falkenaugen zum Vergleichsobjekt werden,498 da sie als besonders klar und rein aufgefasst wurden.499 Ähnliches gilt für die charakteristische «facete vermeillete» (III, 4). Die Wahl des Farbadjektivs folgt auch hier einem traditionellen Muster, da vermeil, wie Schäfer zeigen konnte, «bevorzugt bei der Beschreibung von Blumen […] und der (schönen) menschlichen Haut eingesetzt»500 wurde. An dieses Idealbild der Geliebten schließen sich Liebesbeteuerungen des Träumenden an (III, 5ss.), gefolgt von der hyperbolischen Überhöhung der Traumerscheinung als engelsgleiches Wesen («Ele resenble a touz ceus de paradis» IV, 3). Die Bedeutung des zunächst überraschenden Schlusses der vierten cobla, in der Leiden und Liebestod als Folgen der Liebe (IV, 5ss.) dargestellt werden, erschließt sich in der als envoi konzipierten letzten Strophe. Der Dichter adressiert seinen fiktiven Traum an die Dame, die ihn betrogen hat («a cele qui m’a [si] traïs» V, 2), und die ihm trotz seiner großen Liebe die ihre nicht geschenkt hat,

497

498 499 500

Zum Topos der descriptio puellae cf. Kasten (1986, 175s.): «Die körperliche Schönheit der Frau […] ist häufig auch Gegenstand einer detaillierten descriptio. Zu den typischen Elementen zählen la bela bocha rizens (der schöne lachende Mund), belh olh (schöne Augen), lo clars vis (das strahlende Antlitz), doutz esgartz (der sanfte Blick), lo cors blancs que neus (der schneeweiße Körper). Zu den sonstigen Vorzügen der Dame gehören neben höfischer Sitte und Redegewandtheit auch bels essenhamens (schöne Manieren, Bildung), freundliches Wesen, huldvolles Entgegenkommen, Adel des Wesens und des Geblüts». Cf. Schäfer 1987, 92. Cf. Schleusener-Eichholz 1985, I, 661. Schäfer 1987, 49.

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obwohl sie damit sein Leiden verhindert hätte (V, 3–7). Der somni wird somit zur erträumten Wunscherfüllung und zum Surrogat einer zurückgewiesenen Liebe. Liefert die altfranzösische Lyrik des 12. und 13. Jh.s zwar keine weiteren Beispiele für erotische Traumphantasien, so wird die häufig ins Burleske gesteigerte Thematik zum favorisierten Sujet der Fabliaux-Dichtung dieser Zeit. Davon zeugt beispielsweise die Erfüllung des erotischen Traums in De la Damoisele qui sonjoit501 oder die groteske Darstellung des songe érotique als Surrogat in Le Sohait des Vez.502 Erotische Phantasien und Liebesträume kennt auch die Trobadorlyrik.503 Wie die bereits besprochenen somnis zeigen, verbindet sich im Traumlied in der Regel der songe érotique mit dem Motiv des Erwachens, wobei die nächtliche Unruhe und Sehnsucht des Liebenden vor dem Einschlafen die Traumszenerie einleiten kann. So verknüpft Arnaut de Mareuil in seinem Liebesbrief Dona, genser qe no sai dir504 bereits die drei Merkmale zu einem komplexen Bild und liefert damit das vollständige Schema. Trotz der außergewöhnlichen Popularität der Traummotivik in der littérature d’oc überliefert die Trobadorlyrik nur drei Beispiele für erotische somnis: das Traumlied Entr’Arago e Navarra jazia von Cerveri de Girona {S b, 10} und die zwei anonymen coblas esparsas Grans gauchs m’ave la noit, quan sui colgatz {S b, 1} und Un cavaler conosc qe l’altrer vi {S b, 2}. Wegen dieser Überlieferungslage und der Beliebtheit des häufig im Rahmen einer Strophe entfalteten Traummotivs, ist die Hypothese geäußert worden, die Gattung des somni habe in solchen Traum-coblas ihren Ursprung.505 In dem in drei Handschriften (G, Q, N)506 tradierten Grans gauchs m’ave la noit, quan sui colgatz {S b, 1}, das thematische Ähnlichkeiten mit dem Traumlied von Cerveri de Girona {S b, 10} aufweist, berichtet das lyrische Ich von seinem «grans gauchs» (v. 1), der ihm «la noit […] en dormen» (v. 1s.) zuteilwird, da es seine Geliebte im Traum schauen («vei» v. 2) und sogar ihre Hände küssen («bais sas mans» v. 4) darf. Entgegen dem typischen Schema wird hier aber nicht der Kontrast zwischen der Traum- und der Wachwelt entfaltet. Das lyrische Ich verspürt nämlich, als es erwacht («quan resit» v. 6) keine Trauer über den Verlust des Traumglücks. Vielmehr ist es unter dem Eindruck des Traums «alegres e sors» (v. 6) und bittet Gott («prec a Deu» v. 7) voller Hoffnung, er möge ihm auch «en veillan» (v. 7) zur Gunst seiner Dame verhelfen, denn in der Realität wagt er nicht, eine ähnliche

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Cf. Rossi/Straub 1992, 82–87. Cf. Rossi/Straub 1992, 138–153. Cf. Kap. 3.2.1. Arnaut de Mareuil b), Nr. I. Cf. Grimaldi (2008, 8/Anm. 22): «Si potrebbe ipotizzare che il genere abbia avuto origine da piccoli nuclei di canzoni divenuti topici, essersi quindi diffuso in forma di coblas ed aver poi raggiunto una relativa autonomia stilistica e tematica. L’esistenza di esparsas anonime nelle quali il tema del sogno è centrale, […] tuttavia il genere potrebbe aver avuto origine a partire da nuclei organici e in sé compiuti, nel quale il sogno era la dominante». Anders als G und Q überliefert N zehn Verse, was die ursprüngliche Fassung sein dürfte (cf. ibid.).

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Bitte an die Erwählte zu richten (v. 9). Ähnlich charakterisiert solche aus dem Traumglück geschöpfte Hoffnung das «ancora prevalentemente cortese»507 Entr’Arago e Navarra jazia von Cerveri de Girona {S b, 10}. Das Werk des – so Asperti – «maggiore dei trovatori nati in Catalogna»,508 das als umfangreichstes und vielseitigstes der Trobadordichtung gilt,509 überliefert den einzigen über eine cobla hinaus entfalteten okzitanischen songe érotique. Die kunstvoll in Binnenreimen und coblas doblas gestaltete Komposition ist als Unicum510 tradiert und darf in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s, wohl um 1276,511 entstanden sein. Eröffnet wird der somni durch eine für die pastourelle-Dichtung typische Verortung («Entr’Arago e Navarra» I, 1),512 an die sich ein Anti-Natureingang anschließt, der eine originelle Kontextualisierung des folgenden Traums bietet: Das lyrische Ich findet sein Schlaflager in einem ärmlichen Haus mit undichtem Dach, sodass es das draußen herrschende Gewitter aus Regen, Donnern und Blitzen hautnah miterlebt («de sus me plovia,/e lamps ab tro e vens plugs y fazia» I, 2s.). Das Bild deutet als Analogie zwischen dem Makro- und Mikrokosmos auf die emotionale Verfassung des lyrischen Ich hin. Durch den Anti-Natureingang wird der Kontrast zwischen der Wach- und der Traumwelt zusätzlich verstärkt und syntaktisch durch die Konjunktion «mays» (I, 4) vorbereitet. Schön («bo» I, 4) ist nämlich, was das lyrische Ich «en durmen» sieht («vezia» I, 4), denn im Traum erhält der Liebende eine Nachricht («missatge» I, 5) von seiner Dame, die er gemäß dem celar-Gebot als Geheimnis hüten möchte (I, 6). Dass die Dame dem Liebenden im Schlaf («que dormia» II, 2) «gran joy» (II, 1) gewährt, führt die zweite cobla aus. Eine zusätzliche Kontextualisierung erhält der Traum durch die temporale Situierung auf «la vespra […] de Totz Sans» (II, 2), die dem insomnium nach mittelalterlicher Konvention513 mehr Gewicht und Verazität verleiht. Die Szenerie der dritten cobla, die etwas überraschend mit «l’autra jorn» eingeleitet wird, fokussiert erneut ein Traumbild. Auch wenn die Struktur des somni keine logische Abfolge zeigt, sodass – wie Lewent zurecht betont – «one can hardly find out whether all the incidents described in the poem have happened in the same dream or whether all of them are really meant to form part of that dream»,514 507 508 509 510 511 512 513

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Grimaldi 2008, 14. Asperti 1999, 356. Cf. Bossuat 21993, 232b. Hs. Sg 33r. Cf. Grimaldi 2008, 19s. Cf. z. B. die Incipits von zwei pastorelas aus der Feder von Cerveri: Entre Caldes e Penedes (BdT 434, 7b) oder Entre Lerida e Belvis (BdT 434, 7c). Die Fixierung bedeutender Träume auf bestimmte Feiertage begegnet immer wieder in der mittelalterlichen Dichtung. Cf. zum Beispiel die Festlegung des allegorischen Traums im Dit de la panthère von Nicole de Margival auf die Nacht vor Mariä Himmelfahrt («Assumpcïon» v. 51). Auf ein anderes Beispiel, das ebenfalls die Nacht vor Allerheiligen für den Traum wählt, verweist Grimaldi (2008, 19): «Ma è più importante notare, credo, che ad Ognissanti appare Amore a Dante, al lato di madonna, in Di donne io vidi una gentile schiera». Lewent 1962, 1.

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kann man hier wohl die Fortsetzung des Traumberichts annehmen. Der «gran joy» (II, 1) der zweiten cobla wird hier nämlich spezifiziert: Der Liebende träumt, in der Kammer seiner Dame zu sein und sie zu küssen (III, 2), wobei die Geliebte begierig seine Küsse erwidert («plus de cen ves c’un sol [tan] no·m pauzava» III, 3) und sich dabei auch dann nicht stören lässt («del baysar no·s laxava» III, 5), als die beiden von einer gayta überrascht werden («e·ns sobrepres una qui la·m guardava» III, 4). Damit gesellt sich zum voyeuristischen Wunsch des lyrischen Ich nach einer heimlichen contemplatio (II, 5) auch ein exhibitionistisches Moment hinzu. Hier versteht Cerveri die für die Trobadorlyrik charakteristische Figur der gayta originell einzusetzen. Durch seinen Traum ermutigt beschließt der Liebende am Ende des somni, seine Dame um Gnade anzuflehen (II, 3s.) und äußert den Wunsch nach Erfüllung des Traumglücks im Wachleben (IV, 6s.). Zwar ist ein solcher Abschluss des Liebestraums, den auch Grans gauchs m’ave la noit, quan sui colgatz {S b, 1} zeigt – anders als Braet515 annimmt – nicht einzigartig, doch entfaltet die romanische Lyrik selten eine solche positive Reaktion nach dem Erwachen. Auch die altfranzösische Lyrik kennt laut Breat516 mit der Kanzone Quant il ne pert fueille ne flours517 von Gautier de Dargies nur ein Beispiel für eine deutlich artikulierte Hoffnung auf Traumerfüllung und Giacomos da Lentini Membrando l’amoroso dipartire518 mit seiner Deutung des beglückenden Traums als Vorwegnahme des Zukünftigen und zugleich Erwünschten (V, 7s.) stellt in der Poesie der scuola siciliana ebenfalls eine Ausnahme dar. Von ganz anderer Art ist der dritte okzitanische somni, das in der Hs. Q (fol. 40r) überlieferte Un cavaler conosc qe l’altrer vi {S b, 2}. Die cobla zeugt von einer großen Popularität des Traumschemas, das bereits in der Trobadorlyrik Parodien nach sich zog.519 In diesen Versen, die – so Grimaldi treffend – dem «registro comicorealistico»520 zuzurechnen sind, wird aus der Sicht des lyrischen Ich eine Anekdote von einem «cavaler» (v. 1) erzählt, der eines Nachts im Traum (v. 5) «una domna bel’ e precios’» (v. 2) sieht. Er entkleidet sie und betrachtet ihren Körper und ihr Haar (v. 3s.). Die Traumschilderung schließt mit einer überraschenden Frage des Dichters: «E dirai vos com del somni gari?» (v. 6), die er selbst mit «Ab un’altra q’estava pres de si.» (v. 7) beantwortet und somit einer realen Geliebten vor dem Traumglück eindeutig den Vorzug einräumt. Traumskepsis, die sich insbesondere gegen die Vorstellung des prophetischen Traums richtet, zeigt auch die galego-portugiesische Dichtung. Dabei ist das Motiv des Traums, so Finazzi-Agrò,

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Cf. Braet 1974, 95s.: «Quelques poètes latines osaient suggérer que les images qu’ils avaient entrevues pourraient un jour se transformer en réalité; parmi nos auteurs, Cerveri de Girona est le seul à conclure de la sorte». Braet 1977, 108. Gautier de Dargies, Nr. XXV. Antonelli 2008, Nr. 1D.1. Cf. dazu Kap. 3.2.1. Grimaldi 2008, 8/Anm. 22.

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«già di per sé abbastanza raro nella lirica galego-portoghese. […] Di tale motivo non si possono indicare, in ambito lirico galero-portoghese, riferimenti testuali precisi, che non siano le cantigas dette ‹notturne› di Juyão Bolseyro».521

Die einzigen522 Traumlieder, die uns das Korpus der galego-portugiesischen cantigas überliefert, stammen aus der Feder des Ende des 13. Jh.s523 wirkenden Johan Mendiz de Briteyros. Neben sechs cantigas de amor sind von dem Dichter, dessen Werk vom Herausgeber Finazzi-Agrò «una certa originalità nell’ambito della tradizione lirica medievale galego-portoghese»524 zuerkannt wird, drei cantigas de amigo525 überliefert, die sowohl formal als auch thematisch eine komplementäre Kette bilden. Die erste und dritte cantiga zeigen ein identisches strophisches Schema (abbaCC), während das Mittelstück eine im Vergleich dazu reduzierte Form (abbaC) aufweist. Thematisch bilden die drei Lieder – nach der treffenden Charakterisierung von Regueiro-Diehl – «une sorte de petit drame développé en trois actes».526 Den ersten ‘Akt’ stellt das Lied Amiga, ben ey que non á527 dar, das die im Werk von Johan Mendiz de Briteyros nur an dieser Stelle erscheinende Figur der Vertrauten und Freundin der Liebenden einführt. Sie erkennt die desperate Lage der Liebenden, die einander nicht treffen können, und sagt ihnen voraus, dass Gott die Trauer bald in Freude umkehren werde («Deus tost’em prazer tornar» IV, 2). Diese Prophezeiung spiegelt sich im Wunschtraum der zweiten cantiga wider und wird so zusätzlich bekräftigt. Das zweite und dritte Lied des Zyklus, Deus, que leda que m’esta noyte vy {S d, 2} und Ora vej’eu que non á verdade{S d, 3},528 sind somnis gemäß der Definition. Auch der Herausgeber der cantigas von Johan Mendiz de Briteyros, Finazzi-Agrò, weist in seinem Kommentar im Zusammenhang mit diesen Liedern auf «un genere specifico, detto somi o sompni»529 hin. Im Mittelstück des Zyklus, der cantiga Deus, que leda que m’esta noyte vy {S d, 2}, berichtet die amiga ihrer «in veste di muta interlocutrice della donna innamorata»530 anwesenden Vertrauten über ihr Traumglück der vergangenen Nacht («esta noyte» I, 1), wobei sie den Traum mit einer figura etymologica («en hun sonho que sonhey» I, 2) einführt und die stereotype Einleitungsformel durch ein zusätzliches «ca sonhava» (I, 3) erweitert. Das Traumbild wird primär als akustisches Phänomen dargestellt: Der amigo, der im Traum erscheint, fordert die Liebende zum Gespräch auf («Falade mig’, ay meu lum’ e meu ben!» I, 5), wobei diese Aufforderung gleichzeitig den Kehrreim der cantiga darstellt. Im 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530

Johan Mendiz de Briteyros, 51/119. Cf. dazu z. B. Regueiro-Diehl (1993, 209) oder Grimaldi (2008, 15), der in diesem Zusammenhang von «l’unanime giudizio della critica» spricht. Der Dichter ist um 1270 geboren (cf. Johan Mendiz de Briteyros, 37). Johan Mendiz de Briteyros, 40. Cf. Johan Mendiz de Briteyros, Nr. VI–VIII. Regueiro-Diehl 1993, 206. Johan Mendiz de Briteyros, Nr. VI. Überliefert sind die cantigas in: B 865, fol. 184r und V 451, fol. 72r. Johan Mendiz de Briteyros, 52. Johan Mendiz de Briteyros, 114.

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Unterschied zu konventionellen Traumbildern, die vorrangig visuellen Charakters sind, wird die Betonung auf die Worte des Erscheinenden gelegt, was von einer gewissen «originalité […] par rapport aux modèles provençaux»531 zeugt. Möglicherweise ist hier an eine sexuelle Konnotation von falar zu denken, die in der galego-portugiesischen Dichtung nicht unüblich ist.532 In der zweiten cobla preist die Liebende erneut mit Überbietungstopik das Glück, das ihr «en sonho» (II, 2) zuteilwurde. Der jeweils erste Vers der dritten und vierten Strophe zeigt mit «Des que m’espertey» (III, 1) und «E, poys m’espertey» (IV, 1) die typische Schlussformel der rhetorischen Klammer. Auf das Erwachen folgt Trauer, wobei der «gram pesar» (III, 1) betont mit dem «gram sabor» (III, 2) des Traums kontrastiert. Die Schlussstrophe zeigt als variierendes Element noch die Suche nach Beistand bei Gott, wenn die amiga Gott um Erfüllung ihres Traums bittet («foy a Deus rogar/que me sacass’aqueste sonh’a bem» IV, 1s.). In dieser «geste spontané de dévotion»533 sieht Regueiro-Diehl einen wesentlichen Unterschied zu den Darstellungen von Liebesträumen in der okzitanischen Lyrik, die auf dem Verlust nach dem Erwachen insistieren. Im letzten ‘Akt’ des Triptychons, der cantiga Ora vej’eu que non á verdade {S d, 3}, wird der «esperanza dun soño premonitorio»,534 die im zweiten Lied überwiegt, die desillusionierende Wirklichkeit entgegengestellt. Die das Liedkorpus von Johan Mendiz de Briteyros durchziehende Antithese aus veer und nen veer wird im gesamten amigo-Zyklus entwickelt und durch das Gegensatzpaar ‘schlafen’/‘erwachen’ zusätzlich verstärkt.535 Dabei wird die Reflexion durch eine lakonische Feststellung der Liebenden eingeleitet: Ora vej’eu que non á verdade en sonh’ [...]

(I, 1)

(Nun sehe ich, dass es keine Wahrheit gibt im Traum.)

Die amiga wendet sich hier an ihre Vertraute, die ihr das baldige Kommen ihres Geliebten prophezeit hat,536 und klagt über die vanitas des Traums, der genau wie die Vorhersage der Freundin, unerfüllt geblieben ist, wie die Refrainverse deutlich machen: sonhey, muyt’á, que veera meu bem e meu amigu’e non veo nen vem. (Ich habe geträumt, es ist schon lange her, dass mein Liebling und mein Freund gekommen war, und er ist nicht gekommen und kommt auch nicht.)

531 532 533 534 535 536

Regueiro-Diehl 1993, 208. Cf. dazu auch Johan Mendiz de Briteyros (120). Cf. Brea/Lorenzo Gradín 1998, 75/Anm. 32: «Advírtase que, en non poucas ocasións, falar ten un sentido erótico». Regueiro-Diehl 1993, 209. Brea/Lorenzo Gradín 1998, 159. Johan Mendiz de Briteyros, 114/122. Cf. Johan Mendiz de Briteyros, Nr. VI.

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Die Klage der amiga über die enttäuschte Hoffnung durchzieht nicht nur den Kehrreim, sondern das gesamte Lied. Der Traum offenbart keine Wahrheit («non á verdade nemigalha/em sonho» II, 1s.) und ist als Phänomen völlig wertlos, da er weder gut noch schlecht ist («nen sol non é ben nen mal» II, 2; «nen que m’er pode bem nen mal fazer» III, 3). Diese Wertung impliziert eine Zurückweisung des Traumglaubens («e eu nunca ende creerey al» II, 3), wobei als Grund («porque» II, 4/III, 4) die persönliche Erfahrung angeführt wird, aus der die Erkenntnis («entend’eu ben que» III, 1) über die Nichtigkeit des Traums, der «non pode verdade seer» (III, 1s.), gewonnen wird. Die subjektive Erfahrung legitimiert die Traumskepsis einerseits und die Zurückweisung der Wahrsagerei andererseits und führt zur Erkenntnis über die Selbsttäuschung. So wie die um den Traum und um verwandte Phänomene kreisenden cantigas im Werk von Johan Mendiz de Briteyros zu einer Kette verzahnt sind, so ist auch der erotische Traum von Paolo Lanfranchi, Un nobel e çentil ymaçinare537 {S e, 5}, Schlussteil eines Zyklus von Traumsonetten und schließt sich an die bereits behandelten Amor-Erscheinungen {S e, 2–4} an.538 Wie eine Phantasie erlebt der Liebende den erotischen Traum, der auf ihn wie das Produkt eines «nobel e çentil ymaçinare/[…] ne la mente» (v. 1s.) wirkt. Darauf, dass es sich bei der Szenerie aber tatsächlich um einen Traum handelt, weist das lyrische Ich betont hin: «en verità (ch’eo alora dormia)» (v. 3). Der Liebende träumt, dass er mit seiner dona «en un çardin» (v. 5) fern jeder «vilania» (v. 6) Küsse und Umarmungen («basar et abraçare» v. 6) genießt. Dem Wunschtraum gemäß erklärt die Dame ihm willenlos ihre Liebe und Hingabe («fa’ de mi, o amor, ço che ti pare» v. 7). Eine Nachtigall («un rosignol» v. 10) vervollständigt ganz im Sinne der mittelalterlichen Konvention die Harmonie des locus amoenus und stimmt ihren Gesang an. Burleske Züge erhält die Szenerie durch den sprechenden Vogel, der mit einem Augenzwinkern seine Funktion kommentiert: «Securamente per vostro amor canto» (v. 11). Doch wie gewöhnlich zerschellt das Traumglück schon bald – wie Kleinhenz in diesem Zusammenhang ausführt: «a blissful dream is shattered by the inevitable recall to reality, here represented by the pealing of church bells. The idyll is broken, and the poet, so rudely transported from the summit of joy to everyday realty by an agent of the Church, is tempted to become a heretic».539

Mit dem Erwachen wird die rhetorische Klammer der Traumdarstellung gattungstypisch geschlossen («Y’ mi sveglay» v. 12). Eine Variation stellt hier die Situierung des Erwachens auf den frühen Morgen dar, das, verbunden mit dem Läuten der Kirchenglocken («ché sonava matino» v. 12), mit Savino als «vendetta impulsiva contro la chiesa»540 gedeutet werden kann. Darauf dass die Wen-

537 538 539 540

Codex Barberin. XLV, 47, c. 158. Cf. Kap. 5.2.2. Kleinhenz 1972, 193. Savino 1982, 81.

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dung suonare mattutino durchaus sexuell konnotiert sein kann, ist schon an anderer Stelle hingewiesen worden.541 Die Polysemie verleiht dem Bild zusätzliche Sprengkraft. Beendet wird die kurze Illusion somit einerseits durch die sexuelle Erfüllung, andererseits aber auch durch die energische Erinnerung an die Autorität der Kirche Ende des 13. Jh.s.542 Paolo schreibt nämlich in einer Zeit, in der De Amore bereits durch Etienne Tempier verurteilt (1277) 543 und die Liebeslyrik der Trobadors von der Marienlyrik abgelöst wurde. Im kleinen Canzoniere von Paolo Lanfranchi kommt der erotischen Phantasie {S e, 5} eine Schlüsselrolle zu. Mit dem brüsken Erwachen wird das lyrische Ich, das in der Sphäre des Traums im ständigen Wechselspiel zwischen Hoffnung, Furcht, Desillusion und Freude schwebt, mit dem Anspruch der Realität konfrontiert. Die Verzweiflung, die das Erwachen bewirkt, motiviert im folgenden Sonett – Ogni meo fatto per contrario façço544 – eine Reflexion über das eigene Leben, in der provokativ der Verzicht auf das Paradies formuliert wird, der die abschließenden Fortuna-Sonette545 des Canzoniere vorbereitet. Das insomnium von Paolo Lanfranchi ist mit seiner typischen Verbindung aus Sehnsucht, erträumter Wunscherfüllung und schmerzvollem Erwachen in der italienischen Poesie des Duecento als gattungsstiftende thematische Dominante singulär.546 Ähnlich wie die erotische alba wurde auch der songe érotique als Gattung in der scuola siciliana nicht kultiviert. Einen Ausflug in die erotische Sprache der Liebesträume wagt aber Pier della Vigna mit seinem in lateinischen Versen verfassten Liebesbrief.547 Wahrscheinlich in Anlehnung an trobadoreske Vorbilder548 verbindet der Dichter hier die nächtliche Klage mit dem Motiv des songe érotique, der Enttäuschung nach dem Erwachen und der vergeblichen Suche nach der Geliebten auf dem nächtlichen Lager. Weitere Beispiele, die dieses typische insomnium-Schema imitieren, überliefert uns weder die lateinische noch die volkssprachliche Dichtung Italiens. An der Schwelle zum 14. Jh. dichtet aber Dante da Maiano ein außergewöhnliches Traumsonett – Provedi, saggio, ad esta visïone {S e, 6} –, das in origineller Weise an die Thematik des erotischen Traums anschließt. Der stark von Giacomo da Lentini und den okzitanischen Dichtern des trobar leu beeinflusste Dante da Maiano,549 der auch auf Okzita-

541 542 543 544 545 546 547

548 549

Cf. Kap. 5.1.1.1. Cf. Savino 1982, 78. Cf. Lazar 1964, 268. Savino 1982, Nr. V. Cf. Savino 1982, Nr. VI und VII. Cf. dazu die Themensammlung von Catenazzi (1977, 180s.). Cf. Bertoni 21927, 63–76. Bertoni (21927, 72) schließt nicht aus, dass die Gattung des Liebesbriefs in der italienischen Poesie des Duecento existiert haben könnte: «ma non è detto ch’egli non abbia anche potuto aver sotto gli occhi uno o più ‘saluti’ poetici italiani perdutisi nel grande naufragio della nostra lirica antica». Cf. Bertoni 21927, 69: «Che in questa lettera amatoria siano penetrati alcuni concetti propri sopra tutto della lirica provenzale, possiamo ammettere senza difficoltà». Cf. Kleinhenz 1986, 118.

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nisch gedichtet hat, wertet mit seiner Komposition das insomnium auf, indem er es zum Gegenstand der Traumexegese macht. So leitet er das Sonett mit der Bitte um Auslegung («ne trai vera sentenza» v. 2) des als «visïone» (v. 1) bezeichneten Traumbildes ein und appelliert dabei an einen explizit als weise («saggio» v. 1) apostrophierten Freund («amico» v. 9). Auf diese appellatio folgt die retrospektive Schilderung des Traumbildes (v. 3–14): Dem lyrischen Ich erscheint eine schöne («una donna di bella fazzone» v. 3) und von ihm geliebte Dame (v. 4). Sie schenkt ihm einen blühenden Blumenkranz («una ghirlanda» v. 5) und vollzieht den Kleidertausch (v. 8), was der Träumende als invitatio zum Liebesspiel deutet. Diese erwidert die Dame, dem Wunschtraum entsprechend, gern und lachend («non si contese, ma ridea» v. 11). Ganz in der höfischen Tradition des celar steht das Schweigegebot («del più non dico, ché mi fé giurare» v. 13), das sich an die Liebesszenerie anschließt und die erotische Begegnung zum secretum macht. Ein überraschender Schluss kontrastiert mit dem konventionellen Schema des Liebestraums: Die domna, mit der der Träumende Liebesfreuden genießt, erscheint ihm in Begleitung seiner toten Mutter («morta, ch’è mia madre» v. 14). Die Bitte des Dichters um Traumauslegung ist nicht ohne Reaktion geblieben, denn sechs550 Antwortsonette – darunter namhafter Dichter wie Chiaro Davanzati und Dante Alighieri – sind überliefert. Zwar kennt die italienische Tradition mit Cinos da Pistoia Vinta e lassa era già l’anima mia551 und dem Antwortsonett A tal vision risponder non savia552 von Mula de’ Muli auch einen anderen berühmten Fall einer expliziten Kommentierung eines Traumsonetts, doch die Zahl der tradierten Kommentare auf den fingierten Traum Dantes da Maiano zeugt eindeutig von besonderer Popularität dieser visïone. Diese Resonanz stellt einen Glücksfall dar, da sie eine Bandbreite an Reaktionen auf ein identisches Traumbild überliefert und so, gewiss gebrochen durch die Literatur, Variationen und Möglichkeiten des mittelalterlichen Traumverständnisses aufzeigt. Die Deutungen reichen vom Verständnis des Traums als positive prophetische Botschaft bis hin zur Auslegung des insomnium als Warnung. Unterschiedliche Deutungstraditionen werden dabei sichtbar. So reiht sich Salvino Doni (LIVc) mit seiner explicatio in die Tradition der biblischen Auslegung ein, während Ricco da Varlungo (LIVe) die Geomantie als Lösungsweg für eine adäquate Deutung anpreist. Primär als divinatorischer Traum wird das insomnium von Dante Alighieri (LIVd) und Chiaro Davanzati (LIVa) verstanden, die das Traumbild durch die Exegese über die reine Funktion der imaginierten Wunscherfüllung erheben. Zwar betonen diese Deutungen den prophetischen Charakter des Traumbildes, machen die Erfüllung desselben aber auch vom weiteren Verhalten des Träumenden abhängig. So lautet der Rat von Chiaro Davanzati (LIVa): «Verrà di fatto, s’Amor siguirai» (v. 12). Gleichzeitig macht Chiaro aber auch mit dem für ihn typischen Motiv des «parpiglione» (v. 7) auf die Gefahr der Liebeserfüllung aufmerksam. Ganz im Sinne des höfischen 550 551 552

Cf. Dante da Maiano, Nr. LIVa–LIVs. Cino da Pistoia, Nr. LXXIV. Cf. Zaccagnini 1907, 97.

242

Kodex heben die Antwortsonette immer wieder die Bedeutung des celar-Gebots hervor, dessen Beachtung sie als Voraussetzung der Traumerfüllung verstehen. So erhebt Ser Cione Baglione (LIVf) in seiner Deutung das «celare» (v. 11) zur Basis der realen Liebe und Guido Orlandi (LIVb) formuliert die folgende Leitidee, die zum Liebeserfolg führt: «Ama celato, avra’ne gioia assai» (v. 14). Auch die Erscheinung der toten Mutter wird in den Auslegungen diskutiert. Während sie bei Dante Alighieri (LIVd) als Bekräftigung der Traumerfüllung verstanden wird (v. 13s.), legt Salvino Doni (LIVc) diese apparitio als Warnung dar (v. 13s.), indem er betont, dass ein tatsächlicher Genuss der Liebesfreude den Tod der Geliebten nach sich ziehen muss (v. 12). An dieser Stelle macht sich die Tabuisierung der Darstellung körperlicher Liebe in der gelehrten italienischen Dichtung des Duecento bemerkbar, die auch in der Deutung von Guido Orlandi (LIVb) zum Ausdruck kommt. Der Dichter tadelt den Liebestraum als Versuch, durch die Verlegung erotischer Wünsche und Sehnsüchte in die Sphäre des Traums, sich aus der Verantwortung für eigene Taten und Gedanken entziehen zu wollen. Die explizit erotische Darstellung versteht er nämlich als Verletzung des celar: «non bona convenenza – è palesare amor di gentil donna o di donzella, e per iscusa dicere: ‹Io sognai›.»

(v. 9ss.)

(«Es ist nicht recht, die Liebe einer edlen Dame oder Jungfrau zu offenbaren und zur Entschuldigung ‹Ich träumte› zu sagen.»)

Interessant ist die in den Antwortsonetten immer wieder geäußerte Skepsis an der Möglichkeit der Traumdeutung, sei es als expliziter Verweis auf die Subjektivität der eigenen explicatio bei Guido Orlandi (LIVb/«al meo parere» v. 2), als Hinweis auf die Problematik der Traumauslegung bei Chiaro Davanzati (LIVa/«non ne so ben trar vera sentenza» v. 4) oder als allgemeine Absage an jede Möglichkeit der explicatio somniorum bei Ser Cione Baglione (LIVf): «Credo [che] nullo saggio a visïone/possa [ben] dire o dar vera sentenza» (v. 1s.). 5.2.4.

Die Bilder der imaginatio und das visum

«Décrire et définir les états de conscience qui mènent à la rêverie ou au rêve, s’interroger sur la frontière entre ces deux états»553 – das sind Fragen, die in der Literatur des Mittelalters spätestens seit dem 12. Jh. gattungsunabhängig immer wieder thematisiert werden, wie Zink hervorhebt. Das von Macrobius als hypnagoger Zustand beschriebene visum stellt einen ebensolchen «état de conscience» dar, der als Übergang vom Wachen in den Schlaf in der «prima somni nebula»554 Bilder vor dem geistigen Auge entstehen lässt. Diese von Macrobius deklassierte Traumform erfährt im Mittelalter in unterschiedlicher Hinsicht eine Aufwertung.

553 554

Zink 1985, 162. Macrobius a): Commentarii I, 3, 7.

243

So wird die dem Wachtraum verwandte «vision éveillée» in der Visionsliteratur – beispielsweise bei Hildegard von Bingen555 – als «la forme la plus haute de la révélation»556 verstanden, worauf Schmitt hinweist. Wie das visum werden solche Visionen häufig in Schwellenmomenten vor dem Einschlafen oder Erwachen beschrieben.557 Unabhängig vom religiösen Kontext wird der (Wach)Traum ferner immer wieder mit der dichterischen Inspiration in Verbindung gebracht, was – wie Haag betont – mit der «Akzeptanz der Korrelation [einhergeht], dass Dichten Träumen implizieren kann»558 und vice versa. Schon Augustinus, der in De Trinitate (III 38, 2) über das Phänomen des Wachtraums berichtet, bringt es ebenfalls implizit in die Nähe der dichterischen Phantasie. Er behandelt nämlich den Wachtraum und die schöpferische Tätigkeit der memoria als Generatoren neuer und erinnerter Bilder, die unabhängig von sensorischen Wahrnehmungen entstehen können, als analoge Erscheinungen.559 Ähnlich beschreibt später auch Abaelard in seinen Briefen an Héloïse das Imaginieren seiner Geliebten im Wachund Traumzustand als vergleichbare Prozesse.560 Der Wachtraum, den Morrissey als «l’incursion des fantômes du rêve dans l’état de veille»561 beschreibt, macht als intermediäres Phänomen die Analogie zwischen Träumen und Dichten besonders deutlich, die in allen romanischen Sprachen angelegt ist und schon im Lateinischen besteht, wie Greive in seiner Untersuchung des Phänomens zeigt, denn «schon lat. SOMNIARE beschreibt nicht nur das Schlafen im Traum, sondern auch metaphorisch einen vergleichbaren Zustand des wachen Menschen, der im Deutschen Wachtraum (engl. day-dream) genannt wird, vgl. ‹vigilans somniat› bei Plautus».562

Die Entsprechung zwischen dem (Wach)Traum und der Phantasie beruht primär auf der Loslösung von der Gegenwart der Wahrnehmung und auf der assoziativen Verknüpfung von Ideen und Vorstellungen, die nicht dem Diktat der ratio unterworfen werden. Poetisch verarbeitet werden diese Ideen in der mittelalterlichen Dichtung der Romania schon seit den ersten Beispielen der Trobadorlyrik. Folgende Kompositionen reihen sich beispielsweise in diese Tradition ein: Guilhem de Peitieu: Farai un vers de dreyt nien {S b, 3} Guilhem de Peitieu: Farai un vers, pos mi sonelh {S b, 4} Anonym: Poso ’l corpo ’n loco meo pigliando {S e, 1} Pedr’Eanes Solaz: Eu velida non dormia {S d, 1}

555 556 557 558 559 560 561 562

Cf. Wittmer-Butsch 1990, 131. Schmitt 2001, 304. Cf. Verdon 21998, 71. Haag 2003, 192. Augustinus: De Trinitate XI IV, 7. Cf. Ricklin 1998, 56–62. Morrissey 1979, 266. Greive 1973, 487. Allerdings nimmt Greive (1973, 493) die Bedeutung «kreatives, fiktionales Denken» für frz. songer erst im 17. Jh. an.

244

Guilhem de Peitieu (1071–1126),563 der erste volkssprachliche Dichter des mittelalterlichen Europas, reflektiert in seiner viel kommentierten Komposition Farai un vers de dreyt nien {S b, 3}, die immer wieder als devinaill (PC, BEdT) bezeichnet wird, die Analogie zwischen der Traumsphäre und dem dichterischen Akt. Dieses in zwei564 Handschriften überlieferte Lied ist, so Rieger, «eines jener altprovenzalischen Gedichte, die der Provenzalistik bis heute am meisten Kopfzerbrechen bereitet haben und deren Erhellung von der Forschung immer aufs neue versucht wurde».565

Trotz unterschiedlicher Interpretationsansätze wird das Lied immer wieder als Beispiel des somni,566 als «dream poem»567 oder «Traumlied»568 bezeichnet, womit die vor allem in der ersten und vierten cobla entfaltete Traumthematik als zentral für die gesamte Komposition erkannt wird. Farai un vers de dreyt nien {S b, 3} zeichnet den Dichter als aktiven Träumer, der in einem Zustand zwischen Traum und Wachen seine poetische Kreativität entwickelt, wobei sowohl das Reiten als auch der Wachtraum als Movens des Dichtens fungieren: Farai un vers de dreyt nien: Non er de mi ni d’autra gen, Non er d’amor ni de joven, Ni de ren au, Qu’enans fo trobatz en durmen Sobre chevau.

(I)

(Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen: Es wird nicht über mich, noch über andere Leute sein, es wird nicht über die Liebe noch über Jugend sein, noch über etwas anderes, vielmehr wurde es im Schlaf gedichtet auf einem Pferd.)

Die assoziative Denkbewegung der Dichtung im Zustand des visum oder der dorveille – die Zink als «une sorte d’assoupissement dans lequel l’esprit n’entretient plus qu’un rapport distant avec le réel ou perd même contact avec lui, sans pour autant céder au sommeil»569 erläutert – wird durch die rhythmischen Reitbewegungen initiiert. Damit, dass der trovatore bifronte sein Lied «en durmen/sobre chevau» (I, 5s.) dichtet, leitet er eine Tradition der Trobador- und Trouvèrelyrik ein, in der die Verbindung zwischen dem einsamen Reiten und dem tiefen Nachsinnen immer

563 564 565 566

567 568 569

Bossuat 21993, 593a. Hs. C 230v–231r, E 114. Rieger, D. 1975, 7. Cf. dazu auch den Kommentar von Ringger (1991, 104): «Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang der Typus, den die Doctrina de compondere dictats ‹sompni› (< SOMNIUM) nennt. […] Und man erinnert sich, daß bereits der Vers de dreyt nien ‹fo trobatz en durmen› (im Schlaf gedichtet wurde)». Kendrick 1988, 19. Leube-Fey 1971, 29. Zink 1985, 148.

245

wieder akzentuiert wird. Vor allem in der Gattung der pastourelle570 begegnet man häufig dem Bild des einsamen und nachdenklichen Ritters zu Pferd, das im deutlichen Kontrast zu den folgenden oft frivolen Schäferszenerien steht, die er als Voyeur beobachtet oder an denen er als Akteur teilnimmt. Die Deutung dieser Episoden als Wunschphantasien oder Produkte der imaginatio des sinnierenden Reiters wären eine mögliche Lesart der pastourelles. Das Lied Farai un vers de dreyt nien {S b, 3} verlässt mit seinen Widersprüchen und alle kausalen Ketten durchbrechenden Ideen die Bahnen des Erwartbaren. Das in seinem paradoxen Wesen vom Schicksal bestimmte lyrische Ich («Qu’enaissi fuy de nueitz fadatz» II, 5) lebt in einer Welt zwischen Schlafen und Wachen, deren Grenzen es selbst nicht zu erfassen vermag: No sai quora·m suy endurmitz Ni quora·m velh, s’om no m’o ditz.

(III, 1s.)

(Ich weiß nicht, wann ich eingeschlafen bin, noch wann ich wache, wenn es mir nicht jemand sagt.)

Die Grenzen des Ich scheinen aufgelöst (II, 1–4), das Leiden am Liebesschmerz («dol corau» III, 4) und todbringender Liebeskrankheit (IV, 1) stehen einer betont gelassenen Hinnahme des Zustands gegenüber (III, 5s./V, 3s.), während sich die angedeutete und später von Jaufre Rudel571 entfaltete Idee der amor de lonh (VI, 1/V, 1s.) mit dem gleichzeitigen Vorzug einer realen Geliebten verbindet (VI, 3–6). Die Suche nach der «contraclau» (VII, 6) legt eine Deutung des somni als devinalh572 nahe und rückt die Komposition in die Nähe eines späteren Rätsellieds von Guiraut de Bornelh: Un sonet fatz malvatz e bo.573 Mit seinem Spiel mit Gegensätzen erscheint das Lied von Guiraut wie eine Imitation vom Vers de dreyt nien {S b, 3}. Anders als der trovatore bifronte, der nach der contraclau verlangt, bietet aber Guiraut de Bornelh in der letzten cobla und in der zweiten tornada seiner Komposition die Begründung für sein zielloses und von Paradoxen geprägtes Nachsinnen: Cela m’a fach oltracudar Que no·m vol amic apelar!

(VIII, 5s.)

(Hat mich doch die um den Verstand gebracht, die mich nicht Freund nennen will!)

570

571 572

573

Cf. z. B. die pastorela von Pierre de Corbie (Paden 1987, Nr. 16), die mit den folgenden Versen beginnt: «Pensis com fins amourous,/l’autrier chevauchoie» (I, 1s.) (Tief in Gedanken versunken, wie ein aufrichtig Liebender, ritt ich neulich dahin.) Cf. dazu z. B. das berühmte No sap chantar qui so non di (Jaufre Rudel, Nr. VI.), das Spitzer (1944, 25ss.) als Antwort auf den Vers de dreyt nien {S b, 3} interpretiert. Cf. z. B. die Gattungszuweisung in der BdT (devinaill («vers»)). Zur Interpretation des Lieds als devinalh, das in Anlehnung an die Tradition des mittellateinischen Rätsels entstanden ist und nach einem ganz bestimmten Lösungswort fragt (hier: somnium), cf. vor allem Scheludko (1931) und Del Monte (1955). Guiraut de Bornelh a), I, Nr. 53.

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X. Ela·m pot en mo sen tornar, Si·m denhava tener en char.

(X)

(Sie könnte mir meinen Verstand wiedergeben, wenn sie mich lieben wollte.)

Somit ist das Lied als einer der vielen Beweise zu lesen, wie Kolsen erklärt, «daß sich bei den Trobadors, wie auch schon bei Ovid, der höchste Grad des ‘Liebesrausches’ im Verlust des Verstandes und der Sinne kundgibt».574 Und dass die Verbindung zwischen Wahnsinn und Dichtung schon seit Platon575 immer wieder herausgearbeitet wurde, bedarf hier wohl keiner weiteren Erklärung. Eine interessante Lesart von Farai un vers de dreyt nien {S b, 3} ergibt sich aus der Aneinanderreihung des jeweils ersten Verses jeder cobla: Farai un vers de dreyt nien: No sai en qual hora·m fuy natz: No sai quora·m suy endurmitz Malautz suy e tremi murir, Amigu’ ai ieu, no sai qui s’es, Anc non la vi et am la fort, Fag ai lo vers, no say de cuy. (Ich werde ein Lied über nichts dichten. Ich weiß nicht, zu welcher Zeit ich geboren wurde. Ich weiß nicht, ob ich eingeschlafen bin. Krank bin ich und zittere vor dem Tod. Eine Freundin habe ich, ich weiß nicht, wer sie ist. Ich habe sie niemals gesehen und liebe sie sehr. Ich kenne den Ort nicht, an dem sie sich befindet. Ich habe ein Lied gemacht, und ich weiß nicht worüber.)

Auffällig ist die parallele Struktur, die sich bei einer solchen Betrachtung der Komposition ergibt. So stehen sich die Verse I, 1 und VII, 1, II, 1/III, 1 und V, 1/ VI, 1 gegenüber – angedeutet auch durch die Entsprechung in den Anfangsbuchstaben –, während der mittlere Vers IV, 1 als Spiegelfläche fungiert. Der parallele Aufbau suggeriert eine Analogie zwischen der unbekannten Traumgeliebten und dem lyrischen Ich, dessen Herkunft verschleiert wird. In gewisser Weise reflektiert jedes Lied seinen Gegenstand und dessen Schöpfer zugleich: Der Schöpfer selbst wird zum Geschöpf und das Erschaffene zum Abbild des Urhebers. Um die Transparenz dieser Grenzen zu beschreiben, bedient sich der Trobador der Metapher des Traums, in dem sich die Konturen des Ich auflösen. Der Dichter erschafft ausgehend von bestimmten Assoziationen in einem Schwebezustand zwischen Schlaf und Wachen,576 diesem Medium der dicherischen Schöpfung, in gewissem Sinne das nach außen gekehrte Traumbild seiner selbst.

574 575 576

Guiraut de Bornelh a), II, 94. Platon: Bd. V Phaidros, 245a. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Seybold (1984, 53/Anm. 9) darauf, dass im Ägyptischen «das Wort für Traum (rĞw.t) etymologisch mit der Wurzel ‘erwachen/wach sein’ zusammen[hängt] und […] mit einem offenen Auge determiniert [wird]. Seine Bedeutung ist etwa ‘das Wachen im Schlaf’».

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Auch in dem in drei577 Handschriften überlieferten Farai un vers, pos mi sonelh {S b, 4} von Guilhem de Peitieu wird der Traum schon zu Beginn der ersten cobla zur Metapher des schöpferischen Akts578 stilisiert, denn ähnlich wie der Vers de dreyt nien {S b, 3} ist auch dieses Lied – so Köhler – «im Schlaf gedichtet [worden], in der Sonne, vermutlich zu Pferd».579 Die charakteristische Trias aus Reiten (?), Tagtraum und Dichten verbindet sich hier, wie auch häufig in der pastourelle-Dichtung, mit einer erotischen Szenerie, deren narrative Struktur der Komposition die Klassifizierung als Romanze einbrachte.580 Dabei wird das zentrale erotische Abenteuer wegen der Kontextualisierung der ersten Verse als Resultat der dorveille,581 als «Tag- oder Wachtraum»582 gedeutet, so auch von Stanesco: «Pour le poète, l’acte poétique est une conséquence de son état hypovigile. Cela est tout à fait comparable à ce que Guillaume IX dit de son célèbre poème Farai un vers de dreit nien.[…], à l’état de la conscience semi-endormie, auquel tout le moyen âge accordait la signification d’un rituel privilégié de révélation».583

Diese visum-Erfahrung und das anschließende Wunschbild stehen mit einer Reflexion im Zusammenhang, die die ersten beiden coblas durchzieht: Darin werden Damen gerügt, «c’amor de chevaler/Tornon a mals» (I, 5s.), indem sie einen «monge o clergal» (II, 3) einem «cavalier leal» (II, 2) vorziehen. Mit diesem Standpunkt beziehen die coblas – so Rieger – «in der mittelalterlichen Streitfrage, ob der clericus oder der miles der bessere Liebhaber sei, eindeutig Stellung».584 Das zentrale erotische Abenteuer, das aus dieser Kritik entspringt und ein burleskes Bild nach Art der Fabliaux bietet, beginnt mit der dritten cobla,585 die von einem typischen pastourelle-Vers («En Alvernhe, part Lemozi» III, 1) eingeleitet wird.586 Allein und im Pilgergewand («totz sols a tapi» III, 2) betritt das lyrische Ich «wie ein Pastourellenheld»587 die Szenerie und trifft auf zwei verheiratete Frauen (III, 3s.), die der Fremde, wie es sich für einen Pilger auf dem Weg nach Noblat gehört, «per san Launart» (III, 6) grüßt. Dieses frühe Beispiel der Verknüpfung von Pilgerthematik und Erotik weist auf eine Tradition hin, die in der mittelalterlichen Dichtung der Romania auf unterschiedliche Art und Weise Spuren hinterlassen hat. Zu denken wäre hier an die Metapher der Pilgerfahrt für die erotisch konnotierte Eroberung der Geliebten im Rosenroman des Jean de Meun 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587

C 232r–v, N 225 (351)/N 232 (366), V 148. Cf. Braet 1985, 21. Köhler 1973, 422. Cf. z. B. die Gattungszuweisung in der BdT (183, 7) und im GRLMA (Köhler 1979, 56). Zur Kritik an dieser Klassifizierung cf. Rieger, D. (1980, 239). Cf. Lejeune 1973, 492. Köhler 1973, 431. Stanesco 1989, 122. Rieger, D. 1980, 240. In der Hs. C. beginnt die Komposition mit dieser cobla. Ferner wird darin eine zusätzliche Schluss-cobla überliefert, die an den Boten adressiert ist. Cf. Lejeune 1973, 488–492. Köhler 1973, 423.

248

(v. 21350–21356), an die Gattung der cantiga de romaría,588 die Pilgerstätten oder andere sakrale Orte zu Bühnen der Liebesbegegnung werden lässt, oder an den Pilger und den Pilgerstab in dem Lied Lanquan li jorn son lonc en may von Jaufre Rudel,589 das man ebenfalls vielleicht etwas «weniger fromm lesen sollte als die bisherige Forschung»,590 wie beispielsweise Söffner fordert. Die wohl als Parodie der mal-maridada konzipierten Frauenfiguren591 begrüßen darin den Pilger freundlich, warnen vor der «folla gent» (IV, 6) und leiten damit gleichzeitig die burleske Szenerie ein, da der Pilger als Antwort nur unmissverständliche592 Laute (V, 5s.) von sich gibt. Die Frauen schlussfolgern, dass der Mann stumm sein muss («es mutz» VI, 4) und fassen den Plan, seine angebliche Hilflosigkeit auszunutzen («Trobat avem que anam queren!» VI, 2), indem sie ihm eine Herberge anbieten. Der Intrige der domnas steht die Täuschung durch den Pilger gegenüber, wobei das Motiv des angeblich Stummen, der sich dadurch einen Vorteil verschafft, lange Schwanktradition hat.593 Eine der Frauen nimmt den Pilger unter ihren Mantel (VII, 1): Das Symbol des Schutzes in der feudalen Gesellschaft wird hier erotisch umgedeutet. Und auch cambra und fornel (VII, 2), Inbegriffe der Herberge, die dem Pilger aus Christenpflicht gewährt werden soll, erfahren eine erotische Lesart, wenn sich das lyrische Ich «als gros carbos» (VII, 6) wärmt. Zu essen werden dem Pilger «capos» (VIII, 1) gereicht, eine kulinarische Spezialität, die im Mittelalter gleichzeitig als Aphrodisiakum galt. Nach dem großzügigen Gelage, das die drei allein («sol nos tres» VIII, 4) genießen, soll der Pilger auf die Probe gestellt werden, und der kuriose «gat ros» (IX, 3), hinter dem sich der gelos594 verbirgt, betritt die Bühne (X, 1s.). «Lo gat/Mal e felon» (XI, 3s.) wird auf dem nackten Rücken des Pilgers platziert und fügt diesem «plajas […] mais de cen» (XII, 3) zu. Trotz seiner Angst (X, 4ss.) und der Brutalität der «Probe»595 gelingt es dem Pilger, die Schwestern zu täuschen, was jene mit der conclusio «mutz es» (XIII, 2) bekräftigen. Wie unterschiedliche Quellen nahelegen, ist die so genannte «prova del gat» im Mittelalter zur Enthüllung und Bestrafung des

588 589 590 591 592

593

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Zu dieser Modalität der cantiga de amigo cf. Brea/Lorenzo Gradín (1998, 256–261). Jaufre Rudel, Nr. V. Söffner 2009, 75. Cf. Köhler 1979, 57. Vermutlich ist das viel interpretierte «Babariol, babariol,/babarian.» (V, 5s.) an okzit. balbt «stotternd» (LexRom II, 172b) und balbucient «stammelnd» (LexRom II, 173a) angelehnt. Cf. Stanesco (1989, 119): «Le motif du jeune homme qui cache sa véritable identité pour jouir impunément des charmes d’une femme rigoureusement gardée est, en fait, universellement répandu». Cf. z. B. Boccaccio: Decamerone III, 1. Cf. Rieger, D. 1980, 240. Stanesco (1989, 115/119) deutet die Szenerie als Anspielung auf archaische Initiationsriten: «Selon nous, elle [la pièce; Anm. G. B.] raconte une épreuve spécifique des ‘rites de puberté’, par l’étroite association de la sexualité, du sang et de la mort symbolique. […] La bizarrerie indéniable de l’épisode du chat, la solidarité qu’il institue entre le sang et la sexualité orientent la lecture vers tout autre chose que l’habituel comique érotique».

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Ehebruchs angewandt worden.596 Auch die Trobadorlyrik kennt mit der tenso Gaucelm, no·m puesc estener597 ein weiteres Beispiel für eine solche «prova del gat per l’esquena»,598 was – wie Cerdà Subirachs überzeugend zeigt – die Interpretation der Szene als «la representació simbòlica de les males intencions de l’adúlter» oder vielmehr als «subversió de la prova del gat»599 nahelegt. Wie die Stummheit des Helden mit der Redseligkeit der Frauen kontrastiert, so steht auch der warmen und gastfreundlichen Atmosphäre der coblas VII und VIII die Tortur durch den Kater gegenüber, auf die sich wiederum das anzügliche («tant las fotei» XIV, 1) und bis zur Qual (XIV, 5s.) gesteigerte Liebesspiel anschließt, das «ueit jorn ez encar mais» (XIII, 5) andauert. Der dreifache gap, der sich in der Komposition, wie Köhler herausarbeiten konnte, «in der Verdopplung des weiblichen Partners, der Widerstandsfähigkeit unseres Helden bei der Schmerzprobe mit den Katzenkrallen [und] dem Sexualprotzentum»600 manifestiert, findet in der cobla XIV seinen krönenden Abschluss. Zweifellos rührt der Ruf des Trobadors als eines «dels majors trichadors de dompnas»601 – wie seine vida berichtet – auch von diesem außergewöhnlichen Abenteuer her. Vom ausschweifenden Leben des Grafen zeugen auch die gegen ihn ausgesprochenen Exkommunikationen wegen Rechtsverletzung und privater Skandale.602 Einen poetisierten Wachtraum, in dem die Grenzen zwischen sensorischer Wahrnehmung und Traum nicht eindeutig festgelegt sind, zeigt das als Unicum603 tradierte Sonett Poso ’l corpo ’n loco meo pigliando {S e, 1}. Dabei folgt das Gedicht, das spielerisch «fra la realtà e il sogno»604 verharrt, dem Trend der Poesie der scuola siciliana, die die Erschaffung innerer Bilder durch die Verbindung aus memoria und imaginatio motivisch immer wieder verarbeitet.605 Auch sprachlich trägt das Sonett mit seinem «abuso del gerundio»606 die Handschrift der Sizilianischen Dichterschule. Zu denken wäre hier ferner, so Coluccia, an ein «possibile incrocio, in una sorta di microstoria, tra il ‘sonetto di visione’, coltivato da Dante da Maiano, Dante Alighieri e Cino, e il sonetto ‘narrativo’ del Fiore”,607 aber vor allem auch an die Blume, die Amor dem Liebenden in Paolos Lanfranchi L’altrer, dormendo a mi se venne Amore {S e, 2} überreicht. Das Sonett, das von erotischen Anspielungen geprägt ist, zeichnet den Bewusstseinsübergang vom Wachen in den Schlaf, wobei sowohl die dem Schlaf vorangehende intensive Reflexion als auch

596 597 598 599 600 601 602 603 604 605 606 607

Cf. Cerdà Subirachs 2006, 151–157. Cf. Jones 1934, Nr. IV/VIII, 3s. Cerdà Subirachs 2006, 164. Cerdà Subirachs 2006, 169. Köhler 1979, 56. Boutière/Schutz 21973, I, 7. Bossuat 21993, 593a. B 341 (B = Laurenziano-Rediano 9) La 341, fol. 133r. Pagani 1968, 516. Cf. Kap. 3.2.4. Coluccia 2008, 1005. Ibid.

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konkrete Sinneseindrücke, die den Bewusstseinsübergang begleiten, das visum explizit motivieren und somit im Kern die Auffassung der psychophysiologischen Traumdeutung widerspiegeln. Für den Anteil der Psyche am Wachtraum ist vor allem die Reflexion, die den Traum oder traumähnlichen Zustand einleitet, essentiell. Dass die Verbindung zwischen Nachsinnen und Träumen den romanischen Sprachen gemeinsam ist, ist bereits in mehreren Untersuchungen herausgearbeitet worden. In dieser Tradition ist auch die Studie von Morrissey zu sehen, der betont: «Ce n’est pas seulement en français que songer se lie à ‘penser’, l’espagnol soñar et italien sognare peuvent aussi désigner un certain type de pensée désireuse ou rêveuse. […] En fait Schalk démontre que dans les langues latines il y avait un certain flottement terminologique dans le passage du sommeil et du rêve à la fantaisie et à la réflexion».608

Dass tiefes Nachsinnen traumähnliche Bilder oder Träume evozieren kann, betonen mittelalterliche Dichter immer wieder. So begleiten die Gedanken den Liebenden im Flamenca-Roman bis in den Schlaf hinein,609 die imaginierten «diverse figure» (v. 18354) im Rosenroman werden als Produkt des «trop penser» (v. 18351) und des melancholischen Gemüts (v. 18352) beschrieben und auch Dante zeichnet später – zum Beispiel im Purgatorio610 – den Übergang des assoziativen Nachsinnens in den Traum hinein nach. Ähnlich betrachtet das lyrische Ich in Poso ’l corpo ’n loco meo pigliando {S e, 1}, an einem impliziten locus amoenus ruhend, die umherschweifenden Bilder seiner memoria («svarïando la memoria giva» v. 2). Das assoziative Nachsinnen führt schließlich zu einer langen («grand’or» v. 5) und nachdenklichen contemplatio («riguardando stava me pensiva» v. 4) einer «nobel figura» (v. 3), die das visum einleitet. Das in dieser Weise in mittelalterlichen Texten immer wieder nachgezeichnete Phänomen des «mouvement associatif d’une pensée» ist, wie Morrissey betont, als «mouvement volontaire et méthodique d’une ratio vers la connaissance d’un univers intelligible»611 zu verstehen. Neben der zentralen Signifikanz der Psyche wird auch die Bedeutung der Kontinuität realer Sinneseindrücke im Traumgeschehen in der romanischen Literatur seit dem 12. Jh. 608 609

610

611

Morrissey 1979, 274. Cf. Flamenca (3449–51): E ben sol aisso avenir Qu’on somne segon son desir Quan s’adorm sus el pensamen. (Und gewöhnlich kommt es vor, dass man im Traum das sieht, was man begehrt, wenn man in Gedanken daran einschläft.) Cf. Dante: Divina Commedia/Purgatorio (XVIII/v. 141–145): Nuovo pensiero dentro a me si mise, Del qual più altri nacquero e diversi; E tanto d’uno in altro vaneggiai, Che gli occhi per vaghezza ricopersi, E il pensamento in sogno trasmutai. (Ein neuer Gedanke regte sich in mir, aus dem dann neue und andere kamen. Und so schweifte ich von einem zum anderen, sodass ich die Augen vor Verwirrung schloss und das Nachsinnen in einen Traum verwandelte.) Morrissey 1979, 270.

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immer wieder thematisiert, wie beispielsweise die Tradition der altfranzösischen Dits zeigt.612 Das wohl berühmteste Beispiel für eine Sinneswahrnehmung als Movens für tiefes Nachsinnen und Tagträumen ist die Kontemplation der Bluttropfen im Schnee im Perceval.613 In Poso ’l corpo ’n loco meo pigliando {S e, 2} fungiert die Wahrnehmung eines intensiven Duftes als Tagesrest. Der gesamte Tagtraum konstituiert sich um die «anfibologia del dono del flor (concessione sessuale)», so Coluccia, «che non proviene da nessun albero visibile e che, essendo molto ‹aulente›, guida chi dice io all’albóre da cui emana».614 Das lyrische Ich empfängt «un flor» (v. 7), ohne den Überbringer zu erkennen («non vedendo» v. 7). Vom intensiven Duft der Blume («che odorando, poi el molto auliva» v. 8) berauscht erhebt sich das lyrische Ich («levai» v. 9), folgt dem Wohlgeruch («sentendo su l’odor» v. 9) und sucht, von jenem geleitet, nach dessen Ursprung (v. 10s.). Die erfolgreiche Suche führt schließlich zu einem Baum: E, non vedendol, misim’ al sentore, e per l’odore l’albore trovai e riposai all’ombra lungiamente.

(v. 12–14)

(Und, da ich ihn nicht sah, folgte ich der Wahrnehmung, und über den Duft fand ich den Baum und legte mich ganz lange im Schatten nieder.)

Bei gleichzeitiger Betonung der für die romanische Dichtung typischen Form der amor ses vezer (v. 7/v. 12) zeigt dieses visum eine einzigartige Hervorhebung der sensorischen Wahrnehmung, die zur Metapher des von dem konkreten visuellen Reiz losgelösten Suchens und Findens der Liebe wird. Der Wachtraum zeigt sich als Wunscherfüllung und beweist einmal mehr, dass it. sognare «auch ‘erstreben’, d. h. ‘(wünschend) an etwas denken’»615 bedeuten kann und in dieser Funktion nicht selten mit pensare umschrieben wird. Das Wunschdenken zielt als Resultat auf eine erfüllte («l’albore trovai» v. 13) und dauerhafte («e riposai all’ombra lungiamente» v. 14) Liebe. Einen zwar in der Sprache und Bildgebung viel konkreteren, aber dennoch in ähnlicher Weise zwischen bloßem Wunsch und Realität schwebenden Zustand zeigt das zweifach616 überlieferte Eu velida non dormia {S d, 1} des in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s poetisch aktiven Pedr’Eanes Solaz. Besonders die Refrainverse der cantiga («lelia doura,/edoi lelia doura») haben viele Arbeiten angeregt, jedoch, wie Tavani konstatiert, «sem resultados apreciáveis».617 Neben der Annahme reiner Onomatopoesie618 ist immer wieder die Suche nach dem arabischen Ursprung

612 613 614 615 616 617 618

Cf. dazu ausführlich Zink (1985, 149–160). Chrétien de Troyes: Perceval, v. 4128–4146. Coluccia 2008, 1005. Greive 1973, 487. B 829 fol. 175r und V 415 fol. 66v. Tavani 1993, 521b. Es könnte sich hier auch um die Imitation von Schalmei-Lauten handeln. Cf. Zink (1972, 104) in Bezug auf altfranzösische Dichtung.

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der Verse thematisiert worden.619 Einen haltbaren Deutungsansatz bietet die Beobachtung von Dutton, dass «ya leyl […] as a continous emotional ‘yaleyliyaleyliyaleyli… O night…’» in der arabischen Poesie des Mittelalters als Refrainwort als «extremely common»620 einzustufen ist. Der Kehrreim der cantiga könnte so als Echo der nicht oder schlecht verstandenen arabischen Sprache in den Ohren der iberischen Dichter gelesen werden. Jeder Versuch einer Übersetzung dieser Verse aber muss scheitern, denn deren Rätselhaftigkeit und Charme tragen wesentlich zum Klang und zur Qualität der cantiga bei. Passend zu der zwischen Traum und Realität schwebenden Thematik der cantiga verbleiben auch die Refrainverse in einer nicht auflösbaren Mehrdeutigkeit, aus der die Dichtung lebt. Die Komposition Eu velida non dormia {S d, 1}, die immer wieder in die Nähe der alba-Dichtung gerückt wird,621 inszeniert ein «setting […] of a sleepless night»,622 das an die im okzitanischen und iberischen Kulturraum gepflegten cossirs erinnert.623 Je zwei coblas bilden dabei thematische Paare. Im ersten Strophenpaar wacht («non dormia» I, 1) die amiga nachts in Gedanken («cuidava» II, 1) an ihren Geliebten, dessen herbeigesehnte Ankunft (I, 3/II, 3) sie in ihrer Vorstellung wahr werden lässt. Ganz im Sinne der im Genre der cantiga de amigo gepflegten Zurückhaltung, in dem – so Snow – «the occitan joi is, seemingly, forgotten»,624 imaginiert die Frau nicht Küsse und Umarmungen, sondern allein die gesprochenen («dizia» III, 3) und gesungenen («cantava» IV, 3) Liebesworte ihres Freundes. Dass dieses Kommen des amigo nur in der Vorstellung der Geliebten stattfindet, zeigt der Bruch zwischen dem zweiten und dem dritten Strophenpaar. Hier zerbricht die Illusion und die Sehnsucht («desejei» V, 1/VI, 1) und der Wunsch nach dem Zusammensein mit dem Geliebten (V, 1ss./VI, 1ss.) kommen zum Ausdruck. Die Reimpaare «amigo» (V, 1)/«comigo» (V, 3) sowie «amado» (VI, 1)/«lado» (VI, 3) unterstreichen zusätzlich die Sehnsucht nach Zweisamkeit. Während die Hoffnung noch das dritte Strophenpaar dominiert, wird sie in den letzten coblas von der Verzweiflung abgelöst. Entmutigt wird sich die amiga der Realität bewusst (VII, 3/VIII, 1) und tauscht voller Skepsis zärtliche Liebesschwüre gegen Beschimpfungen, wenn sie ihren Freund als «demo» (VIII, 3) bezeichnet. Der Bruch, der die innere Struktur der cantiga bestimmt, und vom Wunschbild zur schmerzvollen Erkenntnis überleitet, erinnert an die typische Form des insomnium mit der Bewegung von der Erfüllung zur Desillusion. Das Ende der cantiga lässt jeden

619

620 621 622 623 624

Cf. z. B. Dutton, demzufolge laylƯ «though meaning literally ‘my night’, may be interpreted as ‘the night’, and the possessive suffix -Ư as an ethical dative» (1964, 6). So schlägt er für den Kehrreim die folgende Deutung vor: «The night [weighs] long [upon] me,/I languish, and the night [weighs] long [upon] me». Allerdings ist die Schlussfolgerung von Dutton (1964, 8), das Lied sei «an ironical comment on a liaison between a Muslim minstrel and a soldadera», sicher zu überdenken. Dutton 1964, 6. Cf. Jensen 1978, 76ss. Jensen 1978, 78. Zur Gattung des cossir cf. Kap. 5.1.2.2. Snow 1995, 275.

253

Zweifel daran schwinden, dass – wie schon Jensen herausarbeitet – «the lovers’ meeting is imaginary only».625 Da die amiga insistierend betont, dass sie nicht schläft, was durch die wiederholte Litotes verstärkt wird (I, 1/II, 2), erweist sich das Wunschbild als Produkt des cuidar. In diesem Kontext wird man erneut daran erinnert, so Greive, «wie fließend in der Auffassung der Menschen und deshalb auch im sprachlichen Bereich der Übergang zwischen dem Träumen im Schlaf und Tätigkeiten der Phantasie und des Verstandes im Wachzustand erscheint».626

«Non dormia e cuidava» (II, 1) lautet folglich der Schlüsselvers, der das imaginierte Bild als visum ausweist, bedenkt man die Semantik von cuidar, die dem Konzept des okzitanischen consirar entspricht.627

625 626 627

Jensen 1978, 78. Greive 1973, 486. Cf. dazu Kap. 3.2.3. und 3.2.4.

254

6.

Analogien und Interferenzen: Bemerkungen zur inhärenten Poetik der erotischen alba- und somni-Dichtung

Wie die Untersuchung zur Typologie und Deutung der alba- und somni-Dichtung zeigt, birgt die Thematik zahlreiche Entfaltungsmöglichkeiten in sich, die die mittelalterlichen Dichter in ihren Variationen und intertextuellen Spielen auszuschöpfen verstanden. Dabei zeigen die Ausprägungen von alba und somni sowohl auf Motiv- als auch auf Gattungsebene analoge Strukturen. Bereits die Ergebnisse der Motivuntersuchung machen Berührungspunkte zwischen alba und somni sichtbar. Sowohl die Morgenröte als auch der Traum erscheinen in der Poesie als tempus amoris und können so unter dem Vorzeichen von Liebe und Erotik stehen.1 Häufig begegnen alba und somni dabei als Kulminationspunkte höchster Freude (joi) und tiefster Trauer (dol) zugleich, da sie die Spannung der als Paradox begriffenen Liebe zu einem Bild zu verdichten vermögen. Die Polarität der Motivik erlaubt, dass die Morgenröte nicht nur zur Zeit der Liebesbegegnung, sondern auch zum Vorzeichen des Abschieds werden kann.2 Ebenso impliziert das Traumglück auch die Kehrseite des Erwachens.3 Alba und somni können aber auch zur Chiffre und zum Movens dichterischer Inspiration werden. Wird die Morgenröte als Medium zwischen Tag und Nacht und somit als Zwischenzeit oder Übergang verstanden, so gilt Ähnliches für die Wachphantasie, die einen intermediären Raum zwischen Wachen und Traum darstellt und so – wie die alba – nicht nur Liebe, sondern auch schöpferische Kreativität erwecken kann. Diese Idee wird immer wieder motivisch verarbeitet4 und klingt insbesondere in den mit cossir und visum5 benannten Gattungsschemata an. In den cossirs motiviert die alba ex negativo das Dichten, indem ihr Nichterscheinen und die Sehnsucht nach ihr zum Movens der Klage und somit der Dichtung werden, während das visum als état intermédiaire und Subform des somni poetische Inspiration fördert. Auf Gattungsebene fungiert die als cossir benannte thematische Entfaltung der einsamen Klage zudem im gewissen Sinne als Bindeglied zwischen der alba- und somni-Dichtung. Diese in der Regel als Variation oder Umkehrung des alba-Schemas gedeutete Form

1 2 3 4 5

Cf. Cf. Cf. Cf. Cf.

Kap. Kap. Kap. Kap. Kap.

3.1.2. und 3.2.1. 3.1.1. 3.2.2. 3.1.2. und 3.2.4. 5.1.2.2. und 5.2.4.

255

entwickelt nämlich das dem Kontext der somni-Motivik zugewiesene negative consirar6 zum zentralen Thema. Am prägnantesten werden die Analogien zwischen den Gattungsstrukturen in den erotischen Ausprägungen der alba- und somni-Dichtung fassbar, die als korrespondierende Schemata mit paralleler poetischer Funktion konstruiert sind. Die Poetik der traditionellen morgendlichen Abschiedsklage7 evoziert analoge Momente wie das insomnium-Schema.8 Beide Gattungen verdichten die Dialektik der Liebe zu einem prägnanten Bild, indem sie primär die Bewegung zwischen Erfüllung und Verlusterfahrung thematisieren und sich dabei analoger Metaphorik bedienen, denn «traumesglück der liebe und enttäuschung beim erwachen schafft», wie schon de Gruyter in seiner frühen Tageliedstudie betont, «einen analogen gegensatz von freud und leid wie der morgendliche liebesabschied».9 Dass die absolute Erfüllung stets nur als temporär zu denken ist und die Verlusterfahrung einen festen Bestandteil der Liebe darstellt, ist ein Topos der mittelalterlichen Dichtung. Dieser Kontrast, der die Paradoxie der Liebe in eine Formel fasst, ist nicht nur für die mittelalterliche Literatur essentiell. Das Geheimnis der Liebe besteht in der ewigen Bindung der beiden entgegengesetzten und doch komplementären Elemente: Vereinigung und Trennung. Diese Grundkonstante der Liebe, die in der «Vermischung und Abwendung» oder «Vereinigung und Trennung» besteht, beschreibt auch schon Ibn Hazm in seinem Liebestraktat als «Wesen der Liebe».10 Das berühmteste und zugleich eines der ältesten Beispiele, die die Ambivalenz der Liebeserfahrung poetisch einfangen, stellt das Canticum Canticorum dar, in dem das Suchen und Finden der Liebe die Thematik zirkulär durchziehen. Dieses biblische Liebeslied bietet so Momentaufnahmen der nie erfüllten, doch auch nie hoffnungslosen Liebe. Die ewige Paradoxie der Liebeserfahrung, die auch die romanische Poesie des Mittelalters zum Hauptthema entfaltet und in zahlreichen Variationen immer wieder besingt, bringt eine Randzeichnung der Handschrift N11 zur canso Ben an mort mi e lor von Folquet de Marselha12 besonders prägnant zum Ausdruck, wobei der Text-Bild-Bezug der Zeichnung durch die Verweise in Form roter geometrischer Figuren, die im Text und im Bild platziert sind, eindeutig zu eruieren ist.13 Insbesondere ist dabei an die zweite cobla der canso zu denken, in der über die Liebe Folgendes zu lesen ist: so que m’encaussa vau fugen e so que·m fuig ieu vauc seguen; aissi non sai cossi·m posca garir, qu’ensems non puosc encaussar e fugir. (II, 7–10)

6 7 8 9 10 11 12 13

Cf. Kap. 3.2.3. Cf. Kap. 5.1.1. Cf. Kap. 5.2.3. Gruyter, de 1887, 51. Cf. Ibn Hazm, 9s. NY, Pierp. Morg. Libr., M. 819, fol. 56v. Folquet de Marselha, Nr. I. Cf. Huot 1992, 3.

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(Ich fliehe vor dem, was mich verfolgt und folge dem, was mich flieht, daher weiß ich nicht, wie sie [die Liebe] mich retten kann, denn ich kann nicht gleichzeitig verfolgen und fliehen.)

Die Randzeichnung fasst diese Verse in ein prägnantes Bild, das von der personifizierten Liebe, die als gekrönter Seraph dargestellt ist, dominiert wird. Amor erscheint hier sowohl als ruhende Kraft links im Bild als auch als Metapher der zerstörerischen «psychic disturbance»14 in der Bildmitte. Zwei Liebespaare demonstrieren die Positionen des Liebenden als Verfolgten und Verfolger. Dabei ist «l’immagine dell’amante inseguitore di un’amata in fuga […] un’immagine assai tipica della poesia erotica»15, wie Squillacioti betont, und wird schon so von Ovid dargestellt.16 Die Amor-Figuren und die Liebespaare sind bildgewordene Reflexionen des in der typischen Pose links im Bild dargestellten Dichters,17 dessen «dolor/d’amor» (III, 3s.) diese in Dichtung umgesetzte Wachphantasie («veillar dormen» III, 7) motiviert. Es ist die als Paradoxie begriffene Kraft der Liebe, die hier im Text- und Bildprogramm zum Ausdruck kommt18 und die in der Trobadordichtung immer wieder besungen wird. Als weiteres Beispiel sei hier das Lied Gent ant saubut miei uoill vensser mon cor19 aus der Feder von Uc de Saint-Circ genannt, in dem dieser Gedanke zu der prägnanten Formel «plus li fuig, plus mi rete» (IV, 2) verdichtet und zusätzlich mit der amor-de-lonh-Idee verknüpft wird: «E s’ieu m’en loing, plus m’estai pres del cor» IV, 1.20 In dieser Tradition sind auch die erotische alba und der songe érotique zu sehen, die – ähnlich wie die Randzeichnung – implizit die joi-dol-Erfahrung der Liebe poetisieren und so auch um die vielleicht zuerst von Aimeric de Peguilhan21 so benannte Idee des amar desamatz kreisen. Dabei bestimmen folgende Elemente die Poetik des thematischen Gattungskerns der analogen Schemata: thematisches Schema

gemeinsame poetische Momente

14 15 16 17 18

19 20 21

alba (erotische alba)

somni (insomnium)

(1) transitorische Auflösung der Spannung (Æ joi) (2) Nacht vs. Tag (3) Wunsch- vs. Realitätsprinzip (4) Verlusterfahrung (Trennung bzw. Erwachen) (5) Ästhetisierung des Schmerzes (Æ dol)

Huot 1992, 8. Folquet de Marselha, 132. Cf. Ovid: Amores II, XIX, 3 («quod licet, ingratum est; quod non licet, acrius urit»). Cf. Kap. 4.2.3. Cf. dazu prägnant Huot (1992, 8): «These latter images perfectly capture the lyric persona’s dilemma of being caught between irresistible forces of attraction and repulsion. [...] We are also shown the paradoxical role played by Love, which both brings the couple together and drives them apart». Uc de Saint-Circ, Nr. IV. Übers.: «Je mehr ich fliehe, desto mehr hält sie mich zurück.» (IV, 2); «Und wenn ich mich entferne, wird sie meinem Herzen noch näher sein.» (IV, 1). Es heißt bei Aimeric de Peguilhan desamatz amar. Cf. Riquer (1975, I, 68).

257

Mittelalterliche Liebesdiskurse, ob literarischer oder philosophischer Art, bewegen sich generell «in der Polarität des Gegensätzlichen».22 Liebe ist somit nicht nur Erfüllung des joi, sondern sie ist vor allem auch passio, wie Andreas Capellanus in De Amore betont.23 Neben dem okzitanischen Flamenca-Roman, der Summe trobadoresker Liebesvorstellungen des 13. Jh.s,24 bietet der Rosenroman von Guillaume de Lorris und Jean de Meun die wohl vollständigste Kodifikation der im Mittelalter immer wieder thematisierten Liebesparadoxien. Liebe wird darin wiederholt als grant martire (v. 2414) und douz mal (v. 13016/14616) gezeichnet. Wenn Amor aber betont, dass «amanz n’avra ja ce qu’il quiert» (v. 2417), so ist damit nicht die prinzipielle Unerfüllbarkeit der Liebessehnsucht gemeint oder gar die Vorstellung von der Liebe ohne Gegenliebe,25 sondern die ewige Aufrechterhaltung der Spannung durch die wechselnde Erfahrung der Extreme. Dass die Erfüllung des joi auch schon in der trobadoresken Liebeskonzeption konstitutiv ist, beweist die «lecture attentive des troubadours», die – so Regueiro-Diehl treffend – zeigt, dass «leur érotique réelle déborde partout les règles courtoises établies, et que l’on admet comme composants de l’amour des concepts plus réalistes et plus charnels».26 Sowohl die erotische alba als auch der songe érotique thematisieren die Liebeserfüllung, die jedoch in der Regel als punktuelle und temporäre Erfahrung dargestellt wird, die infolge des dichterischen Kunstgriffs einer doppelten fiktionalen Brechung – in der verhüllenden Dunkelheit der Nacht oder aber im Traum – transitorisch realisiert wird. Anders als zum Beispiel in der orientalischen Liebesdichtung, in der die üppige Ausgestaltung der nächtlichen Liebesfreuden einen breiten Raum einnimmt,27 hängt über den erotischen Szenerien der romanischen Dichter stets der Schleier der Flüchtigkeit. Jedoch büßt die dargestellte Erotik dabei nicht an Intensität ein. Vielmehr sind die Liebesbegegnungen der erotischen Szenerien durch bewusstes Zaudern charakterisiert, das das Dargestellte zusätzlich auflädt. Das letzte Innehalten vor der Trennung in der erotischen alba und der abschließende intensive Traumgenuss vor dem Erwachen markieren den – so Stanesco –«instant épiphanique»,28 den mystischen Moment des Übergangs «zwischen einem Nicht-Mehr und einem Noch-Nicht»,29 wie Vogl in seiner Studie über das Zaudern betont. Es ist im gewissen Sinne die Ewigkeit im Augenblick, die die Bilder der erotischen alba und des songe érotique temporär einzufangen versuchen. Die in der alba und im songe érotique artikulierte Sehnsucht nach dem Festhalten des Flüchtigen, deren Anziehungskraft gerade auch aus der Vergänglichkeit resultiert, ist ein archetypischer Wunsch der Liebesdichtung, den schon die Trobadors formulieren. In diesem Punkt sprechen die Traum- und die alba-Liebe 22 23 24 25 26 27 28 29

Auerbach 1941, 1189. Cf. Andreas Capellanus: De Amore I, 1–20. Cf. Nelli 1989, 9. Cf. Kasten 1986, 192. Regueiro-Diehl 1993, 202. Wolf 22003, 41. Stanesco 2001, 132. Vogl 2007, 83.

258

e i n e r Poetik das Wort. Das Insistieren auf der ‘Realität’ der alba-Liebe gegenüber der illusorischen Traumliebe30 ist auf der Ebene der Poetik ohne Substanz. Neben dem überhöhten Moment der Erfüllung bildet die Ästhetisierung des Schmerzes das zweite konstitutive Element der in dieser Weise aufgefassten Liebeserfahrung.31 Der Schmerz, der in der mittelalterlichen Dichtung in nahezu masochistischer Art und Weise zelebriert wird, resultiert aus der Verlusterfahrung, die in der erotischen alba als Trennung der Liebenden und im songe érotique als Erwachen32 realisiert wird.33 Dabei steigert die Verlusterfahrung gleichzeitig das Verlangen,34 indem sie das vergangene und erinnerte Liebesglück verklärt. Die Trennungsthematik ist als essentieller Pfeiler der mittelalterlichen Liebesdichtung zu verstehen,35 da sie den Gegenpol und die komplementäre Kraft zur Liebeserfüllung darstellt und nur in dieser Koexistenz ihren spezifischen Platz in der mittelalterlichen Liebeskonzeption innehat. Dabei erfährt sowohl in der erotischen alba als auch im songe érotique der Schmerz in der Regel eine stärkere Ästhetisierung als die Liebesfreude,36 denn, dass es keinen größeren Schmerz gibt, als sich «del tempo felice/nella miseria»37 zu erinnern, versteht schon Dantes wohl berühmteste tragische Liebende in eine prägnante Formel zu fassen. Unterstützt wird dieses Spiel zwischen den Extremen, das für beide Gattungsschemata konstitutiv ist, durch die metaphorische Tag-Nacht-Dichotomie. Wird in der alba die Nacht mit Liebeserfüllung assoziiert, so steht der Tag für die Forderungen der Wirklichkeit mit ihren moralischen und sozialen Barrieren.38 Die Nacht – und 30

31 32

33

34 35 36

37 38

Cf. die Kritik von Sigal (1996, 188s.): «But alba lovers’ disillusonment differs from those of dreamers. Although in retrospect their tryst may seem too wonderful to have been true, they have not dreamed or imagined their love affair: the idyllic love relationship is the more miraculous because it is real and shared. […] Despite its brevity and danger, the nocturnal love experience is so wonderfully real that no dream could be its equal». Cf. Lavis 1972, 191: «the expression of joy […] cannot be separated from its antithetical corollary: pain, always present in counterpoint». Cf. Kennedy 2007, 115/119: «Man sagt, Schlafen ist ein kleiner Tod, aber es ist doch eher das Aufwachen, das uns Grenzen setzt, Schmerzen zufügt, uns tötet. […] Ohne dieses zuschnappende Schloss bei jedem Erwachen, diesen Abschied kann ich nicht lieben lernen, was ich liebe, solange ich es habe, nicht das ganze Ausmaß meines Lebens umarmen, es wertschätzen, es mit leichter Hand fassen, wie etwas, das ich verlieren muss, wie einen Atemzug, einen Gedanken». Cf. einen ähnlichen Gedanken bei Finazzi-Agrò in Bezug auf die Traumlieder von Johan Mendiz de Briteyros: «associato al tema del sogno […] troviamo il motivo del triste risveglio, che può essere facilmente messo in relazione con l’argomento costitutivo di un altro genere poetico […]: l’alba» (Johan Mendiz de Briteyros, 120). Cf. dazu auch Lazar (1964, 62). Cf. Billy 1997, 39: «La poésie d’amour des troubadours est […] fondamentalement liée au thème de la séparation, de telle sorte que celle-ci peut en constituer l’essence». Cf. Braet 1977, 113: «Nos auteurs insistent davantage sur la déception que sur l’exaltation, ou encore se plaisent à évoquer celle-ci pour mieux l’opposer à celle-là. […] Si le songe apparaît en tant que révélation du désir, on nous montre surtout qu’il ne l’assouvit que dans l’imaginaire». Dante: Inferno V, 121ss. Cf. Payen/Legros 1979, 524.

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analog dazu der Traum – ist die favorisierte Zeit des joi, was gewiss aus der engen Verbindung zwischen Nacht und Erotik einerseits und Nacht und Weiblichkeit andererseits resultiert.39 Und wie in der alba, so setzt auch im songe érotique jeder neu anbrechende Tag – und somit die Wirklichkeit – dem Wunschdenken ein Ende. Die Tag-Nacht-Dichotomie bringt die Polarität zwischen dem Wunsch- und dem Realitätsprinzip zum Ausdruck, die die erotische alba- und somni-Dichtung als Leitgedanke durchzieht. So steht in der alba der vielfach variierten Verwünschung des jorn die poetische Laudatio auf die nuit gegenüber, der im Liebestraum der Kontrast zwischen dem erfüllenden dormir und dem desillusionierenden revelhar entspricht. Eine analoge Funktion wie der in der alba vielfach artikulierte und realitätsenthobene Wunsch nach Verlängerung der Nacht erfüllt im songe érotique der Wunsch nach Fortdauer oder Erfüllung des Traums. Diese Wünsche zielen auf eine Auflösung des Realitätsprinzips im Wunschprinzip, auf eine Verschmelzung von Tag und Nacht sowie von Traum und Realität. Diese thematische und konzeptuelle Analogie zwischen der erotischen alba und dem songe érotique hat bereits im Mittelalter immer wieder zu Interferenzen zwischen den Schemata geführt, die sich zwischen Gattungsanspielungen oder -zitaten und auffälligen Kontaminationen bewegen können. Schon die Trobadorlyrik praktiziert dieses poetische Spiel. Auf Motivebene gelingt beispielsweise Bernart de Ventadorn in der ersten cobla von Pel doutz chan que·l rossinhols fai40 eine solche Verknüpfung: Pel doutz chan que·l rossinhols fai, la noih can me sui adormitz, revelh de joi totz esbaïtz, d’amor pensius e cossirans. (I, 1–4) (Durch den süßen Gesang der Nachtigall erwache ich in der Nacht, wenn ich gerade eingeschlafen bin, von Liebesfreude ganz entzückt, nachdenklich und sorgenvoll vor Liebe.)

Der für die trobadoreske alba charakteristische Gesang des rossinhol als Zeichen und Ankündigung des Tagesanbruchs wird hier von Bernart de Ventadorn in den Motivkomplex des Liebestraums integriert. Die Nachtigall weckt mit ihrem Gesang nicht die Liebenden, um sie an die notwendige Trennung zu erinnern, sondern beendet mit ihrem Lied einen Liebestraum, sodass das lyrische Ich «de joi totz esbaïtz» (I, 3) erwacht. Ähnlich beendet im altfranzösischen Dit de la Panthère von Nicole de Margival der für die alba typische Wächterruf den Traum des Liebenden: «la guete/[…] Corne le jour, et je m’esveille» (v. 2186/2188). Thematische Interferenzen mit typischer Motivik des erotischen Traums sind für okzitanische Tagelieder typisch und lassen so die alba-Liebe nicht selten wie eine Traumsequenz erscheinen. In diese Richtung weist beispielsweise das leitmotivische Spiel mit dem Lexem dormir und davon abgeleiteten Formen in Reis glorios von Guiraut

39 40

Cf. Payen/Legros 1979, 519. Cf. Bernart de Ventadorn, Nr. 10.

260

de Bornelh {A b, 7}. Als figura etymologica durchzieht dormir in den Formen «dormetz» (II, 1), «dormas» (II, 1/III, 2), «dormi» (V, 2) und «dormilhos» (VI, 2) die gesamte Komposition und macht den für den erotischen somni charakteristischen Gegensatz von Wachen und Schlafen zum zentralen Element der alba. Zwei weitere trobadoreske albas sind eindeutig wie Traumbilder oder Wachphantasien konstruiert. In dem von Sigal als «dreamlike sequence»41 charakterisierten Ab la genser que sia {A b, 2} vermischen sich die Sphären der Traumwelt und der Wirklichkeit. Die Unmöglichkeit der Grenzziehung zwischen dem tatsächlichen Liebesspiel der Liebenden und der erträumten Erotik ist ein thematisch intendiertes Moment der Komposition. Die Küsse, die der Liebende im Schlaf erhält (II, 1–3), prägen sich in dessen Erinnerung ein, sodass sie nach dem Erwachen, wie in den hypnopompen Bildern der songes érotiques, immer noch präsent bleiben (II, 1–6). Ähnlich ist die Tagelied-Szenerie in En un vergier {A b, 3} als Traumsequenz42 oder als retrospektive Schau innerer Bilder gestaltet. Die Komposition erinnert an das biblische Canticum Canticorum, worauf schon Dronke hinweist, wenn er in der alba die Bewegung «von der Begegnung der Liebenden zu den Erinnerungen und Sehnsüchten der Frau […], vom Geschehen zum Traum, von außen nach innen»43 hervorhebt. Der vermeintliche logische Bruch zwischen den dynamischen coblas II–IV und den in der fünften Strophe artikulierten Wünschen und Sehnsüchten wird aufgelöst, wenn man die Tagelied-Szenerie nicht als unmittelbare Darstellung der Zweisamkeit, sondern als erträumtes oder imaginiertes Bild begreift.44 Ähnliche Beobachtungen gelten für altfranzösische Tagelieder, was die Forschungsliteratur immer wieder implizit aufspürt. So sieht beispielsweise Rieger den joi in Gaite de la tor {A c, 4} «traumhaft im Dunkel der Nacht»45 erfüllt und Wolfzettel rückt Cant voi l’aube dou jor venir von Gace Brulé {A c, 7} indirekt in die Nähe der Traumdichtung.46 Ein besonders detailliert ausgestaltetes Beispiel von Gattungsinterferenzen zwischen dem alba- und dem insomniumSchema bietet ein 78 Verse umfassender altfranzösischer Text, der als Fortsetzung des Rosenromans von Guillaume de Lorris konzipiert ist und in der Hs. B. N. fr. 378 auf den ersten Teil des allegorischen Werkes folgt.47 Ganz im Sinne des songe érotique wird der amant darin der Wunscherfüllung teilhaft. Pitié, Biauté, Bel Acueil, Loiauté, Douz Regart und Simplece suchen den Liebenden auf und Biauté überreicht ihm die ersehnte Knospe (v. 40s.). Ganz im Sinne des celar-Gebots werden dabei sowohl Malebouche (v. 28–35) als auch die schlafende Jalousie (v. 22) gemieden, um die personifizierte Furcht (Paor) nicht zu erregen (v. 25–29). 41 42

43 44 45 46 47

Sigal 1996, 56. Cf. Bauer 2006, 302: «C’est toute cette nuit d’amour, à vrai dire, qui a été rêvée, et l’union de la dame et de son amant était le rêve d’une union». Cf. dazu auch Chaguinian (2008, 208). Dronke 1977, 191. Cf. dazu auch Gouiran (2006b, 681s.). Rieger, D. 1983b, 191. Cf. Wolfzettel 1983, 426. Cf. Rosenroman, 240–243 («conclusion anonyme»).

261

Der grant delit (v. 44) der folgenden Liebesnacht ist ganz nach dem Schema einer alba gestaltet. Als Szenerie dient ein vergier (v. 14), die Liebenden tauschen besiers (v. 47) aus, beklagen die «nuit brieve» (v. 50) und die zu rasche Trennung («si tost fu la departie» v. 54) im Morgengrauen (v. 51). Der letzte Vers dieser «conclusion anonyme» beschließt die Wunscherfüllung der erträumten alba mit der charakteristischen Formel «C’est li songes que j’ai songié» (v. 78). Wenn hier der Traum durch die Verknüpfung des somni-Schemas mit der alba-Motivik auf die Zeit «au matin quant l’aube crieve» (v. 51) verlegt wird, so handelt es sich dabei um eine bewusste Situierung, die dem Wunschtraum besondere Verazität verleiht, denkt man an den mittelaterlichen Traumglauben.48 Diese Vorstellung geht auf antike Vorbilder zurück, begegnet beispielsweise schon in den Heroides Ovids (XIX, 195s.) 49 und wird auch noch von Dante50 immer wieder dichterisch verarbeitet. Eine ähnliche Verlegung des Erwachens auf den frühen Morgen zeigt auch die Schlussminiatur der in Valencia aufbewahrten Rosenroman-Handschrift,51 in der die durch das Fenster eindringenden Sonnenstrahlen den amant aus seinem Traum wecken und so auch an den Schlussvers des Rosenromans von Jean de Meun erinnern. Interferenzen zwischen den Gattungsschemata der Tagelied- und der TraumPoesie sind keine Erfindung der romanischen Dichter. Vielmehr handelt es sich dabei um ein archetypisches Schema der Poesie, das im Mittelalter auch in anderen kulturellen Räumen begegnet. Ein herausragendes Beispiel stellt dabei die mittelhochdeutsche Lyrik dar, was gewiss mit der Tatsache zusammenhängen darf, dass das tageliet neben der Kanzone im Minnesang die populärste Gattung darstellte. Eine zusätzliche Begründung resultiert daraus, dass das tageliet in der mittelhochdeutschen Dichtung eine auffällige Affinität zur Gattungsmischung aufweist, wovon – so Mohr – die häufigen «formsymbolische[n] Anspielungen auf das Tagelied»52 in anderen Gattungen des Minnesangs zeugen, wie intertextuell und gattungsorientiert angelegte Untersuchungen immer wieder zeigen konnten.53 Wie auch in der romanischen Dichtung kann das tageliet dabei Kontaminationen mit der wânwîse und dem traumliet eingehen,54 was an die Analogien zwischen dem cossir und dem visum einerseits und der erotischen alba und dem songe éro48

49 50 51 52 53 54

Cf. Savino 1982, 82. Cf. dazu auch Schmitt (2001, 270) und Speckenbach (1985, 325). Auch die moderne Schlafforschung bestätigt die Annahme, dass in den Morgenstunden die Hirnaktivitäten stärker sind und besonders traumreiche REM-Phasen auftreten. Cf. Wittmer-Butsch 1990, 119/Anm. 262. Cf. Foehr-Janssens 2007, 119/Anm. 16. Cf. z. B. Dante: Divina Commedia, Purgatorio XIX, 1–7 und Inferno XXVI, 7 («al mattin del ver si sogna»). Valencia, Bibl. de l’Universidad, Ms. 387, f. 149v (cf. König 1989, 180). Mohr 1971, 287. Cf. dazu besonders die Untersuchungen von Hausner (1983) und Beloiu-Wehn (1989). Cf. Beloiu-Wehn 1989, 187–190. Beloiu-Wehn (1989, 181s.) leistet in diesem Kontext sogar einen Transfer dieser Beobachtung auf die altokzitanische Dichtung und weist knapp auf die Interferenzen zwischen alba und somni hin – diese hellsichtige Beobachtung geht aber über einen bloßen Hinweis nicht hinaus.

262

tique andererseits erinnert. Ähnlich wie die alba-Dichtung der Trobadors weisen mittelhochdeutsche Tagelieder immer wieder Traumelemente auf, wie schon das erste überlieferte tageliet aus der Feder von Dietmar von Aist (MF 39, 18) zeigt, in dem der Liebende durch den typischen Weckruf nicht etwa im Liebesspiel unterbrochen, sondern tatsächlich aus dem Schlaf gerissen wird (II, 1s.). Und in Owê, sol aber mir iemer mê von Heinrich von Morungen (MF 143, 22) küsst die Frau – ähnlich wie die Dame in Ab la genser que sia {A b, 2} – ihren alba-Geliebten «in dem slâfe» (III, 3). Das Spiel mit der Verknüpfung der Motivstrukturen beider Schemata führt im Minnesang dazu, dass der Liebestraum sogar als Modulation der erotischen alba verstanden wird, wie die tageliet-Variationen des Mönchs von Salzburg zeigen, in denen sich die nächtliche Sehnsucht nach der Geliebten und das Erleben im Traum als Hauptmotive miteinander verbinden.55 So kontrastiert im Nachthorn56 die Intensität der «süzz trëum» (I, 14) mit dem wân des Erwachens (III, 11ss.) und «das glückliche Zusammensein […] findet […] allerdings genau wie die tatsächlich gemeinsam verbrachte Nacht der Liebenden im Tagelied durch das Erwachen ein schmerzliches Ende»,57 worauf Backes hinweist. Dieses Verständnis des erotischen Traums als Variation der alba spiegelt ein konstantes und archetypisches Schema wider, das beispielsweise Spencer in Bezug auf die englische Poesie verdeutlicht: «A common variation of the dawn-parting poem is to be found in the situation in which the dawn dispels merely the dream of enjoyment, not the reality. […] The poet dreams of being made happy by his beloved, but awakes, and […] cries to dream again».58

Der Prozess der Gattungsmischung hält dabei Realisierungsmöglichkeiten in beide Richtungen offen. So versetzen die Minnesänger das Schema des Traumlieds, das sie zur Gattung entfalten, immer wieder mit eindeutigen alba-Zitaten. Interferenzen dieser Art zeigt in prägnanter Weise das einstrophige Traumlied von Friedrich von Hausen (MF 48, 23), in dem der Tagesanbruch den Traum beendet: In mînem troume ich sach ein harte schoene wîp die naht unz an den tach: do erwachete mîn lîp.

(1–4)

(In meinem Traum sah ich eine sehr schöne Frau in der Nacht bis zum Tag, dann erwachte ich.)

Von der Popularität der traumliet-tageliet-Kontaminationen zeugt das wohl als Parodie konzipierte Dô der sumer komen was (L 94, 11),59 das aus der Feder Walthers von der Vogelweide stammt. Der Minnesänger, der die Gattung des ta55 56 57 58 59

Cf. Wolf 1968, 190. Backes 1992, Nr. XXXV. Backes 1992, 286. Spencer 1965, 527. Walther von der Vogelweide, 260–265.

263

geliets auch selbst kultivierte,60 verknüpft das als somnium konzipierte Traumerlebnis mit dem für das Tagelied typischen Weckruf und dem Vogelgesang. Nicht die Lerche oder die Nachtigall singen hier aber, um den Träumenden zu wecken, sondern der Schrei einer Krähe beendet das Traumglück (IV, 1–3). Die Krähe, die im Mittelalter stets negativ konnotiert wurde, wirkt hier als Instrument der «Destruktion träumerischer Zukunftsschau».61 Neben dieser Parodie überliefert das Werk Walthers aber auch die schon explizit von Friedrich von Hausen (MF 48, 23) poetisierte Überlagerung der Schemata, die das Traumlied zur Modalität des erotischen Tagelieds macht. So beendet in Nemt, frouwe, disen kranz (L 74, 20) 62 der Schlussvers – «dô taget ez und muoz ich wachen!» (V, 8) – nach tageliet-Art das eindeutig erotisch konnotierte pastourellenhafte Mädchenlied. Ganz im Sinne des songe érotique wird der Wunschtraum als Illusion entlarvt und die imaginierte Szenerie des locus amoenus muss vor dem Realitätsprinzip weichen. Es ist offensichtlich, dass Walther hier mit der Analogie «zwischen […] dem unschönen Erwachen aus einem schönen Traum und der leidvollen Trennung nach einer gemeinsamen Nacht»63 spielt, was Gephart betont. Die in Ansätzen schon in der Trobadordichtung aufscheinenden Interferenzen setzt der Minnesang mit solchen traumliet-tageliet-Kontaminationen in aller Deutlichkeit um und spricht so der analogen Poetik der erotischen alba- und somni-Dichtung das Wort.

60 61 62 63

Walther von der Vogelweide, 238–245 (Friuntlîchen lac ein rîter [L 88, 9]). Haag 2003, 129. Walther von der Vogelweide, 278–283. Gephart 2005, 123.

264

7.

Zusammenfassung der Ergebnisse

7.1. Ergebnisse und Desiderata Als Konstanten der Poesie aller Völker und Zeiten partizipieren alba und somni in zeittypischen Ausprägungen am poetischen Spiel der romanischen Lyrik, das sich in Anlehnung an ein vorgeprägtes Schema zwischen Imitation, Variation und Transgression konkretisiert. Die Realisierungsmöglichkeiten, die alba und somni als Motive und Themen innewohnen, werden je nach dem gegebenen kulturellen Raum unterschiedlich entfaltet und akzentuiert, wie die Trobador- und Trouvèrelyrik, die galego-portugiesischen cantigas und die italienische Poesie des Duecento zeigen. Das Variationsspiel der poetischen Konstanten entfaltet sich innerhalb eines Gattungsgeflechts, in dem die einzelnen Texte interagieren und ein komplexes intertextuelles Verweissystem bilden. (2.1.1.) Das Konzept des Gattungssystems, die Abgrenzung der Gattungsschemata und die Frage nach dem mittelalterlichen Gattungsbewusstsein werden in Bezug auf die Trobadordichtung schon seit Diez immer wieder thematisiert. Unterschiedliche Modelle zur Klassifizierung und Ordnung der Vielfalt mittelalterlicher Lyrik sind vorgeschlagen worden, angefangen bei den genres subjectifs und genres objectifs (Jeanroy) über das Konzept der registres poétiques (Zumthor/Bec) bis hin zur Idee des trobadoresken Gattungssystems (GRLMA). Auffällig ist dabei die überwiegende Konzentration auf quantitativ überlegene ‘Hauptgattungen’ der Trobadorlyrik bei gleichzeitiger Zurückweisung der dictatz no principals, die spätestens mit Jeanroy einsetzt. (2.1.2.) In diesem Zusammenhang ist die Vernachlässigung des somni als lyrische Gattung zu sehen. Marshall (1972), der die trobadoreske Gattung des Traumlieds zum Unicum erklärt, löst einen immer wieder repetierten Forschungsmythos aus. Erst Canettieri (1999), der die dictatz no principals als potentielle Genres der Trobadorlyrik beschreibt, schlägt ein Korpus von mehreren trobadoresken Traumliedern vor, das schließlich, in Anlehnung an die Gattungsdefinition der Doctrina, von Grimaldi (2008) zusätzlich erweitert wird. (2.1.3.) Anders als der somni zählt die alba trotz der geringen Zahl überlieferter Textzeugen zu den am häufigsten kommentierten Gattungen mittelalterlicher Dichtung. Die Gattungstypologien variieren dabei je nachdem, ob ein enges oder weites Gattungskonzept favorisiert wird. Seit der Anthologie von Riquer (1944) steht die Anzahl der trobadoresken albas weitgehend fest und unterscheidet sich kaum von den Korpora der beiden neueren Anthologien (Gouiran, Chaguinian). Drei Realisierungen des Schemas werden dabei in der Regel unterschieden: 1) erotische albas, 2) religiöse albas 265

und 3) die sogenannten alba-Abwandlungen, wobei die erotische Variante in den meisten Untersuchungen als Ursprung des Schemas beschrieben wird und die religiöse alba als dessen Schlusspunkt (Riquer, Poe, Chaguinian). Schon früh wird die alba als Subgenre der canso verstanden und gleichzeitig in die Nähe der chansons de femme und der pastorelas gerückt, was bereits auf die ambivalente Natur der Gattung, die zwischen Integration und Transgression oszilliert, verweist. Daraus resultiert beispielsweise die Annahme einer «Ventilfunktion» der Gattung (Rieger/Wunderli). Einen wesentlichen Anreiz für eine komparatistische Perspektive der alba-Deutung bietet die internationale Anthologie von Hatto (1965). Für die romanische Variante sind die Anthologien von Empaytaz (1976) und Fuente-Cornejo (1999) von Bedeutung, die die mouvance der albaDichtung in der Romania fokussieren. (2.2.1.) Die vorliegende Studie orientiert sich an einem gemäßigten Konzept der von Curtius inspirierten und von Guiette auf eine Formel gebrachten poésie formelle und geht dabei von der Annahme aus, dass Imitation ebenso zum poetischen Spiel der mittelalterlichen Poesie gehört wie Umwandlung, Umkehrung und Überschreitung der konventionellen Muster. Die Poetik des lieu commun steht dabei gleichberechtigt neben der Poetik der variatio und transgressio. (2.2.2.) Gattungen werden in diesem poetischen Spiel als notwendige Größe verstanden, wobei ein dynamisches Gattungskonzept vertreten wird, in dem das Genre eine instabile und transparente Einheit darstellt, die über einen wiedererkennbaren Kern verfügt. Das Merkmal der Transparenz impliziert die Affinität zu Gattungsinterferenzen und Gattungskontaminationen. (2.2.3.) Die Korpuserschließung der Studie verfährt nach einer kombinierten Methode aus induktivem und deduktivem Vorgehen. Zentral ist die Annäherung an Gattungsbegriffe über eine detaillierte Motivuntersuchung, die sich an Methoden und Termini der Thematologie orientiert, ihr Augenmerk insbesondere auf die Polarstruktur der Motive richtet und so die Vielzahl der Motivausprägungen beleuchtet und nach spezifischen gattungsstiftenden Verknüpfungen fragt. (3.1.) Das alba-Motiv entfaltet vielfältige Realisierungsmöglichkeiten, die in profaner und religiöser Lyrik unterschiedliche Deutungsmuster unterstützen können. (3.1.1.) Besonders in der Trobador- und Trouvèrelyrik geht es eine enge Verbindung mit der Thematik des Liebesabschieds im Zeichen des celar ein und bildet so seine Funktion als negativ konnotiertes Zeitmotiv heraus. Als pars pro toto kann die alba zur eigentlichen Ursache der Trennung stilisiert werden und wird dabei nicht selten als Liebesfeind personifiziert. Mit der negativen Konnotation der alba geht in diesem Kontext auch eine negative Bewertung aller anderen verwandten Termini desselben lexikalischen Feldes (jors, dia, maitin, sol) einher, die komplementär und substituierend verwendet werden können. Nur in seltenen Fällen – und wohl in gezielter Anspielung auf die morgendlichen Abschiedsszenen – kann sich das negativ konnotierte alba-Zeitmotiv aus dem typischen Schema lösen. Anders als in der Trobador- und Trouvèredichtung tritt das negative albaZeitmotiv in der galego-portugiesischen Lyrik und in der italienischen Poesie des Duecento nur vereinzelt auf. (3.1.2.) Der anbrechende Tag kann aber auch zum 266

tempus amoris stilisiert werden, wie schon die mozarabischen khardjas zeigen. Diese Tradition kennen schon vereinzelt die Lieder der Trobadors, sie tritt aber insbesondere in iberischen cantigas und in den chansons popularisantes der Trouvères auf. Auffällig ist die Verbindung des Motivs mit der Schilderung eines locus amoenus und die Affinität zu den Gattungen der pastourelle und der chanson de rencontre. Ferner ist dieses positive alba-Zeitmotiv Teil des typischen Inventars der Natureingänge. In diesem Kontext kann der erwachende Tag zum Katalysator des Liebesverlangens und der dichterischen Inspiration werden. Tagesanbruch, Liebe und Dichtung bilden kraft der in der Poesie erschlossenen Analogie eine topische Triade. (3.1.3.) Prägnant ist ferner die Funktion der alba als Metapher in profaner und sakraler Lyrik. Dabei gehört astrale Metaphorik, die den Glanz des anbrechenden Tages auf die Schönheit der Geliebten überträgt, nicht zum konventionellen Repertoire der Trobador- und Trouvèrelyrik, erscheint aber als topisches Element in der iberischen Liebesdichtung. Die Metaphorik wird durch die vielschichtige Semantik von alva im Galego-Portugiesischen begünstigt. Die Apostrophierung der Geliebten als stella splendida/matutina oder lumen luminum, die die mittellateinische Lyrik tradiert, wird in der volkssprachlichen Dichtung aber erst in der scuola siciliana (stella d’albore, stella diana) zum veritablen Topos der weiblichen Schönheitsbeschreibung. In Anlehnung an die Vorstellung des reinen und reinigenden Lichts (purgatio ex amore) leuchtet hier im gewissen Sinne schon avant la lettre die donna angelica des dolce stil nuovo auf. In dieser Funktion zeigt die alba-Motivik frappante Interferenzen zwischen dem profanen und dem sakralen Register, die vereinzelt schon die Lieder der Trobadors durchziehen. In Anlehnung an die lux-mundi-Apostrophe kann die alba ebenfalls als Metapher für Jesus stehen, wobei sie jedoch in ihrer typischen Metaphernfunktion Maria versinnbildlicht. Ähnlich wie die profane Variante speist sich die religiöse alba-Motivik dabei aus der essentiellen Tag-Nacht-Dichotomie. (3.2.) Das somni-Motiv tritt insbesondere in Verbindung mit Liebesthematik und in zwei Ausprägungen auf: als Liebestraum (songe érotique) oder als Zustand zwischen Wachen und Schlaf (consirar), wobei beide Realisierungen eine ausgeprägte Polarstruktur aufweisen und daher mit positiver und negativer Konnotation einhergehen können. (3.2.1.) Die Nacht kann in zweifacher Weise zum tempus amoris werden: als Zeit des tatsächlichen oder als Spenderin des erträumten joi (songe érotique). In der Trobadorlyrik, die diese Ausprägung des somni-Motivs mit Vorliebe kultiviert, entwickelt schon Jaufre Rudel das konventionelle Schema. Dabei geht der songe érotique immer wieder eine prägnante Verbindung mit dem Konzept der amor de lonh ein und begegnet vor allem in der canso und im salut d’amor. Das in der Trobadorlyrik vorgeprägte Schema erscheint zwar in den Liedern der Trouvères, jedoch nur selten und mit großer Zurückhaltung in den galego-portugiesischen cantigas und in der Poesie der scuola siciliana. Insgesamt geht der Liebestraum, der einen Rückzug in die imaginäre Sphäre der Wunscherfüllung bietet, mit einer deutlichen Abwendung von der Wirklichkeit zugunsten des Traumerlebens einher, die die Realitätsflucht und die Bevorzugung der idealen und fiktiven Dame der Kunst- und Traumwelt vor einer realen Geliebten zur 267

Konsequenz hat. (3.2.2.) Negativ wird der Traum – und mit ihm verwandte Motive wie der Schlaf und die Nacht – vor allem in der religiösen Dichtung beurteilt. Durch das Moment des Erwachens bringt das polare somni-Motiv aber auch in der Liebeslyrik die Kehrseite des Traumglücks zum Ausdruck. Sowohl die Trobador- als auch die Trouvèrelyrik kultivieren die Schmerz-Ästhetik, die sich in der Klage des Erwachenden konkretisiert und gleichzeitig von einer skeptischen Haltung Träumen gegenüber zeugt, was der Interpretation der songes érotiques als songes prophétiques (Johnston) widerspricht. Schon in der Trobadorlyrik wird das Bild des Erwachens aus dem beglückenden Traum zur allgemeinen Metapher für Liebesenttäuschung. Wie auch das positive somni-Motiv wird der negative Kulminationspunkt des songe érotique in den galego-portugiesischen cantigas kaum entfaltet, und in Italien floriert das Motiv fast ausschließlich in den Texten der auf Okzitanisch dichtenden Sänger. (3.2.3) Ein bipolares Schema zeigt auch das trobadoreske consirar, das die poésie d’oc zum Schlüsselwort entwickelt. Die mit Einsamkeit und Entsagung verbundene nächtliche Liebesreflexion, die Schlaflosigkeit impliziert, ist eines der primären Symptome der Liebeskrankheit. Gleichzeitig ist diese Liebespein, die das negative consirar, das sich aus dem dezirar und dem esperar speist, prägnant zum Ausdruck bringt, die notwendige Basis der Liebe, da sie die quasi kultische purgatio des Liebenden garantiert. Neben der Trobadordichtung kultivieren insbesondere die iberischen cantigas diese consirarPoetik, die im cuidado und im leitmotivischen und semantisch komplexen cuidar der galego-portugiesischen Dichtung quasi als Echo nachhallt. (3.2.4.) Die allusive Kraft des consirar/cuidar führt auch zur Ableitung schöpferischer Energien aus dem nächtlichen Wachen und den reflektierten Erinnerungsbildern. So kann das qualvolle Nachsinnen den genuinen Traum motivieren, in einen Schwebezustand zwischen Traum und Wachen führen und so auch zur Quelle der Inspiration und sogar zum Synonym für Dichtung werden. Die im consirar/cuidar-Modell angelegte Sprengkraft entfaltet wiederum die italienische Dichtung des Duecento zum essentiellen Element ihrer Poetik. Dabei knüpfen die italienischen trovatori gleichzeitig an die mit voyeuristischen Elementen durchsetzte contemplatio-Idee sowie an das trobadoreske remirar ab los huoills del cor an und bieten zugleich eine Umdeutung und Neuakzentuierung des in der galloromanischen Lyrik kultivierten remirar (en somnian). Stärker als die Innenschau en durmen rückt dabei in der italienischen Dichtung das bewusste und (kre)a(k)tive Erschaffen der autonomen figura mentis aus den Bildern der memoria in den Vordergrund, was im charakteristischen pingere nella mente der scuola siciliana zum Ausdruck kommt. In diesem Kontext wird der Sehsinn (vista) als Ursprung und Basis der sembianza, figura oder pintura mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen. Was den okzitanischen Sängern der Traum ist, ist den Dichtern der scuola siciliana die memoria, die das Festhalten des imaginierten Bildes erlaubt und so der Poesie neue (Aus)Wege eröffnet. (5.) Die Vielfalt der Motivfunktionen von alba und somni begünstigt die Entstehung diverser Ausprägungen von Gattungsschemata, (4.1.1.) die zum Teil bereits 268

in mittelalterlichen Zeugnissen kodifiziert wurden. Einen Glücksfall der Romania stellen dabei Quellen aus dem 13. und 14. Jh. dar, die Gattungsnamen und -definitionen tradieren und als zusätzliche Stütze für die Erschließung der Gattungskonzepte dienen können. Solche metapoetischen Überlegungen sind bereits von den Trobadors selbst formuliert worden und erscheinen so immer wieder als Autodesignationen oder Gattungsreflexionen in den poetischen Zeugnissen, häufig in tornadas oder Exordialstrophen. Drei Belege dieser Art sind für die alba greifbar, wobei der früheste aus dem Ende des 12. Jh.s stammt. (4.1.2.) Neben den Trobadorzuweisungen liefern auch Handschriftenrubriken und Überschriften Hinweise auf Gattungszuweisungen. Allein die untersuchten Manuskripte der Bibliothèque Nationale in Paris und der Biblioteca de Catalunya in Barcelona zeigen für alba und somni insgesamt neun Zuweisungen dieser Art in vier der Manuskripte (C, Sg, T, VeAg). Wie die internen Belege der Lieder zeugen auch die Gattungsnennungen der Handschriften davon, dass im Mittelalter sowohl die erotische alba als auch das religiöse Tagelied und das Schema der alba-Abwandlung mit dem Terminus alba bezeichnet wurden. Gattungsnamen werden auch in den für die Trobadorlyrik charakteristischen vidas und razos tradiert, die insgesamt 15 unterschiedliche Gattungen benennen, darunter auch jeweils einmal die alba und den somni. (4.1.3.) Explizite Hinweise auf mittelalterliche Gattungskonzepte liefern schließlich poetologische Traktate. In der anonymen Doctrina de compondere dictats wird alba und somni ein fester Platz im Gattungssystem zugewiesen, wobei beide Genres primär thematisch definiert werden. Mit ihrer Differenzierung zwischen alba und gayta bietet die Doctrina ferner ein interessantes Beispiel der Unterteilung in Subgenres. Die Leys d’Amors von Guillaume Molinier wiederum, die elf dictatz principals und siebzehn dictatz no principals präsentieren, erwähnen die alba nicht, führen aber den somni als thematisch definierte Gattung unter den sekundären Genres auf. (5.1.) Die Polyvalenz der alba-Motivik begünstigt die Entwicklung diverser Gattungsmodelle, Variationen und intertextueller Spiele. (5.1.1.) Zum festen Gattungsschema entwickelt sich insbesondere im galloromanischen Raum die Verbindung der Liebes- und Trennungsthematik mit der Klage und dem negativ konnotierten alba-Zeitmotiv, dessen Realisierung variabel ist (alba, dia, jorn). (5.1.1.1.) Im französischen und italienischen Kulturraum fokussieren Tagelieder, die als Subform des Abschiedslieds zu verstehen sind, die Liebenden in ihrer Zweisamkeit. Sie bleiben dabei weitgehend der Tradition der chansons de femme verpflichtet und erheben die alba-Dame zur zentralen Stimme des in seiner Ausschließlichkeit gelebten Trennungsschmerzes. (5.1.1.2.) Neben dieser Ausprägung stehen okzitanische Beispiele, die mit der Verlegung der Thematik in den höfischen Kontext und der Erweiterung des Figureninventars (gayta, gelos) eine dynamische Struktur erreichen und dabei zwei Subformen ausbilden: die eigentliche alba, in der die Liebenden im Vordergrund stehen, und die gayta-alba, in der die Wächterfigur zur zentralen Instanz erhoben wird. Die innere Form dieser Lieder erlaubt diverse Variationen, angefangen bei monologischen Klagen über Einflechten narrativer Elemente bis hin zu Wechseln, wobei veritable Dialoge nicht belegt sind. Während 269

die negativen alba-Figuren (gelos, lausengiers) als Typen gezeichnet werden, befreit die Trobadorlyrik das positive Figurendreieck aus der Festlegung auf Typen und schenkt ihnen einen auffälligen Facettenreichtum, wobei die größten Variationsmöglichkeiten der gayta-Figur innewohnen. (5.1.1.3.) Trotz ihrer vielfältigen Variationen bleibt die inhärente Poetik der alba-Dichtung als verdichtete Sehnsucht, die zwischen höchster Freude und bitterer Trauer oszilliert, stets greifbar. Als Katalysator der essentiellen Trennungsthematik dient dabei das negativ konnotierte alba-Zeitmotiv, dessen assoziative Kraft eine komplexe Isotopieebene zu evozieren vermag, deren zentrale Momente die joi-dol-Erfahrung, das celar und die Kontrastierung von Wunsch und Realität darstellen. (5.1.2.) Spätestens im 13. Jh. zeigt die romanische Dichtung diverse Spielarten, Umdeutungen, Erweiterungen, Kontrafakturen und Parodien des im galloromanischen Raum geprägten albaSchemas, die von dessen Popularität zeugen. (5.1.2.1.) In der französischen Poesie gehen solche Variationen zum Beispiel sowohl vom typischen alba-Schema als auch vom gayta-Modell aus. Nicht selten wird der Klageruf der Liebenden oder der gayta als Gattungszitat in völlig neue Kontexte verlagert, in denen er wie ein Fremdkörper erscheinen kann und nur durch gelungene Dekodierung des intertextuellen Spiels seine Bedeutung entfaltet. Dabei genügt in einigen Beispielen allein das isolierte polyvalente alba-Lexem, um die Tageliedszenerie zu evozieren. Über das tertium comparationis der Abschiedsthematik kann die alba im erweiterten Sinne sogar zur allgemeinen Chiffre erloschener Liebe werden. (5.1.2.2.) Die Trobadorlyrik entwickelt ferner besondere Formen der Umkehrung der alba-Thematik bei gleichzeitiger Wahrung der charakteristischen Tag-Nacht-Dichotomie, die sich in zwei Modellen manifestiert: im sakralen Kontext als religiöses Tagelied und in der Liebeslyrik als cossir. Der cossir entfaltet die Thematik der (nächtlichen) Klage des einsamen Liebenden bei gleichzeitiger Umdeutung des alba-Zeitmotivs zum prägnanten Schema und bildet somit im Kontext der Liebesklage eine Brücke zwischen der alba- und somni-Thematik. Sowohl das religiöse Tagelied als auch der cossir finden in der galego-portugiesischen Poesie ein Pendant. (5.2.) Zwar stellt der somni – ähnlich wie die alba – eine primär thematische Gattung dar, doch zeigt er häufig als charakteristisches Merkmal strukturierender Art einen als rhetorische Klammer konzipierten Rahmen mit stereotypen Formeln. (4.2.) Die diversen Realisierungsmöglichkeiten des somni sind als Reflex der zeittypischen Traumdeutungsmuster und -typologien zu verstehen. (4.2.1.) Mittelalterliche Traumdiskussionen theoretischer Art lehnen sich an das aus der griechischen Antike ererbte Schema mit der charakteristischen Zweiteilung in physische und metaphysische Träume an. Für die christliche Umdeutung der antiken Lehren ist die Erweiterung des Zweierschemas durch dämonische Träume (Tertullian) ausschlaggebend. Als Autoritäten auf dem Gebiet der Traumtheorie sind Augustinus, Gregor der Große und Macrobius zu nennen, dessen Fünfteilung der Träume (insomnium, visum, visio, oraculum und somnium) bis ins 13. Jh. hinein allgegenwärtig bleibt. Die von Macrobius vorgeschlagene Typologie kann als grobes Raster zur Klassifizierung der Ausprägungen der romanischen Traumlieder dienen, wobei in der Dichtung eine Umkehrung in der Bewertung der Traum270

formen zu beobachten ist, da divinatorische Träume mit externen Traumquellen zurücktreten, während die von Macrobius deklassierten auf psychophysische Ursachen zurückgeführten Träume (insomnium, visum) aufgewertet werden. Immer wieder sind auch Mischformen zwischen den Typen zu beobachten. Im 12. Jh. gewinnt die durch den medizinischen Diskurs getragene physiologische Traumdeutung an Gewicht, was gleichzeitig zur Aufwertung physisch und psychisch bedingter Träume führt (Johannes von Salisbury), diese Sichtweise tritt mit der Aristoteles-Rezeption im 13. Jh. noch stärker in den Fokus der Traumdiskussion. Gemeinsam ist den Überlegungen christlicher Autoren des Mittelalters der Glaube an die Existenz gottgesandter Träume, die Warnung vor verschlüsselten Träumen und vor Traumdeutern und die Höherstellung unverschlüsselter Traumbilder. Fiktive Träume des Mittelalters spiegeln neben den Traumdeutungsmustern der theoretischen Auseinandersetzung auch immer wieder populären Traumglauben wider, wenn beispielsweise Frühlingsträumen, Träumen an bestimmten Feiertagen oder Traumbildern am frühen Morgen größere Verazität zugeschrieben wird als anderen. (4.2.2.) Hinweise auf mittelalterliche Traumdeutungsmuster bieten auch die populären lateinischen und volkssprachlichen Traumbücher, die von der Praxis der Traumdeutung zeugen und unter denen die Somnialia Danielis die größte Verbreitung gefunden haben. (5.2.1.) Der allegorische Traum (somnium), der in der Versepik mit Vorliebe kultiviert wird, beschränkt sich in der Lyrik im 12. und 13. Jh. nur auf den okzitanischen oder stark von der Trobadorlyrik geprägten Kulturraum. Die bilderreichen lyrischen somnia schöpfen aus dem vieldeutigen Symbolfundus der Flora und Fauna, direkte Hinweise auf einen Einfluss der Somnialia Danielis finden sich darin jedoch nicht. Somnia gehen eine feste Verbindung mit der explicatio somniorum ein und stellen dem manifesten Trauminhalt deutlich den latenten gegenüber, wobei die Verben significar, demostrar und semblar als bindende Glieder auf die Analogie verweisen. Neben Liebesallegorien zeigt die Trobadorlyrik auch die Instrumentalisierung von somnia zur Herrschaftslegitimation. Die Kontextualisierung der somnia propria durch Anknüpfung an Tagesreste führt in die Darstellung allegorischer Träume als prophetische Botschaften auch die Vorstellung vom Traum als Ausdruck innerer Konflikte oder Wünsche ein. (5.2.2.) Die als disputationes bezeichneten Träume, die an die oraculum-Definition des Macrobius erinnern, können als Erscheinung mit darauf folgender Debatte charakterisiert werden. Anders als im Falle des somnium, in dem das Visuelle in den Vordergrund rückt, ist hier der verbale Akt zentral. Neben Amor-Erscheinungen überliefert die romanische Lyrik Debatten mit Gott, der Dame und Personifikationen, wobei der Träumende selbst stets als einer der Gesprächspartner auftritt. Durch die innere Form des Dialogs rückt die disputatio in somnio in die Nähe der tenso. Die kontroversen Auseinandersetzungen reichen von simplen Dialogen bis hin zu komplexen Diskussionen, die nach Art der quaestiones konstruiert sein können und in der Regel Liebesfragen tangieren. Besonders im französischen und italienischen Raum florieren Amor-Visionen, in denen der Liebesgott als Berater, Tröster und Medium zwischen dem Liebenden und seiner Dame auftreten kann. Die disputatio zeigt nur selten divinatorischen Charakter und fungiert in der Re271

gel als Spiegel der Selbstreflexion. Dieses reflexive Moment kann durch die Verbindung von mehreren Erscheinungen zu einer Kette gesteigert werden, die den Fortschritt der Selbsterkenntnis einfängt. (5.2.3.) Eine in allen kulturellen Räumen poetisierte Traumform stellen Liebesträume (insomnia) dar, in denen das Subjekt als causa somniorum besonders deutlich hervortritt. Insomnia werden in der Regel als Surrogat oder Medium der Wunscherfüllung gedeutet, worauf die Kontextualisierung der Träume explizit verweisen kann. Dabei variieren Liebesträume immer wieder den topischen Kontrast zwischen erfüllter Traumwelt und mangelhafter Wirklichkeit, indem sie der Traumerfüllung in der Regel durch das Erwachen ein Ende bereiten. Häufig handelt es sich bei insomnia um Frühlingsräume, die Züge der pastourelle (locus amoenus, invitatio) aufweisen. Insomnia bewegen sich zwischen subtilen Begegnungen und frivolen Phantasien, wobei die Gestaltung der Traumerscheinung diverse Variationsmöglichkeiten bietet und von der verklärten domna bis zur dämonischen Geliebten reicht. Parodien des topischen insomniumSchemas sind schon in der Trobadorlyrik überliefert. (5.2.4.) Das insomnium zeigt immer wieder Überschneidungen mit dem visum, der Wachphantasie oder dem Wachtraum. Zu dieser Kategorie des Traums zählen vor allem hypnagoge und hypnopompe Zustände, die in die Nähe der dichterischen Inspiration gerückt werden können. Charakterisiert ist das visum, das als Wachtraum schon am Anfang der Trobadorlyrik steht, durch Loslösung von der Gegenwart der Wahrnehmung und assoziative Verknüpfung von Ideen, die nicht dem Diktat der ratio unterworfen werden. Sowohl die dem Schlaf vorangehende intensive Reflexion und die Bilder der memoria als auch konkrete Sinneseindrücke können das visum motivieren und stellen so das Subjekt als psychophysische Einheit ins Zentrum des Interesses. (4.2.3.) Von einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Deutung und den Formen des Traums zeugen nicht nur theoretische Schriften oder fiktive Traumberichte, sondern auch die Repräsentationen der bildenden Kunst, was die exemplarische Studie ausgewählter illuminierter Handschriften bestätigt. Solche Miniaturen und Randzeichnungen deuten auf die im Mittelalter übliche Praxis der Visualisierung hin, die den intellektuellen Akt des Lesens begleitet, und geben als figurative Reflexion Hinweise auf Möglichkeiten der Traumbeurteilung. Dabei kann das Bild als textbegleitende Veranschaulichung konzipiert sein oder aber eine deutende Funktion aufweisen. So bietet die pictura nicht selten eine (Um)Deutung der scriptura und erfüllt damit nicht nur eine abbildende, sondern zugleich eine kommentierende Funktion. Profane Traumdarstellungen rekurrieren auf konventionelle Muster religiöser Traumrepräsentationen, wobei der im religiösen Kontext immer wieder dargestellte Traumsender in profanen Traumdarstellungen äußerst selten ist. Vielmehr erscheinen Trauminhalt und Träumender unmittelbar nebeneinander. Manche Darstellungen verzichten sogar – trotz eindeutiger Texthinweise – auf die Externalisierung des Traumbildes und konzentrieren sich allein auf das Träumer-Ich. Interessant ist die Nähe der Darstellungen von Träumenden zu Repräsentationen dichterischer Inspiration, die in der Poesie ihr Pendant findet.

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(6.) Die erotischen Ausprägungen von alba und somni zeigen sowohl auf Motiv- als auch auf Gattungsebene analoge Strukturen. Sowohl die Morgenröte als auch der Traum können in der mittelalterlichen Poesie zu Kulminationspunkten höchster Freude (joi) und tiefster Trauer (dol) zugleich werden. Sie erscheinen aber auch gleichermaßen als Chiffren und Movens dichterischer Inspiration. Diese impliziten Analogien werden in prägnanter Weise in den erotischen Ausprägungen von alba und somni sichtbar. Die Poetik der traditionellen morgendlichen Abschiedsklage evoziert analoge Momente wie das insomnium-Schema, wobei beide Gattungen die Dialektik der Liebe zu einem prägnanten Bild verdichten, indem sie Erfüllung und Verlust als komplementäre Kontrapunkte der Liebeserfahrung darstellen. Beide Modelle poetisieren die transitorische Liebesfreude, ästhetisieren den Schmerz und finden in der Trennung respektive im Erwachen Metaphern für die Verlusterfahrung. Die erotische alba und der songe érotique thematisieren die Sehnsucht nach dem Festhalten des Vergänglichen, dessen Anziehungskraft gerade auch aus der Flüchtigkeit resultiert. Dabei bringt die für beide Formen konstitutive Tag-Nacht-Dichotomie die Polarität zwischen dem Wunsch- und dem Realitätsprinzip bildkräftig zum Ausdruck. Diese thematische und konzeptuelle Analogie zwischen der erotischen alba und dem songe érotique ist von mittelalterlichen Dichtern immer wieder aufgespürt worden, worauf Interferenzen hinweisen, die sich zwischen vereinzelten Gattungszitaten und auffälligen Gattungskontaminationen bewegen können. So zeigen Tagelieder schon in der Trobadorlyrik immer wieder Traumsequenzen, und das insomnium kann durch explizite Verlegung des Erwachens auf den frühen Morgen im gewissen Sinne zur Modulation der erotischen alba werden. Diese Interferenzen, die sich in der Trobadorlyrik ankündigen und die von der analogen inhärenten Poetik beider Schemata zeugen, setzt der Minnesang mit seinen expliziten Kontaminationen aus traumliet und tageliet in aller Deutlichkeit um. Die vorliegende Studie zu den Spielarten der romanischen albas und somnis versteht sich als Beitrag zur Erschließung der Strukturen und der inhärenten Poetik mittelalterlicher Dichtung. Sie zeigt nicht nur auf, wie die komparatistische Perspektive zum Verständnis des Facettenreichtums mittelalterlicher Dichtung sowie der Wege und Formen gegenseitiger Rezeption und Befruchtung beitragen kann, sondern vor allem auch, welche Rolle die Erforschung der immer wieder vernachlässigten dictatz no principals dabei spielen kann. Die Untersuchung der ‘sekundären’ thematischen dictatz ist nicht nur per se von Interesse, da die thematischen Modelle in der Regel auf zentrale Sujets und Kulminationspunkte der Dichtung verweisen, sondern sie kann auch zur Erhellung bereits bekannter und erforschter Muster beitragen. In diesem Sinne versteht sich die Studie als Apologie der Zuwendung zu weniger beachteten thematische Formen, die in der Forschung nicht selten als Unica oder reine theoretische Konstrukte gelten. Ob sie tatsächlich solche sind, kann nur ein genaues Sichten und Auswerten des überlieferten Liedmaterials klären. Die Tatsache, dass der somni, der seit Jahren als Unicum gehandelt wird, weit davon entfernt ist, es zu sein, lässt hoffen, dass Einzelstudi273

en zu weiteren dictatz no principals noch ähnliche fortschrittliche Erkenntnisse aufzeigen können.

7.2. Résultats et desiderata En tant que constantes de la littérature de tous les peuples et de tous les temps l’alba et le somni participent par leur réalisations typiques de l’époque au jeu poétique de la poésie romane qui se concrétise, sur le modèle des schémas déjà préétablis, entre imitation, variation et transgression. Les réalisations possibles, inhérentes aux motifs et thèmes d’alba et de somni sont accentuées et développées par rapport à une aire culturelle donnée, dont témoignent les exemples des troubadours et des trouvères, les cantigas galego-portugais et la poésie italienne du Duecento. Le jeu des variations de ces constantes poétiques se réalise dans un contexte d’un réseau de genres, dans lequel les textes singuliers interagissent et forment un système complexe de références intertextuelles. (2.1.1.) La conception du système des genres, la délimitation des entités génériques et le problème de la conscience des genres sont discutés par rapport à la poésie des troubadours déjà depuis Diez. Différents modèles de typologie et de classement de la diversité des genres du lyrisme médiéval ont été proposés, à partir des genres subjectifs et des genres objectifs (Jeanroy), en passant par la conception des registres poétiques (Zumthor/Bec) jusqu’à l’idée du système des genres troubadouresques (GRLMA). La concentration sur les genres ‘primaires’ de la poésie troubadouresques, qui dominent par la quantité des exemples, et le rejet des dictatz no principals – pratique suivie au plus tard depuis les études de Jeanroy – sont frappants. (2.1.2.) Dans ce contexte se place aussi la négligence du somni en tant que genre lyrique. Marshall (1972) qui déclare le somni comme unique, déclenche avec cette affirmation un mythe toujours répété par les chercheurs. Canettieri (1999) est parmi les premiers à comprendre les dictatz no principals comme genres potentiels de la poésie troubadouresque et à proposer un corpus de plusieurs somnis troubadouresques augmenté par Grimaldi (2008) en référence à la définition du genre développée par la Doctrina. (2.1.3.) À la différence du somni et malgré le petit nombre des textes transmis, l’alba appartient aux genres les plus commentés de la poésie médiévale. Les typologies génériques varient selon le choix favorisé de la conception étroite ou vaste du genre. Dès l’anthologie de Riquer (1944), le nombre des albas troubadouresques est établi en majeure partie, et il ne diffère guère des corpus des anthologies récentes (Gouiran, Chaguinian). Généralement, on distingue trois réalisations du modèle: 1) les albas érotiques, 2) les albas religieuses et 3) le groupe d’exemples appelés variations d’alba. La variante érotique est généralement décrite comme origine du schéma et l’alba religieuse comme son point final (Riquer, Poe, Chaguinian). L’alba est classifiée déjà très tôt comme sous-genre de la canso, et elle est approchée des chansons de femme et des pastorelas, ce qui renvoie au statut problématique du genre qui se place entre intégration et transgression et dont résulte, par exemple, l’hypothèse de la fonction de l’alba comme genre274

soupape (Rieger/Wunderli). L’anthologie internationale éditée par Hatto (1956) marque le point de départ de la perspective comparatiste de la recherche sur l’alba. Les anthologies d’Empaytaz (1976) et de Fuente-Cornejo (1999) qui focalisent leur attention sur la mouvance de la poésie d’alba dans la Romania, sont d’une grande importance pour la compréhension de la diversité de la variante romane. (2.2.1.) Cette étude se modélise à travers une conception modérée de la poésie formelle inspirée par Curtius et formulée par Guiette, et elle prend comme point de départ la supposition que l’imitation fait partie du jeu poétique de la poésie médiévale autant que la modification, l’inversion et la transgression des modèles conventionnels. La poétique du lieu commun se place de manière égale à côté de la poétique de la variatio et de la transgressio. (2.2.2.) Les genres sont considérés dans le contexte de ce jeu poétique comme éléments indispensables. Ils sont placés dans un réseau de genres, dans lequel les éléments singuliers sont conçus comme instables et transparents mais ayant un noyau reconnaissable. Le critère de la transparence implique une affinité envers les interférences et les contaminations génériques. (2.2.3.) La constitution du corpus suit la méthode combinée d’une analyse inductive et déductive. L’approche de la conception des genres à partir d’une étude détaillée des motifs suit les méthodes et la terminologie de la thématologie. L’analyse met particulièrement l’accent sur la structure polaire des motifs en passant par la multitude de leurs réalisations et en recherchant leurs liens spécifiques qui constituent les genres. (3.1.) Le motif d’alba développe des réalisations multiples, qui peuvent soutenir dans la poésie profane et religieuse divers modèles d’interprétation. (3.1.1.) En particulier, dans la poésie des troubadours et celle des trouvères, ce motif se lie étroitement à la thématique des adieux des amoureux sous le signe du celar en développant ainsi sa fonction comme motif temporel de connotation négative. En tant que pars pro toto, l’alba peut être stylisée comme cause particulière de la séparation, étant souvent personnifiée comme ennemie des amoureux. La connotation négative de l’alba dans ce contexte implique également le jugement négatif de tous les autres termes du même champ lexical (jors, dia, maitin, sol) qui peuvent être appliqués de manière complémentaire ou substitutive. Le motif d’alba de connotation négative ne peut qu’être très rarement – et en faisant allusion explicite aux scènes des adieux matinaux – dénoué du schéma typique. À la différence de la poésie des troubadours et celle des trouvères, le motif d’alba de connotation négative n’apparaît que très rarement dans la poésie galego-portugaise et dans la lyrique italienne du Duecento. (3.1.2.) Mais l’approche du jour peut également être le symbole du tempus amoris, dont témoignent déjà les khardjas mozarabes. Dans les chansons des troubadours, seulement quelques exemples isolés suivent cette tradition, tandis qu’elle apparaît fréquemment dans les cantigas ibériques et dans les chansons popularisantes des trouvères. Le lien de ce motif avec la description d’un locus amoenus et l’affinité à la pastourelle et à la chanson de rencontre sont assez frappants. De plus, le motif d’alba positif fait partie de l’inventaire typique des exordes printaniers. Dans ce contexte, l’éveil du jour peut devenir le cataly275

seur du désir amoureux et de l’inspiration poétique. Le lever du jour, l’amour et la poésie forment par l’analogie créée par la littérature une triade topique. (3.1.3.) La fonction de l’alba comme métaphore de la poésie profane et religieuse est également prégnante. Tandis que la métaphore projetant la splendeur du lever du jour à la beauté de la bien-aimée ne fait pas partie du répertoire conventionnel de la poésie d’oc ni d’oïl, elle apparaît comme élément topique des chansons d’amour ibériques. La métaphore est privilégiée grâce à la sémantique riche du terme alva en galego-portugais. L’apostrophe de la dame aimée comme stella splendida/ mattutina ou lumen luminum cultivée dans la poésie médiolatine, ne devient un véritable topos de la description de la beauté féminine que dans la poésie de la scuola siciliana (stella d’albore, stella diana). En référence à l’idée de la lumière pure et purifiante (purgatio ex amore) la donna angelica de dolce stil nuovo fait ici déjà en quelque sorte son apparition avant la lettre. Dans cette fonction, le motif d’alba montre des interférences entre le registre profane et religieux, dont quelques exemples apparaissent déjà dans la poésie des troubadours. En référence à l’apostrophe du lux mundi, l’alba peut aussi devenir la métaphore de Jésus, mais dans sa fonction typique elle symbolise la Vierge Marie. De la même façon que la variante profane, le motif religieux d’alba se base sur la dichotomie essentielle du jour avec la nuit. (3.2.) Le motif de somni apparaît surtout en relation avec la thématique d’amour et en deux manifestations: comme songe érotique ou comme l’état entre la veille et le sommeil (consirar). Les deux manifestations présentent une structure polaire marquée à tel point qu’elles peuvent s’accompagner de connotation positive ou bien négative. (3.2.1.) La nuit peut devenir le tempus amoris en deux manières: en tant que le temps du joi réel ou comme donatrice du joi rêvé (songe érotique). Dans la poésie des troubadours qui cultivent de préférence cette manifestation du motif de somni, c’est déjà Jaufre Rudel qui développe le schéma conventionnel. Le songe érotique s’y combine souvent d’une manière prégnante avec la conception d’amor de lonh, et il apparaît surtout dans la canso et dans le salut d’amor. Le schéma préétabli dans la poésie des troubadours se rencontre aussi dans les chansons des trouvères, mais il n’apparaît que très rarement et avec la plus grande réserve dans les cantigas galego-portugais et dans la poésie de la scuola siciliana. Dans l’ensemble, le songe érotique qui offre un recul dans la sphère imaginaire de la satisfaction implique l’abandon marqué de la réalité en faveur de l’expérience rêvée, qui a pour conséquence une fuite de la réalité et la préférence pour la dame fictive du monde poétique et rêvé par rapport à l’amante réelle. (3.2.2.) Le rêve – et les autres motifs apparentés comme le sommeil ou la nuit – porte une connotation négative surtout dans la poésie religieuse. Dans la poésie d’amour, le réveil marque le côté négatif de motif polaire de somni en exprimant l’envers de la joie rêvée. Non seulement la poésie des troubadours, mais aussi celle des trouvères, cultive l’esthétique de la douleur, qui se concrétise par la plainte au réveil, qui témoigne en même temps d’une position sceptique envers les croyances oniriques – ce qui contredit l’interprétation des songes érotiques comme songes prophétiques (Johnston). Déjà dans la poésie des troubadours, l’image du réveil douloureux 276

d’un rêve comblant devient la métaphore générale de la déception amoureuse. Comme le motif positif de somni, le point culminant du songe érotique n’est guère déployé dans les cantigas galego-portugais, et en Italie le motif prospère presque exclusivement dans les textes des poètes composant en Occitan. (3.2.3.) Un schéma bipolaire est aussi propre au consirar troubadouresque qui devient un des motsclefs de la poésie d’oc. La réflexion nocturne impliquant l’insomnie et liée à la solitude et au renoncement est l’un des symptômes centraux de la maladie d’amour. En même temps, ce tourment d’amour exprimé par le consirar négatif qui résulte du dezirar et de l’esperar présente la base nécessaire de l’amour, car il garantit la purgatio quasi cultuelle de l’amant. À part la poésie troubadouresque, la poétique de consirar est aussi cultivée dans les cantigas ibériques en retentissant comme un écho par la conception de cuidado et le terme sémantiquement complexe de cuidar qui présente un des leitmotivs de la poésie galego-portugais. (3.2.4.) La puissance allusive de consirar/cuidar mène aussi à la déduction des énergies créatrices de la veille nocturne et des images mémorisées et réfléchies. Ainsi, la réflexion pénible peut motiver le véritable rêve, elle peut provoquer un état d’indécision entre le rêve et la veille pour devenir de cette manière la source de l’inspiration et le synonyme même de la poésie. La force explosive inhérente au modèle de consirar/cuidar évolue dans la poésie italienne du Duecento vers l’élément essentiel de sa poétique. Les trovatori italiens nouent en même temps avec l’idée de la contemplatio parsemée des éléments voyeurs et à la conception troubadouresque du remirar ab los huoills del cor en présentant une nouvelle interprétation et accentuation du remirar en somnian cultivé dans la poésie galloromaine. Encore plus fort que la contemplation en durmen troubadouresque, l’acte (cré)a(c)tif de la figura mentis autonome qui se base sur les images de la memoria est mis, dans la poésie italienne, au premier plan, ce qui est exprimé par la conception caractéristique de la scuola siciliana de pingere nella mente. Dans ce contexte, la vue (vista) est chargée, comme source et base de la sembianza, figura ou pintura, d’une valeur supplémentaire. Ce que le rêve signifie pour les poètes occitans, est représenté dans la scuola siciliana par le miroir et la memoria qui permettent de retenir l’image créée en ouvrant de nouvelles solutions. (5.) La diversité des fonctions des motifs d’alba et de somni favorise le développement des manifestations multiples des schémas génériques (4.1.1.) qui sont déjà partiellement codifiés dans des témoignages médiévaux. Dans ce contexte, les textes des XIIIe et XIVe siècles qui transmettent des définitions et des désignations des genres et qui présentent, pour cette période, un des coups de chance de l’aire culturelle romane, servent d’appui supplémentaire pour la mise en valeur des conceptions génériques. De telles pensées métapoétiques sont déjà formulées par les troubadours eux-mêmes, et, elles apparaissent comme autodésignations ou réflexions génériques dans les textes poétiques, surtout dans les tornadas et les strophes d’exorde. Pour le genre d’alba nous en disposons de trois références, la plus ancienne datant de la fin du XIIe siècle. (4.1.2.) À part les attributions fournies par les troubadours, les rubriques et les titres transmis 277

dans les chansonniers donnent également des idées des termes génériques. Déjà les manuscrits consultés à la Bibliothèque Nationale à Paris et à la Biblioteca de Catalunya à Barcelone transmettent dans l’ensemble neuf désignations de cette sorte dans quatre des ces manuscrits (C, Sg, T et VeAg). Comme les témoignages internes dans les chansons, les désignations des genres dans les chansonniers font preuve de la conception vaste du genre d’alba au Moyen-Age incluant la variante érotique, la forme religieuse et les autres variations du schéma. Les vidas et razos caractéristiques de la poésie des troubadours transmettent aussi des termes génériques. Elles désignent 15 genres différents parmi lesquels aussi l’alba et le somni. (4.1.3.) Finalement, les traités poétologiques livrent des indications externes des conceptions génériques médiévales. Dans la Doctrina de compondere dictats, alba et somni composent une partie fixe du système générique présentant les deux genres au premier plan comme entités thématiques. Avec sa différenciation entre l’alba et la gayta, la Doctrina présente en outre un exemple intéressant de la division en sous-genres. Les Leys d’Amors de Guillaume Molinier, en revanche, qui contiennent onze dictatz principals et dix-sept dictatz no principals, ne mentionnent pas l’alba, tandis qu’ils nomment le somni comme genre thématique parmi les genres secondaires. (5.1.) La polyvalence du motif d’alba favorise le développement de divers modèles génériques, de variations et de jeux intertextuels. (5.1.1.) En particulier, dans l’aire culturelle gallo-romaine, le lien entre la thématique de l’amour, de la séparation et de la plainte avec le motif temporel d’alba de connotation négative, dont la réalisation est variable (alba, dia, jorn), devient le schéma stable et typique de la chanson d’aube. (5.1.1.1.) Dans l’aire culturelle française et italienne les albas qui présentent un sous-genre de la chanson de séparation focalisent leur attention sur l’intimité des amoureux. Elles se basent à quelques détails près sur la tradition des chansons de femme, en érigeant la dame d’alba en voix centrale de la douleur absolue des adieux, ce qui explique peut-être entre autres le manque d’alba érotique dans la scuola siciliana. (5.1.1.2.) À côté de ces manifestations se placent les exemples occitans qui atteignent, avec le transfert de la thématique dans le contexte courtois et l’extension de l’inventaire des personnages (gayta, gelos), une structure plus dynamique en créant deux sous-formes: l’alba proprement dit, qui met les amoureux au premier plan, et la gayta-alba, qui élève le personnage du gardien au rang de l’instance centrale. La forme interne des chansons permet diverses variations des plaintes en forme de monologues en passant par l’insertion des éléments narratifs jusqu’aux voix successives, de véritables dialogues n’y étant pas attestés. Tandis que les personnages négatifs d’alba (gelos, lausengiers) sont conçus en tant que types, la poésie troubadouresque libère le triangle positif de leur fixation comme figures préétablies en offrant au personnage de la gayta les plus grandes possibilités de variations. (5.1.1.3.) Malgré les diverses réalisations, la poétique inhérente à l’alba – comprimant le désir qui oscille entre la joie suprême et la tristesse douloureuse – subsiste. Le motif d’alba de connotation négative, dont la puissance allusive arrive à évoquer un niveau d’isotopie complexe avec les moments centraux de l’expérience de joi et de dol, le motif de celar et le 278

contraste entre le désir et la réalité, sert de catalyseur de la thématique essentielle de la séparation. (5.1.2.) Au XIIIe siècle au plus tard, la poésie romane montre diverses variantes, de nouvelles interprétations, des extensions, des contrafactures et des parodies du schéma d’alba formées dans l’aire culturelle gallo-romaine qui témoignent de sa popularité. (5.1.2.1.) La poésie française, par exemple, connaît des variations qui prennent comme point de départ le schéma traditionnel d’alba aussi bien que le modèle de gayta. Souvent, le cri plaintif des amoureux ou de la gayta est transféré dans de nouveaux contextes dans lesquels il peut apparaître comme élément étranger et dont la signification ne peut qu’être démasquée après un décodage réussi du jeu intertextuel. Dans quelques exemples, l’emploi seul du lexème polyvalent et isolé d’alba suffit pour évoquer le scénario de l’alba. Par le tertium comparationis de la thématique de la séparation, l’alba peut même devenir au sens large le symbole général de l’amour éteint. (5.1.2.2.) La poésie des troubadours développe de plus une forme particulière d’inversion de la thématique d’alba qui garde la dichotomie caractéristique du jour avec la nuit et qui se réalise dans deux modèles: dans le contexte sacré comme alba religieuse et dans la poésie d’amour comme cossir. Le cossir développe du lien entre la plainte (nocturne) de l’amant solitaire et le motif temporel d’alba transformé en son contraire, un schéma prégnant en créant ainsi dans le contexte de la plainte amoureuse un pont entre la thématique de l’alba et du somni. Non seulement l’alba religieuse, mais aussi le cossir possèdent un pendant dans la poésie galego-portugaise. (5.2.) Comme l’alba, le somni présente un genre au premier plan thématique, mais il montre souvent comme trait caractéristique de manière structurante un cadre composé des formules stéréotypées et conçu comme parenthèse rhétorique. (4.2.) Les diverses réalisations du somni reflètent les typologies et les interprétations des songes typiques de l’époque. (4.2.1.) Les discussions médiévales théoriques sur les songes s’appuient sur les schémas hérités de l’Antiquité grecque avec la bipartition caractéristique en rêves physiques et métaphysiques. Pour la nouvelle interprétation chrétienne de la théorie antique, l’extension du schéma biparti par les songes démoniaques (Tertullien) devient décisive. Dans le domaine de la théorie des songes Augustin, Grégoire le Grand et Macrobe restent les autorités, la division des songes en cinq types par Macrobe (insomnium, visum, visio, oraculum et somnium) étant encore omniprésent jusqu’au XIIIe siècle. La typologie proposée par Macrobe peut servir de schéma approximatif de la classification des manifestations des chansons de songe romanes, cependant la poésie montre une inversion de l’appréciation des types de songes, les rêves divinatoires avec les sources externes étant en recul et les rêves dus aux causes psychophysiques et déclassés par Macrobe (insomnium, visum) étant revalorisés. Dans quelques exemples, des mélanges entre les types de rêves sont observables. Au XIIe siècle, l’oniromancie orientée vers le physique et basée sur le discours médical devient plus importante, ce dont résulte la concentration sur les rêves dus au physique et à la psyché (Jean de Salisbury). Cette perspective domine encore plus dans le cadre de la réception d’Aristote au XIIIe siècle le discours sur les songes. La croyance en des rêves envoyés par Dieu, l’avertissement des songes chiffrés et 279

des oniromanciens et la préférence envers les images oniriques non codées sont communs à la réflexion des auteurs chrétiens. Les rêves fictifs médiévaux reflètent à part les modèles théoriques de l’oniromancie aussi les croyances populaires, en attribuant par exemple plus de véracité aux rêves printaniers, aux images rêvées lors des fêtes religieuses ou à l’aube. (4.2.2.) Les clefs de songes en latin et en langues vulgaires, très appréciées et témoignant de la pratique de l’interprétation des songes et dont les Somnialia Danilies étaient les plus répandues, offrent aussi des indications aux modèles médiévaux de l’oniromancie. (5.2.1.) Le songe allégorique (somnium), cultivé de préférence dans la littérature épique en vers se limite, dans la poésie lyrique des XIIe et XIIIe siècles, à l’aire culturelle occitane ou aux régions fortement influencées par la poésie des troubadours. Les somnia lyriques imagés puisent dans la collection des symboles ambigus de flore et faune sans indiquer cependant une influence directe des Somnialia Danielis. Les somnia se combinent de manière fixe avec l’explicatio somniorum en opposant clairement au contenu manifeste du songe le contenu latent, les verbes significar, demostrar et semblar, en tant qu’éléments fixant, indiquent l’analogie. À part des allégories d’amour, la poésie des troubadours connaît aussi l’instrumentalisation des somnia comme légitimation de pouvoir. La mise en contexte des somnia propria par le rattachement aux restes diurnes introduit aux songes allégoriques, à part leur caractère prophétique, également l’idée du rêve comme expression des conflits intérieurs et des désirs. (5.2.2.) Les rêves appelés disputationes, qui ressemblent en quelque sorte à la définition de l’oraculum d’après Macrobe, peuvent être caractérisés comme une apparition suivie d’un débat. Contrairement au somnium qui met le visuel au premier plan, l’acte verbal y est central. À part les apparitions du Dieu d’Amour, la poésie romane transmet des débats avec Dieu, la dame et des personnifications, le rêveur étant toujours actif comme l’un des interlocuteurs. Par la forme intérieure de dialogue, la disputatio in somnio s’approche de la tenso. Les discussions de manière controversée vont des dialogues simples jusqu’aux discussions complexes qui peuvent même être construites comme quaestiones et qui évoquent en général la casuistique amoureuse. En particulier dans l’aire culturelle française et italienne, les apparitions du Dieu d’Amour, dans lesquelles Amor peut agir comme conseiller, consolateur et médium entre l’amant et sa dame, prospèrent. La disputatio est rarement de caractère divinatoire et elle fait généralement fonction de miroir de la réflexion sur soi-même. Ce moment réflexif est augmenté par la combinaison de plusieurs apparitions qui forment une chaîne indiquant le progrès de la connaissance de soi-même. (5.2.3.) Les songes d’amour (insomnia) dans lesquels l’individu ressort clairement comme causa somniorum, sont l’une des formes de rêve poétisées dans toutes les aires culturelles. Les insomnia sont généralement interprétés comme succédané ou moyen de la satisfaction des désirs, dont peut témoigner, de manière explicite, la mise en contexte des songes. Les songes d’amour font constamment varier le contraste topique entre le monde de rêve comblé et la réalité défectueuse qui met généralement par le réveil un terme à la satisfaction rêvée. Souvent, les insomnia sont réalisés comme des rêves printaniers présentant quelques traits 280

de la pastourelle (locus amoenus, invitatio). Les insomnia se situent entre les rencontres subtiles et les fantasmes grivois, en laissant beaucoup de liberté à la conception de la figure d’apparition qui peut varier de la domna idéalisée à l’amante démoniaque. Déjà la poésie troubadouresque transmet des parodies de ce schéma topique de l’insomnium. (5.2.4.) L’insomnium montre dans quelques exemples des interférences avec le visum, le fantasme ou le rêve éveillé. Cette catégorie du rêve comprend surtout les états hypnagogiques et hypnopompiques qui peuvent être approchés de l’inspiration poétique. Le visum, déjà présent comme rêve éveillé dès le début de la poésie troubadouresque, est caractérisé par la séparation de la perception présente et le lien associatif des idées sans les soumettre au diktat de la ratio. Non seulement la réflexion intense avant l’endormissement et les images de la memoria, mais aussi les impressions sensuelles concrètes peuvent motiver le visum en mettant en avant l’individu comme ensemble psychophysique. (4.2.3.) À part les écrits théoriques et les rêves fictifs, les représentations de l’art plastique témoignent aussi de la discussion différenciée sur l’interprétation et la typologie des songes, ce qui est confirmé par l’étude exemplaire des manuscrits enluminés choisis. De tels miniatures et dessins dans les marges font preuve de la pratique usuelle au Moyen-Age de la visualisation qui accompagne l’acte intellectuel de la lecture, et, elles fournissent des indications aux jugements possibles sur les songes. Dans ce contexte, l’image peut être conçue comme une illustration en parallèle avec le texte ou bien elle peut avoir une fonction interprétative. Ainsi, la pictura se comprend souvent comme (ré)interprétation de la scriptura ce qui lui attribue non seulement une fonction illustrative, mais également une qualité de commentaire. Les représentations profanes prennent pour modèle les schémas conventionnels des représentations religieuses, mais l’instance envoyant le rêve et souvent représentée dans le contexte religieux apparaît très rarement dans les illustrations profanes. Le contenu du songe et le rêveur y sont représentés immédiatement côte à côte. Quelques représentations renoncent même malgré des indications textuelles précises à externaliser l’image rêvée en se concentrant uniquement sur le personnage-rêveur. La proximité de la représentation du rêveur et celle du poète inspiré, qui trouve également un pendant dans la poésie, est particulièrement intéressante. (6.) Les manifestations érotiques de l’alba et du somni montrent des structures analogues, non seulement au niveau des motifs mais aussi au niveau des genres. Et l’aube et le rêve peuvent être, dans la poésie médiévale, les points de culmination de la joie absolue (joi) et de la douleur extrême (dol). Mais ils apparaissent également comme symbole et motivation de l’inspiration poétique. Ces analogies implicites se manifestent de manière prégnante dans les formes érotiques de l’alba et de somni. La poétique de la plainte des adieux au petit jour évoque des moments analogues au schéma de l’insomnium, les deux genres comprimant la dialectique de l’amour dans une image en illustrant l’épanouissement et le sentiment de perte en tant que contrepoints complémentaires de l’expérience d’amour. Les deux modèles poétisent la joie d’amour transitoire, ils esthétisent la douleur et ils comprennent, d’une part, 281

la séparation, et d’autre part, le réveil comme métaphores de l’expérience de perte. L’alba érotique et le songe érotique thématisent le désir de pouvoir retenir le fugitif dont l’attraction résulte surtout de son caractère éphémère. Dans ce contexte, la dichotomie du jour avec la nuit constitutive de ces deux formes, exprime d’une manière quasi plastique la polarité entre le principe du désir et celui de la réalité. L’analogie thématique et conceptuelle de l’alba et du songe érotiques est détectée déjà à plusieurs reprises par les poètes médiévaux dont témoignent les interférences qui se situent entre les citations génériques sporadiques et les contaminations génériques frappantes, et, qui peuvent se réaliser dans les deux sens. Ainsi, les albas contiennent déjà dans la poésie troubadouresque des séquences oniriques, et, l’insomnium, dans lequel le réveil est transféré de manière explicite à l’aube, peut être interprété en quelque sorte comme une modulation de l’alba érotique. Ces interférences qui s’annoncent chez les troubadours et qui prennent comme point de départ la poétique inhérente et analogue des deux schémas, sont réalisées plus tard par le Minnesang à travers ses contaminations explicites du traumliet avec le tageliet d’une manière particulièrement claire. Cette étude sur les variations de l’alba et du somni romanes se considère comme contribution à la mise en valeur des structures et de la poétique inhérente de la poésie médiévale. Elle montre non seulement comment la perspective comparatiste peut contribuer à la compréhension de la richesse des facettes de la poésie médiévale et des chemins et des formes de la réception et de la fécondation mutuelles, mais aussi quel rôle peut jouer l’examen des dictatz no principals encore négligés. L’étude de ces genres ‘mineurs’ thématiques n’a pas seulement d’intérêt en soi, car les modèles thématiques indiquent généralement les sujets centraux et les points culminants de la poésie, mais aussi parce qu’elle peut contribuer à l’éclaircissement ou à une meilleure compréhension des modèles déjà connus et étudiés. Dans ce sens, l’étude se considère comme une apologie à l’effort de porter attention aux formes thématiques moins respectées, qui passent chez les chercheurs pour uniques ou pour des modèles purement théoriques. Une telle supposition peut seulement être vérifiée ou infirmée par un examen précis et par l’exploitation des chansons transmises. Le fait que le somni, longtemps considéré comme unique, ne l’est absolument pas, laisse espérer que d’autres études concernant les dictatz no principals pourront démontrer des conclusions semblables et progressives.

282

8.

Anthologie ausgewählter Tage- und Traumlieder

8.1. Profane alba-Dichtung a) mittellateinisch {A = Alba a, 1} Anonym: Phebi claro I.

(Lockwood 1965, Nr. 8)

Phebi claro nondum orto iubare, fert Aurora lumen terris tenue: spiculator pigris clamat: «surgite» L’alba part umet mar atra sol Poy pasa bigil mira clar tenebras.

(I. Noch bevor des Phoebus glänzend strahlender Schein aufgegangen ist, bringt Aurora der Erde fahles Licht: Der Wächter ruft den Trägen zu «Steht auf!». Die Morgenröte geht vorbei, das feuchte Meer zieht die Sonne herbei, dann kommt der Wächter, betrachte die erhellte Finsternis.) II.

En incautos hostium insidie torpentesque gliscunt intercipere quos suadet preco clamans surgere. L’alba part umet mar atra sol Poy pasa bigil mira clar tenebras.

(II. Siehe da! Die Sorglosen und die Trägen, die durch der Feinde Hinterhalt entrissen werden, werden zahlreicher, diesen rät er mit Bitten aufzustehen. Die Morgenröte geht vorbei, das feuchte Meer zieht die Sonne herbei, dann kommt der Wächter, betrachte die erhellte Finsternis.) III.

Ab Arcturo disgregatur aquilo poli suos condunt astra radios. orienti tenditur septentrio. L’alba part umet mar atra sol Poy pasa bigil mira clar tenebras.

(III. Vom Arktur macht sich der Nordwind auf, des Himmels Sterne verbergen ihre Strahlen, gen Osten wird der große Bär gelenkt. Die Morgenröte geht vorbei, das feuchte Meer zieht die Sonne herbei, dann kommt der Wächter, betrachte die erhellte Finsternis.)

{A a, 2} Anonym: Cantant omnes volucres (Dronke 1973, 188) Cantant omnes volucres, iam lucescit dies.

283

Amica cara, surge sine me per portas exire! (Alle Vögel singen, schon beginnt der Tag zu leuchten. Steh auf, geliebte Freundin, um ohne1 mich vor die Türen zu gehen.)

b) altokzitanisch {A b, 1} Anonym: Quan lo rossinhols escria (BdT 461, 203) (Chaguinian 2008, 194)

Quan lo rossinhols escria Ab sa par la nueg e·l dia, Yeu suy ab ma bell’amia Jos la flor, Tro la gaita de la tor Escrida: «Drutz, al levar, Qu’ieu vey l’alba e·l jorn clar.»

5

(Wenn die Nachtigall mit ihresgleichen Tag und Nacht singt, bin ich bei meiner schönen Freundin unter den blühenden Bäumen,2 bis der Turmwächter ruft: «Liebender, steht auf, denn ich sehe die Morgenröte und den hellen Tag.»)

{A b, 2} Anonym: Ab la genser que sia (BdT 461, 3) (Chaguinian 2008, 202s.) I.

Ab la genser que sia E ab la mielhs aibia3 Mi colguey l’autre dia. Tan solamen Joguan, rizen, M’adormi tro al dia.

5

(I. Mit der Anmutigsten, die es gibt, und der Vollkommensten ruhte ich neulich zusammen. Allein unter Spielen und Lachen schlief ich ein, bis es tagte.) II.

Mentre qu’ieu mi jazia, En sobinas m’adormia, Un dous baizar mi tendia, Tan plazenmen Qu’enquer lo·m sen E faray a ma via.

5

(II. Während ich so lag, schlief ich auf dem Rücken ein, und sie gab mir so bezaubernd einen süßen Kuss, dass ich ihn immer noch spüre und es mein Leben lang tun werde.) III.

1 2 3

– «Gaita, s’ieu ti tenia, De mas mans t’auciria. Sine (v. 3) kann als Präposition oder aber als Imperativ (lat. sinere) aufgefasst werden. Wir folgen dem Vorschlag von Dronke (21968, II, 353). Cf. die Erklärung von Chaguinian (2008, 194/1:4), der für jos la flor die Übersetzung «sous [les arbres] en fleurs» vorschlägt. Zur Konjektur (C aibida) cf. Chaguinian (2008, 204/1:2).

284

5

Ja res pro no·t tenria, Aur ni argen Ni hom viven Ni res que el mon sia.»

(III. «Wächter, wenn ich dich zu fassen bekäme, würde ich dich mit eigenen Händen töten. Nichts würde dich retten, weder Gold noch Silber, noch ein lebender Mensch oder etwas anderes, das auf der Welt existiert.») IV.

5

«Gaita, Dieus ti maldia, Lo filh sancta Maria, Quar tant cochas lo dia, Gran paor ay E gran esmay Que no·m perda m’amia.»

(IV. «Wächter, Gott verfluche dich, der Sohn der heiligen Maria, denn du rufst den Tag zu eilig herbei, und ich habe große Angst und bin voller Unruhe, dass ich meine Geliebte verliere.») V.

5

– «Amicx n’Esteves, via, Qu’ieu remanh vostr’amia. Que si·l gilos venia, Gran paor ai E gran esmay Que·ns fezes vilania.»

(V. «Freund Esteve, geht fort, denn ich bleibe Eure Geliebte. Käme nämlich der Eifersüchtige, so befürchte ich und bange sehr, dass er uns etwas Böses antun könnte.»)

{A b, 3} Anonym: En un vergier, sotz fuella d’albespi (BdT 461, 113) (Chaguinian 2008, 208s.)

I.

En un vergier, sotz fuella d’albespi, Tenc la dompna son amic costa si, Tro la gayta crida que l’alba vi. Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba , tan tost ve!

(I. In einem Garten, unter einem Weißdornstrauch4 hält die Dame ihren Freund an ihrer Seite, bis der Wächter ruft, dass er die Morgenröte gesehen habe. Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf!) II.

«Plagues a Dieu, ja la nueitz non falhis Ni·l mieus amicx lonc de mi no·s partis Ni la gayta jorn ni alba no vis!» Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba , tan tost ve!

(II. «Gefiele es doch Gott, dass die Nacht nie endete und mein Freund sich nicht für lange5 von mir trennte und der Wächter weder die Morgenröte noch den Tag sähe.» Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf!)

4 5

Wie Chaguinian (2008, 210/1:1) fassen wir feulla als Kollektiv auf. Rieger, D. (1980, 139) übersetzt mit ‘Weißdornblatt’. Chaguinian (2008, 210/2:2) verwirft diese Lesart und interpretiert ‘lonh’ mit der Er-

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III.

«Bels dous amicx, baizem nos yeu e vos, Aval e·ls pratz, on chanto·ls auzellos, Tot o fassam en despieg del gilos.» Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba, tan tost ve!

(III. «Schöner süßer Freund, lass uns küssen, ich und Ihr, unten auf der Wiese, wo die kleinen Vögel singen, und lass es uns dem Eifersüchtigen zum Trotz tun.» Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf!) IV.

«Bels dous amicx, fassam un joc novel Yns e·l jardi, on chanton li auzel, Tro la gaita toque son caramelh.» Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba , tan tost ve!

(IV. «Schöner süßer Freund, lass uns erneut vergnügen,6 im Garten, wo die Vögel singen, bis der Wächter seine Schalmei spielt.» Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf!) V.

«Per la doss’aura qu’es venguda de lay, Del mieu amic belh e cortes e gay, Del sieu alen ai begut un dous ray.»7 Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba , tan tost ve!

(V. «Dank einer süßen Brise, die von dort gekommen ist, von meinem schönen, höfischen und fröhlichen Freund, habe ich von seinem Atem einen süßen Hauch8 getrunken.» Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf!) VI.

«La dompna es agradans e plazens, Per sa beutat la gardon mantas gens Et a son cor en amar leyalmens.» Oy Dieus, oy Dieus, de l’alba , tan tost ve!

(VI. «Die Dame ist lieblich und anmutig, ihrer Schönheit wegen betrachten sie viele Leute, und sie hat ihr Herz aufrichtigem Lieben geweiht.» Oh Gott, oh Gott, die Morgenröte kommt so bald herauf!)

{A b, 4} Anonym: Drutç qui vol dreitament amar (BdT 461, 99a) (Chaguinian 2008, 214s.)

Drutç qui vol dreitament amar Deu regnar ab cortesia E·s deu de lausengiers gardar Ab sen et ab maïstria, Qe sos jois saubutz no sia. E·s deu enan lo jorn levar Cum al venir ni al anar,

5

6 7 8

klärung, dass der Kontext nach der «locution prépositionnelle ‘loin de’» verlange, was jedoch nicht zwingend notwendig ist. IV, 1 fassam un joc novel, wörtl.: «lass uns ein neues Spiel machen». Chaguinian (2008, 209) verteilt die Refrainverse auch auf die Sprechinstanzen und setzt dieses Anführungszeichen nach dem Refrainvers. V, 3 ray, wörtl.: ‘Strahl’.

286

10

No·l veçon can ve i ni vai, Que de fin amador s’eschai Que·s leu enan l’alba.

(I. Der Liebende, der richtig lieben will, muss sich höfisch benehmen, und er muss sich vor den Verleumdern9 hüten mit Verstand und Geschick, damit seine Liebesfreude nicht bekannt wird. Er muss vor dem Tagesanbruch aufstehen, damit man sein Kommen und Gehen nicht bemerkt,10 denn es gehört sich für einen aufrichtig Liebenden, dass er vor der Morgenröte aufsteht.)

{A b, 5} Anonym: Eras diray ço que·us dey dir (BdT 461, 25a) (Chaguinian 2008, 226ss.)

I.

5

10

15

Eras diray ço que·us dey dir E ben lieu poran tal ausir Que valgre mays estes susaus.11 Mas ges per ço no dey felhir A celh qui·m fe mon dieu plavir, La nuyt, preyan dins mon hostaus Qu’ieu ans xantes Qu’eperagues L’alb’e·[l] jorn clar, Per qu’yeu posques Mils e saubes Son joy celar. Qu’aysi s’escay Que de fortfayt Se guard d’uymay; Si no, diray: «Via, sus, cavalhiers, Guerrers, que lausangiers No·us assauton en l’alba.»

(I. Nun werde ich sagen, was ich euch sagen muss, und vielleicht werden mich diejenigen hören können, deretwegen ich lieber schweigen sollte. Aber aus diesem Grund darf ich nicht falsch handeln demjenigen gegenüber, der mich das meinem Gott versprechen ließ und mich darum nachts in meiner Unterkunft bat, zu singen, bevor die Morgenröte und der helle Tag erscheinen, damit ich sein Glück besser geheim halten kann.12 Denn es ist vereinbart, dass er sich von jetzt an vor der Gefahr hütet; wenn nicht, werde ich sagen: «Steht auf und geht fort, ritterliche Krieger, damit euch die Verleumder nicht in der Morgenröte angreifen».)

9

10 11

12

Chaguinian (2008, 215/1:3) korrigiert den Singular der Handschrift in die plurale Bedeutung lausengiers : «À l’exception des cas où il s’applique à un individu particulier, le terme lauzengier est toujours en pluriel. Il nous semble que la référence se fait ici au groupe des médisants en général, ce qui a motivé notre correction.» V. 7s.: Cum al venir ni al anar/No·l veçon can ve i ni vai, wörtl. (pleonastisch): «damit sie ihn beim Kommen und Gehen nicht sehen, wenn er kommt und geht». Die Form existiert weder im Okzitanischen noch im Katalanischen, zu erwarten wäre suau ‘ruhig’, ‘still’. Chaguinian (2008, 230) versteht die Form, in Anschluss an Riquer, als Hyperkorrektismus. Per qu’yeu posques/Mils e saubes/Son joy celar, wörtl. (pleonastisch): «damit ich sein Glück besser geheim halten kann und es zu tun verstehe».

287

II.

Vos cavalhiers qui·m ascolats, A tuyt dich e prech que diats Que ver es ço qu’yeu dich xentan. Que si tot gayta s’es reptats Que ço que dits no es vertats, Ges per ço no anets dubtan De tost levar E de mandar Cest escudier, Car qui vol far Ar m’es compar. Ja del portier No·l cal temer, Car clau ne fer No·l destreny re Enans dich be: «Que·s gart tot cavalhier Anans ez apres l’alba.»

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10

15

(II. Ihr Ritter, die ihr mich hört, zu euch allen spreche ich und bitte euch zu sagen, dass wahr ist, was ich mit meinem Gesang verkünde. Denn obwohl jeder Wächter angeklagt wird, nicht die Wahrheit zu sagen, zögert deswegen nicht, früh aufzustehen und diesem Edelmann zu vertrauen,13 denn derjenige, der es jetzt tun will, ist mein Freund. Er muss keinesfalls den Pförtner fürchten, denn weder Schlüssel noch Eisenschloss behindern ihn. Vielmehr sage ich: «Möge jeder Ritter auf der Hut sein, vor und nach der Morgenröte».) III.

A tuyt ho dich cominalmen, Mays un me’n mou major conten, Que·l valgre mays qu’axis premier; Pauch li valdra son ardimen Si trop li dura son poch sen ......................................................14 Ben tench per fat Si del camgiat No s’es cuchos. A tort reptat L’ay, car muntat Lo vey, lay jos, En son ferran, Garnit, frepan, Gent arrean, En aut cridan: «Nostres lo gany, D’autruy lo dan!»

5

10

15

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14

Chaguinian übersetzt mandar (II, 8) mit ‘faire partir’ (2008, 228), Gouiran (2005, 75) mit ‘donner ordre’, Woledge (1965, 372) mit ‘send for’. Am sinnvollsten scheint aber ‘vertrauen’ (cf. PetDic 1991, 235b). Zum Fehlen des Verses cf. Chaguinian (2008, 221): «Le second vers b manque dans la cobla 3. La similarité de structure des trois coblas permet de croire qu’il s’agit là d’une lacune due à transmission et non d’une irrégularité».

288

D’eres anan Sonech un corn en l’alba. (III. Zu allen habe ich gleichermaßen gesprochen, aber einen davon betrifft es insbesondere, denn es wäre besser, wenn er als Erster käme. Wenig wird ihm sein Mut nützen, wenn er weiterhin so unverständig bleibt. (…) Ich halte ihn wahrlich für dumm, wenn er sich mit dem Abschied nicht beeilt. Zu Unrecht habe ich ihn beschuldigt, denn ich sehe ihn steigen, dort drüben, auf sein graues Pferd; bewaffnet und peitschend treibt er wie ein Edelmann das Reittier an15 und ruft laut: «Der Erfolg gehört uns, den anderen der Verlust». In diesem Moment ertönte ein Horn in der Morgenröte.)

{A b, 6} Anonym: E! Quant m’es greu (BdT ---) (Chaguinian 2008, 251s.) I.

5

10

15

E! quant m’es greu quant no remir Vostra bel cors qui·m fa lenguir, Soven penssar en la beutat, Don mantes vetz m’en ve desir Que m’en pogues un pauch plavir Per far enoy e tot desgrat Al descortes Qui m’ha repres De vos amar Qui etz la res A qui am mes E dey presar E far plaser Ab cor enter E vertader, Pus qu’ab voler Me suy tostemps a vos sotsmes E luny16 e pres Lo jorn, la nuyt e l’alba.

(I. Ach, wie missfällt es mir, wenn ich Euren schönen Körper nicht sehe, der mich schmachten und oft an Eure Schönheit denken lässt, wonach mich immer wieder das Verlangen befällt. Könnte ich doch nur ein wenig von Eurer Gunst haben, um dem Unhöfischen Unmut und Missfallen zu bereiten, der mich getadelt hat, da ich Euch liebte. Ihr seid diejenige, die ich am meisten liebe, die ich schätzen muss und der ich Freude bereiten muss aus ganzem und aufrichtigem Herzen, denn ich habe mich Euch stets freiwillig ergeben, von nah und fern, am Tag, in der Nacht und in der Morgenröte.) II.

5

15 16

No m’ha retret de vos veser, L’envegos falç e lausenger Ab son saber mal e ginyos; Mas, pus en elh no ha poder De far me perdre lo voler

Zur Problematik von arrean (III, 15) cf. Chaguinian (2008, 231s./3:15). Chaguinian (2008, 251) notiert hier luy und argumentiert: «Le graphe y a quelquefois la valeur d’un /n/ palatal en catalan médiéval». Das trifft jedoch auf die Hs. Vega-Aguiló nicht zu. Cf. dazu Squillacioti (2009, 449).

289

Ne l’esperança que en vos .......................................... Amar vos ay A son despit E viure gay Aysi com say, De gran delit E ben conten. Sitot soven No suy presen, Haver l’enten, Belha, presan, prous e valen, Qui manta gen Desir’aver un’alba.

10

15

(II. Der falsche und verleumderische Eifersüchtige hat mich mit seinem schlimmen und trügerischen Wissen nicht davon abgehalten, Euch zu sehen. Doch da er nicht die Macht hat zu bewirken, dass ich das Verlangen oder die Hoffnung verliere, die ich in Euch […], werde ich Euch ihm zum Trotz lieben und werde fröhlich leben, wie ich es zu tun verstehe, mit großer Freude und voller Zufriedenheit. Obwohl ich nicht oft in Eurer Nähe bin, hoffe ich, es zu erhalten, du Schöne, Schätzenswerte, Tugendhafte und Edle, denn viele Leute wünschen, eine alba zu haben.17)

{A b, 7} Guiraut de Bornelh: Reis glorios (BdT 242, 64) (Chaguinian 2008, 150s.) I.

Reis glorios, verays lums e clartatz, Totz poderos, Senher, si a vos platz, Al mieu compaynh sias fizels aiuda, Qu’ieu non lo vi, pus la nuech fo venguda. Et ades sera l’alba .

(I. Ruhmreicher König, wahrhaftes Licht und Glanz, Allmächtiger, wenn es Euch gefällt, Herr, möget Ihr meinem Gefährten eine treue Hilfe sein, denn ich sah ihn nicht mehr, seit die Nacht gekommen war. Und sogleich wird die Morgenröte erscheinen.) II.

Bel conpanho, si dormetz o velhatz, No dormas pus, senher, si a vos platz, Qu’en aurien vey l’estela creguda C’adus·lo jorn, qu’ieu l’ay ben conoguda. Et ades sera l’alba .

(II. Schöner Gefährte, ob Ihr schlaft oder wacht, schlaft nicht mehr, Herr, wenn es Euch gefällt, denn im Orient sehe ich den Stern heraufkommen, der den Tag herbeiführt, wohl habe ihn erkannt. Und sogleich wird die Morgenröte erscheinen.) 17

Chaguinian (2008, 252) übersetzt die schwierige Stelle (II, 18s.) folgendermaßen: «et que maintes gens voudraient posséder un jour» und begründet seinen Übersetzungsvorschlag: «La construction de ce vers, en particulier l’usage de l’article indéfi ni, montre que le mot alba y signifie ‘jour’. C’est clairement la difficulté à concilier la logique du texte avec les exigences formelles du genre, c’est-à-dire le retour du mot alba, qui a obligé le poète à détourner, par une espèce de métonymie, le mot de son sens normal» (255/2 :19). Cf. dagegen die Interpretation von Gouiran (2005, 73): «car beaucoup de gens/désirent avoir une aube».

290

III.

Bel conpanho, en chantan vos apel. Non durmas pus, qu’ieu aug chantar l’auzel Que vay queren lo jorn per lo boscatje E ay paor que·l gilos vos assaje. Et ades sera l’alba .

(III. Schöner Gefährte, ich rufe Euch mit meinem Gesang. Schlaft nicht mehr, denn ich höre den Vogel singen, der im Wald nach dem Tag sucht, und ich habe Angst, dass Euch der Eifersüchtige angreift. Und sogleich wird die Morgenröte erscheinen.) IV.

Bel companho, issetz al fenestrel E esgardatz las ensenhas del sel; Conoysiretz s’ieu soy fizel messatje; Si non o faytz, vostres er lo danpnatje. Et ades sera l’alba .

(IV. Schöner Gefährte, kommt zum Fenster hinaus und betrachtet die Zeichen des Himmels, so werdet Ihr erkennen, ob ich ein treuer Bote bin. Wenn Ihr es nicht tut, wird der Schaden der Eure sein. Und sogleich wird die Morgenröte erscheinen.) V.

Bel conpanho, pos me parti de vos, Yeu non durmi ni·m muoc de ginolhos, Ans preg ieu Dieu, lo Filh santa Maria Que·us mi rendes per lial conpanhia, Et ades sera l’alba .

(V. Schöner Gefährte, seit ich mich von Euch trennte, habe ich nicht geschlafen und bewegte mich nicht von meinen Knien, um Gott, den Sohn der heiligen Maria zu bitten, dass er mir Euch zurückgebe zur treuen Gesellschaft. Und sogleich wird die Morgenröte erscheinen.) VI.

Bel companho, la foras als peiros Me preiavatz qu’ieu no fos dormilhos, Enans velhes tota nueg tro ad dia. Aras no·us platz mos chans ni ma paria, Et ades sera l’alba .

(VI. Schöner Freund, dort draußen auf dem Steinweg batet Ihr mich, nicht zu schlafen, sondern zu wachen, die ganze Nacht bis zum Tag. Nun gefallen Euch weder mein Gesang noch meine Gesellschaft. Und sogleich wird die Morgenröte erscheinen.) VII.

Bel dos conpanh, tan soy en ric sojorn Qu’ieu no volgra mays fos alba ni jorn, Car la gensor que anc nasques de mayre Tenc et abras, per qu’ieu non prezi gaire Lo fol gilos ni l’alba.

(VII. Lieber schöner Freund, ich bin an einem so kostbaren Ort, dass ich wünschte, dass weder die Morgenröte noch der Tag jemals erschienen, denn die Schönste, die jemals geboren wurde, halte und umarme ich, weshalb ich weder den törichten Eifersüchtigen noch die Morgenröte schätze.)

291

{A b, 8} Raimbaut de Vaqueiras: Gaita be (BdT 392, 16a) I.

(Chaguinian 2008, 157ss.)

Gaita be, Gaiteta del chastel, Quan la re Que plus m’es bon e bel Ai a me Trosqu’a l’alba. E·l jornz ve E non l’apel. Joc novel Mi tol l’alba, L’alba , Oc, l’alba.

5

10

(I. Wache gut, kleiner Burgwächter, wenn ich diejenige, die für mich die Beste und Schönste ist, bei mir habe bis zur Morgenröte. Und der Tag kommt, und ich rufe ihn nicht. Die Morgenröte raubt mir ein neues Spiel, die Morgenröte, ja, die Morgenröte.) II.

Gait’, amics, E veilha e crid’e bray, Qu’eu sui ricx E so qu’eu plus voilh ai, Mais enics Sui de l’alba E·l destrics Que·l jornz nos fai Mi desplai Plus que l’alba, L’alba , Oc, l’alba.

5

10

(II. Wache, mein Freund, und bleibe wach, und rufe und singe, denn ich bin beglückt,18 und was ich am meisten begehre, habe ich. Doch die Morgenröte verärgert mich. Und die Bedrängnis, die der Tag mit sich bringt, missfällt mir mehr noch als die Morgenröte, die Morgenröte, ja, die Morgenröte.) III.

Gaitaz vos, Gaiteta de la tor, Del gelos, Vostre malvays seynor, Envios Plus que l’alba. Que za jos Parlam d’amor, Mas paor Nos fai l’alba, L’alba , Oc, l’alba.

5

10

18

II, 3 ricx, wörtl.: ‘reich’.

292

(III. Nehmt Euch in Acht, kleiner Turmwächter, vor dem Eifersüchtigen, Eurem bösen Herrn, der noch missgünstiger ist als die Morgenröte. Zwar sprechen wir hier unten von Liebe, doch die Morgenröte flößt uns Angst ein, die Morgenröte, ja, die Morgenröte.) IV.

5

10

Domn’, adeu! Que non puis mais estar. Mal grat meu M’en coven ad anar. Mais tan greu M’es de l’alba Que tan leu La vei levar. Enganar Nos vol l’alba, L’alba , Oc, l’alba.

(IV. Dame, Adieu, denn ich kann nicht länger bleiben. Wider meinen Willen muss ich fortgehen. Doch ist mir bange vor der Morgenröte, denn so rasch sehe ich sie heraufkommen. Täuschen will uns die Morgenröte, die Morgenröte, ja, die Morgenröte.)

{A b, 9} Uc de la Bacalaria: Per grazir la bon’estrana (BdT 449, 3) (Chaguinian 2008, 235s.)

I.

5

Per grazir la bon’estrena D’amor que·m ten en capdelh E per alleujar ma pena Vuelh far alb’ab son novelh. La nuech vey clar’e serena E aug lo chan d’un auzelh En que mos mals se refrena, Don quier lo jorn e apelh. Dieus, qual enueg Mi fay la nueg, Per qu’ieu dezir l’alba.

(I. Um die gute Liebesgabe zu loben, die mich in ihrer Macht hält, und um meinen Schmerz zu lindern, möchte ich eine alba mit einer neuen Melodie verfassen. Ich sehe, dass die Nacht klar und ruhig ist, und ich höre den Vogelsang, der mein Leiden erträglicher macht, daher sehne ich den Tag herbei und rufe: Gott, welchen Kummer bereitet mir die Nacht, deshalb sehne ich die Morgenröte herbei.) II.

5

Qu’ie·us jur pels sans evangelis Que anc Andrieus de Paris, Floris, Tristans ni Amelis No foron d’amor tan fis. Depus mon cor li… elis Un pater noster non dis Ans qu’ieu disses qu’es in celis Fon a lieys mos esperis. Dieus, qual enueg Mi fay la nueg, Per qu’ieu dezir l’alba.

293

(II. Denn ich schwöre euch beim heiligen Evangelium, dass weder André de Paris noch Floire, Tristan oder Amile so aufrichtig in der Liebe waren. Seit mein Herz ihr…, habe ich kein einziges Vater Unser gesprochen, ohne dass, bevor ich der du bist im Himmel gesagt habe, meine Gedanken19 bei ihr waren. Gott, welchen Kummer bereitet mir die Nacht, deshalb sehne ich die Morgenröte herbei.) III.

En mar, en plan ni en roca, Non puesc ad amor gandir Mais non creyrai gent badoca Que·m fasson de lieys partir. Qu’ayssi·m punh al cor e·m toca E·m tolh manjar e dormir Que s’ieu er’en Antioca, Yeu volri’ab lieys morir. Dieus, qual enueg Mi fay la nueg, Per qu’ieu dezir l’alba.

5

(III. Weder auf dem Meer, noch auf dem Land oder in den Bergen kann ich der Liebe entfliehen, aber ich werde nicht den dummen Menschen glauben, die mich von ihr trennen wollen. Denn sie sticht mir ins Herz und berührt mich und raubt mir den Appetit und den Schlaf so sehr, dass, wenn ich in Antiocha wäre, ich bei ihr sterben wollte. Gott, welchen Kummer bereitet mir die Nacht, deshalb sehne ich die Morgenröte herbei.) IV.

Amors, yeu saupra genh tendre E penre ors o laupart, O per far fort castelh rendre. Mas vas vos non truep nulh art Ni no·m play ab vos contendre, Qu’ayssi quon ai major part Suy pus volpilhs al defendre E·n ay mil tans de regart. Dieus, qual enueg Mi fay la nueg, Per qu’ieu dezir l’alba.

5

(IV. Amor, ich verstünde mich darauf, Fallen aufzustellen, einen Bären oder einen Leoparden zu fangen oder eine Burg einzunehmen. Doch gegen Euch finde ich keine Kunst und es gefällt mir nicht, Euch zu bekämpfen, denn je größer mein Vorteil ist, desto feiger bin ich in der Verteidigung, und ich bin tausend Mal ängstlicher. Gott, welchen Kummer bereitet mir die Nacht, deshalb sehne ich die Morgenröte herbei.)

{A b, 10} Cadenet: S’anc fui belha ni prezada (BdT 106, 14) (Chaguinian 2008, 173ss.)

I.

– S’anc fuy belha ni prezada, Ar suy d’aut en bas tornada, Qu’az un vilan suy donada Tot per sa gran manentia; E murria

5 19

II, 8 esperis, wörtl.: ‘Geist’/‘Seele’.

294

S’ieu fin amic non avia Cuy disses mo marrimen E guaita plazen Que mi fes son d’alba. (I. War ich einst schön und geschätzt, so bin ich nun tief gefallen, denn man hat mich einem unhöfischen Mann gegeben, nur wegen seines großen Reichtums. Und ich würde sterben, hätte ich nicht einen aufrichtigen Freund, dem ich mein Unglück klagen kann, und einen freundlichen Wächter, der mir die Morgenröte ankündigt.) II.

5

– Ieu suy tan corteza guayta Que non vuelh sïa desfaita Leials amors a dreit faita, Per qu’ieu suy guarda del dia Si venria; E selh qui jay ab s’amia, Prenda·n comjat franchamen, Baizan e tenen, Qu’ieu vey venir l’alba.

(II. Ich bin ein so höfischer Wächter, dass ich nicht will, dass eine aufrichtige und rechte Liebe aufgelöst werde, deshalb bin ich der Wächter des Tages, wenn er kommen sollte. Und derjenige, der bei seiner Freundin liegt, möge aufrichtig Abschied von ihr nehmen mit Küssen und Umarmungen, denn ich sehe die Morgenröte heraufkommen.) III.

5

Be·m plai longua nuegz escura E·l temps d’ivern on plus dura E no m’en lays per freidura Qu’ieu leial guaita no sia Tota via, Per tal que segurs estia Fins drutz quan pren jauzimen De domna valen, Del ser tro en l’alba.

(III. Wohl gefallen mir die langen dunklen Nächte und die Winterzeit, in der sie länger dauern, und ich lasse davon wegen der Kälte nicht ab, andernfalls wäre ich kein stets vollkommener, aufrichtiger Wächter, dessen sich der höfische Liebende sicher wäre, wenn er die Gunst einer vorbildhaften Dame genießt vom Abend bis zur Morgenröte.) IV.

5

– S’ieu en un castelh guaitava E fals’amors hi renhava, Fals si’eu si no celava Lo jorn aitan quan poiria, Quar volria Partir falsa drudaria D’entre la corteza gen. Guait ieu lialmen E crit quan vey l’alba.

(IV. Wenn ich in einer Burg Wache hielte und dort unaufrichtige Liebe herrschte, falsch wäre ich, wenn ich nicht den Tag geheim hielte so lange wie ich könnte, denn ich würde gern falsche Liebe von höfischen Menschen fernhalten. Ich wache aufrichtig und rufe laut, wenn ich die Morgenröte sehe.)

295

V.

– Ja per guap ni per menassa Que mos mals maritz me fassa No mudaray qu’ieu non jassa Ab mon amic tro al dia, Quar seria Desconoissens vilania Qui·s partia malamen Son amic valen De si, per un’alba.

5

(V. Niemals, weder durch Schmeicheleien noch durch Bedrohungen von meinem unhöfischen Ehemann, würde ich mich ändern und aufhören, bei meinem Freund zu liegen bis zum Tag, denn das wäre eine unhöfische und unvernünftige Tat, sich grausam von einem edlen Freund zu trennen wegen einer Morgenröte.) T1

– Anc no vi jauzen Drut que·l plagues l’alba.

(T1. Ich habe niemals einen Liebenden gesehen, dem Liebesfreude zuteil wurde und dem die Morgenröte gefiel.) T2

Per so no m’es gen Ni·m plai quan vei l’alba.

(T2. Deshalb ist es mir nicht recht, und es gefällt mir nicht, wenn ich die Morgenröte sehe.)

{A b, 11} Raimon de las Salas: Dieus, aidatz (BdT 409, 2) (Chaguinian 2008, 181s.)

I.

– «Dieus aydatz, S’a vos platz, Senher cars, E dos e verays, E vulhatz Que ab patz, Lo jorns clars E bels c’ades nays Nos abratz, Car solatz E chantars E voutas e lays Ay auzitz, D’auzels petitz Pel playssaditz.» L’alb’ e·l jorns Clars e adorns Ven, Dieus aydatz! L’alba par E·l jorn vey clar De lonc la mar E l’alb’ e·l jorns par.

5

10

15

(I. «Gott, helft uns, wenn es Euch gefällt, Ihr lieber, sanftmütiger und wahrhaftiger Herr, und macht, dass uns der helle und schöne Tag, der nun heraufkommt, friedlich entflammt,

296

denn ich habe die Freude und den Gesang, das Zwitschern und das Trällern der kleinen Vögel in den Hecken vernommen.» Die Morgenröte und der helle und schöne Tag kommen. Gott, helft! Die Morgenröte erscheint, und ich sehe den hellen Tag am Meer entlang. Die Morgenröte und der Tag erscheinen.) II.

5

10

15

– «Sus levatz, Drutz c’amatz, Que sempars20 Er bels jorns e gays. E·l comjatz Sïa datz Ab dos fars E ab plazens bays. E sselatz E pujatz, Car l’estars Non es bos hueys mays, Que·ls maritz Ay vistz vestitz E ben garnitz.» L’alb’ e·l jorns Clars e adorns Ven, Dieus aydatz! L’alba par E·l jorn vey clar De lonc la mar E l’alb’ e·l jorns par.

(II. «Steht auf, Liebende, die ihr liebt, denn unvergleichlich wird der schöne strahlende Tag sein. Und ihr sollt Abschied nehmen mit lieblichen Gesten und wohltuenden Küssen. Sattelt [das Pferd] und steigt auf. Es ist nun nicht mehr gut zu verweilen, denn ich habe die Ehemänner in Kleid und Rüstung gesehen.» Die Morgenröte und der helle und schöne Tag kommen. Gott, helft! Die Morgenröte erscheint, und ich sehe den hellen Tag am Meer entlang. Die Morgenröte und der Tag erscheinen.) III.

5

10

20

– «Be velhatz E gaytatz, Gayt’; encars No·ns ve nuls esmays. Non crezatz, Per armatz, Que jogars De mon amic lays Qu’en mon bratz Jauzen jatz. Mas l’afars No·us iesca del cays;

C zeigt sempars, das Chaguinian verwirft (2008, 184/2:3) und durch semprars (‘à présent’) korrigiert. Da R die Form sem pars zeigt, ist es jedoch sinvoll mit ‘unvergleichlich’ zu übersetzen.

297

S’autr’o ditz, Faytz n’esconditz Soven plevitz.» L’alb’ e·l jorns Clars e adorns Ven, Dieus aydatz! L’alba par E·l jorn vey clar De lonc la mar E l’alb’ e·l jorns par.

15

(III. «Wacht gut und gebt acht, Wächter, noch sehe ich keine Unruhe. Glaubt nicht, dass ich wegen bewaffneter [Männer] von meinem Freund lasse, der glückerfüllt in meinen Armen liegt. Aber möge Euch das21 nicht über die Lippen kommen, und wenn ein anderer davon spricht, leugnet es wiederholt, wie versprochen.» Die Morgenröte und der helle und schöne Tag kommen. Gott, helft! Die Morgenröte erscheint, und ich sehe den hellen Tag am Meer entlang. Die Morgenröte und der Tag erscheinen.)

{A b, 12} Bertran d’Alamanon: Us cavaliers si jazia (BdT 76, 23) (Chaguinian 2008, 189ss.)

I.

Us cavaliers si jazia Ab la re que plus volia, Soven baizan li dizia: «Doussa res, ieu que ferai? Que·l jorn ve e la nueyt vai. Ay, Qu’ieu aug que li gaita cria: ‘Via! Sus! qu’ieu vey lo jorn venir Apres l’alba.’

(I. Ein Ritter lag mit der zusammen, die er am meisten begehrte, er küsste sie oft und sprach zu ihr: «Liebe Freundin, was soll ich tun? Denn der Tag kommt und die Nacht geht. Ach, ich höre, dass der Wächter ruft: ‹Fort! Steht auf! Denn ich sehe den Tag heraufkommen nach der Morgenröte.›) II.

Doussa res, s’esser podia Que jamais alba ni dia No fos, grans merces seria, Al meyns al luec on estai Fis amicx ab so que·l plai. Ay, Qu’ieu aug que li gaita cria: ‘Via! Sus! qu’ieu vey lo jorn venir Apres l’alba.’»

(II. Liebe Freundin, wenn es doch möglich wäre, dass niemals die Morgenröte und der Tag erschienen, das wäre eine große Gunst, zumindest doch an dem Ort, wo sich ein höfischer

21

III, 11 l’afars, wörtl.: ‘die Angelegenheit’.

298

Freund mit derjenigen befindet, die ihm gefällt. Ach, ich höre, dass der Wächter ruft: ‹Fort! Steht auf! Denn ich sehe den Tag heraufkommen nach der Morgenröte.›) III.

Doussa res, que qu’om vos dia, No cre que tals dolors sia Cum qui part amic d’amia, Qu’ieu per me mezeys o sai. Ailas, quan pauca nueyt fai! Ay, Qu’ieu aug que li gaita cria: ‘Via! Sus! qu’ieu vey lo jorn venir Apres l’alba.’

(III. Liebe Freundin, was man Euch auch immer sagen mag, kein anderer Schmerz gleicht dem, der Freund von seiner Freundin trennt, dies weiß ich nämlich selbst. Oh weh, wie kurz ist die Nacht! Ach, ich höre, dass der Wächter ruft: ‹Fort! Steht auf! Denn ich sehe den Tag heraufkommen nach der Morgenröte.›) IV.

Doussa res, ieu tenc ma via; Vostres suy, on que ieu sia. Per Dieu, no·m oblidetz mia, Que·l cor del cors reman sai Ni de vos mais no·m partrai. Ay, Qu’ieu aug que li gaita cria: ‘Via! Sus! qu’ieu vey lo jorn venir Apres l’alba.’

(IV. Liebe Freundin, ich gehe fort. Ich gehöre Euch, wo auch immer ich bin. Bei Gott, vergesst mich nicht, denn mein Innerstes22 bleibt hier und niemals werde ich mich von Euch trennen. Ach, ich höre, dass der Wächter ruft: ‹Fort! Steht auf! Denn ich sehe den Tag heraufkommen nach der Morgenröte.›) V.

Doussa res, s’ieu no·us vezia, Breumens crezatz que morria, Que·l gran dezirs m’auciria, Per qu’ieu tost retornarai, Que ses vos vida non ai.» Ay, Qu’ieu aug que li gaita cria: ‘Via! Sus! qu’ieu vey lo jorn venir Apres l’alba .’»

(V. Liebe Freundin, wenn ich Euch nicht sehen könnte, glaubt mir, so würde ich in kurzer Zeit sterben, denn das große Verlangen würde mich töten, deshalb werde ich schnell zurückkehren, denn ohne Euch gibt es für mich kein Leben. Ach, ich höre, dass der Wächter ruft: ‹Fort! Steht auf! Denn ich sehe den Tag heraufkommen nach der Morgenröte.›»)

22

IV, 4 cor del cors, wörtl.: ‘das Herz meines Leibes’.

299

{A b, 13} Guiraut Riquier: Ab plazen (BdT 283, 3) (Chaguinian 2008, 243s.) I.

Ab plazen Pessamen Amoros, Ai cozen Mi talen Cossiros, Tant que·l ser no puesc durmir, Ans torney e vuelf e vir E dezir Vezer l’alba.

5

(I. Zu einem angenehmen Liebesgedanken gesellt sich ein schmerzvolles und unangenehmes qualvolles Nachdenken, sodass ich nicht schlafen kann am Abend,23 sondern mich drehe, umdrehe und wende, und ich wünsche, die Morgenröte zu sehen.) II.

Per trebalh Que m’assalh Ser e jorn, Joys me falh, Don nualh Ab cor morn. E·l ser dobla·m mo martir, Qu’en elh tenc tot mon albir E dezir Vezer l’alba.

5

(II. Wegen des Leides, das mich heimsucht, am Tag und am Abend, mangelt es mir an Freude, wovon ich krank 24 werde mit einem betrübten Herzen. Und der Abend verdoppelt meine Qual, denn ihr widme ich alle meine Gedanken, und ich wünsche, die Morgenröte zu sehen.) III.

Mals sabers Es loncs sers Per velhar Ses plazers, E jasers Ses pauzar E ben amars ses jauzir, Per quel ser velhan sospir E dezir Vezer l’alba.

5

(III. Unerfreulich ist der lange Abend, da man ohne Freuden wacht und liegt, ohne sich zu erholen, und aufrichtig liebt ohne Liebesfreude. Deshalb wache ich am Abend und seufze, und ich wünsche, die Morgenröte zu sehen.)

23 24

Chaguinian (2008, 245/1:7) übersetzt ser (I, 7) mit ‘nuit’. Chaguinian (2008, 245) übersetzt nualh (II, 5) mit ‘je suis affligé’, Gouiran (2005, 65) mit ‘j’en reste malade’. Zwar führt Levy (PetDic) unter nualhar (263b) nicht die Bedeutung ‘devenir malade’ auf, gibt jedoch für nualha (263b) ‘maladie’ an. Im LexRom 345a findet man für nuaillar/nualhar ‘fainéanter, faire l’indolent, décourager’.

300

IV.

5

A mon dan, Per semblan, Fa gran nueg, Quar afan N’ay trop gran E enueg, Quar leys, qu’ieu am, non remir, Ans pes, co m’en puesc’aizir E dezir Vezer l’alba.

(IV. Zu meinem Unglück, so scheint mir, ist die Nacht so lang, denn ich trage großen Kummer und Sorge davon, da ich diejenige, die ich liebe, nicht anschauen kann. Doch ich denke daran, wie ich Liebesfreuden mit ihr genießen könnte, und ich wünsche, die Morgenröte zu sehen.)

{A b, 14} Guiraut Riquier: Ad un fin aman fon datz (BdT 248, 4) (Gouiran 2005, Nr. 20)

I.

Ad un fin aman fon datz per sidons respiegz d’amor e·l sazos e·l luecx mandatz. E·l jorn que·l ser dec l’onor penre, anava pessius e dizia sospiran: «Jorns, ben creyssetz a mon dan, e·l sers auci·m e sos loncx espers».

(I. Einem vollendeten Liebenden wurde von seiner Dame ein Liebestreffen gewährt, und die Zeit und der Ort wurden festgelegt. Und an dem Tag, an dessen Abend ihm die Ehre zuteilwerden sollte, ging er gedankenverloren umher und er sprach seufzend: «Tag, Ihr zieht Euch zu meinem Unglück in die Länge, und der Abend tötet mich mit dem langen Warten.») II.

Tant era l’amans cochatz de la deziran ardor del joy que l’er’autreyatz, qu’elh se dava gran temor qu’al ser non atendes vius, e dizia sospiran: «Jorns, ben creyssetz a mon dan, e·l sers auci·m e sos loncx espers».

(II. Der Liebende war so begierig vor sehnsuchtsvollem Glühen nach der Liebesfreude, die ihm bewilligt war, dass er große Furcht davor hatte, dass er den Abend nicht lebend erwarten könnte, und er sprach seufzend: «Tag, Ihr zieht Euch zu meinem Unglück in die Länge, und der Abend tötet mich mit dem langen Warten.») III.

Nulhs hom non era de latz a l’aman que sa dolor no conogues, tant torbatz era ab semblan de plor,

301

tant li era·l jorns esquius, e dizia sospiran: «Jorns, ben creyssetz a mon dan, e·l sers auci·m e sos loncx espers». (III. Niemand konnte bei dem Liebenden sein, ohne seinen Schmerz zu erkennen, so verwirrt war er, und es schien, als ob er weinte, so sehr war ihm der Tag zuwider. Und er sprach seufzend: «Tag, Ihr zieht Euch zu meinem Unglück in die Länge, und der Abend tötet mich mit dem langen Warten.») IV.

Mout es greus turmenz astratz a selh qu’ab nulh valedor no·s pot valer; donc gardatz d’est aman en qual langor era·l jorn d’afan aizius, e dizia sospiran: «Jorns, ben creyssetz a mon dan, e·l sers auci·m e sos loncx espers».

(IV. Sehr qualvoll ist die Pein des Schicksals für denjenigen, der sich auf keine Unterstützung verlassen kann; seht doch, in welcher Wehmut dieser Liebende war an dem Tag voller Schmerz. Und er sprach seufzend: «Tag, Ihr zieht Euch zu meinem Unglück in die Länge, und der Abend tötet mich mit dem langen Warten.»)

c) altfranzösisch {A c, 1} Anonym: Est il jors? – Nenil ancores

(Bec 1978, Nr. 20)

Est il jors? – Nenil ancores; Vos lou hasteis trop: Bien m’avroit navreit a mort Ke si tost l’amoinroit ores. Je ne m’an vuel mie aleir, Car m’amiete m’acolle. Faixons mesdixans crever, E gixons un poc ancores: Deus! keil parleir d’amour fait ores!

5

(Ist’s schon Tag? – Nein, noch nicht. Ihr habt es zu eilig:25 Der verletzte mich tödlich, der ihn jetzt schon so schnell herbeibrächte. Ich will überhaupt nicht fortgehen, denn meine kleine Freundin umarmt mich. Sollen doch die Verleumder umkommen, bleiben wir doch noch ein wenig liegen: Ach, Gott, möge er nun Liebesworte flüstern! 26)

25 26

V. 2 vos lou hasteis trop, wörtl.: «ihr führt ihn zu rasch heran». V. 9 Deus! keil parleir d’amour fait ores, wörtl.: «Ach Gott, dass er jetzt von Liebe spräche».

302

{A c, 2} Anonym: L’a[u]be c’apiert ai jor

5

10

(Bec 1978, Nr. 21)

L’a[u]be c’apiert ai jor, Ki la nuit depairt, Mi fait soffrir grant dollor, Can cilz de moi se depairt Cui je tant amaixe. Pleüst ore a saint Jaike Ke nuns ne nos puist veoir ne reprandre Et la nuit durast trante, S’avroit chascuns son desir! Ne puet estre ke partir Vos conviene, amins, de moi; Et sachiés en bone foi, Ke malz nos fait, Dex li dont pix, Ki moi et vous depairt, dous amins!

(Die Morgenröte, die am Tag aufgeht, der sich von der Nacht trennt, bereitet mir großen Schmerz, wenn der von mir scheidet, den ich so sehr liebe. Gefiele es doch dem heiligen Jakob, dass niemand uns sehen noch tadeln könnte und die Nacht dreißig Nächte dauerte, dann hätte jeder seine Erfüllung! Es kann nicht sein, dass es Euch angenehm ist, von mir zu scheiden, mein Freund. Und Ihr sollt bei meiner Treu’ wissen, dass derjenige uns Böses antut – Gott möge es ihm zurückzahlen27 –, der uns voneinander trennt, süßer Freund.)

{A c, 3} Anonym: Entre moi et mon amin I.

5

(Bec 1978, Nr. 22)

Entre moi et mon amin, En un boix k’est leis Betune, Alainmes juwant mairdi Toute la nuit a la lune, Tant k’il ajornait Et ke l’alowe chantait Ke dit: «Amins, alons an», Et il respont doucement: «Il n’est mie jours, Saverouze au cors gent, Si m’aït amors, L’alowette nos mant.»

(I. Ich und mein Freund gingen am Dienstag in einen Wald, in der Nähe von Béthune, um uns miteinander zu vergnügen, die ganze Nacht im Mondenschein, bis es tagte und die Lerche sang und sagte: «Freunde, gehen wir fort», und er erwidert sanft: «Es ist noch gar nicht Tag, du Liebliche mit dem schönen Leib, die Liebe stehe mir bei, die Lerche belügt uns».) II.

5

27

Adont ce trait pres de mi, Et je ne fu pas anfru(i)ne; Bien trois fois me baixait il, Ainsi fix je lui plus d’une, K’ainz ne m’anoiait. Adonc vocexiens nous lai

V. 13 Dex li dont pix, wörtl.: «Gott möge ihm Schlimmeres geben».

303

Ke celle nuit durest sant, Mais ke plus n’alest dixant: «Il n’est mie jours, Saverouze au cors gent, Si m’aït amors, L’alowette nos mant.» (II. Da kam er ganz nah zu mir, und ich war keineswegs abgeneigt. Wohl dreimal küsste er mich und auch ich ihn mehr als einmal, bevor ich gesättigt war. Da hätten wir gewünscht, dass diese Nacht hundertfach dauerte und er nicht mehr sagen müsste: «Es ist noch gar nicht Tag, du Liebliche mit dem schönen Leib, die Liebe stehe mir bei, die Lerche belügt uns».)

{A c, 4} Anonym: Gaite de la tor I.

(Bec 1978, Nr. 24)

Gaite de la tor, Gardez entor Les murs, se Deus vos voie! C’or sont a sejor Dame et seignor, Et larron vont en proie. Hu et hu et hu et hu! Je l’ai veü La jus soz la coudroie. Hu et hu et hu et hu! A bien pres l’ocir(r)oie.

5

(I. Turmwächter, wacht bei den Mauern, möge Gott Euch beschützen! Denn jetzt ruhen beieinander Dame und Herr, und die Diebe gehen auf Beute aus. Tut und tut und tut und tut! Ich habe ihn gesehen dort unten, unter dem Haselstrauch. Tut und tut und tut und tut! Beinahe hätte ich ihn getötet.) II.

D’un douz lai d’amor De Blancheflor, Compains, vos chanteroie, Ne fust la poor Del traïtor Cui je redot(t)eroie. Hu et hu [et hu et hu! Je l’ai veü La jus soz la coudroie. Hu et hu et hu et hu! A bien pres l’ocir(r)oie.]

5

(II. Von einem süßen Liebeslied über Blancheflor, Gefährte, sänge ich Euch, wäre da nicht die Angst vor dem Verräter, den ich dann fürchten müsste. Tut und tut und tut und tut! Ich habe ihn gesehen dort unten, unter dem Haselstrauch. Tut und tut und tut und tut! Beinahe hätte ich ihn getötet.) III.

Compainz, en error Sui, k’a cest tor Volontiers dormiroie. N’aiez pas paor: Voist a loisor

5

304

Qui aler vuet par voie. Hu et hu et hu et hu! Or soit teü, Compainz, a ceste voie. Hu et hu! bien ai seü Que nous en avrons joie. (III. Gefährte, in Sorge bin ich, denn in diesem Turm schliefe ich gern. Habt keine Angst: Möge nach Belieben gehen, der seines Weges gehen will. Tut und tut und tut und tut! Nun soll geschwiegen werden, Gefährte, an diesem Weg. Tut und tut! Wohl habe ich erfahren, dass wir uns daran erfreuen werden.) IV.

5

Ne sont pas plusor Li robeor, N’i a c’un que je voie, Qui gist en la flor Soz covertor, Cui nomer n’oseroie. Hu [et hu et hu et hu! Or soit teü, Compainz, a ceste voie. Hu et hu! bien ai seü Que nous en avrons joie.]

(IV. Sie sind nicht zahlreich, die Räuber, nur einen gibt es, den ich sehe, der in den Blumen liegt unter einer Decke, und den zu nennen ich nicht wagte. Tut und tut und tut und tut! Nun soll geschwiegen werden, Gefährte, an diesem Weg. Tut und tut! Wohl habe ich erfahren, dass wir uns daran erfreuen werden.) V.

5

Cortois ameor, Qui a sejor Gisez en chambre coie, N’aiez pas freor, Que tresq’a jor Poëz demener joie. Hu [et hu et hu et hu! Or soit teü, Compainz, a ceste voie. Hu et hu! bien ai seü Que nous en avrons joie.]

(V. Höfischer Liebender, der Ihr zur Erholung in der stillen Kammer liegt, zweifelt nicht daran, dass Euch bis zum Tag Freude zuteilwird. Tut und tut und tut und tut! Nun soll geschwiegen werden, Gefährte, an diesem Weg. Tut und tut! Wohl habe ich erfahren, dass wir uns daran erfreuen werden.) VI.

5

Gaite de la tor, Vez mon retor De la ou vos ooie. D’amie et d’amor A cestui tor Ai ce(u) que plus amoie. Hu et hu et hu et hu!

305

Pou ai geü En la chambre de joie. Hu et hu! trop m’a neü L’aube qui me guerroie. (VI. Turmwächter, sieh, ich komme zurück von dort, wo ich Euch hörte, von der Freundin und der Liebe habe ich dieses Mal das erhalten, was ich am meisten liebte. Tut und tut und tut und tut! Kurz nur habe ich gelegen in der Freudenkammer. Tut und tut! Zu sehr hat mir die Morgenröte geschadet, die mich bekriegt.) VII.

Se salve l’onor Au Criator Estoit, tot tens voudroie Nuit feïst del jor; Jamais dolor Ne pesance n’avroie. Hu et hu et hu et hu! Bien ai veü De biauté la monjoie. Hu et hu! c’est bien seü, Gaite, a Dieu tote voie!

5

(VII. Wäre die Ehre des Schöpfers unversehrt, dann wünschte ich, er würde jederzeit Nacht aus dem Tag machen; niemals würde ich dabei Schmerz oder Kummer empfinden. Tut und tut und tut und tut! Wohl habe ich die Überfülle der Schönheit gesehen. Tut und tut! Wohl ist es bekannt, Wächter, Gott befohlen sei der ganze Weg!)

{A c, 5} Anonym: Li jorz m’a trové, hé!

(Gennrich 1921, I, Nr. 112)

Li jorz m’a trové, hé! és jolis braz m’amie; il s’i fait bon entr’oblier. Il n’i ot parlé, hé! [nul] mot de vilenie – Li jorz m’a trové, [hé! és jolis braz m’amie.] – fors de bien amer, hé! de [bonne] cortoisie et de baisier et d’acoler. Li jorz m’a trové, hé! és jolis braz m’amie; [il s’i fait bon entr’oblier.]

5

10

(Der Tag hat mich gefunden, ach, in den schönen Armen meiner Freundin. So ist es angenehm, sich zu zweit zu vergessen. Er hat, ach, kein unhöfisches Wort gesprochen – Der Tag hat mich gefunden, ach, in den schönen Armen meiner Freundin –, nur von der guten Liebe hat er gesprochen, ach, und von der Höfischkeit und Küssen und Umarmungen. Der Tag hat mich gefunden, ach, in den schönen Armen meiner Freundin; so ist es angenehm, sich zu zweit zu vergessen.)

306

{A c, 6} Anonym: Un petit devant le jor I.

5

10

15

(Spanke 1925, Nr. XIX)

Un petit devant le jor Me levai l’autrier, Sospris de novele amor Qui me fait vellier. Pour oublïer ma dolor Et pour alegier M’en alai cueillir la flor De joste un vergier. La dedenz en un destor Oï un chevalier, Desor lui en haute tor Dame qui mult l’ot chier; Ele ot fresche la color Et chantoit par grant douçor Un douz chant piteus mellé en plor, Et dist conme loiax drue: «Amis, vos m’avés perdue, li jalos m’a mis en mue.»

(I. Ein wenig vor dem Tagesanbruch stand ich neulich auf, ergriffen von neuer Liebe, die mich wachen ließ. Um meinen Schmerz zu vergessen und mich zu beruhigen, ging ich hin Blumen zu pflücken in einem nahen Garten. Dort an einer abgelegenen Stelle hörte ich einen Ritter. Oben auf einem hohen Turm war eine Dame, die ihn sehr gern hatte. Sie hatte eine frische Farbe und sang sehr lieblich unter Tränen ein süßes rührendes Lied und sprach als treue Geliebte: «Freund, Ihr habt mich verloren: Der Eifersüchtige hat mich im Kerker28 eingesperrt».) II.

5

10

15

Quant li chevaliers entent La dame au vis cler, De la grant dolour qu’il sent Conmence a plorer Et a dit en souspirant: «Mar vi enserrer, Dame, vostre cors le gent Que tant doi amer. Or me couvient chierement Les grans biens conperer, Que volentiers et souvent Me solïez doner. Las, or me vait malement! Trop a ci aspre torment, Et se ce nous dure longuement, Sire dex, que devenrons nos? Ja ne puis je durer sanz vos, et sanz moi conment durez vos?»

(II. Als der Ritter die Dame mit dem hellen Antlitz vernimmt, beginnt er vor großem Schmerz, den er fühlt, zu weinen. Und er sagte seufzend: «Zu meinem Unheil, Dame, sah

28

I, 18 mue: ‘prison’ (Spanke 1925, 362).

307

ich, wie Ihr, Edle, eingesperrt wurdet, die ich doch nur lieben kann.29 Nun muss ich wohl die große Güte liebevoll zurückzahlen, die Ihr mir gern und oft zu schenken pflegtet. Welch Unglück, allzu grausam ist meine Qual. Und wenn das für uns lange so andauert, Herr Gott, was wird aus uns? Niemals kann ich ohne Euch leben: Und wie wollt Ihr ohne mich leben?») III.

5

10

15

Dist la dame: «Biax amis, Amors me soustient. Assez est plus mors que vis Qui dolor maintient. Lez moi gist mes anemis, Fere le couvient. Ne je n’ai joie ne ris, Se de vous ne vient; Mon cuer ai si en vous mis, Tout ades m’en souvient; Se li cors vous est eschis, Li cuers a vous se tient. Si faitement l’ai empris, Et de çou soiiés tous fis Que sans repentir serai touz dis Vostre loials amie: Puor ce, se je ne vous voi, ne vous oubli je mie.»

(III. Die Dame sprach: «Schöner Freund, die Liebe gibt mir Halt. Doch ist derjenige dem Tode nahe,30 der den Schmerz erträgt. Neben mir liegt mein Feind: Ich muss es tun, doch bringt mir das weder Freude noch Vergnügen, wenn es nicht von Euch kommt. Ich habe mein Herz so sehr Euch geschenkt, alles erinnert mich stets an Euch. Wenn der Körper Euch fern ist,31 hält das Herz an Euch fest, so sehr habe ich es entflammt. Seid Euch daher völlig sicher, dass ich ohne Bedauern immer Eure treue Freundin bleiben werde. Deshalb vergesse ich Euch, auch wenn ich Euch nicht sehe, niemals.») IV.

«Dame, gel sai tout de voir, Bien l’ai esprouvé, Que vous ne porriez avoir Cuer de fausseté. Mes ce me fait mult doloir, Que j’ai tant esté Sire de si grant voloir: Or ai tout passé. Dex m’a mis en nonchaloir Et du tout oblïé, Je ne pëusse cheoir En greigneur povreté. Mais je sui en bon espoir

5

10

29 30 31

Baumgartner/Ferrand (1983, 161) übersetzen Que tant doi amer mit «que j’aimerai jamais assez». III, 3 asses est plus mors ke vis, wörtl.: ‘vielmehr ist der mehr tot als lebendig’. Baumgartner/Ferrand (1983, 163) übersetzen Se li cors vous est eschis mit «Si le corps vous est interdit».

308

15

Qui bien mi porra valoir, Et diex le me doint encore avoir; S’est droiz que gel die: Se deu plest, li jalos morra, si ravrai m’amie.»

(IV. «Dame, ich weiß es sehr wohl und habe recht erkannt, dass Ihr kein falsches Herz haben könntet. Aber es bereitet mir großes Leid, dass ich so lange im Besitz eines so großen Schatzes32 war und nun alles verloren habe. Gott kümmert sich nicht mehr um mich und hat mich ganz vergessen: In schlimmere Armseligkeit könnte ich nicht fallen. Doch habe ich wohl noch Hoffnung, dass sie mich noch entlohnen kann und Gott sie mir zum Geschenk macht. Zurecht sage ich ihr: Wenn es Gott gefällt, wird der Eifersüchtige sterben, so werde ich meine Freundin zurückbekommen.») V.

5

10

15

«Amis se vous desirés La mort au jalous, Si fais jou, – si m’aït dés! – Cent tans plus de vous; K’il est vieus et rassotés Et glous conme lous, Lais et maigres et pelés Et si a le tous; Males teches a asés, Li desloiaus, li rous. Toute sa graindre bontés Est de çou qu’il est cous. Amis, mar fu mes cors nés, Quant pour vous est enserés, Et autres en a ses volentés. Droiz est que me plaigne: Coment garira dame senz ami cui amors mehaigne?

(V. «Freund, so wie Ihr dem Eifersüchtigen den Tod wünscht, tue ich es auch – Gott möge mir helfen! – und zwar hundert Mal mehr als Ihr. Er ist alt und kindisch und gefräßig wie ein Wolf, er ist häßlich, mager und kahl, und dazu hüstelt er noch. Er hat genug hässliche Fehler,33 der Unhöfische, der Schwächling. Alle seine größten Vorzüge bestehen darin, dass er ein gehörnter Ehemann ist. Geliebter, vergeblich wurde ich geboren, wenn ich für Euch eingesperrt bleibe34 und ein anderer an mir sein Verlangen stillt. Zurecht klage ich darüber: Wie wird die Dame, die von der Liebe geplagt wird, ohne Freund gesund?) VI.

5

32 33 34

Douz amis, vos en irez, Car je voi le jor; Des ore mais n’i pöez Fere lonc sejor. Vostre fin cuer me lerez

IV, 6s. Que j’ai tant esté/Sire de si grant voloir: cf. dazu die Übersetzung von Baumgartner/Ferrand (1983, 163): «après avoir si longtemps possédé un tel trésor». Spanke (1925, 362) schlägt für teches ‘Flecken’ vor. Baumgartner/Ferrand (1983, 165) fassen pour kausal auf und übersetzen V, 14 Quant pour vous est enserés mit «A cause de vous, je suis enfermée».

309

Et n’aiés pöor, Que vous avez et avrez La plus fine amor. Des ke vos ne me pöez 10 Geter de ceste tor, Plus souvent la regardez De vos ieus par douçor.» Lors s’en part cil toz irés Et dist: «Las, tant mar fui nés, 15 Quant mes cuers est ci sans moi remés. Dolans m’en part; A deu conmant je mes amors, qui les me gart.» (VI. Schöner Freund, Ihr müsst fortgehen, denn ich sehe den Tag. Von jetzt an könnt Ihr hier nicht mehr lang bleiben. Euer höfisches Herz lasst mir da und habt keine Angst, denn Ihr habt und werdet immer aufrichtigste Liebe genießen. Da Ihr mich nicht befreien könnt aus diesem Turm, betrachtet sie [die Liebe] immer wieder ganz sanft mit Euren Augen». Da geht jener sehr erzürnt35 dahin und sagt: «Welch Unglück, an einem Unglückstag wurde ich geboren, da mein Herz hier ohne mich zurückbleibt. Betrübt gehe ich fort: Gott befehle ich meine Liebe an, möge er sie für mich bewachen.»)

{A c, 7} Gace Brulé: Cant voi l’aube dou jor venir I.

(Bec 1978, Nr. 23)

Cant voi l’aube dou jor venir, Nulle rien ne doi tant haïr, K’elle fait de moi departir Mon amin cui j’ain per amors. Or ne hais rien tant com le jour, Amins, ke me depairt de vos.

5

(I. Wenn ich die Morgenröte36 heraufkommen sehe, ist mir nichts anderes so sehr verhasst wie sie, denn sie lässt meinen Freund von mir scheiden, den ich innig liebe. Daher hasse ich nichts so sehr wie den Tag, mein Freund, der mich von Euch trennt.) II.

Je ne vos puis de jor veoir, Car trop redout l’apercevoir, Et se vos di trestout por voir K’en agait sont li envious. Or ne hais rien tant com le jour, Amins, ke me depairt de vos.

5

(II. Am Tage kann ich Euch nicht sehen, denn zu sehr fürchte ich, dass andere es bemerken, und so sage ich Euch führwahr, dass die Neider auf der Lauer liegen. Daher hasse ich nichts so sehr wie den Tag, mein Freund, der mich von Euch trennt.) III.

35 36

Quant je me gix dedens mon lit Et je resgairde encoste mi,

Baumgartner/Ferrand (1983, 167) übersetzen VI, 13 irés mit «dans sa douleur». I, 1 l’aube dou jor, wörtl.: ‘die Morgenröte des Tages’, d. h. die Morgenröte, die dem Tag vorangeht.

310

5

Je n’i truis poent de mon amin, Se m’en plaing a fins amerous. Or ne hais rien tant com le jour, Amins, ke me depairt de vos.

(III. Wenn ich mich in mein Bett lege und neben mich schaue, finde ich meinen Freund nimmermehr, und so klage ich vor den wahrhaft Liebenden. Daher hasse ich nichts so sehr wie den Tag, mein Freund, der mich von Euch trennt.) IV.

5

Biaus dous amis, vos en ireis: A Deu soit vos cors comandeis. Por Deu vos pri, ne m’oblieis: Je n’ain nulle rien tant com vos. Or ne hais rien tant com le jour, Amins, ke me depairt de vos.

(IV. Schöner süßer Freund, Ihr müßt jetzt fortgehen: Gott sei Euer Leib anbefohlen. Bei Gott bitte ich Euch, vergesst mich nicht: Ich liebe nichts so innig wie Euch. Daher hasse ich nichts so sehr wie den Tag, mein Freund, der mich von Euch trennt.) V.

5

Or pri a tous les vrais amans Ceste chanson voixent chantant Ens en despit des medixans Et des mavais maris jalous. Or ne hais rien tant com le jour, Amins, ke me depairt de vos.

(V. Nun bitte ich alle, die aufrichtig lieben, dass sie dieses Lied singen mögen den Verleumdern und den schlechten eifersüchtigen Ehemännern zum Trotz. Daher hasse ich nichts so sehr wie den Tag, mein Freund, der mich von Euch trennt.)

d) galego-portugiesisch {A d, 1} Pero Meogo: Levóus’ louçana, levóus’ a velida (Brea 21999, II, Nr. 134, 5)

I.

Levóus’ a louçana, levóus’ a velida, Vai lavar cabelos na fontana fría, leda dos amores, dos amores leda.

(I. Sie stand bei Tagesanbruch auf, die Schöne stand auf und geht ihre Haare waschen im kühlen Brunnen, glückerfüllt vor Liebe, vor Liebe glückerfüllt.) II.

Levóus’ a velida, levóus a louçana, vai lavar cabelos na fría fontana, leda dos amores, dos amores leda.

(II. Sie stand bei Tagesanbruch auf, die Hübsche stand auf und geht ihre Haare waschen im kühlen Brunnen, glückerfüllt vor Liebe, vor Liebe glückerfüllt.) III.

Vai lavar cabelos na fontana fría, passou seu amigo que lhi ben quería, leda dos amores, dos amores leda.

311

(III. Sie geht ihre Haare waschen im kühlen Brunnen. Ihr Freund kam vorbei, der sie sehr lieb hatte, glückerfüllt vor Liebe, vor Liebe glückerfüllt.) IV.

Vai lavar cabelos na fría fontana, passa seu amigo que muit’ a amava, leda dos amores, dos amores leda.

(IV. Sie geht ihre Haare waschen im kühlen Brunnen. Ihr Freund kommt vorbei, der sie sehr liebte, glückerfüllt vor Liebe, vor Liebe glückerfüllt.) V.

Passa seu amigo que lhi ben quería, o cervo do monte a augua volvía, leda dos amores, dos amores leda.

(V. Ihr Freund kommt vorbei, der sie sehr lieb hatte. Das Wasser trübte37 der Berghirsch, glückerfüllt vor Liebe, vor Liebe glückerfüllt.) VI.

Passa seu amigo que a muito amava o cervo do monte volvía a augua, leda dos amores, dos amores leda.

(VI. Ihr Freund kommt vorbei, der sie sehr liebte. Der Berghirsch trübte das Wasser, glückerfüllt vor Liebe, vor Liebe glückerfüllt.)

{A d, 2} Dom Denis: De que morredes, filha, a do corpo velido? (Brea 21999, I, Nr. 25, 31)

I.

De que morredes, filha, a do corpo velido? Madre, moiro d’ amores que mi deu meu amigo. Alva é, vai liero.38

(I. Woran sterbt ihr, meine schöne Tochter? Mutter, ich sterbe aus Liebe zu meinem Freund. Es tagt, geh rasch fort.39) II.

De que morredes, filha, a do corpo louçano? Madre, moiro d’ amores que mi deu meu amado. Alva é, vai liero.

(II. Woran sterbt ihr, meine hübsche Tochter? Mutter, ich sterbe aus Liebe zu meinem Geliebten. Es tagt, geh rasch fort.) III.

37 38 39

Madre, moiro d’ amores que mi deu meu amigo, quando vej’ esta cinta que por seu amor cingo; Alva é, vai liero.

V, 2/VI, 2: volver a augua: «toldar out urbar a iauga» (Pero Meogo, 238). Wir folgen an dieser Stelle der Deutung von Cohen (2003, 600). Da es sich bei liero [Hs. B lieto] um ein Hapaxlegomenon handelt, ist die Bedeutung des Refrainverses umstritten. Diez interpretiert liero als Variante von ligeiro mit Verlust des intervokalischen g (cf. Cohen 2003, 600/Anm. 1). Mölk (1989, 251) sieht darin einen lautmalenden Refrain realisiert, während Brea (2000, 198) die folgende Deutung vorschlägt: «Es tagt, und (er) geh(t) leicht».

312

(III. Mutter, ich sterbe aus Liebe zu meinem Freund, wenn ich diesen Gürtel sehe, mit dem ich mich um seiner Liebe willen gürte. Es tagt, geh rasch fort.) IV.

Madre, moiro d’ amores que mi deu meu amado, quando vej’ esta cinta que por seu amor trago. Alva é, vai liero.

(IV. Mutter, ich sterbe aus Liebe zu meinem Geliebten, wenn ich diesen Gürtel sehe, den ich um seiner Liebe willen trage. Es tagt, geh rasch fort.) V.

Quando vej’ esta cinta que por seu amor cingo, e me nembra, fremosa, como falou commigo. Alva é, vai liero.

(V. Wenn ich diesen Gürtel sehe, mit dem ich mich um seiner Liebe willen gürte, und ich, Schöne, mich daran erinnere, wie er mit mir sprach. Es tagt, geh rasch fort.) VI.

Quando vej’ esta cinta que por seu amor trago, e me nembra, fremosa, como falámos ambos. Alva é, vai liero.

(VI. Wenn ich diesen Gürtel sehe, den ich um seiner Liebe willen trage, und ich, Schöne, mich daran erinnere, wie wir miteinander sprachen. Es tagt, geh rasch fort.)

{A d, 3} Dom Denis: Levantou-s’ a velida (Brea 21999, I, Nr. 25, 43) I.

Levantou-s’ a velida, levantou-s’ alva , e vai lavar camisas e-no alto. Vai-las lavar alva .

(I. Die Schöne stand auf, sie stand bei Tagesanbruch auf und geht Hemden waschen am Fluss. Sie geht sie bei Tagesanbruch waschen.) II.

Levantou-s’ a louçana, levantou-s’ alva , e vai lavar delgadas e-no alto. Vai-las lavar alva.

(II. Die Hübsche stand auf, sie stand bei Tagesanbruch auf und geht Blusen waschen am Fluss. Sie geht sie bei Tagesanbruch waschen.) III.

[E] vai lavar camisas, levantou-s’ alva ; o vento lh’ as desvia e-no alto. Vai-las lavar alva

(III. Und sie geht Hemden waschen, sie stand bei Tagesanbruch auf. Der Wind wehte sie fort am Fluss. Sie geht sie bei Tagesanbruch waschen.)

313

IV.

E vai lavar delgadas, levantou-s’ alva ; o vento lh’ as levava e-no alto. Vai-las lavar alva.

(IV. Und sie geht Blusen waschen, sie stand bei Tagesanbruch auf. Der Wind trug sie davon am Fluss. Sie geht sie bei Tagesanbruch waschen.) V.

O vento lh’ as desvia, levantou-s’ alva; meteu-s’ alva em ira e-no alto. Vai-las lavar alva.

(V. Der Wind wehte sie fort, sie stand bei Tagesanbruch auf. Das junge Mädchen40 wurde wütend am Fluss. Sie geht sie bei Tagesanbruch waschen.) VI.

O vento lh’ as levava, levantou-s’ alva; meteu-s’ alva em sanha e-no alto. Vai-las lavar alva.

(VI. Der Wind trug sie davon, sie stand bei Tagesanbruch auf. Das junge Mädchen wurde zornig am Fluss. Sie geht sie bei Tagesanbruch waschen.)

{A d, 4} Nuno Fernandez Torneol: Levad’, amigo que dormides as manhãas frias (Brea 21999, II, Nr. 106, 11) I.

Levad’, amigo que dormides as manhãas frias; todalas aves do mundo d’ amor dizian: leda m’ and’ eu.

(I. Erhebt Euch, Freund, der Ihr am kühlen Morgen schlaft. Alle Vögel der Welt sprachen von Liebe: Froh gehe ich dahin.) II.

Levad’, amigo que dormide’-las frias manhãas; todalas aves do mundo d’ amor cantavan: leda m’ and’ eu.

(II. Erhebt Euch, Freund, der Ihr am kühlen Morgen schlaft. Alle Vögel der Welt sangen von Liebe: Froh gehe ich dahin.) III.

Toda-las aves do mundo d’ amor diziam; do meu amor e do voss’ en ment’ avian: leda m’ and’ eu.

(III. Alle Vögel der Welt sprachen von Liebe, meine und Eure Liebe hatten sie im Sinn: Froh gehe ich dahin.)

40

Zu dieser Deutung von alva cf. Cohen (2003, 603).

314

IV.

Toda-las aves do mundo d’ amor cantavan; do meu amor e do voss’ i enmentavan: leda m’ and’ eu.

(IV. Alle Vögel der Welt sangen von Liebe, an meine und Eure Liebe erinnerten sie dabei. Froh gehe ich dahin.) V.

Do meu amor e do voss’ en ment’ avian; vós lhi tolhestes os ramos en que siian: leda m’ and’ eu.

(V. Meine und Eure Liebe hatten sie im Sinn, Ihr nahmt ihnen die Zweige, auf denen sie saßen: Froh gehe ich dahin.) VI.

Do meu amor e do voss’ i enmentavam; vós lhi tolhestes os ramos en que pousavan: leda m’ and’ eu.

(VI. An meine und Eure Liebe erinnerten sie dabei, Ihr nahmt ihnen die Zweige, auf denen sie ruhten: Froh gehe ich dahin.) VII.

Vós lhi tolhestes os ramos en que siían e lhis secastes as fontes en que bevian: leda m’ and’ eu.

(VII. Ihr nahmt ihnen die Zweige, auf denen sie saßen, und legtet die Quellen trocken, aus denen sie tranken: Froh gehe ich dahin.) VIII.

Vós lhi tolhestes os ramos en que pousavan e lhis secastes as fontes u se banhavan: leda m’ and’ eu.

(VIII. Ihr nahmt ihnen die Zweige, auf denen sie ruhten, und legtet die Quellen trocken, in denen sie badeten: Froh gehe ich dahin.)

{A d, 5} Juyão Bolseyro: Sen meu amigo manh’eu senlheyra (Juyão Bolseyro, Nr. III)

I.

Sen meu amigo manh’eu senlheyra e sol non dormen estes olhos meus; e, quant’eu posso, peç’a luz a Deus, e non mh-a dá per nulha maneyra. Mays, se masesse con meu amigo, a luz agora seria migo.

(I. Ohne meinen Freund bleibe ich einsam, und41 allein schlafen meine Augen nicht, und so sehr ich kann, erbitte ich das Licht von Gott, und er gibt es mir keinesfalls. Aber wenn ich mit meinem Freund zusammen wäre, dann wäre das Licht gleich mit mir.) II.

41

Quand’eu con meu amigo dormia, a noyte non durava nulha ren; e ora dur’a noyt’e vay e ven, Reali schlägt für sol (I, 2) die Übersetzung ‘neppure’ vor (cf. Juyão Bolseyro, 259).

315

non ven [a] luz, nen pareç’o dia. Mays, se masesse con meu amigo, a luz agora seria migo. (II. Wenn ich mit meinem Freund zusammen lag, war die Nacht gar nicht lang, und jetzt dauert die Nacht an und nimmt kein Ende,42 weder kommt das Licht, noch erscheint der Tag. Aber wenn ich mit meinem Freund zusammen wäre, dann wäre das Licht gleich mit mir.) III.

E segundo com’a mi parece comigo man meu lum’e meu senhor, ven log’a luz, de que non ey sabor, e ora vay [a] noit’ e ven e crece. Mays, se masesse con meu amigo, a luz agora seria migo.

(III. Bleibt bei mir mein Freund, mein Herr und mein Leuchten, so scheint mir, dass das Licht, das ich nicht mag, gleich darauf kommt. Und nun kommt die Nacht und nimmt kein Ende. Aber wenn ich mit meinem Freund zusammen wäre, dann wäre das Licht gleich mit mir.) IV.

Pater nostrus rez’eu mays de cento, por Aquel que morreu na vera cruz, que El mi mostre muy ced’a luz, mays mostra-mi as noites d’Avento. Mays, se masesse con meu amigo, a luz agora seria migo.

(IV. Das Vater Unser bete ich mehr als hundert Mal zu dem, der für uns am wahren Kreuz gestorben ist, damit er mir möglichst bald das Licht zeige, er aber zeigt mir nur Adventsnächte. Aber wenn ich mit meinem Freund zusammen wäre, dann wäre das Licht gleich mit mir.)

{A d, 6} Juyão Bolseyro: Da noyte d’eyre poderam fazer (Juyão Bolseyro, Nr. IV) I.

Da noyte d’eyre poderam fazer grandes tres noytes, segundo meu sen; mays na d’oje mi vӁo muyto ben: ca veo meu amigo, e, ante que lh’envyasse dizer ren, veo a luz e foy logo comigo.

(I. Aus der gestrigen Nacht hätte ich, so glaube ich, drei lange Nächte machen können, aber in der heutigen erging es mir gut, denn mein Freund ist hergekommen und bevor ich ihm etwas sagen konnte, ist das Licht gekommen und war dort mit mir.43) II.

42 43

E poys m’eu eyre senlheira deitey, a noyte foy, e vӁo, e durou;

II, 3 e vai e ven, wörtl.: ‘und geht und kommt’. Reali (Juyão Bolseyro, 261) übersetzt den Refrainvers e foy logo comigo mit «ed egli mi fu vicino». Brea (2006, 368) versteht luz als eine Metapher für den Freund und übersetzt den Kehrreim: «il vient, lui qui est la lumière, et il fut aussitôt avec moi».

316

mays a d’oje pouco a semelhou: ca vӁo meu amigo, e tanto que mh a falar começou, veo a luz e foy logo comigo. (II. Und dann44 habe ich mich gestern allein ins Bett gelegt, es wurde Nacht, sie kam und wollte nicht enden, aber die heutige glich ihr kaum, denn mein Freund ist hergekommen und sobald er zu mir zu sprechen begonnen hat, ist das Licht gekommen und war dort mit mir.) III.

E comecey eu eyre de cuydar, e começou a noyte de crecer; may-la d’oje non quis assy fazer: ca vӁo meu amigo, e faland’eu con el a gran prazer, veo a luz e foy logo comigo.

(III. Und ich begann gestern nachzudenken, und die Nacht wurde immer länger, aber in der heutigen wollte ich es nicht so tun, denn mein Freund ist hergekommen und ich sprach vergnügt mit ihm, das Licht ist gekommen und war dort mit mir.)

{A d, 7} Juyão Bolseyro: Aquestas noytes tan longas (Juyão Bolseyro, Nr. XIV) I.

Aquestas noytes tan longas, que Deus fez en grave dia, por min, porque as non dormho, e porquê as non fazia no tempo que meu amigo soýa falar45 comigo?

(I. In diesen langen Nächten, die Gott an einem Unglückstag für mich schuf, warum schlafe ich in ihnen nicht, und warum gab er sie mir nicht in der Zeit, in der mein Freund mit mir zu sprechen pflegte?) II.

Porque as fez Deus tan grandes, non posso eu dormir, coitada; e de como son sobejas, quisera46 eu outra vegada no tenpo que meu amigo soía falar comigo?

(II. Warum machte Gott sie so lang? Ich, Unglückliche, kann nicht schlafen, und so überlang wie sie sind, hätte ich sie mir doch früher gewünscht, in der Zeit, in der mein Freund mit mir zu sprechen pflegte.) III.

44 45 46

Por que as Deus fez tan grandes, sen mesura desiguaaes,

Reali (Juyão Bolseyro, 261) übersetzt hier poys (II, 1) kausal («Poiché ieri da sola…»). Reali (Juyão Bolseyro, Nr. XIV) notiert hier ‘faltar’, wobei es sich offensichtlich um einen Druckfehler handelt. Es handelt sich bei dieser Form, wie Reali (Juyão Bolseyro, 287) betont, um konditionalen Gebrauch (Irrealis).

317

e as eu dormir non posso, porquê as non fez ataaes no tenpo que meu amigo soía falar comigo? (III. Warum machte Gott sie so lang, so ohne jedes Maß, kann ich in ihnen doch nicht schlafen. Und warum gab er mir solche nicht in der Zeit, in der mein Freund mit mir zu sprechen pflegte?)

{A d, 8} Roi Paez de Ribela: Maria Genta, Maria Genta da saya cintada (Brea 21999; II, Nr. 147, 8)

I.

Maria Genta, Maria Genta da saya cintada, hu masestes esta noyte ou quen pôs cevada? Alva, abríades-m’ alá!

(I. Maria Genta, Maria Genta, mit dem gegürteten Kleid, wo warst du diese Nacht, oder wer hat die Gerste weggenommen? Morgenröte, leuchtet mir dort/vertraut es mir an! 47) II.

Albergámos eu e outra na carreyra, e rapazes con amores furtan ceveyra. Alva, abr[íades-m’ alá!]

(II. Ich und die andere hatten auf dem Weg unsere Herberge und junge Männer raubten mit der Liebe Getreide. Morgenröte, leuchtet mir dort/vertraut es mir an!) III.

Hu eu maj’ aquesta noyte, ouv’ y gran cӁa E rapazes con amores furtan avӁa. Alva, abr[íades-m’ alá!]

(III. Wo ich diese Nacht war, hat es ein großes Festmahl gegeben, und junge Männer raubten mit der Liebe Hafer. Morgenröte, leuchtet mir dort/vertraut es mir an!)

e) altitalienisch {A e, 1} Anonym: Pàrtite, amore, a deo Pàrtite, amore, adeo, ché tropo ce se’ stato: lo maitino è sonato, zorno me par che sia. Pàrtite, amor, adeo; che non fossi trovata in sí fina cellata como nui semo stati: or me bassa, oclo meo, tosto sïa l’andata, tenendo la tornata

5

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(Segre/Ossola 1999, 355)

Barbieri (2006, 158) schlägt die folgende Deutung des Ritornells vor: «Alba, fatemi luce laggiù» und sieht darin eine «allusione al luogo dove si è consumato l’allegro incontro notturno di soldadeiras e rapazes».

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como di ’namorati; síché per speso usato nostra zoglia renovi, nostro stato non trovi la mala celosia. Pàrtite, amore, adeo, e vane tostamente ch’one toa cossa t’azo pareclata in presente.

(Brich auf, Geliebter, adieu, denn zu lang bist du hier geblieben: Zur Matutin hat es geläutet, der Tag, so scheint mir, ist da. Brich auf, Geliebter, adieu, damit man dich nicht in einem so vollkommenen Versteck findet, in dem wir gewesen sind: Nun küss mich, mein Augenlicht. Möge dein Scheiden geschwind und eingedenk der Rückkehr sein, wie es Liebende zu tun pflegen, damit sich durch häufige Pflege unsere Liebesfreude erneuert. Möge die böse Eifersucht unser Zusammensein nicht entdecken. Brich auf, Geliebter, adieu, und geh geschwind fort, denn alle deine Dinge habe ich für dich nun vorbereitet.)

8.2. Die Formen des somni a) mittellateinisch {S = Somni a, 1} Anonym: Foebus abierat (Bourgain 2000, Nr. 65) I.

5

Foebus abierat subtractis cursibus. Equitabat soror effrenis curribus, radios inferens silvanis fontibus, agitando feras pro suis rictibus. Mortales dederant menbra soporibus.

(I. Phoebus war fortgegangen, beendet war sein Lauf. Seine Schwester ritt dahin in zügellosem Lauf. Strahlen brachte sie in die Quellen der Wälder herab und regte die wilden Tiere zur Jagd48 an. Die Menschen hatten ihre Glieder dem Schlaf überlassen.) II.

5

Aprili tempore quod nuper transiit, fidelis imago coram me adstitit, me vocans dulciter pauxillum tetigit; oppressa lacrimis vox ejus deficit, suspirans etenim loqui non valuit.

(II. In der gerade erst vergangenen Aprilzeit trat das Bild meines Treuen persönlich an mich heran, es rief mich lieblich und berührte mich sanft. Seine Stimme schwand von Tränen erstickt dahin, denn seine Seufzer hinderten ihn daran zu sprechen.) III.

5

48

Illius a tactu nimis intremui, velud exterrita sursum insilui, extensis brachiis corpus applicui; exsanguis penitus tota derigui – evanuit enim! nichil retinui!

I, 4 pro suis rictibus, wörtl.: ‘mit aufgesperrten Rachen’.

319

(III. Bei seiner Berührung erschauerte ich sehr, wie aufgeschreckt sprang ich auf, und mit ausgebreiteten Armen umschloss ich den Körper. Blutlos erstarre ich völlig im Inneren – denn er entschwand! Nichts hielt ich zurück!) IV.

Sopore libera exclamo fortiter: «Quo fugis, amabo? Cur tam celeriter? Siste gradum, si vis inibo pariter, nam tecum vivere volo perenniter!» Mox me penitui dixisse taliter.

5

(IV. Dem Schlaf entrissen rief ich laut aus: «Wohin entfliehst du, sei so lieb? Weshalb so eilig? Halt deine Schritte an. Wenn du willst, werde ich mit dir49 gehen, denn mit dir will ich ewig leben.» Bald schon bedauerte ich, so gesprochen zu haben.) V.

Aperte fuerant fenestre solii, fulgebant pulcriter Diane radii. Heu me, heu miseram! tam diu dolui, fluxerunt per genas ploratus rivuli, donec in crastinum nunquam abstinui.

5

(V. Die Terrassenfenster wurden geöffnet, die Strahlen der Diana glänzten herrlich. Oh wehe, wehe mir Elenden! So lange war ich betrübt, Tränen flossen über die Wangen wie Bächlein, bis zum folgenden Tag konnte ich nicht aufhören.)

{S a, 2} Anonym: Dvm Curata uegetarem 1.

(Carmina Burana 105)

DVM Curata uegetarem soporique menbra darem, et langueret animalis, preualeret naturalis uirtutis dominium,

5

(1. Als ich mich erquickte, indem ich meine Glieder dem Schlaf überließ, und während die Dominanz der körperlichen Kräfte sich abschwächte und die der natürlichen Kräfte zunahm,) 2.

En Cupido pharetratus, crinali, torque spoliatus, manu multa tactis alis, mesto uultu, numquam talis uisus est per sompnium.

5

(2. siehe, da erschien mir im Traum Cupido mit seinem Köcher, des Haarbands und der Kette beraubt, mit Flügeln von vielen Händen geschlagen, mit traurigem Gesicht, noch nie sah ich ihn so.50) 3.

49 50

Quem ut uidi perturbatum habituque disturbatum, menbra stupor ingens pressit;

IV, 3 pariter, wörtl.: ‘ebenfalls’. II, 4 numquam talis, wörtl.: ‘niemals so’.

320

5

qui paulatim ut recessit a menbris organicis,

(3. Als ich ihn so verwirrt sah, mit unordentlicher Kleidung, bedrückte eine ungeheuere Betroffenheit meine Glieder. Als diese nach und nach aus den Gliedern und Organen gewichen war,) 4.

5

Causam quero mesti uultus et sic deformati cultus, cur sint ale contrectate nec, ut decet, ordinate, et causam itineris.

(4. fragte ich nach dem Grund für sein trauriges Gesicht und weshalb seine Kleidung so verunstaltet sei und die Flügel verletzt und nicht, wie es sich gehört, geordnet seien, und [ich fragte] nach dem Grund seines Kommens.) 5.

5

Amor quondam uultu svvauis, nunc merore graui grauis, ut me uidit percunctari responsumque prestolari, reddit causam singulis:

(5. Als Amor, einst mit süßem Antlitz, nun von ernstem Kummer ernst, sah, wie ich fragte und auf eine Antwort wartete, gab er die Gründe im Einzelnen an:) 6.

«Vertitur in luctum organum Amoris, canticum subductum absinthia doloris, uigor priscus abiit, euanuit iam uirtus. Me uis deseruit, periere Cupidinis arcus.

(6. «In Trauer wandelt sich Amors Instrument, das Lied wurde entrissen im Wermut des Schmerzes. Die alte Energie ist dahin, die Kraft ist schon verloren, meine Stärke hat mich verlassen, Cupidos Bogen ist dahin.) 7.

Artes amatorie iam non instruuntur a Nasone tradite, passim peruertuntur; nam siquis istis utitur, more modernorum Turpiter abutitur hac assuetudine Morum.

(7. Die von Naso überlieferten Liebeskünste werden nicht mehr gelehrt. Sie gehen überall zugrunde; denn wenn sich einer ihrer bedient nach der Art der Zeit, dann missbraucht er sie schändlich durch die gegenwärtige Gewohnheit der Sitten.) 8.

Naso meis artibus feliciter instructus, mundique uoluptatibus et regulis subductus ab errore studuit mundum reuocare. Qui sibi notus erit, docuit sapienter amare.

(8. Naso, der in meinen Künsten mit Erfolg unterwiesen wurde und sich fernhielt von den Lüsten und Gepflogenheiten dieser Welt, bemühte sich, die Welt aus dem Irrtum herauszubringen. Den, der sich selbst erkennt, lehrt er weise zu lieben.)

321

9.

Veneris mysteria iam non occultantur cistis, set exposita coram presentantur. proh dolor, non dedecet palam commisceri! sed Precipue Cytharea iubet sua sacra taceri.

(9. Die Geheimnisse der Venus werden nicht mehr in Schreinen verborgen, sondern ausgestellt und öffentlich gezeigt. Oh Schmerz, es ist nicht schändlich, öffentlich zu verkehren! Als wichtigstes Geheimnis gebietet Cytherea doch die Verschwiegenheit.) 10.

Amoris ob infamiam moderni gloriantur, sine re iactantiam anxii uenantur iactantes sacra Veneris corporibus non tactis. Eheu nocturnis titulos imponimus actis!

(10. Die Zeitgenossen werden gefeiert wegen eines schlechten Rufs in der Liebe. Sie jagen grundlos und begierig nach Bewunderung, sie prahlen mit ihren noch unberührten Körpern mit den Geheimnissen der Venus. O weh, den nächtlichen Taten legen wir Ehrentitel bei!) 11.

Res archana Veneris uirtutibus habenda, optimisque meritis et moribus emenda prostat in prostibulo, redigitur in pactum. Tanta meum populo ius est ad dampna redactum.

(11. Das geheime Gut der Venus, das man durch Tugend erhalten kann sowie durch hervorragende Verdienste und makellose Sitten, wird im Freudenhaus käuflich angeboten, es wird zur Handelsware gemacht. Zu so schwerem Schaden ist mein Recht beim Volk gesunken.»)

{S a, 3} Anonym: Si uera somnia forent que somnio (Moralejo 1986, 202–213) Si uera somnia forent que somnio, Magno perhenniter replerer gaudio. Aprilis tempore, dum solus dormio In prato uiridi, iam satis florido, Virgo pulcerrima, uultu sydereo, Et proles sanguine progressa regio, Ante me uisa est, que suo pallio Auram mihi facit cum magno studio. Auram dum uentilat, interdum dultia Hore mellifluo iungebat basia, Et latus lateri iuncxisset pariter, Sed primum timuit ne ferrem grauiter. Tandem sic loquitur: «Monitu Veneris Ad te deuenio, dilecte iuuenis; Face Cupidinis succensa pectore, Mente te diligo cum toto corpore. Ni me dilexeris sicut te diligo, Credas quod moriar dolore nimio. Quare te deprecor, o decus iuuenum, Vt non me negligas, sed des solatium. Nec iuste poteris nunc me negligere, Quippe sum regio progressa sanguine. Aurum et pallia, uestes purpureas,

5

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Renones griseos et pelles uarias, Plures tibi dabo, si gratus fueris Et, ut te diligo, sic me dilexeris. Si pulcram faciem queris et splendidam, Hic sum; me teneas, quia te diligam. Cum nullus pulcrior te sit in seculo, Vt pulcram habeas amicam cupio.» His uerbis uirginis commotus ilico, Ipsam amplexibus duris circumligo. Genas deosculans papillas palpito, Post illud dulcius secretum compleo. Inferre igitur possum quod nimium Felix ipse forem et plus quam nimium, Illam si uirginem tenerem uigilans, Quam prato tenui, dum fui uigilans.

(Wenn die Träume wahr würden, die ich träume, würde ich auf ewig von großer Freude erfüllt werden. In der Aprilzeit, als ich allein auf grüner Wiese, die schon sehr blühte, schlief, ist eine wunderschöne Jungfrau, von sternengleichem Antlitz, ein von königlichem Blut abstammender Nachkomme, vor mir erschienen und fächelte mir mit ihrem Gewand mit großem Eifer Luft zu. Während sie mir Luft zufächelte, gab sie mir unterdessen liebliche Küsse mit dem süßen Mund. Und Seite mit Seite hätte sich zugleich verbunden, doch zunächst fürchtete sie, dass ich darunter leiden könnte.51 Dann sagte sie: «Auf die Ermahnung der Venus hin komme ich zu dir hinab, geliebter Jüngling, durch das Antlitz des Cupido im Herzen entbrannt liebe ich dich im Geiste und mit dem ganzen Körper. Liebtest du mich nicht so wie ich dich liebe, dann müßte ich, du kannst es mir glauben, am übergroßen Schmerz sterben. Daher bitte ich dich inständig, oh Zierde der Jungschar, dass du mich nicht vernachlässigst, sondern mir Trost spendest. Und du wirst mich nicht gerechterweise vernachlässigen können, da ich doch von königlichem Blut abstamme. Gold und Gewänder, purpurne Kleider, graue Pelze und vielerlei Felle werde ich dir in Vielzahl geben, wenn du dankbar wärest und mich auch so lieben würdest wie ich dich liebe. Wenn du ein schönes Antlitz suchst und ein glänzendes, hier bin ich, du sollst mich halten, weil ich dich liebe. Weil niemand schöner ist als du in diesem Jahrhundert, wünsche ich, dass du eine schöne Freundin hast.» Durch diese Worte der Jungfrau sogleich bewegt umschlinge ich jene mit festen Umarmungen. Während ich die Wangen küsse, streichle ich ihre Brustwarzen, dann vollende ich jenes sehr süße Geheimnis. So kann ich nun nachdrücklich sagen, dass ich selbst überglücklich wäre – und mehr noch als das –, wenn ich jene zarte Jungfrau auch wachend halten könnte, wie ich sie auf der Wiese gehalten habe, bis ich erwachte.52)

{S a, 4} Anonym: Illud si uerum fieret quod somnia monstrant (Moralejo 1986, 214–217)

Illud si uerum fieret quod somnia monstrant, Felix pernimium fierem, cui talia constant. Nocte sub obscura, dum solus forte cubabam,

51 52

V. 12 primum timuit ne ferrem grauiter, cf. Paden (1987, 55): «she feared I might be offended». V. 38 dum fui uigilans, cf. Paden (1987, 55): «until I was awake».

323

Ante mei uultum uidi quandam mihi gratam. Cuius forma mihi primum satis est dubitata, An foret hec uirgo fuerat que luce uocata. Postquam cognoui quod erat speciosior illa, Illa neglecta, fuit illico tacta papilla. Venit in amplexus, pectus iacuit prope pectus; Hoscula mille modis dum dat mihi pulcra puella, Gaudia persensi que uix mihi nunc daret ulla. Hoscula iungebat, sed me spes uana ferebat. Namque sui tenerum uolo dum circumdare collum, Nescio quo fugit, nec uerbum protulit unum. Vnde nimis doleo, puto sed magis inde dolebo, Ni, quod per somnum tenui, uigilans retinebo.

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(Wenn jenes wahr würde, was Träume zeigen, glücklich wäre ich, allzu sehr, wie jemand, dem solches zuteilwird. In dunkler Nacht, während ich zufällig allein schlief, sah ich vor mir ein Antlitz, das mir einst willkommen war. An ihrer Gestalt zweifelte ich zunächst: War es wohl jene Jungfrau, die in das Licht gerufen ward? Danach erkannte ich, dass sie noch viel schöner war als jene. So dachte ich nicht mehr an jene und berührte sogleich ihre Brust. Es kam zu Umarmungen, Brust warf sich an Brust, während mir das schöne Mädchen auf tausend Weisen Küsse gab. Ich empfand Freuden, die mir kaum eine geben könnte: Sie küsste mich, doch mich trug leere Hoffnung davon. Denn als ich noch ihren zarten Hals umschlingen will, entflieht sie – ich weiß nicht wohin – und kein Wort bringt sie hervor. Daher leide ich sehr, doch ich glaube, dass ich mehr noch leiden werde, wenn ich nicht, was ich im Schlaf hielt, im Wachen besitzen werde.)

b) altokzitanisch {S b, 1} Anonym: Grans gauchs m’ave la noit, quan sui colgatz (BdT 461, 135) (Kolsen 1907, 292s.)

Grans gauchs m’ave la noit, quan sui colgatz; Qu’en dormen vei la ren que plus volria, Que m’acoill gen en sa bella paria, E bais sas mans, don me teng per pagatz, E ai grand gaug, car m’a tan bel solatz, E quan resit, sui alegres e sors E prec a Deu qu’ar en veillan m’avegna, Per que li prec que de me li sovegna; Que quan la vei, no·ill aus querre secors.

5

(Große Freude wird mir nachts zuteil, wenn ich im Bett liege, denn im Schlaf sehe ich diejenige, die ich am liebsten hätte, und sie nimmt mich freundlich in ihre schöne Gesellschaft auf. Und ich küsse ihre Hände, und werde so entlohnt,53 und ich verspüre große Freude, denn sie bereitet mir so angenehmes Vergnügen. Und wenn ich erwache, bin ich erfreut und hochgestimmt54 und bete zu Gott, dass mir [solches Glück] nun im Wachen zuteilwerde. Deshalb bitte ich sie, dass sie sich an mich erinnern möge. Denn wenn ich sie sehe, wage ich es nicht, sie um Hilfe zu bitten.)

53 54

V. 4 don me teng per pagatz: «was mich befriedigt» (Kolsen 1907, 293). V. 6 sors ‘gehoben’ (Kolsen 1907, 310).

324

{S b, 2} Anonym: Un cavaler conosc qe l’altrer vi (BdT 461, 245) (Kolsen 1907, 296)

5

Un cavaler conosc qe l’altrer vi Una domna bel’ e precios’ a fi, E plac li ben, qan lo mantel l’ obri E vi son cors, sa cara e sa cri, E songet la la noit, can el dormi. E dirai vos com del somni gari? Ab un’altra q’estava pres de si.

(Ich kenne einen Ritter, der neulich eine schöne und überaus55 ehrenwerte Dame sah. Und sie gefiel ihm gut, als er ihr Gewand öffnete und ihren Körper, ihr Antlitz und ihr Haar erblickte. Und er träumte nachts von ihr, als er schlief. Und soll ich euch sagen, wie er von dem Traum wieder gesund wurde? Mit einer anderen, die in seiner Nähe war.)

{S b, 3} Guilhem de Peitieu: Farai un vers de dreyt nien (BdT 183, 7) (Guilhem de Peitieu, Nr. IV)

I.

5

Farai un vers de dreyt nien: Non er de mi ni d’autra gen, Non er d’amor ni de joven, Ni de ren au, Qu’enans fo trobatz en durmen Sobre chevau.

(I. Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen: Es wird nicht über mich, noch über andere Leute sein, es wird nicht über die Liebe noch über Jugend sein, noch über etwas anderes, vielmehr wurde es im Schlaf gedichtet auf einem Pferd.) II.

5

No sai en qual hora·m fuy natz: No suy alegres ni iratz, No suy estrayns ni sui privatz, Ni no·n puesc au, Qu’enaissi fuy de nueitz fadatz, Sobr’un pueg au.

(II. Ich weiß nicht, zu welcher Stunde ich geboren wurde: Ich bin weder fröhlich noch traurig, ich bin weder fremd noch bin ich vertraut, noch kann ich aufsteigen, denn so wurde ich nachts vom Schicksal bestimmt auf einem hohen Berg.) III.

5

No sai quora·m suy endurmitz Ni quora·m velh, s’om no m’o ditz. Per pauc no m’es lo cor partitz D’un dol corau; E no m’o pretz una soritz, Per sanh Marsau!

(III. Ich weiß nicht, wann ich eingeschlafen bin, noch wann ich wache, wenn es mir nicht jemand sagt. Beinahe ist mir das Herz zerbrochen vor Herzschmerz. Und es ist mir überhaupt nichts56 wert, beim heiligen Martial!) 55 56

V. 2 a fi : «vgl. afrz. par fin ‘tout à fait’» (Kolsen 1907, 308). III, 5 e no m’o pretz una soritz, wörtl.: ‘und es ist mir keine Maus wert’.

325

IV.

Malautz suy e tremi murir, E ren no·n sai mas quan n’aug dir; Metge querrai al mieu albir, E no sai cau; Bos metges er si·m pot guerir, Mas non, si amau.

5

(IV. Ich bin krank und zittere davor zu sterben, und nichts weiß ich, außer das, was ich darüber sagen hörte. Einen Arzt werde ich suchen nach meinem Belieben, und ich weiß nicht, welchen. Ein guter Arzt wird es sein, wenn er mich heilen kann, doch nicht, wenn ich kränker werde.) V.

Amigu’ ai ieu, no sai qui s’es, Qu’anc non la vi, si m’ajut fes; Ni·m fes que·m plassa ni que·m pes, Ni no m’en cau, Qu’anc non ac Norman ni Frances Dins mon ostau.

5

(V. Ich habe eine Freundin, ich weiß nicht, wer sie ist, denn niemals sah ich sie, bei meiner Treu, und sie tat mir nichts, was mir gefiele noch was mich bekümmerte, noch liegt mir etwas daran, denn niemals gab es einen Normannen noch einen Franzosen in meinem Haus.) VI.

Anc non la vi et am la fort, Anc no n’aic dreyt ni no·m fes tort; Quan non la vey, be m’en deport, No·m pretz un jau, Qu’ie·n sai gensor et bellazor, E que mais vau.

5

(VI. Niemals sah ich sie, und ich liebe sie sehr, niemals tat sie mir Recht oder Unrecht. Wenn ich sie nicht sehe, freue ich mich, denn es ist mir nichts57 wert, da ich eine Anmutigere und Schönere kenne, die mehr wert ist.) VII.

Fag ai lo vers, no say de cuy; E trametrai lo a selhuy Que lo·m trametra per autruy Lay vers Anjau, Que·m tramezes del sieu estuy La contraclau.

5

(VII. Ich habe dieses Lied gemacht, ich weiß nicht über wen. Und ich werde es demjenigen übergeben, der es für mich einem anderen bringt, dort nach Anjou, damit mir jener von seinem Versteck den Zweitschlüssel gewährt.58)

{S b, 4} Guilhem de Peitieu: Farai un vers, pos mi sonelh (BdT 183, 12) (Guilhem de Peitieu, Nr. V)

I.

57 58

Farai un vers, pos mi sonelh, E·m vauc e m’estauc al solelh;

VI, 4 no·m pretz un jau, wörtl.: ‘es ist mir nicht einen Hahn wert’. Cf. PSW VIII, 371b: trametre ‘bieten‘/‘gewähren’.

326

5

Donnas i a de mal conselh, E sai dir cals: Cellas c’amor de chevaler Tornon a mals.

(I. Ich werde ein Lied machen, weil ich schläfrig bin, und ich gehe weg und stehe in der Sonne. Es gibt Damen, die üble Absichten haben, und ich kann sagen, welche: diejenigen, die die Liebe eines Ritters zum Schlechten wenden.) II.

5

Domna fai pechat mortau Qe no ama cavalier leal; Mas s’ama o monge o clergal, Non a raizo: Per dreg la deuri’ hom cremar Ab un tezo.

(II. Eine Dame begeht keine Todsünde, die einen treuen Ritter liebt, doch wenn sie einen Mönch oder Kleriker liebt, hat sie Unrecht: gerechterweise sollte man sie verbrennen mit einem Feuerbrand.) III.

5

En Alvernhe, part Lemozi, M’en aniey totz sols a tapi: Trobei la moller d’en Guari E d’en Bernart; Saluderon mi sinplamentz Per san Launart.

(III. In die Auvergne, jenseits des Limousin, ging ich ganz allein dahin im Pilgergewand. Ich fand die Frau des Herrn Garin und die des Herrn Bernart. Sie grüßten mich bescheiden beim heiligen Leonhard.) IV.

5

La una·m diz en son latin: «E Dieus vos salf, don pelerin; Mout mi semblatz de bel aizin, Mon escient; Mas trop vezem anar pel mon De folla gent.»

(IV. Die eine sagte mir in ihrer Sprache:59 «Oh, Gott behüte Euch, Herr Pilger! Ihr scheint mir von sehr hoher Herkunft zu sein, ganz bestimmt. Aber zu viele törichte Menschen sehen wir durch die Welt ziehen».) V.

5

59

Ar auzires qu’ai respondut: Anc no li diz ni bat ni but, Ni fer ni fust no ai mentaugut, Mas sol aitan: «Babariol, babariol, babarian.»

IV, 1 en son latin, wörtl.: ‘in der für sie typischen Redeweise’.

327

(V. Nun hört, was ich geantwortet habe: Ich sagte ihr weder «muh» noch «mäh»,60 weder Eisen noch Holz habe ich erwähnt, sondern nur so viel: «Babariol, babariol, babarian».) VI.

So diz n’Agnes a n’Ermessen, «Trobat avem que anam queren! Sor, per amor Deu l’alberguem, Que ben es mutz, E ja per lui nostre conselh Non er saubutz.»

5

(VI. So sagte Frau Agnes zu Frau Ermessen: «Wir haben gefunden, wonach wir suchten! Schwester, lass uns ihn beherbergen, bei der Liebe Gottes, denn er ist wohl stumm, und nie wird durch ihn unsere Absicht bekannt».) VII.

La una·m pres sotz son mantel, Menet m’en sa cambra, al fornel. Sapchatz qu’a mi fo bon e bel, E·l focs fo bos, Et eu calfei me volentiers Als gros carbos.

5

(VII. Die eine nahm mich unter ihren Mantel und brachte mich in ihre Kammer an den Ofen. Ihr sollt wissen, dass es mir gut und schön erging. Und das Feuer war gut und ich wärmte mich gern an den großen Kohlen.) VIII.

5

A manjar mi deron capos, E sapchatz ac i mais de dos, E no·i ac cog ni cogastros, Mas sol nos tres, E·l pans fo blancs e·l vins fo bos E·l pebr’espes.

(VIII. Zu essen gaben sie mir Kapaune, und ihr sollt wissen, dass ich mehr als zwei hatte. Und es gab dort weder einen Koch noch Küchenjungen, sondern nur uns drei. Und das Brot war weiß, und der Wein war gut und Pfeffer gab es reichlich.) IX.

«Sor, aquest hom es enginhos E laissa lo parlar per nos: Nos aportem nostre gat ros De mantement, Qe·l fara parlar az estros, Si de re·nz ment.»

5

(IX. «Schwester, dieser Mann ist ein Betrüger und lässt wegen uns vom Sprechen ab, lass uns sogleich unseren roten Kater bringen, der ihn ganz bestimmt zum Reden bringt, wenn er uns irgendwie belügt».)

60

Bei bat und but (V, 2) handelt es sich wahrscheinlich um onomatopoetische Bildungen, für deren Übersetzung Rieger, D. (1980, 29) «weder ‹muh› noch ‹mäh›» vorschlägt und dessen Wiedergabe wir hier folgen. Jensen (1998, 450/26) weist in seiner Anthologie auf eine ähnliche Bildung in der Flamenca hin (v. 1233: «d’aiso non dis ni buf ni baf»).

328

X.

N’Agnes anet per l’enujos, E fo granz et ab loncz guinhos: E eu, can lo vi entre nos, Aig n’espavent, Q’a pauc non perdei la valor E l’ardiment.

5

(X. Frau Agnes ging, um den Störefried61 zu holen, und er war groß und hatte einen langen Schnurrbart. Und als ich ihn bei uns sah, hatte ich Angst, sodass ich deshalb beinahe die Tapferkeit und die Kühnheit verlor.) XI.

Quant aguem begut e manjat, Eu mi despoillei a lor grat. Detras m’aporteron lo gat Mal e felon; La una·l tira del costat Tro al tallon.

5

(XI. Als wir getrunken und gegessen haben, zog ich mich nach ihrem Gefallen aus. Auf meinen Rücken62 brachten sie die böse und verräterische Katze: Die eine zieht sie hinunter von der Seite bis zur Ferse.) XII.

5

Per la coa de mantenen Tira·l gat et el escoissen: Plajas mi feron mais de cen Aquella ves; Mas eu no·m mogra ges enguers Qui m’ausizes.

(XII. Am Schwanz zieht sie sogleich die Katze, und jene kratzt mich, mehr als hundert Wunden habe ich an jenem Tag davongetragen. Aber ich hätte mich weiterhin keinesfalls verraten,63 auch wenn man mich getötet hätte.) XIII.

5

«Sor, diz n’Agnes a n’Ermessen, Mutz es, qe ben es connoissen; Sor del bainh nos apareillem E del sojorn.» Ueit jorn ez encar mais estei En aquel forn.

(XIII. «Schwester», sagt Frau Agnes zu Frau Ermessen, «er ist wirklich stumm, was wohl zu erkennen ist. Schwester, bereiten wir uns auf das Bad vor und auf die Erholung». Acht Tage und noch mehr war ich an diesem Ort.) XIV.

61 62 63

Tant las fotei com auzirets: Cen e quatre vint et ueit vetz, Q’a pauc no·i rompei mos corretz E mos arnes;

Es handelt sich bei X, 1 enujos um ein substantiviertes Adjektiv, das wörtl. mit ‘ärgerlich’, ‘störend’, ’langweilig’ zu übersetzen ist. XI, 3 detras, wörtl.: ‘von hinten’. XII, 5 mas eu no·m mogra ges, wörtl.: ‘aber ich hätte mich keinesfalls bewegt’.

329

5

E no·us puesc dir lo malaveg, Tan gran m’en pres.

(XIV. So oft habe ich sie beschlafen, wie ihr hören werdet: hundertachtundachtzig Mal, sodass ich beinahe dabei meinen Gürtel zerbrach und meinen Harnisch. Und ich kann euch das Leiden nicht beschreiben, so sehr litt ich daran.) XV.

Ges no·us sai dir lo malaveg, Tan gran m’en pres.

(XV. Und ich kann euch das Leiden nicht beschreiben, so sehr litt ich daran.)

{S b, 5} Guiraut de Bornelh: No posc sofrir c’a la dolor (BdT 242, 51) (Guiraut de Bornelh a), Nr. 40)

I.

No posc sofrir c’a la dolor De la den la lenga no vir E·l cor ab la novela flor, Lancan vei los ramels florir E·lh chan son pel boschatge Dels auzeletz enamoratz, E si tot m’estauc apensatz Ni pres per malauratge, Can vei chans e vergers e pratz, Eu renovel e m’assolatz.

5

10

(I. Ich kann nicht anders64 als beim Zahnschmerz die Zunge hin und her zu bewegen und das Herz der Frühlingsblume zuzuwenden, wenn ich die Zweige blühen sehe und im Hain der Gesang der kleinen verliebten Vögel erklingt. Und wenn mich die Sorge völlig erfasst und das Unglück mich gefangen genommen hat, lebe ich, wenn ich die Lieder, die Gärten und Wiesen sehe, wieder auf und werde erneut heiter.) II.

Qu’eu no m’esfortz d’altre labor Mas de chantar e d’esjauzir; C’una noch somnav’ en pascor Tal somnhe que·m fetz esbaudir D’un esparver ramatge Que m’era sus el ponh pauzatz E si·m semblav’ adomesgatz, Anc no vi tal salvatge, Mas pois fo maners e privatz E de bos getz apreizonatz.

5

10

(II. Denn alle meine Mühen verwende ich darauf zu singen und mich zu erfreuen. Ich träumte nämlich eines Nachts im Frühling einen solchen Traum, der mich sehr erfreute, von einem noch ungezähmten65 Sperber, der auf meiner Faust saß, und auch wenn er mir

64 65

I, 1 No posc sofrir, wörtl.: ‘ich kann es nicht ertragen, wenn ich nicht…’. Cf. dazu die Erklärungen von Kolsen (Guiraut de Bornelh a), II, 80): «ramatge ‘auf dem Zweige gefangen, wild, noch ungezähmt’» und Sharman (Guiraut de Bornelh b), 221): «ramatge probably has the same sense as ramenc ‘caught on the branch’, i.e. wild, not yet tamed».

330

zahm zu sein schien, so habe ich zuvor niemals einen so wilden gesehen. Aber dann wurde er gefangen und war vertraulich und wurde mit guten Riemen gezähmt.) III.

5

10

Lo somnhe comtei mo senhor, C’a son amic lo deu hom dir, E narret lo·m tot en amor E dis me que no·m pot falhir Que d’oltra mo paratge No m’aia tal ami’ en patz, Can m’en serai pro trebalhatz, C’anc om de mo linhatge Ni d’oltra ma valor assatz Non amet tal ni·n fon amatz.

(III. Den Traum erzählte ich meinem Herrn, denn seinem Freund soll man davon erzählen. Und er erklärte ihn mir ganz als Liebestraum und sagte mir, dass ich, wenn ich mich darum bemühte, bestimmt66 in Ruhe eine solche Freundin von höherer Abkunft haben könnte, die nie ein Mann von meinem Stand noch jemand, der von höherem Werte war, jemals liebte oder von ihr geliebt wurde.) IV.

5

10

Era n’ai vergonh’ e paor E·m n’esvelh e·n planh e·n sospir E·l somnhe tenh a gran folor E no cut posch’ endevenir; Pero d’un fat coratge No pot partir us rics pensatz Orgolhos e desmezuratz C’apres nostre passatge Sai que·l somnhes sera vertatz Aissi drech com me fo narratz.

(IV. Nun schäme ich mich dafür und habe Angst und werde davon wach und klage und seufze. Und den Traum halte ich für eine große Dummheit und glaube nicht, dass er sich erfüllen könnte. Dennoch kann sich von einem dummen Sinn ein vermessener, stolzer und maßloser Gedanke nicht trennen, sodass ich weiß, dass der Traum nach unserer Überfahrt wahr wird, genauso wie er mir erzählt wurde.) V.

5

10

E pois auziretz chantador E chansons anar e venir! Qu’era, can re no sai m’assor, Me volh un pauc plus enardir D’enviar mo messatge Que·ns porte nostras amistatz. Que sai n’es facha la meitatz, Mas de leis no n’ai gatge E ja no cut si’achabatz Nuls afars, tro qu’es comensatz.

(V. Und dann werdet ihr einen Sänger hören und Lieder kommen und gehen sehen! Denn jetzt, da ich nichts weiß, zeige ich mich. Ich will mich ein wenig mehr wagen, meinen

66

III, 4 que no·m pot falhir, wörtl.: ‘dass es für mich nicht daran mangeln konnte’.

331

Boten zu schicken, der uns unsere Freundschaft überbringen soll. Ich weiß nämlich, dass die Hälfte schon getan ist, doch von ihr habe ich kein Pfand, und niemals glaubte ich eine Angelegenheit vollendet, bevor sie überhaupt begonnen war.) VI.

Qu’eu ai vist acomensar tor D’una sola peir’ al bastir E cada pauc levar alsor Tan josca c’om la poc garnir. Per qu’eu tenh vassalatge D’aitan, si m’o aconselhatz, E·l vers, pos er ben assonatz, Trametrai el viatge, Si trop qui lai lo·m guit viatz Ab que·s deport e·s do solatz.

(VI. Denn ich habe gesehen, wie man einen Turm mit einem einzigen Stein zu bauen begann und der sich allmählich immer höher erhob, bis man ihn befestigen konnte. Deshalb bewahre ich so sehr die Ritterlichkeit, dass ich, wenn Ihr es mir empfehlt, den Vers, sobald er wohl mit Musik versehen ist, auf die Reise schicken werde, wenn ich jemanden finde, der ihn mir rasch dorthin bringt, jemanden, der fröhlich ist und Vergnügen schafft.) VII.

E s’eu ja vas emperador Ni vas rei vauc, si·m vol grazir Tot aissi com al seu trachor Que no·l sap ni no·l pot gandir Ni mantener, ostatge, Me lonh en us estranhs renhatz! Cais si serai justiziatz E fis de gran damnatge, Si·l seus gens cors blancs e prezatz M’es estranhs ni m’estai iratz.

(VII. Und wenn ich nun zu einem Kaiser oder einem König gehe, so möge er mich, wenn er mir so danken will wie seinem Verräter, den er nicht schützen und unterstützen will und kann, weit in ein fremdes Reich bringen! Denn auch so werde ich bestraft und großen Schaden erleiden, wenn ihr schöner und wertvoller blasser Körper mir fern und mir böse ist.) VIII.

E vos entendetz e veiatz Que sabetz mo lengatge, S’anc fis motz cobertz ni serratz, S’era no·ls fatz ben esclairatz.

(VIII. Und ihr, die ihr meine Sprache versteht, hört und seht, ob ich, auch wenn ich einst die Worte unverständlich und dunkel machte, sie nun klar und deutlich mache.) IX.

E sui m’en per so esforsatz Qu’entendatz cals chansos eu fatz.

(IX. Und deshalb habe ich mich wohl bemüht, damit ihr die Lieder, die ich mache, versteht.)

332

{S b, 6} Guilhem de Saint-Didier: En Guillem de Saint Deslier, vostra semblanza (BdT 234, 12) (Sakari 1986, 259s.) I.

5

En Guillem de Saint Deslier, vostra semblanza Mi digatz d’un som leugier qe·m fo salvatge: Somjava, can l’autr’ ier em bon esperanza M’adurmi ab lo salut d’un ver messatge, En un vergier plen de flors Frescas, de bellas colors, On feri uns venz isnels Qe frais las flors e·ls brondels.

(I. Herr Guilhem de Saint-Didier, möget Ihr mir Eure Meinung über einen flüchtigen67 Traum sagen, der mich sehr bestürzte.68 Denn ich träumte, als ich neulich voller Hoffnung nach dem Gruß eines treuen Boten eingeschlafen war, von einem Garten voller frischer, schöner und farbiger Blumen, in dem ein starker Wind wütete, der die Blumen und Zweige zerbrach.) II.

5

Don, d’est sompni vos dirai, segon m’esmanza, Q’eu en conoisc ni m’es vis en mon coratge: Lo vergiers, segon q’en penz, signifianza Es d’Amor, las flors, de domnas d’aut paratge, E·l venz, dels lauzenjadors, E·l bruiz, dels fals fegnedors, E la frascha dels ramels Nos camj’ en enois novels.

(II. Herr, ich werde Euch sagen, was ich meiner Meinung nach in diesem Traum erkenne und was ich dazu in meinen Gedanken gesehen habe: Der Garten bedeutet, so denke ich, die Liebe, die Blumen sind Damen von edler Abkunft, und der Wind stellt die Verleumder dar und das Rauschen die falschen Betrüger, und das Brechen der Zweige bringt uns neue Sorgen.) III.

5

En Guillem, un arbre vi d’estragna guiza Deguizat mais de colors c’om non sap pegnier; Aqel fer tan fort lo venz e fraing e briza La genzor flor q’em folla la fait estregnier, E vi mai: d’un surigier En l’air’ un astor gruier, Con un falco montargi C’ab una grailla fai ni.

(III. Herr Guillem, ich sah einen Baum von seltsamer Art, mit mehr Farben verkleidet als es irgendein Mensch malen könnte. Diesen schlägt der Wind so stark und bricht und zerbricht dessen anmutigste Blume, dass sie sich ins Laub zurückziehen muss. Und ich sah mehr noch: in Begleitung eines Turmfalken einen Waldhabicht mit einem Bergfalken, der mit einer Krähe ein Nest baute.)

67 68

Cf den Übersetzungsvorschlag von som leugier (I, 2) nach Sakari (Guillem de Saint Didier, 131): ‘rêve fugitif’. Cf. PSW VII, 451b: eser salvatge ‘unangenehm, zuwider sein; missfallen’.

333

IV.

Don, l’arbres qe vos lai vist, es domn’ en guiza Qi laissa grant part de gent de s’amor fegnier, E la flors qe vos lai vist el ram asiza Es domna qe granz crimz baiss’ e fai estregner, E·l vezins del surigier Drutz qe fan amar dinier, E del falcon atressi Drutz valenz que lai s’aizi.

(IV. Herr, der Baum, den Ihr dort saht, ist eine wohlgeartete Dame, um deren Liebe sich viele bemühen, und die Blume, die Ihr da auf einem Zweig saht, ist eine Dame, die durch schlimme Beschuldigungen gedemütigt ist und sich versteckt. Und der Begleiter des Turmfalken ist ein Liebender, der das Geld liebt und genau so ist es mit dem Falken: Es ist ein edler Liebender, der sich dort wohlfühlt.) V.

En Guillem, una flor lai vi bell’ e blancha Qe vas totas partz respland e segnoreja; Aqi lo venz non fer ges, mas se restancha, Ni·l flors no·i pert sa valor ni rams no·s pleja; Cujei montar lai on fon E vi lonc leis un leon Et environ no sei qanz Veltres e lebrers renanz.

5

(V. Herr Guillem, eine Blume sah ich dort, schön und weiß, die zu allen Seiten hin glänzte und überlegen war. Hier machte der Wind nichts, sondern zog sich zurück, die Blume verlor weder ihren Wert, noch bog sich der Zweig. Ich dachte daran, dort heraufzusteigen, wo sie war, und sah an ihrer Seite einen Löwen, und um sie herum waren viele Hetzhunde und knurrende Windhunde.) VI.

Don, la flor qe vos lai vist es domna francha On beutatz e pretz e joia segnoreja, On malvestatz non fer ges, mas se restancha, Cui cobeitatz d’Amor eus non fai enveja, E li veltre d’eviron, Malvatz lauzengier fellon, E·l lions, gelos bruianz Per qe nos moc l’espavanz.

5

(VI. Herr, die Blume, die Ihr dort saht, ist eine edle Dame, in der Schönheit, Wertschätzung und Liebesfreude walten, wo Boshaftigkeit nichts ausrichtet, sondern zurückweicht, und nach der die Liebesgier keine Lust verspürt. Und die Hetzhunde um sie herum sind die schlimmen verräterischen Verleumder, und der Löwe ist der stürmische Eifersüchtige, der uns Angst einjagte.)

{S b, 7} Lanfranc Cigala: Entre mon cor e me e mon saber (BdT 282, 4) (Bertoni 1915, Nr. XL)

I.

Entre mon cor e me e mon saber Si moc tenzos, l’autra nueig qe’m dormia, Del faillimen don si plaignon l’aman, Qu’eu dizia q’en lur colp’esdeve, E mos cors diz: – Segnor, ges eu no·l cre,

5

334

Anz es amors cel qui fai tot l’engan. – E·l senz carget las domnas de faillia, Et enaissi tenzonem tro al dia. (I. Zwischen meinem Herzen, mir und meinem Verstand entbrannte ein Streit in der vergangenen Nacht, als ich schlief, über die Irrungen, die die Liebenden beklagen. Ich sagte nämlich, dass es deren Schuld sei, und mein Herz sagte: «Herr, ich glaube keinesfalls daran, eher ist es die Liebe, die den Betrug verursacht.» Und mein Verstand beschuldigte die Damen für diesen Fehler, und so stritten wir bis zum Tagesanbruch.) II.

5

Mos cors levet e dis: – E·us voil qerer, Segnor, si·us platz, perdon q’eu primers dia. Se cel qi fail agues lo dol e·l dan, Tot l’agr’amors, c’aitan mal si capte, Q’el destreing l’un e laiss’a l’autre·l fre E l’un te sors, l’autre carga d’afan, E fui als pros e·il fals n’an manentia; Ara iutiatz si res piegtz far poiria. –

(II. Mein Herz erhob sich und sagte: «Verzeiht mir, Herr, wenn ich als Erster spreche. Hätte der, der die Fehler begeht, den Schmerz und den Schaden davon, würden diese ganz und gar der Liebe zufallen, die sich so schlecht verhält, dass sie den einen im Zaum hält, während sie dem anderen nachgibt, und den einen erhebt, während sie den anderen mit Kummer belädt. Und sie flüchtet die Tapferen, und die Falschen finden bei ihr Unterstützung. Entscheidet nun, ob sie schlechter handeln könnte.») III.

5

– Et eu, seignor, en dirai mo voler, – Zo dis mos senz, – q’eu crei qe·il failla sia De las domnas, car si fan pregar tan. Es es tals us qe can la domna ve Qui ben la prec, ia mais no·il volra be, Pois prega tal qu’ela non vi pregan; Mas eu tengra plus bella cortezia Si de cellui qi l’ames fos amia. –

(III. «Und ich, Herr, werde meine Meinung sagen;» – so sprach mein Verstand – «ich glaube nämlich, dass es der Fehler der Damen ist, denn sie lassen sich zu sehr bitten. Es ist nämlich gewöhnlich so, dass, wenn die Dame sieht, dass sie jemand sehr bittet, sie ihn dann niemals lieben wird, während sie selbst denjenigen bittet, der sie nie bat. Ich hielte es für ein wahrhaft höfischeres Benehmen, wenn sie die Freundin dessen wäre, der sie liebt.») IV.

5

– Senz, vos e·l cor failletz, al mieu parer, Qe·l faillimenz mou totz de leuiaria Dels amadors, qi son false chamian, E car domnas i trobon pauc de fe Si fan preiar e loingnon lur merce Per conoisser lo leial del truan; E quan trobon amic senz tricharia Li fan amor, si com a faig la mia. –

(IV. «Oh Verstand, Ihr und das Herz täuscht euch, wie mir scheint, denn die Fehler kommen alle von der Unbeständigkeit der Liebenden her, die falsch und wankelmütig sind. Und da die Damen in ihnen deshalb wenig Glauben finden, lassen sie sich bitten und zögern

335

ihre Gnade hinaus, um den Ehrlichen vom Betrüger zu unterscheiden. Und wenn sie einen Freund ohne Falsch finden, so geben sie ihm ihre Liebe, so wie es meine Dame getan hat.») V.

Ab tan mi fon venguda per vezer, So·m fon semblan, madomna qe·m dizia: – Bels douz amics, eu vos ren merce gran De la honor q’aves facha per me A las donas, e non failletz de re. Si·l drut fosson tal can vos, ia blasman Non s’anera negus de drudaria, Mas savis iau qe fols beu sa follia. –

5

(V. Und dann tauchte vor meinen Augen, wie mir schien, meine Dame auf, die mir sagte: «Guter, süßer Freund, ich danke Euch sehr für die Ehre, die Ihr durch mich den Frauen erwiesen habt, und Ihr hattet nichts falsch getan. Wenn alle Liebenden wie Ihr wären, so würde niemand mehr über Liebe klagen. Aber der Weise genießt, während der Dumme seine Dummheit trinkt.») VI.

– Domna, merces qar m’aves onrat tan, Vostre sui eu e serai a ma via, E·m lau de vos, qi que·s plaingnia d’amia.

(VI. «Dame, danke, dass Ihr mir so eine große Ehre erwiesen habt. Ich gehöre Euch und werde mein Leben lang Euer sein, und ich lobe Euch vor jedem, der sich je über seine Freundin beklagte.»)

{S b, 8} Joan d’Albusson/Nicolet de Turin: En Niccolet, d’un sognie qu’ieu sognava (BdT 265, 2) (Bertoni 1915, Nr. XVI) I.

[En Niccolet, d’un sognie qu’ieu sognava Maravillios una nuit qe·m durmia, Voil m’esplanez, qe molt m’espaventava. Totz lo sogni’ es d’un’aigla qe venia Devers Salern, sus per l’aire volan, E tot qant es fugia li denan Si c’al seu senz encauzava e prendia, C ‹om denant lei defendre no’s poiria.]

5

(I. Herr Nicolet, ich will, dass Ihr mir einen wundersamen Traum erklärt, den ich eines Nachts träumte, während ich schlief, und der mich sehr in Schrecken versetzte. Der ganze Traum hat mit einem Adler zu tun, der nach Salerno kam, oben in den Lüften fliegend, und alles, das lebt, floh vor ihm, sodass er alles nach Belieben vertrieb und sich einverleibte und man sich nicht vor ihm hätte verteidigen können.) II.

Joan d’Albuçon, l’aigla demostrava L’emperador qe ven per Lombardia, E lo volars tant aut singnificava Sa gran valor per qe ciascuns fugia De totz aicels qe tort ni colpa li an; Qe ia de lui defendre no·s poiran Terra ni oms ni autra rens qe sia, Q’aisi com taing del tot segner non sia.

5

336

(II. Ioan d’Albusson, der Adler stellte den Kaiser dar, der durch die Lombardei kommt, und der überaus hohe Flug bedeutete sein großes Ansehen, weswegen jeder von denen floh, die ihm ein Unrecht getan haben oder sich ihm gegenüber schuldig fühlen. Denn weder Land noch Mensch noch etwas anderes könnte sich je vor ihm verteidigen, sodass er, wie es zurecht besteht, Herr über alles ist.) III.

5

[En Nicolet, tan grant aura menava Aiqest’aigla qe tot qant es brugia, E una naus de Coloingna arivava, Maiers asaz qe dir non o porria, Plena de foc, per terra navican, E buffa·l foc l’aigla ab aura gran, Si qe lo focs ardia e alumnava Vas totas partz la on l’aigla volava.]

(III. Herr Nicolet, einen so starken Lufthauch brachte dieser Adler mit sich, dass alles, das lebt, erbebte. Und es kam ein Schiff aus Köln, noch viel größer als ich es beschreiben könnte, und es war voller Feuer und steuerte auf das Land zu. Und der Adler blies mit gewaltigem Atem auf das Feuer, sodass das Feuer brannte und alles erhellte an allen Orten, wo der Adler vorüberflog.) IV.

5

Ioan, l’aigla, qe [vitz], tan fort ventava El gran tesaur, qe mena en Lombardia L’emperaire, e la naus qe·l portava Es la granz ostz dels Alamanz bandia, A cui dara del [seu] gran tesaur tan Qe l’ostz fara per toz locs son talan; E plaz mi fort qe·ls enemics castia E qe·ls amics meillior’, e bon lur sia!

(IV. Ioan, der Adler, den Ihr saht, blies den Wind so stark auf den großen Schatz, den der Kaiser mit sich in die Lombardei führt, und das Schiff, das es trug, stellt das große verbannte Heer der Deutschen dar, dem er so viel von seinem großen Schatz geben wird, wie nötig sein wird, damit das Heer zukünftig an jedem Ort seinen Willen tut. Und es gefällt mir sehr, dass er den Feind unterdrückt und den Freund veredelt, möge es zu seinem Wohl gereichen.) V.

5

[En Niccolet, tot lo foc amorzava Aqest’aigla e un gran lum metia En Monferrat, qe tan fort esclarava Qe lo segles per tut se n’esbaudia [E] mettia d’autre lum per locs tan Qe tot qant es se n’annava allegran; Puis l’aigla sus en l’aire s’asedia En tant alt luoc qe tot lo mond vesia.]

(V. Herr Nicolet, das ganze Feuer löschte dieser Adler, und ein gewaltiges Licht warf er auf Monferrat, das so stark aufleuchtete, dass sich die Welt daran überall erfreute. Und er warf ein anderes Licht an so viele Orte, dass alles, das lebt, sich daran erfreute. Dann setzte sich der Adler in den Lüften an einem so hohen Ort nieder, dass er die ganze Welt sah.) VI.

Joan, l’amorzamentz del foc sembrava Patz, qe vorra l’emperaire aisi sia Qan s’er veniatz, e lo lums dimostrava

337

Qe·l marqes ren Monferrat, ses bausia, E li altri lum seran guierdon gran Q’auran de lui selh q’aver lo[s] deuran; E lo sesers en l’aire·m singnifia Qe·l mondz er pois toz a sa segnoria.

5

(VI. Joan, das Löschen des Feuers bedeutete Frieden, den der Kaiser nach seiner Rache wünschen wird. Und das Licht stellte dar, dass der Marquis ohne Trug Monferrat zurückgibt, und die anderen Lichter werden die großen Belohnungen sein, die von ihm jene erhalten werden, die sie verdient haben werden. Und dass er sich in den Lüften niedersetzt, bedeutet, dass danach die ganze Welt unter seiner Herrschaft sein wird.) VII.

[A l’onrat ric emperador presan, En Niccolet, don Dieus forza e talan Qe restaure valor e cortesia, Si cum li creis lo poder chascun dia.]

(VII. Dem verehrten, mächtigen und tapferen Kaiser, Herr Nicolet, möge Gott Kraft und Stärke geben, dass er das Ansehen und die Würde und die Höfischkeit wiederbringe, so wie sich seine Macht jeden Tag von Neuem vermehrt.) VIII.

Joan, tot ço conois q’es benestan L’emperaire, per q’eu non vau dottan Q’aisi com a·l mielz del mond em bailia Deu ben aver del prez la signoria.

(VIII. Ioan, alles, was recht ist, kennt der Kaiser, deshalb bezweifle ich nicht, dass er die Herrschaft über das Ansehen innehaben muss, da er doch das Beste der Welt in seiner Macht hat.)

{S b, 9} Guilhem d’Autpol: Seinhos, auias, c’aves saber en sens (BdT 206, 4) (Guilhem d’Autpol, 436ss.) I.

Seinhos, auias, c’aves saber e sens, que m’esdevenc l’autre ser can dormia: sus el sel fuy, on Dieu tenc parlament, es entorn si saria·l compainhia, e dir vos ai la clamor que tenia de crestians com reinhon falsament, car non deman lo sieu sant moniment comte ni duc ni prinse ni clesia.

5

(I. Herren, die ihr weise und verständig seid, hört, was mir neulich am Abend widerfuhr, als ich schlief: Ich war droben im Himmel, wo Gott eine Versammlung abhielt, und um ihn herum waren69 seine Gefährten. Und ich werde Euch von der Klage berichten, die er vortrug über das falsche Verhalten der Christen, denn nach seinem heiligen Grab fragen weder Fürst noch Prinz noch Priester.) II.

69

Et ieu leviei, que respos sapchament: «Tort n’aves, Dieus, e prendes autra via,

Zur Problematik der Form saria (I, 4) cf. Paden (1993, 440/4).

338

5

car vos donas poder a falsa jent qu’en fan quex jorn erguell e vilania, qu’il non crezon ni fan ren que bon sia, e vos das lor sobras d’aur e d’argent tant que n’estan crestians recrezens – car combatre no·s pot hom cascun dia.»

(II. Und ich stand auf und antwortete weise: «Ihr habt Unrecht, Gott, und Ihr müßt anders handeln,70 denn Ihr gebt den falschen Leuten Macht, die damit jeden Tag hochmütig sind und Schändliches tun, denn weder glauben noch tun sie etwas Gutes, und Ihr gebt ihnen Gold und Silber in Überfülle, sodass sich die Christen deshalb geschlagen geben – denn niemand kann jeden Tag kämpfen.») III.

5

«[Seinher] Daspol, car iest contrarios, al clers darai tota malaventura, et als ordes tolrai possessions, que s’ar son ricxs, de tems n’auran frachura, pueis dar lur ai malautia mot dura; e li prinse perdran indicsions; doncs remanran aunitz e vergoinhos, tant qu’en efern sera lur sebeutura.»

(III. «Herr Daspol, da Ihr widersprecht, werde ich den Priestern nur Unglück geben, und ich werde den Orden ihren Besitz nehmen, denn sind sie jetzt reich, so werden sie bald Mangel erleiden. Danach werde ich ihnen eine sehr schwere Krankheit senden. Und die Prinzen werden ihre Steuergewinne verlieren, daher werden sie entehrt und beschämt sein, sodass ihr Grab in der Hölle sein wird.») IV.

5

«Bel seinher Dieus, ben par qu’est poderos, qu’en luoc segur estag ez en autura; per que·us pensas que·ns combatam per vos, que Sarazins onretz e jent tafura que no·s laison fort castel ni clauzura, e·l bastiment volvon de sus en jos? Et a durat lonc tems esta tensos per qu’ieu non say de que·us fassam rancura.»

(IV. «Guter Herr Gott, es scheint, dass Ihr mächtig seid, denn Ihr seid hier oben an einem sicheren Ort. Warum glaubt Ihr, dass wir für Euch kämpfen sollen, wenn Ihr doch Sarazenen ehrt und schändliche Menschen, die für Euch weder Burg noch Festung stehen lassen und unsere Bauten zerstören?71 Und dieser Streit hat lange gedauert, deshalb weiß ich nicht, weshalb wir Euch Kummer verursachen.») V.

5

70 71

«[Seinher] Daspol, si·l prinse ni·l prelat m’agueson jes d’amor en lur corage, que·l sovengues ab vera caritat com fuy en cros mes per l’uman linhage, cascus fora volontos del passaje, si lur membres mon sanc c’ai escampat;

II, 2 e prendes autra via, wörtl.: ‘und Ihr sollt einem anderen Weg folgen’. IV, 6 volvon de sus en jos, wörtl.: ‘kopfüber stürzen’/‘umstürzen’.

339

e s’il moron can si son trebailhat, e nus non pren guarda d’aquel viage.» (V. «Herr Daspol, wenn die Prinzen und Prälaten in ihren Herzen etwas Liebe für mich hätten und sich mitleidvoll daran erinnerten, wie ich ans Kreuz geschlagen wurde für die Menschheit, würde jeder gern die Reise unternehmen, wenn sie meines Bluts gedenken würden, das ich vergossen habe. Und auch wenn sie nach großen Qualen sterben, sorgt sich niemand um diese Fahrt.») VI.

«Bel seinher Dieus, ben mot aures parlat, e pogras ben revenir sest damnage s’als Sarazins donases volontat cascus per si conoges son follage; pueis non calgra negus anar arage, pueis que cascus conogra sa foudat, car nos prendem mort per lur viell peccat, e vos es leu que·ns gites a carnage.»

5

(VI. «Guter Herr Gott, Ihr habt sehr gut gesprochen, und Ihr könntet wohl diesen Schaden zum Guten wenden, wenn Ihr den Sarazenen den guten Willen schenktet, sodass jeder für sich seine Torheit erkennen würde. Dann müsste niemand mehr umherirren, da jeder seinen Irrtum erkennen würde, denn wir sterben für deren alte Schuld und für Euch ist es leicht, uns ins Blutbad zu werfen.») VII.

«[Seinher] Daspol, de Templ’e d’Espital e dels ordes comensat ab santeza s’es devengut que·n luoc de ben fan mal, e volon trop dormir en lur maleza, car tutz son plens d’erguelh e d’avareza; e non volon pensar d’autre jornal, mas ie·ls farai camjar cambr’es hostal – que·l plus ardit de totz n’aura fereza.»

5

(VII. «Herr Daspol, die Templer, Hospitaler und alle Orden, die in der Heiligkeit ihren Ursprung haben, tun nun statt Gutes Böses, und sie wollen zu lange in ihrer Boshaftigkeit schlummern, denn sie sind alle sehr hochmütig und gierig. Und sie wollen nicht an einen neuen Tag denken, aber ich werde sie alle dazu bringen, ihren Schlafsaal und selbst ihr Haus zu verlassen,72 sodass sich auch der Mutigste unter ihnen fürchten wird.») VIII.

5

«Bel seinher Dieus, la gloria rial pogras emplir s’esquivases lageza; pos conoises que tutz son deslial, per que·[l]s laisa[s] reinhar en lur vileza? E pues le mont si pert per cobezeza, donas nos tant, que tutz siam egual; e pueis serem tutz fin e natural, cascun volra pensar de sa nobleza.»

(VIII. «Guter Herr Gott, Eurem königlichen Ruhm könntet Ihr gerecht werden, wenn Ihr schändliche Taten verweigern würdet, denn Ihr wisst, dass sie alle unehrenhaft sind. Weshalb lasst Ihr sie in ihrer Niederträchtigkeit handeln? Und da die Welt an Habsucht zugrun72

VII, 7 camjar, wörtl.: ‘ändern’.

340

de geht, gebt uns so viel, dass wir alle gleich sind. Und da wir dann alle aufrichtig und vollkommen sein werden, wird jeder an seine Würde denken wollen.») IX.

E pueis m’esprit, mas Dieus per sa santeza vuella, si·l plas, que·l rei e·l cardenal e li prelat e·l prinser sian tal c’usquecs vuella fenir en gran boneza.

(IX. Und dann wachte ich auf, doch möge der heilige73 Gott, wenn es ihm gefällt, tun, dass die Könige und die Kardinäle und die Prälaten und die Prinzen so werden, dass jeder von ihnen in großer Güte zu sterben wünscht.) X.

Rei d’Aragon, pair’e fil de prozeza, castel de pres, fons de so per c’om val, mon som ie·us dic, seinher, si Dieus vos sal, que menares en dreg vostra franqueza.

(X. König von Aragon, Vater und Sohn der Tapferkeit, Schloss der Wertschätzung, Quelle dessen, was dem Menschen Wert verleiht, meinen Traum erzähle ich Euch, Herr. Wenn Gott Euch bewahrt, werdet Ihr weiterhin rechte Güte erweisen.)

{S b, 10} Cerveri de Girona: Entr’Arago e Navarra jazia (BdT 434, 7a) (Cerveri de Girona, Nr. 15)

I.

5

Entr’Arago e Navarra jazia en tal mayzo que de sus me plovia, e lamps ab tro e vens plugs y fazia; mays puis fo bo ço qu’en durmen vezia que cil cuy so missatge·m trametria74 de tal razo que per re no diria.

(I. Ich schlief zwischen Aragon und Navarra in einem solchen Haus, in dem der Regen auf mich fiel. Und es gab dort Blitze mit Donner und einen regnerischen Wind. Aber schön war, was ich später im Schlaf sah. Diejenige, der ich gehöre, übersandte mir nämlich Nachrichten von solchem Inhalt, dass ich es um nichts auf der Welt verraten würde.) II.

5

Ja vezio vi on gran joy avia, la vespra fo de Totz Sans que dormia; e querray do a ma dona que·m dia cela sazo si de mi·l sovenia. Ay! car no so lay on tan gen se lia e que ab so dixes ço que solia.

(II. Ich sah da eine Erscheinung, die mir große Freude bereitete. Es war am Vorabend von Allerheiligen, als ich träumte. Und ich werde meine Dame um eine Gabe bitten, dass sie mir nämlich sagt, ob sie in jener Zeit an mich dachte.75 Ach, warum bin ich nicht dort, wo sie sich so anmutig ankleidet, sodass ich ihr mit Gesang sagen könnte, was ich sollte.)

73 74 75

IX, 1 per sa santeza, wörtl.: ‘vermittels seiner Heiligkeit’. Cf. eine andere Interpretation des Verses (I, 5) bei Grimaldi (2008, 23), der que cil cuy so missatge·m trametria mit ‘che colei che mi inviava il suo messaggero’ übersetzt. II, 4 sovenir, wörtl.: ‘sich erinnern’.

341

III.

L’autra jorn pres en la canbra·m estava on midons es, e tan gen mi baisava plus de cen ves c’un sol [tan] no·m pauzava; e·ns sobrepres una76 qui la·m guardava, mas per ço ges del baysar no·s laxava ans dix que77 res non era s·il pezava.

5

(III. Neulich war ich Gefangener78 in der Kammer meiner Herrin, und sie küsste mich so anmutig, mehr als hundert Mal, denn kein einziges Mal ruhte sie dabei. Und eine von jenen, die mich dort bewachten, überraschte uns, doch sie hörte deshalb nicht auf, mich zu küssen, vielmehr sagte sie, dass es ohne Bedeutung wäre, wenn es sie [den Wächter/die Wächterin] störte.) IV.

Er auziretz ço don eu la preyava: que mi baizes tan, pus axi m’onrava, tro que·m nuges; pero no·m acordava que·m desplagues, si totz temps m’o durava… Si tan cortes ostals totz jorns trobava!79 Ay! cors cortes! Si con durmen estava, si ans d’un mes veylan pres m’alegrava!

5

(IV. Nun sollt ihr vernehmen, worum ich sie bat: dass sie mich so sehr küssen sollte – denn so ehrte sie mich –, bis ich davon müde wurde. Doch kam es mir nicht in den Sinn,80 dass es mir missfallen könnte,81 auch wenn es die ganze Zeit so andauern sollte… Könnte ich doch nur jeden Tag eine so höfische Herberge finden! Ach, höfischer Körper! So wie es mir im Schlaf erging, wollte sie mich doch, noch bevor ein Monat vergeht, im Wachen ganz nah82 so erfreuen!)

76 77

78

79

80

81 82

III, 4 vermutlich verweist una auf la gayta, was die feminine Form erklärt. Wir weichen an dieser Stelle von Riquer ab, der «qu’en» notiert und folgen dem Vorschlag von Lewent (1962, 9), der die Präposition en streicht und res non era mit «it would not be of any importance, it would not matter» übersetzt. Zur Problematik der Übersetzung von III, 6 cf. Grimaldi (2008, 29/Anm. 18), der diverse Übersetzungsvorschläge diskutiert. Zu III, 1 pres cf. Lewent (1962, 7): «it cannot be anything but the past participle of prendre. […] It seems to be substantivized and as such may signify ‘as a prisoner’, here used as an expression of the language of love». Grimaldi (2008, 22) vermutet – in Anlehnung an Lewent (1962, 12s.) – wegen der Überlänge der vierten cobla das Fehlen eines Verses (nach IV, 4) und versteht die letzten beiden Verse (IV, 5s.) als tornada : «si ipotizza la caduta di un verso nella quarta cobla e si separano gli ultimi due versi a mo’ di tornada. Quindi si avrà una ipotetica struttura di quattro coblas di sei decenari con rima interna, più una tornada di due versi con ripresa di rime dall’ultima cobla». Wir folgen hier dem Übersetzungsvorschlag von Lewent (1962, 10): «The Provençal dictionaries do not offer a suitable [translation; Anm. G. B.], which may indicate that we face here a catalanism […]. So I suggest to render no m’acordava by ‘it did not enter my mind’ or ‘the thought did not occur to me’». Cf. zu nuges (IV, 3) auch die Lesart von Cormines (Cerveri de Girona a), II, 211): «tro que·m n’ugés». Coromines (Cerveri de Girona a), II, 211) deutet auch dieses pres als Partizip von prendre.

342

c)

altfranzösisch {S c, 1} Anonym: C’est en mai au mois d’esté que florist flor (Rosenberg/Tischler 1995, Nr. 81)

I.

5

C’est en mai au mois d›esté que florist flor, Que trestout cil oiselet sont de nouvel ator. Dou douz chant des oiselons li cuers m’esprent; Li rosignous m’i semont que j’aime loiaument. En cel lieu je m’endormi mult tres simplement; Une pucelette i vint, mult cortoisement; M’esgarda sanz mautalent.

(I. Im Frühlingsmonat Mai, wenn die Blume blüht, sind die Vöglein alle im neuen Putz. Beim süßen Gesang der kleinen Vögel entflammt mein Herz, die Nachtigall trägt mir auf, treu und aufrichtig zu lieben. An diesem Ort schlief ich ganz einfach ein, ein junges Fräulein kam dorthin, ganz höfisch. Sie schaute mich ganz arglos an.) II.

5

Je la pris, si l’enbraçai demaintenant, L’acolai et la baisai sanz nul demorement; Le gieu d’amors li vueil faire sanz arestement. «Sire, que volés vos faire? dist la pucelote; Vos m’avrois ançois doné ou sorcot ou cote, Et puis si avrois dou nostre.»83

(II. Ich ergriff und umarmte sie sogleich, umschlang sie und küsste sie auf der Stelle; unverzüglich wollte ich mit ihr das Liebesspiel beginnen. «Herr, was wollt Ihr tun?», sagte das junge Mädchen, «Sobald Ihr mir einen Überwurf oder ein Obergewand gebt, werdet Ihr etwas von mir erhalten».) III.

5

Ele avoit les euz si vairs come faucon Et si avoit bele bochë et bele façon; Ele avoit les euz rians, le nes traitis, Sa facete vermeillete com rosier floris. Nul charbon bien alumé n’est si espris Come je sui por celi en qui je sui assis; Plus l’aim que touz mes amis.

(III. Sie hatte so glänzende Augen wie ein Falke und sie hatte in der Tat einen schönen Mund und ein schönes Gesicht. Heitere Augen hatte sie und eine wohlgeformte Nase, ihr kleines Gesicht war so rosig wie ein blühender Rosenstrauch. Keine gut brennende Kohle glüht mehr als ich für sie, der ich mich geweiht habe. Ich liebe sie mehr als alle meine Freunde.) IV.

5

83

Certes que quant la regart, il m’est avis El me semble mult bien faite et de cors et de vis; Ele resenble a touz ceus de paradis, Et por ce la conois je et en fes en dis. El me fait touz jours trenbler [sanz doner confort] Et sospirer et fremir a si grant tort; Mes cuers en est a la mort.

Anders als für die übrigen vier coblas überliefert die einzige Handschrift (X) für diese Strophe nur sechs Verse.

343

(IV. Wenn ich sie anschaue, habe ich gewiss den Eindruck, dass ihr Körper und ihr Gesicht sehr gut gemacht zu sein scheinen. Sie ähnelt den Bewohnern des Paradieses, und deshalb kenne ich sie durch ihr Verhalten und ihr Sprechen. Sie lässt mich stets erzittern, ohne mir Trost zu spenden, und seufzen und schaudern – sehr zu Unrecht –, es ist tödlich für mein Herz.) V.

Chançonete, tu iras en mon païs Et si me diras a cele qui m’a [si] traïs Que j’amoie loiaument et de bon cuer. Di li que l’amoie plus que frere ne que suer, Et ele ne m’amoit pas ne de moi n’ot pitié, Et s’el mi vousist amer, mult en fusse lié, Mes maus me fust alegié.

5

(V. Kleines Lied, du sollst in mein Land gehen und sollst führwahr derjenigen, die mich betrogen hat, sagen, dass ich sie aufrichtig und mit gutem Herzen liebte. Sag ihr, dass ich sie mehr als einen Bruder oder eine Schwester liebte, und sie liebte mich nicht und hatte auch kein Mitleid mit mir. Und wenn sie mich hätte lieben wollen, wäre ich sehr glücklich darüber gewesen, all mein Schmerz wäre gelindert.)

{S c, 2} Thibaut de Champagne: L›autre nuit en mon dormant (Thibaud de Champagne, Nr. XLVIII)

I.

L’autre nuit en mon dormant Fui en grant dotance D’un gieu parti en chantant Et en grant balance, Quant Amors me vint devant, Qui me dist: «Que vas querant? Trop as corage mouvant; Ce te muet d’enfance.»

5

(I. Letzte Nacht, während ich schlief, empfand ich großen Kummer über einen jeu-partit, den ich sang, und ich war sehr verwirrt, als Amor zu mir kam und sagte: «Was suchst du? Dein Gemüt ist zu bewegt, und das rührt von kindischem Benehmen her».) II.

Lors tressailli durement; En grant esmaiance Dis li: «Dame, se g’entent A ma grant pesance, C’est par vostre faus senblant, Qui m’a mort si cruëlement. Partir vueil de vostre gent Par vostre esloignance.»

5

(II. Da begann ich heftig zu zittern, ganz erschrocken sagte ich ihr: «Dame, wenn ich zu meinem großen Kummer richtig verstehe, dann ist es Eure Heuchelei, die mich so grausam getötet hat. Ich will mich von Euren Leuten trennen, um mich von Euch zu entfernen.») III.

– Cil n’avra ja son voloir A longue duree Qui por mal ne paine avoir Change sa pensee; Oncor t’en puès pou doloir.

5

344

Mult doit avoir le cuer noir Qui por fere son pouoir Pert sa desirree. (III. «Derjenige wird das, was er auf Dauer wünscht, nicht erhalten, der vor Leid und Schmerz, die er verspürt, seinen Gedanken ändert. Du hast bis jetzt nur wenig Schmerz ertragen müssen. Derjenige muss ein trauerndes84 Herz haben, der trotz aller Anstrengungen die Begehrte verliert.») IV.

5

– Trop savez bien decevoir, Nus n’i a duree. Il n’est pas en son pooir, Cil qui a vos bee. Por ce m’estuet remanoir, Ne truis en vos fors espoir; Ne bonté ne puis avoir, S’el n’est conparee.

(IV. «Ihr versteht Euch sehr darauf, zu täuschen, niemand ist dabei lange am Leben geblieben. Derjenige, der nach Euch verlangt, steht nicht in seiner eigenen Macht. Deshalb muss ich daran festhalten, ich finde in Euch nichts außer Hoffnung. Und keine Gunst kann mir zuteilwerden, ohne dass ich für sie bezahlen muss.») V.

5

– N’aies si le cuer desvé, Mès en moi te fie! Qui est en ma poosté Plus mauvès n’est mie, Ainz a cent tanz plus bonté, Plus valor, plus largeté. Tost t’avrai guerredoné; Met t’en ma baillie!

(V. «Du sollst dein Herz nicht in solcher Bestürzung tragen, vertraue mir vielmehr! Derjenige, der in meiner Macht steht, dem wird nichts Schlechtes mehr zuteil, vielmehr erhält er hundert Mal mehr Gunst, mehr Wert und mehr Freigebigkeit. Ich werde dich bald entlohnen, unterstelle dich meiner Herrschaft!») VI.

5

– Tant m’avez biau sarmoné Que ne lerai mie Que ne face vostre gré. Mon cors et ma vie Met en vostre volenté, Mau gré ceus qui m’ont mellé A vous, qui j’ai creanté A estre en aïe.

(VI. «Ihr habt so wohl gepredigt, dass ich mich dazu verpflichtet fühle, nach Eurem Gefallen zu handeln. Meinen Körper und mein Leben unterstelle ich Eurem Willen trotz derer, die mich von Euch getrennt haben. Habe ich Euch doch versprochen, Euch ergeben zu sein.85) 84 85

III, 6 cuer noir, wörtl.: ‘schwarzes Herz’. VI, 7s. A vous, qui j’ai creanté/A estre en aïe: «à qui j’ai promis de rester soumis» (Thibaud de Champagne, 169).

345

VII.

Or vos pri merci, pour Dé; Que cil qui tant a amé A vous s’umelie.»

(VII. Nun erflehe ich Gnade von Euch, bei Gott, denn derjenige, der so viel geliebt hat, fällt in Demut vor Euch nieder».)

d)

galego-portugiesisch {S d, 1} Pedr’ Eanes Solaz: Eu velida non dormia

I.

(Brea 21999, II, Nr. 117, 4)

Eu velida non dormia, lelia doura, e meu amigo venia, edoi lelia doura.

(I. Ich, Schöne, schlief nicht, lelia doura, und mein Freund kam, ed oi lelia doura.) II.

Non dormia e cuidava, lelia doura, e meu amigo chegava, edoi lelia doura.

(II. Ich schlief nicht und dachte nach, lelia doura, und mein Freund kam her, ed oi lelia doura.) III.

E meu amigo venia, lelia doura, e d’ amor tan ben dizia edoi lelia doura.

(III. Mein Freund kam, lelia doura, und sprach so gut von Liebe, ed oi lelia doura.) IV.

E meu amigo chegava, lelia doura, e d’ amor tan ben cantava, edoi lelia doura.

(IV. Mein Freund kam her, lelia doura, und sang so gut von Liebe, ed oi lelia doura.) V.

Muito desejei amigo, lelia doura, que vos tevesse comigo, edoi lelia doura.

(V. Sehr wünschte ich, Freund, leilia doura, dass ich Euch bei mir hätte, ed oi lelia doura.) VI.

Muito desejei, amado, lelia doura, que vos tevess’ a meu lado, edoi lelia doura.

(VI. Sehr wünschte ich, Geliebter, leilia doura, dass ich Euch an meiner Seite hätte, ed oi lelia doura.)

346

VII.

Leli leli, par Deus, leli lelia doura, ben sei eu que[n] non diz leli, edoi lelia doura.

(VII. Leli, leli, bei Gott, leli, leilia doura, ich weiß wohl, dass er nicht leli sagt, ed oi lelia doura.) VIII.

Ben sei eu que[n] non diz leli lelia doura, demo x’ é quen non diz leli, edoi lelia doura.

(VIII. Ich weiß wohl, dass er nicht leli sagt, lelia doura, ein Teufel ist, der nicht leli sagt, ed oi lelia doura.)

{S d, 2} Johan Meendiz de Briteiros: Deus, que leda que m’esta noyte vy (Johan Mendiz de Briteyros, Nr. VII)

I.

Deus, que leda que m’esta noyte vy, amiga, en hun sonho que sonhey! Ca sonhava, en como vos direy, que me dizia meu amig’assy: «Falade mig’, ay meu lum’ e meu ben!»

(I. Gott, wie glücklich habe ich mich diese Nacht gesehen, Freundin, in einem Traum, den ich geträumt habe. Denn ich träumte, wie ich Euch sagen werde, dass mein Freund so zu mir sprach: «Sprecht mit mir, mein Licht und mein höchstes Gut».) II.

Non foy non mundo tan leda molher en sonho, nem-no podia seer, ca sonhey que me veera dizer aquel que me, milhor que a sy quer: «Falade mig’, ay meu lum’ e meu ben!»

(II. Es gab auf der Welt keine so glückliche Frau im Traum und es könnte sie darin auch nicht geben, denn ich träumte, dass er zu mir gekommen war, derjenige, der mich mehr als sich selbst begehrt, um mir zu sagen: «Sprecht mit mir, mein Licht und mein höchstes Gut».) III.

Des que m’espertey, ouvi gram pesar, ca em tal sonho avia gram sabor com o rogar-me, por Nostro Senhor, o que me sabe, mais que sy amar: «Falade mig’, ay meu lum’ e meu ben!»

(III. Nachdem ich aufgewacht war, empfand ich großen Kummer, denn in jenem Traum war ich sehr vergnügt, als er mich bat, bei unserem Herrn, derjenige, der mich mehr als sich selbst zu lieben versteht: «Sprecht mit mir, mein Licht und mein höchstes Gut».) IV.

E, poys m’espertey, foy a Deus rogar que me sacass’aqueste sonh’a bem.

(IV. Und, nachdem ich aufgewacht war, betete ich zu Gott, er möge für mich diesen Traum zum Guten wenden.)

347

{S d, 3} Johan Mendiz de Briteyros: Ora vej’eu que non á verdade (Johan Mendiz de Briteyros, Nr. VIII)

I.

Ora vej’eu que non á verdade en sonh’, amiga, se Deus me perdom, e quero-vos logo mostrar razon, e vedes como, par caridade: sonhey, muyt’á, que veera86 meu bem e meu amigu’e non veo nen vem.

(I. Nun sehe ich, dass es keine Wahrheit gibt im Traum, meine Freundin, möge Gott mir verzeihen, und ich will Euch gleich den Grund zeigen, und seht, aus Mitleid, wie: Ich habe geträumt, es ist schon lange her, dass mein Liebling und mein Freund gekommen war, und er ist nicht gekommen und kommt auch nicht.) II.

Ca non á verdade nemigalha em sonho, nen sol non é ben nen mal; e eu nunca ende creerey al, porque, amiga, se Deus me valha, sonhey, muyt’á, que veera meu bem e meu amigu’e non veo nen vem.

(II. Denn es gibt überhaupt keine Wahrheit im Traum, noch ist er nur gut oder schlecht, und ich werde nicht an etwas anderes glauben, denn, meine Freundin, Gott stehe mir bei: Ich habe geträumt, es ist schon lange her, dass mein Liebling und mein Freund gekommen war, und er ist nicht gekommen und kommt auch nicht.) III.

Per min, amiga, entend’eu ben que sonho non pode verdade seer nen que m’er pode bem nen mal fazer, porque, amiga, se Deus ben mi dê, sonhey, muyt’á, que veera meu bem e meu amigu’e non veo nen vem.

(III. Was mich betrifft, meine Freundin, verstehe ich wohl, dass der Traum nicht die Wahrheit sein kann, noch kann er mir weder Gutes noch Schlechtes tun, denn, meine Freundin, möge Gott mir wohl gesinnt sein: Ich habe geträumt, es ist schon lange her, dass mein Liebling und mein Freund gekommen war, und er ist nicht gekommen und kommt auch nicht.) IV.

E poys se foy meu amigu’e non ven, meu sonh’, amiga, non é mal nen bem.

(IV. Und wenn es denn mein Freund war und er nicht mehr kommt, ist mein Traum, meine Freundin, weder gut noch schlecht.)

86

Cf. die divergierenden Deutungen der Form als Plusquamperfekt von viir bei Nunes (Amigo, III, 702) und als Futur von veer bei Mettmann (1972, 314).

348

e) altitalienisch {S e, 1} Anonym: Poso ’l corpo ’n un loco meo pigliando (Coluccia 2008, 49.77)

5

10

Poso ’l corpo ’n un loco meo pigliando E svarïando la memoria giva; un’ive nobel figura restando e riguardando stava me pensiva, dubbiosamente grand’or dimorando, forte dottando se gente veniva, e, non vedendo, me un flor donando, che odorando, poi el molto auliva. Ed eo sentendo su l’odor levai e riguardaï per veder l’albóre che·ffé tal flore: vidil no già nente. E, non vedendol, misim’al sentore, e per l’odore l’albore trovai e riposai all’ombra lungiamente.

(Ich ruhte mich an einem Ort aus, den ich wählte – die Erinnerung schweifte hin zu einer edlen Gestalt, bei der sie in Anschauung verharrte und nachdenklich blieb. Sie verweilte dabei voller Furcht87 viele Stunden, und ich war sehr besorgt darüber, dass Leute kommen könnten.88 Und ich sah nicht, wie man mir eine wohlriechende Blume gab, die dann sehr duftete. Und als ich den Duft roch, stand ich auf und schaute umher, um den Baum zu sehen, der eine solche Blume hervorbringt, und ich sah ihn nicht mehr. Und da ich ihn nicht sah, folgte ich der Wahrnehmung, und über den Duft fand ich den Baum und legte mich ganz lange im Schatten nieder.)

{S e, 2} Paolo Lanfranchi: L’altrer, dormendo, a mi se venne Amore (Savino 1982, Nr. I)

5

10

L’altrer, dormendo, a mi se venne Amore e desedòmi e disse: «Eo so mesazo de la tua dona che t’ama di core se tu, plu che non soy, se’ fatto sazo.» Da la sua parte mi donò un flore che parse per semblanti ’l so visazo; alor nel viso canzay lo colore, credendo el me diçesse per asazo. Però cum grand temença el dimanday: «Come [si] sta la mia dona çentile?» Et el me disse: «Ben, se tu ben stay». Alora de pietà devenni humile. Elo spario; plu non gli parlay; parsemi quasi spir[i]to sotile.

(Neulich, als ich schlief, kam Amor zu mir. Er weckte mich und sagte: «Ich bin der Bote deiner Dame, die dich von Herzen liebt, wenn du weiser bist als üblich». Er händigte mir eine Blume aus, die so aussah wie ihr Gesicht. So wechselte ich meine Gesichtsfarbe und glaubte, dass er es sagte, um mich auf die Probe zu stellen. Dennoch fragte ich ihn voller

87 88

V. 5 dubbiosamente: ‘con timore’ (Coluccia 2008, 1006). V. 6 forte dottando se gente veniva: «Molto preoccupata che venisse gente» (ibid.).

349

Furcht: Wie geht es meiner edlen Dame?» Und er sagte mir: «Gut, wenn es dir gut geht.» Dann wurde ich vor Mitleid demütig. Er verschwand; ich sprach ihn nicht mehr; er schien mir, ein subtiler Geist zu sein.)

{S e, 3} Paolo Lanfranchi: Dime, Amore, vorestú tornare (Savino 1982, Nr. II) «Dime, Amore, vorestú tornare de la mia parte a la donna mia?» «Sí, se tu vogli, ma el è folia, ché talor nose lo tropo adastare.» «E lo meo core vi vol pur andare, e ti demanda en sua compagnia». «Di presente me meterò en via, da po’ ch’eo vezo ch’a lui e ti pare. Or me di’ ço che tu voy che gli dica: che tu no fini clamare merce?» «Per zo non è besogno andar né-mica, per aventura ch’ella no ti crede. Sí fa’: ché de mi vive e se nutrica, e ’l cor non pò durar se no la vede».

5

10

(«Sag mir, Amor, würdest du in meinem Namen noch einmal zu meiner Dame gehen?» «Ja, wenn du willst, doch es ist Wahn, denn zu starke Aufregung ist schädlich.». «Doch mein Herz will selbst dorthin hingehen und bittet dich, es zu begleiten». «Sogleich werde ich mich auf den Weg machen, nachdem ich verstanden habe, was ihm [deinem Herzen] und dir gefällt. Nun sag mir, was es ihr sagen soll: dass du nicht aufhörst, um Erbarmen zu flehen?» «Dafür muss man überhaupt nicht hingehen, vielleicht glaubt sie dir nicht. Sprich so: dass sie von mir leben und sich nähren soll, und dass das Herz nicht weiter leben kann, wenn es sie nicht sieht.»)

{S e, 4} Paolo Lanfranchi: L’altrer, pensandomi, emaçinay (Savino 1982, Nr. III) L’altrer, pensandomi, emaçinay mandare Amor[e] a la donna mia, et a luy plaque, per sua cortesia, andar a lëy, tanto nel pregay. Poi retornò e disseme: «Che fay? Tutta l’ò misa ne la tua baylia: y’, ti so a dire ch’ el è a meza via, e vien a te, se tu a ley non vay». Po’ me ven un penser de l’altro lato89 e fortemente mi represe e disse: «Amico meo, tu ày folle pensato. Or crede t[u] ch’ ella a [te] venisse? E tu anderesti a ley? Se’ tu en estato?» Parsemi alor che l’alma se partisse.

5

10

89

Kleinhenz (1972, 192) versteht altro lato als ratio, «[that] rebukes Paolo for believing in idle fantasies».

350

(Neulich, als ich nachdachte, stellte ich mir vor, wie ich Amor zu meiner Dame schickte, und er willigte aus Höflichkeit ein, zu ihr zu gehen, so sehr bat ich ihn darum. Dann kehrte er zurück und sagte zu mir: «Was willst du tun? Ganz und gar habe ich sie deiner Macht unterworfen: Und ich kann dir berichten, dass sie schon unterwegs ist,90 und sie kommt zu dir, wenn du nicht zu ihr hingehst. Dann kam mir ein anderer Gedanke und schalt mich heftig und sagte: «Mein Freund, du hast töricht gedacht,91 glaubst du nun, dass sie zu dir käme? Und würdest du zu ihr hingehen? Bist du in der Verfassung, es zu tun? Es schien mir dann, als würde meine Seele dahinscheiden.92)

{S e, 5} Paolo Lanfranchi: Un nobel e çentil ymaçinare (Savino 1982, Nr. IV)

5

10

Un nobel e çentil ymaçinare sí me disese ne la mente mia: en verità (ch’eo alora dormia) el me paria cum la mia dona stare en un çardin, basar et abraçare, remosa çascuna altra vilania. Elle dicea: «Tu m’ày en tua bailia; fa’ de mi, o amor, ço che ti pare». En quel çardin sí avëa, da l’un canto, un rosignol che dicea en so latino: «Securamente per vostro amor canto.» Y’ mi sveglay ché sonava matino; considerando il ben ch’avëa tanto, venme vogla deventar patarino.

(Eine edle und liebenswürdige Phantasie93 sprach so zu mir in meinem Geiste: Als ich in Wahrheit schlief, schien mir, als wäre ich mit meiner Dame zusammen in einem Garten, wo ich sie küsste und umarmte, fern jeder Schändlichkeit. Sie sagte: «Ich stehe ganz in deiner Macht. Mach mit mir, oh Liebster, was dir gefällt.» In einer Ecke jenes Gartens war eine Nachtigall, die in ihrem Lied94 sagte: «Gewiss singe ich um eurer Liebe willen». Und ich erwachte, da die Morgenglocke erklang. Nachdem ich die Gunst bedacht habe, die mir zuteilwurde, wollte ich Ketzer 95 werden.)

{S e, 6} Dante da Maiano: Provedi, saggio, ad esta visïone (Dante da Maiano, Nr. LIV)

5

90 91 92 93 94 95

Provedi, saggio, ad esta visïone, e per mercé ne trai vera sentenza. Dico: una donna di bella fazzone, di cui el meo cor gradir molto s’agenza, mi fé d’una ghirlanda donagione, verde, fronzuta, con bella accoglienza;

V. 7 el è a meza via, wörtl.: ‘sie ist in der Mitte des Wegs angelangt’. Kleinhenz (1972, 189) übersetzt pensando (v. 1) und pensato (v. 11) mit «daydreaming/ daydreams». Kleinhenz (1972, 192) versteht den Vers so, dass das lyrische Ich der Moral den Rücken kehrt und sich ganz dem körperlichen Begehren hingibt. Cf. Savino (1982, 88/Anm. 1): ymaçinare (v. 1) ‘visione’/‘sogno’. Cf. Savino (1982, 89/Anm. 10): latino (v. 10) ‘il verso’/‘il canto degli uccelli’. Cf. Savino (1982, 90/Anm. 14): patarino (v. 14) ‘eretico’.

351

appresso mi trovai per vestizione camiscia di suo dosso,96 a mia parvenza. Allor di tanto, amico, mi francai che dolcemente presila abbracciare: non si contese, ma ridea la bella. Così ridendo, molto la basciai: del più non dico, ché mi fé giurare. E morta, ch’è mia madre, era con ella.

10

(Betrachte aufmerksam, Weiser, diese Vision, und finde, aus Erbarmen, deren wahre Bedeutung. Ich sage: Eine Frau von schöner Gestalt, der mein Herz, um (ihr) zu gefallen, ihr sehr zugetan ist, schenkte mir mit schönem Gruß einen Blumenkranz, der grün und reich belaubt war. Später fand ich zum Ankleiden ein Hemd in ihrer Größe, glaube ich. Dann nahm ich, Freund, sehr viel Mut zusammen, sodass ich sie lieblich fasste und umarmte. Sie wich nicht zurück, sondern lachte, die Schöne. So küsste ich sie oft, während sie lachte. Mehr sage ich nicht davon, denn sie nahm mir ein Versprechen ab. Und eine Tote, die meine Mutter ist, war mit ihr.)

96

V. 8 di suo dosso: «di sua misura» (cf. Dante da Maiano, 175/Anm. 8).

352

9.

Abbildungen

Abb. 1: Bibliothèque nationale de France, nouvelles acquisitions françaises 4531, fol. 64r.

Abb. 2: Bibliothèque nationale de France, nouvelles acquisitions françaises 4531, fol. 64v.

Abb. 3: Biblioteca Apostolica Vaticana, Urbinates latini 376, fol. 1r.

353

Abb. 4: Bibliothèque nationale de France, manuscrit français 537, fol. 1.

Abb. 5: Bibliothèque nationale de France, manuscrit français 1565, fol. 1.

354

Abb. 6: Bibliothèque nationale de France, manuscrit français 846, fol. 69v.

Abb. 7: Bibliothèque nationale de France, manuscrit français 846, fol. 85v.

Abb. 8: Bibliothèque nationale de France, manuscrit français 846, fol. 106v.

355

Abb. 9: Bibliothèque nationale de France, manuscrit français 1565, fol. 136.

Abb. 10: New York, Pierpont Morgan Library, manuscript 819, fol. 66r. (Zeichnung: G. B.)

Abb. 11: Firenze, Biblioteca Laurenziana, manoscritto Acquisiti e Doni 153, fol. 257v. (Abbildung aus: Paravicini Bagliani, Agostino/Stabile, Giorgio (edd.), Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien, Stuttgart/ Zürich, Belser, 1989, 205/ Farbabbildung 36.)

356

10. Bibliographie

1.

Handschriften

okzitanische Handschriften B C E I K M R T Z f

Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris,

Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque

nationale nationale nationale nationale nationale nationale nationale nationale nationale nationale

de de de de de de de de de de

France, France, France, France, France, France, France, France, France, France,

manuscrit manuscrit manuscrit manuscrit manuscrit manuscrit manuscrit manuscrit manuscrit manuscrit

français français français français français français français français français français

1592. 856. 1749. 854. 12473. 12474. 22543. 15211. 1745. 12472.

französische Handschriften K M N O R S T U V X k Y

Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris, Paris,

Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque Bibliothèque

de l’Arsenal 5198. nationale de France, nationale de France, nationale de France, nationale de France, nationale de France, nationale de France, nationale de France, nationale de France, nationale de France, nationale de France, nationale de France,

manuscrit français 844. manuscrit français 845. manuscrit français 846. manuscrit français 1591. manuscrit français 12581. manuscrit français 12615. manuscrit français 20050. manuscrit français 24406. nouvelles acquisitions françaises 1050. manuscrit français 12786. manuscrit français 795.

katalanische Handschriften Sg

Barcelona, Biblioteca de Catalunya Ms. 146. (http://mdc.cbuc.cat/cdm4/document.php? CISOROOT=/manuscritBC&CISOPTR=24511&REC=1 [letzter Aufruf 06.06.11]) VeAg Barcelona, Biblioteca de Catalunya Ms. 7.

357

2.

Wörterbücher, Lexika und andere Nachschlagewerke

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4.

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11. Index nominum et rerum

Aimeric de Belenoi 69, 95, 99–100 Aimeric de Peguilhan 257 alba (cf. aube, alva, tageliet, Tagelied) 1–7, 11, 18–35, 42, 44, 47–58, 61–64, 105, 107–111, 114–119, 121–122, 145–147, 149–187, 189–196, 198, 214, 241, 253, 255–270, 273–279, 281–301, 318 Albertus Magnus (De somno et vigilia) 130–131, 135 alborada, cf. alvorada alvorada 30–31, 33–34, 118, 185, 188–189 Alfonso X 21, 33, 63, 108–109, 160, 177, 184, 190 alva (cf. alba, aube, tageliet, Tagelied) 32, 52, 57–58, 63–64, 109, 185, 187–191, 196, 267, 276, 312–314, 318 amar desamatz 26, 257 amic 52, 71, 121, 159, 161–163, 167, 169–170, 172, 174, 176, 179, 189, 202, 217, 242, 246, 248, 284–286, 292, 295–299, 327, 331, 335–337, 350, 352 amor de lonh 68–69, 77, 80, 101, 183, 246, 257, 267, 276 Andreas Capellanus (De Amore) 83, 85, 100, 154, 175, 241, 258 Aristoteles (De somno et vigilia, De somniis, De divinatione per somnum) 99–100, 123–126, 130–131, 271 Arnaut de Carcassées (Las Novas del Papagai) 2 Arnaut de Mareuil 67–68, 71–75, 77–78, 80, 84, 97, 143, 235 Arte de trovar 14, 113–114 Artemidoros Daldianos (Oneirokritika) 132 aube (cf. alba, alva, tageliet, Tagelied) 8–9, 20, 22–28, 30–31, 51, 53, 88, 109, 118, 151–154, 168, 172–173, 181, 183, 193–194, 228, 261–262, 278, 280–282, 306, 310 Aucassin et Nicolette 1, 183

Augustinus (De civitate Dei, De Trinitate) 64, 83, 124, 126–127, 129, 131, 244, 270 balada 6–7, 41–42, 72, 79, 108, 150 ballata, cf. balada Berenguer de Noya (Mirall de trobar) 119 Bernart de Ventadorn 39, 77, 84, 95–97, 106, 260 Bernart de Venzac 20, 62, 64 Bernart Marti 106, 160 Bertran d’Alamanon 20, 52, 62, 150, 155, 157–158, 160, 163, 165, 172–173, 176–177, 184, 298 Bertran de Born 7, 13 Boccaccio (Decameron) 149–150, 249 Caccia da Siena 101 Cadenet 19, 52, 107, 122, 155, 159, 162, 165–166, 170, 173, 175–177, 182, 184, 190–191, 294 Calcidius 125, 200 canso 6–14, 16, 21, 25–29, 36, 42, 50, 52, 55–59, 63, 68, 73–75, 77–82, 87, 89, 91–93, 96–98, 102, 106–107, 110–112, 114–117, 120, 146–149, 154, 157, 162, 164, 170, 171, 174–175, 191–192, 207, 210, 216–217, 219, 225, 233, 237, 256, 262, 266–267, 274–276, 278, 311, 331 cantiga 30–34, 47, 51–52, 54, 58, 70, 79, 81, 85–87, 89, 92, 97, 114, 148, 160, 176, 184–192, 195–198, 238, 249, 252–253, 265, 267–268, 274–277 Carmina Burana 47, 56–57, 65–67, 80, 83, 219–220, 320 Carmina Riuipullensia 47 cavalier, cf. amic celar 25, 27, 29, 50, 95, 146–147, 154, 163, 165, 175, 183, 236, 242–243, 261, 266, 270, 275, 278, 287 Cercamon 82, 106 Cerveri de Girona 11, 15–16, 20, 61, 83,

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92–93, 108, 110, 112, 120, 177–178, 184, 198, 222, 227, 235–237, 341–342 chantefable 1, 41, 183 chanson, cf. canso chanson de croisade, cf. Kreuzlied Chastelaine de Vergi 1, 183 Chiaro Davanzati 242–243 Chrétien de Troyes (Perceval) 54, 164, 211, 252 Cicero (De divinatione) 123–124 Cino da Pistoia 222, 242 Cione Baglione 243 cobla 8, 11, 16–17, 50, 52, 63–64, 67, 70–71, 73–74, 93, 106, 108, 111, 117, 120–121, 148, 153, 156–158, 160–161, 163, 165–166, 168, 173–174, 176, 178–179, 181, 185, 192–194, 196, 198, 201–206, 210–212, 214–217, 219–221, 228, 234–237, 239, 245–248, 250, 253, 256, 260–261, 288, 342–343 cobla esparsa 17, 58, 115, 235 comjat 26, 51, 67–68, 78, 111, 148, 165, 295, 297 consirar (cf. cuidar) 65, 87–94, 98, 193, 201, 233, 254, 256, 267, 277 contemplatio 95, 97, 237, 251, 268, 277 contra-alba (contre-alba, anti-aube) 23–24, 110, 191, 192–193 cossir 3, 14–15, 71–72, 91, 115, 120–121, 178–179, 191–192, 194–195, 197, 253, 255, 262, 270, 279 cuidar (cf. consirar) 87, 91–92, 254, 268, 277 Dame, cf. domna dansa 6–8, 11, 22, 108, 111, 114, 115, 120, 151 Dante Alighieri (Vita Nova, Commedia) 2, 98–99, 102, 218, 222, 224, 236, 242–243, 250–251, 259, 262 Dante da Maiano 227–228, 241–242, 250, 351 Débat de la demoiselle et du clerc 138 desconort 14–15, 115, 120 descort 6–7, 11, 81, 107, 110–111, 114–115, 120 dictatz no principals 4–5, 8, 15–16, 120–121, 265, 269, 273–274, 278, 282 dictatz principals 7, 114, 120, 122, 269, 278 Dietmar von Aist 263 disputatio in somnio 199–200, 213–214, 216, 222–224, 271, 280

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Doctrina de compondere dictats 13, 16, 113–120, 122, 146, 156, 198, 213, 245, 265, 269, 274, 278 Dom Denis 20, 30, 32–34, 52, 54, 58, 86, 148, 186–189, 312–313 domna 4, 14, 18, 25–26, 35, 57–61, 67–72, 75, 78, 80, 82–83, 87, 89–90, 92–97, 99–102, 117–119, 122, 138, 146–149, 154, 156–157, 159–163, 170, 175, 179, 182–183, 189, 193–194, 199–200, 205–209, 211–212, 216–218, 221, 223, 225, 234–237, 240, 242–243, 248–249, 261, 263, 267, 269, 271–272, 276, 278, 280–281, 285–286, 293, 295, 301, 304, 307–309, 325, 327, 333–336, 341, 344, 349–351 donna angelica 59, 267, 276 dorveille 93, 233, 245, 248 enueg 7–8, 14, 115, 120 envoi, cf. tornada escondich 7 estampida 7, 10–11, 95, 107, 110, 115–116, 120 estampie, cf. estampida estribot 7, 40 Evrard de Trémaugon (Songe du Verger) 139–140 explicatio somniorum 200, 204–205, 209, 242–243, 271, 280 Falquet de Romans 11, 20, 62, 67–68, 78, 102 fals’amor 165, 208, 295 Federico II (Friedrich II.) 148, 203, 211 figura mentis 98–99, 101–103, 268, 277 fi n’amor 19, 50, 69, 73, 75, 81, 85, 101, 103, 164–165, 170–171, 206, 211 Flamenca 2, 218, 222, 251, 258, 328 Folquet de Marselha 97, 100, 102, 149, 256–257 Friedrich von Hausen 14, 263–264 Gace Brulé 20, 39, 51, 56, 58, 78, 88, 92, 151, 153, 171, 261, 310 Garin lo Brun 111, 215 Gautier de Dargies 73, 237 gayta (Wächterfigur) 2, 24, 26, 32, 34, 50, 52, 118–120, 122, 146–147, 153, 155–160, 162–167, 169–170, 172–173, 175–177, 181, 183, 191, 237, 260, 269–270, 278, 283–286, 288, 292–293, 295, 298–299, 304, 306

gayta (Wächterlied) 21–22, 34, 115–116, 118–119, 122, 146, 155–156, 169, 178, 181, 269, 278–279 gelos 52, 146, 147, 169–171, 179, 183, 195, 209, 249, 269–270, 278, 292, 334 gelozesca 15, 113, 115–116 genres objectifs 8, 22, 265, 274 genres subjectifs 7–8, 265, 274 Giacomo da Lentini 59–60, 72, 100–102, 148–149, 237, 241 Giacomo Pugliese 39, 59 grand chant courtois 5, 8–9, 27 Gregor der Große (Dialogi) 124, 126–129, 135, 270 Guido Orlandi 243 Gui d’Ussel 36 Guilhem d’Autpol 16, 20, 62, 76, 107–108, 213–214, 338 Guilhem de Peitieu (Guilhem IX) 8, 13, 18, 54, 56, 91, 93, 244–245, 248, 325–326 Guilhem de Saint-Didier 16, 201, 205–206, 209, 211, 225, 333 Guillaume de Conches (Glosae super Platonem) 129–130, 133–134, 225 Guillaume de Lorris (cf. Rosenroman) 221, 227, 258, 261 Guillaume de Palerne 2, 132 Guillaume de Saint-Thierry (De natura corporis et animae) 219, 363 Guillaume Molinier (cf. Leys d’Amors) 113, 120–121, 192, 269, 278 Guiraut de Bornelh 16, 19, 23, 50, 61, 106, 110–112, 122, 155, 158, 168, 184, 201–202, 210, 212, 228, 246–247, 261, 290, 330 Guiraut Riquier 6–7, 13, 20–23, 29, 52–53, 56, 62, 106, 108, 110, 118, 120, 177, 184, 191–194, 300–301 Heinrich von Morungen 14, 138, 142, 263 Homer (Odyssee) 123–124 Honorius Augustodunensis (Elucidarium) 128, 135 Ibn Hazm (Das Halsband der Taube) 68, 83, 85, 166–167, 171–172, 175, 225–226, 256 imaginatio 3, 45, 101–103, 126, 243, 246, 250 insomnium (cf. songe érotique) 65, 67– 68, 73, 77, 94, 125, 129, 193, 199, 201, 224–225, 227–228, 230, 233, 235–236,

241–242, 253, 256–261, 264, 267–268, 270–273, 276–277, 279, 281–282 Jacopo d’Aquino 68, 100–101 Jaufre Rudel 13–14, 17–18, 67–68, 70, 77, 193, 246, 249, 267, 276 Jean de Meun (cf. Rosenroman) 201, 248, 258, 262 Jeu de Sainte Agnès 107–108 jeu-parti 9, 220, 344 Joan d’Albusson 16, 201–204, 336–337 Johan Airas de Santiago 21, 30, 33, 55, 66 Johan Mendiz de Briteyros 15, 58, 79, 227, 238–240, 259, 347–348 Johannes von Salisbury (Policraticus) 129–130, 133, 225, 233, 271, 279 joi 54, 65–67, 69–72, 74–75, 77–78, 81, 85, 88, 91, 93–96, 98, 142, 146–147, 150, 153, 163, 171–172, 174–176, 182, 193, 206–207, 209, 253, 255, 257–258, 260–261, 267, 270, 273, 276, 278, 281, 286, 305–306, 308, 334 Juyão Bolseyro 20–21, 30, 32, 51–53, 86–87, 192, 195–198, 238, 315–317 Kanzone, cf. canso khardja 19, 30, 53, 58, 267, 275 Klagelied, cf. planh Kreuzlied 6, 7, 9–11, 42, 148, 180 Lanfranc Cigala 16, 213, 215–217, 334 lausengiers 52, 147, 163, 170–171, 195, 270, 278, 286–287 Le Châtelain de Coucy 56, 97 Leys d’Amors (cf. Guillaume Molinier) 7, 15, 22, 91, 113–115, 120–122, 192, 269, 278 Liebesbrief, cf. salut d’amor locus amoenus 54, 73, 185, 206, 231, 233–234, 240, 251, 264, 267, 272, 275, 281 Macrobius (Commentarii in Somnium Scipionis) 124–126, 129–130, 133, 199–201, 203–204, 213, 225, 243, 270–271 Maestro Francesco 60, 148 mal-mariée 45, 162, 182 Marcabru 13–14, 106, 205 Marie de Champagne 154 memoria 66, 97, 100–101, 127, 149–150, 154, 244, 250–251, 268, 272, 277, 281, 349

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Mönch von Salzburg 263 motet 10, 151–152 Mula de’ Muli 242 muwashshah 53 Nicole de Margival (Dit de la Panthère) 2, 202, 206, 236, 260 Nicolet de Turin 16, 201, 203–204, 336 Nuno Fernandez Torneol 20, 30–32, 51, 184, 186, 190, 314 oraculum 125–126, 128, 213, 270–271, 279–280 Ovid (Amores, Fasti, Heroides, Metamorphosen) 17, 65–66, 71, 77, 83, 173, 192, 220, 232–233, 247, 257, 262 Paolo Lanfranchi 213, 222–224, 227, 240, 241, 250, 349–351 partimen 7–8, 11, 14, 108, 114–115, 120, 148 pastorela 6–8, 10–11, 14, 21–22, 25–26, 30, 33, 42, 55, 70, 87, 114, 120, 122, 151, 153, 159, 162, 186, 214, 225, 231–233, 236, 246, 248, 264, 266–267, 272, 274–275, 281 pastourelle, cf. pastorela Pedr’Eanes Solaz 244, 252, 346 Peire Cardenal 13, 62–63, 89 Peire d’Alvernha 56, 71, 107, 111 Peire Espanhol 20, 63–64 Peirol 59, 80, 84–85, 90–91, 106, 218, 220 Percivalle Doria 57 Pero Meogo 20, 30, 32, 54, 58, 187–189, 311–312 Philippe de Novare 181–182 Pier della Vigna 59, 241 pingere nella mente 99, 268, 277 planh 6–7, 9, 11, 14, 41, 111, 115, 214, 229 Platon (Phaidros, Symposion) 67, 69, 83, 94, 103, 123, 129, 134, 218, 247 plazer 7–8, 115, 120 Raimbaut d’Aurenga 13, 40, 81, 87 Raimbaut de Vaqueiras 6, 19, 81, 107, 155–157, 169, 173–175, 292 Raimon de las Salas 19, 51, 111, 155, 160, 168–169, 173, 296 Raimon Jordan 91, 218, 220 Rätsellied 7, 246

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razo 11, 44, 96, 109, 111–112, 116–117, 119, 210, 218, 220, 269, 278 Razos de trobar (Raimon Vidal) 15, 113–120, 146, 198, 213–214 Re Enzo 100 registre aristocratisant 9 registre popularisant 9, 25, 53, 79, 116, 151, 267, 275 remirar 90, 94–97, 99–100, 179, 194, 201, 268, 277 retrouenge 10, 88, 153 reverdie 10, 17 Ricco da Varlungo 242 Richard de Fournival (Bestiaire d’amour) 202, 206 Rigaut de Berbezilh 58, 70, 96, 97 Rinaldo d’Aquino 57, 59, 89, 148 Roi Paez de Ribela 21, 89, 190, 318 Roman d’Enéas 80, 83 Romanze 6–8, 11, 22, 71, 248 Rosenroman 2, 130, 135, 139–143, 154, 198, 205, 221, 223, 226, 248, 251, 258, 261–262 Ruggerone da Palermo 149 salut d’amor 6, 11–12, 18, 68, 71–72, 74, 78, 80, 143, 193, 221, 235, 241, 267, 276 Salvino Doni 242–243 scuola siciliana 2, 37, 39, 43, 57, 59–61, 69, 72, 74, 89, 98–102, 148–150, 216, 222, 237, 241, 250, 267–268, 276–278 Seneca (De providentia) 124 serena 6, 16, 21–23, 28–29, 41, 52, 118, 191–192, 195 sirventes 6–9, 11–12, 14, 40, 106–108, 111, 114–115, 120, 149 somni (cf. sompni, traumliet, Traumlied) 1, 3–5, 14–18, 34–35, 42, 44, 47–49, 64–65, 68, 72, 77, 91, 93, 105, 107, 109, 111–112, 114, 116–117, 120–122, 141–142, 145, 198–199, 201–206, 208–215, 222, 227, 231, 234–237, 243, 245–246, 255–257, 260–262, 264–265, 267–270, 273–274, 276–279, 281–282, 319 Somniale Danielis 133–134, 202–204, 206, 208–209, 211 somnium 125–129, 199–201, 203–204, 211, 228, 230–231, 233, 264, 270–271, 279–280 sompni (cf. somni, traumliet, Traumlied) 15, 114, 116–117, 209, 222, 238, 245, 333

Sonett 6, 59, 61, 101, 222–224, 228, 240–243, 246, 250 songe érotique, cf. insomnium stil nuovo 59, 98, 149, 216, 222, 267, 276 Tagelied (cf. alba, aube, alva, tageliet) 1, 18, 21–27, 29–34, 47, 49, 60, 62, 107–108, 117–118, 121–122, 145–151, 153–155, 157–161, 164–166, 168, 171–174, 176–187, 190, 195, 197, 256, 260, 261–264, 269–270, 273 tageliet (cf. alba, aube, alva, Tagelied) 30, 51, 262–264, 273, 282 Tanzlied, cf. dansa tenso 6–9, 11, 14, 16, 41–42, 57, 111, 114–117, 120, 203–206, 213–215, 217–218, 220, 250, 271, 280, 339 Tenzone, cf. tenso Tertullian (De anima) 67, 82, 124–125, 128, 270, 279 Thibaud de Champagne 55, 74, 88, 141–142, 213, 220, 344–345 Thomas von Aquin (Summa Theologiae) 100, 130–132 tornada 70, 73, 76–77, 105, 107–108, 117, 120–121, 159, 162, 203, 212, 214–215, 218, 234, 246, 269, 277, 342 touge minne (cf. celar) 175 Traités de Ripoll 113–116

Traumlied (cf. somni, sompni, traumliet) 14, 16, 93, 112, 141, 198, 203–204, 211, 228–229, 231, 235, 238, 245, 259, 263–265, 270 traumliet (cf. somni, sompni, Traumlied) 14, 262–264, 273, 282 Uc de la Bacalaria 19, 53, 83, 107, 118, 192–193, 293 Uc de Saint-Circ 57, 208, 217, 257 vers 6–7, 12, 14, 18, 40, 56, 90, 92–93, 102, 106, 110–111, 113–116, 120, 244–248, 325–326, 332 vezio 15, 114, 120 vida 11, 44, 105, 109, 111, 250, 269, 278 visio 101, 125–128, 138–139, 199–200, 203, 205, 213, 218–219, 222, 224, 226–227, 231, 241–244, 250, 270, 279, 351–352 visum 125, 199, 201, 223–243, 244–245, 248, 251–252, 254–255, 262, 270–272, 279, 281 Vulgata 62 Walther von der Vogelweide 14, 142, 263–264 wânwîse 262

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