Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 EMRK: Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und spezifische Probleme in den östlichen Europaratsstaaten [1 ed.] 9783428545643, 9783428145645

Obwohl eine unabhängige Justiz eine wesentliche Voraussetzung für alle Rechtsstaaten ist, gibt es kaum eine grundlegende

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Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 EMRK: Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und spezifische Probleme in den östlichen Europaratsstaaten [1 ed.]
 9783428545643, 9783428145645

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Schriften zum Völkerrecht Band 211

Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 EMRK Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und spezifische Probleme in den östlichen Europaratsstaaten

Von

Lydia Friederike Müller

Duncker & Humblot · Berlin

LYDIA FRIEDERIKE MÜLLER

Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 EMRK

Schriften zum Völkerrecht Band 211

Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 EMRK Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und spezifische Probleme in den östlichen Europaratsstaaten

Von

Lydia Friederike Müller

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-14564-5 (Print) ISBN 978-3-428-54564-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84564-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Richterliche Unabhängigkeit ist eine notwendige Voraussetzung funktionierender Rechtsstaaten. Als im Sommer 2008 eine Stelle in der Minerva Forschungsgruppe „Richterliche Unabhängigkeit“ am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg ausgeschrieben wurde, war ich von der grundlegenden Thematik begeistert. Als Mitarbeiterin dieser Forschungsgruppe von 2008 bis 2011 war das Oberthema meiner wissenschaftlichen Arbeit damit vorgezeichnet. Die konkrete Fragestellung nach den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention entstand vor dem Hintergrund meines Interesses für den internationalen Menschenrechtsschutz. Der Fokus auf die Staaten der ehemaligen Sowjetunion erfolgte zum einen wegen meiner persönlichen Verbindung zu der Region aufgrund eines Auslandsstudienjahres an der Juristischen Fakultät der Staatsuniversität Krasnojarsk, Russland, sowie vielfältiger Aufenthalte, u. a. in Georgien und der Ukraine. Zum anderen hat ein Projekt der Minerva Forschungsgruppe und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zur Sicherung richterlicher Unabhängigkeit in Osteuropa, dem Südkaukasus und Zentralasien, an dem ich mitgewirkt habe, die Entstehung der Arbeit geprägt. Hinter der gesamten Arbeit steht daher nicht zuletzt der Antrieb, einen (praktischen) Beitrag zu den andauernden Rechtsstaatsreformprozessen zu leisten. Die Arbeit wurde im Juli 2014 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg als Dissertation angenommen. Sie wurde zwischen 2009 und Frühjahr 2012 verfasst, Rechtsprechung und Literatur sind bis Ende 2011 berücksichtigt worden. Mein Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Wolfrum für wertvolle Hinweise und die Erstellung des Erstgutachtens sowie das freundliche Bereitstellen eines Einzelbüros während der Endphase der Doktorarbeit. Herzlich bedanken möchte ich mich außerdem bei Prof. Dr. Anja Seibert-Fohr, LL.M. Ihr verdanke ich nicht nur die wertvollen Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin in ihrer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut und fruchtbare Einblicke, die ich dank des OSZE-Projekts für diese Arbeit erhalten habe. Sie hat meine Dissertation vor allem intensiv betreut – sei es im Rahmen der regelmäßigen Forschungsgruppentreffen, sei es darüber hinaus als stete, kritische wie ermutigende Begleiterin. Prof. Dr. Armin von Bogdandy, Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Wolfrum sowie Prof. Dr. Anja Seibert-Fohr, LL.M. verdanke ich zudem, dass ich einen dreimonatigen Forschungsaufenthalt am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) absolvieren durfte, von dem diese Arbeit ebenfalls profitiert hat. Der Blick hinter die Kulissen des EGMR und die Gespräche mit Richterinnen und Richtern des Gerichtshofs, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kanzlei des EGMR sowie der Venedig-Kommission haben mich bei der Analyse der Rechtsprechung und des

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Vorwort

Soft Law vorangebracht. Ihnen allen gilt mein Dank für die Zeit, die sie sich genommen haben. Für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens danke ich Prof. Dr. Bernd Grzeszick, LL.M. Mein besonderer Dank gilt außerdem der Friedrich-Ebert-Stiftung, die diese Doktorarbeit mit einem Promotionsstipendium großzügig gefördert hat. Dem Auswärtigen Amt danke ich für die freundliche Förderung der Dissertation mit einem Druckkostenzuschuss. Dank sagen möchte ich außerdem den Juristinnen und Juristen aus den vier Staaten, die für Fragen stets ansprechbar waren. Neben Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern am Max-Planck-Institut und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Büros der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH in Tiflis möchte ich namentlich Halyna Perepelyuk als Ansprechpartnerin für das ukrainische Rechtssystem danken. Dr. Dominik Steiger sei herzlich gedankt für das kritische Gegenlesen des Rechtsprechungsteils. Besonders bereichert hat die Zeit der Promotion jedoch die inspirierende Umgebung am MaxPlanck-Institut in Heidelberg: Eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen hat das Entstehen dieser Arbeit fachlich wie freundschaftlich begleitet. Namentlich möchte ich Jannika Jahn und Dr. Sigrid Mehring, LL. M. danken, die für inhaltliche Diskussionen, Rat und Zuspruch immer erreichbar waren und einzelne Teile der Dissertation gegengelesen haben. Darüber hinaus sei Julia Sattelberger und Dr. Cornelia Glinz für ihre Unterstützung sowie allen Mitgliedern der Minerva Forschungsgruppe für anregende Diskussionen gedankt. Herzlich danken möchte ich abschließend meiner Familie für die stete Unterstützung und meinem Vater, Prof. Otto-Walter Müller, darüber hinaus für die großzügige Übernahme der verbleibenden Druckkosten. Schließlich wäre jeder Dank zu klein für den Beitrag, den Martin Gropp zum Entstehen dieser Arbeit geleistet hat. Er hat sie nicht nur Korrektur gelesen und gelayoutet, sondern mich in allen Phasen der Promotion von Anfang bis Ende vorbehaltlos begleitet, bestärkt und unterstützt. Frankfurt am Main, im November 2014

Lydia Friederike Müller

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung ................................................................................................................. I. Fragestellung ..................................................................................................... II. Auswahl der Staaten und methodische Herangehensweise ................................ 1. Auswahl der Staaten ..................................................................................... 2. Methodik ...................................................................................................... III. Gang der Untersuchung ..................................................................................... B. Die Anforderungen des Europarats an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte .................................................................... I. Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK 1. Entstehungsgeschichte und Funktion von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf die Anforderung „independent and impartial tribunal established by law“ ... a) Entstehungsgeschichte ........................................................................... b) Funktion ................................................................................................. 2. Auf Gesetz beruhendes Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK ............ a) Gericht ................................................................................................... b) Auf Gesetz beruhend .............................................................................. 3. Unabhängigkeit der Gerichte ........................................................................ a) Art und Weise der Ernennung von Richtern .......................................... aa) Beteiligung durch die Exekutive ..................................................... bb) Beteiligung durch die Legislative ................................................... cc) Beteiligung durch Richterräte ......................................................... dd) Beteiligung durch die Parteien: der Sonderfall der Schiedsgerichtsbarkeit ............................................................................................. ee) Würdigung ...................................................................................... b) Amtszeit ................................................................................................. c) Existenz von Garantien gegen Einflussnahmen von außen .................... aa) Weisungsfreiheit ............................................................................. (1) Weisungen seitens der Exekutive ............................................ (2) Weisungen seitens der Legislative ........................................... (3) Faktische Weisungsabhängigkeit durch Ausübung einer Doppelfunktion ........................................................................ bb) Geheime Beratungen ...................................................................... cc) Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen ................................ dd) Unabsetzbarkeit .............................................................................. (1) Endgültige Absetzung vor Ende der Amtszeit ......................... (2) Austausch von Richtern während eines laufenden Verfahrens ... (3) Proberichterzeit ........................................................................

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Inhaltsverzeichnis ee) Vergütung ....................................................................................... ff) Ausbildung ...................................................................................... d) Äußeres Erscheinungsbild ...................................................................... aa) Herleitung und Einordnung des Merkmals ...................................... (1) Erklärungsansatz I: Beweislasterleichterung ............................ (2) Erklärungsansatz II: Flexibilität ............................................... (3) Erklärungsansatz III: „Subjektive Unabhängigkeit“ ................. bb) Prüfungsmaßstab ............................................................................. cc) Würdigung des Merkmals ............................................................... e) Unabhängigkeit innerhalb der Judikative ............................................... f) Verhältnis zur Staatsanwaltschaft ........................................................... aa) Institutionelle Trennung .................................................................. bb) Wechsel von der Staatsanwaltschaft in das Richteramt ................... cc) Sonderkonstellationen ..................................................................... g) Immunität ............................................................................................... h) Disziplinarverfahren ............................................................................... aa) Die Unabhängigkeit disziplinarisch geahndeter Richter .................. bb) Nationale Disziplinarinstanzen im Rahmen von Art. 6, Art. 8 und Art. 10 EMRK ................................................................................. i) Evaluationen ........................................................................................... j) Militärgerichte ........................................................................................ aa) Militärgerichte, die über Militärangehörige urteilen ........................ (1) Allgemeines ............................................................................. (2) Besonderheit: die „Britischen Fälle“ ........................................ bb) Militärgerichte, die über Zivilisten urteilen ..................................... (1) Allgemeines ............................................................................. (2) Besonderheit: die „Türkischen Fälle“ ....................................... k) Bewertung der Unabhängigkeitsrechtsprechung ..................................... 4. Unparteilichkeit der Gerichte ........................................................................ a) Objektive Unparteilichkeit ..................................................................... aa) Besondere Beziehungen oder Gegensätzlichkeiten zwischen Richter und Prozesspartei ............................................................................ bb) Beeinflussung des Verfahrens durch Dritte ..................................... cc) Vorbefasstheit des Richters mit derselben Partei in einem anderen Verfahren ........................................................................................ dd) Vorbefasstheit des Richters mit derselben Rechtssache in anderer Funktion .......................................................................................... (1) Funktionale Unparteilichkeit .................................................... (2) Strukturelle Unparteilichkeit .................................................... ee) Öffentliche Äußerungen über eine der Prozessparteien ................... b) Subjektive Unparteilichkeit .................................................................... c) Bewertung der Unparteilichkeitsrechtsprechung ....................................

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Inhaltsverzeichnis II.

Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit als Anforderungen von Seiten der Organe des Europarats und der Venedig-Kommission ..................... 1. Ministerkomitee ........................................................................................... a) Überblick über Struktur und Instrumente ............................................... b) Empfehlung CM/Rec(2010)12 ............................................................... 2. Parlamentarische Versammlung ................................................................... a) Überblick über Struktur und Instrumente ............................................... b) Entschließung 1685 (2009) .................................................................... 3. Venedig-Kommission .................................................................................. a) Überblick über Funktion und Arbeitsweise ............................................ b) Richterliche Unabhängigkeit nach der Venedig-Kommission ............... 4. Abgleich und abschließende Bewertung: Soft Law-Vorgaben des Europarats im Spiegel der Rechtsprechung .............................................................

C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten ..................... I. Einführung zu den östlichen Europaratsstaaten und ihrer Mitgliedschaft im Europarat ........................................................................................................... 1. Richterliche Unabhängigkeit als Teil der Beitrittsvoraussetzungen ............. 2. Die abweichende Praxis der Aufnahme: „integration is better than isolation“ 3. Die konkreten Beitrittsverhandlungen .......................................................... a) Russland ................................................................................................. b) Ukraine .................................................................................................. c) Moldawien ............................................................................................. d) Georgien ................................................................................................ II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten im Hinblick auf die Anforderung richterlicher Unabhängigkeit ........................................................ 1. Justizverwaltung in den östlichen Europaratsstaaten .................................... a) Richterräte („Judicial Councils“) als Reformmodell? ............................ aa) Funktionen von Richterräten und ihrer Entsprechung in Russland .... (1) Machtkonzentration in Richterräten – Georgien, Moldawien und Ukraine ............................................................................. (a) Richterliche Karriere: Auswahl, Ernennung und Beförderung von Richtern ............................................................. (b) Disziplinarverfahren, Immunität und Ethik ....................... (c) Budget ............................................................................... (d) Bewertung ......................................................................... (2) Einfluss von Seiten der Exekutive und der Gerichtspräsidenten auf die Justizverwaltung de jure und de facto – Russland ........ (a) Richterliche Karriere: Auswahl, Ernennung und Beförderung von Richtern ............................................................. (b) Disziplinarverfahren und Immunität ................................. (c) Bewertung ......................................................................... bb) Zusammensetzung der Richterräte und ihrer Entsprechung in Russland ......................................................................................... (1) Zwischen Richtermehrheit und Richterminderheit ..................

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Inhaltsverzeichnis (2) Auswahlprozess zum Richterrat ............................................... (3) Gerichtspräsidenten, Richter höherer Instanzen und Staatsanwaltschaftsvertreter ..................................................... (4) Vorsitz ...................................................................................... (5) Förderung der Integrität durch Hauptamtlichkeit ..................... cc) Transparenz ..................................................................................... b) Die Rolle von Gerichtspräsidenten ......................................................... aa) Formelle und informelle Machtkonzentration in den Händen von Gerichtspräsidenten ......................................................................... bb) Auswahl und Ernennung von Gerichtspräsidenten .......................... c) Zusammenfassende Problemanalyse und Reformvorschläge ................. 2. Independence vs. Accountability am Beispiel von Evaluationen und Disziplinarverfahren ..................................................................................... a) Evaluationen ........................................................................................... aa) Institutionell .................................................................................... bb) Kriterien .......................................................................................... b) Disziplinarverfahren ............................................................................... aa) Institutionell .................................................................................... bb) Gründe ............................................................................................ (1) Mangelnde Präzision ................................................................ (2) Anknüpfung am Urteil ............................................................. cc) Verfahrensstandards ........................................................................ (1) Eindeutige Zuständigkeit und Unparteilichkeit der Rechtsmittelinstanz .................................................................. (2) Öffentlichkeit und Transparenz des Verfahrens ....................... dd) Sanktionen ....................................................................................... (1) Mangelnde Breite der Sanktionsmöglichkeiten ........................ (2) Entlassung aus dem Dienst als ultima ratio .............................. c) Zusammenfassende Problemanalyse und Reformvorschläge .................

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D. Ergebnisse und Ausblick ......................................................................................... 286 I. Ergebnisse .......................................................................................................... 286 II. Ausblick ............................................................................................................. 295 Rechtsprechungsverzeichnis .......................................................................................... 297 Literaturverzeichnis ....................................................................................................... 307 Stichwortverzeichnis ...................................................................................................... 327

Abkürzungsverzeichnis a. A. ABA Abs. AEMR Art. Bf. Bsp. bzgl. bzw. CCJE CDCJ CDCJ-BU CDL-JD-PV CEELI CEPEJ CJ-S-JUD CJ-S-JUST CM COM d. h. Doc. EGMR EKMR EMRK EU EuGH gem. Georg. GG GIZ GK GV IAGMR iBa insb. IOR IPbpR iRv

andere Ansicht American Bar Association Absatz Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Artikel Beschwerdeführer/Beschwerdeführerin Beispiel bezüglich beziehungsweise Conseil Consultatif de Juges Européens European Committee on Legal Co-operation Bureau of the European Committee on Legal Co-operation Sub-Commission on the Judiciary Central European and Eurasian Law Initiative Commission européenne pour l’efficacité de la justice Group of Specialists on the Judiciary Group of Specialists on the Independence, Efficiency and Role of Judges Committee of Ministers European Commission das heißt Document Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Kommission für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Georgisch Grundgesetz Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit Große Kammer Generalversammlung Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf insbesondere Institut für Ostrecht Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte im Rahmen von

12 iSd iSe iSv iVm KSZE Moldaw. NGO ODIHR OSCE OSZE PV Res. Rspr. Russ. sog. der StA die StA StPO u. a. Ukr. USAID Venedig-Kommission Verf. vgl. VN z. B. ZP ZPO

Abkürzungsverzeichnis im Sinne der/des im Sinne eines/einer im Sinne von in Verbindung mit Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Moldawisch Non-Governmental Organization Office for Democratic Institutions and Human Rights Organization for Security and Co-operation in Europe Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Parlamentarische Versammlung Resolution Rechtsprechung Russisch sogenannt Staatsanwalt Staatsanwaltschaft Strafprozessordnung und andere; unter anderem Ukrainisch United States Agency for International Development Europäische Kommission für Demokratie durch Recht Verfasserin vergleiche Vereinte Nationen zum Beispiel Zusatzprotokoll Zivilprozessordnung

„Judicial independence of mind and behaviour cannot be manufactured. But institutional arrangements considered to be conducive to an inde1 pendent-minded judiciary can be established and maintained.“

A. Einleitung Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), nach dessen Absatz 1 jede Person ein Recht auf ein Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht hat, zählt in den letzten Jahren immer wieder zu den Rechten, deren Verletzung durch den Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) am häufigsten festgestellt wird.2 Die Sicherungen des Art. 6 EMRK haben sich damit zur bedeutsamsten verfahrensrechtlichen Garantie auf europäischer Ebene entwickelt.3 Neben der am häufigsten geltend gemachten und festgestellten Verletzung des Rechts auf ein Verfahren in angemessener Frist4 zählen gerade die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte zu den notwendigen Voraussetzungen für ein faires Verfahren und zu den grundlegenden Bausteinen eines rechtsstaatlichen Staatsystems.5 Zusätzlich zeichnet sich jetzt schon ab, dass die Zahl der Urteile des EGMR zu dieser grundlegenden Anforderung an konventionsstaatliche Gerichte in Zukunft zunehmen wird, da viele der neueren Europaratsstaaten des Ostens Justizsysteme aufweisen, die sich in einem Transformationsprozess befinden, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Individu-

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1 Russell, Toward a General Theory of Judicial Independence, in: P. H. Russell/D. O’Brien (Hrsg.), Judicial Independence in the Age of Democracy – Critical Perspectives from Around the World, 2001, S. 8. 2 Vgl. die Statistik zu 2011 unter (zuletzt besucht am 23.03.2012), nach der 211 Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren festgestellt wurden. Die Länge der Verfahren zählt nicht dazu und ist mit zusätzlich 341 Verletzungen auch 2011 auf Platz eins, gefolgt von dem Recht auf Freiheit und Sicherheit aus Art. 5, und an dritter Stelle dem Recht auf ein faires Verfahren; siehe zum Vorjahr: Registry of the European Court of Human Rights Strasbourg, Annual Report 2010 of the European Court of Human Rights, Council of Europe (2011), (zuletzt besucht am 19.03.2012), mit 254 Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren. 3 Peukert, Artikel 6, in: J. A. Frowein/W. Peukert (Hrsg.), Europäische MenschenRechtsKonvention, EMRK-Kommentar, 2009, Rn. 3. 4 Laut Id., Rn. 235, macht die Überlänge der Verfahren seit Jahren mehr als 50 Prozent der in Straßburg festgestellten Verletzungen aus. Dies trifft auch auf das Jahr 2011 zu: (zuletzt besucht am 23.03.2012). 5 Larkins, Judicial Independence and Democratization: A Theoretical and Conceptual Analysis, in: American Journal for Comparative Law, Vol. 44, Issue 4, 1996, S. 606; Tulkens/Lotarski, Le tribunal indépendant et impartial à la lumière de la jurisprudence de la Cour Européenne des Droits de l’Homme, in: G. Closset-Marchal/J. L. Ledoux/C. Panier/J.-F. Van Drooghenbroeck/M. Verdussen (Hrsg.), Mélanges Jacques van Compernolle, 2004, S. 732; Sauvé, Un juge indépendant et impartial, in: P. Titiun (Hrsg.), La conscience des droits – Mélanges en l’honneur de Jean-Paul Costa, 2011, S. 539 ff.

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A. Einleitung

albeschwerden aus östlichen Europaratsstaaten, die stärker als die Beschwerden zu westeuropäischen Staaten nicht die Unparteilichkeit, sondern strukturelle Probleme richterlicher Unabhängigkeit betreffen, mehren sich bereits. Regelmäßig beziehen sich die Beschwerden zudem auf Fragen der allgemeinen Gerichtsbarkeit, statt auf spezielle Verwaltungs- oder Disziplinarspruchkörper, wie dies in den ersten Jahrzehnten gegenüber Westeuropa häufig der Fall war. Die gerügten systematischen Verletzungen des Rechts auf ein unabhängiges Gericht fordern den EGMR daher zunehmend heraus, deutlichere Worte zu finden und sich ausführlich dem jeweiligen Unabhängigkeitsproblem anzunehmen.6 Dies bringt auch eine dogmatische Neuausrichtung der Rechtsprechung zu dieser grundlegenden Garantie mit sich, deren Herausbildung teilweise bereits eingesetzt hat, teilweise für die Zukunft einzufordern ist.

I. Fragestellung Die Aufmerksamkeit dieser Untersuchung ist in einem ersten Schritt der generellen Frage gewidmet, welche institutionellen Rahmenbedingungen und konkreten Voraussetzungen nach der EMRK erfüllt sein müssen, um eine unabhängige Justiz als wesentliche Voraussetzung rechtsstaatlich organisierter Staaten zu gewährleisten. Sie untersucht, welche Kriterien der EGMR und die bis 1998 tätige Europäische Menschenrechtskommission (EKMR) für diesen Grundpfeiler des Rechtsstaats entwickelt haben. In einem zweiten Schritt sollen die Reformprozesse in den östlichen Europaratsstaaten hin zu einer unabhängigen und unparteiischen Justiz vor dem Hintergrund dieser völkerrechtlichen Vorgaben durch konkrete Reformvorschläge unterstützt werden. Durch die Veränderung der rechtsstrukturellen Voraussetzungen und die Etablierung notwendiger institutioneller Sicherungen wird sich, so steht zu hoffen, auf lange Sicht auch eine neue Rechtskultur herausbilden. Trotz der Bedeutung des Rechts auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht für Rechtsstaaten generell und besonders für die Transformationsstaaten, die den Beitritt zum Europarat in den letzten zwei Jahrzehnten vollzogen haben, gibt es kaum eine grundlegende Aufarbeitung der genauen Anforderungen, die aus dieser Garantie erwachsen.7 Daher erscheint es längst überfällig und in dem Kontext einer wachsenden Zahl von Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten umso

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6 Vgl. nur exemplarisch: EGMR, Khrykin gegen Russland, 19.04.2011, No. 33186/08; EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, 22.12.2009, No. 24810/06. 7 Siehe zwar Kuijer, The blindfold of Lady Justice, Judicial Independence and Impartiality in Light of the Requirements of Article 6 ECHR, 2004, der jedoch angesichts der neuen Urteile gegenüber den östlichen Europaratsstaaten kaum mehr aktuell ist und zudem nicht klar zwischen verbindlicher Rechtsprechung und unverbindlichem Soft Law der Europaratsorgane und der Venedig-Kommission abgrenzt; ebenso wenig aktuell im Hinblick auf die Rechtsprechung der letzten Jahre gegenüber Osteuropa Tulkens/Lotarski, Le tribunal indépendant et impartial à la lumière de la jurisprudence de la Cour Européenne des Droits de l’Homme; Sauvé, Un juge indépendant et impartial, der die Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK nur als einen Aspekt unter anderen behandelt.

I. Fragestellung

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dringlicher, die Rechtsprechung einer Analyse zu unterwerfen, um herauszuarbeiten, welche völkerrechtlichen Anforderungen die Konventionsstaaten zu erfüllen haben und wo sich neue Ansätze angesichts aktueller Rechtsprechung erkennen lassen. Den genauen Inhalt richterlicher Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach der EMRK zu erforschen ist auch deshalb aktuell, da diese Zielsetzung mit Bestrebungen auf internationaler, regionaler und nationaler Ebene korrespondiert, Inhalt und Grenzen richterlicher Unabhängigkeit und Unparteilichkeit näher zu erfassen, Richtlinien zu entwickeln und vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen Reformschritte einzuleiten.8 Auch im Rahmen der Osterweiterung der Europäischen Union (EU) war und ist dieses Thema zentraler Bestandteil der „Regular Reports“ und „Monitoring-Berichte“ der Europäischen Kommission sowie der Beschlüsse des Europäischen Rats, die ihre Überprüfung der Beitrittsfähigkeit eines Kandidatenstaates unter anderem an dem Kriterium der Unabhängigkeit der Gerichte messen.9 Dasselbe gilt im Rahmen der „Eastern Partnership“ der EU mit den drei südkaukasischen Staaten sowie Moldawien, Ukraine und Belarus.10 Obwohl sich die EU hierbei regelmäßig auf Art. 6 EMRK beruft, fehlt bislang offensichtlich eine fundierte Analyse der sich daraus ergebenden konkreten Anforderungen an die Ausgestaltung der Justiz. Für die EU und weitere internationale Akteure, die in Rechtsstaatsreformprozesse eingebunden sind, ist diese Arbeit daher ebenfalls ge-

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8 Vgl. hierzu nur exemplarisch für die internationale Ebene als relativ aktuelles Beispiel einer wissenschaftlichen Annäherung: The Burgh House Principles on the Independence of the International Judiciary, drafted by the Study Group of the International Law Association on the Practice and Procedure of International Courts and Tribunals, in association with the Project on International Courts and Tribunals, 2004. Für die regionale Ebene die 2010 angenommene Neuauflage der Empfehlung von 1994: Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12 of the Committee of Ministers to member states on judges: independence, efficiency and responsibilities, adopted by the Committee of Ministers on 17 November 2010 at the 1098th meeting of the Ministers’ Deputies, 2010. Und für aktuelle Diskussionen auf nationaler Ebene nur beispielhaft den Diskurs um die Einführung „Neuer Steuerungsmodelle“ für die dritte Gewalt zur Steigerung von Effizienz in Deutschland: Schütz, Der ökonomisierte Richter, 2005. 9 Kochenov, EU Enlargement and the Failure of Conditionality, Pre-accession Conditionality in the Fields of Democracy and the Rule of Law, 2008, S. 253. Ausführlich dazu Seibert-Fohr, Judicial Independence in European Union Accessions: The Emergence of a European Basic Principle, in: German Yearbook of International Law, Vol. 52, 2009, S. 405 ff. 10 Vgl. dazu das Projekt „Enhancing Judicial Reform in the Eastern Partnership Countries“, das als Teil der „Eastern Partnership“ der EU vom Europarat implementiert wird. Dass unklar ist, was genau Art. 6 Abs. 1 EMRK im Bereich der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz meint, wird an der bloßen Nennung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, ohne näher auf die einzelnen Elemente einzugehen, und der extensiven Heranziehung von Soft Law deutlich: Directorate General of Human Rights and Rule of Law, Eastern Partnership. Enhancing Judicial Reform in the Eastern Partnership Countries. Working Group on Independent Judicial Systems. Project Report: Judicial self-governing bodies, Judges’ Career, September 2011, S. 13, 21, 29, 37 f., 53. Zur oberflächlichen Heranziehung von Art. 6 Abs. 1 EMRK: S. 64 ff., 83 ff.

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A. Einleitung

winnbringend, da sie Aufschluss über den für diese Region wichtigsten völkerrechtlichen Maßstab richterlicher Unabhängigkeit gibt. Im zweiten Teil wird ein konkreter Blick auf die östlichen Europaratsstaaten gerichtet, die die große Erweiterungswelle des Europarats von 1990 bis 2007 ausmachten.11 Diese Staaten haben nicht nur die Mitgliedschaft im Europarat gemein, die ihnen die Verpflichtung der Schaffung einer unabhängigen und unparteiischen Justiz auferlegt. Sie teilen auch das Erbe, dass in kaum einem Staat der Region, weder vor noch während der kommunistischen Herrschaft, die Erfahrung unabhängiger Gerichte gemacht wurde, und es daher an Traditionen fehlt, auf die zugegriffen werden könnte.12 Neben die fehlende Erfahrung tritt das Fortwähren dieses Erbes in Form von mangelndem Vertrauen in die Gerichte auf Seiten der Gesellschaft sowie eines Selbstverständnisses bei einer Vielzahl von Richterinnen und Richtern,13 mehr den staatlichen Interessen als dem Schutz der Rechte und Freiheiten des Individuums zu dienen.14 Während einige postkommunistische Staaten in den letzten Jahren zusätzlich der EU beigetreten sind und damit im Hinblick auf richterliche Unabhängigkeit einem stärkeren Reformdruck ausgesetzt waren, streben andere eine solche Mitgliedschaft in der EU erst noch an, sind jedoch aufgrund verschiedener Probleme, zu denen zentral die mangelnde Rechtsstaatlichkeit zählt, noch weit davon entfernt und haben allenfalls Aussicht auf eine Assoziierung.15 Für

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11 Ungarn war 1990 der erste der östlichen, ehemals kommunistisch regierten Staaten, der dem Europarat beitrat. Im Rahmen der letzten Erweiterung 2007 ist Montenegro als südosteuropäischer Staat beigetreten. 12 Howard, Judicial Independence in Post-Communist Central and Eastern Europe, in: P. H. Russell/D. M. O’Brien (Hrsg.), Judicial Independence in the Age of Democracy – Critical Perspectives from around the World, 2001, S. 90 f.; Koslosky, Towards an Interpretive Model of Judicial Independence: A Case Study of Eastern Europe, in: University of Pennsylvania Journal of International Law, Vol. 31, Issue 1, 2009, S. 208 f.; Kochenov, EU Enlargement and the Failure of Conditionality, Pre-accession Conditionality in the Fields of Democracy and the Rule of Law, S. 253. 13 Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit der Arbeit auf eine geschlechtergerechte Formulierung verzichtet und überwiegend nur noch die männliche Form verwendet. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass in den östlichen Europaratsstaaten an den unteren Instanzen, die im Vordergrund der Betrachtung stehen, Richterinnen oft eine deutliche Mehrheit bilden. So etwa in Russland: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 971 ff., B. II. 2. 14 Kovler, The European Convention on Human Rights and its impact on the legal order in Russia, in: The Uppsala Yearbook of East European Law, 2004, S. 83; D’Cruz, The Rule of Law and Independence of the Judiciary in Russia, in: The EU-Russia Review, Issue 6, 2008, abrufbar unter (zuletzt besucht am 19.03.2012); Dietrich, Legal and Judicial Reform in Central Europe and the Former Soviet Union – Voices from Five Countries, The International Bank for Reconstruction and Development/The World Bank, 2000, abrufbar unter (zuletzt besucht am 19.03.2012), S. 28 f. 15 Council of the European Union, Joint Declaration of the Eastern Partnership Summit, Warsaw, 29–30 September 2011, 30 September 2011. Die Unterzeichnung und Ratifizierung eines Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU wurde von der Stärkung

I. Fragestellung

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wieder andere, wie etwa Russland, kommt eine EU-Mitgliedschaft als zusätzlicher Druckfaktor für die Etablierung einer unabhängigen Justiz überhaupt nicht zum Tragen, da sie schon nicht in den Kreis zukünftiger potentieller Beitrittskandidaten fallen. Gerade die Staaten der letzten beiden Gruppen – postsowjetische Europaratsmitglieder, die nicht der EU angehören – weisen noch gravierende rechtsstaatliche Mängel auf. Im zweiten Teil sollen daher exemplarisch anhand von Russland, der Ukraine, Moldawien und Georgien zwei der Schlüsselfragen untersucht werden, die die Etablierung einer unabhängigen Justiz behindern: Wie sollte die Justizverwaltung institutionell ausgestaltet sein, damit sie die Auswahl und Beförderung von Richtern sowie Disziplinarverfahren und die Zuweisung von Fällen in einer Weise sichert, die zugleich unabhängig und verantwortlich sowie transparent ist? Und wie lassen sich richterliche Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit in der täglichen Arbeit von Richtern ausbalancieren und dadurch verhindern, dass Evaluationen und Disziplinarwesen als repressive Mechanismen richterlicher Verantwortlichkeit zum Deckmantel für Einflussnahmen werden? Vor dem Hintergrund der Annahme, dass durch Veränderung der strukturellen Voraussetzungen langfristig auch ein Beitrag zur Veränderung der Rechtskultur geleistet werden kann, ist die Befassung mit diesen grundlegenden Problemen längst überfällig. Neben rechtsvergleichenden Erwägungen spielen bei der Diskussion der Probleme und Entwicklung von Reformvorschlägen insbesondere die im ersten Teil herausgearbeiteten völkerrechtlichen Kriterien und Anforderungen der EMRK eine Rolle, die einen der stärksten Einwirkungsmechanismen von außen auf diese Staaten darstellt.16 Nicht nur, um zukünftige, sich schon jetzt abzeichnende Verurteilungen durch den EGMR zu verhindern, sondern insbesondere, um Übereinstimmungen und Defizite mit Art. 6 Abs. 1 EMRK in zukünftigen Reformschritten zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in diesen Staaten von vorneherein zu berücksichtigen, ist dies dringend geboten. Gesamtziel dieser Doktorarbeit ist damit ein zweifaches: Zum einen soll die Rechtsprechung des EGMR zu der Garantie der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte aufgearbeitet und systematisiert, sowie Rechtsprechungsentwicklungen der letzten Jahre aufgezeigt werden. Zum anderen soll durch die Analyse zweier Schlüsselprobleme der östlichen Europaratsstaaten vor dem Hintergrund der

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der Unabhängigkeit der Justiz abhängig gemacht: Agence France Presse, Freier Handel mit Ukraine nur unter Auflagen – Die EU macht ein Abkommen mit Ukraine von deren politischen Fortschritten abhängig. Sie fordert eine Reform der Justiz sowie Medien- und Versammlungsfreiheit, in: Handelsblatt, 19.12.2011, abrufbar unter (zuletzt besucht am 26.03.2012). Zur zentralen Rolle der Rechtsstaatlichkeit und insb. einer unabhängigen Justiz in den Verhandlungen zu Assoziierungsabkommen: Council of the European Union, Ukraine-EU Summit Joint Statement, 19 December 2011, Rn. 6. 16 Vgl. exemplarisch für viele weitere: Kovler, The European Convention on Human Rights and its impact on the legal order in Russia, S. 83; Nußberger, Einführung in das russische Recht, 2010, S. 64 f.

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A. Einleitung

völkerrechtlichen Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention ein Beitrag zu den dortigen Rechtsstaatsreformprozessen geleistet werden.

II. Auswahl der Staaten und methodische Herangehensweise 1. Auswahl der Staaten Zwischen 1990 und 2007 sind die meisten der zentral- und osteuropäischen sowie die drei südkaukasischen Staaten dem Europarat beigetreten. Diese Doktorarbeit beschränkt sich in ihrer Problemanalyse des zweiten Teils auf Russland, die Ukraine, Moldawien und Georgien. Die Auswahl der Staaten beruht dabei auf der Überlegung, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken unter den östlichen Europaratsstaaten über 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime stark abweichen von dem überwiegend anzutreffenden rechtsstaatlichen Entwicklungsstand der EU-Mitglieder Zentraleuropas und des Baltikums. Daher werden bewusst Staaten gewählt, denen die Möglichkeit eines EU-Beitritts bislang verwehrt war oder voraussichtlich nie offenstehen wird, und die daher noch einen vergleichsweise größeren Reformbedarf aufweisen. Die ausgewählten vier Staaten ermöglichen es zudem, aus einer vergleichenden Perspektive gemeinsame Schwierigkeiten beim Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz aufzuzeigen, die die generische Natur des jeweiligen Problems deutlich machen, ebenso wie Schritte zu untersuchen, die zur Bewältigung des Defizits in dem ein oder anderen Staat aus der Vergleichsgruppe gegangen wurden, und sich für die anderen drei Staaten ebenfalls anbieten.

2. Methodik Der Dissertation wird ausgehend von der Rechtsprechung des EGMR und der ehemaligen EKMR ein rechtsdogmatischer Ansatz zu Grunde gelegt. Neben den verbindlichen völkerrechtlichen Vorgaben, werden die Empfehlungen des Ministerkomitees, der Parlamentarischen Versammlung und der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) einbezogen. Der zweite Teil, der sich an übergreifenden Problemstellungen der östlichen Europaratsstaaten orientiert und nur exemplarisch auf jeden einzelnen der vier Staaten rekurriert, geht von den völkerrechtlichen Vorgaben des ersten Teils aus17 und stellt zusätzlich

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17 Die Frage nach dem genauen rechtlichen Status der EMRK in den einzelnen Konventionsstaaten wird dabei bewusst ausgespart, da sie den Umfang sprengen würde. Für diese Arbeit ist einzig relevant, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK für die vier Staaten rechtsverbindlich ist – unabhängig von dem konkreten rechtlichen Status in der innerstaatlichen Normenhierarchie. Siehe weiterführend dazu zu Russland: Burkov, Das russische Verfassungsgericht und das Völkerrecht: 1992 bis heute, in: Osteuropa Recht, Heft 3, 2011, S. 248 ff. Zu Russland und der Ukraine: Nußberger, The Reception Process in Russia and Ukraine, in: H. Keller/A. Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, 2008, S. 615 ff. Zu Moldawien: Lupusor, Implementation

III. Gang der Untersuchung

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rechtsvergleichende Beobachtungen an. Neben der rechtlichen Analyse der bestehenden Gesetze, fließen Stand und Problematik der praktischen Implementierung ein, wie sie sich in erster Linie aus aktuellen Expertenberichten ergeben, die im Rahmen eines gemeinsamen Projektes zwischen der Minerva Forschungsgruppe „Richterliche Unabhängigkeit“ am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) entstanden sind.18

III. Gang der Untersuchung Der erste Teil (B.) geht der Rechtsprechung zu den Merkmalen „independent and impartial tribunal established by law“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK nach. Dazu werden an die 300 Urteile und Entscheidungen des EGMR sowie der EKMR analysiert, wie sie über die letzten fünf Jahrzehnte gefällt wurden.19 Nach einer kurzen Einführung zu Entstehungsgeschichte und Funktion dieser Merkmale in Art. 6 Abs. 1 EMRK und der Befassung mit den Bestandteilen Gericht und Errichtung durch Gesetz, beschäftigt sich die Arbeit in zehn Unterkategorien mit den verschiedenen Elementen richterlicher Unabhängigkeit, die durch den EGMR und die ehemalige EKMR bis Ende 2011 entwickelt wurden.20 Die Doktorarbeit teilt die oftmals unpräzise Rechtsprechung in Kriterien ein, um den Europaratsstaaten Klarheit und Orientierung bei dem Verständnis dieses wesentlichen Passus in Art. 6 Abs. 1 EMRK zu bieten. Auch die Rechtsprechung des EGMR zur Unparteilichkeit der Gerichte wird im Anschluss an die Unabhängigkeit erörtert und das Verhältnis von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Art. 6 Abs. 1 EMRK geklärt. Neben der Rechtsprechung werden die Empfehlungen, Entschließungen und Meinungen zu der Unabhängigkeit der Justiz aufgearbeitet, in denen die Organe des Europarats (Ministerkomitee und Parlamentarische Versammlung) und die Venedig-Kommission Kriterien zu dieser wesentlichen Säule der Rechtstaatlichkeit entwickelt haben. Der Soft Law-Natur dieser Dokumente Rechnung tragend, stellt die

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of Judgments of the European Court of Human Rights as a Tool to Establish a „Language of Law“: the Case of Moldova, in: European Yearbook on Human Rights, 2011, S. 415 ff. 18 Genauer in Zusammenarbeit mit dem Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) der Organization for Security and Co-operation in Europe (OSCE). Die meisten der Expertenberichte aus diesem Projekt, an dem die Verf. mitgewirkt hat, sind in dem Band Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, erschienen. 19 Trotz der großen Anzahl analysierter Urteile und dem Blick sowohl für Grundlagenurteile aus den ersten Jahrzehnten als auch für aktuelle Rechtsprechungsentwicklungen erhebt diese Arbeit selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Gerade im Hinblick auf die hohe Anzahl an Fällen zur Unparteilichkeit, die den EGMR beschäftigen, ist nicht jeder Fall berücksichtigt worden. 20 Dabei wird die Frage nach der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK – das Vorliegen von „civil rights and obligations or (…) any criminal charge against him“ – bewusst ausgespart und die unmittelbare Konzentration auf die entscheidenen Merkmale der hier im Fokus stehenden Institution „Gericht“ gelenkt.

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A. Einleitung

Befassung mit diesen Kriterien lediglich einen Annex zum Rechtsprechungsteil dar. Zugleich dürfen sie nicht fehlen, da sie den Anspruch erheben, allgemeingültige Standards für die Europaratsstaaten zu formulieren, und für die im zweiten Teil der Doktorarbeit zentralen östlichen Europaratsstaaten weiterhin eine einflussreiche Rolle spielen. Der zweite Teil der Doktorarbeit (C.) richtet den Blick auf die östlichen Europaratsstaaten und dort speziell auf die vier postsowjetischen Europaratsstaaten Russland, Ukraine, Moldawien und Georgien. Nach der Aufarbeitung der Rolle, die die richterliche Unabhängigkeit bereits während der Beitrittsverhandlungen spielte, ist der Boden bereitet für eine eingehende Beschäftigung mit den nach wie vor anhaltenden Problemen beim Aufbau einer unabhängigen Justiz.21 Vor dem Hintergrund der erarbeiteten Kriterien richterlicher Unabhängigkeit aus Teil B. und rechtsvergleichender Beobachtungen analysiert die Arbeit zwei der wichtigsten strukturellen Defizite. Die Aufmerksamkeit wird zum einen auf der Justizverwaltung liegen. In diesem Zusammenhang sollen vordringliche institutionelle Aspekte aufgearbeitet werden, die sich im Zusammenhang mit den beiden zentralen Akteuren in den vier Staaten – Richterräte bzw. in Russland Qualifikationskollegien, und Gerichtspräsidenten – stellen. Zum anderen wird das Schlüsselproblem der Ausbalancierung zwischen Unabhängigkeit und richterlicher Verantwortlichkeit behandelt. Am Beispiel von Evaluationen und Disziplinarverfahren gegen Richter sollen die Hürden untersucht werden, die die Sicherung einer gleichermaßen unabhängigen wie verantwortlichen Justiz derzeit noch in allen vier Staaten vereiteln.

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21 Die Konzentration der Arbeit liegt durchweg auf den unteren Instanzen der ordentlichen Gerichtsbarkeit, an denen der Großteil der Fälle behandelt wird. Die Verfassungsgerichte der Staaten und die obersten Gerichte wurden bewusst von der Analyse ausgeschlossen, da vor allem erstere eine besondere Funktion wahrnehmen, und regelmäßig eigene abweichende Regime für die Auswahl der Richter, Amtszeit und Entlassung vorgesehen sind. Gleiches gilt regelmäßig für die obersten Gerichte. Allerdings werden „Friedensrichter“, soweit sie, z. B. in Russland in erster Instanz, existieren, wiederum aufgrund ihrer Besonderheiten nicht berücksichtigt.

„However, despite an almost universal consensus as to its normative value, judicial independence may be one of the least un1 derstood concepts in the fields of political science and law.“

B. Die Anforderungen des Europarats an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte I. Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK 1. Entstehungsgeschichte und Funktion von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf die Anforderung „independent and impartial tribunal established by law“ a) Entstehungsgeschichte Die Entstehungsgeschichte der 1950 unterzeichneten und 1953 in Kraft getretenen EMRK ist beeinflusst von den Gräueln des Zweiten Weltkrieges, auf deren systematische Menschenrechtsverletzungen sie eine Reaktion darstellt. Die Einzelheiten ihrer Entstehung und ihr Wortlaut wurden von parallelen Entwicklungen auf universeller Ebene geprägt. Neben der im Dezember 1948 von der Generalversammlung der VN verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), waren seit 1946 Vorschläge und später konkrete Entwürfe zum späteren Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) entwickelt worden, der 1966 verabschiedet wurde und 1976 in Kraft trat.2 Anders als die AEMR, die als unverbindliche Generalversammlungsresolution zumindest völkervertragrechtlich nicht justiziabel ist,3 entschied man sich, die EMRK als rechtsverbindliches Instrument auszugestalten. Dahinter stand die Erkenntnis, dass nationale Grund- und Menschenrechtssysteme nicht ausreichten, wie sich während der gravierenden und systematischen Menschenrechtsverletzungen des nationalsozialistischen Dritten Reichs und seiner Kollaborateure gezeigt hatte.4 Daneben sollte sie die Prinzipien der westeuropäischen demokratischen Staaten zum Ausdruck bringen und diese vor der Bedrohung durch den totalitären Kommunismus sowjetischer

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1 Larkins, Judicial Independence and Democratization: A Theoretical and Conceptual Analysis, S. 607. 2 Van Dijk, The interpretation of „civil rights and obligations“ by the European Court of Human Rights − one more step to take, in: F. Matscher/H. Petzold (Hrsg.), Protecting Human Rights: The European dimension, 1988, S. 135 f. 3 Ob sie abgesehen von ihrem mangelnden vertragrechtlichen Charakter mittlerweile Völkergewohnheitsrecht darstellt, ist umstritten. Nach überwiegender Auffassung trifft dies jedenfalls auf einige Bestimmungen zu: Doehring, Völkerrecht, 2004, S. 427 f.; Hailbronner/Kau, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2010, S. 227. 4 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 2012, § 1, Rn. 1 f.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Prägung schützen.5 Eine Einigung über einen bindenden Menschenrechtskatalog war auf europäischer Ebene außerdem aufgrund der grundsätzlichen politischideologischen Übereinstimmung einfacher zu erreichen.6 Bereits im Mai 1948 verlangten Vertreter der Europäischen Bewegung7 auf dem Europakongress in Den Haag den Abschluss einer Europäischen Menschenrechtskonvention als Grundlage einer europäischen Gemeinschaft. Ein internationaler Rechtsausschuss entwickelte in der Folge einen Konventionsentwurf, der die zu garantierenden Rechte nur enumerativ auflistete, ohne ihren Inhalt und Einschränkungsmöglichkeiten zu definieren. Dies sollte einem späteren Zusatzabkommen vorbehalten bleiben; bis zu dessen Abschluss sollten die Rechte durch jeden Staat so gewährleistet werden, wie es die nationale Rechtslage vorsah. Dieser Entwurf wurde dem Ministerkomitee8 sowie der Beratenden Versammlung des Europarats9 vorgelegt, deren neu eingerichteter Rechts- und Verwaltungsausschuss die Vorarbeiten der Europäischen Bewegung bzw. des internationalen Rechtsausschusses im Wesentlichen übernahm. Der Ausschuss definierte die aufgelisteten Menschenrechte über einen Verweis auf den entsprechenden Artikel der AEMR inhaltlich, wobei man dem Unterschied in der Rechtsnatur zwischen AEMR und der angestrebten rechtverbindlichen europäischen Konvention gerecht zu werden suchte, indem nicht alle Menschenrechte der AEMR übernommen wurden. Die Konzeption des Entwurfs wurde bis auf das Eltern- und Eigentumsrecht von der Beratenden Versammlung gebilligt, im September 1949 an das Ministerkomitee weitergeleitet und dort durch ein „Committee of Government Experts“, ein Sachverständigengremium, das sich aus je einem Experten pro Mitgliedstaat zusammensetzte, geprüft. Letzteres sollte ausdrücklich den erzielten Fortschritt der VN-Organe im Hinblick auf gemeinsame Garantien der Menschenrechte und Grundfreiheiten verfolgen.10 Insofern verwundert nicht, dass sich die Ergebnisse der VN-Menschenrechtskommission, die mit der Ausarbeitung des IPbpR auf universeller Ebene befasst war, bis in die Konvention durchgesetzt haben: Die endgültigen Formulierungen und die Reihenfolge sind größtenteils von den Entwürfen für den IPbpR von 1949 und 1950 übernom-

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5 Bates, The evolution of the European Convention on Human Rights: from its inception to the creation of a permanent court of human rights, 2010, S. 5 ff. 6 Vgl. Grote, Kapitel 1: Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der EMRK, in: R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Rn. 10. 7 Ein Zusammenschluss verschiedener, nach dem 2. Weltkrieg entstandener, privater Organisationen europäischer Staaten, die unter Beteiligung führender Politiker (Adenauer, Churchill u. a.), die Schaffung eines geeinten Europas anstrebten: Weiss, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1954, S. 3. 8 Partsch, Die Entstehung der europäischen Menschenrechtskonvention, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Vol. 15, 1953/54, S. 633 ff. 9 Später „Parlamentarische Versammlung“: Brummer, Der Europarat, 2008, S. 93. 10 Council of Europe, Collected Edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights II, S. 296; Partsch, Die Entstehung der europäischen Menschenrechtskonvention, S. 646.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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men worden, mit Ausnahme der Rechte, die von der Konvention nicht gewährleistet werden. Am 3. November 1950 nahm das Ministerkomitee die EMRK an, am 4. November wurde sie unterzeichnet, und trat am 3. September 1953 in Kraft.11 Auch die Entstehungsgeschichte von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist daher mit der Verabschiedung der AEMR und dem Entwurf für den IPbpR verbunden und wurde angelehnt an Garantien, die auf universeller Ebene kurze Zeit zuvor entwickelt worden waren. Für Art. 6 Abs. 1 EMRK diente zunächst Art. 10 AEMR von 1948 als Vorlage.12 Er wurde im ersten Entwurf des „Committee of Government Experts“ für Art. 6 EMRK im Februar 1950 reproduziert.13 Der enumerative Katalog der Europäischen Bewegung hatte noch kein Fair Trial-Recht enthalten,14 die Beratende Versammlung in ihrer Empfehlung an das Ministerkomitee vom September 194915 nur pauschal auf Art. 10 AEMR verwiesen. Warum diente aber zunächst der Wortlaut von Art. 10 AEMR als Vorlage, statt sich direkt des Entwurfes für einen rechtsverbindlichen Pakt auf universeller Ebene zu bedienen?16 Dies mag damit zusammenhängen, dass die Beratende Versammlung in ihrer Empfehlung an das Ministerkomitee der jeweiligen Garantie einen Verweis auf die Entsprechung in der AEMR beigeordnet hatte. Bei der Sitzung des „Committee of Government Experts“ hielt man sich zunächst an den Wortlaut der AEMR, inkorporierte den Wortlaut von Art. 10 AEMR in den neuen Art. 3 Abs. 3 b) des Konventionsentwurfs und statuierte damit erstmals im Ausarbeitungsprozess der EMRK die Garantie eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts.17 Aufgrund der allgemeinen Entste-

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11 Siehe insgesamt: Partsch, Die Entstehung der europäischen Menschenrechtskonvention, S. 631–660; Weiss, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 3–9. 12 Preliminary Draft Convention for the maintenance and further realization of human rights and fundamental freedoms, Doc. A 833, 15. Februar 1950, in: Council of Europe, Collected Edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, III, S. 236 ff.; Draft text of the first section of a draft Convention based on the work of the Consultative Assembly, Doc. A 809, 7. Februar 1950, S. 222. 13 Damals Art. 3 Abs. 3 b) EMRK. Art. 10 AEMR lautet: „Everyone is entitled in full equality to a fair and public hearing by an independent and impartial tribunal, in the determination of his rights and obligations and of any criminal charge against him.“ Res. 217 A (III) der GV der VN vom 10.12.1948. 14 Anlage zum Sitzungsprotokoll des Internationalen Exekutiv-Komitees der Europäischen Bewegung vom 19. Juni 1949, (EX/A/13) EX/P/92; Weiss, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 37 ff. 15 Recommendation No. 38 to the Committee of Ministers adopted 8th September 1949 on the conclusion of the debates, Doc. 108, 8. September 1949, in: Council of Europe, Collected Edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights II, S. 276 ff. 16 Letzterer lag den VN-Mitgliedstaaten auch bereits vor und diente als Material für das im Februar 1950 tagende „Committee of Government Experts“: Partsch, Die Entstehung der europäischen Menschenrechtskonvention, S. 647. 17 Vgl. Amendment to Article 2 of the Recommendation of the Consultative Assembly proposed by the expert of Luxembourg, Doc. A 783, in: Council of Europe, Collected Edition

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

hungsgeschichte der EMRK – zwischen AEMR und IPbpR hin- und hergerissen – wechselte Art. 6 Abs. 1 EMRK jedoch noch einmal sein Vorbild: Nachdem die Arbeit mit dem Entwurf der Beratenden Versammlung durch den Sachverständigenausschuss abgeschlossen war, wurden in einer zweiten Sitzungsperiode die Vorschläge, die auf der Methode der VN-Menschenrechtskommission basierten, untersucht.18 Die Änderung des Wortlauts des Art. 6 Abs. 1 EMRK (damals Art. 3 Abs. 3 b)), weg vom Wortlaut der AEMR hin zu demjenigen von Art. 13 Abs. 1 S. 119, dem späteren Art. 14 Abs. 1 S. 220 des VN-Entwurfs von 1949 für den IPbpR kam auf dieser zweiten Sitzungsperiode im März 1950 zustande.21 Am Ende standen sich damit zwei Konventionsentwürfe gegenüber: Alternative A, die den Wortlaut des IPbpR-Entwurfs, Alternative B, die den Wortlaut von Art. 10 AEMR inkorporiert hatte.22 Die „Conference of senior officials“, ein Ausschuss höherer Regierungsbeamter, entschied sich letztlich per Mehrheitsvotum für den Wortlaut des IPbpR-Entwurfs von 1949 und verschob diesen an seinen heutigen Standort in Art. 6 Abs. 1 EMRK.23 Der Streitpunkt um die Inkorporation der Vorschriften der AEMR oder des IPbpR hat sich inhaltlich hinsichtlich der hier relevanten Passage nur in einem Punkt ausgewirkt: Während der IPbpR (ebenso wie sein Entwurf von 1949) vorsieht, dass ein Gericht in einem fairen Verfahren nur ein solches sein könne, welches durch Gesetz errichtet worden sei,24 enthält der entsprechende Arti-

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of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, III, S. 190, 192, 260, 262. 18 Letter from the Secretary-General to the Foreign Ministers of Member States, Doc. A 820, 10. Februar 1950, in: Id., III, S. 234. 19 Art. 13 Abs. 1 S. 1 des Entwurfs für den IPbpR von 1949 lautet: „In the determination of any criminal charge against him, or of his rights and obligations in a suit of law, everyone is entitled to a fair and public hearing, by an independent and impartial tribunal established by law.“, United Nations, Yearbook on Human Rights for 1949, 1951, S. 333. 20 Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR von 1966 lautet: „In the determination of any criminal charge against him, or of his rights and obligations in a suit at law, everyone shall be entitled to a fair and public hearing by a competent, independent and impartial tribunal established by law.“ 21 Council of Europe, Collected Edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, III, S. 280 ff.; van Dijk, Protection des droits de l’homme: la dimension européenne, S. 137. 22 Preliminary Draft Convention, Doc. CM/WP I (50) 14; A 932, in: Id., III, S. 312 ff. 23 Draft Convention appended to the draft report, Doc. CM/WP 4 (50) 16, appendix; A 1445, 15. Juni 1950, in: Id., IV, S. 208, 218, 220. 24 Auch lässt sich feststellen, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK wie er von der Regierungsvertreterkonferenz vorbereitet und vom Ministerkomitee verabschiedet wurde, den Wortlaut des Vorläufers des heutigen Art. 14 Abs. 1 IPbpR weitgehend trägt. In Art. 14 Abs. 1 IPbpR wurde in Veränderung des Entwurfs von 1949 noch als Anforderung an das Gericht „competent“ eingefügt. In der EMRK wurde darauf wohl deshalb verzichtet, da man das Merkmal „competent“ bereits in dem Merkmal „established by law“ für hinreichend erschöpft ansah: Nowak, UN Covenant on Civil and Political Rights, CCPR Commentary, 2005, Art. 14 Rn. 24; United Nations, General Assembly, Official Records 10th Session, Annexes, Agenda item 28 Part II, „Annotations on the text of the draft International Covenants on Human Rights“, 1955, Doc. A/2929, Kap. VI Rn. 77; Council of Europe, Report of the Committee of Experts on Human Rights to the Committee of Ministers, ,Problems arising from the co-existence of the

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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kel der AEMR keine derartige Anforderung. Das Merkmal der Gesetzeserrichtetheit eines Gerichts („established by law“) in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, ist damit erst durch die Entscheidung für eine Übernahme der Vorschrift des IPbpR Bestandteil der EMRK geworden.25 b) Funktion Um die Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK einordnen zu können, ist neben der Entstehungsgeschichte erforderlich, zunächst die Funktion zu klären, die die Forderung nach unabhängigen und unparteiischen Gerichten in der EMRK erfüllen soll. Die Entstehungsgeschichte bietet keinen näheren Aufschluss über die konkrete Funktion. Die „Travaux Préparatoires“ zeigen, dass das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht seinen Weg in die Konvention ohne inhaltliche Diskussion fand,26 indem man sich zunächst einigte, auf die in der AEMR normierten Menschenrechte nicht nur zu verweisen, sondern die Rechte selbst in die EMRK zu inkorporieren, und in einer späteren Ausarbeitung den Wortlaut des Entwurfs für den verbindlichen IPbpR übernahm.27 Aufschlussreich für die Funktionsbestimmung der Garantie eines unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gerichts in der EMRK ist allerdings die im Laufe der Zeit entwickelte Rechtsprechung von EKMR und EGMR. So ist Art. 6 Abs. 1 EMRK in der Straßburger Rechtsprechung zum einen in den Kontext des fundamentalen Prinzips der Rechtsstaatlichkeit („rule of law“) gestellt worden, das

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United Nations Covenants on Human Rights and the European Convention of Human Rights‘, September 1970, CE Doc. H (70) 737, Rn. 138 iv.; Velu/Ergec, La Convention Européenne des Droits de l’Homme,1990, S. 342. 25 Anders Kühne, Artikel 6, in: H. Golsong/W. Karl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 2009, Rn. 282, der Art. 10 AEMR als Vorbild sieht. Ein weiterer Unterschied neben dem Merkmal „competent“ des heutigen Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR ist das Erfordernis „within a reasonable time“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK, das erst durch den „Ausschuss höherer Regierungsbeamte“ Eingang in Art. 6 Abs. 1 EMRK gefunden hat. Allerdings enthielt der erste Vorschlag eines Fair Trial-Rechts für den IPbpR den Passus „without undue delay“: E/HR/3, 26.4.1946, 6. Art. 14 IPbpR enthält diesen Zusatz an späterer Stelle in Abs. 3 c) lediglich bezogen auf strafrechtliche Anklagen und damit nur auf eine der alternativen Prozessformen in Abs. 1. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass „everyone is entitled to a fair and public hearing (…)“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK in Art. 14 IPbpR in Abkehr von Art. 13 Abs. 1 des Entwurfs in ein „shall be entitled“ abgeschwächt wurde. 26 Es finden sich lediglich allgemeine Aussagen zu den zu garantierenden Rechten, vgl. Council of Europe, Collected Edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights I, S. 194. 27 Amendment to Article 2 of the Recommendation of the Consultative Assembly proposed by the expert of Luxembourg, Doc. A 783, in: Council of Europe, Collected Edition of the „Travaux préparatoires“ of the European Convention on Human Rights III, S. 190 f., 202 f.; vgl. auch Amendments to Articles 1, 2, 4, 5, 6, 8 and 9 of the Committee’s preliminary draft proposed by the expert of the United Kingdom, Doc. CM/WPI (50) 2; A 915, 6. März 1950, in: Id., III, S. 280, 284; Preliminary Draft Convention, Doc. CM/WP I (50) 14; A 932, 9. März 1950, in: Id., III, S. 312, 316; Draft Convention appended to the draft report, Doc. CM/WP 4 (50) 16, appendix; A 1445, 15. Juni 1950, in: Id. IV, S. 218, 220.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

im Europarat generell seit jeher eine zentrale Rolle spielt, Teil des Bekenntnisses in der Präambel der Europaratssatzung28 und nach Art. 3 der Satzung neben Demokratie und Menschenrechten Bestandteil der Wertetrias des Europarats ist.29 Ähnlich dem im deutschen Kontext anzutreffenden Verständnis der Bindung der Staatsgewalt an Recht und Gesetz und der Überprüfbarkeit staatlicher Maßnahmen durch unabhängige Gerichte, umfasst das Rechtsstaatsprinzip im Kontext der EMRK den Zugang zu Gerichten, ein faires Verfahren, den Bestimmtheitsgrundsatz, Gesetzesvorbehalt und das Verbot staatlicher Willkür.30 Den Zusammenhang zwischen Rechtsstaatlichkeit und den Garantien des Art. 6 EMRK hat der Gerichthof in seiner Rechtsprechung mehrfach deutlich gemacht. So reflektiere Art. 6 das fundamentale Prinzip der Rechtsstaatlichkeit31 und sei Ausdruck desselben: „This principle [the rule of law], which is enshrined in Article 3 of the Statute of the Council of Europe, finds expression, inter alia, in Article 6 (art. 6) of the Convention.“32 Das Recht auf ein faires Verfahren und die in Art. 6 EMRK eingeforderten Einzelgarantien wie das Recht, vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht gehört zu werden,33 stehen somit in unmittelbarer Verbindung zu dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und erfüllen die Funktion, dieses auf Ebene der Mitgliedstaaten zu verwirklichen. Wenngleich der EGMR mit Blick auf die konkrete verfassungsrechtliche Ausgestaltung von Gewaltenteilung, die für die Überprüfung staatlicher Maßnahmen durch unabhängige Gerichte Vorausetzung ist, Zurückhaltung übt und stets unterstreicht, dass weder aus Art. 6 EMRK, noch irgendeiner anderen Konventionsbestimmung folge, dass eine bestimmte verfassungstheoretische Konzeption von den Staaten zu befolgen sei, so hat er indirekt das Prinzip der Gewaltenteilung anerkannt und betont dessen wachsende Bedeutung in seiner Rechtsprechung. Allein die genauen Grenzen der Interaktion der Gewalten würde er nicht vorgeben, sondern stets eine Einzelfallbetrachtung vornehmen.34

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28 Dazu, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK im Lichte des in der Präambel herausgestellten Prinzips der „rule of law“ interpretiert werden müsse, siehe anstelle vieler: EGMR, Brumarescu gegen Rumänien, 28.10.1999, No. 28342/95, Rn. 61. 29 Brummer, Der Europarat, S. 17. 30 Siehe zum Begriff der Rechtsstaatlichkeit im nationalen Kontext sowie in der EMRK: Martini, Die Pluralität von Rule-of-Law-Konzeptionen in Europa und das Prinzip einer europäischen Rule of Law, in: M. Kötter/G. F. Schuppert (Hrsg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, S. 306 ff. (Deutschland, England, Frankreich), S. 331 ff. (EMRK). 31 EGMR, Sunday Times gegen Großbritannien, 26.04.1979, No. 6538/74, Rn. 55. 32 EGMR, Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis gegen Griechenland, 09.12.1994, No. 13427/87, Rn. 46. 33 Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, S. 284. Anders Peukert, der dem Gebot der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des entscheidenden Gerichts nur eine Ergänzungsfunktion im Hinblick auf ein faires Verfahren zuspricht: Peukert, Artikel 6, Rn. 1, eindeutig aber der EGMR in: EGMR, Lauko gegen Slowakei, 02.09.1998, No. 26138/95, Rn. 63: „(…) that the right to a fair trial, of which the right to a hearing before an independent tribunal is an essential component (…).“ 34 EGMR, Henryk Urban und Ryszard Urban gegen Polen, 30.11.2010, No. 23614/08, Rn. 46; EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, No. 23465/03, Rn. 131. Und iRv Art. 5

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Zum anderen steht das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK generell, und die einzelnen Teilgarantien für sich genommen, in engem Zusammenhang mit einem weiteren Grundprinzip der Wertetrias des Europarats: dem Demokratieprinzip. Besonders deutlich wird dies mit Blick auf die Unparteilichkeit. Der EGMR hat in ständiger Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht, dass es für Demokratien von fundamentaler Bedeutung sei, dass Gerichte in der Öffentlichkeit Vertrauen erweckten. Um dieses Vertrauen hervorzurufen, müssten sie unparteiisch sein.35 Diese Funktion der Unparteilichkeit für Demokratien verwundert insofern nicht, als dass Gerichte in einer demokratisch organisierten Gesellschaft sowohl in ihrer Befriedungsfunktion auf die Befolgung und Akzeptanz ihrer Urteile durch die Gesellschaft angewiesen sind, als auch in ihrer demokratischen Legitimation vom Volk abhängen. Für beide Funktionen brauchen sie das Vertrauen des Adressaten der Urteile, welches nur durch ein unparteiisches Erscheinungsbild zu erreichen ist, wie der EGMR immer wieder betont hat. Ebenso hat er die Unabhängigkeit der Gerichte in einen Zusammenhang mit demokratisch organisierten Gesellschaften gestellt, für die das Recht auf ein Verfahren vor einem unabhängigen Gericht eine herausragende Rolle einnehme.36 Unabhängigkeit und Demokratie hängen nicht zuletzt über die alleinige Unterworfenheit der Richter unter das (durch den demokratischen Gesetzgeber verabschiedete) Gesetz zusammen. Insbesondere gegenüber östlichen Europaratsstaaten, hat der EGMR in den vergangenen Jahren außerdem den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeitsprinzip, richterlicher Unabhängigkeit und Vertrauen in einer demokratisch organisierten Gesellschaft in die Gerichte betont.37 Noch deutlicher wird die Verbindung zwischen Art. 6 Abs. 1 EMRK und dem Demokratieprinzip im Rahmen des Zusatzes „auf Gesetz beruhend“ („established by law“), welcher Attribut eines Gerichts iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK ist. In „Leo Zand gegen Österreich“ stellte die EKMR bereits 1978 klar, dass es Ziel und Zweck die-

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EMRK schon früher: EGMR GK, Stafford gegen Großbritannien, 28.05.2002, No. 46295/99, Rn. 78. Deutlicher ist dem Abweichenden Sondervotum der Richterin Tstatsa-Nikolovska zu EGMR, Kleyn u. a. gegen Niederlande, 06.05.2003, No. 39343/98; No. 39651/98; No. 43147/98; No. 46664/99 zu entnehmen, dass ein untrennbarer Zusammenhang zwischen richterlicher Unabhängigkeit in Art. 6 Abs. 1 EMRK und dem Konzept der Gewaltenteilung gesehen wird. 35 Siehe anstelle vieler EGMR, Olujić gegen Kroatien, 05.02.2009, No. 22330/05, Rn. 57. 36 Siehe z. B. EGMR, Lauko gegen Slowakei, Rn. 63. 37 EGMR, Galstyan gegen Armenien, 15.11.2007, No. 26986/03, Rn. 80; EGMR, Nevskaya gegen Russland, 11.10.2011, No. 24273/04, Rn. 35; EGMR, Raks gegen Russland, 11.10.2011, No. 20702/04, Rn. 43. Ebenso hat der EGMR die Bedeutung weiterer Teilgarantien eines fairen Verfahrens aus Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie eines fairen Verfahrens generell für demokratische Gesellschaften betont, um aus diesem gewichtigen Zusammenhang Maßgaben für seine Interpretation von Art. 6 EMRK zu ziehen: „In a democratic society within the meaning of the Convention, the right to a fair administration of justice holds such a prominent place that a restrictive interpretation of Article 6 para. 1 (art. 6-1) would not correspond to the aim and the purpose of that provision.“ EGMR, Delcourt gegen Belgien, 17.01.1970, No. 2689/65, Rn. 25; EGMR, Deweer gegen Belgien, 27.02.1080, No. 6903/75, Rn. 44; EGMR, Adolf gegen Österreich, 26.03.1982, No. 8269/78, Rn. 30. Siehe auch Peukert, Art. 6, Rn. 2; Kuijer, The blindfold of Lady Justice, S. 80.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

ses Passus sei, in einer demokratischen Gesellschaft eine Abhängigkeit der gerichtlichen Organisation von dem Ermessen der Exekutive zu verhindern, sondern durch Recht zu regeln, das vom Parlament ausgehe.38 Die Herrschaft des Volks macht es damit erforderlich, dass seine unmittelbaren Repräsentanten über die Einrichtung von Gerichten und ihre organisatorischen Rahmenbedingungen entscheiden. Der Zusatz „established by law“ gewährleistet daher die demokratische Legitimation der Gerichte. Daneben erfüllt er die Funktion, den Vorgang der Errichtung von Gerichten generell-abstrakt, d. h. unabhängig von einem spezifischen, in Rede stehenden Fall, zu gestalten.39 Dies stärkt wiederum die Unabhängigkeit der Gerichte, die in ihrer Einrichtung und organisatorischen Ausgestaltung nicht zum Spielball der Exekutive werden.40 Die Anforderung „established by law“ spiegelt daher nicht nur das Demokratieprinzip sondern auch das Rechtsstaatsprinzip wider.41 Die Anforderung, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte unabhängig und unparteiisch sowie durch Gesetz errichtet sein müssen, hat somit über die Funktion hinaus, ein faires Gerichtsverfahren zu sichern, die weitergehende Funktion, Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten einschließlich eines gewaltengeteilten Systems zu gewährleisten, und steht ebenso in enger Verbindung mit dem Demokratieprinzip.

2. Auf Gesetz beruhendes Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK a) Gericht Grundlegend für das Verständnis des Gerichtsbegriffs in Art. 6 Abs. 1 EMRK ist sein autonomer Inhalt. Der Begriff ist nicht gleichzusetzen mit dem nationalen Gerichtsbegriff, sondern wird durch den EGMR selbstständig definiert,42 wie er dies auch mit Blick auf andere Konventionsbestimmungen vornimmt.43 Dabei stellte der EGMR schon in „Campbell und Fell gegen Großbritannien“ 1984 klar, dass der Begriff „tribunal“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht notwendigerweise ein Gericht im klassischen Sinne als Teil des Justizsystems des jeweiligen Staates meine. Auch das in diesem Urteil in Rede stehende „Board of Visitors“, das im britischen Gefängniswesen Überwachungsfunktionen ausübte, stufte er als Gericht iSv Art. 6 Abs. 1

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EKMR, Zand gegen Österreich, 12.10.1978, No. 7360/76, Rn. 69. So die Erklärung zu „established by law“ in Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR, dem entstehungsgeschichtlichen Vorbild: Nowak, UN Covenant on Civil and Political Rights, CCPR Commentary, Art. 14 Rn. 24. 40 So der EGMR jüngst wieder: EGMR, Savino u. a. gegen Italien, 28.04.2009, No. 17214/05; No. 20329/05; No. 42113/04, Rn. 94. 41 EGMR, Savino u. a. gegen Italien, Rn. 94; EGMR, Pandjikidzé u. a. gegen Georgien, 27.10.2009, No. 30323/02, Rn. 103; EGMR, DMD Group, A. S. gegen Slowakei, 05.10.2010, No. 19334/03, Rn. 58. 42 Velu/Ergec, La Convention Européenne des Droits de l’Homme, S. 452. 43 Siehe jüngst etwa die autonome Definition von „Strafe“ in Art. 7 EMRK: EGMR, M. gegen Deutschland, 17.12.2009, No. 19359/04, Rn. 120. 38 39

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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EMRK ein.44 In ihrer rechtsprechenden Tätigkeit würden diese Organe rechtsverbindliche Entscheidungen treffen, was als gerichtliche Funktion zu werten sei. Auch die österreichischen Fälle aus den 1970er und 1980er Jahren zu speziellen Verwaltungsspruchkörpern machen deutlich, dass das Gerichtsverständnis der EMRK nicht mit dem nationalen Begriff korrespondiert, sondern darüber hinaus gehen kann.45 Die nationale Bezeichnung spielt keine entscheidende Rolle,46 sondern dient lediglich als Indikator.47 Ebensowenig ist die Einordnung im nationalen Gerichtsaufbau ausschlaggebend. Vielmehr ermittelt der EGMR für jeden Einzelfall anhand materiell-rechtlicher und funktionaler Kriterien, ob es sich im konkreten Fall um ein Gericht iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK handelt, ganz gleich ob es dabei nach nationalem Recht um ein Disziplinar- oder reines Verwaltungsorgan geht. Zu den materiellrechtlichen Kriterien zählen teilweise die Elemente der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Gesetzeserrichtetheit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie weitere Voraussetzungen, die er teilweise kumulativ, teilweise alternativ heranzieht. Die in Art. 6 Abs. 1 EMRK genannten Charakteristika der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Gesetzesgrundlage haben EKMR und EGMR seit jeher wesentlich für die Bestimmung des autonomen Gerichtsbegriff herangezogen.48 Wie ein Fall von 2005 gegen Bulgarien zeigt, gilt dies bis heute. Der EGMR sprach hier medizinischen Kommissionen, die in Bulgarien für die Begutachtung des Behinderungsgrades von Arbeitern zuständig sind, bereits den Gerichtscharakter ab, da sie abhängig von dem bulgarischen Gesundheitsministerium seien, es keine gesicherte Amtszeit gebe und keine der zu erwartenden Verfahrensgarantien vorgesehen seien, wie etwa ein öffentliches Verfahren.49 Mangelnde Unabhängigkeit führt nach diesem Verständnis bereits zum Nichtvorliegen eines Gerichts iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK.50 Dies ist dogmatisch problematisch, da der Gerichtsbegriff in der Konse-

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44 EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, 28.06.1984, No. 7819/77; No. 7878/77, Rn. 76; so der EGMR bis heute, vgl.: EGMR, Savino u. a. gegen Italien, Rn. 91. Anders die Europäische Menschenrechtskommission: EKMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, 12.05.1982, No. 7819/77; No. 7878/77, Rn. 137. 45 EGMR, Ringeisen gegen Österreich, 16.07.1971, No. 2614/65, Rn. 95; EGMR, Sramek gegen Österreich, 22.10.1984, No. 8790/79, Rn. 36. 46 Kühne, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 286. 47 EGMR, Belilos gegen Schweiz, 29.04.1988, No. 10328/83, Rn. 65 mit Blick auf das schweizerische „Police Board“, das im Gesetz und durch den Bundesgerichtshof als „municipal authority“ bzw. „administrative authority“ bezeichnet wird. 48 Vgl. nur exemplarisch: EGMR, Neumeister gegen Österreich, 27.06.1968, No. 1936/63, Rn. 24 (wenngleich iRv Art. 5); EGMR, De Wilde, Ooms und Versyp gegen Belgien, 18.06.1971, No. 2832/66; No 2835/66; No. 2899/66, Rn. 78; EGMR, Ringeisen gegen Österreich, Rn. 95; EGMR, Le Compte, Van Leuven und De Meyere gegen Belgien, 23.06.1981, No. 6878/75; No. 7238/75, Rn. 55. 49 EGMR, Mihailov gegen Bulgarien, 21.07.2005, No. 52367/99, Rn. 37. 50 EGMR, Beaumartin gegen Frankreich, 24.11.1994, No. 15287/89, Rn. 38; EGMR, Le Compte, Van Leuven und De Meyere gegen Belgien, Rn. 55; EGMR, Benthem gegen Niederlande, 23.10.1985, No. 8848/80, Rn. 43; EGMR, Belilos gegen Schweiz, Rn. 64; EGMR, Coëme u. a. gegen Belgien, 22.06.2000, No. 32492/96; No. 32547/96; No. 32548/96;

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

quenz nie isoliert von der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit oder Gesetzeserrichtetheit betrachtet werden könnte und innerhalb der Ausgangsfrage, ob es sich um ein Gericht handelt, zugleich die weiteren Merkmale des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK mitgeprüft werden müssten. Würde der EGMR diese problematische Auffassung konsequent anwenden, könnte in der Konsequenz kein Gericht gegen die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit verstoßen, denn es wäre schon kein Gericht. Der EGMR wird jedoch seinem eigenen Ansatz nicht gerecht: In wieder anderen Fällen bejaht er nämlich zunächst den Gerichtsbegriff, um in einem weiteren Prüfungsschritt die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit abzulehnen, behandelt also die in Art. 6 Abs. 1 EMRK genannten Charakteristika gerade nicht als konstituierend. In „Demicoli gegen Malta“ von 1991 sprach der EGMR etwa dem maltesischen Parlament den Charakter eines Gerichts iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK zu. Erst in einem zweiten Schritt verneinte er die Unparteilichkeit, da das maltesische Parlament in der konkreten Situation über die Sonderrechte von Parlamentariern und damit über seine eigenen Rechte entscheiden sollte.51 An der regelmäßig zweistufigen Prüfung des EGMR und der Art und Weise seiner Wiedergabe des Standpunktes der EKMR, „The Commission took the view that the House of Representatives could not be considered to be a court and did not fulfil the requirements of the Convention as to independence and impartiality“,52 zeigt sich, dass der EGMR den Gerichtsbegriff, entgegen anderer Rechtsprechung, teilweise losgelöst von den weiteren Attributen des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK betrachtet. Der EGMR sollte die dogmatisch fragwürdige Herangehensweise der Bemühung der Merkmale des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK bereits zur Bestimmung des Gerichtsbegriffs vermeiden, was ihn zugleich in die Lage versetzen würde, unnötige Inkonsistenzen und Widersprüche in seiner Rechtsprechung, wie sie derzeit anzutreffen sind, zu verhindern.53 Stattdessen sollte er den Begriff des Gerichts als separates Tatbestandsmerkmal in Art. 6 Abs. 1 EMRK

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No. 33209/96; No. 33210/96, No. 32492/96; No. 32547/96; No. 32548/96; No. 33209/96; No. 33210/96, Rn. 99; Soyer/de Salvia, Article 6, in: L.-E. Pettiti/E. Decaux/P.-H. Imbert (Hrsg.), La Convention Européenne des Droits de l’Homme, Commentaire article par article, 1999, S. 259 f.; Kühne, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 286 f.; Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, S. 286. Reid, A Practitioner’s Guide to the European Convention on Human Rights, 2008, S. 206, spricht von einem „obvious overlap with the separate requirements of independence and impartiality“. Siehe auch Müßig, Recht und Justizhoheit, 2009, S. 403 f. 51 EGMR, Demicoli gegen Malta, 27.08.1991, No. 13057/87, Rn. 37 ff. Konsequenter EKMR, Demicoli gegen Malta, 15.03.1990, No. 13057/87, Rn. 41: Da das Parlament ein Legislativorgan sei, das die Regierung oder die jeweilige Exekutive einsetze, könne es kein Gericht darstellen. Für weitere Beispiele für die zweistufige Prüfung des EGMR, siehe EGMR, Sramek gegen Österreich, Rn. 36, 37; EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 76, 77; EGMR, Ettl u. a. gegen Österreich, 23.04.1987, No. 9273/81, Rn. 34. EGMR, Pullar gegen Großbritannien, 10.06.1996, No. 22399/93, Rn. 29; EGMR, Savino u. a. gegen Italien, Rn. 94 ff. 52 Hervorhebung durch Verf. 53 Siehe auch die Kritik bei Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 Abs. 1 AMRK und Art. 14 Abs. 1 des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte, 2005, S. 29.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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betrachten und erst in einem weiteren, klar abgegrenzten Prüfungsschritt klären, ob dieses auch unabhängig und unparteiisch ist. Um den Gerichtsbegriff losgelöst von der Frage der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit oder Gesetzeserrichtetheit zu klären, lassen sich der Rechtsprechung von EGMR und EKMR zudem ausreichende materiell-rechtliche und funktionale Kriterien entnehmen. Grundlegend ist die Rechtsprechung der EKMR in der Rechtssache „Sramek gegen Österreich“ aus dem Jahr 1982: „The only thing which matters is that it fulfills the substantive requirements of a tribunal, being an authority with power to decide legal disputes with binding effect for the parties. Although the exercise of certain discretionary powers is not entirely extranous to its functions it is nevertheless characteristic of a tribunal that its decisions are not primarily left to its discretion, but must be arrived at in orderly proceedings conducted on the basis of the rule of law, i.e. proceedings enabling it to establish the legally relevant facts, and to apply pre-existing legal regulations or principles to these facts.“54 Der EGMR schloss sich dieser funktionalen Sichtweise in derselben Rechtssache zwei Jahre später an und hat dies in ständiger Rechtsprechung aufrechterhalten: Ein Gericht iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK sei dann gegeben, wenn das Organ Angelegenheiten innerhalb seiner Zuständigkeit entscheide, auf der Grundlage von rechtlichen Regelungen und nach einem vorgeschriebenen Verfahren.55 Außerdem müsse es die Kompetenz besitzen, in jeglicher Hinsicht, d. h. sowohl aus Rechts- als auch aus Tatsachengründen, eine angefochtene Entscheidung zu verwerfen, was eine generell vollumfängliche Prüfungskompetenz voraussetzt. Organe, die selbst nicht die Tatsachenlage prüfen können, sondern nur kassatorisch tätig werden, fallen danach nicht unter den Gerichtsbegriff des Art. 6 Abs. 1 EMRK.56 Die Entscheidungen eines Gerichts iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK müssen schließlich rechtsverbindlich sein, wie der EGMR bereits in „Campbell und Fell gegen Großbritannien“ feststellte.57 Daher reicht es nicht aus, wenn ein Organ lediglich Empfehlungen oder Ratschläge ausspricht und eine weitere Instanz die eigentliche Entscheidung trifft, auch wenn

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EKMR, Sramek gegen Österreich, 08.12.1982, No. 8790/79, Rn. 71. EGMR, Sramek gegen Österreich, Rn. 36; EGMR, H. gegen Belgien, 30.11.1987, No. 8950/80, Rn. 50; EGMR, Belilos gegen Schweiz, Rn. 64; und auch in aktuellen Urteilen, z. B. EGMR, Coëme u. a. gegen Belgien, Rn. 99; EGMR, Zypern gegen Türkei, 10.05.2001, No. 25781/94, Rn. 233. 56 Siehe EGMR, Stojakovic gegen Österreich, 09.11.2006, No. 30003/02, Rn. 45, mit Blick auf den österreichischen Verfassungsgerichtshof; ebenso schon EGMR, Schmautzer gegen Österreich, 23.10.1995, No. 15523/89, Rn. 34 f. Die „required scope of review“ umfasst „the power to quash in all respects, on questions of fact and law, the decision of the body below“, EGMR, Schmautzer gegen Österreich; Rn. 36; EGMR, Pfarrmeier gegen Österreich, 23.10.1995, No. 16841/90, Rn. 40; EGMR, Västberga Taxi Aktiebolag und Vulic gegen Schweden, 23.07.2002, No. 36985/97, Rn. 93; EGMR, Janosevic gegen Schweden, 23.07.2002, No. 34619/97, Rn. 8; van Dijk/van Hoof/van Rijn (Hrsg.), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 2006, S. 612; Kühne, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 289. 57 EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 76. 54 55

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

dem Rat in der Praxis regelmäßig gefolgt wird. Von einer geübten Praxis könne, so der EGMR, jederzeit abgewichen werden.58 Zu der verbindlichen Entscheidungskompetenz eines Gerichts iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK gehöre, dass das Urteil nicht durch eine nicht-gerichtliche Autorität wieder abgeändert oder an seiner Implementierung gehindert werden könne. Im Fall „Van de Hurk gegen Niederlande“ hatte die niederländische Krone die Kompetenz, anzuordnen, dass Entscheidungen des betreffenden Organs nicht implementiert würden. Obwohl im konkreten Fall nicht geschehen, genügte nach Ansicht des EGMR die bloße Möglichkeit, hiervon Gebrauch zu machen, so dass ein wesentliches Attribut eines Gerichts iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht vorlag.59 Unproblematisch für den Gerichtscharakter iSd Art. 6 Abs. 1 EMRK ist es, wenn das betreffende Organ verschiedene Kompetenzen auf sich vereint, neben der gerichtlichen Aufgabe auch verwaltende, regelnde, beratende oder disziplinarische Funktionen ausübt. Die Ausübung der unterschiedlichen Funktionen sollte jedoch in weitem zeitlichem Abstand voneinander entfernt und in verschiedenen Kontexten stattfinden.60 Ein Organ kann daher hinsichtlich einer bestimmten Funktion ein Gericht sein, während es mit Blick auf weitere ausgeübte Funktionen nicht als solches zu qualifizieren ist.61 Ebensowenig verlangt der autonome Gerichtsbegriff des Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass das Organ ausschließlich aus Berufsrichtern zusammengesetzt ist.62 Dies ist nur konsequent angesichts des autonomen und sehr weitreichenden Gerichtsverständnisses des EGMR. Auch Laienrichter, häufig als Experten für bestimmte Gebiete63 und sonstige Beamte64, können in Organen entscheidungsbefugt sein, die der

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EGMR, Benthem gegen Niederlande, Rn. 40. Zumindest missverständlich, wenn nicht dogmatisch ebenso problematisch wie die teilweise auftretende Vermengung der Unabhängigkeits- und Unparteilichkeitsattribute mit der Bestimmung des Gerichtsbegriffs, ist, dass der EGMR die Rechtsverbindlichkeit der Entscheidungen sowohl für das Vorliegen eines Gerichts, als auch für dessen Unabhängigkeit heranzieht, vgl. EGMR, Van de Hurk gegen Niederlande, 19.04.1994, No. 16034/90, Rn. 45; EGMR, Morris gegen Großbritannien, 26.02.2002, No. 38784/97, Rn. 73. Es wäre ratsam, der EGMR würde in Zukunft sauber zwischen der Institution und der Frage nach ihrer Unabhängigkeit differenzieren. Die Rechtsverbindlichkeit lässt sich dabei entweder als Teil des Gerichtsbegriffs sehen und würde der Verengung des Kreises der Organe, die unter das autonome Verständnis fallen, dienen. Oder er sollte die Frage erst als Teil der Unabhängigkeit stellen, da die Aussicht, dass der gerichtlichen Entscheidung rechtsverbindliche Wirkung zukommt, die Unabhängigkeit der Richter befördert. 60 EGMR, H. gegen Belgien, Rn. 50; a. A. die EKMR, die den Rat der Anwaltskammer Antwerpen als Verwaltungsbehörde sui generis einstufte und aufgrund der Vielzahl der Funktionen den Gerichtscharakter iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK ablehnte: EKMR, H. gegen Belgien, 08.10.1985, No. 8950/80, Rn. 96 f. 61 EGMR, Zlínsat, Spol. S R. O. gegen Bulgarien, 15.06.2006, No. 57785/00, Rn. 74. 62 So auch Kühne, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 288. 63 Siehe exemplarisch: EGMR, Ettl u. a. gegen Österreich, Rn. 34, 40, für Agrarexperten in österreichischen Agrarsenaten, deren Wissen nach Ansicht des EGMR gerade wünschenswert und wesentlich sei für fachspezifische und daher komplexe Fälle; EGMR, Langborger gegen Schweden, 22.06.1989, No. 11179/84, Rn. 34, hier implizit im Hinblick auf Laienrich58 59

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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EGMR als Gerichte beurteilt, auch wenn die Laien sogar die Mehrheit bilden.65 Anders sah dies die 1998 abgeschaffte EKMR, die mehrheitlich mit Verwaltungsbeamten besetzte Agrarsenate in „Ettl gegen Österreich“ 1985 nicht mehr als Gerichte einstufte, sondern forderte, dass ein Gericht iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK auch für ein Individuum ohne spezielle juristische Ausbildung als unabhängiges gerichtliches Organ erkennbar sein müsse. Diese äußere Erkennbarkeit erfordere eine organisatorische Struktur, die ein Gericht von einer normalen Verwaltungsbehörde klar unterscheide.66 Der EGMR ist dem nicht gefolgt.67 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Gericht iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK, das nicht nur als Institution zu verstehen ist, sondern sich auch auf jeden individuellen Richter bezieht,68 über die in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen, derzeit teilweise noch als konstituierend herangezogenen Merkmale der Unabhängigkeit (1), der Unparteilichkeit (2) und der gesetzlichen Grundlage (3) hinaus, folgende Charakteristika aufweisen muss: es muss rechtliche Streitigkeiten entscheiden können (4), die Kompetenz haben, in jeglicher Hinsicht, d. h. sowohl aus Rechtsals auch aus Tatsachengründen angefochtene Entscheidungen verwerfen und damit grundsätzlich vollumfänglich prüfen zu können (5), rechtsverbindliche Entscheidungen zu treffen (6),69 innerhalb seiner Zuständigkeit zu urteilen (7), auf der Basis rechtlicher Regeln (8), anhand eines vorgeschriebenen, rechtsstaatlichen Verfahrens (9);70 dabei ist nicht Voraussetzung, dass die rechtsprechende Funktion die einzige Funktion des Organs ist (10) oder es ausschließlich aus Berufsrichtern besteht (11). Liegen einzelne dieser Kriterien nicht vor, kann Heilung eintreten, wenn ein Spruchkörper im Rechtsmittelverfahren nachgeschaltet ist, der die Anforderungen an ein Gericht gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllt.71 Dann entspricht das Verfahren

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ter in speziellen Spruchkörpern für Mietsachen in Schweden, in welchen neben zwei Berufsrichtern auch je ein Vertreter der Grundeigentümervereinigung und des Mieterverbundes saßen. Zwar ging es im Kern um die Frage „unabhängiges Erscheinungsbild“ bzw. „objektive Unparteilichkeit“, allerdings äußerte der EGMR keine Zweifel an der Gerichtsqualität. 64 EGMR, Ettl u. a. gegen Österreich, Rn. 34, 38, 39. 65 Id.; EGMR, Lavents gegen Lettland, 28.11.2002, No. 58442/00. 66 EKMR, Ettl gegen Österreich, 03.07.1985, No. 9273/81, Rn. 95. 67 EGMR, Ettl u. a. gegen Österreich. 68 EGMR, Henryk Urban und Ryszard Urban gegen Polen, Rn. 45: „The Court further recalls that the requisite guarantees of independence apply not only to a „tribunal“ within the meaning of Article 6 § 1 of the Convention, but also extend to „the judge or other officer authorised by law to exercise judicial power“ referred to in Article 5 § 3 of the Convention (…).“ 69 Man beachte aber, dass dieses Element nach der Rechtsprechung zugleich auch Teil der Unabhängigkeit ist: EGMR, Van de Hurk gegen Niederlande, Rn. 45. 70 Zu den Bestandteilen eines solchen rechtsstaatlichen Verfahrens, das ein „Gericht“ iSv Art. 6 EMRK ausmacht, siehe EGMR, Zlínsat, Spol. S R. O. gegen Bulgarien, Rn. 76. 71 EGMR, Van de Hurk gegen Niederlande, Rn. 44 ff., 52; EGMR, British-American Tobacco Company LTD. gegen Niederlande, 20.11.1995, No. 19589/92, Rn. 78 ff. Auch schon implizit in: EGMR, Nortier gegen Niederlande, 24.08.1993, No. 13924/88, Rn. 3; und schon früh in der Entscheidungspraxis der EKMR: EKMR, H. gegen Belgien, Rn. 92. Jüngst wie-

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

nach ständiger Rechtsprechung des EGMR insgesamt den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Das Gericht der höheren Instanz muss jedoch „full jurisdiction“ haben, d. h. sowohl tatsächliche als auch rechtliche Fragen noch einmal prüfen und aus beiden Gründen die Entscheidung der unteren Instanz verwerfen können.72 Nur ausnahmsweise kann genügen, dass das Rechtsmittelgericht, statt „full jurisdiction“, lediglich eine ausreichende Überprüfung bietet („sufficiency of review“).73 Diese Ausnahme greift dann, wenn spezielle Fachkenntnisse („specialist knowledge“) notwendig sind, um die Tatsachen würdigen zu können, diese aber nur bei der Ausgangsinstanz vorliegen, und das Rechtsmittelgericht daher nur über eine eingeschränkte Zuständigkeit zur Würdigung der Tatsachen verfügt.74 b) Auf Gesetz beruhend Das Gesetz, auf dem das Gericht beruhen muss („established by law“), wird durch den EGMR und die ehemalige EKMR ebenso autonom75 und funktional76 interpretiert wie der Gerichtsbegriff selbst. Es ist unerheblich, wie der in Rede stehende Akt im innerstaatlichen Recht zu qualifizieren ist. Vielmehr orientiert sich der Gesetzesbegriff an den beiden Funktionen, die diese Vorgabe nach EGMR und

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der: EGMR, Mihailov gegen Bulgarien, Rn. 35 ff.; EGMR, Crompton gegen Großbritannien, 27.10.2009, No. 42509/05, Rn. 70. In einem jüngeren Urteil gegen Russland hat der EGMR allerdings die bloße Tatsache, dass ein Gericht iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK in höherer Instanz den Fall nochmals würdigt, nicht mehr dafür ausreichen lassen, insgesamt von einem konventionsgemäßen Verfahren auszugehen. Vielmehr müsse das höhere Gericht die Konventionswidrigkeit der vorangegangenen Instanz beanstanden und das Urteil der unteren Instanz aufheben, damit die Heilung greife: EGMR, Moiseyev gegen Russland, 09.10.2008, No. 62936/00, Rn. 183. Ob dies dem russischen Einzelfall geschuldet war und der EGMR keine pro-forma-Prüfung durch die höhere Instanz für eine Heilung genügen lassen wollte, muss die künftige Rechtsprechung klären. 72 So der EGMR in ständiger Rechtsprechung, vgl. exemplarisch: EGMR, Belilos gegen Schweiz, Rn. 69 ff.; EKMR, Le Compte, Van Leuven und De Meyere gegen Belgien, 14.12.1979, No. 6875/75; No. 7238/75, Rn. 81; EGMR, Schmautzer gegen Österreich, Rn. 34 ff.; EGMR, Pfarrmeier gegen Österreich, Rn. 38 ff.; EGMR, Stojakovic gegen Österreich, Rn. 45; siehe auch Kühne, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 289. 73 EGMR, Crompton gegen Großbritannien, Rn. 71. 74 EGMR, Bryan gegen Großbritannien, 22.11.1995, No. 19178/91, Rn. 44–47. In EGMR, Tsfayo gegen Großbritannien, 14.11.2006, No. 60860/00, Rn. 43 befand der EGMR, das keine spezialisierte Fachkenntnis notwendig sei, und ließ daher eine eingeschränkte Prüfung durch das Berufungsgericht für eine „sufficiency of review“ nicht ausreichen. Anders in EGMR, Crompton gegen Großbritannien, Rn. 71 ff., da das Berufungsgericht hier noch einmal alle Tatsachen aufrollen konnte. 75 Siehe Matscher, La notion de „tribunal“ au sens de la Convention Européenne des Droits de l’Homme, in: Université Robert Schuman de Strasbourg (Hrsg.), Les nouveaux développements du procès équitable au sens de la Convention européenne des droits de l’homme, 1996, S. 33. 76 Siehe auch Grabenwarter/Pabel, Kapitel 14: Der Grundsatz des fairen Verfahrens, in: R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Rn. 42.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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EKMR erfüllen soll: Zum einen Ausnahmegerichte zu verhindern, d. h. solche, die ad hoc für einen konkreten Fall geschaffen werden, weshalb die Norm abstraktgenerellen Charakter haben muss. Zum anderen die demokratische Legitimation der Gerichte zu sichern, deren Einsetzung weder in das Ermessen der Exekutive, noch in das Ermessen der Justiz gestellt werden soll.77 Um beide Funktionen zu erfüllen, kommt als „Gesetz“ iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK nur ein Parlamentsgesetz in Betracht,78 oder die jeweilige Verfassung, falls diese hinreichend konkret ist.79 Generelle Verfassungsvorgaben genügen dem „Gesetz“ iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht.80 Das Gesetz muss zumindest durch Rahmenvorschriften den gesamten organisatorischen Aufbau der Gerichte, einschließlich der sachlichen und örtlichen Zuständigkeiten, regeln. Innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens ist es möglich, die Exekutive durch Ausführungsvorschriften zum Einrichten der Gerichte zu ermächtigen, d. h. den Erlass der konkreten Vorschriften über die Errichtung zu delegieren.81 Daher stehen auch materielle Gesetze im Einklang mit der EMRK, solange es eine hinreichend konkrete Ermächtigungsgrundlage durch ein formelles Gesetz gibt. Weiterhin ist es zulässig, dass die Gerichte selbst Spielraum haben, das vom parlamentarischen Gesetzgeber erlassene Gesetz zu interpretieren.82 Um die Funktion der demokratischen Legitimation der Gerichtsorganisation zu erfüllen, muss das Parlament also nicht jedes Detail der Gerichtseinsetzung selbst regeln, solange die Legislative den organisatorischen Rahmen schafft.83 Für das Common Law hat der EGMR – allerdings zu der Voraussetzung „prescribed by law“ in Art. 10 Abs. 2 EMRK – entschieden, dass sowohl Richterrecht dem Merkmal „Gesetz“ genügt84 als auch ungeschriebenes Recht.85 Beides – Richterrecht und Ungeschriebenheit – wird man auf kontinentaleuropäische Rechtsysteme wohl nicht übertragen können, sondern für diese die Gesetzesqualität von Richterrecht ablehnen und Schriftform und Publizität als Gesetzesmerkmale iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK fordern.86 Weiterhin muss das Gesetz von gewisser Qualität sein, nämlich den Anforderungen des Zugangs

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EGMR, Coëme u. a. gegen Belgien, Rn. 98, 107. EKMR, Zand gegen Österreich, Rn. 69; EKMR, Piersack gegen Belgien, 13.05.1981, No. 8692/79, Rn. 48; EGMR, Pandjikidzé u. a. gegen Georgien, Rn. 105. 79 Grabenwarter/Pabel, Kapitel 14: Der Grundsatz des fairen Verfahrens, Rn. 42. 80 EGMR, Sokurenko und Strygun gegen Ukraine, 20.07.2006, No. 29458/04; 29465/04, Rn. 26. 81 EKMR, Zand gegen Österreich, Rn. 68 f.; EGMR, Lavents gegen Lettland, Rn. 114. 82 EGMR, Coëme u. a. gegen Belgien, Rn. 98. 83 EKMR, Zand gegen Österreich, Rn. 69. 84 EGMR, Sunday Times gegen Großbritannien, Rn. 47 ff. Siehe näher Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 401 f. 85 EGMR, Sunday Times gegen Großbritannien, Rn. 47. 86 Siehe zur Begründung und für eine nähere Auseinandersetzung mit den Unterschieden des Common Law Systems und des kontinentaleuropäischen Systems in Bezug auf die Gesetzesmerkmale iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK: Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 401 ff. 77 78

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

zum Gesetz („accessibilité“) und der Vorhersehbarkeit („prévisibilité“) gerecht werden.87 Neben der grundsätzlichen Gesetzeserrichtetheit, muss für ein auf Gesetz beruhendes Gericht iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK allerdings auch im konkreten Fall Übereinstimmung mit den darüber hinausgehenden innerstaatlichen Regelungen herrschen.88 Dies stellt den EGMR vor die Aufgabe, die Übereinstimmung der Richterbank in ihrer konkreten Zusammensetzung mit dem nationalen Recht abzugleichen, um festzustellen, ob dem Begriff „established by law“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK durch den jeweiligen Konventionsstaat entsprochen wird. Da dies mit Blick auf Mandat und subsidiäre Rolle des EGMR nicht unproblematisch ist, beschränkt er seine Prüfung darauf, ob „a flagrant violation of domestic law“ vorliegt.89 Selbst einem grundsätzlich institutionell anerkannten Gericht wie der belgischen „Cour de Cassation“, die anderen Parteien gegenüber ein auf Gesetz beruhendes Gericht ist,90 kann es daher im konkreten Einzelfall an dem Merkmal „established by law“ fehlen, wenn keine sachliche Zuständigkeit für die Behandlung des in Rede stehenden Verfahrens gegeben ist.91 Ebenso verhält es sich, wenn ein Gericht zwar grundsätzlich sachlich zuständig ist, aber im konkreten Fall seine Kompetenzen überschreitet. Im Urteil „Sokurenko und Strygun gegen Ukraine“ von 2006 hatte das ukrainische Oberste Gericht einen prozessualen Verfahrensausgang gewählt, der gesetzlich für diese Art von Verfahren nicht vorgesehen war. Daher fehlte es ihm im konkreten Fall an der gesetzlichen Grundlage iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK.92 Darüber hinaus ist Teil der Anforderung eines auf Gesetz beruhenden Gerichts iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK mittlerweile ausdrücklich auch die konkrete Besetzung der Richterbank und damit Fragen der Zuweisung und Umverteilung von Fällen, wenngleich der EGMR dies mitunter uneinheitlich bei dem Prüfungspunkt „guarantees against outside pressures“ im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit behandelt.93 In früherer Rechtsprechung noch offen gelassen94 oder sogar verneint,95 wird nunmehr in ständiger Rechtsprechung das Merkmal „established by law“ auch auf die konkrete Zusammensetzung der Richterbank ausgeweitet. Für die Besetzung der Richterbank und damit für den für die richterliche Unabhängigkeit bedeutenden Aspekt der Fallzuweisung ist wesentlich, dass es eine gesetzliche Grundlage gibt,

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EGMR, Savino u. a. gegen Italien, Rn. 98. EGMR, Šorgić gegen Serbien, 03.11.2011, No. 34973/06, Rn. 61 f. 89 EGMR, Richert gegen Polen, 25.10.2011, No. 54809/07, Rn. 55; EGMR, Šorgić gegen Serbien, Rn. 63. 90 EGMR, Coëme u. a. gegen Belgien, Rn. 99. 91 Id., Rn. 107 f. 92 EGMR, Sokurenko und Strygun gegen Ukraine, Rn. 26 f. 93 Vgl. EGMR, Moiseyev gegen Russland, Rn. 172 ff. und unten B. I. 3. c) bb) (2). 94 EGMR, Piersack gegen Belgien, 01.10.1982, No. 8692/79, Rn. 33. 95 Siehe für Nachweise zu der mittlerweile überholten Rechtsprechung: Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 415 ff. 87 88

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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die vorher feststeht und nicht erst rückwirkend geschaffen wird.96 Ist die Besetzung gesetzlich nicht geregelt oder weicht die Zusammensetzung von der gesetzlichen Regelung ab, da Personen als Richter fungieren, die gesetzlich nicht vorgesehen waren, wie dies in Russland und Georgien aufgetreten ist,97 handelt es sich insgesamt um ein Gericht ohne gesetzliche Grundlage; eine so gepflegte Praxis der Besetzung der Richterbank ohne gesetzliche Regelung reicht nicht aus.98 Dies bestätigt auch die Verurteilung Moldawiens in „Gurov gegen Moldawien“, in dem Richter nach einer anfänglichen Probezeit von zunächst zehn Jahren aufgrund einer so gepflegten Praxis im Amt blieben und weiterhin rechtsprechende Funktionen ausübten, bis sie endgültig auf Lebenszeit ernannt oder aber entlassen wurden.99 Die gesetzliche Grundlage muss außerdem für jeden Fall eindeutig sein, klare Sicherungen für Objektivität und Transparenz enthalten und jeglichen Eindruck von Willkür bei der Zuweisung der Fälle vermeiden.100 Zwar kann es durch gerichtlichen Beschluss zu gerechtfertigten Umverteilungen von Fällen kommen, wenn es einem Richter aufgrund objektiver Gründe unmöglich ist, in einem oder mehreren Verfahren zu sitzen, weil er etwa bereits in der Vorinstanz beteiligt war101 oder zu einem höheren Gericht befördert wurde.102 Ebenso ist grundsätzlich eine zeitlich befristete Abordnung eines Richters konventionskonform, wenn sie durch den Gerichtspräsidenten des abordnenden Gerichts und nur mit Zustimmung des Richters selbst sowie derjenigen des empfangenden Gerichts erfolgt.103 An der Eindeutigkeit und Klarheit fehlt es aber, wenn ein Gerichtspräsident über einen weiten Spielraum bei der Verweisung eines Falles an einen anderen Richter verfügt. Ebenso problematisch ist es,

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EGMR, Richert gegen Polen, Rn. 50, 55. In beiden Staaten betraf dies die Beteiligung von Laien als Richter: EGMR, Posokhov gegen Russland, Rn. 39 ff.; EGMR, Laryagin und Aristov gegen Russland, 08.01.2009, No. 38697/02; No. 14711/03, Rn. 34 ff.; EGMR, Moskovets gegen Russland, 23.04.2009, No. 14370/03, Rn. 97 ff.; EGMR, Ilatovskiy gegen Russland, 09.07.2009, No. 6945/04, Rn. 36 ff.; EGMR, Pandjikidzé u. a. gegen Georgien, Rn. 108 f. 98 Siehe exemplarisch für viele: EGMR, Posokhov gegen Russland, 04.03.2003, No. 63486/00, Rn. 39 ff.; EGMR, Fedotova gegen Russland, 13.04.2006, No. 73225/01, Rn. 38; EGMR, Zakharkin gegen Russland, 10.06.2010, No. 1555/04, Rn. 35; EGMR, Savino u. a. gegen Italien, Rn. 94; EGMR, Pandjikidzé u. a. gegen Georgien, Rn. 104; EGMR, DMD Group, A. S. gegen Slowakei, Rn. 59; EGMR, Richert gegen Polen, Rn. 43; EGMR, Buscarini gegen San Marino, 04.05.2000, No. 31657/96, S. 7. Siehe auch Kühne, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 294 f.; Leach, Taking a Case to the European Court of Human Rights, 2011, S. 289. Veraltet insoweit Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 415 ff. 99 EGMR, Gurov gegen Moldawien, 11.07.2006, No. 36455/02, Rn. 37. 100 EGMR, DMD Group, A. S. gegen Slowakei, Rn. 66. Siehe auch EGMR, Iwanczuk gegen Polen, S. 7. 101 EGMR, Buscarini gegen San Marino, S. 7. 102 EGMR, Iwanczuk gegen Polen, S. 7. 103 EGMR, Richert gegen Polen, Rn. 44 ff. Die Konventionsverletzung folgte im konkreten Fall aus dem Fehlen der notwendigen präzisen Abordnung samt Bestimmung des Zeitraums durch den Gerichtspräsidenten für einen großen Teil der Verhandlungstage. 96 97

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

wenn die Abänderung des Geschäftsverteilungsplanes auf eine generelle Neuorganisation und Restrukturierung der Arbeit an dem Gericht gestützt wird.104 Anders als teilweise dargestellt,105 beinhaltet diese neuere Rechtsprechung des EGMR jedoch nicht notwendigerweise das „Recht auf den gesetzlichen Richter“ iSd deutschen Verständnisses von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, welches die Kombination aus Parlamentsgesetz und, darauf aufbauend, einem vom jeweiligen Gerichtspräsidium erlassenen abstrakt-generellen Geschäftsverteilungsplan meint, der im Voraus (regelmäßig jährlich) und schriftlich die innerhalb des Gerichts zuständigen Spruchkörper und die ihnen angehörenden Richter bestimmt, und damit eine einzelfallbezogene Auswahl eines Gerichts oder eines Richters schon als Möglichkeit ausschließt.106 Der EGMR handhabt die Anforderung der gesetzlich vorgegebenen Zusammensetzung der Richterbank vielmehr mit größerer Flexibilität und Rücksicht auf mögliche nationale Spezifika, solange es sich um ein zufälliges Verfahren handelt: An der Entscheidung „Posokhov gegen Russland“107 und den Nachfolgefällen108 zeigt sich, dass auch ein System, bei dem sich die konkrete Besetzung der Bank erst über ein Losverfahren ergibt, nicht grundsätzlich durch den EGMR beanstandet wird, obwohl es die Besetzung der Bank – jedenfalls für Verfahren unter Beteiligung von Laien – stärker als das deutsche System dem Zufall überlässt. Weiterhin wurde die Aussage der „composition of the bench in each case“, soweit ersichtlich, noch nicht in Bezug auf Großbritannien getroffen, dessen Common Law System das Prinzip des gesetzlichen Richters nach deutschem Verständnis fremd ist.109 Angesichts dessen, dass der EGMR für den Gesetzesbegriff hinsichtlich des

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104 EGMR, DMD Group, A. S. gegen Slowakei, Rn. 68 ff. Im konkreten Fall trat hinzu, dass der Gerichtspräsident den Fall an sich selbst verwiesen hatte. 105 Kühne, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 294; Baier, Weitere Urteile und Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Newsletter Menschenrechte, Heft 5, 2010, S. 318. 106 Schulze-Fielitz, Artikel 101, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2008, Rn. 18 ff. 107 EGMR, Posokhov gegen Russland, Rn. 39 ff. Nach diesem russischen Verfahren, das den EGMR mehrfach beschäftigt hat, steht eine Liste von Laienrichtern für jedes Amtsgericht fest, die die Anzahl der für ein Verfahren notwendigen Laienrichter um den Faktor drei übersteigt und von welcher für das jeweilige Verfahren zwei per Los gezogen werden. Die Laienrichter dürfen dabei nur einmal pro Jahr und nur für eine maximale Dauer von 14 Tagen in Anspruch genommen werden. Im konkreten Fall lag zwar eine Verletzung vor, da keine Liste vorgelegen hatte und zwei Laien, die bereits 88 Tage als Richterinnen fungiert hatten, erneut ausgewählt worden waren, ohne dass es hierfür einen dem Gesetz entsprechenden Grund gegeben hätte. Allerdings beanstandete der EGMR unter dem Prüfungspunkt „composition of the bench in each case“ als Bestandteil des Gesetzesbegriffs das System nicht grundsätzlich. 108 Ebenso entschieden in den Nachfolgefällen zu Posokhov: EGMR, Fedotova gegen Russland, Rn. 40 ff.; EGMR, Shabanov und Tren gegen Russland, 14.12.2006, No. 5433/02, Rn. 30 ff.; EGMR, Barashkova gegen Russland, 29.04.2008, No. 26716/03, Rn. 32 ff.; EGMR, Zakharkin gegen Russland, Rn. 148 ff.; EGMR, Ilatovskiy gegen Russland, Rn. 38 ff.; EGMR, Laryagin und Aristov gegen Russland, Rn. 34 ff.; EGMR, Moskovets gegen Russland, Rn. 97 ff. 109 Schulze-Fielitz, Art. 101, Rn. 12 f.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Common Law Rechtskreises Richterrecht akzeptiert hat, was für kontinentaleuropäische Staaten eher zweifelhaft erscheint,110 und auch im Übrigen mit Blick auf das Common Law eine differenzierte Herangehensweise übt,111 ist davon auszugehen, dass diese Unterscheidung auch mit Blick auf den gesetzlichen Richter gilt.

3. Unabhängigkeit der Gerichte Der EGMR hat seit den frühen 1980er Jahren112 in ständiger Rechtsprechung insbesondere vier Kriterien benannt, die zur Bestimmung der Unabhängigkeit eines Gerichts iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK betrachtet werden müssten. Dies sind die Art und Weise der Ernennung von Richtern, ihre Amtszeit, die Existenz von Garantien gegen Einfluss von außen, und die Frage, ob das in Rede stehende Organ nach außen den Anschein von Unabhängigkeit macht.113 Darüber hinaus hat die Rechtsprechung des EGMR und der EKMR innerhalb dieser vier grundlegenden Gesichtspunkte eine Vielzahl weiterer Kriterien hervorgebracht, wie die grundsätzliche Unabsetzbarkeit, die Weisungsfreiheit, das Erfordernis geheimer Beratungen, die Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen und eine adäquate Vergütung. Und auch außerhalb der ständigen Aufzählung wurde das Unabhängigkeitsverständnis, das Art. 6 Abs. 1 EMRK zugrunde liegt, weiter ausgeformt, indem die Unabhängigkeit innerhalb der Judikative („internal independence“)114, die richterliche Immunität, Sicherungen im Verhältnis zwischen Richtern und StA sowie für richterliche Disziplinarverfahren und Evaluationen von Richtern als weitere Parameter entwickelt wurden. Da der Gerichtsbegriff iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK die Institution und den individuellen Richter meint,115 beziehen sich auch die Unabhängigkeitserwägungen des

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Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 401 f. EGMR, Sunday Times gegen Großbritannien, Rn. 47, und beiläufig in EGMR, DMD Group, A. S. gegen Slowakei, Rn. 60. 112 Vgl. zuvor schon die Nennung der Amtszeit und notwendiger Garantien, die das Verfahren aufweisen müsse, in EGMR, Ringeisen gegen Österreich, Rn. 95, von 1971, dort allerdings noch dogmatisch unsauber im Zusammenhang mit der Bestimmung des Gerichtsbegriffs. Vgl. auch die Annäherung der EKMR 1978 an die Unabhängigkeitsanforderung, die allerdings nur zwei Elemente herausstellte: „(…) the Courts’ independence from the Executive, and their independence from the parties“, EKMR, Zand gegen Österreich, Rn. 74. 113 „In order to establish whether a body can be considered ,independent‘ regard must be had, inter alia, to the manner of appointment of its members and their term of office, to the existence of guarantees against outside pressure and to the question whether the body presents an appearance of independence.“ Erstmals in EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 78, allerdings noch ohne den Zusatz „inter alia“. Siehe exemplarisch für diese ständige Rechtsprechung: EGMR, Langborger gegen Schweden, Rn. 32; EGMR, Findlay gegen Großbritannien, 25.02.1997, No. 22107/93, Rn. 73; EGMR, Lauko gegen Slowakei, Rn. 80; EGMR, Çiraklar gegen Türkei, 28.10.1998, No. 19601/92, Rn. 38; EGMR, Morris gegen Großbritannien, Rn. 58; EGMR, Sutyagin gegen Russland, 03.05.2011, No. 30024/02, Rn. 179. 114 So der EGMR seit 2009: EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 86. 115 Siehe EGMR, Henryk Urban und Ryszard Urban gegen Polen, Rn. 45. 110 111

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

EGMR sowohl auf das Gericht als Ganzes als auch auf den einzelnen Richter,116 soweit es sich nicht offensichtlich um Ausführungen handelt, die nur auf ein Kollegialorgan zutreffen. a) Art und Weise der Ernennung von Richtern Die Auswahl und Ernennung von Richtern stellt eine entscheidende Voraussetzung für eine unabhängige Justiz dar. Verschiedene Modelle der Richterauswahl und -ernennung sind denkbar: die Auswahl und Ernennung der Richter durch oder unter Beteiligung der Exekutive, durch oder unter Beteiligung der Legislative oder Kooptation durch die Richterschaft. Letzteres ist sowohl in Form eines richterlichen Selbstverwaltungsorgans, das sich aus Richtern zusammensetzt, die durch die Richterschaft selbst gewählt werden, anzutreffen, als auch in Form eines Verwaltungsorgans, das mehrheitlich oder anteilig aus Richtern besetzt ist, die teilweise durch die Richterschaft, teilweise durch die anderen Gewalten bestimmt werden, wie es vielen der seit den 1990er Jahren beinahe flächendeckend in den östlichen Europaratsstaaten eingeführten Richterräten gemein ist. Und schließlich stellt die Schiedsgerichtsbarkeit mit der Auswahl und Ernennung der Richter durch die Parteien selbst einen Sonderfall dar. Sämtliche Modelle sind in den Konventionsstaaten anzutreffen und waren in unterschiedlich starkem Maße Gegenstand vor dem EGMR und der EKMR. Der EGMR hat sich nie in genereller Manier dazu geäußert, welche Formen der Ernennung konventionskonform sind oder seiner Vorstellung des Begriffs „independent tribunal“ am ehesten entsprechen. Der Schwerpunkt seiner Betrachtung liegt regelmäßig auf der Frage, ob die Unabhängigkeit des Richters im Anschluss an die Ernennung gewahrt ist, um daraus zu schlussfolgern, ob der Modus der Auswahl und Ernennung im Einklang mit der Anforderung der Unabhängigkeit steht. Dabei stellt er grundsätzlich formal darauf ab, welche Sicherungsmechanismen das Gesetz vorsieht. aa) Beteiligung durch die Exekutive Die eindeutig größte Fallgruppe, mit der sich der EGMR und die ehemalige EKMR in der Vergangenheit befasst haben, betrifft die Frage, wie es sich mit der Auswahl und/oder Ernennung der Richter durch die Exekutive verhält. Die häufige Befassung resultierte in den ersten Jahrzehnten, als sich die grundlegende Rechtsprechungslinie herausgebildet hat, insbesondere aus dem offenen, autonomen Gerichtsbegriff der Straßburger Rechtsprechung, unter den auch fachspezifische, mit Verwaltungsbeamten besetzte Kommissionen mit regelmäßig exekutivem Ernennungsmodell fallen. Die Ernennung der Richter zu den allgemeinen staatlichen

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So auch Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24, Rn. 32.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Gerichten durch die Exekutive ist erst seit den 2000er Jahren durch Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten vermehrt Gegenstand geworden,117 wenngleich der EGMR bereits in den 1980er Jahren die weite Verbreitung des exekutiven Ernennungsmodus für allgemeine staatliche Gerichte festgestellt hat.118 Seit den 1980er Jahren haben EGMR und die frühere EKMR in ständiger Rechtsprechung befunden, dass die Ernennung durch die Exekutive an sich nicht die Unabhängigkeit der Richter gefährde, solange sie anschließend in ihrer richterlichen Aufgabenwahrnehmung keinen Weisungen unterlägen und mithin ihre Funktion in voller Unabhängigkeit ausüben könnten.119 Ob diese Weisungsfreiheit von dem ernennenden Exekutivorgan anschließend gegeben ist, untersucht der EGMR bis heute allein anhand der formalen gesetzlichen Vorgaben der Weisungsfreiheit und Unabsetzbarkeit.120 Dies gilt auch für die Beteiligung der Exekutive an der Richterauswahl, indem etwa der Staatspräsident die Richter für eine Ernennung oder Wahl durch ein anderes Organ vorschlägt. Hierzu führte der EGMR lediglich aus, dass die Nominierung durch den Staatspräsidenten noch nicht bedeute, dass dieser deshalb später Weisungen an die Richter richte.121 Auch wenn die Auswahl oder Ernennung durch die Exekutive, wie sie auch in Deutschland anzutreffen ist,122 nicht grundsätzlich auf Bedenken stößt, lässt die Rechtsprechung des EGMR in dieser Frage seit jeher vermissen, in Fällen, die einen begründeten Anlass hierfür bieten,123 kritisch danach zu fragen, ob durch den Auswahl- und Ernennungsmodus in Einzelfällen nur bestimmte (loyale) Personen für das Richteramt bestimmt werden, und damit durch die Auswahl der Mitglieder bereits Einfluss auf die spätere – weisungsfrei getroffene – Entscheidung genommen

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117 Vgl. etwa EGMR, Galstyan gegen Armenien; EGMR, Ashughyan gegen Armenien; EGMR, Absandze gegen Georgien, 15.10.2002, No. 57861/00; EGMR, Forum Maritime S. A. gegen Rumänien, 04.10.2007, No. 63610/00; No. 38692/05. 118 EGMR, Belilos gegen Schweiz, Rn. 66. Im konkreten Fall ging es jedoch wiederum um einen speziellen Verwaltungsspruchkörper (die Unabhängigkeit des Polizeidirektoriums), der in diesem Fall Gerichtsfunktionen wahrnahm, und für welchen die Ernennungskompetenz bei der Stadtverwaltung lag. Nach dem EGMR reichte dies für sich genommen nicht aus, um eine mangelnde Unabhängigkeit anzunehmen. 119 EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 79; EGMR, Sramek gegen Österreich, Rn. 38, 41. In seiner frühesten Rechtsprechung in Ringeisen gegen Österreich von 1971 lässt der EGMR eine solche Klarstellung noch vermissen. Ohne nähere Argumentation stellte der EGMR hier fest, dass die Landesgrundverkehrskommission unabhängig von der Exekutive sei, ohne auf die Art und Weise einzugehen, wie und von wem die Mitglieder ernannt wurden. 120 EGMR, Forum Maritime S. A. gegen Rumänien, Rn. 154. 121 EGMR, Absandze gegen Georgien, S. 37. 122 Vgl. näher zum deutschen Modell: Seibert-Fohr, Judicial Independence in Germany, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 447 ff., B. I. 1. a), 3., II. 2., F. 123 So z. B. in EGMR, Galstyan gegen Armenien; EGMR, Ashughyan gegen Armenien; EGMR, Absandze gegen Georgien, 15.10.2002, No. 57861/00; EKMR, Sutter gegen Schweiz, 01.03.1979, No. 8209/78, S. 174.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

werden kann. Sich lediglich auf die gesetzlich verbürgte Weisungsfreiheit zu stützen, ist nicht immer ausreichend, um Gefahren für die Unabhängigkeit der so ernannten Richter zu erfassen. Formale Garantien bilden den wesentlichen Rahmen, sind zugleich aber typischerweise und standardmäßig in den Gesetzen anzutreffen und sagen daher noch nichts über die tatsächliche Sicherung in der Praxis aus.124 Dass auch eine weniger formale Argumentation möglich ist, belegen nur einzelne Urteile und Entscheidungen in jahrzehntelanger Rechtsprechung, wie etwa die Befassung der EKMR in den 1980er Jahren mit der Rechtssache „Campbell und Fell gegen Großbritannien“ oder das Urteil des EGMR in „Incal gegen Türkei“ von 1998, sowie kritische Sondervoten, wie dasjenige der Richter Garlicki und Pellonpää zu „Gurov gegen Moldawien“ 2006. Obwohl im Hinblick auf die richtende Tätigkeit der „Boards of Visitors“125 in „Campbell und Fell gegen Großbritannien“ eine gesetzliche Verpflichtung bestand, unabhängig zu agieren, befand die EKMR, dass Unabhängigkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK mehr verlange: Die Unabhängigkeit von der Exekutive müsse sich nicht nur auf die Funktionserfüllung erstrecken, sondern auch institutionell gelten. Eine solche institutionelle Unabhängigkeit von der Gefängnisverwaltung und damit der Exekutive sei jedoch nicht gegeben, wenn die Mitglieder der „Boards“ durch das Innenministerium ernannt würden und damit von derselben Autorität, der auch die gesamte Gefängnisverwaltung unterstehe – ganz gleich, welche Garantien im Anschluss formal bestünden.126 In „Incal gegen Türkei“ sprachen sich 12 der 20 Richter der GK des EGMR, leider ohne nähere Begründung, dafür aus, dass die Ernennung des Militärrichters bei den Nationalen Sicherheitsgerichten durch die Exekutive eines der Probleme im Hinblick auf die Unabhängigkeit dieses Richters und damit des Gerichts als Ganzem darstellen würde.127 Die vielen abweichenden Richter verwiesen die Mehrheit in ihrem Sondervotum auf die ständige Rechtsprechung des EGMR, nach der eine exekutive Ernennung nicht zu beanstanden sei.128 In „Gurov gegen Moldawien“ von 2006 kritisierten die Richter Garlicki und Pellonpää in ihrem Sondervotum die Kompetenz der Exekutive, hier des Staatspräsidenten, über die Frage der permanenten Ernennung von Richtern bis zu einem festgelegten Ruhestandsalter nach einer begrenzten Pro-

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124 Näheres zu der Art und Weise der Ernennung von Richtern und den Gefahren, die trotz standardmäßiger Normierung der entsprechenden Sicherungen, in der Praxis erwachsen können, findet sich z. B. in den Staatenberichten, insbesondere zu den östlichen Europaratsstaaten in Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition. 125 Organe, die in britischen Gefängnissen gerichtliche Funktionen und die Aufsicht über die Gefängnisverwaltung innehatten. 126 EKMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 137. Anders sah dies der EGMR, der im Sinne seiner ständigen Rechtsprechung lediglich auf die Weisungsfreiheit der „Boards“ in ihrer richtenden Funktion verwies sowie implizit darauf, dass das Modell der exekutiven Ernennung in den Konventionsstaaten vorherrsche: EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 79. 127 EGMR, Incal gegen Türkei, 09.06.1998, No. 22678/93, Rn. 68. 128 Abweichendes Sondervotum der Richter Thór Vilhjálmsson, Gölcüklü, Matscher, Foighel, Freeland, Lopes Rocha, Wildhaber und Gotchev zu Id.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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berichterzeit zu entscheiden und warnten vor einem „attempt to restore old practices“ in den post-kommunistischen Staaten. Ein Richter würde unter diesen Bedingungen sein Amt mit dem Wissen ausüben, dass seine weitere Zukunft von der Exekutive abhänge.129 Auch wenn sich diese Einschätzung auf den speziellen Kontext der Wiederernennung von Richtern durch den Staatspräsidenten nach der Proberichterzeit bezog, überzeugt sie aufgrund ihres Bewusstseins für reale Gefahren, statt nur auf formale gesetzliche Garantien wie die Weisungsfreiheit abzustellen. Ein Rechtsprechungswandel hin zu einer kritischeren Sicht in begründeten Einzelfällen ist auch unter dem spezifischen Eindruck östlicher Europaratstaaten, anders als in anderen Bereichen, nicht zu erwarten, wie zwei jüngere Urteile gegen Armenien belegen. Gegenstand beider Beschwerden war die Sorge mangelnder richterlicher Unabhängigkeit deshalb gewesen, da die Richter unter Beteiligung des Justizministers durch den armenischen Richterrat ernannt worden waren, der bis 2005 und damit zur Zeit des Sachverhalts unter dem Vorsitz des Staatspräsidenten stand.130 Statt sich mit der in diesem Kontext aufgeworfenen Frage der Unabhängigkeit des Richterrats von der Exekutive und der Frage, wie weit die Loyalitäten der so ernannten Richter faktisch reichten, zu befassen, verwies der EGMR knapp auf seine ständige Rechtsprechung zur Vereinbarkeit der Ernennung von Richtern durch die Exekutive. Da diese grundsätzlich unproblematisch sei, sei auch der Vorsitz des armenischen Staatspräsidenten über den Richterrat unbedenklich, solange ausreichende Garantien für die Sicherung der Unabhängigkeit der Richter im Amt bestünden. Angesichts seiner ständigen Rechtsprechung, dass die Konventionsrechte nicht nur theoretisch, sondern auch effektiv und praktisch zu gewährleisten seien,131 greift der knappe formale Verweis auf die in Verfassung und einfachen Gesetzen garantierte Amtszeit und Weisungsfreiheit der armenischen Richter, zumal angesichts kritischer Berichte über die tatsächlich mangelnde Unabhängigkeit der Richter, zu kurz.132 Auch vor dem Hintergrund seines Grundsatzes, „the fact that members of a tribunal are appointed by the executive does not in itself call into question its independence“,133 hätte in Ermangelung notwendiger „checks and balances“ im konkreten Fall abgewichen und eine Verletzung diskutiert werden müssen, statt die Beschwerden unter dem Gesichtspunkt richterlicher Unabhängigkeit

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129 EGMR, Gurov gegen Moldawien, Zustimmendes Sondervotum des Richters Garlicki, unterstützt von Richter Pellonpää. Aus dogmatischer Perspektive mag man jedoch bedauerlich finden, dass die beiden Richter dies nicht iRd „manner of appointment“ als inakzeptabel einstuften, sondern iRd „external appearances of impartiality and independence“. 130 Siehe ausführlich zum armenischen Richterrat und zu der Dominanz durch den Staatspräsidenten zur Zeit seines Vorsitzes: Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 1197 ff., A., B. I. 2. 131 EGMR, Galstyan gegen Armenien, Rn. 81. 132 Id., Rn. 62; EGMR, Ashughyan gegen Armenien, 17.07.2008, No. 33268/03, Rn. 52. Siehe für einen aktuellen Bericht: Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, die zum damaligen Zeitpunkt aufgrund der erst später beschrittenen Reformen noch katastrophaler gewesen sein dürfte. 133 EGMR, Galstyan gegen Armenien, Rn. 62 (Hervorhebung durch die Verf.).

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für „manifestly ill-founded“ und damit für unzulässig zu erklären.134 Zu hoffen bleibt, dass der EGMR seinen begrüßenswerten kritischen Kurs, den er bereits mit Blick auf die Macht der Gerichtspräsidenten gegenüber den östlichen Europaratsstaaten begonnen hat, in Zukunft auch hinsichtlich der Ernennung von Richtern durch die Exekutive dort fortsetzt, wo ein offensichtlicher Anlass hierfür besteht. bb) Beteiligung durch die Legislative Mit der Entscheidung „Crociani, Palmiotti, Tanassi und Lefebvre d’Ovido gegen Italien“ von 1980 erweiterte die EKMR erstmals die Aussage des EGMR aus dem Fall Ringeisen von 1971, ein unabhängiges Gericht meine Unabhängigkeit von der Exekutive und den Parteien, um die Aussage, Unabhängigkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK meine auch Unabhängigkeit gegenüber der Legislative.135 Dem Fall lag die Aufstellung einer Kandidatenliste für die Bestimmung von Zusatzrichtern zum italienischen Verfassungsgericht durch das italienische Parlament zugrunde, die anschließend von dieser Liste per Los bestimmt wurden. Die EKMR sah die Beteiligung der Legislative an der Bestimmung der Richter zum Verfassungsgericht als vereinbar mit der Unabhängigkeitsanforderung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK an, indem sie – ähnlich der Rechtsprechung zu exekutiven Ernennungsmodellen – auf formale gesetzliche Sicherungen, wie die Dauer der Amtszeit, Ämterinkompatibilitäten und den gesetzlichen Ausschluss rechtlicher Schritte gegen die Zusatzrichter für Auffassungen, die sie in dieser Aufgabenwahrnehmung vertreten würden, abstellte.136 Der EGMR bestätigte Ende der 1990er Jahre, dass die Auswahl und Ernennung durch das Parlament alleine nicht ausreiche, um Zweifel an der Unabhängigkeit der so ausgewählten und ernannten Richter zu begründen, sondern es auf formale Sicherungsmechanismen ankomme.137 Politische Sympathien könnten zwar in einem solchen Auswahlverfahren eine Rolle spielen. Jedoch sei durch die Amtszeit und Weisungsfreiheit keine Gefährdung für die Unabhängigkeit ersichtlich. In den konkret entschiedenen Fällen war hinzugetreten, dass das Gericht nur für Amtsenthebungen zuständig war und damit für Verfahren, die Einsicht in politische Zusammenhänge voraussetzten, die Parlamentarier selbst von den Richterposten ausgeschlossen waren und die andere Hälfte der Richter Berufsrichter mit anderem Auswahlmodus waren. Wie auf die Exekutivernennung trifft damit auch auf die Auswahl und/oder Ernennung der Richter durch die Legislative zu, dass nicht die legislative Auswahl

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134 EGMR, Galstyan gegen Armenien, Rn. 62, 63; EGMR, Ashughyan gegen Armenien, Rn. 52 f. 135 EKMR, Crociani, Palmiotti, Tanassi und Lefebvre d’Ovidio gegen Italien, 18.12.1980, No. 8603/79; No. 8722/79; No. 8723/79; No. 8729/79, S. 220. 136 Id., S. 221. 137 EGMR, Ninn-Hansen gegen Dänemark, 18.05.1999, No. 28972/95, S. 20; EGMR, Filippini gegen San Marino, Rn. 5.

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oder Ernennung von Richtern als solche kritisch zu sehen ist.138 Der EGMR lässt es allerdings ähnlich wie bei der Auswahl und Ernennung durch die Exekutive vermissen, sich mit möglichen Gefährdungen der Unabhängigkeit in der Praxis ausreichend auseinanderzusetzen. So hatten die Bf. in diesen Fällen die engen Verbindungen zwischen Fraktion und Richtern thematisiert, die loyale Parteiangehörige seien, was die Bf. insbesondere aufgrund der Tatsache, dass das Parlament in dem Fall als Anklagebehörde fungierte, für problematisch erachteten. Inwieweit in einer solchen Konstellation noch unabhängig durch Mitglieder geurteilt werden kann, die aufgrund ihrer politischen Meinung ausgewählt werden, mag man zumindest für diskussionswürdig erachten.139 Dass ein rein formales Abstellen auf die Weisungsfreiheit und Amtszeit der Richter nicht unproblematisch ist, bestätigt ein Blick auf die östlichen Europaratsstaaten. Besonders augenfällig wird die Schwierigkeit dieser Argumentation anhand des Urteils „Flux gegen Moldawien (No. 2)“ von 2007, in dem die Bf., eine moldawische Zeitung, sich über die fehlende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des als Einzelrichter in erster Instanz entscheidenden Gerichtspräsidenten beschwert hatte. Dieser sei nicht nur mit dem Vorsitzenden der kommunistischen Fraktion im moldawischen Parlament befreundet, der das Verfahren gegen die Bf. wegen angeblicher übler Nachrede angestrengt hatte.140 Sondern der Gerichtspräsident habe auch in allen vergangenen Verfahren zugunsten des Fraktionsvorsitzenden entschieden und ihm stets die höchste Schadensersatzsumme zugesprochen, obwohl dieser weder zum Verfahren erschienen sei, noch die Gerichtsgebühren bezahlt habe. Zudem habe der Gerichtspräsident nur in den Verleumdungsverfahren des Fraktionsvorsitzenden gegen die Zeitung die alleinige Zuständigkeit gehabt, in allen anderen Verfahren gegen die Zeitung durch andere Kläger, sei stets ein anderer Richter zuständig gewesen. Zum Amt des Gerichtspräsidenten sei nämlicher Richter zudem kurz vor dem streitentscheidenden Verfahren von der kommunistischen Fraktion ernannt worden. Überdies sei der Gerichtspräsident eineinhalb Jahre nach dem streitentscheidenden Verfahren als erster Richter überhaupt, wiederum durch das mehrheitlich aus der kommunistischen Fraktion besetzte Parlament, von einem erstinstanzlichen Gericht unmittelbar an das Oberste Gericht versetzt worden, sei dort weiter befördert und schließlich mit einer besonderen Auszeichnung geehrt worden –

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138 Würde man eine durch das Parlament vorgenommene Auswahl von Richtern als unvereinbar mit richterlicher Unabhängigkeit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK sehen, so wären viele andere Systeme der Richterbestellung nicht mit der EMRK vereinbar, wie das deutsche System zur Bestellung der Richter zum BVerfG. Näher dazu Seibert-Fohr, Constitutional Guarantees of Judicial Independence in Germany, in: E. Riedel/R. Wolfrum (Hrsg.), Recent Trends in German and European Constitutional Law, 2006, S. 276 f. 139 EGMR, Ninn-Hansen gegen Dänemark, S. 20; EGMR, Filippini gegen San Marino, S. 5. 140 Hierbei handelt es sich in erster Linie um ein Unparteilichkeitsproblem. Siehe zu besonderen Nähebeziehungen zwischen Richter und einer der Parteien als Unparteilichkeitsproblem: B. I. 4. a) aa).

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diesmal durch den Staatspräsidenten, zugleich Parteichef der kommunistischen Partei. Die Beschwerde der Zeitung hinsichtlich mangelnder Unabhängigkeit und Unparteilichkeit angesichts dieser Verstrickungen zwischen Parlamentsmehrheit und dem von dieser immer wieder zu höheren Positionen beförderten Richter, wies der EGMR in wenigen Sätzen unter Berufung auf die nach moldawischer Rechtslage bestehende gesicherte Amtszeit als offensichtlich unbegründet ab, und verlangte von der Bf. zudem Beweise für tatsächlich auf den Gerichtspräsidenten ausgeübten Druck.141 Der bloße Verweis auf die gesicherte Amtszeit und grundsätzliche Unabsetzbarkeit verfängt jedoch insofern nicht, als dass eine solche Sichtweise des EGMR die Mechanismen, die in dem Fall eine Rolle gespielt haben, nicht berücksichtigt. Es ist nicht eine negative Entlassung aus dem Dienst, sondern es sind positive Anreize, die Loyalität stärken sollen, wie die Frage, wer zu welchem Gericht befördert wird und Auszeichnungen erhält, Anreize also, die positive Karriereschritte darstellen und zu einem besseren Gehalt führen. Es hätte, auch vor dem Hintergrund der EGMR-Rechtsprechung, nach der die Konventionsrechte nicht nur theoretisch gelten,142 in der Begründetheit einer Auseinandersetzung mit der Indizienlast bedurft, die durch die Zusammenhänge zwischen Kläger im Verfahren und dessen führender Rolle in derjenigen Fraktion, die als stärkste Kraft im Parlament maßgeblich über Beförderungen von Richtern entschied, gegeben war.143 Dies bestätigt auch das Abweichende Sondervotum des maltesischen Richters Bonello: „I would have been gratified had the Court asked how often judge I. M., and other candidates for the heroes of the resistance award, found against the ruling party or its exponents in politically sensitive lawsuits.“144 Die aktuelle Haltung des EGMR sei es, „to harness impressive formulas to avoid facing core issues of the administration of justice, and then to feel fulfilled by one dexterous sweep of the debris under the carpet. (…) Strasbourg, I thought, has a role to play in fortifying standards, well beyond that of seeking refuge behind legal fictions.“145 Es ist wie bei der exekutiven Ernennung zu hoffen, dass der EGMR in Zukunft in begründeten Fällen ein größeres Problembewusstsein an den Tag legen wird, um seiner Rolle gerecht zu werden.

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EGMR, Flux gegen Moldawien (No. 2), Rn. 27. EGMR, Airey gegen Irland, Rn. 24. 143 Sehr viel nachvollziehbarer hätte man diesen Fall an der Tatsache, dass es eine weitere Prüfung mit voller Zuständigkeit in zweiter Instanz gab, scheitern lassen müssen, falls letztere den Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprach. Nach ständiger Rechtsprechung führt nämlich eine nachfolgende Prüfung mit „full jurisdiction“ zu einer Heilung der in den unteren Instanzen aufgetretenen Mängel. Siehe ausführlich B. I. 2. a). 144 EGMR, Flux gegen Moldawien (No. 2), Teilweise Abweichendes Sondervotum von Richter Bonello, Rn. 14. 145 Id., Teilweise Abweichendes Sondervotum von Richter Bonello, Rn. 13. 141 142

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cc) Beteiligung durch Richterräte In Zukunft ist zu erwarten, dass Beschwerden zu der Auswahl und/oder Ernennung von Richtern durch Richterräte zunehmen werden, die in manchen westeuropäischen Staaten existieren, in den letzten beiden Jahrzehnten aber insbesondere in den östlichen Europaratsstaaten eingeführt wurden.146 Im Verhältnis zu ihrem Gewicht in der Praxis, gibt es bisher – abgesehen von den in jüngerer Zeit entschiedenen ersten Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten, die meist indirekt Richterräte tangierten – noch kaum Rechtsprechung des EGMR.147 Dass der EGMR die Auswahl und Ernennung von Richtern durch einen Richterrat sogar dann für unproblematisch zu halten scheint, wenn dieser unmittelbar durch den Staatspräsidenten geleitet und dominiert wird, hat die Rechtsprechung aus den letzten Jahren gegenüber Armenien gezeigt.148 Im Vordergrund stand dort allerdings für den EGMR, ob die unmittelbare Beteiligung des Staatspräsidenten als Vorsitzendem des Richterrats für die Richterernennung im Lichte der Unabhängigkeit gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK bedenklich ist, womit schwerpunktmäßig weniger die Auswahl und/oder Ernennung von Richter durch einen Richterrat, als vielmehr die Reichweite der Zulässigkeit exekutiver Ernennungen angesprochen war. Wenn der EGMR jedoch nicht einmal in einer Konstellation, in der der Staatspräsident selbst Vorsitzender ist und eine dominante Rolle im Hinblick auf den Richterrat einnimmt, Probleme hinsichtlich der Unabhängigkeit sieht, ist davon auszugehen, dass er auch grundsätzlich die Auswahl und Ernennung durch Richterräte für vereinbar halten wird.149 Es ist allerdings zu hoffen, dass er sich bei zukünftigen Gelegenheiten, statt lediglich auf die im Amt gesetzlich garantierten Sicherungen für Richter zurückzugreifen, differenzierter dazu äußern wird, ob die Auswahl durch Richterräte grundsätzlich vereinbar ist mit richterlicher Unabhängigkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK, wann einerseits zu starker Einfluss seitens der Exekutive auf den Richterrat gegeben ist, und wann andererseits Sicherungsgarantien vor zu wenig Verantwortlichkeit und zuviel Vetternwirtschaft schützen müssen.

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146 Letztere, die in Teil C. mit Blick auf vier postsowjetische Europaratsstaaten einer genaueren Analyse unterzogen werden, stellen (Selbst-)Verwaltungsorgane dar, die teilweise ausschließlich aus Richtern besetzt werden, teilweise eine gemischte Besetzung aufweisen, und regelmäßig eine Vielzahl an Justizverwaltungsfunktionen wahrnehmen. 147 Die ehemalige EKMR war bereits Anfang der 1990er Jahre damit befasst; der anhängige Fall wurde aber durch ein „friendly settlement“ beigelegt: EKMR, Hazar, Hazar und Açik gegen Türkei, 11.10.1991, No. 16311/90; No. 16312/90; No. 16313/90, S. 210; EKMR, Hazar, Hazar und Açik gegen Türkei (Friendly Settlement), 10.12.1992, No. 16311/90; No. 16312/90; No. 16313/90, S. 111 f. 148 EGMR, Galstyan gegen Armenien, Rn. 62 f.; EGMR, Ashughyan gegen Armenien, Rn. 52 f. 149 Dafür spricht auch das Urteil EGMR, Forum Maritime S. A. gegen Rumänien, Rn. 154, aus dem sich ganz am Rande herauslesen lässt, dass der EGMR den Richterräten eine eher positive Rolle zumisst, in dem er diese in einem Zug mit den nach der Ernennung eingreifenden Sicherungen der Unabsetzbarkeit und Weisungsfreiheit nennt und ihnen damit eine die exekutive Ernennung relativierende Funktion zuspricht.

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dd) Beteiligung durch die Parteien: der Sonderfall der Schiedsgerichtsbarkeit Richterliche Unabhängigkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK wird im Zusammenhang mit der Schiedsgerichtsbarkeit, bei der die Richterernennung typischerweise durch die Parteien selbst erfolgt, lediglich als Ausbalancierung bestehender Abhängigkeiten des jeweiligen Richters von der jeweils ernennenden Partei verstanden. Dieses Unabhängigkeitsverständnis ist der Rechtsprechung der EKMR bereits Anfang der 1980er Jahre zu entnehmen, die mit Blick auf ein schwedisches Schiedsgericht urteilte, dass in dem Kontext der Schiedsgerichtsbarkeit nicht dasselbe Maß an Unabhängigkeit eingefordert werden könne. Es sei vielmehr unvermeidbar, dass die Unabhängigkeit der Schiedsrichter von beiden Parteien nicht immer garantiert sei, da die Parteien selbst einen Teil der Richter für das Schiedsverfahren ernennen und der so ernannte Richter daher nicht zu beiden Parteien in gleichem Verhältnis stehen würde. Dies sei jedoch solange hinzunehmen, solange die Parteien auf die Besetzung des Schiedsgerichts zumindest theoretisch denselben Einfluss hätten.150 Der EGMR hat diesen Ansatz bestätigt, indem er zu der Ernennung je eines Richters zum isländischen Arbeitsgericht durch die Streitparteien feststellte, dass ein derartiges Modell vereinbar sei mit der richterlichen Unabhängigkeit, wenn beide Parteien rechtlich denselben Einfluss auf die Zusammensetzung des Gerichts hätten. Mache eine der Parteien von ihrem Recht allerdings keinen Gebrauch und bestimme deshalb de facto nur eine Seite einen Richter ihrer Wahl, stelle dies keine Verletzung der Unabhängigkeit dar, solange beide Parteien de jure dieselben Möglichkeiten hatten.151 ee) Würdigung Der EGMR beurteilt, anders als teilweise die EKMR, die Auswahl und Ernennung von Richtern grundsätzlich rein abstrakt alleine danach, ob im Anschluss an die Ernennung gesetzlich Weisungsfreiheit zugesichert ist. Gefahren für die Unabhängigkeit, die sich aus der Ernennung selbst ergeben, werden durch den ausschließlichen Blick auf das „Nachher“ nicht erörtert. Ebenso werden die rechtlichen Regelungen, insbesondere die Kompetenzzuweisungen für verschiedene Belange der Richterkarriere und ihr Zusammenspiel, teilweise nicht in den Blick genommen. Und auch faktische Zwänge, die insbesondere, aber nicht nur, in östlichen Europaratsstaaten auftreten, werden in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt. Hinzutritt die Erschwernis, dass der EGMR, wie schon die ehemalige EKMR, teilweise einen Nachweis der mangelnden Unabhängigkeit verlangt, um eine Verletzung fest-

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150 EKMR, Bramelid und Malmström gegen Schweden, 12.12.1983, No. 8588/79; No. 8589/79, S. 40. 151 EGMR, Siglfirdingur Ehf gegen Island, 07.09.1999, No. 34142/96; EGMR, Stojakovic gegen Österreich.

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zustellen,152 der über eine Vielzahl an Indizien hinaus in den wenigsten Fällen erbracht werden kann. Dies senkt das Schutzniveau ab und lässt an den eigenen Worten des EGMR zweifeln, die Rechte aus der Konvention sollten nicht theoretisch und illusorisch, sondern praktisch und effektiv gewährleistet werden.153 Wenngleich kein Anlass dazu besteht, die Auswahl oder Ernennung durch die Exekutive oder Legislative, die in vielen westlichen Europaratsstaaten gut funktioniert, grundsätzlich für konventionswidrig zu halten, stellt sich mit zunehmenden Beschwerden aus Osteuropa, die auf gravierende Probleme bei der Ernennung hindeuten, die Frage, ob die rein formale Herangehensweise des EGMR dem Schutz des fundamentalen Rechts auf ein unabhängiges Gericht noch gerecht werden kann. Zwar wurde anhand von Sondervoten und kritischeren Urteilen deutlich, dass in besonders offensichtlichen Fällen Skepsis und Gespaltenheit unter den EGMR-Richtern bezüglich der Vereinbarkeit der Ernennung durch Exekutive und Legislative mit Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beobachten sind; dennoch haben aktuelle Rechtsprechungsbeispiele, wie das Urteil „Flux gegen Moldawien (No. 2)“, gezeigt, dass auch bei einer derartigen Indizienlast bezüglich der Verbindungen zwischen Richter und Ernennungsorgan, und einem Rechtsprechungswandel in anderen Teilbereichen richterlicher Unabhängigkeit, kein neuer Kurs mit Blick auf Ernennungen eingeschlagen wird. Ein Weg, um dem geäußerten eigenen Anspruch von in der Praxis gewährleisteten Konventionsrechten gerecht zu werden,154 wäre weder ein Fortführen der bisherigen formalen Herangehensweise, noch ein offenes Messen mit zweierlei Maß, indem der EGMR nur gegenüber östlichen Europaratsstaaten von einer vom Gesetz abweichenden Realität ausgehen und damit sein Vertrauen verspielen würde. Vielmehr würde es einen vermittelnden Weg darstellen, wenn der EGMR deutlicher auf den Einzelfall abstellen und konkret herausarbeiten würde, ob der Anspruch auf ein unabhängiges Gericht nur gesetzlich oder auch praktisch gewährleistet wird. Dafür kann nicht an der Rechtsprechung des Nachweises festgehalten werden. Statt auf eine bestimmte standardmäßig anzutreffende Vorschrift zu blicken, sollten Gefahren berücksichtigt werden, die sich aus praktischen Zwängen oder dem rechtlichen Zusammenspiel verschiedener Kompetenzzuweisungen ergeben, wie etwa der zusätzlichen Macht, über Beförderungen oder, wie in „Gurov gegen Moldawien“, die Einstellung bis zum Ruhestand zu entscheiden.

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152 EGMR, Filippini gegen San Marino, 26.08.2003, No. 10526/02, S. 5; EGMR, Flux gegen Moldawien (No. 2), 03.07.2007, No. 31001/03, Rn. 27. Siehe bereits EKMR, Zand gegen Österreich, Rn. 77 f. 153 EGMR, Airey gegen Irland, Rn. 24. 154 Id., Rn. 24.

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b) Amtszeit Der EGMR und die frühere EKMR haben in ständiger Rechtsprechung bekräftigt, dass richterliche Unabhängigkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht eine Ernennung der Richter auf Lebenszeit voraussetze. Vielmehr sei wesentlich, dass die Amtszeit in ihrer wie auch immer gearteten Länge stabil und weisungsfrei sei.155 Zu einer gewissen Mindestdauer haben sie sich nicht geäußert, sondern von Fall zu Fall eine bestimmte Amtszeit für ausreichend erachtet. Aus dieser Einzelfallrechtsprechung folgt, dass eine Amtszeit von drei Jahren regelmäßig als genügend angesehen wurde.156 Selbst eine Amtszeit von unter drei Jahren wurde zunächst bei Vorliegen eines nachvollziehbaren Grundes („very understandable reason“) wie etwa der Unentgeltlichkeit der richterlichen Tätigkeit in „Campbell und Fell gegen Großbritannien“ für vereinbar mit dem Unabhängigkeitserfordernis befunden.157 Wenig später verzichteten EKMR und EGMR auch auf einen nachvollziehbaren Grund für kurze Amtszeiten und erachteten selbst die Amtszeit von nur einem Monat, allerdings bezogen auf Militärrichter, für ausreichend.158 Eine Ausnahme bildet nur der Fall „Incal gegen Türkei“, in welchem der EGMR seine Zweifel an der Unabhängigkeit der Nationalen Sicherheitsgerichte in der Türkei unter anderem damit begründete, dass ihre Amtszeit nur vier Jahre betrage („only four years“) und erneuerbar sei.159 Dass dies eine Abweichung von der bisherigen ständigen Rechtsprechung darstellte, spiegelt sich in der Kritik der abweichenden Richter wider, die ihre Auffassung von der Vereinbarkeit der türkischen Nationalen Sicherheitsgerichte mit der Unabhängigkeitsanforderung unter anderem darauf stützten, dass der EGMR in der Vergangenheit selbst eine dreijährige Amtszeit für ausreichend erachtet habe.160

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155 Siehe exemplarisch: EKMR, Dupuis gegen Belgien, 08.09.1988, No. 12717/87, S. 208; EKMR, Sutter gegen Schweiz, S. 174. 156 So z. B. im Fall Sutter für Schweizer Militärrichter, Id., S. 174; iBa die Mitglieder der „Boards of Visitors“: EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 80; iBa die Mitglieder der österreichischen Landesgrundverkehrskommission: EGMR, Sramek gegen Österreich, Rn. 26, 38; iBa Schiedsgerichte: EGMR, Siglfirdingur Ehf gegen Island, S. 10. So auch Tulkens/Lotarski, Le tribunal indépendant et impartial à la lumière de la jurisprudence de la Cour Européenne des Droits de l’Homme, S. 741. 157 EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 80. 158 EKMR, Dupuis gegen Belgien, S. 208 f.; wiederholt in EKMR, Heudens gegen Belgien, 22.05.1995, No. 24630/94. Siehe zur Haltung des Gerichthofs auch EGMR, Kleuver gegen Norwegen, 30.04.2002, No. 45837/99, S. 14, wonach auch das Versetzen eines Richters für wenige Monate auf einen vakanten Posten an einem anderen Gericht, eine zwar relativ kurze Amtszeit darstelle, aber aufgrund der sonstigen Umstände keine Gefahr für die Unabhängigkeit bedeute. 159 EGMR, Incal gegen Türkei, Rn. 68. 160 Abweichendes Sondervotum der Richter Thór Vilhjalmsson, Gölcüklü, Matscher, Foighel, Freeland, Lopes Rocha, Wildhaber und Gotchev zu Id.

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Bei der Betrachtung dieser Rechtsprechung darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass sie anhand von Fällen entwickelt wurde, die sich fast ausschließlich auf besondere Disziplinar-, Schieds-, Militär- oder Verwaltungsspruchkörper bezogen, die regelmäßig aus Laien bestanden, die diesem Amt, wie bei Laienrichtern üblich, nur für einen begrenzten Zeitraum nachgingen. Die Schlussfolgerung aber, dass Richter an allgemeinen staatlichen Gerichten zulässigerweise nur auf Lebenszeit oder für eine bestimmte längere Dauer ernannt werden dürften und die kurzen Amtszeiten nur für spezielle Organe gelten würden, lässt sich, entgegen mancher Stimmen in der Literatur,161 der Rechtsprechung bislang nicht entnehmen. Der Verweis auf die Rechtssache „Leo Zand gegen Österreich“, welche das Erfordernis einer permanenten Ernennung von ordentlichen Richtern vermeintlich zum Ausdruck bringt, ist nicht zielführend. Dort hatte die EKMR nur in einem Nebensatz zu der Frage der Unabsetzbarkeit von Richtern, die auf Lebenszeit oder eine festgelegte Zeit ernannt würden, Bezug genommen, ohne zu differenzieren oder spezifische Aussagen für allgemeie staatliche Gerichte zu treffen. Wenngleich man kritisch anmerken mag, dass die Rechtsprechung nicht berücksichtigt, dass jede gesetzliche Regelung, die formal Weisungsfreiheit vorsieht, ergänzt werden muss um eine gewisse Mindestamtszeit, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass ein Richter auch praktisch und effektiv und nicht nur rein formal frei von Einflüssen oder Hierarchien bei der Entscheidungsfindung handelt, hat der EGMR auch in jüngerer Rechtsprechung zu allgemeinen staatlichen Gerichten keinen anderen Kurs eingeschlagen.162 Die aufgrund von Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten zunehmende Rechtsprechung zu allgemeinen staatlichen Gerichten bestätigt vielmehr, dass der EGMR eine Ernennung auf Lebenszeit oder bis zu einem bestimmten Ruhestandsalter nicht als zwingend für die richterliche Unabhängigkeit begreift.163

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161 Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, S. 287; Grabenwarter/Pabel, Kapitel 14: Der Grundsatz des fairen Verfahrens, Rn. 47, wollen der Rechtsprechung eine Mindestamtszeit von fünf bis sechs Jahren als regelmäßiges Erfordernis entnehmen, jedoch ohne Nachweis. 162 Am Rande allenfalls EGMR, Clarke gegen Großbritannien, 25.08.2005, No. 23695/ 02, S. 11. 163 Vgl. EGMR, Absandze gegen Georgien, S. 37. Zwar ging es im Fall um die Richter am Obersten Gericht Georgiens, die für zehn Jahre ernannt werden – eine an sich nicht ungewöhnliche Regelung für Richter an den Höchstgerichten, an denen kürzere Amtszeiten negative Kontinuitäten verhindern sollen. Allerdings stellte der EGMR nicht darauf ab, sondern hielt die zehnjährige Amtszeit wegen der Unabsetzbarkeit ohne große Umschweife für vereinbar, was bestätigt, dass allein die (formale) Stabilität aus Sicht des EGMR entscheidend ist; a. A. (für eine Differenzierung mit Blick auf die Amtszeit zwischen ordentlicher Gerichtsbarkeit einerseits und speziellen Verwaltungs- oder Disziplinargerichten andererseits): Zustimmendes Sondervotum von Richter Garlicki, unterstützt von Richter Pellonpää zu EGMR, Gurov gegen Moldawien.

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c) Existenz von Garantien gegen Einflussnahmen von außen Weder der EGMR noch die frühere EKMR haben eine abschließende Aufzählung der Kriterien vorgenommen, die unter das Merkmal „existence of guarantees against outside pressures“ als drittem Element in der ständigen Rechtsprechung des EGMR zur richterlichen Unabhängigkeit in Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen. Der Rechtsprechung lassen sich jedoch substantielle Sicherungen, d. h. solche, die die eigentliche Spruchtätigkeit schützen, wie die Weisungsfreiheit, der geheime Charakter richterlicher Beratungen und die Verbindlichkeit richterlicher Entscheidungen entnehmen. Daneben formuliert der EGMR in Ergänzung der substantiellen Sicherungen persönliche Sicherungen, die den einzelnen Richter als Amtsträger vor Einfluss von außen schützen sollen, wie die grundsätzliche Unabsetzbarkeit sowie eine angemessene Vergütung und Ausbildung. aa) Weisungsfreiheit Die substantielle Sicherung, dass die Entscheidungsfindung keinen Weisungen, sondern nur dem Gesetz unterworfen sein darf, ist in der Rechtsprechung von EGMR und EKMR früh zu einem der Gradmesser einer unabhängigen Justiz geworden.164 (1) Weisungen seitens der Exekutive Unvereinbar mit der Unabhängigkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK ist es sowohl, wenn die Exekutive anstelle des Gerichts die Entscheidung selbst vornimmt, als auch, wenn sie dem Richter oder Gericht die Entscheidung direkt, sei es durch Weisungen, sei es durch Interpretationsanleitungen, vorgibt. Mit Blick auf die erste Fallgruppe hat der EGMR in „T gegen Großbritannien“ Ende der 1990er Jahre das Festlegen des Strafmaßes durch den Innenminister anstelle des Gerichts als Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK, und speziell der Unabhängigkeit von der Exekutive gewertet.165 Die zweite Fallgruppe der Vorgabe des Ausgangs des Verfahrens durch die Exekutive, hat den EGMR mindestens zweimal in den letzten Jahren mit Blick auf Weisungen des ukrainischen Staatspräsidenten an den Präsidenten des zuständigen Gerichts beschäftigt. In „Sovtransavto Holding gegen Ukraine“, welcher Streitigkeiten um

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164 EKMR, Sutter gegen Schweiz, S. 174; EKMR, Crociani, Palmiotti, Tanassi und Lefebvre d’Ovidio gegen Italien, S. 221; EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 79; EKMR, Sramek gegen Österreich, Rn. 73, EGMR, Sramek gegen Österreich, Rn. 38, 41; EGMR, Ettl u. a. gegen Österreich, Rn. 38; EGMR, H. gegen Belgien, Rn. 51; EGMR, Incal gegen Türkei, Rn. 67. Zu Weisungen innerhalb der Judikative: B. I. 3. e). 165 EGMR, T gegen Großbritannien, 16.12.1999, No. 24724/94, Rn. 113; EGMR, Benthem gegen Niederlande.

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Anteile der in Russland registrierten „Sovtransavto Holding“ an dem ukrainischen Unternehmen „Sovtransavto-Lugansk“ zum Gegenstand hatte, intervenierte der ukrainische Staatspräsident auf Bitten des ukrainischen Unternehmens und des höchsten Exekutivorgans der Region Lugansk sowie auf Drängen eines Parlamentsmitglieds in das Verfahren. Zwar diktierte er nicht unmittelbar den Entscheidungsinhalt vor, wies aber deutlich und mehrfach auf die Notwendigkeit hin, die Interessen der ukrainischen Bevölkerung und des Staates zu verteidigen. Der EGMR urteilte, dass es angesichts des Inhalts und der Art und Weise der mehrfachen Intervention in das Verfahren schon gar nicht auf die von der Regierung vorgetragenen Rechtsfertigungsgründe ankomme. Derartige Einmischungen seien nicht nur „ipso facto incompatible with the notion of an ,independent and impartial tribunal‘ within the meaning of Article 6 § 1 of the Convention“; sondern er fügte hinzu: „Coming from the executive branch of the State, such interventions nonetheless reveal a lack of respect for judicial office itself“.166 Wieder gegen die Ukraine und wieder in einem wirtschaftlich relevanten Fall hatte der EGMR 2011 zu entscheiden, in dem auf ähnliche Weise seitens der höchsten Staatsorgane in das Insolvenzverfahren rund um die damals größte Ölraffinerie eingriffen worden war. Der EGMR erklärte sowohl für irrelevant, ob sich die mehrfach versuchte Einflussnahme ausgewirkt habe, und maß auch der besonderen Anteilseignerstellung des Staates keine rechtfertigende Bedeutung bei. Das Vorgehen des Staates zeuge von mangelndem Respekt für die Gerichte und „blatantly interfered in the court proceedings, which is unacceptable“,167 anstatt sich auf ein passives Beobachten des Verfahrens zu beschränken. Damit beließ es der EGMR – neun Jahre nach Sovtransavto – jedoch nicht, sondern beanstandete darüber hinaus sehr viel grundlegender die mangelnde Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine: Dass der Staat seinen Gerichten Respekt entgegenbringe, sei eine unabdingbare Voraussetzung für das öffentliche Vertrauen in die Gerichte und stehe für Rechtsstaatlichkeit. Dafür genüge aber das Normieren von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Gesetz nicht, sondern diese Haltung müsse sich effektiv in dem täglichen Umgang mit den Gerichten widerspiegeln.168 Diese Rechtsprechung entspricht der in dem Kapitel zur Richterernennung geäußerten Kritik und ist daher positiv zu bewerten. Der EGMR geht in den ukrainischen Fällen weg von den beinahe in jeder Rechtsordnung niedergelegten Standardnormen, indem er ausdrücklich die Praxis in den Blick nimmt und Kongruenz zwischen Rechtslage und praktischer Realität einfordert. Hingegen wirft es nach dem EGMR kein Problem im Lichte der Weisungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK auf, wenn ein Staatspräsident nicht direkt, sondern mittelbar Instruktionen an das zuständige Gericht richtet, indem er in einer Rede erklärt, Urteile eines bestimmten Inhalts dürften nicht umgesetzt werden. Dem Ur-

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EGMR, Sovtransavto Holding gegen Ukraine, 25.07.2002, No. 48553/99, Rn. 80. EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, Rn. 135. Id., Rn. 136.

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teil „Falcoianu u. a. gegen Rumänien“ und seinen Nachfolgefällen war vorausgegangen, dass der rumänische Staatspräsident in einer Rede gefordert hatte, dass Urteile nicht umgesetzt werden sollten, die die Rückgabe verstaatlichten Eigentums an die Erben der während des kommunistischen Regimes enteigneten Eigentümer für rechtens erklärten. Obwohl das Oberste Gericht Rumäniens nach dieser Rede seine Rechtsprechung zu Rückerstattungen im Sinne der Kritik angepasst hatte, sah der EGMR keinen Zusammenhang zwischen der Rede des Staatspräsidenten und dem darauf erfolgten höchstrichterlichen Rechtsprechungswechsel: Adressat der Erklärung des Staatspräsidenten seien nicht die Gerichte gewesen sondern die für die Umsetzung von Justizakten zuständige Verwaltung.169 Kritisch ist anzumerken, dass der Aufruf des Staatspräsidenten zur Nichtumsetzung gerichtlicher Entscheidungen zwar nach außen an die Verwaltung adressiert war. Er hat sich jedoch auf die Urheber der Urteile ausgewirkt, wie der darauffolgende Rechtsprechungswandel des Obersten Gerichts demonstriert.170 Obwohl die Vielzahl von Fällen gegen Rumänien in derselben Zeit wie „Sovtransavto Holding gegen Ukraine“ entschieden wurde, hat der EGMR, auch bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Eingriffsintensität, seinen realitätsnahen Blick in den ukrainischen Fällen nicht auf die Beurteilung der Eingriffe seitens der Exekutive in Rumänien übertragen. Unter die zweite Fallgruppe der Vorgabe des Verfahrensausgangs lassen sich weiterhin Interpretationsanleitungen der Exekutive fassen, wie sie den EGMR mehrfach mit Blick auf Frankreich beschäftigt haben. Der französische „Conseil d’Etat“ hatte bei internationalen Verträgen, deren Bestimmungen Unklarheiten aufwarfen, das Außenministerium um Interpretation gebeten und diese Interpretation als bindend für seine Entscheidung verstanden. Zwar wurde diese Praxis 1990 weitestgehend171 aufgegeben; die zugrundeliegenden Sachverhalte, wie in „Beaumartin gegen Frankreich“, datieren jedoch zurück auf die Zeit vor Aufgabe dieser Praxis. Die Exekutive in Gestalt des Außenministeriums hatte in letzterem Fall die Entscheidung des Gerichts durch eine bestimmte Interpretation vorgegeben und damit letztlich die eigentliche Entscheidung getroffen.172 In „Chevrol gegen Frankreich“ ging der EGMR noch einen Schritt weiter und sprach dem „Conseil d’Etat“ bereits den Gerichtscharakter ab: Ein Organ, das nicht über eine ausrei-

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169 Diese Problematik hat zu zahlreichen Beschwerden und Urteilen gegen Rumänien geführt. Siehe anstelle vieler EGMR, Falcoianu u. a. gegen Rumänien, 09.07.2002, No. 32943/96, Rn. 37; EGMR, Ciobanu gegen Rumänien, 16.07.2002, No. 29053/95, Rn. 44; EGMR, Mosteanu gegen Rumänien, 26.11.2002, No. 33176/96, Rn. 42. 170 Siehe zu dieser Einschätzung auch EGMR, Falcoianu u. a. gegen Rumänien, Rn. 37. Und zur Unterstützung dieser Argumentation die im Kapitel zur Verbindlichkeit von Urteilen angeführte Rechtsprechung, wonach das Verhindern der Implementierung von Urteilen der Aufhebung durch nicht-gerichtliche Organe gleichkommt unter B. I. 3. c) cc). Ruft die Exekutive von höchster Seite dazu auf, bestimmte Gerichtsentscheidungen nicht zu implementieren, liegt dieser Fall vor. 171 Siehe zu einer Ausnahme: EGMR, Chevrol gegen Frankreich, 13.02.2003, No. 49636/99. 172 EGMR, Beaumartin gegen Frankreich.

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chende Zuständigkeit verfüge, alle Sach- und Rechtsfragen selbst zu untersuchen, sei kein Gericht iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK.173 Die wenig stringente Linie des EGMR mag ihren Ursprung darin haben, dass es im Fall Chevrol, anders als in Beaumartin, nicht „nur“ um eine rechtliche Interpretation ging, die durch das Außenministerium anstelle des Gerichts vorgenommen wurde, sondern der „Conseil d’Etat“ bereits die Prüfung und Beurteilung der Tatsachen dem Außenministerium übertragen hatte. Legt man jedoch die oben herausgearbeitete Rechtsprechung des EGMR zu der Prüfung des Gerichtscharakters zugrunde, genügt für dessen Fehlen bereits, dass ein Organ die Zuständigkeit in Rechtsfragen („legal issues“) abgibt, und daher nicht mehr über „full jurisdiction“ verfügt (und von dieser Gebrauch macht). Aus dogmatischer Perspektive hätte der EGMR daher bereits in Beaumartin den Gerichtscharakter mangels eigener Würdigung der Rechtslage ablehnen müssen. Die Fälle zur Weisungsfreiheit zeigen, dass mehr Kongruenz zu fordern ist. Was in den soeben besprochenen Urteilen gegen Frankreich noch als dogmatisch unsauber anzusehen ist, wird dann bedenklich, wenn der EGMR, wie in den analysierten Fällen gegen die Ukraine einerseits und Rumänien andererseits, ein unterschiedliches Maß wählt und in „Falcoianu u. a. gegen Rumänien“ zudem konkrete Nachweise für das Fehlen der Unabhängigkeit des Gerichts verlangt. Dieser Ansatz weicht nicht nur von der realitätsnahen Analyse exekutiven Einflusses in den ukrainischen Fällen ab. Er steht auch im Widerspruch mit dem in neuerer Zeit zunehmend angewandten reduzierten Prüfungsmaßstab der objektiv gerechtfertigten Zweifel an der Unabhängigkeit, den der EGMR bei gemeinsamer Prüfung der Unabhängigkeit und der objektiven Unparteilichkeit regelmäßig für beide zugrunde legt.174 (2) Weisungen seitens der Legislative Unzulässige Weisungen seitens der Legislative, die die Unabhängigkeit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzen, sind dann gegeben, wenn der Gesetzgeber während eines laufenden Verfahrens gesetzliche Regelungen verabschiedet, die auf einen konkreten, anhängigen Fall zugeschnitten sind sowie rückwirkend gelten, und damit den Ausgang des anhängigen Verfahrens entscheiden. Diesen Einfluss der Legislative auf ein anhängiges Verfahren behandelte der EGMR erstmalig in „Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis gegen Griechenland“ 1994. Der EGMR nahm dabei an, dass ein Artikel eines kurzfristig erlassenen Gesetzes, auch wenn nicht namentlich genannt, konkret auf das beschwerdeführende Unternehmen abzielte,

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EGMR, Chevrol gegen Frankreich, Rn. 76 ff.; und ausführlich oben B. I. 2. a). Siehe exemplarisch: EGMR, Findlay gegen Großbritannien, Rn. 73–80; EGMR, Cooper gegen Großbritannien, Rn. 104; EGMR, Brudnicka u. a. gegen Polen, 03.03.2005, No. 54723/00, Rn. 40 f.; EGMR, Whitfield u. a. gegen Großbritannien, 12.04.2005, No. 46387/99; No. 48906/99; No. 57410/00; No. 57419/00, Rn. 44 f., und näher zu der Vermengung der beiden Kriterien B. I. 3. d). 173 174

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das sich in einem Entschädigungsverfahren gegen den griechischen Staat befand. Durch die Verabschiedung dieses Gesetzes, das unmittelbar in Kraft trat und sich ausdrücklich auf bereits anhängige Verfahren bezog, habe die Legislative während des laufenden Verfahrens dessen konkreten Ausgang vorgegeben, wodurch Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden sei. Zwar könne der nationale Gesetzgeber in zivilrechtlichen Fragen rückwirkend tätig werden; jedoch gebiete es das Rechtsstaatsprinzip sowie das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK, dass die Legislative sich nicht gezielt in die Rechtsprechung einmische, um den Ausgang eines Rechtsstreits zu beeinflussen.175 Einige Jahre später modifizierte der EGMR diese Rechtsprechung allerdings insoweit, als dass er durchscheinen ließ, dass ein solches Vorgehen der Legislative ausnahmsweise bei Vorliegen zwingender Gründe von allgemeinem Interesse gestattet sein könne.176 (3) Faktische Weisungsabhängigkeit durch Ausübung einer Doppelfunktion Doppelfunktionen, die in der einen Funktion strenge Weisungsabhängigkeit mit sich bringen und in der anderen, der richterlichen Funktion, gerade verlangen, dass die Richter sich keinen Weisungen unterwerfen und es gesetzlich untersagt ist, ihnen Weisungen zu erteilen, sind nach der grundsätzlichen Rechtsprechungslinie des EGMR und der EKMR mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar.177 Diese Problematik stand nicht nur im Raum mit Blick auf die Vielzahl der österreichischen Fälle zu den Bezirks- und Landesgrundverkehrskommissionen in den 1970 und 1980er Jahren, die verwaltende und gerichtliche Funktionen ausübten, sondern auch hinsichtlich der britischen Gefängnisaufsichtsorgane („Boards of Visitors“), ebenso wie in Bezug auf Militärgerichte, deren militärisches Richterpersonal in anderer Funktion in eine strenge Hierarchie eingebunden ist. Die EKMR hat dazu bereits in den 1970er Jahren geurteilt, dass zwischen den verschiedenen Funktionen, die von ein und derselben Person wahrgenommen würden, und damit zwischen einem verschiedenen Maß an Unabhängigkeit, die diese Person in ihrer Amtsausübung genieße, differenziert werden müsse. Während etwa die Militärrichter im Fall „Sutter gegen Schweiz“ als Soldaten der Autorität ihrer jeweiligen militäri-

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EGMR, Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis gegen Griechenland, Rn. 49. „(…) the principle of the rule of law and the notion of fair trial enshrined in Article 6 preclude any interference by the legislature – other than on compelling grounds of the general interest – with the administration of justice designed to influence the judicial determination of a dispute“: EGMR, Zielinski und Pradal und Gonzalez u. a. gegen Frankreich, 28.10.1999, No. 24846/94; No. 34165/96 bis No. 34173/96, Rn. 57. 177 EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 79; EKMR, Sramek gegen Österreich, Rn. 73; EGMR, Sramek gegen Österreich, Rn. 38, 41; EKMR, Ettl gegen Österreich, Rn. 95. In Sramek stellte der EGMR im Ergebnis zwar eine Verletzung der Unabhängigkeit fest. Dies war aber nicht der generellen Unvereinbarkeit der Doppelfunktionsausübung geschuldet (Rn. 41), sondern der konkreten Konstellation, dass der Vertreter der Landesregierung, die Gegenpartei im konkreten Verfahren war, zugleich Vorgesetzter eines der Beamten in sonstiger Funktion war (Rn. 42). 175 176

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schen Vorgesetzten unterworfen seien, seien sie in ihrer richterlichen Funktion niemandem gegenüber verantwortlich.178 Obwohl es sich also um ein und dieselbe Person handelt, die lediglich unterschiedliche Funktionen wahrnimmt, wird sie in ihrer richterlichen Position als unabhängige Instanz beurteilt, während sie ansonsten einem streng-hierarchisch organisierten und weisungsabhängig ausgestalteten System angehört und in dieses nach der Wahrnehmung der richterlichen Funktion zurückkehrt.179 Der EGMR bestätigte dies 1984 hinsichtlich der Doppelfunktion der britischen „Boards of Visitors“, die einerseits in ihrer Funktion als Aufsichtsorgane der Gefängnisse den Richtlinien des Innenministeriums unterworfen waren und andererseits in ihrer Gerichtsfunktion diesen Weisungen nicht unterlagen.180 Dass eine derart formale Trennung zwischen beiden Funktionen – im Fall „Campbell und Fell gegen Großbritannien“ sogar ohne jede zeitliche Trennung – in der Realität nicht immer möglich sein wird und ein Richter, der gewohnt ist, sich in anderer Funktion Richtlinien und Weisungen hierarchisch höherstehender Personen zu beugen, sich davon in seiner rechtsprechenden Tätigkeit womöglich nicht vollkommen frei machen können wird, wurde in der Rechtsprechung bislang nur wenigen Fällen diskutiert. Als Ausnahme kann hier die Sichtweise der EKMR im Fall „Ettl gegen Österreich“ herangezogen werden, in dem sie die außerhalb der richterlichen Aufgabenwahrnehmung existierenden Hierarchien problematisierte, die sich auch auf die Tätigkeit im Spruchkörper auswirken könnten. So sei eine besondere Gefahr fehlender Unabhängigkeit umso mehr gegeben, wenn die Mitglieder des Spruchkörpers auch noch größtenteils derselben Abteilung innerhalb einer Behörde mit entsprechenden Hierarchien angehörten und in der verwaltenden Funktion Weisungen erteilt werden könnten, die mit der in der richterlichen Funktion zu behandelnden Materie eng verknüpft seien.181 Der EGMR begegnete diesen Bedenken der EKMR mit seinem sehr viel formaleren Verständnis richterlicher Unabhängigkeit: Wegen der gesetzlich zugesicherten Weisungsfreiheit gepaart mit dem fehlenden Nachweis für tatsächlich erteilte Weisungen im konkreten Fall, seien die in einem anderen Kontext herrschenden Hierarchien irrelevant.182 Ob der EGMR zukünftig einen kritischeren Ansatz hinsichtlich der Ausübung einer Doppelfunktion wählen wird, ist noch nicht abschließend gesagt. Ein Indiz für eine Entwicklung hin zu einer Anerkennung auch faktischer Weisungsabhängigkeiten und damit der Aufgabe der rein formalen Sicht, ist das Urteil „Incal gegen Türkei“ von 1998. In diesem hielt der EGMR die Ängste des Bf. bezüglich der mangelnden Unabhängigkeit des Militärrichters an den türkischen Sicherheitsgerichten

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EKMR, Sutter gegen Schweiz, S. 174. Siehe auch EKMR, Dupuis gegen Belgien, S. 209. 180 EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 79. 181 EKMR, Ettl gegen Österreich, Rn. 99. Ähnlich kritisch auch EKMR, Mitap und Müftüoglu gegen Türkei, 08.12.1994, No. 15530/89; No. 15531/89, Rn. 104 ff. 182 EGMR, Ettl u. a. gegen Österreich, Rn. 38 f. 178 179

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in Verfahren gegen Zivilpersonen für gerechtfertigt, obwohl dem Militärrichter, wie in den vergleichbaren Vorgängerfällen, durch die Verfassung Weisungsfreiheit zugesichert und die Einflussnahme zusätzlich unter eine Gefängnisstrafe gestellt war. Der Militärrichter bleibe letztlich weiter dem Disziplinar- und Bewertungssystem der Armee unterworfen und „might allow itself to be unduly influenced by considerations which had nothing to do with the nature of the case.“183 Es bleibt damit abzuwarten, ob der EGMR dem kritischen Ansatz der EKMR folgen wird. Dafür spricht – neben dem Urteil Incal – die in jüngerer Zeit angesichts der Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten ohnehin zu beobachtende Entwicklung hin zu einem Ansatz, der anstelle einer rein formalen Betrachtungsweise die praktische Realität einschließt. bb) Geheime Beratungen Dass geheime Beratungen eine substantielle Sicherung für die Unabhängigkeit sind, führte die EKMR in „Sutter gegen Schweiz“ bereits 1979 an.184 Die unter Eid einzugehende Verpflichtung, die Beratungen des Gerichts und damit die Rolle, die jeder einzelne Richter in der Entscheidungsfindung spielt, geheim zu halten, stelle eine Garantie für richterliche Unabhängigkeit gegen Einfluss von außen dar.185 cc) Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen Eine weitere substantielle Sicherung der Unabhängigkeit der Spruchtätigkeit vor Einfluss von außen ist die Aussicht auf die rechtliche Verbindlichkeit der zu treffenden Entscheidung. Bereits in den österreichischen Fällen zu den Bezirks- und Landesgrundverkehrskommissionen der 1970er und 1980er Jahre wie auch später in den britischen Militärgerichtsfällen, führten EKMR und EGMR als ein Argument für deren Unabhängigkeit an, dass die Entscheidungen nicht wieder rückgängig gemacht werden könnten.186 Dabei macht es, wie das Urteil „Van de Hurk gegen Niederlande“ zeigt, keinen Unterschied, ob ein nicht-gerichtliches Organ, in diesem Fall die niederländische Krone, die Entscheidung selbst abändern oder rückgängig machen kann, oder ob es die Konsequenzen aus der Entscheidung verhindert, d. h. die Implementierung stoppt.187 Daneben hat der EGMR in einer Vielzahl von Fällen

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EGMR, Incal gegen Türkei, Rn. 72. EKMR, Sutter gegen Schweiz, S. 174. 185 EKMR, Dupuis gegen Belgien, S. 209. 186 EKMR, Sramek gegen Österreich, Rn. 73; EGMR, Findlay gegen Großbritannien, Rn. 77; EGMR, Morris gegen Großbritannien, Rn. 73. Daneben diskutiert der EGMR die Verbindlichkeit der Entscheidungen uneinheitlich teilweise bereits bei dem Gerichtsbegriff, so iRd „right to a court“: EGMR, Ryabykh gegen Russland, 24.07.2003, No. 52854/99, Rn. 55 ff.; EGMR, Roseltrans gegen Russland, 21.07.2005, No. 60974/00, Rn. 25. Siehe auch kritisch B. I. 2. a). 187 EGMR, Van de Hurk gegen Niederlande, Rn. 48. 183 184

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die mangelnde Gewährleistung des bindenden Charakters richterlicher Entscheidungen als eine Verletzung der Rechtssicherheit angesehen.188 In den letzten Jahren hat die Befassung des EGMR mit der Problematik des mangelnden Respekts vor der Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen aufgrund von Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten zugenommen, die auf systematische Verletzungen dieser substantiellen Garantie gegen Einflussnahmen von außen hindeuten. Die Vielzahl der Beschwerden lässt sich in drei Fallgruppen einteilen: Die erste Gruppe betrifft Fälle, in denen es zu einer Missachtung eines rechtskräftigen Urteils durch staatliche, nicht-gerichtliche Organe kam, die sich ohne gesetzliche Ermächtigung über das Urteil hinweg setzten. In dieser Konstellation wurde von staatlicher Seite ein anderes Ergebnis als rechtens propagiert, da der Ausgang des Verfahrens missfiel, was dann wiederum – von der Gegenseite des Bf. als neue Tatsache geltend gemacht – das Aufrollen eines abgeschlossenen Gerichtsverfahrens bewirkte. Der EGMR sah darin einen „flagrant breach“ des Prinzips der Rechtssicherheit, nachdem er zuvor bereits eine große Anzahl direkt ergangener Weisungen seitens der Staatsorgane und innerhalb der Judikative als Verletzung der Unabhängigkeit bewertet hatte.189 Die zweite Gruppe betrifft Beschwerden, die aus dem Fortbestehen rechtlicher Regelungen aus der Sowjetzeit resultierten, die die Möglichkeit einer Missachtung eines rechtskräftigen Urteils sogar gesetzlich vorsahen: Im Fall „Dacia S. R. L. gegen Moldawien“ lag eine Verletzung der Rechtssicherheit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, da eine Regelung des damaligen moldawischen Zivilgesetzbuches explizit staatliche Akteure von der Befristung der Geltendmachung bestimmter Rechtsmittel ausnahm, soweit es um die Rückerstattung von rechtswidrig erlangtem Staatseigentum ging. Nach dem EGMR ist die nur befristet mögliche Geltendmachung von Rechtsmitteln Teil der Rechtssicherheit, die ihrerseits Ausdruck der Rechtsstaatlichkeit ist, und durch das pauschale Ausnehmen staatlicher Akteure von dieser Befristung in Frage gestellt wird.190 Daneben hat sich der EGMR in einer Vielzahl von Urteilen in grundsätzlichen Worten zu der sog. Überwachungskontrolle geäußert.191 Bei letzterer handelt es sich um die aus den Prozessordnungen der Sowjetzeit, die noch bis in die 2000er Jahre galten, herrührende Möglichkeit, ein bereits rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren jederzeit nach einem entsprechenden Antrag, regelmäßig von Seiten der Generalstaatsanwaltschaft oder des Ge-

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Siehe exemplarisch: EGMR, Sovtransavto Holding gegen Ukraine, Rn. 74 ff. EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, Rn. 149 ff. 190 EGMR, Dacia S. R. L. gegen Moldawien, 18.03.2008, No. 3052/04, Rn. 75 ff. 191 So übersetzt bei Caflisch/Keller, Der EGMR im Neuen Europa – Folgen des Beitritts der Staaten Mittel- und Osteuropas, in: C. Hohmann-Dennhardt/P. Masuch/M. Villiger (Hrsg.), Grundrechte und Solidarität – Durchsetzung und Verfahren, 2011, S. 82 ff.; EGMR, Brumarescu gegen Rumänien; EGMR, Sovtransavto Holding gegen Ukraine; EGMR, Ryabykh gegen Russland; EGMR, Tregubenko gegen Ukraine, 02.11.2004, No. 61333/00; EGMR, Salov gegen Ukraine, 06.09.2005, No. 65518/01, Rn. 93 ff.; EGMR, Bochan gegen Ukraine. 188 189

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richtspräsidenten des Obersten Gericht (sowie seines Stellvertreters), wieder aufrollen und zurückverweisen zu können. In diesem Zusammenhang stellen sich Probleme richterlicher Unabhängigkeit, da Richter entweder von vorneherein davon ausgehen müssen, dass ihre Entscheidungen im Falle eines unabhängigen Urteilens wieder kassiert werden, statt nach Ablauf der Rechtsmittelfrist in Rechtskraft zu erwachsen. Oder es kommt spätestens dann zu einer Einschränkung, wenn der Fall trotz seiner Rechtskraft aufgehoben und unter klarer Erwartungshaltung wieder zurück verwiesen wird. Für den EGMR handelt es sich jedoch schwerpunktmäßig um ein Problem der Rechtssicherheit als Teil des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 6 Abs. 1 EMRK iVm der Präambel der EMRK.192 Im Lichte neuerer Rechtsprechungsentwicklungen, im Zuge derer der EGMR immer wieder die interne Unabhängigkeit betont,193 ist indes nicht ausgeschlossen, dass er in vergleichbaren Konstellationen auch einen Eingriff in die Unabhängigkeit innerhalb der Judikative iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK sehen wird. Von diesen mit Art. 6 Abs. 1 EMRK unvereinbaren Fällen der ersten beiden Gruppen, sind die Fälle zu trennen, bei denen die Aufhebung eines bindenden Endurteils trotz Rechtskraft aufgrund besonderer Umstände notwendig wird.194 Hierzu hat der EGMR in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass eine solche in Zivilverfahren ausnahmsweise auf Antrag aus dem Innern der Justiz aufgrund beträchtlicher und zwingender Umstände gerechtfertigt sein kann.195 Eine Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils zur bloßen erneuten Untersuchung des Falls oder lediglich aufgrund einer verschiedenen Bewertung der Fakten, Beweise oder Gesetzeslage ist nicht gerechtfertigt.196 Vielmehr muss es sich um das Beheben von Fehlurteilen,197

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192 So der EGMR in ständiger Rechtsprechung: EGMR, Sovtransavto Holding gegen Ukraine, Rn. 72; EGMR, Bochan gegen Ukraine, Rn. 61; EGMR, Gavrilenko gegen Russland, 15.02.2007, No. 30674/03, Rn. 31; EGMR, Rahmanova gegen Aserbaidschan, 10.08.2008, No. 34640/02, Rn. 56; EGMR, Popov gegen Moldawien (No. 2), 06.12.2005, No. 19960/04, Rn. 44; EGMR, Dragostea Copiilor – Petrovschi – Nagornii gegen Moldawien, 13.09.2011, No. 25575/08, Rn. 25; EGMR, Tregubenko gegen Ukraine, Rn. 34 ff.; EGMR, Roseltrans gegen Russland, Rn. 26 ff.; EGMR, Volkova gegen Russland, 05.04.2005, No. 48758/99, Rn. 34 ff.; EGMR, Rosca gegen Moldawien, 22.03.2005, No. 6267/02, Rn. 26 ff. 193 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 86; EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 29. 194 Diese kennt auch beispielsweise die deutsche ZPO (Wiederaufnahme des Verfahrens): Zivilprozessordnung (ZPO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Dezember 2005 (zuletzt geändert am 22.12.2011), §§ 578 ff. 195 EGMR, Ryabykh gegen Russland, Rn. 52; EGMR, Pravednaya gegen Russland, 18.11.2004, No. 69529/01, Rn. 25; EGMR, Smirnitskaya u. a. gegen Russland, 05.07.2007, No. 852/02, Rn. 37; EGMR, Mitrea gegen Rumänien, 29.07.2008, No. 26105/03, Rn. 24 f.; EGMR, Tchitchinadze gegen Georgien, 27.05.2010, No. 18156/05, Rn. 53; EGMR, Rosca gegen Moldawien, Rn. 25. 196 Daher etwa eine Verletzung in EGMR, Gavrilenko gegen Russland, Rn. 37. Zwar handelte es sich hier bereits um die seit 2003 modifizierte Form der Überprüfung rechtskräftiger Entscheidungen durch die höheren Instanzen, jedoch waren im konkreten Fall keine „fundamental defects or circumstances of a substantial and compelling character“ gegeben, sondern lediglich eine andere Sicht auf Beweise und die Anwendung des nationalen Rechts. Dies

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ein gerichtliches Handeln außerhalb der Kompetenzen,198 oder z. B. um neue Beweise, die vorher nachgewiesenermaßen bei Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt nicht zugänglich waren, oder um neue Umstände, die der Bf. nicht kannte und hätte kennen müssen,199 handeln. Weiterhin kann ein beträchtlicher und zwingender Umstand aus Sicht des EGMR in der Behebung von schwerwiegenden verfahrensrechtlichen Fehlern liegen, wie etwa bei Teilnahme eines Richters, die nicht im Einklang mit dem Gesetz stand, oder einem Verstoß gegen die Waffengleichheit, weil eine Partei oder ihr gesetzlicher Vertreter zu der Verhandlung des Falls nicht geladen wurde.200 In einem anderen Fall prüfte er, ob die Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils aufgrund willkürlicher Behandlung des Falls ausnahmsweise gerechtfertigt war.201 Nur ausnahmsweise kann also bei Vorliegen zwingender Umstände eine Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils gerechtfertigt sein. In Strafverfahren gelten dieselben Grundsätze; die Aufhebung einer rechtskräftigen Entscheidung ist nach den Worten des EGMR sogar notwendig, wenn neue Fakten zu Tage treten oder schwerwiegende Fehler, etwa in Folge eines EGMR-Urteils, festgestellt werden. 202 Es wäre wünschenswert, wenn der EGMR in Zukunft nicht nur das Prinzip der Rechtssicherheit fokussieren, sondern zusätzlich Gefahren für die interne Unabhängigkeit dort ansprechen würde, wo rechtskräftige Urteile innerhalb der Judikative ohne das Vorliegen zwingender Umstände wieder aufgehoben und unter Äußerung eines Erwartungshaltung zurückverwiesen werden. Anlass dazu hat der in Verfahren gegen östliche Europaratsstaaten aufgeworfene Sachverhalt bereits gegeben.203 dd) Unabsetzbarkeit Zu den persönlichen Sicherungen, die die substantiellen Garantien gegen Einfluss von außen ergänzen, zählt zuvörderst die grundsätzliche Unabsetzbarkeit. Diese lässt sich unter drei verschiedenen Aspekten diskutieren, die den EGMR und die EKMR beschäftigt haben: die endgültige Absetzung vor Ende der Amtszeit, die

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rechtfertigte keine Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils. Siehe auch: EGMR, Kot gegen Russland, 18.01.2007, No. 20887/03, Rn. 29; EGMR, Tchitchinadze gegen Georgien, Rn. 59; EGMR, Rahmanova gegen Aserbaidschan, Rn. 63 ff.; EGMR, Agurdino S.R.L. gegen Moldawien, 27.09.2011, No. 7359/06, Rn. 29 ff. 197 EGMR, Ryabykh gegen Russland, Rn. 52; EGMR, Gavrilenko gegen Russland, Rn. 33. 198 EGMR, Kot gegen Russland, Rn. 29; EGMR, Rahmanova gegen Aserbaidschan, Rn. 63. 199 EGMR, Pravednaya gegen Russland, Rn. 27; EGMR, Smirnitskaya u. a. gegen Russland, Rn. 38 ff.; EGMR, Popov gegen Moldawien (No. 2), Rn. 46 ff.; EGMR, Dragostea Copiilor – Petrovschi – Nagornii gegen Moldawien, Rn. 28 ff. 200 EGMR, Tchitchinadze gegen Georgien, Rn. 55. 201 EGMR, Mitrea gegen Rumänien, Rn. 28 ff. 202 EGMR, Nikitin gegen Russland, 20.07.2004, No. 50178/99, Rn. 56 ff. 203 So z. B. in EGMR, Ryabykh gegen Russland; EGMR, Tregubenko gegen Ukraine.

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nur vorübergehende Absetzung durch Austausch des zuständigen Richters gegen einen anderen während eines laufenden Verfahrens, und die Sonderkonstellation der Absetzung während oder nach der Proberichterzeit. (1) Endgültige Absetzung vor Ende der Amtszeit Einmal im Amt ist eine der Garantien, um die Unabhängigkeit von Richtern zu schützen, ihre grundsätzliche Unabsetzbarkeit.204 Diese hat die EKMR bereits in „Zand gegen Österreich“ 1978 als eine – im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip in demokratischen Staaten – notwendige Folgerung aus der richterlichen Unabhängigkeit, wie sie Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt, eingestuft.205 In der Entscheidung „Stieringer gegen Deutschland“ 1996 stellte sie die Unabsetzbarkeit außerdem in einen Zusammenhang mit der viel gebrauchten Aussage, dass es bei dieser Anforderung um das Vertrauen gehe, das Gerichte in demokratischen Staaten genießen müssten.206 Der EGMR hat in ständiger Rechtsprechung die Aussage bestätigt, dass die Unabsetzbarkeit eine logische Folge der Unabhängigkeit sei („the irremovability of judges by the executive during their term of office must be considered as corollary of their independence“).207 Die Unabsetzbarkeit von Richtern muss indes nicht gesetzlich geregelt sein,208 wenngleich der EGMR eine ausdrückliche gesetzliche Zusicherung für vorzugswürdig hält.209 Entscheidend ist auch bei fehlender Regelung, dass die Unabsetzbarkeit der Richter in der praktischen Realität anerkannt ist.210 Auch gesetzlich vorgesehene, aber eingeschränkte Möglichkeiten der Absetzung stellen nach dem EGMR keine Gefahr für die Unabhängigkeit dar, wenn diese nur für bestimmte, eng gefasste Ausnahmetatbestände gelten211 und daher von einer „faktischen Unabsetz-

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EGMR, Incal gegen Türkei, Rn. 67. EKMR, Zand gegen Österreich, Rn. 82. 206 EKMR, Stieringer gegen Deutschland, 25.11.1996, No. 28899/95. 207 EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 80; EKMR, Eccles u. a. gegen Irland, 09.12.1988, No. 12839/87, S. 218. 208 EGMR, Engel u. a. gegen Niederlande, 08.06.1976, No. 5100/71; No. 5101/71; No. 5102/71; No. 5354/72; No. 5370/72, Rn. 68; EKMR, Sutter gegen Schweiz, S. 174; EKMR, Dupuis gegen Belgien, S. 208. 209 EGMR, Cooper gegen Großbritannien, 16.12.2003, No. 48843/99, Rn. 118. 210 EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 80; EGMR, Morris gegen Großbritannien, Rn. 68; EGMR, Cooper gegen Großbritannien, Rn. 118; EGMR, Sacilor Lormines gegen Frankreich, 09.11.2006, No. 65411/01, Rn. 67. 211 In EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 32, 80 war lediglich von „most exceptional circumstances“, die zu einer Absetzung führen könnten, die Rede, die jedoch gesetzlich nicht geregelt waren; nach EGMR, Sramek gegen Österreich, Rn. 26, 38, ist eine ausnahmsweise frühzeitige Absetzung möglich, wenn Umstände eintreten, die den Richter untauglich für die Ernennung gemacht hätten, oder ihm die Wahrnehmung der richterlichen Pflichten in ständiger Weise unmöglich wird. 204 205

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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barkeit“ („virtual irremovability“) auszugehen ist.212 Diese Rechtsprechung hat bis heute Gültigkeit wie ein Urteil von 2011 gegen die Slowakei belegt. In „Fruni gegen Slowakei“, der die Möglichkeit der Entlassung von Richtern eines speziellen Strafgerichts bei Nichterfüllung der Kriterien der Sicherheitsüberprüfung zum Gegenstand hatte, argumentierte der EGMR ebenfalls mit der faktischen Unabsetzbarkeit, indem er auf die entgegenstehende Praxis verwies, in der es bisher zu keinen Absetzungen gekommen sei.213 Mit der Zunahme sehr viel kritischerer Urteile des EGMR gegenüber den östlichen Europaratsstaaten, steht indes in Frage, ob die Großzügigkeit, mit der EGMR und EKMR die Unabsetzbarkeit gehandhabt haben und weder zwingend eine gesetzliche Normierung forderten, noch gesetzliche Ausnahmen zu dieser grundlegenden Garantie für unvereinbar hielten, aufrecht erhalten wird: In zwei Urteilen gegen Russland von 2008 und 2011 verlangte der EGMR mit Blick auf die Auswechselung von Richtern in einem konkreten Verfahren und damit für einen schwächeren Eingriff als denjenigen einer endgültigen Absetzung, eine klare gesetzliche Aufstellung der Gründe für eine derartige Entscheidung, eine gesetzliche Begründungspflicht und ein Rechtsmittel.214 Ohne eine präzisere gesetzliche Ermessenslenkung scheint der EGMR zu große Willkür und damit zu großen Druck auf den einzelnen Richter zu befürchten. Um sich nicht dem Vorwurf des Messens mit zweierlei Maß auszusetzen, wird der EGMR in Zukunft auch gegenüber westeuropäischen Staaten, wo dies erforderlich ist, klarere gesetzliche Regelungen anmahnen müssen. Zur Vermeidung von „double standards“ müssten in Zukunft auch die schweizer, österreichischen, britischen und irischen Fälle der Absetzung von Richtern oder Möglichkeit der Absetzung strenger entschieden werden. Es zeigt sich, dass die Rechtsprechung der 1970er, 1980er und 1990er Jahre durch die Erweiterung des Europarats nach Osten so in Zukunft voraussichtlich nicht mehr verfolgt werden kann. (2) Austausch von Richtern während eines laufenden Verfahrens Der EGMR hatte in den letzten Jahren aufgrund von Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten außerdem immer wieder Gelegenheit, sich mit dem Absetzen bzw. Austauschen eines Richters gegen einen anderen Richter während eines laufenden Verfahrens („replacement of judges“/„reassignment of cases“) zu befassen. In diesem Zusammenhang hat er eine klare Rechtsprechung entwickelt und unterscheidet zwei Fallgruppen, die im Kern auf dasselbe Problem zurückgehen.

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212 EGMR, Ettl u. a. gegen Österreich, Rn. 41. In EKMR, Eccles u. a. gegen Irland, No. 12839/87, 09.12.1988 war die Absetzung „at will by the Government“ (S. 214) gesetzlich vorgesehen. Die EKMR argumentierte ebenfalls damit, dass sich diese Regelung faktisch nicht auswirke und daher vereinbar sei mit Art. 6 Abs. 1 EMRK. 213 EGMR, Fruni gegen Slowakei, 21.06.2011, No. 8014/07, Rn. 145 ff. 214 EGMR, Moiseyev gegen Russland, Rn. 181 f.; EGMR, Sutyagin gegen Russland, Rn. 184 ff.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Zum einen geht es um die Auswechselung des ursprünglich zuständigen Richters, indem die Entscheidung, die er bereits getroffen hat, wieder aufgehoben und der Fall mit der Intention, ein bestimmtes Urteil zu erzielen, an ein anderes Gericht zur erneuten Entscheidung verwiesen wird. Diese Fallgruppe überschneidet sich mit der soeben behandelten Problematik der mangelnden Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen. In „Bochan gegen die Ukraine“ hat der EGMR zu dieser Fallgruppe 2007 festgehalten, dass die Verweisung eines Falls an einen anderen Richter grundsätzlich im Einklang mit der EMRK steht, solange bestimmte prozessuale Sicherungsmechanismen gegeben sind: Es muss eine prozessuale Entscheidung ergehen, die Gründe für die Verweisung nennt, diese den Parteien eröffnet und ihnen das Recht zur Stellungsnahme einräumt. Eine bloße unterschiedliche Bewertung der Fakten durch eine höhere Instanz reicht weder für eine Zurückverweisung, noch für eine Neuzuweisung an ein anderes Gericht aus. Vielmehr, so der EGMR, sei es Aufgabe der höheren Instanzen, rechtliche Fehler und Justizirrtümer zu korrigieren, nicht aber, die Tatsachenbewertung der unteren Instanzen ersetzen zu wollen.215 Den in dem zugrunde liegenden Fall erfolgten Durchgriff der höheren auf die unteren Instanzen, bis das Urteil der Sichtweise der höheren Instanzen entsprach, verurteilte der EGMR unter Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenngleich insbesondere mit Blick auf mangelnde Rechtssicherheit. Das Oberste Gericht der Ukraine hatte den Fall mehrfach auf Antrag des stellvertretenden Staatsanwalts der Region und des stellvertretenden Präsidenten des Obersten Gerichts an die unteren Instanzen zurückverwiesen und, nachdem das zunächst zuständige Gericht den Instruktionen des Obersten Gerichts nicht gefolgt war, schließlich an ein erstinstanzliches Gericht eines anderen Gerichtsbezirks verwiesen, welches dann im Sinne des Obersten Gerichts entschied. Die zweite Fallgruppe betrifft die Auswechselung einzelner Richtern während eines laufenden Verfahrens und damit letztlich – und daher im Kern ähnlich – die Zuweisung an ein neu konstituiertes Gericht. Dazu hat der EGMR in „Moiseyev gegen Russland“ von 2008, wie schon in „Borchan gegen Ukraine“ ein Jahr zuvor,216 betont, dass er sich bei der Beurteilung der Zuweisung eines Falls grundsätzlich zurücknehme und den innerstaatlichen Stellen einen weiten Spielraum belasse, einzuschätzen, ob besondere Umstände gegeben seien, die die Zuweisung an einen bestimmten Richter im konkreten Fall rechtfertigten, wie z. B. Ressourcen, Qualifikationen, Interessenkonflikte und der Zugang zum Verfahren für die Parteien. Jedoch verbleibe ihm die Prüfung, ob die (Neu-)Zuweisung mit Art. 6 Abs. 1 EMRK im Einklang stehe.217 Aus der Prüfung der Kompatibilität mit Art. 6 Abs. 1 EMRK in „Moiseyev gegen Russland“, in dem es zu elf Auswechselungen von Richtern während eines Verfahrens vor einer einzigen Instanz gekommen war, lassen sich daher abstrakte Voraussetzungen ableiten, unter welchen Umständen ein Auswech-

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EGMR, Bochan gegen Ukraine, 03.05.2007, No. 7577/02, Rn. 72 ff. EGMR, Bochan gegen Ukraine, Rn. 71. 217 EGMR, Moiseyev gegen Russland, Rn. 176; siehe für Nachfolgefälle: EGMR, Sutyagin gegen Russland, Rn. 184 ff. 215 216

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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seln eines Richters während eines laufenden Verfahrens mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar ist: So ist eine generalklauselartige Bestimmung unzureichend, nach der ein Richter ausgetauscht werden kann, wenn er zu einer Teilnahme an dem Verfahren nicht länger in der Lage ist. Vielmehr müssen erstens die genauen Voraussetzungen für eine Auswechselung sowie das Verfahren, das in einem solchen Fall zu befolgen ist, gesetzlich näher geregelt sein. Zweitens muss eine Begründungspflicht iBa die Auswechselungsentscheidung gesetzlich statuiert sein und drittens ein Rechtsmittel vorgesehen sein. Würden neben mangelnden ermessenslenkenden Vorschriften, den Parteien die Gründe für die Ermessensausübung nicht dargelegt und sei dies auch gesetzlich nicht vorgeschrieben, werde ihnen nicht nur die Möglichkeit genommen, die Entscheidung mit einem Rechtsmittel anzugreifen, sondern es handele sich insgesamt um eine willkürliche Auswechselung des Richters.218 (3) Proberichterzeit Bevor die Entscheidung über die Übernahme in ein permanentes Dienstverhältnis getroffen ist, verfügen Richter während der Proberichterzeit über einen ungleich schwächeren Schutz vor Absetzung. Nach der EKMR in „Stieringer gegen Deutschland“ ist eine solche anfängliche, begrenzte Amtszeit jedoch grundsätzlich mit der richterlichen Unabhängigkeit und speziell mit der Garantie der Unabsetzbarkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar; die Konventionsstaaten müssen aber effiziente Schutzmechanismen schaffen, die die (wenngleich eingeschränkte) Unabhängigkeit der Proberichter schützen. So habe das Bundesverfassungsgericht die im entschiedenen Fall auf drei Jahre begrenzte Proberichterzeit in Deutschland mit der Möglichkeit der Absetzung als Ausnahme gesehen, die aufgrund der nicht voll garantierten persönlichen Unabhängigkeit nur dann zulässig sei, wenn dies wegen der Notwendigkeit, Richter auszubilden oder anderer zwingender Gründe, wie etwa der Stärkung der Gerichte, notwendig sei. Wegen der restriktiven Verwendung von Proberichtern und der zeitlichen Begrenzung, wie auch der Vorkehrung, dass einem Proberichter gegen seine Absetzung Rechtsmittel offenstünden, sah die EKMR keine Gefahr für die Unabhängigkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK.219 Proberichter bilden damit einen Spezialfall, für die das Erfordernis der Unabsetzbarkeit nicht gleichermaßen wie für Richter außerhalb der Probezeit gilt. Dennoch zeigt die detaillierte Befassung der EKMR mit der konkreten Ausgestaltung der Gesetzeslage und Rechtsprechung in Deutschland, dass für diesen Bereich ganz genau geprüft wird, ob von der Möglichkeit, Proberichter einzusetzen, nur als Ausnahme, gerechtfertigt durch nachvollziehbare Gründe und begrenzt auf eine gewisse (kurze) Zeitspanne, Gebrauch gemacht wird und es Rechtsschutz gegen eine Absetzungsentscheidung gibt.

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218 EGMR, Moiseyev gegen Russland, Rn. 181 f.; EGMR, Sutyagin gegen Russland, Rn. 184 ff., insb. Rn. 189 f. 219 EKMR, Stieringer gegen Deutschland.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Liegen diese Schutzmechanismen nicht vor, riskiert der jeweilige Konventionsstaat eine Verurteilung, wie der EGMR Ende 2010 in einem Fall gegen Polen bestätigt und die Unabhängigkeit polnischer Proberichter für verletzt angesehen hat. Im polnischen System fehlte es nämlich, anders als im deutschen, an entsprechenden Schutzvorkehrungen zur Sicherung der Unabhängigkeit, da die Proberichter in Polen jederzeit durch den Justizminister und damit durch die Exekutive absetzbar waren und diesem Ermessen keinerlei Schutz vor Willkür und keine gerichtliche Überprüfung gegenüberstanden.220 Zusätzlich kann eine Rolle spielen, welches Organ die Proberichter anschließend auf Lebenszeit bzw. bis zum Ruhestandsalter ernennt, so zumindest die Richter Garlicki und Pellonpää in ihrem Sondervotum zu „Gurov gegen Moldawien“ 2006. In letzterem Fall hatte die Exekutive über die permanente Ernennung zu entscheiden, was nach Ansicht der beiden EGMRRichter dazu führte, dass Richter in der anfänglichen Amtszeit zu sehr unter dem Eindruck stünden, dass ihr weiterer beruflicher Werdegang von der Exekutive abhänge. Dies gelte insbesondere mit Blick auf die postkommunistischen Staaten, die beinahe alle die Ernennung von Richtern für eine gewisse Zeit, mit der anschließenden Entscheidung über eine Wiederernennung durch die Exekutive erlebt hätten, was zu einem beinahe vollständigen Erlöschen richterlicher Unabhängigkeit geführt habe. Daher würde jeder Versuch, ein derartiges System permanent oder nur vorübergehend wieder zu beleben, als Wiederherstellen alter Praktiken wahrgenommen, und würde das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Unabhängigkeit der Justiz zerstören.221 ee) Vergütung Die termingerechte und vollständige Zahlung der richterlichen Bezüge ermöglicht Richtern als weitere persönliche Sicherung, ihrer Spruchtätigkeit unabhängig nachzugehen. Im Rahmen von Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls (ZP), dem Recht auf Eigentum, hat sich der EGMR 2006 gegenüber der Ukraine ausdrücklich zu der Bedeutung der rechtzeitigen Zahlung der Bezüge für die Unabhängigkeit der Richter geäußert, indem er feststellte: „the failure of the State to provide judicial benefits to judges in a timely manner is incompatible with the need to ensure their ability to exercise their judicial function independently and impartially, in order to be shielded from outside pressures aimed at influencing their decisions and behaviour.“222

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EGMR, Henryk Urban und Ryszard Urban gegen Polen, Rn. 53. EGMR, Gurov gegen Moldawien, Zustimmendes Sondervotum des Richters Garlicki, unterstützt von Richter Pellonpää. Die Mehrzahl der Richter in der Kammer sah das Problem in dem Fall bereits in dem Nichtvorliegen eines „tribunal established by law“ und kam daher gar nicht mehr zu der Frage der Unabhängigkeit. 222 EGMR, Zubko u. a. gegen Ukraine, 26.04.2006, No. 3955/04; No. 5622/04; No. 8538/04; No. 11418/04, Rn. 68. Daneben könne die verspätete und unvollständige Gehaltszahlung Richter daran hindern, mit dem nötigen Engagement und Hingabe ihre Funktion auszuüben („the necessary dedication“), Rn. 69. 220 221

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Auch an dieser Garantie zeigt sich, dass die Fälle aus den östlichen Europaratsstaaten die EGMR-Rechtsprechung zur Unabhängigkeit der Justiz weiterentwickeln und vervollständigen, da zunehmend alltägliche Fragen der allgemeinen staatlichen Gerichtsbarkeit zum Gegenstand vor dem EGMR werden.223 ff) Ausbildung Die Richterausbildung kann als weitere persönliche Sicherung dazu beitragen, dass ein Richter seine Entscheidungen unabhängig trifft. Der EGMR hat dazu im Zusammenhang mit Militärgerichten betont, dass das Vorliegen einer juristischen Ausbildung eine Garantie gegen Einfluss von außen darstelle und wertete das Nichtvorliegen einer solchen Ausbildung als unzureichenden Schutz.224 Die Frage, ob überhaupt eine juristische Ausbildung vorliegt, dürfte sich allerdings mit Blick auf Berufsrichter, aber auch in Bezug auf Laienrichter, bei denen das Fehlen einer juristischen Ausbildung gerade gewollt ist, gar nicht erst stellen. Vielmehr kann in Bezug auf Berufsrichter von Bedeutung sein, von welcher Qualität die Ausbildung ist, ob sie etwa auch praktische Ausbildungsphasen enthält. Dies hat der EGMR in einem Fall gegen Großbritannien zum Ausdruck gebracht, indem er die der Ernennung vorangehende praktische Ausbildungsphase als stellvertretender Richter als einen der Sicherungsmechanismen der Unabhängigkeit aufzählte.225 d) Äußeres Erscheinungsbild Das äußere Erscheinungsbild eines Gerichts („appearance of independence“) wird durch den EGMR in Auslegung der Unabhängigkeitsgarantie in Art. 6 Abs. 1 EMRK mit Abstand am häufigsten herangezogen. Dem Merkmal kommt eine Auffangfunktion zu. aa) Herleitung und Einordnung des Merkmals Wegbereitend für das Einbeziehen des äußeren Erscheinungsbildes in Art. 6 Abs. 1 EMRK, war das Urteil „Delcourt gegen Belgien“ von 1970, in dem der EGMR erstmals den angelsächsischen Rechtsgrundsatz „justice must not only be

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223 Gegenüber westeuropäischen Staaten hatte er zuvor nur in einem Fall gegen Großbritannien 2005 ganz allgemein suggeriert, dass auch die finanzielle Absicherung der Richter durch Festsetzung von Gehalt und Rente durch Gesetz, eine der Garantien für die Unabhängigkeit der Richter sei, ohne sie in dieser Deutlichkeit allerdings als solche zu bezeichnen: EGMR, Clarke gegen Großbritannien, S. 11. 224 EGMR, Incal gegen Türkei, Rn. 67; EGMR, Morris gegen Großbritannien, Rn. 72. 225 EGMR, Clarke gegen Großbritannien, S. 11. Ebenso hat er dem Ablegen eines richterlichen Eides zu Beginn der Amtszeit eine Sicherungswirkung hinsichtlich der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit beigemessen. Id., S. 11, und EGMR, Pullar gegen Großbritannien, Rn. 40.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

done; it must also be seen to be done“ bemühte. In Großbritannien war dieser Grundsatz in einem Urteil der „King’s Bench Division“ 1923 entwickelt worden, in dem es um die Frage ging, ob ein Gericht, dessen Gerichtsdiener („clerk“) in einem Strafverfahren an den geheimen Beratungen der Richter teilnimmt, dann noch als unparteiisch anzusehen ist, wenn derselbe Gerichtsdiener zugleich Partner der Kanzlei ist, die die Gegenseite im parallelen Zivilverfahren vertritt. Die „King’s Bench Division“ urteilte in diesem Vorbildverfahren für das spätere EGMR-Urteil Delcourt, dass die Unparteilichkeit des Gerichts in einer solchen Konstellation verletzt sei, selbst wenn der Gerichtsdiener den Richtern in den konkreten geheimen Beratungen keinen Rat erteilt habe. Es komme nicht darauf an, ob der Gerichtsdiener tatsächlich Einfluss genommen habe, sondern darauf, „what might appear to be done“. Alleine seine abstrakt bestehende, wenngleich praktisch nicht ge- bzw. missbrauchte doppelte Funktion wurde als ausreichend erachtet, um das Gericht von außen als nicht mehr unparteiisch wahrzunehmen: „(…) it is irrelevant to inquire whether the clerk did or did not give advice and influence the justices. What is objectionable is his presence at the consultation, when he is in a position which necessarily makes it impossible for him to give absolutely impartial advice“.226 Der Ursprung des häufig herangezogenen Merkmals des äußeren Erscheinungsbildes als Unabhängigkeitsmerkmal in der Rechtsprechung des EGMR liegt damit in einer Unparteilichkeitsrechtsprechung eines britischen Gerichts begründet. Im Fall Delcourt, welcher die Institution der Generalstaatsanwaltschaft an der belgischen „Cour de Cassation“ behandelte, deren Vertreter, ähnlich wie der Gerichtsdiener in der britischen Vorbildentscheidung, das Recht hatte, sich ohne Stimmrecht an den geheimen Beratungen der Richter zu beteiligen, übernahm der EGMR das Merkmal des äußere Erscheinungsbildes. Dabei stellte er es jedoch nicht in einen spezifischen Zusammenhang mit der Anforderung „independent tribunal“, sondern bezog sich lediglich auf Art. 6 Abs. 1 EMRK als „wider concept of a fair trial by an independent and impartial tribunal“. Zudem war für den EGMR in diesem ersten Urteil zum äußeren Erscheinungsbild offensichtlich noch vorrangig, wie das System tatsächlich funktioniert, und weniger, ob es auch nach außen so in Erscheinung tritt, indem er weiter argumentierte, dass bei einem sich anschließenden Blick „behind appearances“ deutlich werde, dass die reale Lage keinerlei Probleme mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK aufwerfe.227 Im Urteil Delcourt ging es damit noch nicht um die Begründung der „appearance“-Rechtsprechung, die das äußere Erscheinungsbild zu einem festen Bestandteil der Unabhängigkeitsmerkmale eines Gerichts gemacht hat; das Urteil ebnet aber den Weg dafür. In der Rechtssache „Piersack gegen Belgien“ entwickelten EKMR und EGMR Anfang der 1980er Jahre die Rechtsprechung zum äußeren Erscheinungsbild wei-

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226 King’s Bench Division, The King v. Sussex Justices Ex parte McCarthy, 09.11.1923, 1924, S. 260. 227 EGMR, Delcourt gegen Belgien, insb. Rn. 31.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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ter, indem sie Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters, der zuvor bereits als Staatsanwalt mit demselben Fall betraut war, aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes ausreichen ließen. Zwar könne man ihm nicht nachweisen, dass er tatsächlich parteiisch sei; es würden aber Zweifel an seiner Unparteilichkeit genügen, die lediglich objektiv gerechtfertigt sein müssten, was im Fall dieser Ämterfolge im Hinblick auf ein und denselben Fall gegeben war.228 Während dieses Urteil damit in seiner Anwendung des äußeren Erscheinungsbildes auf die Unparteilichkeit, dem britischen Ausgangsfall von 1923 entspricht, ist die Rechtsprechung im Laufe ihrer Weiterentwicklung undeutlicher geworden und hat sich von der Konstellation, die die britische Entscheidung vor Augen hatte, weg bewegt. Entscheidend für die Übertragung des Merkmals des äußeren Erscheinungsbildes auf die Unabhängigkeit ist die Rechtsprechung zu Campbell und Fell, in dem die EKMR zur Untermauerung der Notwendigkeit einer institutionellen Trennung der Judikative von den anderen beiden Gewalten auf die angelsächsische Maxime „justice must also be seen to be done“ zurückgriff.229 Der EGMR begründete aus dieser Vorlage 1984 in seinem Urteil zu Campbell und Fell daraufhin die vier Elemente, die bis heute ständige Rechtsprechung sind: „In determining whether a body can be considered to be ,independent‘ (…), the Court has had regard to the manner of appointment of its members and the duration of their term of office, the existence of guarantees against outside pressures and the question whether the body presents an appearance of independence“, wobei er für letzteres auf das Urteil Delcourt verwies, das sich, wie dargestellt, nur ganz generell auf Art. 6 Abs. 1 EMRK bezog.230 Statt zu differenzieren zwischen der Unparteilichkeit einerseits und der Unabhängigkeit als institutioneller Frage andererseits, für deren Verletzung in Bezug auf das „Board of Visitors“ und dessen Verhältnis zur Exekutive ausreichende Anhaltspunkte bestanden hatten, versuchte der EGMR, die institutionell mangelnde Unabhängigkeit über das äußere Erscheinungsbild zu lösen. Letzteres wäre jedoch – ganz im Sinne der Vorbildentscheidung von 1923 und der eigenen Rechtsprechung in Piersack – allein auf die Unparteilichkeitsproblematik anzuwenden gewesen. Da die Exekutive zugleich stets die Gegenseite der Insassen in Verfahren vor dem „Board of Visitors“ war, wären Zweifel an der Unparteilichkeit in diesen Fällen aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes eines derart eng mit der Exekutive verwobenen Organs objektiv gerechtfertigt gewesen. Durch erstmalige Aufzählung der vier Elemente der Unabhängigkeit, unter diesen das äußere Erscheinungsbild, wurde aus Letzterem ein Unabhängigkeitsmerkmal, das bis heute durch den EGMR extensiv herangezogen wird. Teilweise benennt er dabei das äußere Erscheinungsbild als Prüfungspunkt nicht einmal mehr, sondern wendet die schwächere Beweislast der objektiv gerecht-

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228 EKMR, Piersack gegen Belgien, Rn. 56; EGMR, Piersack gegen Belgien, Rn. 30 ff.; näheres unten unter B. I. 4. b). 229 EKMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 137. 230 EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 78.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

fertigten Zweifel des Bf. auf die Unabhängigkeit des Gerichts an.231 Im Folgenden wird versucht, eine Erklärung dafür zu finden, warum der EGMR das äußere Erscheinungsbild zur beinahe wichtigsten Säule seiner Unabhängigkeitsrechtsprechung macht, obwohl dies mit Ursprung und Rechtfertigung dieses Merkmals in keinem Zusammenhang mehr steht. (1) Erklärungsansatz I: Beweislasterleichterung Eine erste Erklärungsmöglichkeit wäre die Intention des EGMR, dem Bf. die Beweislast zu erleichtern.232 Durch Einbeziehen des Merkmals des äußeren Erscheinungsbildes in den Kreis der Unabhängigkeitsmerkmale trifft den Bf. lediglich die Last, Zweifel vorzubringen, die der EGMR dann daraufhin untersucht, ob sie sich objektiv rechtfertigen lassen. Diese Beweislasterleichterung ist jedoch für den Bereich der Unabhängigkeit zumindest grundsätzlich nicht zu rechtfertigen, da der Bf. es dort gerade nicht mit inneren Vorgängen des Richters zu tun hat, die es ihm schon grundsätzlich unmöglich machen, Nachweise zu erbringen. Letzteres trifft grundsätzlich nur auf die Unparteilichkeit zu und führt dazu, dass der EGMR bei der subjektiven Unparteilichkeit auf das Erbringen von Nachweisen vollständig verzichtet und sogar eine Beweislastumkehr anwendet, während bei der objektiven Unparteilichkeit eben jene Zweifel ausreichen, die durch den EGMR anschließend auf ihre Legitimität hin geprüft werden. Bei der Unabhängigkeit hingegen kann ein Mangel zumindest grundsätzlich leichter nachgewiesen werden, da es hier um strukturelle Sicherungen hinsichtlich des Verhältnisses der Gewalten untereinander sowie innerhalb der Judikative und weitere objektive Sicherungen wie z. B. die Amtszeit geht. (2) Erklärungsansatz II: Flexibilität In Betracht kommt auch, dass sich der EGMR eine gewisse Flexibilität in der Feststellung wahren möchte, ob ein nationales Gericht der Anforderung der Unabhängigkeit genügt. Während es das Mandat des EGMR nicht hergibt, den Konventionsstaaten detailreiche Vorgaben zu machen, wie ihre nationalen Justizsysteme auszugestalten sind, nutzt er anstelle der konkreten Elemente wie Ernennungsmodus, Amtszeit oder Garantien gegen Einfluss von außen, regelmäßig das Merkmal des äußeren Erscheinungsbildes, um auf diesem Wege zwar eine Unvereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 EMRK festzustellen, ohne jedoch stärker und präziser in die jeweilige nationale Justizorganisation intervenieren zu müssen. Dies wäre ein verständliches Motiv, aber mit Blick auf die damit einhergehende mangelnde Präzision problematisch. Es wird häufig nur das Ergebnis deutlich, mithin ob eine Verletzung

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231 Siehe nur exemplarisch: EGMR, Miroshnik gegen Ukraine, 27.11.2008, No. 75804/01, Rn. 61 ff. 232 So auch Kuijer, The blindfold of Lady Justice, S. 292.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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der Unabhängigkeit vorliegt, ohne dass der EGMR so seine Rechtsprechung zu spezifischen Merkmalen der Unabhängigkeit fortentwickelt. (3) Erklärungsansatz III: „Subjektive Unabhängigkeit“ Überzeugend erscheint der Ansatz, dass die Rechtsprechung zum äußeren Erscheinungsbild den Unabhängigkeitsbegriff um eine subjektive Komponente erweitert. Dies wird insbesondere in den Fällen deutlich, in denen Beamte oder Soldaten für eine gewisse Zeitspanne oder lediglich für den Moment der Funktionsausübung als Richter eingesetzt wurden.233 In diesen Fällen nahm der EGMR teilweise, wie in Incal, an, dass das Gesetz diesen Richtern für die Ausübung der richtenden Funktion zwar Weisungsfreiheit garantiere, die Unabhängigkeit aber dennoch verletzt sei, da diese nur auf Zeit als Richter fungierten und nach Ausübung dieser Funktion wieder in ihren alten Dienst zurückkehrten, der naturgemäß von Weisungen und Hierarchien geprägt sei. In „Belilos gegen Schweiz“ entschied der EGMR 1988, dass sämtliche Garantien wie Ernennungsmodus, Amtszeit, Unabsetzbarkeit, Weisungsfreiheit u. a. nicht ausreichend seien und lehnte unter Verweis auf den Eindruck, den ein Laie von außen haben könnte, die Unabhängigkeit des Polizeigerichts ab: ein einzelner Jurist aus der Polizeiverwaltung war als einziger Richter zu einem Organ für vier Jahre ernannt und mit den notwendigen formellen Unabhängigkeitsgarantien ausgestattet gewesen. Einzig mit Verweis auf eine Art „vorauseilende Abhängigkeit“ des in den abhängig strukturierten Polizeidienst zurückkehrenden Beamten sah der EGMR Zweifel als gerechtfertigt an. Aufgrund der lediglich kurzen Ausgliederung aus dem hierarchischen Dienstverhältnis könne man ihn weiterhin für seinen Vorgesetzten unterstellt und den Kollegen gegenüber loyal halten.234 Auch im Fall Sramek, der die Besonderheit mit sich brachte, dass nicht nur ein Verwaltungsbeamter als Richter fungierte, sondern dieser insbesondere in seiner sonstigen administrativen Tätigkeit dem Vertreter der Gegenpartei hierarchisch unterstellt war, sah der EGMR ein Unabhängigkeitsproblem, indem er das äußere Erscheinungsbild bemühte. In diesen Fällen geht es mithin um eine subjektive Unabhängigkeit, die in der zuerst genannten Konstellation aus Incal und Belilos durch eine „vorauseilende Abhängigkeit“ in Frage gestellt wird, da die Person möglicherweise unter der Aussicht der Rückkehr in ein hierarchisches Verhältnis handelt. In der zweiten Konstellation aus Sramek bilden sich die Hierarchien, die außerhalb der Richterfunktion bestehen, bis in den Gerichtssaal ab. Auch wenn in allen Fällen gesetzlich Weisungsfreiheit eingeräumt war und auch in der Praxis keine Weisungen ergingen, war die richterliche Unabhängigkeit trotzdem nicht mehr gewahrt, da der EGMR allein aufgrund der potentiellen Gefahr einer Auswirkung dieser Hierarchien teilweise eine Verlet-

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Siehe für alle Fallbeispiele mit Nachweisen oben B. I. 3. c) aa) (3). EGMR, Belilos gegen Schweiz, Rn. 67.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

zung über das äußere Erscheinungsbild feststellte.235 Diese potentiellen Gefahren lassen sich nicht weiter nachweisen, sondern betreffen die innere (abhängige) Einstellung des Richters. Daher ist dieser Bereich dem der Unparteilichkeit angenähert, der selbst nicht einschlägig ist, da es regelmäßig in diesen Fällen nicht um eine Befangenheit aufgrund bestimmter Parteien geht. Da dies ein subjektivierter Ansatz der Unabhängigkeit ist, verwundert es nicht, dass der EGMR auf eine Rechtsprechung zurückgreift, die ursprünglich für die Unparteilichkeit konzipiert war und sich nicht nur deren Begrifflichkeit, sondern auch deren Beweislast bedient. Ohne Zuhilfenahme der äußeren Erscheinung des Gerichts und der abgemilderten Beweislast müsste der EGMR diesen Bereich potentieller Unabhängigkeitsprobleme aus seiner Rechtsprechung ausklammern.236 Der Rückgriff auf das äußere Erscheinungsbild und auf eine schwächere Beweislast stellt damit den einzig gangbaren und daher überzeugenden Ansatz dar, um auch eine mangelnde subjektive Unabhängigkeit einzubeziehen.237 bb) Prüfungsmaßstab Der Prüfungsmaßstab für dieses Merkmal ist weniger strikt: Es genügen legitime, d. h. objektiv gerechtfertigte, Zweifel des Laien an der Unabhängigkeit des Gerichts aufgrund seines Erscheinungsbildes nach außen. Die Kombination aus Zweifeln einerseits und der objektiven Rechtfertigung dieser Zweifel andererseits, dient als Prüfungsmaßstab, der keine konkreten Nachweise verlangt. Zugleich lässt er aber nicht jegliche Bedenken seitens der Bf. mit Blick auf einen wenig greifbaren Tatbestand wie den des Erscheinungsbildes für eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK ausreichen. Problematisch ist, dass der EGMR aufgrund der Identität dieses Prüfungsmaßstabes mit demjenigen der objektiven Unparteilichkeit zunehmend dazu neigt, die Prüfung von Unabhängigkeit und objektiver Unparteilichkeit zu vermengen.238 Wünschenswert wäre, wenn er zukünftig in der Prüfung deutlicher zwischen

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235 Zu wieder anderen Fällen, in denen er sehr viel formaler argumentierte, siehe die Kritik in B. I. 3. c) aa) (3). 236 Diese Einschätzung bestätigt sich mit Blick auf die Konstellation der als Experten eingesetzten Laienrichter, deren Experteneigenschaft zugleich Eigeninteressen am Ausgang des Verfahrens mit sich bringen kann: Diese wurde (neben der Unparteilichkeitsfrage) iRd äußeren Erscheinungsbildes als Aspekt der Unabhängigkeit behandelt: EGMR, Langborger gegen Schweden, Rn. 34 f. 237 Die EKMR hat in den Fällen, in denen der EGMR eine Art subjektive Unabhängigkeit zugrunde zu legen scheint, ebenfalls das äußere Erscheinungsbild herangezogen, hier aber stärker über die Forderung nach institutioneller Trennung eines Gerichtsorgans von abhängig strukturierten Organen wie Verwaltungskörpern argumentiert: EKMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 137; EKMR, Sramek gegen Österreich, Rn. 74; EKMR, Ettl gegen Österreich, Rn. 95. Dieser Ansatz ist verwandt mit dem der subjektiven Unabhängigkeit. Auch hier geht es nicht darum, tatsächliche Eingriffe nachzuweisen, sondern es genügt, dass eine Institution für einen Laien nicht mehr klar von außen als unabhängig urteilendes Gericht zu erkennen ist. 238 Möglicherweise spielt auch die sachliche Annäherung dieses Merkmals – folgt man der oben dargelegten Theorie einer subjektiven Unabhängigkeitskomponente – an die Unpar-

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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mangelnder Unabhängigkeit und mangelnder Unparteilichkeit abschichten würde, um dem jeweiligen Konventionsstaat das zugrundeliegende Problem zu verdeutlichen. cc) Würdigung des Merkmals Neben der Vermengung von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in dem Kriterium der „appearances“, ist kritisch anzumerken, dass der EGMR sich allzu schnell auf das vierte Merkmal seiner ständigen Rechtsprechung beruft und dabei eine genaue Auseinandersetzung mit den anderen Unabhängigkeitskriterien unterlässt. Seitdem die EKMR das Merkmal „outside appearances“ ursprünglich in Campbell und Fell mit Blick auf die Forderung nach institutioneller Unabhängigkeit herangezogen hat, ist das Element zum Sammeltatbestand für verschiedene Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit geworden, die einer genaueren Differenzierung bedürften. Für manche Fälle ist das Heranziehen des Merkmals des äußeren Erscheinungsbildes im Sinne der hergeleiteten „subjektiven Unabhängigkeit“ der einzig mögliche Maßstab. Für andere Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit in ihrer institutionellen Ausprägung, d. h. im Verhältnis zu den anderen beiden Gewalten und innerhalb der Judikative, ist das Bemühen des Merkmals des äußeren Erscheinungsbildes hingegen zu unpräzise und durch den abgesenkten Prüfungsmaßstab wenig hilfreich für die Herausbildung einer klaren Rechtsprechung. Diese Kritik lässt sich am Urteil „Bryan gegen Großbritannien“ veranschaulichen: Aufgrund der formal bestehenden Möglichkeit des Innenministers, den als Richter fungierenden „Inspector“ während des Verfahrens absetzen zu können, erachtete der EGMR dieses britische Gericht für nicht unabhängig. Statt aber zu dieser Schlussfolgerung bei dem Kriterium der Unabsetzbarkeit zu gelangen, behalf sich der EGMR über den Anschein nach außen, den eine solche gesetzliche Regelung habe, wenngleich sie in der Praxis nicht angewandt würde.239 Durch den Verweis auf das äußere Erscheinungsbild in solchen Konstellationen, findet eine Umgehung und Vereinfachung zu Lasten einer klaren Rechtsprechung statt, da zu schnell auf „outside appearances“ und „legitimate doubts“ zurückgegriffen wird. Die fehlende Differenzierung bei allzu schneller Berufung auf das äußere Erscheinungsbild und seinen weniger strengen Prüfungsmaßstab hat auch zu Kritik seitens der EGMR-Richter

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teilichkeit hinein, ebenso wie die Entstehungsgeschichte, in der das Merkmal des äußeren Erscheinungsbildes ursprünglich als Merkmal für die Unparteilichkeit entwickelt wurde. EGMR, Langborger gegen Schweden, Rn. 32 ff.; EGMR, Findlay gegen Großbritannien, Rn. 73; EGMR, Çiraklar gegen Türkei, Rn. 38; siehe auch später speziell unter B. I. 5. zur Abgrenzungsproblematik der beiden Merkmale. 239 EGMR, Bryan gegen Großbritannien, Rn. 38; ebenso EGMR, Findlay gegen Großbritannien, Rn. 76. Ebenso verfehlt der Verweis auf die „appearance of independence“ gleichsam als Überschrift der Subsumtion in EGMR, Henryk Urban und Ryszard Urban gegen Polen, Rn. 46, obwohl es sich eindeutig um den Problemkreis der Absetzbarkeit handelte, der Rückgriff daher unnötig war.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

geführt: Richter De Meyer führte in seinem Zustimmenden Sondervotum zu „Findlay gegen Großbritannien“ 1997 aus: „Once again reference is made in its reasoning to ,appearances‘ (…). First of all, I would observe that the Court did not need to rely on ,appearances‘, since there were enough convincing elements to enable it to conclude that the court-martial system (…) was not acceptable. Moreover, I would like to stress that, as a matter of principle we should never decide anything on the basis of ,appearances‘, and that we should, in particular, not allow ourselves to be impressed by them in determining whether or not a court is independent and impartial. We have been wrong to do so in the past, and we should not do so in the future.“240 Die besonders häufige Bemühung des äußeren Erscheinungsbildes führt aber auch, wie verschiedene EGMR-Richter bemängeln, zu Stagnation.241 Kritiker des Berufens auf „appearances“ wie die (ehemaligen) Richter Martens, van Dijk und Matscher, verweisen zudem auf die eigenen Worte des EGMR aus dem Urteil „De Jong, Baljet und Van den Brink gegen Niederlande“ von 1984, in dem der EGMR selbst äußerte: „one must look beyond the appearances (…) and concentrate on the realities of the situation“.242 Die Bemühung der „outside appearance“ sollte daher auf die Fälle begrenzt werden, in denen das Merkmal dazu dient, den sonst eher formalistisch geprägten Ansatz des EGMR zu relativieren und Gefahren in der Realität zu begegnen, die weniger offenkundig und trotz formal-rechtlicher Bestimmungen bestehen. Definiert man Realität nur als Zusammenschau rechtlicher Garantien, so mag alles abseits dieser Garantien als Erscheinungsbild und fiktiv aufzufassen sein. Definiert man Realität aber auch als all diejenigen realen Gefahren, die trotz formaler Sicherungsmechanismen in der Praxis auftreten und die der EGMR unter den Sammelpunkt „Erscheinungsbild“ als Oberbegriff zusammenfasst, dient dieses Merkmal in diesen Fällen als hilfreiche Ergänzung zum bloßen Blick auf formale Sicherungen und stellt den Abgleich formaler Sicherungen mit der Realität dar.243 e) Unabhängigkeit innerhalb der Judikative Die Unabhängigkeit eines Gerichts, der einzelnen Kammer oder des einzelnen Richters kann auch innerhalb der Dritten Gewalt gefährdet sein. Dazu zählen Fälle der direkten Einwirkung im Wege unmittelbarer Anweisungen an den einzelnen

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240 Zustimmendes Sondervotum von Richter De Meyer zu EGMR, Findlay gegen Großbritannien. 241 Abweichendes Sondervotum von Richter Martens zu EGMR, Borgers gegen Belgien, 30.11.1991, No. 12005/86. 242 EGMR, De Jong, Baljet und Van den Brink gegen Niederlande, 22.05.1984, No. 8805/79; No. 8806/79; No. 9242/81, Rn. 48. 243 So auch Sudre, Le Mystère des „Apparences“ dans la Jurisprudence de la Cour Européenne des Droits de l’Homme, in: Revue Trimestrielle des Droits de l’Homme, No. 79, 2009, S. 633 ff.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Richter aus dem Inneren der Justiz,244 ebenso wie subtilere Versuche, den einzelnen Richter zu beeinflussen, denen aber über die Verbindung mit Justizverwaltungskompetenzen ein entsprechendes Gewicht zukommt. Vor dem Hintergrund gravierender Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten über direkte Einwirkungen auf den einzelnen Richter aus dem Inneren der Judikative, hat der EGMR seit etwa 2009 den Begriff der „internal independence“ herausgebildet.245 Durch die explizite Benennung der internen Unabhängigkeit als Zustand „free from directives or pressures from the fellow judges or those who have administrative responsibilities in the court such as the president of the court or the president of a division in the court“,246 wird die innerjustizielle Einflussnahme nunmehr auch als Unabhängigkeitsproblem diskutiert. Dadurch wird der Schutz der Unabhängigkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK vervollständigt, der in den ersten Urteilen der 1970er und frühen 1980er Jahre ausdrücklich nur als Unabhängigkeit von der Exekutive und den Parteien charakterisiert,247 dann auf die Unabhängigkeit von der Legislative erweitert wurde.248 Vor der Herausbildung des Begriffs der internen Unabhängigkeit hat der EGMR derartige Beschwerden ausschließlich als Unparteilichkeitsproblem behandelt, obwohl er auch in „Daktaras gegen Litauen“ aus dem Jahr 2000 ebenso gut hätte argumentieren können, ein klar geäußertes Ersuchen des Gerichtspräsidenten, wie der Fall zu entscheiden sei, habe trotz mangelnder formalrechtlicher Verbindlichkeit aufgrund der hervorgehobenen Position des Gerichtspräsidenten einen quasi-verbindlichen Effekt und torpediere damit eine unabhängige Ausübung der Rechtsprechungsfunktion.249 Die Entwicklung hin zu dem Begriff der internen Unabhängigkeit ist daher grundsätzlich zu begrüßen. Problematisch ist allerdings, dass der EGMR die interne Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit nunmehr meist unterschiedslos zusammen behandelt.250 Dadurch wird, wie bereits in „Hirschhorn gegen Rumänien“ oder „Agrokompleks gegen Ukraine“, insgesamt nur der schwächere Maßstab der legitimen Zweifel der Prüfung zugrunde gelegt, der charakteristisch für die objektive Unparteilichkeit ist.

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244 Vgl. jüngst EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 29, 37; EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, Rn. 137 f. Zu dem Einfluss des Vorsitzenden Richters auf die Beisitzer, siehe EGMR, De Haan gegen Niederlande, 26.08.1997, No. 22839/93, Rn. 51. Für besonders anfällig hält der EGMR die Konstellation, in der neben dem Vorsitzenden Berufsrichter nur Laienrichter in der Kammer vertreten sind. 245 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 86; EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 29; EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, Rn. 137. 246 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 86; ähnlich in EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 29, und in EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, Rn. 137. 247 EGMR, Ringeisen gegen Österreich, Rn. 95. 248 EKMR, Crociani, Palmiotti, Tanassi und Lefebvre d’Ovidio gegen Italien, S. 147, 220. 249 EGMR, Daktaras gegen Litauen, 10.10.2000, No. 42095/98; vgl. auch EGMR, Salov gegen Ukraine. 250 So bereits in EGMR, Hirschhorn gegen Rumänien, 26.07.2007, No. 29294/02.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Dies wirkt sich auch auf Fälle aus, in denen ausnahmsweise nur eine Verletzung der Unabhängigkeit geprüft wird und ebenfalls lediglich nach der Rechtfertigung der Zweifel gefragt wird, wie in „Khrykin gegen Russland“ aus dem Jahr 2011. Auch wenn der EGMR dadurch die Beweislast für die Bf. senkt, ist dies nicht erforderlich, da im Sinne einer klaren Rechtsprechung benannt werden könnte, dass es sich um eine Verletzung der Unabhängigkeit handelt und nicht nur um objektiv gerechtfertigte Zweifel.251 Letztere gehören zudem dogmatisch in die Unparteilichkeit (und nur für Ausnahmekonstellationen in die Unabhängigkeit).252 In Konstellationen, in denen, wie in „Khrykin gegen Russland“, ein bereits rechtskräftiges Urteil durch die Präsidentin der nächsthöheren Instanz in einem Brief an die untere Instanz als rechtsfehlerhaft bewertet wird, womit dem Richter eine Entlassung aus dem Dienst droht, und dieser anschließend die Argumentation dieses Briefs exakt in das die alte Entscheidung aufhebende Urteil übernimmt, darf und muss der EGMR eine Verletzung der internen Unabhängigkeit feststellen und sollte sich nicht lediglich auf gerechtfertigte Zweifel zurückziehen.253 Gleiches gilt, wenn ein Richter der unteren Instanz, wie in einem Verfahren gegen die Ukraine 2005, eine klare Anweisung der nächsthöheren Instanz bekommt, und daraufhin seinen Beschluss bei Vorliegen derselben Beweislage diametral abändert.254 Subtilere Versuche, den einzelnen Richter von Seiten der Judikative zu beeinflussen, können sich weiterhin im Zusammenhang mit der Ausübung administrativer Funktionen, regelmäßig durch Gerichtspräsidenten, ergeben. Dies ist etwa dann der Fall, wenn letztere unbeschränktes Ermessen bei der Verteilung und Umverteilung von Fällen auf die Richter ihres Gerichts haben, ohne dass gesetzlich vorgesehene Kriterien existieren, die die Fallverteilung und damit das Ermessen in Bahnen lenken würden.255 Gravierender noch ist die Kombination von Justizverwaltungsfunktionen und der Kundgabe von Einschätzungen zu anhängigen Verfahren. In „Daktaras gegen Litauen“ hatte der Gerichtspräsident des litauischen Obersten Gerichts nicht nur bereits in einem Ersuchen deutlich gemacht, wie der anhängige Fall zu entscheiden sei, sondern er verfügte auch über die Kompetenz, die für die Entscheidung zuständigen Richter und den Berichterstatter zu ernennen. Der EGMR sah hierin eine Konstellation, in der das Erzeugen unangemessenen Drucks von Seiten des Gerichtspräsidenten nicht ausgeschlossen werden könne.256 Auch in „Hirschhorn gegen Rumänien“ von 2007 argumentierte er in einer ähnlichen Konstellation mit den organisatorisch-administrativen Funktionen und damit der mächti-

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Siehe nur exemplarisch: EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, Rn. 137. Siehe dazu B. I. 3. d). 253 So aber leider aktuell immer noch, vgl. EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 38; EGMR, Moiseyev gegen Russland, Rn. 184. 254 EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 ff. 255 EGMR, Moiseyev gegen Russland, Rn. 182. 256 EGMR, Daktaras gegen Litauen, Rn. 33 ff. 251 252

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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gen Stellung des Gerichtspräsidenten in der Struktur des Gerichts, der sich bereits implizit für einen bestimmten Verfahrensausgang ausgesprochen hatte. Daneben war die Verknüpfung zwischen Disziplinarhoheit als weiterer Justizverwaltungsfunktion und einer klar geäußerten Meinung zu einem anhängigen Verfahren Gegenstand in Hirschhorn. Nachdem der Ermittlungsrichter ebenfalls seine Meinung kundgetan hatte, sah der EGMR in den möglichen disziplinarischen Folgen für die Richter seitens des durch den Ermittlungsrichter informierten Justizministeriums einen weiteren Grund für Zweifel an der Unabhängigkeit der Richter der urteilenden Kammer.257 Dass diese Verknüpfung zu vorauseilendem Gehorsam führen kann, sprach der EGMR wenige Jahre später gegenüber Russland aus, nachdem ein erstinstanzliches Urteil infolge einer Instruktion durch die Gerichtspräsidentin der nächsthöheren Instanz, die zugleich für die Initiierung von Disziplinarverfahren zuständig war, angepasst worden war.258 Neben diesen beiden problematischen Fallgruppen der direkten Weisung und der subtilen Einflussnahme innerhalb der Judikative, haben EKMR und EGMR die Frage diskutiert, ob die Orientierung der eigenen Rechtsprechung an der Entscheidungspraxis höherer Gerichte die Unabhängigkeit der Entscheidungsfindung innerhalb der Justiz in Frage stellen könne. Zu Recht ist in der Orientierung an der Rechtsprechung höherer Gerichte oder desselben Gerichts in seiner Gesamtbesetzung („plenary court“) keine Verletzung der unabhängigen Entscheidungsfindung zu sehen,259 solange die einzelnen Gerichte von ihrem Recht Gebrauch machen und ihre gleichzeitige Pflicht wahrnehmen, in voller Unabhängigkeit den Einzelfall zu betrachten.260 Dies gilt auch dann, wenn eine Kammer das bei ihr anhängige Verfahren eigens aussetzt, um die Entscheidung desselben Gerichts in großer Kammerbesetzung in einer ähnlichen Rechtssache abzuwarten.261

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257 EGMR, Hirschhorn gegen Rumänien, Rn. 64 ff. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass der EGMR sich mangels Differenzierung mit objektiv gerechtfertigten Zweifeln auch hinsichtlich der Unabhängigkeit begnügte. 258 EGMR, Khrykin gegen Russland, insb. Rn. 36 f. Auch hier werden allerdings dogmatisch unsauber gerechtfertigte Zweifel an der Unabhängigkeit statt einer Verletzung derselben festgestellt. 259 EKMR, X gegen Norwegen, 30.05.1961, No. 931/60, S. 41, 46; EKMR, Pretto gegen Italien, 11.07.1979, No. 7984/77, S. 97; EGMR, Falcoianu u. a. gegen Rumänien, Rn. 37; EGMR, Mosteanu gegen Rumänien, Rn. 42. 260 Dasselbe gilt für den umgekehrten Fall, dass ein höheres Gericht die Gründe, die von einer unteren Instanz gegeben wurden, aufgreift und bestätigt. Jedoch ist nach der EKMR erforderlich, dass, ähnlich wie bei der verbindlichen Rechtsprechung oberster Gerichte für untere Instanzen, auch im umgekehrten Fall die höhere Spruchebene noch einmal eine vollständig unabhängige Untersuchung des Einzelfalls vornimmt und sich lediglich in der Entscheidungsfindung an der Begründung der unteren Instanz orientiert: EKMR, Versteele gegen Belgien, 18.01.1989, No. 12458/86, S. 126. 261 EKMR, Pretto gegen Italien, S. 97.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

f) Verhältnis zur Staatsanwaltschaft Das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft (StA)262 und Richterschaft kann Probleme der richterlichen Unabhängigkeit hervorrufen, wenn die StA als Teil der Exekutive Einfluss auf den einzelnen Richter oder das Gericht nimmt. Da die StA zugleich durch die späteren Bf. als Gegenspielerin wahrgenommen wird, war allerdings überwiegend die mangelnde Unparteilichkeit des tatsächlich oder vermeintlich beeinflussten Gerichts Gegenstand der Rechtsprechung. EGMR und EKMR fordern für ein mit Art. 6 Abs. 1 EMRK zu vereinbarendes Verhältnis zwischen Richterschaft und StA, die institutionelle Trennung der Anklage- von der richtenden Funktion und bei einem Wechsel von der StA in das Richteramt, dass der Richter nicht zuvor in staatsanwaltlicher Funktion bereits mit demselben Verfahren befasst war. Daneben haben Sonderfunktionen der Generalstaatsanwaltschaft in den Beneluxstaaten den EGMR und die EKMR beschäftigt. In jüngerer Zeit kommt es außerdem zu Beschwerden vor dem EGMR, die die in den östlichen Europaratsstaaten teilweise anzutreffende positiv voreingenommene Haltung des Richters gegenüber der StA thematisieren und durch den EGMR als mangelnde Unparteilichkeit des Richters eingestuft werden.263 aa) Institutionelle Trennung Ist ein Organ zugleich für die Ermittlungen, die Anklage und das Fällen des Urteils zuständig, sind Zweifel an der Unabhängigkeit und objektiven Unparteilichkeit des Organs in seiner richtenden Funktion gerechtfertigt.264 Der EGMR fordert eine institutionelle Trennung staatsanwaltlicher Funktionen einerseits und richterlicher Funktionen andererseits, um die Unabhängigkeit und objektive Unparteilichkeit eines Gerichts zu gewährleisten. Dieses Erfordernis muss nicht nur gesetzlich verankert sein, sondern auch in der Praxis Bestand haben. Nimmt ein Richter bei Abwesenheit eines StA in demselben Verfahren dessen Funktionen zusätzlich zu der richtenden Funktion wahr, stellt dies nach dem EGMR eine Verletzung der objektiven Unparteilichkeit dieses Richters dar, da er die Rolle des Richters einerseits

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262 Dieses Kürzel wird im Folgenden sowohl für die Institution, als auch den einzelnen oder mehrere Staatsanwälte verwendet. 263 Wenngleich iRv Art. 5 EMRK. Vgl. EGMR, Ramishvili und Kokhreidze gegen Georgien, 27.01.2009, No. 1704/06, Rn. 133 ff. Siehe zu dem Beziehungsgeflecht zwischen StA und Richterschaft in den östlichen Europaratsstaaten auch die Einführung zu C. II. 264 EGMR, Dubus S. A. gegen Frankreich, 11.06.2009, No. 5242/04, Rn. 57 ff. Die Akkumulation lediglich ermittelnder und richtender Funktionen in einer Hand, d. h. ohne Zuständigkeit für die Anklage, ist jedoch nach dem EGMR noch mit richterlicher Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vereinbar. Eine mangelhafte institutionelle Trennung ist aber zu konstatieren, wenn eine Person, die eindeutig dem Lager der StA zuzuordnen ist, zugleich auch für die Ernennung und Auflösung des Gerichts zuständig ist, vgl. EGMR, Findlay gegen Großbritannien, Rn. 74 ff.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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und des StA andererseits vermische.265 Es wäre begrüßenswert, wenn der EGMR in Zukunft bei gleichgelagerten Fällen auch Gefahren für die Unabhängigkeit mit Blick auf die Doppelfunktionsausübung ansprechen würde. Ein Staat, der auch nur faktisch die gleichzeitige Wahrnehmung der Richter- und der StA-Rolle, und damit exekutiver Funktionen, zulässt, verhindert nicht nur eine unabhängige Entscheidungsfindung, sondern legt darüber hinaus eine nicht funktionierende Gewaltenteilung offen.266 bb) Wechsel von der Staatsanwaltschaft in das Richteramt Einige Konventionsstaaten sehen eine Justizorganisation vor, die einen Wechsel ehemaliger StA in das Richteramt als gängigen Karriereweg zulässt. Nach der Rechtsprechung des EGMR stellt die Besetzung eines Gerichts mit ehemaligen StA grundsätzlich noch keine Verletzung eines unabhängigen oder unparteiischen Gerichts dar: „Above all, the mere fact that a judge was once a member of the public prosecutor’s department is not a reason for fearing that he lacks impartiality“.267 Allerdings kann dies unvereinbar mit der richterlichen Unparteilichkeit sein, wenn ein Richter über einen Fall zu Gericht sitzt, für den er bereits in staatsanwaltlicher Funktion verantwortlich war. Voraussetzung ist allerdings, dass er selbst oder Bedienstete der StA unter seiner Aufsicht für die Ermittlungen und die Anklage zuständig waren.268 cc) Sonderkonstellationen Mehrfach beschäftigt hat EGMR und EKMR, ob ein Gericht noch als unabhängig und unparteiisch aufzufassen ist, an dessen geheimen Beratungen ein Vertreter der StA teilnimmt. Die Rechtsprechung wurde dabei durch die Besonderheit mancher konventionsstaatlicher Systeme wie etwa in Belgien269 oder den Niederlanden270 geprägt, in denen die Generalstaatsanwaltschaft an dem obersten Gericht eine besondere, quasi-gerichtliche Rolle in Abweichung von gewöhnlichen staatsanwaltschaftlichen Funktionen wahrnimmt. Die bloße Anwesenheit eines Vertreters der Generalstaatsanwaltschaft („avocat général“ oder „procureur général“) an den geheimen Beratungen des obersten Gerichts ohne Abstimmungsrecht, stellt nach dieser Rechtsprechung wegen der speziellen Funktion der Generalstaatsanwalt-

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265 EGMR, Ozerov gegen Russland, 18.05.2010, No. 64962/01, Rn. 50 ff. Dies ist insbesondere ein Problem mit Blick auf die ehemaligen Sowjetrepubliken, in denen die alte sowjetische StPO, die noch bis in die 2000er Jahre galt, dies sogar gesetzlich legitimierte: Rn. 23 ff. 266 Zu der Bedeutung der Gewaltenteilung iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK, siehe B. I. 1. b). 267 EGMR, Piersack gegen Belgien, Rn. 30. 268 Id., Rn. 30. 269 EGMR, Delcourt gegen Belgien; EGMR, Borgers gegen Belgien; EGMR, Vermeulen gegen Belgien, 20.02.1996, No. 19075/91. 270 EKMR, X gegen Niederlande, 05.02.1970, No. 3692/68.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

schaft an der belgischen „Cour de Cassation“ und dem niederländischen „Hoge Raad“ keine Verletzung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieser Gerichte dar. Anders als an den erstinstanzlichen Gerichten und Rechtsmittelinstanzen habe die an der „Cour de Cassation“ oder dem „Hoge Raad“ angesiedelte Generalstaatsanwaltschaft nicht die Funktion der Ermittlung und Anklage von Straftaten, sondern nehme eine unabhängige Beratungsfunktion mit Blick auf das Gericht wahr. Ihre Aufgabe bestehe in der Überwachung der Einhaltung der Gesetze durch die Richter sowie der Einheitlichkeit der Rechtsprechung, sie sei zudem vollkommen unabhängig vom Justizministerium und keinen Hierarchien oder Weisungen unterworfen. Allein dieser, von gewöhnlichen staatsanwaltlichen Aufgaben verschiedenen Sonderfunktion der Generalstaatsanwaltschaft an den höchsten Instanzen ist es geschuldet, dass der EGMR die Anwesenheit dieses unabhängigen und unparteiischen Organs nicht als gefährdend für die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des Gerichts ansah.271 Allerdings ist in der Anwesenheit dieses Konsultativorgans in den geheimen Beratungen der belgischen „Cour de Cassation“ nach neuerer Rechtsprechung eine Verletzung des Prinzips der Waffengleichheit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zu sehen.272 g) Immunität Richterliche Immunität wurde in der Straßburger Rechtsprechung bislang vor allem im Kontext des Rechts auf Zugang zu einem Gericht thematisiert und regelmäßig keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt, da die Einschränkung dieses Rechts durch die richterliche Immunität ein legitimes Ziel verfolge („ensuring the proper administration of justice“) und auch im Einzelfall verhältnismäßig war. Die Bf. hatten geltend gemacht, dass ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht

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271 EGMR, Delcourt gegen Belgien, Rn. 27 ff.; Grabenwarter/Pabel, Kapitel 14: Der Grundsatz des fairen Verfahrens, Rn. 50. Ein ähnlicher Rückschluss lässt sich aus den österreichischen Fällen ziehen, die die Rolle des Generalstaatsanwalts am Obersten Gerichtshof behandelten. Dieser besaß im Vorfeld einer gerichtlichen Entscheidung die Möglichkeit, seine Meinung abzugeben, der das Gericht regelmäßig folgte. Auch hier argumentierte die EKMR, dass der Generalstaatsanwalt am Obersten Gerichtshof zwar grds. Teil der StA sei, aber eine andere Funktion ausübe, nämlich zu beraten und die Einhaltung der Gesetze zu überwachen: EKMR, X. gegen Österreich, 21.06.1963, No. 1418/62; EKMR, Ofner und Hopfinger gegen Österreich, 23.11.1962, No. 524/59; No. 617/59; EKMR, Huber gegen Österreich, 4./5.10.1974, No. 5523/72. 272 Auch wenn die Rolle des Generalstaatsanwaltschaftsvertreters eine andere sei als diejenige eines gewöhnlichen StA, er vielmehr Ähnlichkeiten mit dem Generalanwalt am Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) habe, gebe er durch seine Meinungsäußerung seine Neutralität auf. Zudem würden ihm durch die Teilnahme an den Beratungen des Gerichts weitere Möglichkeiten eingeräumt, seinem Standpunkt Gewicht zu verleihen: EGMR, Borgers gegen Belgien, Rn. 22 ff. (Strafverfahren); EGMR, Vermeulen gegen Belgien, Rn. 29 ff. (Zivilverfahren). Siehe aber auch die Sondervoten.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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aufgrund bestehender Immunitäten zugunsten des Richters vereitelt werde, der in diesen Fällen Beklagter war.273 Daneben demonstriert die beiläufige Erwähnung der richterlichen Immunität in einem Fall gegen Bulgarien von 2006, in dem der EGMR mit Blick auf StA feststellte, dass diese dieselbe Immunität wie Richter genießen würden,274 sowie eine ähnlich beiläufige Erwähnung 2009 gegen Kroatien, dass der EGMR die richterliche Immunität als Teil der Sicherungsmechanismen unabhängig agierender Gerichte versteht. In dem kroatischen Fall bejahte der EGMR die Unabhängigkeit des kroatischen Richterrats, der unter den weiten Gerichtsbegriff des Art. 6 Abs. 1 EMRK subsumiert wurde, indem er darauf verwies, dass die Mitglieder des Richterrates neben einer ausreichenden Amtszeit und Weisungsfreiheit, über „the same immunities as judges“ verfügten.275 Die genaue Reichweite richterlicher Immunität ist indes durch den EGMR noch nicht thematisiert worden und bedarf einer Klärung in zukünftiger Rechtsprechung. h) Disziplinarverfahren aa) Die Unabhängigkeit disziplinarisch geahndeter Richter Obwohl die Art und Weise und der Umfang der Anwendung von disziplinarischen Maßnahmen gegenüber Richtern Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit bergen können, gibt es kaum Rechtsprechung im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK bezogen auf die Unabhängigkeit der Richter selbst. Dies liegt vor allem an der Konzeption von Art. 6 Abs. 1 EMRK, der nicht ermöglicht, dass ein Richter, der Adressat eines Disziplinarverfahrens ist, die Verletzung seiner eigenen Unabhängigkeit iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK vor dem EGMR rügt. Art. 6 Abs. 1 EMRK kommt vielmehr nur zur Anwendung, wenn zunächst andere „civil rights and obligations“ oder „criminal charge(s)“ Gegenstand des nationalen Verfahrens sind, und sich in diesem Zusammenhang die mangelnde Unabhängigkeit des Gerichts zeigt. Daher können sich Anhaltspunkte für die Vereinbarkeit der Disziplinarverfahren gegen Richter mit ihrer Unabhängigkeit nur herausbilden, wenn ein Individuum seinen Richter für nicht mehr unabhängig erachtet, weil parallel ein Disziplinarverfahren gegen diesen läuft, oder das für Disziplinarverfahren zuständige Organ zufällig selbst Gegenpartei des Bf. vor den nationalen Instanzen ist. Der EGMR sah die Unabhängigkeit der Richter in letzterem Fall nicht tangiert. Schließlich habe das

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273 EGMR, Plakhteyev und Plakhteyeva gegen Ukraine, 12.03.2009, No. 20347/03, Rn. 36; EGMR, Ernst u. a. gegen Belgien, 15.07.2003, No. 33400/96, Rn. 50. 274 EGMR, Zlínsat, Spol. S R. O. gegen Bulgarien, Rn. 76. 275 EGMR, Olujić gegen Kroatien, Rn. 40. Weniger konkret bezeichnen die Urteile EGMR, Ernst u. a. gegen Belgien und EGMR, Plakhteyev und Plakhteyeva gegen Ukraine richterliche Immunität allgemein als Mittel der ordnungsgemäßen Rechtspflege.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

als Gegenpartei auftretende bulgarische Justizministerium nur ein Initiativrecht; für die Eröffnung des Verfahrens und die Entscheidung über die Verhängung einer Disziplinarstrafe sei der bulgarische Richterrat zuständig.276 Daneben hat der EGMR beiläufig nähere Voraussetzungen für Disziplinarverfahren gegen Richter aufgestellt. So forderte er indirekt in dem breiteren Kontext der Macht der Gerichtspräsidenten höherer Instanzen gegenüber Richtern unterer Instanzen, ein gesetzlich festgelegtes und präzises Verfahren und Kriterien zur disziplinarischen Haftung von Richtern.277 In einem anderen Fall betonte er den großen Einfluss von Disziplinarverfahren auf die interne Unabhängigkeit der Richter. Es komme darauf an, dass Gerichtspräsidenten kein uneingeschränktes Ermessen hätten, sondern die Macht geteilt sei.278 Auch wenn der EGMR dies nur mit Blick auf Gerichtspräsidenten ausführte, so impliziert seine Rechtsprechung in „ParlovTkalčić gegen Kroatien“ auch für weitere Akteure, dass er in dem sensiblen Bereich der Disziplinarverfahren nur ein kompetenzgeteiltes Verfahren für vereinbar mit Art. 6 Abs. 1 EMRK hält.279 bb) Nationale Disziplinarinstanzen im Rahmen von Art. 6, Art. 8 und Art. 10 EMRK Einem Richter selbst ist es aus den erläuterten konzeptionellen Gründen zwar nicht möglich, die eigene Unabhängigkeit iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK zu rügen. Er kann jedoch die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Disziplinarorgans iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK in Zweifel ziehen oder iRv Art. 8 EMRK oder Art. 10 EMRK einen durch Disziplinarmaßnahmen hervorgerufenen Eingriff in die private Lebensweise280 oder seine Meinungsäußerungsfreiheit281 beanstanden. In beiden Fallgruppen steht nicht die Unabhängigkeit des beschwerdeführenden Richters im Fokus sondern die Unabhängigkeit des Disziplinarorgans oder Verfahrensfragen und die Verhältnismäßigkeit einer Disziplinierung. Am Rande ergeben sich in diesen Zusammenhängen Mindestanforderungen. Die Behandlung der ersten Konstellation, d. h. die Geltendmachung mangelnder Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Disziplinarorgans durch den Richter iRv

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EGMR, Iovchev gegen Bulgarien, 18.11.2004, No. 41211/98, S. 25. EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 ff., wenngleich dogmatisch unsauber in der Unparteilichkeit. 278 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 91 ff. 279 Siehe zur Problematik der Machtakkumulation in den Händen von Richterräten in vielen der östlichen Europaratsstaaten C. II. 1. a). 280 EGMR, Özpinar gegen Türkei, 19.10.2010, No. 20999/04. 281 EGMR, Kudeshkina gegen Russland, 26.02.2009, No. 29492/05. Siehe auch EGMR, Kayasu gegen Türkei, 13.11.2008, No. 64119/00; No. 76292/01, in dem Disziplinarverfahren auf Anklageschriften eines bestimmten Inhalts folgten. Letztere Konstellation betraf zwar einen StA; sie mag jedoch auch für Richter und ihre schriftlich geäußerte richterliche Einschätzung zu einer bestimmten Rechtssache von Relevanz sein. 276 277

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Art. 6 Abs. 1 EMRK, wurde dabei erst 2007 durch das Grundsatzurteil des EGMR in „Vilho Eskelinen u. a. gegen Finnland“ möglich.282 Bis zu diesem Urteil war Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Streitigkeiten zwischen Beamten, die als Vertreter des Staates Hoheitsgewalt ausübten, und dem Staat selbst, für nicht anwendbar gehalten worden. Das in „Pellegrin gegen Frankreich“ 1999 entwickelte „functional criterion based on the employees duties and responsibilities“ unterschied zwischen zwei Gruppen von öffentlichen Bediensteten: eine Gruppe von Personen, die Verantwortung im allgemeinen Interesse trage oder an der Ausübung von öffentlichrechtlichen Zuständigkeiten teilhabe, übe einen Teil der Hoheitsgewalt aus und sei mit dem Staat daher durch ein spezielles Band des Vertrauens und der Loyalität verbunden. Auf eine andere Gruppe, die nicht derart in die öffentliche Verwaltung eingebunden sei, treffe das besondere Vertrauens- und Loyalitätsverhältnis nicht zu. Die erste Gruppe, zu der ausdrücklich Polizisten, Armeeangehörige283 und Richter284 zählten, konnte nach der Pellegrin-Rechtsprechung Art. 6 Abs. 1 EMRK in Streitigkeiten mit dem Staat nicht geltend machen.285 Erst in „Vilho Eskelinen u. a. gegen Finnland“ kehrte die GK des EGMR 2007 diesen Grundsatz um. Seitdem ist Art. 6 Abs. 1 EMRK grundsätzlich auch auf Beamte der ersten Gruppe anwendbar, es sei denn, die jeweilige Hohe Vertragspartei hat ausdrücklich den Rechtsweg für diese Personengruppe ausgeschlossen und dieser Ausschluss beruht auf objektiven Gründen, wobei die besondere Loyalität als Rechtfertigung nicht ausreicht. Im Übrigen gilt eine Vermutung für die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK.286 Diese neue Rechtsprechung hat der EGMR bereits in „Olujić gegen Kroatien“ 2009 auf Disziplinarverfahren gegen Richter angewandt: Unter Heranziehung der von ihm – nach dem zugrundeliegenden Urteil – als „Eskelinen test“ bezeichneten Kriterien stellte er die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf ein Disziplinarverfahren gegen den ehemaligen Präsidenten und Richter des Obersten Gerichts Kroatiens

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EGMR, Vilho Eskelinen u. a. gegen Finnland, 19.04.2007, No. 63235/00, Rn. 50 ff. EGMR, Pellegrin gegen Frankreich, 08.12.1999, No. 28541/95, Rn. 64 ff. 284 EGMR, Pitkevich gegen Russland, 08.02.2001, No. 47936/99; EGMR, Zubko u. a. gegen Ukraine, Rn. 53 f. 285 Eine ausdrückliche Ausnahme bestand lediglich nach dem Eintritt in den Ruhestand für Streitigkeiten um Pensionsansprüche und andere ausstehende Zahlungen, da durch den Ruhestand die besondere Verbundenheit mit dem Staat aufgehoben sei: EGMR, Zubko u. a. gegen Ukraine, Rn. 56 f., 62. 286 EGMR, Vilho Eskelinen u. a. gegen Finnland, 19.04.2007, No. 63235/00, Rn. 50 ff. Die Rechtsprechung aus Pellegrin gegen Frankreich wurde aus verschiedenen Gründen aufgegeben: wegen unbilliger Ergebnisse in der praktischen Anwendung der Unterscheidung basierend auf dem Kriterium der Funktion und damit gerade nicht dem Erzielen der intendierten Rechtssicherheit; wegen Art. 1 und 14 EMRK, wonach jedem innerhalb der Hoheitsgewalt der Konventionsstaaten die Rechte aus der Konvention ohne Diskriminierung zustünden; vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Rechtsweg für Beamte, der in vielen nationalen Rechtssystemen garantiert ist, keine Konflikte iBa staatliche Interessen aufwerfe; und unter Betonung des Einschätzungsspielraums des Staates, der Subsidiarität des EGMR sowie der Rechtsprechung des EuGH; a. A.: Gemeinsames Abweichendes Sondervotum der Richter Costa, Wildhaber, Türmen, Borrego-Borrego und Jočienė. 282 283

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

fest und urteilte, dass Mitglieder eines Disziplinarorgans, die bereits während des laufenden Disziplinarverfahrens ihre Haltung zu dem in Rede stehenden Richter kundgetan hätten, nicht mehr unparteiisch seien und daher nicht mehr in Disziplinarorganen sitzen dürften.287 Gegenstand der Betrachtung des EGMR in der zweiten Konstellation, in der Richter im Rahmen anderer Konventionsbestimmungen nationale Disziplinarverfahren rügen, ist die Frage, ob der als Eingriff in die Meinungsfreiheit oder in das Privatleben zu qualifizierende disziplinarische Akt verhältnismäßig war. In der Rechtssache „Kudeshkina gegen Russland“ von 2009 hatte die scharfe Kritik an der russischen Justiz durch die beschwerdeführende Richterin, die sie allerdings innerhalb ihrer Wahlkampftätigkeit als Kandidatin für die russische Duma und damit freigestellt vom Richteramt übte, zu einem Disziplinarverfahren und schließlich der Entlassung aus dem Dienst geführt. Der EGMR entwickelte in der Verhältnismäßigkeitsprüfung iRv Art. 10 EMRK Bedingungen zur Auferlegung von Disziplinarmaßnahmen gegen Richter: So seien wichtige prozessuale Garantien nicht gewahrt, wenn ein Organ, das als Rechtsmittelinstanz im Disziplinarverfahren fungiere, selbst Gegenstand der geäußerten Kritik gewesen sei. Letzterem fehle die notwendige Unparteilichkeit.288 Weiterhin stellte er die grundlegende Anforderung auf, dass sich die disziplinarische Sanktion verhältnismäßig zu dem Verstoß verhalten müsse.289 Im Fall „Özpinar gegen Türkei“ ergänzte der EGMR 2010 iRv Art. 8 EMRK die Anforderungen um die Aussage, dass das Disziplinarorgan unabhängig sein müsse. Betroffenen Richtern müssten außerdem die Zeugenaussagen und der Ermittlungsbericht zugestellt werden; es reiche nicht aus, wenn nur die allgemeinen Vorwürfe bekannt gemacht würden. Auch muss ein kontradiktorisches Verfahren

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287 EGMR, Olujić gegen Kroatien, Rn. 56 ff. Leider uneinheitlich aber EGMR, Özpinar gegen Türkei, Rn. 30, in dem der EGMR die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf Richter ablehnte, ohne den „Eskelinen test“ anzuwenden, und stattdessen nur Art. 8 (und Art. 13) EMRK prüfte. Siehe das Abweichende Sondervotum der Richter Sajo und Popovic, die dies ebenfalls kritisieren und wie die Verf. Art. 6 EMRK für anwendbar hielten. 288 EGMR, Kudeshkina gegen Russland, Rn. 96 f.; ebenfalls zur Frage der Unparteilichkeit der Rechtsmittelinstanz in Disziplinarsachen (allerdings gegenüber einem StA): EGMR, Kayasu gegen Türkei, Rn. 121 f.; und zur Frage der Unparteilichkeit des Disziplinarorgans: EGMR, Olujić gegen Kroatien, Rn. 56 ff. Siehe weiterführend zu den konfligierenden Gütern der richterlicher Meinungsfreiheit einerseits und dem notwendigen Schutz für die Institution Justiz vor exzessiven, verbalen Attacken andererseits, die es in eine adäquate Balance zu bringen gilt: Jean, La Liberté des Juges de Critiquer Publiquement le Fonctionnement du Système Judiciaire, in: Revue Trimestrielle des Droits de l’Homme, Heft 81, 2010, S. 179 ff.; siehe außerdem zu der Paralleldiskussion um die Abwägung zwischen Pressefreiheit und dem Schutz der Institution Justiz im Zusammenhang mit „Urteilsschelten“: EGMR, Prager und Oberschlick gegen Österreich, 26.04.1995, No. 15974/90, Rn. 34 ff.; EGMR, Kobenter und Standard Verlags GmbH gegen Österreich, 02.11.2006, No. 60899/00, Rn. 29 ff. Die Abwägung verläuft hier entlang der Frage, ob es sich um „destructive attacks that are essentially unfounded“ seitens der Presse handelt oder nicht. Außerdem berücksichtigt der EGMR, dass Richtern aufgrund ihrer Pflicht zur Diskretion die Möglichkeit nicht offenstehe, auf Kritik zu reagieren. 289 EGMR, Kudeshkina gegen Russland, Rn. 98.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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gewährleistet sein, insbesondere der betroffene Richter angehört und in einem frühen Stadium des Verfahrens bereits die Möglichkeit zum mündlichen Vortrag der eigenen Sichtweise sowie der Verteidigung gegen die Vorwürfe eingeräumt bekommen.290 Die Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1, Art. 8 und Art. 10 EMRK liefert daher, ebenso wie die durch Eskelinen ermöglichte Öffnung von Art. 6 Abs. 1 EMRK für Beschwerden von Richtern über ihr Disziplinarorgan, Mindestvoraussetzungen, ohne abschließend die Frage zu klären, wie ein effektives Disziplinarrecht einerseits und die in diesem Bereich gefährdete Unabhängigkeit des einzelnen Richters andererseits auszubalancieren sind. Diese fundamentale Frage umfassend zu beantworten, ist aufgrund der Konzeption von Art. 6 Abs. 1 EMRK nur eingeschränkt möglich und abhängig von der Interessenlage des einzelnen Individuums. Umgekehrt ist nicht ausgeschlossen, dass Individuen aus den östlichen Europaratsstaaten auch diese Problematik verstärkt vor den EGMR bringen werden.291 Dass es bereits durch Beschwerden aus diesen Staaten zu einer Weiterentwicklung in den letzten Jahren gekommen ist, zeigt die beiläufige Befassung des EGMR mit Disziplinarverfahren im Zusammenhang mit Beschwerden über die Macht der Gerichtspräsidenten in den östlichen Europaratsstaaten.292 i) Evaluationen Auch Evaluationen von Richtern stehen in einem Spannungsverhältnis zur Unabhängigkeit.293 Bereits in den 1990er Jahren forderte die EKMR in „Mitap und Müftüoglu gegen Türkei“, dass gesetzlich ausgeschlossen sein sollte, dass Beförderungen von Mitgliedern des Gerichts und damit verbunden ihre Evaluation unmittelbar an die Entscheidung im Gerichtssaal anknüpften. In dem zugrunde liegenden Fall benötigten die Militärrichter für ihre militärische Karriere sowohl von den ihnen militärisch vorgesetzten Offizieren als auch von den ihnen in ihrer richtenden Tätigkeit übergeordneten Mitgliedern des Militärkassationshofs einen vorteilhaften Bericht. Durch diese Abhängigkeit von hierarchisch höher stehenden Personen würden Zweifel an der Unabhängigkeit der Militärrichter entstehen und die Befürchtungen hinsichtlich des Einflusses von außen und des Verurteilungsdrucks seien daher legitim.294

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EGMR, Özpinar gegen Türkei, Rn. 77 ff. Zu den vielfältigen Problemen iRv Disziplinarverfahren gegen Richter in den östlichen Europaratsstaaten: C. II. 2. b). 292 Siehe dazu B. I. 3. h) aa) und insbesondere: EGMR, Salov gegen Ukraine; EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien. 293 Siehe für eine detaillierte Befassung mit Evaluationen in den östlichen Europaratsstaaten: C. II. 2. a). 294 EKMR, Mitap und Müftüoglu gegen Türkei, Rn. 104 ff. 290 291

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Der EGMR hatte über Evaluationen von Richtern bislang nicht unmittelbar zu entscheiden.295 Aus der Rechtsprechung zu der Macht der Gerichtspräsidenten in zwei östlichen Europaratsstaaten ergeben sich jedoch auch für diesen Bereich weitere Mindestanforderungen.296 In „Salov gegen Ukraine“ von 2005 hatte der Bf. vorgetragen, dass sein Strafrichter von politischen Motiven bewegt und nach Zurückverweisung durch die nächsthöhere Instanz von dieser instruiert entschieden habe. Statt sich auf das in der Ukraine zum damaligen Zeitpunkt anzutreffende Verfahren der Überwachungskontrolle zu beschränken, kritisierte der EGMR, dass die Situation der Richter unterer Instanzen auch aufgrund der Evaluationen ausweglos sei. Für diese gebe es in der Ukraine keine gesetzlich niedergelegten Kriterien; stattdessen würde in der Praxis die „Stabilität“ des Urteils in höherer Instanz einer Evaluation zugrunde gelegt. Daraus lässt sich nicht nur entnehmen, dass iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK präzise und gesetzlich vorgegebene Evaluationskriterien notwendig sind. Sondern der EGMR spielte bereits auf den quantitativen Maßstab von Evaluationen an, der potentiell stärker in der Lage ist, vorauseilenden Gehorsam statt unabhängige Entscheidungen herbeizuführen.297 Ein ähnlich umfassend gewählter Ansatz des EGMR ermöglichte es ihm wenige Jahre später, sich in „Parlov-Tkalčić gegen Kroatien“ mit richterlichen Evaluationen zu befassen. Die Bf. hatte die Unparteilichkeit des Zivilgerichts gerügt, dessen Präsident zuvor in anderer Position Strafanzeige gegen die Bf. erstattet hatte, weshalb sie nicht nur die mangelnde Unparteilichkeit des Gerichtspräsidenten, sondern auch der an seinem Gericht arbeitenden Richter anzweifelte. Der EGMR setzte sich in diesem Zusammenhang auf abstrakter Ebene damit auseinander, ob die Machtakkumulation in den Händen von Gerichtspräsidenten generell, und im Speziellen die Kompetenz, zu evaluieren, eine abschreckende Wirkung auf die interne Unabhängigkeit der Richter habe. Evaluationen sind nach dieser Rechtsprechung zwar riskant für die interne Unabhängigkeit, aber grundsätzlich mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar, da ein Justizsystem ohne diesen Risikofaktor unmöglich sei. Auch die Wahrnehmung dieser Kompetenz durch Gerichtspräsidenten ist grundsätzlich vereinbar und nur dort eine Grenze zu ziehen, wo diese Zuständigkeit mit einem uneingeschränkten Ermessen verbunden ist. Dort aber, wo ein Rechtsmittel vorgesehen ist und bei sensiblen Themen der Richterkarriere weitere Organe beteiligt sind, die die Evaluationsergebnisse lediglich berücksichtigen müssen, soll ein Gerichtspräsident alleine die Kompetenz zur Evaluation wahrnehmen können.298

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295 Dem liegt eine ähnliche Erklärung zugrunde wie dem Mangel an Rechtsprechung zu Disziplinarverfahren gegen Richter. Dazu B. I. 3. h) bb). 296 EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 ff.; EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 91 ff. 297 Insgesamt bejahte der EGMR wiederum nur gerechtfertigte Zweifel an der Unparteilichkeit, statt eine Verletzung der Unabhängigkeit explizit als solche zu benennen. EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 ff. 298 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 91 f.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Nachvollziehbar ist der Ansatz des EGMR, die Kompetenz von Gerichtspräsidenten für Evaluationen nicht grundsätzlich in Frage zu stellen, weil diese in der Lage sind, die Arbeitsleistungen der zu evaluierenden Personen aus der Nähe einzuschätzen. Ebenso ist der Ansatz zustimmungswürdig, danach zu fragen, ob das Ermessen uneingeschränkt oder durch die Beteiligung verschiedener Organe geteilt ist. Dennoch überzeugt nicht bis zuletzt, dass sich die Möglichkeit, ein Rechtsmittel lediglich zu dem Präsidenten der nächsthöheren Instanz einlegen zu können, wie in dem kroatischen Ausgangsfall, als ausreichende Relativierung des Ermessens des Gerichtspräsidenten eignen soll. Diese Rechtsprechung belässt den Präsidenten in erster Instanz mit uneingeschränktem Ermessen und legt dem betroffenen Richter die Last auf, Rechtsmittel einzulegen, anstatt das Ermessen unmittelbar auf der Ausgangsebene transparent zu verteilen. Zudem wäre gegenüber einem einzelnen Amtsträger, zumal dem Präsidenten des nächsthöheren Gerichts, ein Kollegialorgan mit gegenseitiger, nämlich kollegialer, Kontrolle als Rechtsmittelsinstanz vorzugswürdig. Und schließlich lässt der EGMR in Parlov-Tkalčić auch die Fortsetzung der Diskussion aus Salov vermissen, inwiefern sich Evaluationskriterien ermessensreduzierend auswirken können. Im kroatischen Fall war, wie in vielen Staaten Osteuropas,299 die Gesetzeslage so ausgestaltet, dass quantitative Aspekte den Maßstab für Evaluationen bildeten.300 j) Militärgerichte Besonders häufig haben sich EGMR und die frühere EKMR mit der Unabhängigkeit von Laienrichtern beschäftigt, meist im Zusammenhang mit Verwaltungsbeamten als zivile Laienrichter oder Soldaten als Militärrichter. Charakteristisch ist dabei, dass es sich um Personen handelt, die die meiste Zeit eine andere Tätigkeit ausüben und nur für einen bestimmten Zeitabschnitt – entweder parallel zu ihrer sonstigen beruflichen Funktion oder freigestellt von dieser – zum Richteramt ernannt werden. Da Gegenstand der Beschwerden gegen westeuropäische Staaten in den ersten Jahrzehnten häufig die Unabhängigkeit ziviler Laienrichter war und sich daran die großen Linien der Rechtsprechung herausgebildet haben, haben diese in den vorangegangenen Kapiteln bereits immer wieder eine Rolle gespielt.301 Auf-

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Siehe Näheres dazu unter C. II. 2. a). EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 30. 301 Die Rechtsprechung zur zivilen Laiengerichtsbarkeit wurde durch EGMR und EKMR überwiegend anhand der österreichischen Verwaltungsspruchkörper entwickelt, die sich mehrheitlich aus Verwaltungsbeamten zusammensetzten, denen für die Ausübung der Richterfunktion Weisungsfreiheit in Abweichung von ihrer sonstigen, abhängig strukturierten Tätigkeit garantiert wurde. Mit Laienrichtern besetzte Gerichte sind grundsätzlich im Einklang mit der bisweilen sehr uneinheitlichen Rechtsprechung des EGMR; problematischer sah dies in den ersten Entscheidungen noch die EKMR, die die mehrheitliche Beteiligung von Laien an richterlichen Entscheidungen für unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 EMRK hielt (EKMR, Sramek gegen Österreich; EKMR, Ettl gegen Österreich), sich dann aber dem EGMR angeschlossen hat (EKMR, Stallinger und Kuso gegen Österreich, 07.12.1995, 299 300

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

grund der speziellen Natur der Militärgerichtsbarkeit soll diese nachfolgend gesondert analysiert werden. Dabei muss zwischen der sachlichen Zuständigkeit der einzelnen Militärgerichte differenziert werden. Zwar geht es dem EGMR stets auch um die Frage, wie die Unabhängigkeit des einzelnen Militärrichters ausgestaltet ist; jedoch ist am Ende entscheidend, über wen der mit ähnlichen Unabhängigkeitsgarantien ausgestattete Militärrichter zu Gericht sitzt – über einen Angehörigen der Streitkräfte oder über einen Zivilisten.302 aa) Militärgerichte, die über Militärangehörige urteilen (1) Allgemeines Nach ständiger Rechtsprechung sind Militärgerichte, die über Angehörige der Streitkräfte zu Gericht sitzen, grundsätzlich mit der EMRK vereinbar. Sie müssen ebenso wie andere Gerichte die Voraussetzungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllen.303 Wie bei zivilen Richtern stößt die Ernennung der Richter durch die Exekutive nicht auf Bedenken; eine Ernennung auf Lebenszeit ist nicht erforderlich, es genügt sogar eine Amtszeit von einem Monat.304 Auch die Unabsetzbarkeit bedarf keiner rechtlichen Garantie, solange die

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No. 14696/89; No. 14697/89). Der EGMR behandelt Laienrichter fast unterschiedslos mit professionellen Gerichten, die ausschließlich oder überwiegend Berufsrichter umfassen. Hier wie dort sind für den EGMR gesetzliche Sicherungen wie die Weisungsfreiheit Mindestvoraussetzung. Sie sind umgekehrt aber – abgesehen von Sonderkonstellationen, in denen eine subjektive Abhängigkeit bejaht wurde – auch für spezielle, mehrheitlich mit Laien besetzte Spruchkörper ausreichend. Einzig die Überprüfung der Übereinstimmung mit den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist im Einzelfall intensiver. So auch Peukert, Art. 6, Rn. 209. Der EGMR hält Laienrichter aufgrund ihres oftmals speziellen fachlichen Hintergrunds sogar für wünschenswert (EGMR, Ettl u. a. gegen Österreich, Rn. 34 ff.). Lediglich in Ausnahmefällen verneint er die Unabhängigkeit, wenn bestimmte Sonderkonstellationen hinzutreten: EGMR, Sramek gegen Österreich, wo Hierarchien nicht nur unter den Mitgliedern des Spruchkörpers, sondern auch zwischen diesen und einer der Parteien bestanden; EGMR, Belilos gegen Schweiz, wo der Jurist der Polizeiverwaltung der einzige Richter war; EGMR, Langborger gegen Schweden, Rn. 34 f., wo Laienrichter aufgrund Expertenwissens ein Eigeninteresse am Ausgang des Rechtsstreits hatten; anders aber trotz ähnlicher Konstellation: EGMR, AB Kurt Kellermann gegen Schweden, 26.10.2004, No. 41579/98, Rn. 60 ff. Reine Verwaltungsbehörden, gänzlich ohne Berufsrichter, die nur mit Verwaltungsbeamten bzw. -angestellten besetzt, über gesetzliche Garantien wie die Weisungsfreiheit nicht verfügen, und dennoch justizielle Funktionen ausüben, sind unvereinbar mit dem Unabhängigkeitserfordernis: EGMR, Lauko gegen Slowakei; EGMR, Kadubec gegen Slowakei, 02.09.1998, No. 27061/95; EGMR, Malhous gegen Tschechien, 12.07.2001, No. 33071/96. 302 Ausdrücklich EGMR, Ergin gegen Türkei, Rn. 40 f.; implizit EGMR, Yavuz gegen Türkei, 25.05.2000, No. 29870/96; EGMR, Çimen u. a. gegen Türkei, 25.05.2000, No. 40079/98 u. a. Dies entspricht auch dem, was der EGMR schon früh als „preliminary points“ in EGMR, Engel u. a. gegen Niederlande, Rn. 54, voranstellte. 303 EGMR, Ergin gegen Türkei, 04.05.2006, Rn. 40; und bereits in EGMR, Morris gegen Großbritannien, Rn. 59; EGMR, Cooper gegen Großbritannien, Rn. 108 ff. 304 EKMR, Dupuis gegen Belgien, wo der Bf. zwar nicht den Streitkräften angehörte, sondern Wehrdienstverweigerer war. Jedoch hatte er sich verschiedenen Formalitäten des Mili-

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Stabilität faktisch anerkannt ist.305 Die Weisungsfreiheit muss garantiert sein und Komponenten wie der geheime Charakter von richterlichen Beratungen schützen ihre Unabhängigkeit. Besonderes Merkmal der Unabhängigkeit ist zudem, wenn das Militärgericht neben Militärrichtern mit zivilen Richtern besetzt ist.306 Außerdem hat der Gerichthof in seiner Unabhängigkeitsprüfung der Frage Bedeutung beigemessen, ob das Richteramt die letzte Funktion des Soldaten in seiner Militärkarriere ist.307 Es gilt also, anders als bei Militärgerichten, die über Zivilisten urteilen, kein verschärfter Prüfungsmaßstab.308 Im Gegenteil bemüht sich der EGMR, die Besonderheiten des militärischen Lebens und seine Wirkung auf die Mitglieder der Streitkräfte, bei der Anwendung und Interpretation der Konvention zu berücksichtigen.309 Nur in Ausnahmefällen kommt der EGMR in Fällen, in denen sich Angehörige der Streitkräfte über die defizitäre Unabhängigkeit von Militärgerichten beschweren, zu einer Verletzung. In „Miroshnik gegen Ukraine“ von 2008 sah der EGMR etwa die Unabhängigkeit der Militärgerichte in der Ukraine, die über die Klage des Bf. gegen das Verteidigungsministerium wegen Entlassung aus der Armee und Schadensersatzansprüche zu entscheiden hatten, als verletzt an. In diesem Zusammenhang schätzte der EGMR die Tatsache, dass die Militärrichter selbst Teil der Streitkräfte blieben, und diese wiederum dem Verteidigungsministerium unterstellt waren, als problematisch für die Unabhängigkeit der Militärrichter ein. Darin ist jedoch kein schärferer Kurs gegenüber Militärgerichten, die über Mitglieder der Streitkräfte urteilen, zu sehen, sondern die Einschätzung des EGMR ist der speziellen Konstellation eines Verfahrens gegen das Verteidigungsministerium geschuldet. Hinzutrat die Akkumulation der Kompetenzen des Verteidigungsministeriums in der Ukraine, das neben der Verwaltung der finanziellen Belange der Militärge-

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tärdienstes bereits unterworfen, so dass er nach belgischem Recht formal unter das Militärrecht fiel, und auch von der EKMR als Mitglied der Streitkräfte behandelt wurde. Gleichermaßen: EKMR, Heudens gegen Belgien. 305 Vgl. die Betonung des EGMR auf die theoretische Situation, woraus im Gegenzug folgt, dass die Praxis anders aussieht: EGMR, Engel u. a. gegen Niederlande, Rn. 30: „In theory, therefore, they are removable without observance of the strict requirements and legal safeguards laid down regarding the civilian members by the Judicature Act“; so auch die Lesart der EKMR: EKMR, Sutter gegen Schweiz, „or that he should be irremovable in law“ mit Verweis auf die Engel-Rechtsprechung. 306 EGMR, Morris gegen Großbritannien, Rn. 71; EGMR, Cooper gegen Großbritannien, Rn. 117. 307 EGMR, Engel u. a. gegen Niederlande, Rn. 30; EGMR, Morris gegen Großbritannien, Rn. 68. 308 Siehe beispielhaft für den unterschiedlichen Prüfungsmaßstab EGMR, Incal gegen Türkei, Rn. 68 und B. I. 3. j) bb). 309 EGMR, Engel u. a. gegen Niederlande, Rn. 30, 54. So auch schon die EKMR: EKMR, Sutter gegen Schweiz; EKMR, Dupuis gegen Belgien; EKMR, Heudens gegen Belgien.

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richtsbarkeit dafür zuständig war, Richter, die ihre Wohnsituation verbessern wollten, mit entsprechendem Wohnraum zu versorgen.310 (2) Besonderheit: die „Britischen Fälle“ Wenngleich die mangelnde Unabhängigkeit von Militärgerichten, die über Mitglieder der Streitkräfte zu Gericht sitzen, grundsätzlich eher eine Ausnahme darstellt, hat der EGMR bis in das beginnende neue Jahrtausend hinein311 in einer Reihe gleich gelagerter Beschwerden von Armeeangehörigen aus Großbritannien, die Unvereinbarkeit der britischen Militärgerichte mit der Unabhängigkeitsanforderung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt. Hintergrund der Beschwerden war die Organisationsform des britischen Militärgerichtswesens als sog. Gerichtsherrnsystem.312 Der Gerichtsherr („convening officer“) berief nicht nur die Gerichte ad hoc für jedes Verfahren ein und ernannte Angehörige der Streitkräfte, die keine den zivilen Richtern vergleichbare Ausbildung hatten, als Richter für das jeweilige Verfahren, sondern konnte sie auch jederzeit wieder entlassen. Die Sicherung der stabilen Amtszeit und Garantien gegen Einfluss von außen, zu denen nach ständiger Rechtsprechung auch die grundsätzliche Unabsetzbarkeit zählt, entfielen. Die Richter unterstanden zudem der Befehlsgewalt des „convening officer“ und waren ihm im Rang untergeordnet, verfügten also nicht über Weisungsfreiheit und wiesen auch kein unabhängiges äußeres Erscheinungsbild auf. Darüber hinaus waren sie nicht in der Lage, bindende Entscheidungen zu treffen, sondern bedurften der Bestätigung eines „confirming officer“ – ein Amt, das regelmäßig ebenfalls durch den „convening officer“ wahrgenommen wurde, der die Urteile nach Belieben abändern konnte. Hinzu trat, dass der „convening officer“ über enge Verbindungen zur StA verfügte, indem er die Anklagevertreter ernannte, darüber entschied, welche Anklagepunkte geltend gemacht, und welche fallen gelassen werden durften. In dieser extremen Konstellation verneinte der Gerichthof auch für Militärgerichte, die ausschließlich über Streitkräfte urteilten, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK.313 Die Abschaffung des „convening officer“ und Neustrukturierung der Militärgerichtsbarkeit durch den „Armed Forces Act“ von 1996 trugen zwar zur Stärkung der Unabhängigkeit der Militärgerichte bei, wurden durch den EGMR in „Morris gegen

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EGMR, Miroshnik gegen Ukraine, Rn. 62 f. Bis EGMR, Cooper gegen Großbritannien, im Jahr 2003. 312 So die Übersetzung bei Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 Abs. 1 AMRK und Art. 14 Abs. 1 des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte, S. 51 ff. 313 Siehe nur exemplarisch: EGMR, Findlay gegen Großbritannien, Rn. 73 ff.; EGMR, Coyne gegen Großbritannien, 24.09.1997, No. 25942/94, Rn. 54 ff.; EGMR, Hood gegen Großbritannien, 18.02.1999, No. 27267/95, Rn. 73 ff.; EGMR, Smith und Ford gegen Großbritannien, 29.09.1999, No. 37475/97; No. 39036/97, Rn. 20 ff.; EGMR, Moore und Gordon gegen Großbritannien, 29.09.1999, No. 36529/97; No. 37393/97, Rn. 19 ff. 310 311

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Großbritannien“ 2002 jedoch noch als unzureichend angesehen.314 Erst in „Cooper gegen Großbritannien“ erklärte die GK des EGMR 2003 die britischen Militärgerichte für vollständig mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar.315 Im Gegensatz zu dem Kammerurteil in Morris, verwies die GK hinsichtlich der teilweise fehlenden juristischen Ausbildung der Militärrichter auf die eigene Rechtsprechung zu Laienrichtern. Abgesehen davon, hätten die Militärrichter kurze juristische Kurseinheiten und durch die Gesetzesänderung von 1996 sei ein juristisch geschulter „judge advocate“ als Beratungsorgan eingeführt worden. Die zuvor fehlenden Sicherungsmechanismen gegen Einfluss von außen seien nunmehr durch Handbücher hergestellt, in denen den Militärrichtern das Verfahren vor Militärgerichten und ihre eigene Weisungsunabhängigkeit erklärt und sie darauf hingewiesen würden, unabhängig von äußerem Einfluss zu fungieren und dies auch nach außen kenntlich zu machen. Hinsichtlich des weiteren Kritikpunktes der Kammer in Morris, dass die Militärrichter fortlaufend militärischen Disziplinarmaßnahmen und Berichten unterlägen, genügte der GK die Klarstellung von Seiten der Regierung, dass sich diese nicht auf die Entscheidungsfindung als Richter beziehen würden. Der Kritik der Kammer an der automatischen, nicht gerichtlichen Revisionsinstanz, hielt die GK in Bestätigung ständiger Rechtsprechung entgegen, dass dieses Defizit durch den als gerichtliche Instanz nachgeschalteten „Courts-Martial Appeal Court“ geheilt werde.316 bb) Militärgerichte, die über Zivilisten urteilen (1) Allgemeines Die Rechtsprechung des EGMR verbietet die Aburteilung von Zivilisten durch Militärgerichte nicht grundsätzlich. Sie stellt aber an die Vereinbarkeit, anders als bei der Zuständigkeit für Militärangehörige, hohe Anforderungen und verlangt nach einer besonders strengen Prüfung.317 Nur wenn eine klare und vorhersehbare gesetzliche Grundlage existiert, zwingende Gründe vorliegen und das Vorliegen der Gründe im Einzelfall gerechtfertigt wird, soll ein Militärgericht, das für Verfahren gegen Zivilpersonen zuständig ist, mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar sein. Nicht

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314 Trotz Trennung der einzelnen Kompetenzen (Anklage, Einberufung des Gerichts, Entscheidungsfindung) durch Verteilung an unterschiedliche Akteure, nahm der EGMR Anstoß daran, dass zwei Offiziere der insgesamt vier Richter keine juristische Ausbildung hätten, militärischen Disziplinarmaßnahmen und Berichten unterlägen, ihre Unterworfenheit unter externe militärische Einflussnahme nicht geregelt sei, und das Gericht nicht in der Lage, bindende Entscheidungen zu treffen: EGMR, Morris gegen Großbritannien, Rn. 72 f. 315 EGMR, Cooper gegen Großbritannien; bestätigt in EGMR, Grieves gegen Großbritannien, 16.12.2003, No. 57067/00. 316 Siehe zu dieser ständigen Rechtsprechung, einschließlich neuer Entwicklungen: B. I. 2. a). 317 EGMR, Ergin gegen Türkei, Rn. 42: „(…) the existence of such a jurisdiction should be subjected to particularly careful scrutiny.“

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

ausreichend ist daher eine abstrakte gesetzliche Zuweisung bestimmter Kategorien von Fällen, an denen Zivilisten beteiligt sind, an Militärgerichte.318 Statt diese abstrakt aufgestellten strengen Voraussetzungen jedoch zu prüfen, fragt der EGMR in der konkreten Anwendung regelmäßig nur danach, ob nachvollziehbare Bedenken des Bf. an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Militärgerichts bestehen. Eine Verletzung liegt aufgrund des abgesenkten Prüfungsmaßstabs, der nicht einmal mehr objektiv gerechtfertigte Zweifel verlangt, regelmäßig vor, zumal in Fällen, in denen die Militärrichter über Angelegenheiten der nationalen Sicherheit zu entscheiden haben, in denen sie selbst Akteure waren.319 Im Übrigen verweist der EGMR zur Begründung einer Verletzung im Einzelfall auch auf den VN-Menschenrechtsausschuss und den Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (IAGMR), die – im Gegensatz zum EGMR – Verfahren gegen Zivilisten vor Militärgerichten grundsätzlich ablehnen.320 Daneben gibt es eine Fallgruppe, in denen die Kompetenz eines Militärgerichts, über Zivilpersonen zu urteilen, keinen militärspezifischen Bezug wie die nationale Sicherheit aufweist, sondern es sich um ein ganz normales Strafverfahren handelt. Auch hier rekurriert der EGMR abstrakt auf die in „Ergin gegen Türkei“ entwickelten besonderen Voraussetzungen, stellt aber im Ergebnis wieder auf gerechtfertigte Zweifel an der Unabhängigkeit und objektiven Unparteilichkeit ab, um eine Verletzung festzustellen. Allerdings fügte er in „Martin gegen Großbritannien“ 2006 an, dass er im Übrigen auch keine zwingenden Gründe iSd Ergin-Rechtsprechung für die Zuständigkeit eines Militärgerichts für ein Mordverfahren sehe, um die Frage letztlich mit Verweis auf die ohnehin gerechtfertigten Zweifel an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dahinstehen zu lassen.321 Damit führen beide Fallgruppen von Zivilisten vor Militärgerichten – Verfahren mit militärspezifischem Bezug und normale Strafverfahren – regelmäßig zu einer Konventionswidrigkeit.322 Statt abstrakt von einer Vereinbarkeit auszugehen, wäre es wünschenswert, der EGMR würde die Zuständigkeit von Militärgerichten für Zivilisten grundsätzlich ablehnen. Hierfür spricht nicht nur die durch den EGMR

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318 Id., Rn. 44 ff.; EGMR, Maszni gegen Rumänien, 21.09.2006, No. 59892/00, Rn. 43 f., 51; EKMR, Mitap und Müftüoglu gegen Türkei, Rn. 94, wo die EKMR grundlegendere Zweifel an der Zuständigkeit des Militärgerichts für Zivilpersonen durchscheinen ließ. Der EGMR sah keine Zuständigkeit ratione temporis: EGMR, Mitap und Müftüoglu gegen Türkei, 25.03.1996, No. 15530/89; No. 15531/89. 319 EGMR, Ergin gegen Türkei. 320 Siehe zur Entscheidungspraxis des VN-Menschenrechtsausschusses und des IAGMR: Id., Rn. 22 ff., 45, 54. 321 In EGMR, Martin gegen Großbritannien, 24.10.2006, No. 40426/98, war der Angeklagte und spätere Bf. Sohn eines Armeeangehörigen, weshalb ihm ebenfalls vor einem Militärgericht der Prozess gemacht wurde. 322 Soweit ersichtlich gibt es keinen Fall, in dem der EGMR ein Verfahren gegen eine Zivilperson wegen einer Tat außerhalb der Sicherheitsdelikte vor einem Militärgericht für konventionskonform gehalten hat.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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stets festgestellte Unvereinbarkeit im konkreten Fall sowie die Einschätzung anderer internationaler Menschenrechtsorgane. Auch im Hinblick auf die östlichen Transformationsstaaten, die vielfach über eine Militärgerichtsbarkeit, die für Zivilisten zuständig ist, verfügen,323 würde sich dadurch eine klarere Linie herausbilden. (2) Besonderheit: die „Türkischen Fälle“ Besonders häufig haben die EKMR und den EGMR Beschwerden gegen die Türkei zu den türkischen Staatssicherheitsgerichten („State Security Courts“ oder „National Security Courts“) beschäftigt, die über Zivilisten zu Gericht saßen.324 Dabei handelte es sich nicht um Militärgerichte im klassischen Sinne, sondern um ordentliche Gerichte, die jedoch neben zwei zivilen Richtern mit einem Militärrichter besetzt waren und sich aufgrund der Zuständigkeit für Staatsschutzdelikte mit der Zuständigkeit von Militärgerichten überschnitten.325 Im Mittelpunkt stand die Frage, inwieweit ein Gericht noch unabhängig sein kann, das mit einem Militärrichter besetzt ist, der (trotz formeller Weisungsfreiheit) eingebunden bleibt in ein militärisch-hierarchisches System der Exekutive. Auch der maßgebliche Einfluss der Militärverwaltung auf die Richterernennung, die fortdauernde Unterworfenheit des Militärrichters unter das dienstliche Beurteilungssystem der Streitkräfte, das relevant war für weitere militärische Beförderungen, sowie die Disziplinargewalt des Verteidigungsministers über den Militärrichter wurden immer wieder von den Bf. im Lichte der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit problematisiert.

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Kuijer, The blindfold of Lady Justice, S. 283 und Fn. 285. Siehe exemplarisch: EGMR, Incal gegen Türkei; EGMR, Çiraklar gegen Türkei; EGMR, Gerger gegen Türkei, 08.07.1999, No. 24919/94; EGMR, Sürek und Özdemir gegen Türkei, 08.07.1999, No. 23927/94; No. 24277/94; EGMR, Okçuoğlu gegen Türkei, 08.07.1999, No. 24246/94; EGMR, Başkaya und Okçuoğlu gegen Türkei, 08.07.1999, No. 23536/94; No. 24408/94; EGMR, Mehdi Zana gegen Türkei, 06.03.2001, No. 29851/96; EGMR, Altay gegen Türkei, 22.05.2001, No. 22279/93; EGMR, Sadak u. a. gegen Türkei, 17.07.2001, No. 29900/96 u. a.; EGMR, E. K. gegen Türkei, 07.02.2002, No. 28496/95; EGMR, Yağmurdereli gegen Türkei, 04.06.2002, No. 29590/96; EGMR, Seher Karataş gegen Türkei, 09.07.2002, No. 33179/96; EGMR, Karakoç u. a. gegen Türkei, 15.10.2002, No. 27692/95 u. a.; EGMR, Algür gegen Türkei, 22.10.2002, No. 32574/96; EGMR, Özel gegen Türkei, 07.11.2002, No. 42739/98; EGMR, Öcalan gegen Türkei, 12.03.2003, No. 46221/99; EGMR GK, Öcalan gegen Türkei, 12.05.2005, No. 46221/99; siehe aber auch EGMR, Imrek gegen Türkei, 28.01.2003, No. 57175/00, in dem bereits die Zulässigkeit aufgrund der Entfernung der Militärrichter aus den Staatssicherheitsgerichten abgelehnt wurde. Dies wurde von der GK in Öcalan als inkonsistent bezeichnet und gilt damit als Ausnahme zu der ständigen Rechtsprechung, dass trotz der Änderung die anfängliche Besetzung mit Militärrichtern bereits die Verletzung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit begründet. Der EGMR korrigierte diese Entscheidung 2005, woraufhin die Türkei Imrek 2006 ein „Friendly Settlement“ anbot. 325 So auch Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 Abs. 1 AMRK und Art. 14 Abs. 1 des UNPaktes über bürgerliche und politische Rechte, S. 45. 323 324

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Die GK des EGMR ließ die Einwände der türkischen Regierung, die Militärrichter seien, wie die Laienrichter in anderen Fällen vor dem EGMR, wegen ihrer besonderen Fachkenntnis in Verfahren mit Bezug zur nationalen Sicherheit notwendig, in ihrem Grundsatzurteil „Incal gegen Türkei“ 1998 nicht gelten und sah die Zweifel des Bf. an der Unabhängigkeit (und Unparteilichkeit) des Militärrichters aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes als gerechtfertigt an.326 Ein so verurteilter Zivilist könne in gerechtfertigter Weise davon ausgehen, dass das Staatssicherheitsgericht wegen des Militärrichters auf der Richterbank von anderen Erwägungen, die nichts mit dem Fall zu tun hätten, beeinflusst sei.327 An einer näheren Begründung fehlt es nahezu. Die Rechtsprechung deutet aber darauf hin, dass der EGMR die potentiellen, sachfremden Erwägungen aufgrund der Rückkehr des Militärrichters in den hierarchischen Apparat der Armee bzw. der Kenntnis von der fortdauernden Evaluierung und disziplinarrechtlichen Eingebundenheit in die militärische Struktur sah.328 Daneben deutete der EGMR beiläufig an, dass ihn die sachliche Zuständigkeit des Militärrichters, über Zivilpersonen zu richten, zu diesem Urteil bewogen habe.329 Letztlich zeigen die türkischen Fälle einmal mehr, dass der EGMR die Vereinbarkeit von Militärrichtern in Verfahren gegen Zivilpersonen grundsätzlich ablehnen sollte, da diese den Anforderungen an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK praktisch nicht gerecht werden.330 Die Türkei hat die Militärrichter an den Staatssicherheitsgerichten 1999 abgeschafft, um Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht zu werden.331

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326 EGMR, Incal gegen Türkei. Siehe aber das Gemeinsame Teilweise Abweichende Sondervotum der Richter Thór Vilhjálmsson, Gölcüklü, Matscher, Foighel, Sir John Freeland, Lopes Rocha, Wildhaber und Gotchev, die keinen Anlass sahen, am äußeren Erscheinungsbild zu zweifeln. Siehe auch: Abweichendes Sondervotum des Richters Gölcüklü und des Richters Lopes Rocha zu EGMR, Çiraklar gegen Türkei, sowie Abweichendes Sondervotum von Richter Gölcüklü zu EGMR, Gerger gegen Türkei. 327 EGMR, Incal gegen Türkei, Rn. 72. 328 Siehe ausführlich dazu: B. I. 3. d) aa) (3), sowie Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 Abs. 1 AMRK und Art. 14 Abs. 1 des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte, S. 77. 329 EGMR, Incal gegen Türkei, Rn. 72. Etwa relativiert aber kurze Zeit später in: EGMR, Çiraklar gegen Türkei, Rn. 39; dann aber wieder die Klarstellung in EGMR, Yavuz gegen Türkei, dass das Problem in Incal die Verurteilung eines Zivilisten durch einen Militärrichter gewesen sei. 330 Dies bestätigen auch EGMR, Yavuz gegen Türkei; EGMR, Çimen u. a. gegen Türkei, die die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von türkischen Militärgerichten betrafen, die über Soldaten bzw. deren Angehörige urteilten. Der EGMR verwies hier immer wieder auf den anderen Kontext in Incal aufgrund der dort betroffenen Zivilpersonen. 331 EGMR, Altay gegen Türkei, Rn. 35, 71; EGMR, Sadak u. a. gegen Türkei, Rn. 34 ff. Übergangsfälle, deren Sachverhalt vor die Änderung der Besetzung der Staatssicherheitsgerichte 1999 rückdatiert, beschäftigen den EGMR bis heute: EGMR, Juhnke gegen Türkei, 13.05.2008, No. 52515/99; EGMR, Hasan Polat gegen Türkei, 22.09.2009, No. 32489/03.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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k) Bewertung der Unabhängigkeitsrechtsprechung Wie die Analyse gezeigt hat, weist die Rechtsprechung des EGMR und der ehemaligen EKMR mit den vier in ständiger Rechtsprechung gefestigten Elementen Mindestanforderungen auf, die eine unabhängige Justiz erfüllen muss. Vor allem die Ernennung von Richtern, ihre Amtszeit und die Sicherung gegen Einfluss von außen stellen wichtige Anhaltspunkte für Staaten dar, die bemüht sind, eine unabhängige Justiz aufzubauen oder bereits bestehende unabhängige Strukturen zu stärken. Die Untersuchung hat außerdem gezeigt, dass der Rechtsprechung innerhalb der vier Merkmale sehr viel genauere Anhaltspunkte zu entnehmen sind, wie etwa Vorgaben zur Proberichterzeit und zur Frage der Unabsetzbarkeit einschließlich des Auswechselns von Richtern während eines laufenden Verfahrens, die Notwendigkeit bindender gerichtlicher Entscheidungen, der geheime Charakter richterlicher Beratungen sowie eine detaillierte Rechtsprechung zu Formen unzulässiger Weisungen. Aber auch außerhalb der vier Merkmale haben EGMR und EKMR problematische Konstellationen des Einflusses innerhalb der Judikative, insbesondere durch die Macht der Gerichtspräsidenten, und zum Verhältnis zwischen StA und Richterschaft aufgezeigt. Zunehmend entwickelt der EGMR außerdem, soweit ihm dies aufgrund der Konzeption von Art. 6 Abs. 1 EMRK möglich ist, Voraussetzungen für Maßnahmen richterlicher Verantwortlichkeit, wie Disziplinarverfahren und Evaluationen. Besonders ausgeprägt, da häufig Gegenstand vor dem EGMR, ist die Rechtsprechung zu Militärgerichten, die grundsätzlich eine klare Orientierung für Staaten enthält, wie die Militärgerichtsbarkeit im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 EMRK zu reformieren ist. Darüber hinaus hat er sich mit weiteren wesentlichen Parametern richterlicher Unabhängigkeit unter anderen Teilaspekten des Art. 6 Abs. 1 EMRK auseinandergesetzt. Ein Beispiel sind die klaren Vorgaben zur Frage der Zuweisung von Fällen iRd Merkmals „established by law“.332 Weitere Kriterien für Disziplinarverfahren gegen Richter, Einschätzungen zu dem informellen Geflecht zwischen StA und Richtern sowie zu richterlichen Vergütungen hat der EGMR im Rahmen weiterer Konventionsartikel, hier insbesondere iRv Art. 5 Abs. 3333 und Art. 5 Abs. 4334 sowie Art. 8,335 Art. 10 EMRK,336 und Art. 1 des 1. ZP,337 herausgearbeitet. Allerdings enthält die Rechtsprechung zu dem Merkmal „independent tribunal“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK keine erschöpfende Auseinandersetzung mit allen Elemen-

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EGMR, DMD Group, A. S. gegen Slowakei; EGMR, Iwanczuk gegen Polen. EGMR, Moulin gegen Frankreich, 23.11.2010, No. 37104/06; EGMR GK, Medvedyev gegen Frankreich, 29.03.2010, No. 3394/03; weiterführend Rebut, L’arrêt Medvedyev et la réforme de la procédure pénale, in: Recueil Dalloz, Heft 16, 2010, S. 970 ff. 334 EGMR, Ramishvili und Kokhreidze gegen Georgien, Rn. 133–136. 335 EGMR, Özpinar gegen Türkei. 336 EGMR, Kudeshkina gegen Russland. 337 EGMR, Zubko u. a. gegen Ukraine. 332 333

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

ten, die es zur Schaffung und Bewahrung einer unabhängigen Justiz zu beachten gäbe. Dies liegt teilweise an der mangelnden Präzisierung des Problems im Einzelfall, die unter anderem dem häufigen Heranziehen der „appearance of independence“ geschuldet ist. Abgesehen von den wenigen Fällen, in denen ein Rekurrieren auf das äußere Erscheinungsbild bei Berücksichtigung eines subjektivierten Ansatzes der Unabhängigkeit sinnvoll ist, weil eine innere Weisungsabhängigkeit nahe liegt, erscheint das häufige Bemühen dieses Merkmal nicht gerechtfertigt. Es führt zu Einbußen bei der Herausbildung einer präzisen Rechtsprechung, auch weil der Prüfungsmaßstab auf gerechtfertigte Zweifel des Bf. herabgesenkt wird. Damit verbunden ist die zunehmend fehlende Unterscheidung zwischen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die das Herauslesen klarer Kriterien für unabhängige Gerichte und Richter zusätzlich erschwert.338 Umgekehrt erscheint es zu weitgehend, eine klare, abstrakte Definition von richterlicher Unabhängigkeit durch den EGMR zu fordern.339 Zum einen sind EGMRUrteile stets Einzelfallentscheidungen,340 die es ihm nicht ermöglichen, wie Venedig-Kommission oder Ministerkomitee,341 Leitfäden und allgemeine Empfehlungen zur Unabhängigkeit der Justiz zu entwickeln. Auch die grundsätzliche Intention des EGMR, generelle Aussagen zu vermeiden, um die Flexibilität zu wahren, gerügte Verletzungen vor dem spezifischen Hintergrund der 47 Justizsysteme in den Konventionsstaaten zu beurteilen, ist zu berücksichtigen.342 Zum anderen folgt die Beschränkung des EGMR auf grundlegende, am jeweiligen Einzelfall orientierte Standards aus der Ausgestaltung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Diese bedingt, dass der EGMR nur zu den Problemstellungen Ausführungen treffen kann, die durch ein Individuum vor dem EGMR gerügt wurden. Fragen nach richterlicher Immunität oder der Gewährleistung der Sicherheit von Richtern vor Übergriffen auf ihre physische Integrität, werden schwerlich zum Gegenstand. Auch der essentielle Bereich des Disziplinarrechts gegen Richter, hat sich zwar mit der steigenden Zahl von Fällen aus Osteuropa fortentwickelt, wird den EGMR aber regelmäßig, aus den oben aufgezeigten Gründen, nur unter einem spezifischen Blickwinkel beschäftigen können.343 Andere Bereiche, wie die Ernennung von Richtern oder ihre Amtszeit, wurden über Jahrzehnte hinweg von EGMR und EKMR meist nur mit Blick auf

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338 Siehe auch Kuijer, The blindfold of Lady Justice, S. 300, der die mangelnde Differenzierung zwischen beiden Kriterien allerdings auf das Fehlen einer eindeutigen Definition von richterlicher Unabhängigkeit nach der EMRK zurückführt. 339 So aber Id., S. 300. 340 Deutlich dazu auch der EGMR in: EGMR GK, Taxquet gegen Belgien, 16.11.2010, No. 926/05, Rn. 83. 341 Siehe näher unten B. II. 342 EGMR GK, Taxquet gegen Belgien, Rn. 83; Kochenov, EU Enlargement and the Failure of Conditionality, Pre-accession Conditionality in the Fields of Democracy and the Rule of Law, S. 256. 343 Siehe zur Erklärung oben B. I. 3. h).

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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spezielle Organe, wie etwa besondere Verwaltungsspruchkörper, Parlamente oder Ärztekammern beleuchtet, was vor allem an dem bisherigen Schwerpunkt der Rechtsprechung auf den westeuropäischen Konventionsstaaten liegt. Einige dieser Schwächen der Rechtsprechung werden jedoch in den letzten Jahren durch zunehmende Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten, die die Unabhängigkeit der Richter an den allgemeinen staatlichen Gerichten in Zweifel ziehen, relativiert.344 Der EGMR wird nunmehr nicht nur in die Lage versetzt, sich mit alltäglichen Problemen richterlicher Unabhängigkeit an „normalen“ Gerichten zu befassen. Sondern es bietet sich ihm auch häufiger als früher gegenüber westeuropäischen Staaten die Gelegenheit, sich zu strukturellen Fragen richterlicher Unabhängigkeit zu äußern, statt überwiegend zur Unparteilichkeit. Und die Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten zwingen den EGMR aufgrund der regelmäßig aufgeworfenen gravierenden strukturellen Mängel zu einer deutlicheren Positionierung.345 Dadurch entwickelt sich die Rechtsprechung zu der Garantie richterlicher Unabhängigkeit in vielen Bereichen fort, wie anhand der internen Unabhängigkeit, der richterlichen Vergütung oder der Evaluation von Richtern aufgezeigt werden konnte. Auch der Spielraum der betroffenen Staaten wird angesichts der grundlegenden rechtstaatlichen Defizite enger. Gleichzeitig neigt der EGMR gegenüber den östlichen Europaratsstaaten in jüngsten Urteilen dazu, sich allgemeiner einem Problemfeld richterlicher Unabhängigkeit anzunehmen, als dies im Rahmen des konkreten Einzelfalls notwendig ist oder er dies gegenüber westlichen Europaratsstaaten zu tun pflegte. Etliche Gelegenheiten werden sich dem EGMR in Zukunft bieten, sein Verständnis von richterlicher Unabhängigkeit weiter zu vervollständigen.346 Den Weg hin zu einer stringenteren, präziseren und ausführliche-

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344 Siehe exemplarisch: EGMR, Falcoianu u. a. gegen Rumänien; EGMR, Sovtransavto Holding gegen Ukraine; EGMR, Moiseyev gegen Russland; EGMR, Olujić gegen Kroatien; EGMR, DMD Group, A. S. gegen Slowakei. Siehe auch Kuijer, The blindfold of Lady Justice, S. 297 ff.; Müller, Judicial Independence as a Council of Europe Standard, in: German Yearbook of International Law, Vol. 52, 2009, S. 485. 345 Siehe exemplarisch: EGMR, Salov gegen Ukraine; EGMR, Khrykin gegen Russland. 346 Dass Beschwerden hinsichtlich mangelnder Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aus den östlichen Europaratsstaaten erst zehn bis 15 Jahre nach der jeweiligen Ratifikation der EMRK zunehmen, lässt sich nicht nur mit der Überlastung des EGMR und den deshalb langen Anhängigkeiten von Beschwerden erklären. Beschwerden bezüglich der mangelnden Einhaltung der Fair Trial-Garantien stehen in Transformationsstaaten idR zunächst hinter krasseren Menschenrechtsverletzungen wie dem Recht auf Leben, dem Folterverbot, Enteignungen u. ä. zurück: Henderson, Global Lessons and Best Practices: Corruption and Judicial Independence, in: G. Canivet/M. Andenas/D. Fairgrieve (Hrsg.), Independence, Accountability and the Judiciary, British Institute of International and Comparative Law, London 2006, S. 449, der diese Erklärung aus dem Vergleich der Rechtsprechung des EGMR zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte zu westlichen Europaratsstaaten im Gegensatz zu dem geringeren Umfang der Rechtsprechung des IAGMR zieht. Diese Beobachtung lässt sich auf die in größerem Umfang erst anlaufenden Beschwerden über Probleme richterlicher Unabhängigkeit aus den östlichen Europaratsstaaten übertragen.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

ren Interpretation der Anforderung „independent tribunal“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK hat er bereits begonnen zu beschreiten.347

4. Unparteilichkeit der Gerichte Nach der allgemeinen Definition des EGMR meint Unparteilichkeit das Fehlen von Vorurteilen oder Befangenheit348 des Gerichts oder des einzelnen Richters,349 und lässt sich in zwei Aspekte unterteilen: die sog. subjektive Unparteilichkeit als innere Einstellung des Richters zu Parteien und Prozessstoff im konkreten Fall und die sog. objektive Unparteilichkeit, die nach ausreichenden objektiven Garantien zum Schutz der Unparteilichkeit fragt. In der Praxis konzentriert sich die Unparteilichkeitsprüfung des EGMR fast ausschließlich auf die objektive Unparteilichkeit und hat eine weitreichende Rechtsprechung zu äußeren Garantien hervorgebracht, die Staaten gewährleisten müssen, damit die Unparteilichkeit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht gefährdet ist. Innerhalb der objektiven Unparteilichkeit hat er weitere Differenzierungen entwickelt, wie die sog. funktionale Unparteilichkeit, die das Problem bezeichnet, dass ein Richter in derselben Rechtssache in unterschiedlicher richterlicher Funktion entscheidet, und die sog. strukturelle Unparteilichkeit, wenn die unterschiedlichen Funktionen, die ein Richter bezüglich ein und derselben Rechtssache ausübt, unterschiedlichen Staatsgewalten zuzurechnen sind. Hintergrund für die Konzentration der Rechtsprechung auf die objektive Unparteilichkeit sind die unterschiedlichen Anforderungen, die der EGMR an die Beweislast stellt.350 Die Feststellung einer Verletzung der objektiven Unparteilichkeit verlangt lediglich, dass sich die Zweifel des Bf. am Vorliegen objektiver, äußerer Sicherungen der Unparteilichkeit rechtfertigen lassen.351 Diese niedrige Schwelle begründet der EGMR mit der Bedeutung, die die Unparteilichkeit für Demokratien und speziell das Vertrauen der Öffentlichkeit in

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347 Siehe nur exemplarisch: EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien; EGMR, Khrykin gegen Russland. 348 „Impartiality normally denotes absence of prejudice or bias“. Erstmals EGMR, Piersack gegen Belgien, Rn. 30. Siehe auch EGMR GK, Kyprianou gegen Zypern, 15.12.2005, No. 73797/01, Rn. 118; EGMR, Pullar gegen Großbritannien, Rn. 30; und erst jüngst wieder EGMR, Olujić gegen Kroatien, Rn. 57. 349 Der EGMR differenziert nicht näher. Daher ist davon auszugehen, dass sich die Unparteilichkeitsgarantie wie die Unabhängigkeitsgarantie (vgl. insoweit EGMR, Henryk Urban und Ryszard Urban gegen Polen, Rn. 45) grundsätzlich sowohl auf die Institution als auch den einzelnen Richter bezieht. Dies spiegelt auch die Rechtsprechung wider, in der der EGMR sowohl teilweise iRd subjektiven Unparteilichkeit, deren Anknüpfungspunkt die innere Haltung des einzelnen Richters ist, von dem Gericht spricht (EGMR, Pullar gegen Großbritannien, Rn. 32), als auch iRd objektiven Unparteilichkeit, die auf äußere Sicherungen blickt, von dem einzelnen Richter (EGMR, Piersack gegen Belgien, Rn. 30). 350 Ebenso Kuijer, The blindfold of Lady Justice, S. 305. 351 Anstelle vieler EGMR, Pullar gegen Großbritannien, Rn. 37.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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die Gerichte habe.352 Ungleich höher sind die Anforderungen für eine Verletzung der subjektiven Unparteilichkeit, die der EGMR mit Rechtssicherheitsüberlegungen und, im weiteren Sinne, dem Rechtsstaatsprinzip rechtfertigt: Urteile eines Gerichts sollen endgültig und bindend sein, außer wenn sie von einem höheren Gericht aufgehoben werden.353 Um Urteile vor zu häufigen Angriffen unter dem Vorwurf einer inneren Befangenheit des Richters zu schützen, vermutet der EGMR die subjektive Unparteilichkeit des Richters bis zum Beweis des Gegenteils.354 Der Bf. muss also den Nachweis erbringen, dass der betreffende Richter tatsächlich innerlich befangen war. Dies wird ihm kaum möglich sein, wie auch der EGMR immer wieder herausstellt, um die Bf. auf den leichteren Weg der Zweifel an der objektiven Unparteilichkeit zu verweisen.355 Neben dem zweigliedrigen Unparteilichkeitsverständnis des EGMR, wird die Unparteilichkeit in Art. 6 Abs. 1 EMRK von der Literatur weitergehend dahin definiert, dass sie das „eigentliche Kernstück des konventionsgemäßen Richters“ sei; die Garantien der Unabhängigkeit und der Verankerung im Gesetz hätten daneben nur die Bedeutung „formeller Sicherung der Unparteilichkeit“.356 Dieses Verständnis wird regelmäßig auf die Rechtssache „Bramelid und Malmström gegen Schweden“ aus dem Jahr 1983 zurückgeführt, in der die EKMR sich in einmaliger Weise zu der Beziehung von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Art. 6 Abs. 1 EMRK äußerte.357 Die bis heute viel zitierte Aussage der Kommission lautet, dass eine funktionale Beziehung zwischen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bestehe, bei

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352 Anstelle vieler EGMR, Olujić gegen Kroatien, 05.02.2009, No. 22330/05, Rn. 57, und B. I. 1. b). 353 EGMR, Pullar gegen Großbritannien, Rn. 32; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 43. 354 Siehe z. B. EGMR, Le Compte, Van Leuven und De Meyere gegen Belgien, Rn. 58. 355 EGMR, Pullar gegen Großbritannien, Rn. 32: „Although in some cases (…), it may be difficult to procure evidence with which to rebut the presumption, it must be remembered that the requirement of objective impartiality provides a further guarantee.“ Ebenso EGMR GK, Micallef gegen Malta, 15.10.2009, No. 17056/06, Rn. 95. Zur Kritik an diesem Ansatz: Abweichendes Sondervotum von Richter van Dijk zu EGMR, De Haan gegen Niederlande. 356 Trechsel, Gericht und Richter nach der EMRK, S. 393 (im Übrigen selbst Mitglied der EKMR in der Rechtssache Bramelid und Malmström); Peukert, Artikel 6, Rn. 213, unter Verweis auf Ciraklar gegen Türkei, Rn. 38, von 1998, woraus sich dieses Abhängigkeitsverhältnis jedoch nach Ansicht der Verf. nicht ergibt; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 39, 40. 357 Der EGMR hat sich hierzu jüngst zum ersten Mal geäußert, mit bedauerlicherweise ähnlichem Bedingungszusammenhang wie die EKMR: EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 28, „Independence of the judiciary refers to the necessary individual and institutional independence that are required for impartial decision making.“ Möglicherweise steht dahinter, dass der EGMR (wie die ehemalige EKMR) als Teil eines Menschenrechtsschutzsystems stärker auf die Unparteilichkeit fokussiert ist als auf die stärker am Verhältnis zu den anderen Staatsgewalten anknüpfende Unabhängigkeit. Diesen Rückschluss bestätigt ein Vergleich mit der vollkommen anderen Sichtweise im nationalen Kontext, z. B. mit Blick auf den kanadischen Obersten Gerichtshof: The Supreme Court of Canada, Regina v. Valente, [1985], 2 S. C. R. 673.15.

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der erstere [die Unabhängigkeit] im Wesentlichen dazu bestimmt sei, letztere [die Unparteilichkeit] zu sichern.358 Dieser Ansatz der Kommission in Bramelid und Malmström ist allerdings in dem konkreten Kontext der Schiedsgerichtsbarkeit zu sehen, die in dem Verfahren allein Gegenstand war, und lässt daher keine allgemeingültige Bestimmung des Verhältnisses von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu.359 Vielmehr führt in dem spezifischen Zusammenhang eines Schiedsverfahrens die Ernennung der Richter durch die Parteien gerade dazu, dass der Unabhängigkeit keine eigenständige Bedeutung zukommt, sondern die Unparteilichkeit zum eigentlichen Herzstück des fairen Verfahrens wird. Die hinsichtlich der allgemeinen staatlichen Gerichte essentielle Frage nach der Beziehung der Gerichte zu den anderen beiden Staatsgewalten und innerhalb der Dritten Gewalt stellt sich hier nicht.360 Hinzutritt, dass die Aussage im Kontext der weiteren Ausführungen der EKMR zu dem Begriff der Unabhängigkeit zu sehen ist: Damit ein Gericht die Bezeichnung „unabhängig“ verdiene, müsse zum einen die Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive gegeben sein, als auch die Unabhängigkeit gegenüber den betroffenen Parteien. Gerade an letzterer äußerte die Kommission mit Blick auf das Schiedsgericht Bedenken. Definiert man Unabhängigkeit auch als Unabhängigkeit im Verhältnis zu den Parteien,361 dann erscheint es nur konsequent, diese Unabhängigkeit gegenüber den Parteien als Voraussetzung für ein unbefangenes Urteilen iSd Unparteilichkeit zu sehen. Allerdings überzeugt die Annahme, dass die Unabhängigkeit gegenüber den Parteien bestehen müsse, nicht,362 und mag allenfalls wieder dem spezifischen Kontext der Schiedsgerichtsbarkeit geschuldet sein. Insbesondere stellt sie aber keinen Mehrwert zur Unparteilichkeit dar, die gerade Distanz zu den Parteien beschreibt und damit Konstellationen, in denen der Richter, sei es aufgrund familiärer, persönlicher, dienstlicher oder wirtschaftlicher Bindungen zu den Parteien, nicht mehr über diesen steht, sondern den genannten Abhängigkeiten gehorcht. Die mangelnde Unabhängigkeit kann sich vielmehr im Einzelfall auf die Unparteilichkeit auswirken, etwa wenn Weisungen erteilt werden, die die Unabhängigkeit des Richters in der konkreten Entscheidung beeinträchtigen, und ihn dadurch einer der Parteien zugleich nicht mehr unbefangen gegenüber treten lassen, da die Lösung des Falls durch die Weisungen in eine bestimmte Richtung vorherbestimmt ist. Als

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358 „La Commission fait observer qu’il existe une relation fonctionelle entre indépendance et impartialité, la première étant essentiellement destinée à assurer la seconde.“ EKMR, Bramelid und Malmström gegen Schweden, Rn. 33. 359 So aber Peukert, Artikel 6, Rn. 213; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 39 f.; Trechsel, Gericht und Richter nach der EMRK, S. 393. 360 Zu Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in der Schiedsgerichtsbarkeit siehe RubinoSammartano, International Arbitration, Law and Practice, 2001, S. 330 f. 361 So auch EGMR, Ringeisen gegen Österreich, Rn. 95; und mit Blick auf das Merkmal „court“ iRv Art. 5 IV EMRK, vgl. EGMR, Neumeister gegen Österreich, Rn. 24. 362 So auch van Dijk/van Hoof/van Rijn (Hrsg.), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 613.

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Beispiel hierfür seien die Fälle „Daktaras gegen Litauen“ oder „Hirschhorn gegen Rumänien“ genannt, in denen die Einflussnahme innerhalb der Judikative jeweils auch Auswirkungen auf die Unparteilichkeit der Richter im konkreten Fall hatte.363 Der Bedingungszusammenhang trifft auch dann zu, wenn der Richter in anderer Funktion einer der Prozessparteien hierarchisch untersteht, so dass ein Element der Unabhängigkeit zum Verhängnis für die Unparteilichkeit wird.364 Oder dann, wenn eine Person, die inhaltlich die Gegenposition vertritt, sich mit dem Gericht zurückzieht.365 Dann mag genau das, was ein Baustein der Unabhängigkeit ist, nämlich z. B. geheime Beratungen der Richter ohne Einflussnahme von außen, auch zum Verhängnis für die Unparteilichkeit werden, da die Richter zumindest aus (objektiv gerechtfertigter) Sicht des Bf. riskieren, von dieser Gegendarstellung beeinflusst zu werden. Es sind daher durchaus Konstellationen vorstellbar, in denen sich eine solche Abhängigkeit der beiden Elemente voneinander annehmen lässt; für den Großteil der Fälle trifft dieses Verhältnis allerdings nicht zu.366 Für diese sind Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das Engste miteinander verknüpft („closely linked“)367 und werden durch den EGMR auch vermehrt zusammen geprüft.368 Dennoch garantieren sie Unterschiedliches, weshalb ihr Verhältnis nicht als Abhängigkeit voneinander beschrieben werden kann, sondern als Gleichberechtigung auf einer Ebene369 und als Ergänzung vor dem Hintergrund der gemeinsamen Zielsetzung, die Objektivität von Verfahren und Entscheidung zu sichern.370

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EGMR, Daktaras gegen Litauen; EGMR, Hirschhorn gegen Rumänien. EGMR, Sramek gegen Österreich. 365 EGMR, Kress gegen Frankreich; EGMR GK, Martinie gegen Frankreich; EGMR, Tedesco gegen Frankreich. 366 So auch Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, 1960, S. 25; Rädler, Independence and Impartiality of Judges, S. 728 f.: „Yet, the concept of independence could not be properly perceived if it was simply seen as a sub-category of the principle of impartiality; it rather provides for a separate and additional procedural safeguard.“; Leigh, The Right to a Fair Trial and the European Convention on Human Rights, in: D. S. Weissbrodt/R. Wolfrum (Hrsg.), The Right to a Fair Trial, 1997, S. 653. 367 EGMR, Kleyn u. a. gegen Niederlande, Rn. 192. 368 So auch die Beobachtung bei Kühne, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 306. Zu der Vermengung vgl. exemplarisch: EGMR, Brudnicka u. a. gegen Polen, Rn. 40; EGMR, Whitfield u. a. gegen Großbritannien, Rn. 44; EGMR, Findlay gegen Großbritannien, Rn. 73, EGMR, Siglfirdingur Ehf gegen Island, S. 9. Während dies mittlerweile regelmäßig der Fall ist, hat der EGMR 1989 in EGMR, Langborger gegen Schweden, zwar ebenfalls beide Voraussetzungen zusammen behandelt, dabei aber noch den Ausnahmefall betont (Rn. 32). 369 So auch verschiedene Richterinnen und Richter des EGMR sowie Vertreter der Kanzlei des EGMR in persönlichen Gesprächen im Rahmen eines Forschungsaufenthalts in Straßburg im November 2010. Siehe auch Rädler, Independence and Impartiality of Judges, in: D. S. Weissbrodt/R. Wolfrum (Hrsg.), The Right to a Fair Trial, 1997, S. 728 f.; van Dijk/ van Hoof/van Rijn (Hrsg.), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 613. 370 Kühne, IntKommEMRK, Art. 6, Rn. 306, der insoweit gar von einer Überlappung spricht, um in Rn. 307 jedoch klarzustellen, dass es sich bei der Unparteilichkeit um einen 363 364

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a) Objektive Unparteilichkeit aa) Besondere Beziehungen oder Gegensätzlichkeiten zwischen Richter und Prozesspartei Nach der Rechtsprechung des EGMR müssen die Konventionsstaaten objektive Garantien schaffen, die unterbinden, dass ein Richter in einem Fall entscheiden kann, in dem sein Verhältnis zu einer der Parteien durch eine besondere Beziehung oder eine besondere Gegensätzlichkeit geprägt ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich von dem besonderen Verhältnis beeinflusst wird, sondern für die objektive Unparteilichkeit ist grundsätzlich alleine entscheidend, ob die Gefahr einer parteiischen Urteilsfindung durch entsprechende gesetzliche Regelungen ausgeschlossen ist. So fehlt es an der Unbefangenheit, wenn Richter in eigener Person von der Rechtssache betroffen sind, über die sie zu entscheiden haben. Dies ist der Fall, wenn Personen, die selbst Gegenstand eines Satireartikels waren, über den betreffenden Journalisten zu Gericht sitzen können.371 Ebenso ist ein Organ nicht mehr unbefangen, wenn es als Revisionsinstanz in Disziplinarsachen fungiert, zuvor aber selbst Gegenstand der disziplinarisch geahndeten kritischen Äußerungen war.372 Gleiches gilt, wenn eine Richterin über ihren eigenen Antrag entscheidet.373 Unparteilichkeitsprobleme können auch bei enger familiärer Bindung zwischen dem Richter einerseits und Verfahrensbeteiligten, deren Prozessvertretern u. a. andererseits auftreten. Nicht jedes familiäre Verhältnis führt dabei automatisch zu gerechtfertigten Zweifeln an der Unparteilichkeit des Richters, sondern der EGMR prüft einzelfallbezogen die Beschaffenheit der familiären Bindung und des Verwandtschaftsgrades.374 Danach ist eine Gesetzeslage, die nicht einmal eine Geschwisterbeziehung zwischen Richter und Anwalt der Gegenpartei in einer Instanz und eine Onkel-Neffen-Beziehung zwischen Richter und Anwalt der Gegenpartei in nächster Instanz als Befangenheitssituation anerkennt, nicht mit der objektiven Unparteilichkeit vereinbar.375 Dasselbe problematische familiäre Näheverhältnis liegt

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selbständigen Verfahrensgrundsatz handelt. Siehe auch Tulkens/Lotarski, Le tribunal indépendant et impartial à la lumière de la jurisprudence de la Cour Européenne des Droits de l’Homme, S. 735: „Ces deux notions, sans être analogues, sont néanmoins complémentaires.“ 371 EGMR, Demicoli gegen Malta, Rn. 40 ff. 372 EGMR, Kudeshkina gegen Russland, Rn. 97. Wie unten bei der subjektiven Unparteilichkeit noch aufgezeigt werden wird, wird diese Kategorie von Fällen teilweise auch dort behandelt, wenn zu der Selbstbetroffenheit weitere Faktoren hinzu treten, die für einen Gegenbeweis ausreichen. 373 EGMR, Gajewski gegen Polen, 21.12.2010, No. 27225/05, Rn. 43 ff. Die Richterin hatte iRd Festsetzung des Gehalts für einen Insolvenzverwalter, eine niedrigere Summe beantragt als von dem Insolvenzverwalter, dem späteren Bf., gefordert, und anschließend über ihren eigenen Antrag entschieden. 374 Vgl. EGMR, Simsek gegen Großbritannien, 09.07.2002, No. 43471/98, S. 13. 375 EGMR GK, Micallef gegen Malta, Rn. 100 ff.

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vor, wenn Richter und StA Geschwister sind und de facto mit demselben Verfahren zu tun haben. Im konkreten Fall war der StA zwar mit den Ermittlungen in einem Parallelverfahren betraut gewesen, das von dem Verfahren gegen den Bf. aus prozessökonomischen Gründen abgetrennt worden war; dennoch ging der EGMR in seiner Bewertung aufgrund der Nähe der beiden Prozesse, insbesondere wegen der Verwertung derselben, von dem StA zusammengetragenen Beweise, von gerechtfertigten Zweifeln an der Unparteilichkeit des Richters aus.376 Neben der Selbstbetroffenheit und engen familiären Bindungen können sonstige persönliche Beziehungen oder Gegensätzlichkeiten des Richters zum Angeklagten oder einer der Prozessparteien im Einzelfall zu einer Verletzung der objektiven Unparteilichkeit führen. Ein nationales (Schieds-)Gericht, das nur einen von einer Partei persönlich ernannten Richter (neben einer festen Anzahl von Berufsrichtern) enthält, ist dann noch unparteiisch, wenn die andere Partei nach nationalem Recht das gleiche Recht hatte, von diesem aber keinen Gebrauch gemacht hat.377 Anders verhält es sich, wenn nur einer Seite dieses Recht eingeräumt wird.378 Eine besondere Gegensätzlichkeit zu einer der Parteien liegt vor, wenn Richter in einem zeitgleichen oder anstehenden Verfahren Rechtsbeistand der Gegenseite sind. Bedenken des Bf., der Richter könne zwischen diesen beiden Funktionen nicht differenzieren, sondern würde ihn weiterhin als Gegenseite betrachten, sind objektiv gerechtfertigt.379 Dasselbe gilt umso eher, wenn der Richter in einem zeitlich sich überschneidenden Verfahren selbst Gegenseite des Bf. ist, über den er in dem anderen Verfahren zu Gericht sitzt.380 Ein Mangel an objektiver Unparteilichkeit aufgrund besonderer Gegensätzlichkeiten ist außerdem dann gegeben, wenn ein Richter, wie in „Tocono und Profesorii Prometeişti gegen Moldawien“, über Lehrer der Schule zu Gericht sitzen kann, von der sein Sohn wenige Jahre zuvor verwiesen worden war.381 Denkbar wäre auch gewesen, diesen Fall aufgrund der zeitlichen Nähe zwischen Schulverweis und gerichtlicher Entscheidung und angesichts von Vergeltungsdrohungen des Richters unter der subjektiven Unparteilichkeit zu diskutieren.382

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EGMR, Huseyn u. a. gegen Aserbaidschan, Rn. 164 ff. EGMR, Siglfirdingur Ehf gegen Island, S. 9, 10. 378 EGMR, Tsfayo gegen Großbritannien, Rn. 47. 379 EGMR, Wettstein gegen Schweiz, 21.12.2000, No. 33958/96, Rn. 45 ff. Siehe auch EGMR, Mežnarić gegen Kroatien, 15.07.2005, No. 71615/01, in dem ein späterer Verfassungsrichter in ein und demselben Verfahren zunächst Anwalt der Gegenseite war. Da dies die Fallgruppe verschiedener Funktionen eines Richters hinsichtlich ein und demselben Verfahren betrifft, wird dieser Fall unter der funktionalen Unparteilichkeit in B. I. 4. b) ee) (1) behandelt 380 EGMR, Chmelíř gegen Tschechien, 07.06.2005, No. 64935/01, Rn. 61 ff. 381 EGMR, Tocono und Profesorii Prometeişti gegen Moldawien, 26.06.2007, No. 32263/03, Rn. 31 f. 382 Zurückhaltend iBa die subjektive Unparteilichkeit auch EGMR, Chmelíř gegen Tschechien, Rn. 64 ff. 376 377

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Ebenso kann die Beteiligung eines Richters, der zu dem Angeklagten oder einer der Prozessparteien in dienstlicher Beziehung steht, zu einer Verletzung der objektiven Unparteilichkeit führen. Vormals bei einem Verlag veröffentlicht zu haben, der nunmehr Prozessgegner des Bf. ist, reicht für eine ausreichend enge dienstliche Bindung zwischen Richter und Prozessgegner nicht aus.383 Zweifel des Bf. an der Unparteilichkeit eines Richters sind aber dann objektiv gerechtfertigt, wenn letzterer für den Prozessgegner laufend arbeitet, von diesem Gehalt bezieht und regelmäßige und enge Beziehungen pflegt. Im Fall war der Richter zugleich außerordentlicher Professor der beklagten Universität.384 Eine dienstliche Nähebeziehung, die zu einer Ablehnung der objektiven Unparteilichkeit ausreicht, kann auch zwischen Richter und Zeugen bestehen. Das Urteil „Hanif und Khan gegen Großbritannien“ von 2011 zeigt, dass auch bei Bestehen einer breiten Palette an objektiven Sicherungen im Einzelfall gerechtfertigte Zweifel gegeben sein können. Weil als Hauptbeweis Aussagen eines Polizisten dienten, mit dem einer der Geschworenen als Polizist bereits zusammen gearbeitet hatte, bestünde die Gefahr, dass der Geschworene, wenn auch nur unterbewusst, dazu neigen könne, den polizeilichen Aussagen zu folgen.385 Die Hohen Vertragsparteien müssen außerdem dafür sorgen, dass Richter mit wirtschaftlicher Nähe zu einer der Parteien von der Wahrnehmung ihrer Funktion ausgeschlossen sind. Die wichtigen Parameter sind Natur und Umfang der wirtschaftlichen Verstrickungen386 und die zeitliche Nähe zwischen beiden Ereignissen. In einem Fall gegen Island hielt der EGMR die Vorteile, die der Ehemann der Richterin von der Prozessgegnerin im Wege eines Schuldenerlasses erlangt hatte sowie die eigene Involvierung der Richterin aufgrund des Bestellens von Sicherheiten, für in Natur und Tragweite immens und urteilte, auch mit Blick auf die zeitliche Nähe dieser beiden Ereignisse, dass Zweifel an der objektiven Unparteilichkeit der Richterin gerechtfertigt seien.387 Offensichtlich ist der wirtschaftliche Vorteil und damit das Unparteilichkeitsdefizit auch, wenn eine der Parteien dem Gericht Dienst- und Sachleistungen, wie Fensterreparaturen und Computer, kostenlos zukommen lässt.388

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383 EGMR, Sassen gegen Niederlande, S. 4; unzureichend auch die räumliche und kollegiale Nähe zwischen Ermittlungsgericht und Gericht der Hauptsache: EGMR, Ninn-Hansen gegen Dänemark, S. 21. 384 EGMR, Pescador Valero gegen Spanien, 17.06.2003, No. 62435/00, Rn. 27 f. 385 EGMR, Hanif und Khan gegen Großbritannien, 20.12.2011, No. 52999/08; No. 61779/08, Rn. 148 f. 386 Nicht ausreichend für gerechtfertigte Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter ist hingegen, wenn Kinder von Richtern für eine Person arbeiten, die angeblich ihrerseits mit der Gegenpartei befreundet ist: EGMR, Academy Trading LTD u. a. gegen Griechenland, 04.04. 2000, No. 30342/96, Rn. 46. 387 EGMR, Pétur Thór Sigurđsson gegen Island, 10.04.2003, No. 39731/98, Rn. 37–46. 388 EGMR, Belukha gegen Ukraine, 09.11.2006, No. 33949/02, Rn. 54.

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Eine unterschiedliche politische Bindung oder Gesinnung des Richters einerseits und des Bf. andererseits rechtfertigt für sich genommen noch keine Zweifel an der objektiven Unparteilichkeit.389 Hinzutreten muss, dass sich die unterschiedliche Gesinnung auf den Prozess ausgewirkt hat, d. h. eine Verbindung zwischen politischer Aktivität und Verfahrensgegenstand gegeben ist. Dies ist z. B. der Fall, wenn gegen ein Buch mit bestimmten Inhalt vorgegangen wird, und die Juroren dem politischen Gegenlager angehören.390 Sind sowohl Richter als auch weitere Verfahrensbeteiligte der Freimaurerei zugehörig, verlangt der EGMR interessanterweise ausnahmsweise auch im Rahmen der objektiven Unparteilichkeit Beweise, dass sich die gemeinsame Zugehörigkeit auf den konkreten Fall ausgewirkt hat.391 bb) Beeinflussung des Verfahrens durch Dritte Probleme für die objektive Unparteilichkeit können auch dann auftreten, wenn die Strukturen es zulassen, dass der zuständige Richter von Personen beeinflusst wird, die nicht selbst Partei, sondern Dritte in dem Verfahren sind oder besondere Ämter innerhalb des Gerichts bekleiden. Beispielhaft dafür ist zum einen die Rolle des „Commissaire du Gouvernement“, eine der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit eigene Figur, zu nennen. Eine ähnliche Institution existiert in weiteren Konventionsstaaten, wie Belgien, den Niederlanden und Portugal, und hat zu einer gleichgelagerten Beurteilung durch den EGMR geführt.392 Neben einem Mangel an objektiver Unparteilichkeit, stellt sich in diesem Zusammenhang regelmäßig ein Problem mangelnder Waffengleichheit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der „Commissaire du Gouvernement“, 2009 in „Rapporteur public“ umbenannt,393 war ursprünglich als Vertreter der Regierung konzipiert und nahm bis 2006, ohne Regierungsrepräsentant zu sein, als Dritter am Verfahren teil. Er partizipierte an den Vorbereitungssitzungen der Richter, plädierte im Verfahren und nahm ohne Stimmrecht an den geheimen, gerichtlichen Beratungen teil, um

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389 Im Fall von Steuerdelikten wurden die Unparteilichkeitsbeschwerden deshalb als unzulässig abgewiesen: EGMR, M. D. U. gegen Italien, 28.01.2003, No. 58540/00, S. 12, 13; unzulässig auch EGMR, Previti gegen Italien, 08.12.2009, No. 45291/06, Rn. 258, 264, 265. 390 EKMR, Holm gegen Schweden, Rn. 56 ff.; EGMR, Holm gegen Schweden, 25.11.1993, No. 14191/88, Rn. 27 ff. 391 EGMR, Kiiskinen und Kovalainen gegen Finnland, 01.06.1999, No. 26323/95, S. 8, 9; EGMR, Salaman gegen Großbritannien, 15.06.2000, No. 43505/98, S. 7. 392 EGMR, Borgers gegen Belgien, Rn. 27 f.; EGMR, Vermeulen gegen Belgien, Rn. 34; EGMR, Lobo Machado gegen Portugal, 20.02.1996, No. 15764/89, Rn. 32. 393 Le Premier ministre, Décret n° 2009-14 du 7 janvier 2009 relatif au rapporteur public des juridictions administratives et au déroulement de l’audience devant ces juridictions 2009 . Im Folgenden wird an der alten Bezeichnung festgehalten, da der Sachverhalt der Urteile in die Zeit vor 2009 zurück datiert.

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Fragen zu beantworten und dadurch die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren.394 Unter Betonung der Doktrin des äußeren Erscheinungsbildes, hielt der EGMR in seinem Kress-Urteil 2001 Zweifel an der Unparteilichkeit der französischen Verwaltungsgerichte für gerechtfertigt, da der „Commissaire du Gouvernement“, der sich zuvor in öffentlicher Verhandlung gegen den Bf. positioniert hatte, an den geheimen Beratungen des Gerichts teilgenommen hatte. Es fehle an objektiven Garantien zur Sicherung der Unparteilichkeit, die dem späteren Bf. gewährleisteten, dass der „Commissaire du Gouvernement“ durch seine Anwesenheit bei den geheimen Beratungen nicht den Verfahrensausgang beeinflusse.395 Auch die französische Reaktion auf die Verurteilung, die Rolle des „Commissaire du Gouvernement“ abzuschwächen, indem dieser grundsätzlich nur noch als passives Mitglied bzw. stiller Zeuge an den geheimen Beratungen teilnehmen und nur ausnahmsweise Antworten geben dürfen sollte,396 hielt die GK des EGMR 2006 für nach wie vor unvereinbar mit der Unparteilichkeitsanforderung. Auch die passive Teilnahme biete dem späteren Bf. nicht ausreichend Garantien dafür, dass er den Verfahrensausgang nicht doch beeinflusse.397 Durch erneute Reformen hat Frankreich 2006 den „Commissaire du Gouvernement“ von den Beratungen der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte sowie der Berufungsinstanzen ganz ausgenommen; in den Beratungen des „Conseil d’Etat“ darf er nur präsent sein, wenn es keinen entgegenstehenden Antrag der Parteien gibt. Zum anderen fallen in diese Fallgruppe von Akteuren, die – ohne selbst Verfahrensbeteiligte zu sein – aufgrund ihres Einflusses auf den Verfahrensausgang gerechtfertigte Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter hervorrufen,398 Gerichtspräsidenten oder Vorsitzende einer Abteilung oder Kammer eines Gerichts. Neben der Gefährdung der internen Unabhängigkeit, resultierten aus ihrer Macht in vielen der östlichen Europaratsstaaten399 auch Gefahren für die Unparteilichkeit der Richter, wenn sie sich durch das Erteilen konkreter Anweisungen gegen den späteren Bf. positionieren. Diese Instruktionen bewirkten – zusammen mit der Tatsache, dass der Gerichtspräsident zusätzlich den berichterstattenden Richter ernenne und die

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394 Diese französische Institution diente auch als Vorbild für die Figur des Generalanwalts am EuGH, wenngleich letzterer sich nicht mit dem Gericht zurückzieht, um an den geheimen Beratungen teilzunehmen. 395 EGMR, Kress gegen Frankreich, 07.06.2001, No. 39594/98, Rn. 77 ff. 396 Siehe zu den Änderungen: EGMR GK, Martinie gegen Frankreich, 12.04.2006, No. 58675/00, Rn. 52. 397 Id., Rn. 53 f.; EGMR, Tedesco gegen Frankreich, 10.05.2007, No. 11950/02, Rn. 63 ff. 398 In diese Fallgruppe fällt auch der britische „convening officer“: siehe EGMR, Findlay gegen Großbritannien, Rn. 73 ff. und oben B. I. 3. j) aa) (2). 399 Siehe zu der Macht der Gerichtspräsidenten in osteuropäischen Staaten: Müller, Judicial Administration in Transition, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 937 ff., C., sowie unten C. II. 1. b).

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Zusammensetzung der Kammer festlege –, dass Zweifel an der Unparteilichkeit der zuständigen Richter objektiv gerechtfertigt seien.400 cc) Vorbefasstheit des Richters mit derselben Partei in einem anderen Verfahren Ein Richter, der in unterschiedlichen Rechtssachen mit derselben Partei zu tun hat, gibt keinen Anlass, an seiner Unparteilichkeit zu zweifeln.401 Andernfalls würde man ihm von vorneherein unterstellen, sich auch bei unterschiedlichen Rechtssachen nicht mehr neutral verhalten zu können und zudem die Möglichkeiten der Geschäftsverteilung an den nationalen Gerichten deutlich einschränken. Anders ist dies dann zu sehen, wenn eine vorangegangene Entscheidung gegen dieselbe Partei zwar einen anderen Gegenstand behandelt, aber an demselben Sachverhalt angeknüpft hat,402 die vorangegangene Entscheidung bereits Bezugnahmen oder einen Vorgriff auf das weitere, gegen dieselbe Partei zu entscheidende Verfahren enthalten hat,403 oder sich die Rechtsfragen des späteren Verfahrens analog zu den bereits gegen dieselbe Partei entschiedenen Fragen verhalten.404 Eine analoge Fragestellung liegt aber nicht bereits dann vor, wenn es sich grob um dasselbe Oberthema der Streitigkeiten handelt, die einzelnen Sachverhalte und Prozessgegner aber unterschiedlich sind.405 Bei der Zuständigkeit derselben Richter sowohl für die Begründetheitsprüfung als auch die Zulassung eines Rechtsmittels gegen die eigene Entscheidung, kommt es darauf an, ob die Verbindung zwischen beiden Fragen so eng ist, dass Zweifel im Einzelfall gerechtfertigt sind. So fehlt es an einem solchen „close link“, wenn dieselbe Richterbank, die eine Aussetzung der Implementierung des Urteils ablehnt, über einen Antrag des Bf. auf Überprüfung dieser (ihrer eigenen) Entscheidung negativ bescheidet. Zwar sind Adressat der Entscheidung und Sachverhalt in einem solchen Fall gleich. Das erste Verfahren behandelt allerdings die Begründetheit der Aussetzung der Implementierung des Urteils im konkreten Fall, die zweite die rein prozessuale Frage, ob es gegen die Ablehnung der Aussetzung überhaupt eine weitere Überprüfung nach nationalem Recht gibt.406 Die Abgrenzung, wann es sich um dieselben oder um unterschiedliche Rechtsfragen handelt, ist daher stark einzelfallorientiert und nimmt neben den Umständen des kon-

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EGMR, Daktaras gegen Litauen, Rn. 33 ff. EGMR, Steulet gegen Schweiz, 26.04.2011, No. 31351/06, Rn. 38 ff. 402 EGMR, Indra gegen Slowakei, 01.02.2005, No. 63226/00, Rn. 53; EGMR, Šorgić gegen Serbien, Rn. 69 f. 403 EGMR, Craxi III gegen Italien, 14.06.2001, No. 63226/00, S. 13. 404 EGMR, Mancel und Branquart gegen Frankreich, 24.06.2010, No. 22349/06, Rn. 37. 405 EGMR, Steulet gegen Schweiz, Rn. 40. 406 EGMR, Central Mediterranean Development Corporation Limited gegen Malta (No. 2), Rn. 33 ff.; ähnlich die mangelnde Rechtfertigung der Zweifel in EGMR, Warsicka gegen Polen, Rn. 40 ff. 400 401

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

kreten Falls auch die Charakteristika der Prozessordnungen in dem jeweiligen Staat in den Blick.407 dd) Vorbefasstheit des Richters mit derselben Rechtssache in anderer Funktion Probleme mit Blick auf die objektive Unparteilichkeit können außerdem dann auftreten, wenn ein Richter mehrfach mit ein und derselben Rechtssache in unterschiedlichen Funktionen befasst ist, diese aber allesamt innerhalb der richterlichen (oder (staats-)anwaltlichen) Tätigkeit ausgeübt werden (funktionale Unparteilichkeit). Sind die unterschiedlichen Funktionen unterschiedlichen Staatsgewalten zuzurechnen, etwa weil der Richter vormals in Bezug auf dieselbe Materie als Berater der Legislative agierte, ist von der strukturellen Unparteilichkeit zu sprechen. (1) Funktionale Unparteilichkeit Der Begriff der funktionalen Unparteilichkeit wurde erst 2005 durch ein Urteil der GK des EGMR geprägt.408 Die Problematik der Ausübung verschiedener richterlicher (oder anwaltlicher) Funktionen durch ein und dieselbe Person bezüglich ein und derselben Rechtssache reicht jedoch bis in die frühe Rechtsprechung des EGMR zurück. Bereits in den 1970er Jahren hat der EGMR festgestellt, dass die Zurückverweisung einer Rechtssache an dasselbe Organ, das teilweise mit denselben Richtern besetzt ist wie in einem früheren Prozessstadium, dieses regelmäßig noch nicht befangen mache.409 Anders sei dies nur dann, wenn der nationale Gesetzgeber die Unparteilichkeit des erneut zuständigen Gerichts selbst als zweifelhaft eingeschätzt hat und daher das nationale Recht vorsieht, dass eine Zurückverweisung an denselben Richter nach einer Aufhebung in höherer Instanz nicht gestattet ist. Wird trotzdem an denselben Richter zurückverwiesen, stellen sich nicht nur Probleme unter dem Gesichtspunkt „established by law“ iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK, sondern der EGMR hält dann auch die Unparteilichkeit dieses Richters für zweifelhaft. Damit passt er seine Interpretation der Unparteilichkeit, anstelle eines vollkommen autonomen Verständnisses, dem der Unparteilichkeit im nationalen Recht an.410 Hier wäre es konsequenter gewesen, der EGMR hätte diesen Fall gegen die Ukraine allein über das Merkmal „established by law“ gelöst. Dann nämlich hätte er deutlich machen können, dass die Nichteinhaltung der nationalen Gesetzesvorschriften dazu führt, dass das so entscheidende Gericht keine gesetzliche Grundlage

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407 EGMR, Warsicka gegen Polen, 16.01.2007, No. 2065/03, Rn. 40; EGMR, Central Mediterranean Development Corporation Limited gegen Malta (No. 2), 02.11.2011, No. 18544/08, Rn. 33. 408 EGMR GK, Kyprianou gegen Zypern, Rn. 121. 409 EGMR, Ringeisen gegen Österreich, Rn. 97; so auch EGMR, Diennet gegen Frankreich, 26.09.1995, No. 18160/91, Rn. 36 ff. 410 EGMR, Romanova gegen Ukraine, 13.12.2007, No. 33089/02, Rn. 23 f.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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mehr hat, zugleich aber seiner Überzeugung Rechnung tragen können, dass die Zurückverweisung an denselben Richter grundsätzlich keine Bedenken hinsichtlich seiner Unparteilichkeit aufwirft. Diese Frage in Abhängigkeit zum nationalen Recht zu beantworten, ist nicht besonders überzeugend, da es um die grundsätzliche Frage geht, ob eine solche Konstellation mit der Unparteilichkeit in Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar ist oder nicht. Die Wertung in „Romanova gegen Ukraine“ benachteiligt letztlich den Staat, der Unparteilichkeitsregeln, -gründe und -verfahrensschritte vorsieht und daher bei Nichteinhaltung eine Konventionsverletzung riskiert; dem Staat aber, der schon keine Unvereinbarkeit einer Zurückverweisung vorsieht, droht als Konsequenz aus dieser Rechtsprechung keine Konventionsverletzung.411 Anders als bei einer Zurückverweisung, sind Zweifel an der Unparteilichkeit aber gerechtfertigt, wenn das nationale Recht es ermöglicht, dass dieselben Richter in der Rechtsmittelinstanz sitzen.412 Für eine Rechtfertigung der Zweifel reicht sogar aus, dass ein Richter an der unteren Instanz seine Rechtsansicht zum Fall geäußert hat, ohne über ihn zu entscheiden, und anschließend in der Rechtsmittelinstanz zuständig ist.413 Neben der mangelnden Unparteilichkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK, fehlt es dann auch an einer effektiven Beschwerdemöglichkeit iSv Art. 13 EMRK, der ein unparteiisches Beschwerdeorgan verlangt.414 Weiterhin liegt eine Verletzung der objektiven Unparteilichkeit vor, wenn ein und dieselbe Person zunächst als Vertreter der Anklagebehörde und später, aufgrund eines Wechsels in das Richteramt, bezüglich derselben Strafsache als Richter agiert.415 Erst recht ist ein Mangel an Unparteilichkeit dann zu bejahen, wenn in ein und demselben Verfahren die Funktionen von Richter und StA zeitgleich durch eine Person wahrgenommen wer-

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411 Siehe auch EGMR, Mežnarić gegen Kroatien, Rn. 27, in dem der EGMR noch einmal explizit darlegt, dass er die konkreten nationalen Regelungen, die ein bestimmtes Verhalten unter dem Unparteilichkeitsgesichtspunkt für problematisch erachten, in seine Erwägungen bezüglich einer möglichen Unparteilichkeitsverletzung einschließt. 412 EGMR, San Leonard Band Club gegen Malta, 29.07.2004, No. 77562/01. Etwas anderes gilt aber für das Einlegen eines Rechtsbehelfs im engeren Sinne: Dieser wird auf ein und derselben Ebene eingelegt und löst daher im Gegensatz zu einem Rechtsmittel keinen automatischen Devolutiveffekt, d. h. ein Aufgreifen vor einer höheren Instanz, aus. In diesem Zusammenhang ist die Besetzung mit denselben Richtern unproblematisch. EGMR, Thomann gegen Schweiz, 10.06.1995, No. 17602/91, Rn. 35, zeigt, dass eine Besetzung mit neuen Richtern nach einem Einspruch gegen ein Versäumnisurteil, eine Ungleichbehandlung mit Personen darstellen würde, die unmittelbar zum ersten Termin erscheinen. 413 EGMR, Bajaldziev gegen Mazedonien, 25.10.2011, No. 4650/06, Rn. 36 ff.; EGMR, Šorgić gegen Serbien, Rn. 69 f. Wie iBa den Gerichtscharakter und die Unabhängigkeit, genügt es auch iRd Unparteilichkeit für eine „Heilung“, wenn eine weitere, höhere Instanz den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht wird: EGMR, De Haan gegen Niederlande, Rn. 51 ff.; EGMR, Oberschlick gegen Österreich, Rn. 48 ff.; Grabenwarter, Art. 6 EMRK, in: Korinek/Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Textsammlung und Kommentar (8. Lfg 2007), Rn. 64. 414 EGMR, Kayasu gegen Türkei, Rn. 121 f. zu Art. 13 iVm 10 EMRK. 415 EGMR, Piersack gegen Belgien, Rn. 28 ff. Der Fall muss zumindest unter der Aufsicht des StA, der später Richter in dem Verfahren ist, ermittelt worden sein.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

den.416 Richter, die in einem „contempt of court“-Verfahren selbst die ermittelnde, anklagende und urteilende Funktion wahrnehmen, verstoßen ebenfalls gegen das Unparteilichkeitserfordernis. Zu einer noch gravierenderen Rollen- und Funktionsvermengung kommt es, wenn, wie in „Kyprianou gegen Zypern“, dieselben Richter auch Gegenstand der angeblichen Missachtung sind und daher zusätzlich zu staatsanwaltlicher und richterlicher Funktion die Opferrolle innehaben.417 Der EGMR hat in diesem Fall von 2005 den Begriff der funktionalen Unparteilichkeit geschaffen. Wie eine Vielzahl von Urteilen des EGMR belegt, können Unparteilichkeitsprobleme im Einzelfall außerdem auftreten, wenn Richter, die bereits vor dem Hauptverfahren Entscheidungen getroffen haben, wie etwa über die Frage der Verhängung einer Untersuchungshaft, auch im Hauptverfahren urteilen.418 Der EGMR stellt hierzu stets klar, dass allein die Tatsache, dass ein Richter bereits vor dem eigentlichen Prozess Entscheidungen getroffen habe oder die Akte besonders gut kennen würde, noch keine Zweifel an der Unparteilichkeit rechtfertigten.419 Auch die Entscheidung über die Untersuchungshaft durch den Richter, der später auch im Hauptverfahren entscheidet, rechtfertigt grundsätzlich noch keine Zweifel an der Unparteilichkeit. Die Fragen, die der Entscheidung über eine Untersuchungshaft zugrunde lägen, seien nicht dieselben: Im Rahmen der Entscheidung über die Untersuchungshaft würde ein Richter lediglich die verfügbaren Indizien summarisch danach bewerten, ob sie zumindest prima facie einen dringenden Tatverdacht rechtfertigten; am Ende des Hauptverfahrens aber müsse der Richter beurteilen, ob er aufgrund der während der Hauptverhandlung erhobenen Beweise von der Schuld des Angeklagten überzeugt sei.420

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416 EGMR, Ozerov gegen Russland, Rn. 50 ff. Anders ist dies, wenn der StA zwar teilweise abwesend ist, das Gericht aber nicht dessen Funktionen wahrnimmt. Vgl. EGMR, Thorgeir Thorgeirson gegen Island, 25.06.1992, No. 13778/88, Rn. 53. 417 EGMR GK, Kyprianou gegen Zypern, Rn. 123 ff. 418 EGMR, Hauschildt gegen Dänemark, 24.05.1989, No. 10486/83; EGMR, Nortier gegen Niederlande; EGMR, Karakoç u. a. gegen Türkei. 419 EGMR, Saraiva de Carvalho gegen Portugal, 22.04.1994, No. 15651/89, Rn. 38; EGMR, Morel gegen Frankreich, 06.06.2000, No. 34130/96, Rn. 45; EGMR, Tedesco gegen Frankreich, Rn. 58; EGMR, Elezi gegen Deutschland, 12.06.2008, No. 26771/03, Rn. 50. Anders aber noch EGMR, De Cubber gegen Belgien, 26.10.1984, No. 9186/80, Rn. 29. Dort erkannte der EGMR die Gefahr einer „pre-formed opinion which is liable to weigh heavily in the balance at the moment of the decision“ aufgrund detaillierter Kenntnis der Akte durch Beteiligung im Vorverfahren noch an. Missverständlich EGMR, Švarc und Kavnik gegen Slowenien, 08.02.2007, No. 75617/01, Rn. 43 f., in dem es so scheint, als ob der EGMR dieser Rechtsprechung aus den 1980er Jahren immer noch zuneigt und die detaillierte Kenntnis des Falls aufgrund vorheriger Beteiligung im selben Verfahren als einen der Gründe für die Rechtfertigung der Zweifel heranzieht. 420 EGMR, Hauschildt gegen Dänemark, Rn. 50. Wegen dieses Grundsatzes wurden Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters für nicht gerechtfertigt gehalten in: EGMR, Sainte-Marie gegen Frankreich, 16.12.1992, No. 12981/87; EGMR, Padovani gegen Italien, 26.02.1993, No. 13396/87; EGMR, Nortier gegen Niederlande; EGMR, Saraiva de Carvalho gegen Portugal; EGMR, Bulut gegen Österreich; EGMR, Delage und Magistrello gegen Frankreich, 24.01.2002, No. 40028/98.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Häufig kommt der EGMR aber dennoch zu einer Verletzung der Unparteilichkeit aufgrund der Vorbefasstheit des Richters, wenn im Einzelfall Umfang und Charakter der im Vorfeld getroffenen richterlichen Entscheidungen („scope and nature“421 bzw. „extent and nature“422) den Unterschied zum späteren Urteil gering werden lassen.423 Ein weiterer Indikator für eine objektive Rechtfertigung von Zweifeln an der Unparteilichkeit ist die Zeit zwischen den beiden Funktionen („the time which elapsed between the two participations“).424 In gewisser Hinsicht lassen sich hier Parallelen ziehen zwischen der in Piersack thematisierten sukzessiven Funktionsausübung erst als StA, dann als Richter, und der hiesigen Konstellation des Richters, der bereits im Vorverfahrensstadium eine deutliche Position einnimmt. Zwar handelt der Richter im Vorverfahren nicht als Anklagebehörde, dennoch kann er, ähnlich dem StA, dem Hauptverfahren nicht mehr unbefangen gegenübertreten. In „De Cubber gegen Belgien“, der die sukzessive Funktionsausübung erst als Ermittlungsrichter, dann als Richter im Hauptverfahren betraf, wurde dies dadurch zugespitzt, dass die Funktion des Ermittlungsrichters den Beamten der Strafverfolgungsbehörden angenähert war, er den Status eines Beamten der ermittelnden Polizei hatte und dem Generalstaatsanwalt unterstellt war.425 Zwar hat der EGMR in diesem frühen Urteil das Grundsatz-Ausnahme-Prinzip noch nicht in der später vorzufindenden Weise herausgestellt; dennoch machen seine Ausführungen deutlich, dass nur aufgrund der besonderen Stellung des Ermittlungsrichters die sukzessive Funktionsausübung zum Problem für die Unparteilichkeit wurde. Abschließend sei auf eine letzte, wichtige Fallgruppe in diesem Themenkomplex eingegangen. Sie betrifft eine verwandte Konstellation, auf die der EGMR seine Doppelfunktionsrechtsprechung analog anwendet, indem er ebenfalls mithilfe eines „scope and nature“-Ansatzes differenziert. Sie betrifft Richter, die nur indirekt bereits mit der Rechtssache befasst waren, indem sie in parallel anhängigen Verfahren gegen Mitangeklagte Aussagen zu der Tatbeteiligung des Bf. treffen mussten. Dass

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421 So die ständige Rechtsprechung. Siehe exemplarisch: EGMR, Ninn-Hansen gegen Dänemark, S. 21; EGMR, Delage und Magistrello gegen Frankreich, S. 7; EGMR, Nortier gegen Niederlande, Rn. 33. 422 EGMR, Ekeberg u. a. gegen Norwegen, 31.07.2007, No. 11106/04; No. 11108/04; No. 11116/04; No. 11311/04; No. 13276/04, Rn. 34. 423 Siehe auch EGMR, Castillo Algar gegen Spanien, Rn. 43 ff; EGMR, Karakoç u. a. gegen Türkei, Rn. 56; EGMR, Chesne gegen Frankreich, 22.04.2010, No. 29808/06, Rn. 34 ff. 424 Siehe aber, dass in EGMR, Švarc und Kavnik gegen Slowenien, Rn. 40 und EGMR, Mežnarić gegen Kroatien, Rn. 36, mehrere Jahre zwischen der Ausübung der unterschiedlichen Funktionen mit Blick auf ein und dasselbe Verfahren lagen. Die Urteile sind daher speziell vor dem Hintergrund der östlichen Europaratsstaaten zu sehen, denen sie als Warnschuss dienen sollten. Dieser Rückschluss lässt sich zumindest aus der generellen Rüge gegenüber Slowenien ziehen, das slowenische System lasse objektive Sicherungsmechanismen vermissen, die sicherstellten, dass ein Richter an eine frühere Involvierung in denselben Fall erinnert und dadurch Doppelrollen vermieden würden. In dem kroatischen Fall spielte wie später in „Romanova gegen Ukraine“ eine Rolle, dass die kroatische Rechtslage den Richter in diesem Fall bereits als befangen ansah – woran sich der EGMR, wie oben dargelegt, orientiert. 425 EGMR, De Cubber gegen Belgien, Rn. 23 ff.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

ein Richter zuvor schon einmal über ähnliche, aber unverbundene strafrechtliche Vorwürfe entschieden oder bereits über einen Mitangeklagten zu Gericht gesessen hat, reicht nach dem EGMR für sich genommen nicht aus. Die vorangegangenen Urteile zu Mitangeklagten müssen bereits Einschätzungen enthalten, die eine Verurteilung des Angeklagten in dem folgenden Prozess präjudizieren.426 Dafür kommt es auf die Qualität der Vorbefasstheit an – die Trennlinie ist im Einzelfall haarscharf: Spricht das nationale Gericht wie in „Rojas Morales gegen Italien“ in dem Verfahren gegen den Mitangeklagten bereits davon, dass der Bf. als Leitfigur, Organisator und Initiator agiert habe, sind Zweifel an der Unparteilichkeit gerechtfertigt, wenn dieselben Richter anschließend über den Bf. zu Gericht sitzen.427 Es geht für gerechtfertigte Zweifel an der Unpateilichkeit also um eine konkrete rechtliche Qualifizierung des Beitrags des Bf. im Verfahren gegen Mitangeklagte; ein bloßes Benennen der Beiträge des Bf. reicht nicht aus und kann vielmehr notwendig sein, um die Tat der Mitangeklagten im Parallelverfahren einordnen zu können. Die Rechtsprechung zur funktionalen Unparteilichkeit ist nicht ohne Kritik geblieben. So appellierten einige Richter in ihren Abweichenden Sondervoten für eine stärkere Abgrenzung zugunsten einer Verletzung der Unparteilichkeit bzw. hielten die Differenzierung nach „scope and nature“ für zu unklar.428 Die Unterscheidung zwischen einer extensiven Betätigung eines Richters vor der Hauptverhandlung, die zu gerechtfertigten Zweifeln an seiner Unparteilichkeit führe, und weniger umfangreichen Maßnahmen, sei nicht überzeugend.429 Auch Tätigkeiten eines Richters als Ermittlungsrichter sollten nicht je nach Umfang, sondern grundsätzlich als unvereinbar bewertet werden. Die Tatsache allein, dass ein Richter im Vorfeld den Fakten auf den Grund gehe, reiche aus, um iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK Zweifel an dessen Unparteilichkeit in der Hauptverhandlung für gerechtfertigt zu halten.430 Im Kern ist der Kritik zwar einerseits zuzustimmen, dass derart schwimmende Grenzen zwischen zulässiger Betätigung eines Richters im Vorverfahrensstadium und unzulässiger, da zu weitgehender Involvierung, nicht deutlich genug sind und damit die Anpassung eines Rechtssystems an die EMRK verkomplizieren und nicht für Rechtsicherheit sorgen.431 Andererseits hat die Rechtsprechung des EGMR grund-

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EGMR, Rojas Morales gegen Italien, 16.11.2000, No. 39676/98. Id., Rn. 12. Gerechtfertigte Zweifel ablehnend aber EGMR, Poppe gegen Niederlande, 22.03.2009, No. 32271/04, Rn. 26 ff.; siehe dazu aber das Abweichende Sondervotum von Richter Gyulumyan, der von einer hinreichenden Qualifizierung und damit zweifelhaften Unparteilichkeit des niederländischen Gerichts, das die Beteiligung des Bf. bereits als „carried out the actual work“ bezeichnet habe, sprach. 428 Abweichendes Sondervotum von Richter De Meyer zu EGMR, Bulut gegen Österreich, Rn. 11. 429 Abweichendes Sondervotum von Richter Spielmann zu EGMR, Fey gegen Österreich, 24.02.1993, No. 14396/88. 430 Abweichendes Sondervotum von Richter Loizou zu Id. 431 So auch, wenngleich nicht spezifisch auf Osteuropa bezogen, das Abweichende Sondervotum von Richter De Meyer, Rn. 13 zu EGMR, Bulut gegen Österreich. 426 427

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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legend klar gemacht, dass der Bereich der Vorverfahrensbeteiligung im Lichte der objektiven Unparteilichkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK problematisch ist und im Einzelfall zu einer Verurteilung führen kann. Der darüber hinausgehende Schutzmechanismus, den der EGMR betätigt, besteht damit aus Einzelfallabwägungen. Gerade in dem sensiblen Bereich der Vorverfahrensbeteiligung desselben Richters wäre es zu pauschal, jeden Richter, der bereits im Vorverfahren beteiligt war, für zu befangen für die Hauptverhandlung zu halten und daher grundsätzlich eingreifende, objektive Sicherungen für dessen Ausschluss vom Hauptverfahren einzufordern. Vielmehr kommt es auf Nuancen an, die in jedem Fall anders liegen. (2) Strukturelle Unparteilichkeit Probleme struktureller Unparteilichkeit entstehen da, wo Richter im Vorfeld der Spruchtätigkeit zunächst in anderer Funktion bezüglich des späteren Streitgegenstandes tätig werden, ohne dass ein unmittelbarer Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren gegeben ist. Die andere Funktion ist vielmehr strukturell einer anderen Gewalt zuzuordnen.432 Den Begriff hat der EGMR in „Procola gegen Luxemburg“ entwickelt, in dem vier der fünf Richter des „Conseil d’Etat“ das Gesetz, das später Streitgegenstand war, als Berater der Legislative in seiner Entstehungsphase begleitet hatten.433 Die strukturelle Unparteilichkeit unterscheidet sich insofern von der funktionalen Unparteilichkeit, als dass sie sich auf das Verhältnis zu den anderen beiden Gewalten bezieht, der Begriff der funktionalen Unparteilichkeit hingegen die Wahrnehmung unterschiedlicher richterlicher (oder (staats-)anwaltlicher) Funktionen im Hinblick auf ein bestimmtes Verfahren und innerhalb dieses Verfahrens meint.434 Wer bereits zuvor eine beratende Funktion ausgeübt und damit eine Meinung zu einem bestimmten Rechtsproblem bezogen hat, kann eine richtende Funktion, die Unparteilichkeit verlangt, nicht mehr ausüben, da er der Rechtssache in den Augen des EGMR nicht mehr ausreichend neutral gegenübersteht bzw. sich an die vorher eingenommene Position gebunden fühlen könnte.435 Ebenso sah dies der EGMR in der Beschwerde „McGonnell gegen Großbritannien“, in der der Richter zuvor sogar dem Organ vorstand, das die streitige Regelung beschlossen hatte.436 Diese

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432 EGMR, Procola gegen Luxemburg, 28.09.1995, No. 14570/89; EGMR, McGonnell gegen Großbritannien, 08.02.2000, No. 28488/95; EGMR, Kleyn u. a. gegen Niederlande; EGMR, Sacilor Lormines gegen Frankreich. 433 EGMR, Procola gegen Luxemburg, Rn. 45; bestätigt iBa den französischen „Conseil d’Etat“ in: EGMR, Sacilor Lormines gegen Frankreich, Rn. 64 ff. 434 Einschließlich der Anwaltsfunktion, vgl. EGMR, Mežnarić gegen Kroatien. Je nachdem, welcher Gewalt die StA zuzurechnen ist, hätte der Fall EGMR, Piersack gegen Belgien, der hier unter der „funktionalen Unabhängigkeit“ diskutiert wurde, auch als Teil des strukturellen Verständnisses gesehen werden können. 435 EGMR, Procola gegen Luxemburg, Rn. 45. 436 EGMR, McGonnell gegen Großbritannien, Rn. 55.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Rechtsprechung gilt allerdings nur für die sukzessive Funktionsausübung ein und derselben Person bezüglich ein und desselben Gegenstandes. Nehmen Richter eine beratende Funktion bezüglich eines Gesetzesvorhabens wahr, sitzen aber später nur über eine auf der Grundlage dieses Gesetzes erlassene, konkrete Entscheidung zu Gericht, so reicht dies nicht für eine Verletzung der strukturellen Unparteilichkeit.437 Zweifel an der Unparteilichkeit sind daher erst recht nicht gerechtfertigt, wenn ein Parlamentarier später über einen Fall zu Gericht sitzt, das entsprechende Gesetz jedoch zuvor als Abgeordneter weder mit verabschiedet hat, noch sonst eine Verbindung zwischen Streitgegenstand und seiner Rolle als Parlamentarier besteht.438 Ebenso wenig reicht es für gerechtfertigte Zweifel an der strukturellen Unparteilichkeit, wenn abstrakt eine Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes gerügt oder eine bloße thematische Verbindung zwischen beiden Funktionen vorgetragen wird; es muss sich um „same case“ bzw. „same decision“ oder zumindest „analogous issues“ handeln, wie der EGMR mit Blick auf die strukturelle Doppelfunktion des französischen „Conseil d’Etat“ festgestellt hat.439 ee) Öffentliche Äußerungen über eine der Prozessparteien Eine weitere Fallgruppe, mit der sich der EGMR im Rahmen der objektiven Unparteilichkeit befasst hat, sind Fälle, in denen Richter während eines laufenden Verfahrens öffentlich Äußerungen über eine der Prozessparteien tätigen. Obwohl derartige Äußerungen eine vorgefertigte Meinung des Richters zu der konkreten Partei im Sinne der subjektiven Unparteilichkeit beweisen, hat der EGMR dies nur in „Lavents gegen Lettland“ so gesehen, in vergleichbaren Fällen aber regelmäßig auf die objektive Unparteilichkeit und berechtigte Zweifel zurückgegriffen. In „Buscemi gegen Italien“ befand er 1999, dass die Äußerungen des Vorsitzenden Richters in der Presse eine negative Haltung gegenüber dem Bf. und dessen Rechtssache zum Ausdruck gebracht hätten, bevor der Prozess begonnen habe; dies rechtfertige objektiv Zweifel an seiner Unparteilichkeit. Richter sollten eine maximale Besonnenheit hinsichtlich der Fälle, für die sie zuständig sind, zum Ausdruck bringen, um ihr Image als unparteiische Richter zu wahren. Diese Besonnenheit sollte sie auch davon abhalten, von der Presse Gebrauch zu machen, und zwar auch dann,

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437 EGMR, Kleyn u. a. gegen Niederlande, Rn. 190 ff., vor allem Rn. 199 ff. In Folge des Procola-Urteils hatten die Niederlande ihr System umgestellt, womit Richter, die bereits vorher in beratender Funktion im Gesetzgebungsverfahren tätig waren, nunmehr von der Richterbank des Raad van State bzgl. derselben Materie ausgeschlossen werden konnten. Voraussetzung war allerdings, dass die Partei dies rügte und Streitgegenstand vor Gericht eine Frage war, auf die die beratende Stellungnahme auch explizit eingegangen war. 438 EGMR, Pabla Ky gegen Finnland, 22.06.2004, No. 47221/99, Rn. 31 ff. 439 EGMR, Sacilor Lormines gegen Frankreich, Rn. 59, 71 ff.: Weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch ein anderer Konventionsartikel verlange von den Konventionsstaaten, mit theoretischen Verfassungskonzepten über die zulässigen Grenzen des Zusammenspiels der Gewalten überein zu stimmen.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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wenn sie hierzu provoziert würden.440 Auf die subjektive Unparteilichkeit, definiert als „the personal conviction or interest of a given judge in a particular case“441 geht der EGMR nicht ein, obwohl sich dies angesichts der klar geäußerten „personal conviction (…) of a given judge in a particular case“ angeboten hätte.442 Dass diese Fallgruppe unter der subjektiven Unparteilichkeit behandelt werden sollte, zeigt der wenig später entschiedene Fall „Lavents gegen Lettland“. Hier hatte die Präsidentin der zuständigen Kammer sich gegenüber der Presse dahingehend geäußert, sie könne noch nicht genau sagen, ob der Bf. verurteilt oder teilweise freigesprochen werde, womit sie indirekt bereits zeigte, dass sie jedenfalls nicht von einem vollständigen Freispruch ausging. Weiterhin brachte sie ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass der Bf. nach wie vor auf „nicht schuldig“ plädierte und empfahl ihm, seine Unschuld zu beweisen. Der EGMR subsumierte dieses Verhalten unter die subjektive Unparteilichkeit, da die Richterin bereits Position zum Ausgang des Verfahrens bezogen habe, was zustimmungswürdig ist. Allerdings griff er auch hier im Ergebnis wieder auf gerechtfertigte Zweifel zurück, was Maßstab der objektiven Unparteilichkeit ist und im Rahmen der subjektiven Unparteilichkeit verzichtbar.443 Die unterschiedliche und damit wenig konsequente Handhabung dieser inhaltlich parallel gelagerten Fälle, hat der EGMR selbst einige Jahre später in „Olujić gegen Kroatien“ angesprochen, indem er aufscheinen ließ, dass derartige Konstellationen sowohl unter die subjektive, als auch unter die objektive Unparteilichkeit zu subsumieren seien. Diese seien nicht hieb- und stichfest zu unterscheiden: Das Verhalten eines bestimmten Richters könne sowohl objektive Bedenken bei einem externen Beobachter auslösen, als auch seine persönliche Überzeugung unter dem Gesichtspunkt der subjektiven Unparteilichkeit betreffen. Noch undeutlicher werden die in ständiger Rechtsprechung etablierten Grundsätze der subjektiven und objektiven Unparteilichkeit, wenn der Gerichthof wenig später feststellt, dass der objektive Ansatz auch einschließe, dass „the court also gives importance to situations of a personal character and considers the conduct of the judges in a given case“.444 Zudem steht das Einbeziehen des Verhaltens („conduct“) von Richtern im konkreten Fall im Widerspruch zu in anderen Urteilen getätigten deutlichen Aussagen zur objektiven Unparteilichkeit wie etwa, dass „under the objective test, it must be determined whether quite apart from the judge’s personal conduct, there are ascertainable facts which may raise doubts as to his or her impartiality“445 und der

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EGMR, Buscemi gegen Italien, 16.09.1999, No. 29569/95, Rn. 67 f. Beispielhaft EGMR, Olujić gegen Kroatien, Rn. 57. 442 EGMR, Buscemi gegen Italien, Rn. 67. 443 EGMR, Lavents gegen Lettland, Rn. 117 ff. 444 EGMR, Olujić gegen Kroatien, Rn. 60. 445 EGMR, Thorgeir Thorgeirson gegen Island, Rn. 51; EGMR, Padovani gegen Italien, Rn. 27; EGMR, Pétur Thór Sigurđsson gegen Island, Rn. 37; EGMR, Švarc und Kavnik gegen Slowenien, Rn. 39; EGMR, Ekeberg u. a. gegen Norwegen, Rn. 33; EGMR, Lindon, Otchakovsky-Laurens und July gegen Frankreich, 22.10.2007, No. 21279/02; No. 36448/02, Rn. 77. 440 441

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Umschreibung der objektiven Unparteilichkeit als Frage der Struktur446 oder Organisation447 des Justizsystems. Die Unterschiede, die den Fall Lavents einerseits zu einem Problem der subjektiven Unparteilichkeit werden lassen und die Fälle Buscemi und Olujić andererseits als Verstoß gegen die objektive Unparteilichkeit klassifizieren, sind nicht ersichtlich. Möglicherweise aus Erklärungsnot, um die Diskrepanz zwischen Buscemi und Lavents zu schließen, hat der EGMR in „Olujić gegen Kroatien“ 2009 der objektiven Unparteilichkeit ein subjektives Element beigemessen.448 In einem weiteren Fall aus dem Jahr 2009 gegen einen anderen östlichen Europaratsstaat, die Ukraine, ließ der EGMR bezeichnenderweise mit Blick auf Äußerungen des zuständigen Einzelrichters zum laufenden Verfahren die Entscheidung zwischen subjektiver und objektiver Unparteilichkeit ganz offen und maß der objektiven Unparteilichkeit eine Art Auffangfunktion zu: Ob die subjektive Unparteilichkeit verletzt sei, könne offen bleiben, solange zumindest die objektive Unparteilichkeit verletzt sei – was sehr viel einfacher festzustellen ist.449 Zugunsten einer präziseren Rechtsprechung sollten einschlägige Äußerungen des zuständigen Richters zu der Schuldfrage während eines noch laufenden Verfahrens, als Verletzung der subjektiven Unparteilichkeit gewertet werden.450 Eine Ausnahme sollte nur dann gelten, wenn mit Blick auf die Faktenlage unklar bleibt, ob der Richter bzw. im ukrainischen Ausgangsfall die zuständige Gerichtspräsidentin, das Interview zu Beginn des Verfahrens überhaupt selbst gegeben hat oder nur ein solcher Eindruck, möglicherweise von dritter Seite, geschaffen wurde. Klärt der Staat dies nicht weiter auf und bleibt der Anschein damit bestehen, ist es einzig folgerichtig, dass der EGMR die Verletzung in dem nicht ausgeräumten Anschein der mangelnden Unparteilichkeit und damit in der objektiven Unparteilichkeit sieht.451 b) Subjektive Unparteilichkeit Die innere Einstellung des Richters zu Parteien und Prozessstoff im konkreten Fall (subjektive Unparteilichkeit), bildet sehr viel seltener den Gegenstand von Ur-

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446 EGMR, H. gegen Belgien, Rn. 52; EGMR, Debled gegen Belgien, Rn. 36; EGMR, Pabla Ky gegen Finnland, Rn. 31. 447 EGMR, Albert und Le Compte gegen Belgien, 10.02.1983, No. 7299/75; No. 7496/76, Rn. 32; EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, Rn. 85. 448 „In applying the objective test the Court also gives importance to situations of a personal character and considers the conduct of the judges in a given case.“ EGMR, Olujić gegen Kroatien, Rn. 60. Vgl. im Gegensatz dazu die Definition in EGMR, De Cubber gegen Belgien, Rn. 26: „considerations relating to the functions exercised and to internal organisation (the objective approach)“. 449 EGMR, Mironenko und Martenko gegen Ukraine, 10.12.2009, No. 4785/02, Rn. 68 ff. 450 Zu öffentlichen Äußerungen als Problem der subjektiven Unparteilichkeit auch Peukert, Artikel 6, Rn. 214. 451 EGMR, Paskal gegen Ukraine, 15.09.2011, No. 24652/04, Rn. 69 ff.

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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teilen und Entscheidungen. Sie wird regelmäßig nur am Rande gestreift, ohne tatsächlich größere Bedeutung zu erlangen. Grund dafür ist die Beweislastumkehr: die subjektive Unparteilichkeit wird bis zum Beweis ihres Gegenteils vermutet. Diese Vermutung reflektiert nach Ansicht des EGMR ein bedeutendes Element der Rechtsstaatlichkeit, nämlich die Anforderung, dass Urteile endgültig und verbindlich sein müssen, mit Ausnahme der Aufhebung durch ein höheres Gericht wegen fehlerhafter Anwendung des geltenden Rechts oder mangelnder Einhaltung von Verfahrensgarantien.452 Nur ausnahmsweise ist es Individuen bislang gelungen, die Vermutung zugunsten der Unparteilichkeit des einzelnen Richters vor dem EGMR zu widerlegen.453 Ein solcher Beweis ist dann möglich, wenn ein Richter eine bereits eingenommene Haltung oder ein persönliches Vorurteil zum Ausdruck gebracht,454 Feindseligkeit oder Böswilligkeit gezeigt, oder sich dafür eingesetzt hat, einen Fall aus persönlichen Gründen, außerhalb der vorgesehenen Fallzuweisungsregeln, zugewiesen zu bekommen.455 Zu einer Verletzung in diesem Sinne kam die GK des EGMR in „Kyprianou gegen Zypern“ 2005, in dem diejenigen Richter über den Vorwurf des „contempt of court“ entschieden hatten, die selbst Gegenstand der angeblichen Missachtung des Gerichts seitens des Bf. waren. Der EGMR hat hier sowohl die funktionale Unparteilichkeit als Teilelement der objektiven Unparteilichkeit, als auch die subjektive Unparteilichkeit als verletzt angesehen. Dieser Fall unterscheidet sich insofern von den anderen Konstellationen kumulativer Funktionsausübung, als dass das spezielle Element der „contempt of court“ die Richter über Anklageund Richterfunktion hinaus, selbst zu Opfern macht, und der EGMR deshalb von einer besonderen persönlichen, negativen Einstellung gegenüber dem Bf. ausging: Die Richter hätten in ihrer Entscheidung angegeben, „deeply insulted“ und zwar „as persons“ zu sein. Dies allein zeige ihre persönliche Verletztheit. Darüber hinaus hätten sie eine nachdrückliche Sprache benutzt, die ihre Empörung und ihren Schock zum Ausdruck gebracht hätte und dem Ansatz von Art. 6 Abs. 1 EMRK entgegenstehen würde. Weiterhin würde die Strafe von fünf Tagen Gefängnis und die unmittelbare Vollstreckung, die sie als einzig adäquate Antwort auf das Verhalten des Bf. sahen, ein weiteres Indiz für ihre subjektive Befangenheit darstellen. Und letztens hätten sie sein Verhalten bereits in einem frühen Verfahrensstadium als „contempt of court“ qualifiziert; dem Bf. sei nur noch geblieben, den „Schaden,

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EGMR, Pullar gegen Großbritannien, Rn. 32. EGMR GK, Kyprianou gegen Zypern, Rn. 129 ff. 454 EGMR, Lavents gegen Lettland, Rn. 117 ff. Hier argumentierte der EGMR zwar zunächst über die subjektive Unparteilichkeit, wendete aber im Ergebnis inkonsequenterweise wieder den Maßstab der objektiv gerechtfertigten Zweifel an, um zu einer Verletzung der Unparteilichkeit zu kommen. 455 EGMR, De Cubber gegen Belgien, Rn. 25; EGMR GK, Kyprianou gegen Zypern, Rn. 119; EGMR, Olujić gegen Kroatien, Rn. 58; EGMR GK, Micallef gegen Malta, Rn. 94, allerdings mit geänderter Formulierung. 452 453

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

den er durch sein Verhalten verursacht habe“, zu beseitigen, statt eine echte Chance zur Verteidigung eingeräumt bekommen zu haben.456 Eine weitere Gefahr für die subjektive Unparteilichkeit sieht der EGMR teilweise, wenn zuständige Gerichtspräsidenten oder Richter während des laufenden Verfahrens öffentlich Äußerungen treffen, die eine negative Bewertung des Falls oder des Angeklagten zum Ausdruck bringen oder zur Schuldfrage bereits Stellung nehmen. Trotz des durch die öffentlichen Äußerungen zum Ausdruck gebrachten Beweises einer vorgefertigten persönlichen Meinung zu dem konkreten Fall, behandelt der EGMR diese Fälle, wie gesehen, nicht konsequent als ein Problem subjektiver Unparteilichkeit.457 Ähnlich überraschend ist die Einordnung rassistischer Äußerungen seitens Geschworener in Verfahren mit Jurybeteiligung. Mehrmals haben den EGMR in den letzten beiden Jahrzehnten Fälle beschäftigt, in denen Bf., die entweder Ausländer waren, einen Migrationshintergrund hatten oder eine andere Hautfarbe als die Geschworenen, die mangelnde Unparteilichkeit von Jurymitgliedern aufgrund rassistischer Äußerungen geltend machten.458 Der EGMR ordnete diese Fälle als Problem der objektiven Unparteilichkeit ein und kam, wenn er die Maßnahmen, die der Berufsrichter in Reaktion auf die Rassismusvorwürfe getroffen hatte, für unzureichend erachtete, zu gerechtfertigten Zweifeln an der objektiven Unparteilichkeit. Dies überzeugt insofern nicht, als dass eine bestimmte, persönliche Überzeugung bzw. im Vorhinein gebildete Meinung bezüglich der konkret angeklagten Person zum Ausdruck gekommen war. Zum Beweis dienten Zeugen bzw. in „Sander gegen Großbritannien“ die Aussagen des betreffenden Geschworenen, der die Äußerungen indirekt selbst zugegeben hatte. Der EGMR geht aber entweder gar nicht459 oder nur ablehnend auf die subjektive Unparteilichkeit ein, ohne dies überzeugend zu begründen.460 c) Bewertung der Unparteilichkeitsrechtsprechung Der Natur des EGMR als Menschenrechtsgerichtshof ist es geschuldet, dass die richterliche Unparteilichkeit den EGMR sehr viel häufiger beschäftigt hat als die

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EGMR GK, Kyprianou gegen Zypern, Rn. 129 ff. EGMR, Lavents gegen Lettland, Rn. 119; EGMR, Olujić gegen Kroatien, Rn. 62 ff. 458 EGMR, Remli gegen Frankreich, 23.04.1996, No. 16839/90; EGMR, Gregory gegen Großbritannien, 25.02.1997, No. 22299/93; EGMR, Sander gegen Großbritannien, 09.08. 2000, No. 34129/96. 459 EGMR, Remli gegen Frankreich, Rn. 46. 460 EGMR, Gregory gegen Großbritannien, Rn. 44; EGMR, Sander gegen Großbritannien, Rn. 24 ff. Siehe auch das Abweichende Sondervotum von Richter Loucaides zu Sander, der zumindest von einer Verletzung der objektiven und subjektiven Unparteilichkeit ausging. Andererseits war Gegenstand der Beschwerden nicht mehr die ursprüngliche rassistische Äußerung, sondern die Reaktion des Berufsrichters darauf. Es ging also darum, festzustellen, ob die ergriffenen Maßnahmen ausreichten, um die Unparteilichkeit (wieder) herzustellen. Allein unter diesem Aspekt, den der EGMR jedoch nicht anführt, mag sein Ansatz nachvollziehbar sein. 456 457

I. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK

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Unabhängigkeit. Zwar ist, wie gesehen, in den letzten Jahren zu beobachten, dass zunehmend auch Probleme der richterlichen Unabhängigkeit, wie die Rolle der starken Gerichtspräsidenten in den östlichen Europaratsstaaten, vor den EGMR gebracht werden. Dennoch bleibt die Frage der möglichen Befangenheit des Richters aus der Perspektive eines Individuums näher erfahrbar als seine Unabhängigkeit, die durch strukturelle Fragen abstrakter erscheint. Insofern verwundert es nicht, dass EGMR und EKMR sehr viel häufiger mit Fragen der Unparteilichkeit befasst waren und sich eine viel präzisere Rechtsprechung zu diesem Merkmal entwickelt hat. So hält die Rechtsprechung zur Unparteilichkeit eine breite Palette verschiedener Konstellationen bereit, die aufgrund von Selbstbetroffenheit, familiären oder sonstigen persönlichen Bindungen die Unparteilichkeit zu Fall bringen. Ebenso verhält es sich mit bestimmten dienstlichen Bindungen oder wirtschaftlichen Vorteilen, die ein Richter oder ihm Nahestehende durch eine der Prozessparteien erlangen. Unterschiedliche politische Bindungen müssen sich hingegen konkret auf das Verfahren ausgewirkt haben. Aber auch die potentielle Einwirkung von außen auf den Richter ist bedenklich, wenn der Einwirkende sich bereits zuvor gegen den Bf. gestellt hat, wie es das mittlerweile reformierte Institut des „Commissaire du Gouvernement“ mit sich brachte. Ebenso wurde deutlich, dass Einflussnahmen innerhalb der Judikative nicht nur Probleme richterlicher Unabhängigkeit, sondern unter Umständen auch der richterlichen Unparteilichkeit hervorrufen können. Besonders ausgeprägt ist die Rechtsprechung zur Vorbefasstheit des Richters mit derselben Rechtssache, wobei der EGMR zwischen funktionaler Unparteilichkeit und der strukturellen Unparteilichkeit unterscheidet. Wesentlich ist mit Blick auf die funktionale Unparteilichkeit, dass die Rechtsmittelinstanz nicht mit denselben Richtern besetzt sein darf wie die Vorinstanz; im Übrigen differenziert der EGMR anhand des Umfangs und Charakters („scope and nature“) der erfolgten Doppelfunktionswahrnehmung. Zugleich benutzt er die Aufspaltung in subjektive und objektive Unparteilichkeit, um sich dem Wesen der Unparteilichkeit überhaupt nähern zu können. Unparteilichkeit ist letztlich stets eine subjektive Frage, da sie aufs Engste mit der inneren Haltung eines Richters verbunden ist. Da so die Unparteilichkeit aber zu einem Recht werden würde, das zwar iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert, aber in den meisten Fällen illusorisch würde, da der EGMR kaum in der Lage wäre, die tatsächliche Befangenheit eines nationalen Richters festzustellen, behilft er sich mit einer Konstruktion der Aufspaltung der Unparteilichkeit in zwei Elemente. Dies mag man einerseits gekünstelt finden, da dadurch die Probleme in der Praxis beinahe ausschließlich über die objektive Unparteilichkeit behandelt werden, die aufgrund ihrer Objektivität ein Urteil über die Unparteilichkeit im konkreten Fall möglich macht. Damit fungiert die objektive Unparteilichkeit gleichsam als ein nicht bis zuletzt zu erbringender Beleg einer mangelnden inneren Einstellung des Richters, wird aber von dieser klar getrennt. Andererseits ist dieser Ansatz in ähnlicher Form in nationalen Rechtsordnungen zu finden. Auch im deutschen

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Recht geht man davon aus, dass Befangenheit nicht den Nachweis derselben verlangt, der ohnehin in der Regel nicht geführt werden kann. Sie setzt lediglich einen Grund voraus, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unbefangenheit des Richters zu rechtfertigen. Mithin findet ganz im Sinne der objektiven Unparteilichkeit eine Relativierung des subjektiven Standpunkts durch Objektivierung statt.461 Allein die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Unparteilichkeit wird, jedenfalls im deutschen Kontext, nicht gemacht. Berücksichtigt man, wie vernachlässigt die subjektive Unparteilichkeit in der Rechtsprechung des EGMR ist, und letztlich beinahe jede Prüfung über die objektive Unparteilichkeit vorgenommen wird, wird sich im Ergebnis ein ähnliches Bild abzeichnen, wie es bei einem einheitlichen Unparteilichkeitsbegriff nach dem nationalen Recht entsteht. Die objektive Unparteilichkeit ermöglicht es dem EGMR, weitreichende Standards zu entwickeln und objektive Garantien zur Gewährleistung eines subjektiven Merkmals einzufordern. Staaten, die bestrebt sind, ihre Justizsysteme im Einklang mit rechtsstaatlichen Vorgaben zu errichten oder zu stärken, finden in der Rechtsprechung des EGMR zur objektiven Unparteilichkeit weitreichende Anhaltspunkte, welche Konstellationen vereinbar mit europäischen Menschenrechtsvorgaben sind. Bedauerlich ist allein, dass der EGMR die Chance nicht ergriffen hat, im Hinblick auf öffentliche Äußerungen von Richtern über eine der Parteien oder den Angeklagten während eines laufenden Verfahrens, ebenso wie auf die rassistischen Vorurteile seitens der Geschworenen, einen größeren Anwendungsbereich für die subjektive Unparteilichkeit zu eröffnen und seine Rechtsprechung fortzuentwickeln. Für die zukünftige Rechtsprechung ist zu hoffen, dass der EGMR der subjektiven Unparteilichkeit – in den wenigen Fällen, in denen sie offen zu Tage tritt – diesen Anwendungsbereich einräumt und seiner Rechtsprechung dadurch deutlichere Konturen verleiht.

II. Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit als Anforderungen von Seiten der Organe des Europarats und der Venedig-Kommission Neben der verbindlichen Rechtsprechung des EGMR zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte, erheben die Soft Law-Dokumente der Europaratsorgane und der Venedig-Kommission den Anspruch, allgemeingültige Standards für die Europaratsstaaten zu formulieren, denen insbesondere in den Reformprozessen in Osteuropa weiterhin eine wesentliche Rolle zukommt. Trotz ihrer mangelnden Rechtsverbindlichkeit, genießen die Empfehlungen, Entschließungen und Meinungen der Europaratsorgane und der Venedig-Kommission damit in der Praxis eine

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461 Temming, § 24 StPO, in: K.-P. Julius/B. Gercke/H.-J. Kurth u. a. (Hrsg.), Strafprozessordnung, Heidelberger Kommentar, 2009, Rn. 6, 10; Hüßtege, § 42 ZPO, in: H. Thomas/H. Putzo (Hrsg.): Zivilprozessordnung, Kommentar, 2005, Rn. 9.

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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hohe Autorität.462 Teilweise erlangen sie zudem in einem weiteren Schritt rechtsverbindliche Wirkung, etwa indem die EU im Zuge von Beitrittsverhandlungen in Ermangelung eigener Standards für die Unabhängigkeit der Justiz auf das Soft Law des Europarats zu dem betreffenden Staat zurückgreift,463 oder indem der EGMR das Soft Law in seinen Urteilen zitiert und dadurch aufwertet.464 Zudem befassen sie sich naturgemäß sehr viel detailreicher als die Rechtsprechung des EGMR mit richterlicher Unabhängigkeit. Im Folgenden sollen daher als Annex zum Rechtsprechungsteil wesentliche jüngere Empfehlungen, Entschließungen und Meinungen an die Europaratsstaaten zur richterlichen Unabhängigkeit untersucht werden.

1. Ministerkomitee a) Überblick über Struktur und Instrumente Dem Charakter des Europarats als intergouvernementaler Organisation entspricht es, dass das Ministerkomitee als Vertretungsorgan der mitgliedstaatlichen Regierungen das zentrale Organ ist, in dem die Entscheidungsbefugnisse konzentriert sind.465 Die Parlamentarische Versammlung ist im Verhältnis dazu von untergeordneter Bedeutung.466 Das Ministerkomitee setzt sich aus den Außenministern der Mitgliedstaaten zusammen,467 die sich jedoch seit 2004 nur noch einmal pro Jahr

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462 Siehe die Bezeichnung der Empfehlung des Ministerkomitees No. R (94) 12 als „regionale Standards“ für Europa in: Human Rights Council, Promotion and Protection of all Human Rights, Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights, Including the Right to Development, Report of the Special Rapporteur on the independence of judges and lawyers, Leandro Despouy, 24 March 2009, UN Doc. A/HRC/11/41, Rn. 2. 463 Council of the European Union, Council conclusions on the follow-up to the Noordwijk conference: the rule of law, Bulletin EU 5-1998: 1.3.58, 28.05.1998, Rn. 4, 5; SeibertFohr, Judicial Independence in European Union Accessions: The Emergence of a European Basic Principle. 464 Generell zur Bezugnahme auf das Soft Law des Ministerkomitees: EGMR, Zubko u. a. gegen Ukraine, Rn. 41 f., 68; EGMR, Kot gegen Russland, Rn. 18; EGMR, Ozerov gegen Russland, Rn. 33. Regelmäßig nimmt der EGMR außerdem iRv Piloturteilen auf das Ministerkomitee Bezug: EGMR, Greens and M. T. gegen Großbritannien, 23.11.2010, No. 60041/08; No. 60054/08, Rn. 44 ff. Die Venedig-Kommission tritt auch als amicus curiae vor dem EGMR auf: EGMR GK, Sejdić und Finci gegen Bosnien und Herzegowina, 22.12.2009, No. 27996/06; No. 34836/06. Für eine Bezugnahme auf die Venedig-Kommission: EGMR, Case of Parti Nationaliste Basque – Organisation Régionale d’Iparralde gegen Frankreich, 07.06.2007, No. 71251/01, sowie das Abweichende Sondervotum von Richter Sajó und Richter Popovic zu EGMR, Özpinar gegen Türkei. 465 Grote, Kapitel 1: Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der EMRK, Rn. 12. 466 Committee of Ministers of the Council of Europe, Rules of Procedure of the Committee of Ministers, adopted by the Committee of Ministers at its 9th Session (August 1951), 5th revised edition (2005) Art. 14 iVm Art. 1 Committee of Ministers of the Council of Europe, Rules of Procedure for the Meetings of the Ministers’ Deputies, adopted by the Committee of Ministers at its Sixteenth Session (July 1955), 4th revised edition (2005). 467 Council of Europe, Statute of the Council of Europe, May 1949, with amendments (2007), Art. 14.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

am Sitz des Europarats in Straßburg treffen. In der Regel drei Mal pro Monat versammeln sich ihre Stellvertreter zur Sitzung des Komitees der Ministerbeauftragten, um die Alltagsgeschäfte zu bewältigen.468 Hinzu treten Treffen, die sich speziell dem Monitoring widmen oder sich mit Menschenrechtsfragen, wie der Überwachung der Umsetzung der Urteile des EGMR, befassen, sowie informelle Treffen.469 Neben dem Ministerkomitee und dem Komitee der Ministerbeauftragten gibt es Ausschüsse, die als Lenkungsausschüsse mit Planungs- und Steuerungsfunktion und als Ad-Hoc-Ausschüsse sowie den dazugehörigen Unterausschüssen („committees of experts“ und „ad hoc advisory groups“) das Ministerkomitee unterstützen.470 Von besonderer Bedeutung für die hiesige Betrachtung ist der Lenkungsausschuss für rechtliche Zusammenarbeit (CDCJ) und sein Unterausschuss „Group of Specialists on the Judiciary“ (CJ-S-JUD), die sich mit Fragen der Unabhängigkeit der Justiz beschäftigen und die Empfehlung des Ministerkomitees über Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortlichkeit von Richtern von 2010 erarbeitet haben. Das Ministerkomitee setzt damit, neben der Koordinierung der Aktivitäten des Europarats und der Determinierung seiner Leitlinien im jährlichen Arbeitsprogramm, auch selbst konkrete Standards für die verschiedenen Politikbereiche des Europarats. Diese Standardsetzung erfolgt durch rechtsverbindliche Konventionen und Abkommen471 sowie durch rechtlich unverbindliche Empfehlungen.472 Neben weiteren Instrumenten wie Resolutionen473 und Deklarationen474 hat das Ministerkomitee im Zuge der Erweiterung nach Osten in den 1990er Jahren außerdem das Instrument des Monitoring eingeführt.475

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468 In der Praxis handelt es sich idR um den Botschafter in Straßburg. Brummer, Der Europarat, S. 35 ff.; Stegen, Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung als Motor des Europarats, in: U. Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat (2000), S. 79. 469 Brummer, Der Europarat, S. 38. 470 Id., S. 40 f. Daneben verfügt auch das Komitee der Ministerbeauftragten über unterstützende Untereinheiten: „rapporteurs groups“, „working groups“, „liaison commitees“, „thematic co-ordinators“, vgl. derselbe, S. 43 f. 471 Council of Europe, Statute of the Council of Europe, Art. 15 a 1. 472 Id., Art. 15 b 1. 473 Für interne Fragen des Europarats wie etwa die Einladung an einen Staat zum Beitritt oder das Budget: Id., Art. 4, 5 iVm 20 c bzw. Art. 16 iVm 20 d. Letztere sind außerdem für die Überwachung der Umsetzung der Urteile des EGMR iSv Art. 46 Abs. 2 EMRK einschlägig; darüber hinaus werden sie zur Änderung der Satzung der Europarats genutzt sowie zur Einrichtung neuer Lenkungsausschüsse. Brummer, Der Europarat, S. 68 f. 474 Zu aktuellen politischen Fragen sowie zur strategischen Ausrichtung des Europarats: Brummer, Der Europarat, S. 69 f. 475 Mit dem Monitoring sollten einerseits die östlichen Europaratsstaaten bei der Bewältigung der bestehenden Defizite unterstützt und über die Umsetzung der vor Beitritt eingegangenen Selbstverpflichtungen gewacht werden. Daneben musste der Europarat der eigenen Verantwortung gerecht werden, die Beachtung der Wertetrias durch alle Europaratsstaaten zu garantieren bzw. nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren: Committee of Ministers of the Council of Europe, Declaration on Compliance with Commitments accepted by Member States of the Council of Europe adopted by the Committee of Ministers on 10 November 1994 at its 95th Session, 1994, Präambel. Zwar mit Blick auf die Erweiterung des Europarats nach Osten

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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b) Empfehlung CM/Rec(2010)12 Obwohl Empfehlungen rechtlich unverbindlich sind,476 genießen gerade die Empfehlungen des Ministerkomitees zur richterlichen Unabhängigkeit eine besondere politische Autorität. Dies wird an der Vorgängerempfehlung, der Empfehlung No. R (94)12 des Ministerkomitees über die Unabhängigkeit, Effizienz und Rolle von Richtern, deutlich, auf die zahlreich Bezug genommen und die sogar als Teil der „regional standards“ für richterliche Unabhängigkeit bezeichnet wurde.477 Auch der Rat der EU hat den Empfehlungen des Ministerkomitees explizit eine besondere Bedeutung bei der Interpretation des Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit gegenüber den EU-Beitrittskandidaten beigemessen,478 und auch innerhalb des Europarats wurde häufig auf die Empfehlung No. R (94)12 verwiesen.479 Darüber hinaus kommt den Empfehlungen des Ministerkomitees bei der Interpretation des Rechtsstaatsprinzips, zu dem sich die Staaten durch den Beitritt zur Europaratssatzung verpflichtet haben, vorrangige Bedeutung zu.480

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entstanden und für diese Region bis heute am häufigsten angewandt, umfasst der Monitoringmechanismus in der Form des Monitorings nach der Monitoring-Deklaration und in Form des thematischen Monitorings grundsätzlich alle Europaratsstaaten. Anders ist dies nur iBa das Post-Accession-Monitoring. Das thematische Monitoring wurde bereits zu „Functioning of the judicial system“ durchgeführt und „Independence, impartiality and authority of the judiciary“ als eines der „sub-items which merit priority treatment“ ausgemacht: Committee of Ministers of the Council of Europe, Compliance with member States’ commitments, Committee of Ministers Declaration of 10 November 1994, Sub-items on the theme „functioning of the judicial system“ which merit priority treatment within the Committee of Ministers’ monitoring procedure, 2000, CM/Monitor(99)15 revised. 476 Allerdings kann das Ministerkomitee von den Regierungen einen Bericht über die in Folge der Empfehlung getroffenen Maßnahmen einfordern: Council of Europe, Statute of the Council of Europe, Art. 15 b 2.; De Vel/Markert, Importance and Weaknesses of the Council of Europe Conventions and of the Recommendations addressed by the Committee of Ministers to Member States, in: B. Haller/H. C. Krüger/H. Petzold (Hrsg.), Law in Greater Europe, Towards a Common Legal Area, S. 351; Stegen, Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung als Motor des Europarats, S. 80, spricht von einem „moralischen Zugzwang“. 477 Human Rights Council, Promotion and Protection of all Human Rights, Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights, Including the Right to Development, Report of the Special Rapporteur on the independence of judges and lawyers, Leandro Despouy, Rn. 2. 478 Council of Europe, Council conclusions on the follow-up to the Noordwijk conference: the rule of law, Bulletin EU 5-1998: 1.3.58, 28.05.1998, abzurufen unter , Rn. 4; Commission of the European Communities, Screening Report on Croatia, Chapter 23 – Judiciary and Fundamental Rights, 27 June 2007. 479 Siehe exemplarisch: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Vademecum on the Judiciary, 14 October 2008, CDL-JD(2008)001; European Commission for the Efficiency of Justice (CEPEJ) of the Council of Europe, Action Plan for follow-up to Opinions of the Consultative Council of European Judges (CCJE) adopted by the CEPEJ at its 6th plenary meeting (7–9 December 2005) at the request of the European Committee on Legal Co-operation (CDCJ), 09.12.2005, CEPEJ(2005)11, Rn. 12. 480 Council of Europe, Statute of the Council of Europe, Art. 3; De Vel/Markert, Importance and Weaknesses of the Council of Europe Conventions and of the Recommendations addressed by the Committee of Ministers to Member States, S. 353.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Am 17. November 2010 wurde die Empfehlung No. R (94)12 durch die neue Empfehlung CM/Rec(2010)12 ersetzt. Die neue Empfehlung sollte die Entwicklung zwischen 1994 und den späten 2000er Jahren einfangen, wobei folgende Aspekte – wie sich in der endgültigen Version deutlich widerspiegelt – besondere Aufmerksamkeit erhalten sollten: die Rolle von unabhängigen Organen in der Justizverwaltung, Status und Verantwortlichkeit von Richtern in modernen Gesellschaften, die Balance zwischen Unabhängigkeit und Effizienz, die Unabsetzbarkeit von Richtern, ihre Haftung sowie Training und Ressourcen.481 Gleichzeitig spiegelt sich in den Schwerpunkten und konkreten Empfehlungen wider, dass die Neuauflage auch mit Blick auf die nach 1994 aufgenommenen östlichen Europaratsstaaten erfolgte, und bei der Erarbeitung besondere Probleme in diesen ehemaligen und gegenwärtigen Transformationsstaaten vor Augen hatte. Die neue Empfehlung ist umfangreicher als ihre Vorgängerin und besteht statt der sechs Prinzipien in der Empfehlung von 1994, aus einer Präambel und acht Kapiteln, die jeweils durch Unterüberschriften thematisch unterteilt werden. Bereits die Präambel enthält eine neue Bezugnahme auf Soft Law Dokumente und Organe, die erst in den Jahren 1998, 2000 und 2002 entstanden sind und die Vorarbeiten und den Inhalt der neuen Empfehlung stark geprägt haben: die „Opinions“ des „Conseil Consultatif de Juges Européens“ (CCJE), ein im Jahr 2000 gegründetes482 und unter dem Sekretariat des Europarats483 fungierendes Kooperationsgremium europäischer Richter mit Beratungsfunktion,484 dessen starker Selbstverwaltungskurs sich in der neuen Empfehlung deutlich niedergeschlagen hat;485 die 2002 gegründete „Commission européenne

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481 Zur Begründung für die Neuauflage der Empfehlung, siehe Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Präambel. 482 Committee of Ministers, Secretary General’s Report on the 22nd Conference of European Ministers of Justice 15–16 September 1999, CM(99)122, 8, Appendix III. Das Ministerkomitee beschließt auch das jeweils zweijährige Mandat, siehe z. B. Comité des Ministres du Conseil de l’Europe, Mandat du CCJE pour 2010 et 2011 tel qu’approuvé par le Comité des Ministres à la 1075ème réunion des Délégués des Ministres, 7 décembre 2009, CCJE(2010) 2REV3. 483 Genauer unter dem Dach des „Directorate General of Human Rights and Legal Affairs“, in der Unterrubrik des „Directorate of Legal Co-operation“. 484 „Le CCJE est un Comité consultatif ad hoc, qui reçoit son mandat du Comité des Ministres, mais est composé de juges qui, une fois nommés par leur Etats après consultation du CSM (ou organe équivalent), sont indépendants dans leur travail au sein du Comité (ils ne travaillent pas sur instruction des gouvernements.“, Korrespondenz mit Stephane Leyenberger, Acting Head of the Justice Division, Secretariat of the CCJE, 23.02.2011. 485 Während der CCJE in Consultative Council of European Judges (CCJE), Opinion no 1 (2001) of the Consultative Council of European Judges (CCJE) for the attention of the Committee of Ministers of the Council of Europe on standards concerning the independence of the judiciary and the irremovability of judges, Rn. 37, noch zurückhaltender ist (siehe aber bereits Rn. 45, 73 (4)), hat sich sein Selbstverwaltungskurs im Laufe der Zeit zugespitzt: Consultative Council of European Judges (CCJE), Opinion no. 10(2007) of the Consultative Council of European Judges (CCJE) to the attention of the Committee of Ministers of the Council of Europe on the Council for the Judiciary at the service of society, 23 November 2007, Rn. 15 ff., 20, 42 f.

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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pour l’efficacité de la justice“ (CEPEJ),486 die in ihrem Aktionsplan von 2005 die Erneuerung der Empfehlung von 1994 anregte,487 und den Aktionsplan bereits explizit auf die „Opinions“ des CCJE stützte,488 sowie die „European Charter on the Statute for Judges“ („European Charter“) von 1998.489 Durch diese Bezugnahme in der Präambel werden die allesamt von bzw. unter dem starken Einfluss von Richtern verfassten Dokumente zu einem europäischen Standard erhoben – eine nicht unproblematische Neuerung.490 Bereits in der Präambel wird außerdem auf die Unparteilichkeit Bezug genommen, die insgesamt einen größeren Raum in der neuen Empfehlung einnimmt, einschließlich einer Definition des Verhältnisses von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.491 Weiterhin enthält die Empfehlung in ihrer Präambel erstmals die wesentliche Aussage, dass richterliche Unabhängigkeit kein Selbstprivileg von Richtern sei, sondern vor dem Hintergrund des Individualrechts auf ein faires Verfahren zu sehen ist. Neu ist außerdem der Verweis auf die Diversität der mitgliedstaatlichen Justizsysteme, obwohl die neue Empfehlung, wie zu sehen sein wird, sehr viel konkreter und genauer in ihren (unverbindlichen) Vorgaben ist und den Europaratsstaaten und ihren diversen Systemen dadurch gerade weniger

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486 Die CEPEJ hat sich zum Ziel gesetzt, die Effizienz und Funktionsfähigkeit der Justiz, insbesondere unter Berücksichtigung der Art. 5, 6, 13 und 14 EMRK, voranzutreiben und beschäftigt sich mit Fragen des Zugangs zu Gerichten, den Ausgaben für das Gerichtswesen, Prozessdauer sowie dem Training von Richtern und Staatsanwälten. Siehe (zuletzt besucht am 19.03.2012) sowie Committee of Ministers of the Council of Europe, Resolution Res(2002)12 establishing the European Commission for the efficiency of justice (CEPEJ) adopted by the Committee of Ministers on 18 September 2002 at the 808th meeting of the Ministers’ Deputies, Präambel. 487 European Committee on Legal Co-operation (CDCJ) of the Council of Europe, European Committee on Legal Co-operation (CDCJ) – Abriged report of the 81st meeting (Strasbourg, 22–24 March 2006), 04 May 2006, CM(2006)60, Rn. 3. a., Appendix 2 Rn. 9. 488 European Commission for the Efficiency of Justice (CEPEJ) of the Council of Europe, Action Plan for follow-up to Opinions of the Consultative Council of European Judges (CCJE) adopted by the CEPEJ at its 6th plenary meeting (7–9 December 2005) at the request of the European Committee on Legal Co-operation (CDCJ), Rn. 2, 6. Den Aktionsplan auf Meinungen des CCJE zu stützen, war Anweisung des Ausschusses für rechtliche Zusammenarbeit: European Committee on Legal Co-operation (CDCJ) of the Council of Europe, CM(2005)78E, 13 May 2005, Appendix II, Rn. 3 e. Vgl. auch Heads of State and Government of the Member States of the Council of Europe, Action Plan adopted at the Third Summit (Warsaw, 16–17 May 2005), 17 May 2005, CM(2005)80 final, I. 3. 489 Letztere wurde unter maßgeblichem Einfluss von Richtervereinigungen erarbeitet und beansprucht völkerrechtlich keine Normativität, weshalb fraglich ist, warum ihr die neue Empfehlung eine solche Objektivität und Fundiertheit beimisst. Siehe auch Seibert-Fohr, Stellungnahme Seibert-Fohr zur „Draft Recommendation on Judges“, V. 490 Die alte Empfehlung beschränkte sich auf Art. 6 EMRK und die „UN Basic Principles on the Independence of the Judiciary“. 491 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Präambel: „Wishing to promote the independence of judges, which is (…) indispensable to judges’ impartiality“. Dieser Bewertung des Verhältnisses von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ist nicht zuzustimmen, vgl. B. I. 4. a).

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Spielraum lässt.492 Im Gegensatz zu der Empfehlung von 1994 wird zudem bereits in der Präambel das Phänomen der Richterräte thematisiert. Auch 1994 verfügten bereits einige Europaratsstaaten seit Jahrzehnten über Richterräte.493 Der Grund für die stärkere Schwerpunktsetzung auf Richterräten in der neuen Empfehlung ist sicherlich in der Handschrift der Richtergremien, die die Empfehlung beeinflusst haben, zu sehen, ebenso wie in der neuen Sichtbarkeit von Richterräten durch ihre Einführung ab Mitte der 1990er Jahre in vielen der östlichen Europaratstaaten.494 Dass die Empfehlung ihren Blick vor allem auf den ehemaligen und gegenwärtigen Transformationsstaaten Osteuropas hat, wird nicht nur an dieser Stelle deutlich, sondern auch in dem Passus in der neuen Präambel, dass die Staaten Maßnahmen ergreifen sollten, die die Umsetzung der Empfehlung nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch in der Politik und Praxis sichern sollen – ein virulentes Problem in Teilen der östlichen Europaratsstaaten.495 Eine wesentliche Neuerung mit Blick auf generelle Aspekte (Kapitel I) ist die Aussage, dass richterliche Unabhängigkeit in der Verfassung oder auf höchstmöglichem einfachgesetzlichem Rang geregelt werden solle, während die Vorgängerempfehlung noch von „constitutions or other legislation“ sprach.496 Die externe Unabhängigkeit (Kapitel II), die sich mit dem Verhältnis der Judikative zu den anderen beiden Gewalten sowie zu Medien und Gesellschaft befasst, macht deutlich, dass Außenwirkung und -wahrnehmung der Justiz und ihr transparentes Vorgehen äußerst wichtig sind, um Vertrauen der Gesellschaft in die Justiz („public confidence“) zu gewinnen bzw. aufrecht zu erhalten. Auch dies ist ein Erfordernis, das nicht nur, aber besonders augenfällig nach wie vor für die Probleme in den östlichen Europaratsstaaten gilt497 und in der oben analysierten Rechtsprechung des

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492 Siehe auch Seibert-Fohr, Stellungnahme Seibert-Fohr zur „Draft Recommendation on Judges“, III. 1. 493 Frankreich 1946, Italien 1958, Spanien, Portugal Mitte der 1970er: Garoupa/Ginsburg, Guarding the Guardians: Judicial Councils and Judicial Independence, in: The American Journal of Comparative Law, Vol. 57, Issue 1, 2009, S. 106 f. 494 Beispielhaft seien Armenien (1995), vgl. Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, B. I. 2., und die Ukraine (1998), vgl. Gesetz über den Hohen Justizrat, No. 22/98BP, 15.01.1998 (in der Fassung vom 11.03.2011), genannt. 495 Siehe hierzu die Staatenberichte aus östlichen Europaratsstaaten, die fast durchgängig das Problem des Auseinanderklaffens von Gesetzeslage und Praxis aufweisen, in: SeibertFohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition. Ein weiteres Bsp. sind die Ausführungen zu richterlichen Gehältern, die auf die Korruptionsproblematik in einigen der östlichen Europaratsstaaten hindeuten: Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 54. Die allgemeine Formulierung „inducements aimed at influencing their decisions“ wird hier unter der Zwischenüberschrift „Remuneration“ getroffen, so dass monetäre „inducements“ gemeint sein müssen. 496 Id., Rn. 7, im Vergleich zu Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation No. R (94) 12 of the Committee of Ministers to Member States on Independence, Efficiency and Role of Judges, 13 October 1994, abgedruckt in: Yearbook of the European Convention on Human Rights, Vol. 37, 1994, S. 453, Principle I., 2. a. 497 Siehe auch dazu die Staatenberichte in: Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition.

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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EGMR bereits eine tragende Rolle spielte. Um das öffentliche Vertrauen in die Gerichte zu steigern, regt die neue Empfehlung vor allem mehr Dialog mit der Gesellschaft und Transparenz an. Konkret empfiehlt das Ministerkomitee, permanente Feedback-Mechanismen auf Ebene eines Richterrats oder eines anderen unabhängigen Organs zu etablieren, um eine Rückmeldung aus der Gesellschaft über Richter und das Funktionieren des Justizsystems zu ermöglichen.498 Ebenfalls vom Gedanken der Transparenz getragen ist der Aufruf, dass Urteile begründet und öffentlich verkündet werden sollten.499 Im speziellen Kapitel zu Richterräten setzt sich der Ansatz nach mehr Transparenz fort: Diese solle durch „pre-established procedures“ und „reasoned decisions“ hergestellt werden.500 Mit der Wahrnehmung der Justiz in der Gesellschaft verbunden ist auch der neu aufgenommene Aspekt des Verhältnisses zwischen Justiz und Medien, für welches die neue Empfehlung eine Abwägung trifft, indem sie einerseits für die Einrichtung von Pressesprechern plädiert, andererseits zur Zurückhaltung der Richter selbst in ihren Beziehungen zu den Medien mahnt. Neben der Frage nach der Kommentierung von Urteilen durch die Legislative und die Exekutive, wurde außerdem neu eingefügt, dass abgesehen von Amnestie, Begnadigung oder ähnlichen Maßnahmen, Exekutive und Legislative richterliche Entscheidungen nicht für ungültig erklären können sollen – eine Problematik, die auch den EGMR mehrfach beschäftigt hat.501 Kapitel III beschreibt mit der internen Unabhängigkeit Gefahren, denen Richter innerhalb der Judikative ausgesetzt sein können. Neu und wiederum vor dem Hintergrund von Problemen in den östlichen Europaratsstaaten besonders aktuell und relevant, ist dabei die Hierarchie innerhalb der Justiz, die die Unabhängigkeit des individuellen Richters nicht untergraben solle sowie die Aufforderung, dass höhere Gerichte keine Instruktionen, wie ein bestimmter Fall zu entscheiden sei, an Richter der unteren Instanzen richten können sollten.502 Bei der Frage der Fallzuweisung als wesentlicher Aspekt der Unabhängigkeit innerhalb der Justiz, erweist sich die sonst mit Blick auf den mitgliedstaatlichen Spielraum eher eng gehaltene neue Empfehlung zunächst als weitergehend, und fordert lediglich objektive, vorher festgelegte Kriterien ein.503 Allerdings wird an anderer Stelle die Förderung von „electronic

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498 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 20. 499 Id., Rn. 15. 500 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 28. Dieselbe Forderung gilt für die Richterauswahl, wo auf Anfrage des (abgelehnten) Kandidaten die Gründe für die Entscheidung mitgeteilt werden sollten, Rn. 48. 501 Id., Rn. 17. Zur EGMR-Rechtsprechung siehe oben B. I. 3. c) cc). 502 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 22 f. 503 Id., Rn. 24. Die Vorgängerempfehlung hatte insofern vorzugswürdig konkrete Beispiele gegeben, wie ein Fallzuweisungsmechanismus aussehen könnte („drawing of lots“, „system for automatic distribution according to alphabetic order“ oder „some similar system“), ohne sich auf ein System festzulegen: Committee of Ministers of the Council of Europe,

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

case management“-Systemen empfohlen.504 Hier stört nicht nur die mangelnde Kohärenz, dieses wesentliche Thema an zwei Stellen einer Empfehlung mit unterschiedlichen Forderungen zu behandeln. Es kann auch in Zweifel gezogen werden, ob elektronische Systeme der Fallzuweisung in jedem Fall ein Fortschritt in Richtung größerer richterlicher Unabhängigkeit sind, da sie Expertenberichten zufolge nicht notwendigerweise gefeit sind gegen Manipulation und somit unter Umständen unter dem Deckmantel eines nach außen funktionierenden Systems, zu Verschiebungen von Fällen beitragen können.505 Neu ist ein ganzes Kapitel zu Richterräten (IV), das die Einflussnahme des CCJE spiegelt. Im Gegensatz zu einem Vorgängerentwurf,506 enthält die endgültige Empfehlung allerdings keine Aufforderung, Richterräte zu errichten, sondern sie formuliert für deren Zusammensetzung und Arbeitsweise Vorgaben für die Staaten, in denen Richterräte existieren, ohne dies allerdings explizit so restriktiv darzustellen. Richterräte sind nach der Empfehlung unabhängige Organe, die darauf ausgerichtet sind, die Unabhängigkeit der Justiz und des einzelnen Richters zu sichern und dadurch das effektive Funktionieren des Justizsystems zu fördern. Nicht weniger als die Hälfte der Mitglieder eines Richterrats sollten Richter sein, die durch ihre Kollegen bestimmt werden. Positiv zu bewerten ist der Zusatz, dass die Richter aus allen Instanzen kommen und die Justiz pluralistisch abbilden sollten. Gerade ersteres – eine Neuerung, die erst in die endgültige Version eingefügt wurde507 – erweist sich als wesentliche Empfehlung. Beobachtungen aus den östlichen Europaratsstaaten zufolge sind in Richterräten trotz der Tatsache, dass der Großteil der Fälle naturgemäß an den unteren Instanzen verhandelt wird, vorrangig Richter aus den höchsten Instanzen repräsentiert.508 Hingegen ist der Aufruf, Richterräte sollten

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Recommendation No. R (94) 12 of the Committee of Ministers to Member States on Independence, Efficiency and Role of Judges, Principle I., 2. e. 504 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 37. 505 Diese Gefahren wurden etwa aus dem Nicht-Europaratsmitglied Kasachstan auf einem Experten-Seminar der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Minerva Forschungsgruppe „Richterliche Unabhängigkeit“ des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zu „Judicial Independence in Eastern Europe, South Caucasus and Central Asia – Challenges, Reforms and Way Forward“, 23. – 25.06.2010 (im Folgenden Kiew-Konferenz) vorgebracht. Siehe auch Kachkeev, Judicial Independence in Kyrgyzstan and Kazakhstan: A Legislative Overview, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 1255 ff., Part II, V. Sie sind aber ebenso auf die Europaratsmitglieder Osteuropas und des Südkaukasus übertragbar: Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 1119 ff., B. V. 506 Bureau of the European Committee on Legal Co-operation (CDCJ-BU) of the Council of Europe, Draft Recommendation on Judges: Independence, Efficiency and Responsibilities, 22 January 2010, CDCJ-BU (2010) 2, Rn. 27. 507 Siehe die Stellungnahme an das Bundesjustizministerium, in der dies eingebracht wurde: Seibert-Fohr, Stellungnahme Seibert-Fohr zur „Draft Recommendation on Judges“, III. 2. 508 So in der Ukraine mit Blick auf den „Council of Judges“: Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine (liegt der OSZE vor), 2009, B. I. 2.

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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mindestens zur Hälfte aus Richtern zusammengesetzt sein, insofern kritisch zu sehen, als dass diese Formulierung auch Richterräte umfasst, die mehrheitlich oder ausschließlich aus Richtern zusammengesetzt sind. Gerade in den östlichen Europaratsstaaten hat sich herausgestellt, dass Richterräte, die mehrheitlich aus Richtern zusammengesetzt sind, erhebliche Probleme aufwerfen, wie etwa mangelnde Verantwortlichkeit des Organs selbst, welches dadurch zu einem neuen Machtapparat wird.509 Dies war auch im Verlauf der Vorarbeiten zu der neuen Empfehlung von Seiten der Experten in der „Group of Specialists on the Judiciary“510 so gesehen worden, die Zweifel an einer derartigen Empfehlung bezüglich der Zusammensetzung der Richterräte aus Gründen des Korporatismus („corporatism“) und der mangelnden Verantwortlichkeit („accountability“) äußerten.511 Neben der mangelnden Verantwortlichkeit des Organs selbst, kann eine solche Zusammensetzung auch Gefahren für die Verantwortlichkeit der Richter nach sich ziehen, da das Risiko besteht, dass sie durch dieses Organ nur unzureichend zu ihren Verpflichtungen angehalten werden.512 Eine derartige Zusammensetzung läuft daher Gefahr, die drei großen Ziele der neuen Empfehlung – Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortlichkeit – gerade zu konterkarieren. Statt der fast wörtlichen Übernahme des entsprechenden Passus aus der „European Charter“,513 wäre eine Empfehlung, dass ein Richterrat möglichst ausgewogen aus Richtern einerseits, andererseits aber auch aus Vertretern der Juristenschaft im weiteren Sinne (Anwälte, Vertreter der Rechtswissenschaft u. a.) sowie der Zivilgesellschaft und den anderen beiden Gewalten besetzt sein solle, wünschenswert gewesen. Während sich das Kapitel zu Richterräten mit diesen eher allgemein befasst, werden denselben an anderen Stellen der Empfehlung weitere Funktionen zugewiesen. So wird angeraten, sie im Rahmen der Vorbereitung des Justizhaushaltes zu konsultieren und im Rahmen der Auswahl und sonstigen Karriere von Richtern zum entscheidungsbefugten Organ zu machen.514

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Dazu näher und mit Nachweisen: C. II. 1. a) bb). Ein aus 15 Experten bestehender Unterausschuss des Europäischen Ausschusses für rechtliche Zusammenarbeit des Ministerkomitees, die von den Regierungen vorgeschlagen und von dem Generalsekretär des Europarats ernannt werden: Directorate General of Human Rights and Legal Affairs, Group of Specialists on the Judiciary (CJ-S-JUD) – Composition, 09 February 2009. 511 Group of Specialists on the Judiciary (CJ-S-JUD) of the Council of Europe, Meetings’ Reports of the CJ-S-JUST, 24.02.2009, CJ-S-JUD (2009) 8, 1st Meeting: 15–16 March 2007, Rn. 70 ff. 512 Siehe näher und mit Nachweisen unten C. II. 1. a). 513 Second Multilateral Meeting, European Charter on the Statute for Judges, 1998, DAJ/DOC (98) 23, 1.3; Group of Specialists on the Independence, Efficiency and Role of Judges (CJ-S-JUST) of the Council of Europe, Proposals for Updating Recommendation No R (94) 12 on the Independence, Efficiency and Role of Judges, 19 June 2007, CJ-S-JUST (2007) 3, DL 2. 514 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 40, 46. Zwar ist in dem Abschnitt über Auswahl und Karriere nicht mehr explizit von Richterräten die Rede; jedoch ist die Zusammensetzung der „authority (…) independent of the executive and legislative powers“, die die zentrale Rolle spielen soll, identisch mit derje509 510

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Ob Richterrat oder anderes unabhängiges Organ mit derselben Zusammensetzung – in beiden Fällen ist dies ein Aufruf zu justizieller Selbstverwaltung, der von einem Verständnis von einer Trennung der Gewalten zeugt. Ob es sinnvoll ist, ein solches Verständnis zu Grunde zu legen, ist mit Blick auf die Situation in verschiedenen Europaratsstaaten zu bezweifeln.515 Zwar berücksichtigt die Empfehlung andere Bestellungsmodelle durch Staatsoberhaupt, Regierung oder Legislative. Sie empfiehlt aber auch diesen Staaten die Einrichtung unabhängiger Organe, die sich zu einem „substantial part“ aus Richtern zusammensetzen sollten, um Empfehlungen an das für die Ernennung zuständige Organ zu richten.516 Diese Aufforderung geht unter dem Einfluss des CCJE in Richtung mehr justiziellen Einflusses auf die Richterbestellung und stärker in Richtung Selbstverwaltung als die Vorgängerempfehlung.517 Aber auch für Disziplinarverfahren gegen Richter wird die Einrichtung einer „independent authority“ angeraten.518 Wenngleich dies nicht näher spezifiziert wird, können hierunter auch Richterräte subsumiert werden, da diese an anderer Stelle der Empfehlung als unabhängige Organe bezeichnet werden. Danach wäre es von der Empfehlung gedeckt, dass Richterräte nicht nur hinsichtlich der gesamten Karriere von Richtern, sondern auch im Rahmen von Disziplinarverfahren eine maßgebliche Rolle spielen, was wiederum zu einer bedenklichen Kompetenzakkumulation führen kann. Zudem fallen bei einer Analyse der internen Systematik der Empfehlung unter den Begriff „independent authority“, wie sie für Disziplinarverfahren angeraten wird, mindestens zur Hälfte mit Richtern zusammengesetzte Organe.519 Dass dies in der Praxis gerade zu weniger Unabhängigkeit und mehr Ineffizienz führen kann,520 wurde nicht ausreichend berücksichtigt.

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nigen, die Richterräten nahegelegt wird („at least half of the members of the authority should be judges chosen by their peers“). 515 Siehe zu Italien, Ungarn und Rumänien die Staatenberichte in Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, und unter C. II. 1. a). Für Staaten wie Deutschland, die eine personelle demokratische Legitimation der Richterschaft vorsehen, ist dies erst recht problematisch: Seibert-Fohr, Stellungnahme Seibert-Fohr zur „Draft Recommendation on Judges“, III. 1. 516 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 47. Die Rechtsnatur der „Empfehlung“ bleibt allerdings aufgrund des unverbindlichen Charakters von „Empfehlungen“, denen in der Praxis jedoch gefolgt werden solle („recommendations or (…) opinions which the relevant appointing authority follows in practice“) unklar. Siehe den klareren Vorschlag bei Seibert-Fohr, Stellungnahme Seibert-Fohr zur „Draft Recommendation on Judges“, III. 1.: „(…) which the relevant authority shall consider and only reject by reasoned decision“. 517 Siehe Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation No. R (94) 12 of the Committee of Ministers to Member States on Independence, Efficiency and Role of Judges, Principle I., 2. c; Müller, Judicial Independence as a Council of Europe Standard, S. 475. 518 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 69. 519 Id., Rn. 47. 520 Vgl. exemplarisch: Parau, The Drive for Judicial Supremacy, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 619 ff., C. I.

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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Der Abschnitt über Unabhängigkeit, Effizienz und Ressourcen (V) demonstriert einmal mehr, dass der Effizienzgedanke („Delivery of quality decisions within a reasonable time following fair consideration of the issues“)521 in der neuen Empfehlung größeren Raum einnimmt als in der Vorgängerempfehlung. Hierunter fällt auch die Bewertung von Richtern,522 die im Lichte osteuropäischer Erfahrungen mit der Evaluation richterlicher Entscheidungstätigkeit durch Gerichtspräsidenten ein sensibles Thema darstellt. Die Empfehlung versucht hierzu, gewisse Garantien zu etablieren, wie eine solche Bewertung vorzunehmen sei, indem etwa die Einführung objektiver, zuvor veröffentlichter Kriterien und prozessualer Rechte für den betroffenen Richter, wie das Recht, gehört zu werden, sowie ein Beschwerderecht, empfohlen werden.523 Zugleich fehlt es aber an einer klaren Aussage dazu, dass eine solche Bewertung nicht ausschließlich oder überwiegend an der Aufhebung des Urteils durch eine höhere Instanz anknüpfen oder die Entscheidungsfindung als solche betreffen sollte. Dieser, gerade mit Blick auf die östlichen Europaratsstaaten wesentliche, Aspekt wird allerdings in einem späteren Kapitel zu Haftungsfragen berücksichtigt, indem es dort heißt, dass Richter nicht persönlich haftbar gemacht werden sollen, wenn ihre Entscheidungen in einer höheren Instanz aufgehoben oder abgeändert werden.524 Dies gilt wohl bei einer weiten Interpretation von Haftung auch für negative Evaluationen; eindeutig wäre dies jedoch durch eine Klarstellung im Rahmen der Ausführungen zu Evaluationen gewesen.525 Mit der Bestellung von Richtern befasst sich das Kapitel zum Status von Richtern (VI) und richtet diese stärker an Richterräten aus. Daneben werden Fragen der Amtszeit und Unabsetzbarkeit thematisiert. Trotz der Einschränkung „where such exists“, empfiehlt das Ministerkomitee eine Ernennung bis zu einem zwingenden Ruhestandsalter,526 während die Vorgängerempfehlung noch vage von einer garan-

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521 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 31. 522 Id., Rn. 39 ff. 523 Id., Rn. 58. 524 Id., Rn. 66–71. 525 Dies, zumal der EGMR diesen Anknüpfungspunkt bereits 2005 kritisch angemerkt hatte, vgl. EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 ff., und die Venedig-Kommission und die Parlamentarische Versammlung (PV) dies bei Nachforschungen vor Ort in Russland als bedenklich beobachtet und bereits vor der Verabschiedung der neuen Empfehlung in ihre neuen Entschließungen bzw. Berichte aufgenommen hatten: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states, 30 September 2009, Resolution 1685 (2009), 5.5.1.; Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically-motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states, 7 August 2009, Report Doc. 11993, 5.5.1. Unübersichtlich ist in der neuen Empfehlung auch die Systematik, die „assessment(s)“ an zwei Stellen (iRd Effizienz-Kapitels und iRd Status-Kapitels) thematisiert, statt sich mit dieser wesentlichen Frage einmal umfassend zu beschäftigen. 526 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 49.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

tierten Amtszeit bis zu einem „mandatory retirement age“ oder „expiry of their term of office“ gesprochen hatte.527 Neu aufgenommen wurde die Proberichterzeit, die die Empfehlung unter der Prämisse akzeptiert, dass die Bestätigung im Amt auf objektiven, leistungsorientierten Kriterien basiere.528 Erstmalig aufgenommen ist die Empfehlung, dass Richter grundsätzlich nicht ohne ihre Zustimmung versetzt werden können sollten – außer im Falle einer Disziplinarstrafe oder einer Reform der Justizorganisation,529 was einen größeren und begrüßenswerten Schutz vor Willkür darstellt. Die alte Empfehlung hatte, statt des Konsensprinzips, lediglich „valid reasons“ gefordert.530 Einen weiteren Aspekt des richterlichen Status bildet die Frage des Gehalts. Auch hier ist die neue Empfehlung umfang- und detailreicher und verlangt nicht nur ein angemessenes Verhältnis zwischen Gehalt und Beruf bzw. Verantwortung.531 Sie thematisiert indirekt auch die Problematik der Korruption, indem sie fordert, dass die Höhe des Gehalts so ausgestaltet sein müsse, dass Richter von Anreizen frei gehalten werden. Fraglich ist jedoch, ob sich unter diesen wichtigen Gesichtspunkt auch Bonussysteme oder nicht-monetäre Leistungen subsumieren lassen, wie sie als Sowjeterbe in einigen östlichen Europaratsstaaten fortdauern, wo richterliche Gehälter, je nach Höhe des Bonus, aufgebessert oder Wohnungen oder die Benutzung öffentlicher Transportmittel auf Kosten des Staates zur Verfügung gestellt werden.532 Diese Leistungen sind jedenfalls offiziell nicht „inducements aimed at influencing their decisions“ im Sinne der Empfehlung, da durch das „aimed at“ eine Intention gefordert wird, die den staatlichen Bonussystemen zumindest offiziell fehlt; es geht eher um faktische Abhängigkeiten und indirekte Einflussnahme, wenn das Gehalt nur mit Hilfe von Bonussen oder einer mietkostenfreien Wohnung noch ausreichend ist. Hier wäre der Zusatz wünschenswert gewesen, dass das richterliche Gehalt als solches ausreichend sein muss, um als Versorgungsgrundlage zu genügen und staatliche Subventionssysteme wie etwa Bonussysteme zu vermeiden sind. Dies umso mehr, als dass die Venedig-

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527 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation No. R (94) 12 of the Committee of Ministers to Member States on Independence, Efficiency and Role of Judges, Principle I. 3. 528 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 51. 529 Id., Rn. 52. 530 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation No. R (94) 12 of the Committee of Ministers to Member States on Independence, Efficiency and Role of Judges, Principle VI. 2. 531 So die alte Empfehlung: Id., Principle III. 1. b. 532 Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. IV. 2.; European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Comments on European Standards as Regards the Independence of the Judicial System: Judges by Ms Angelika Nussberger (Substitute Member, Germany), 5 December 2008, CDL-JD(2008)006; European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Comments on European Standards as Regards the Independence of the Judicial System: Judges by Mr Valery D. Zorkin (Member, Russian Federation), 10 December 2008, CDL-JD(2008)008.

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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Kommission und die Parlamentarische Versammlung (PV) diesen Aspekt bereits vor November 2010 aufgenommen hatten. Positiv hervorzuheben ist, dass moderne Aspekte, wie Bezahlung bei krankheitsbedingten Ausfall, Mutterschutz und Vaterschaftsurlaub, erstmals Teil der Empfehlung sind, ebenso wie die essentielle Garantie einer angemessenen Rente.533 Ein neuer und wichtiger Gesichtspunkt für die Sicherung einer unabhängigen und allein am Gesetz orientierten Entscheidungsfindung ist außerdem die Empfehlung, die Kernbezahlung nicht von der Dienstausübung („performance“) abhängig zu machen534 – eine Problematik, die in der Diskussion um die Evaluationen von Richtern in den östlichen Europaratsstaaten im zweiten Teil der Arbeit noch relevant werden wird. Mit dem Unterkapitel „Training“, das das Status-Kapitel abrundet, wird ein stärkerer Schwerpunkt auf Schulungen für Richter gelegt als dies bislang der Fall war.535 Das Kapitel zu richterlichen Pflichten und Verantwortung (VII) unterscheidet bei der Haftung von Richtern erstmalig zwischen der Ausübung richterlicher Tätigkeiten und dem Richter als Privatperson – eine Differenzierung, die die Vorgängerempfehlung in dieser Klarheit nicht vornahm und klärt damit nunmehr auch Fragen der Immunität:536 Als Privatperson haftet ein Richter ausdrücklich ebenso wie jeder andere Bürger, in dem Bereich der Amtsausübung nimmt die neue Empfehlung den Kernbereich richterlicher Entscheidungsfindung (Bewertung der Tatsachen, rechtliche Würdigung einschließlich der Interpretation der Gesetze und Gewichtung von Beweisen) grundsätzlich von Disziplinarmaßnahmen oder zivil- oder strafrechtlicher Haftung aus und stärkt dadurch die richterliche Unabhängigkeit. Eine zivilrechtliche Haftung ist lediglich gegenüber dem Staat für den Fall vorgesehen, dass letzterer gegen den Richter im Wege von Regressforderungen aus Amtshaftung vorgehen kann. Disziplinarmaßnahmen und zivile Haftung sind weiterhin auf Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit beschränkt, eine strafrechtliche Haftung greift nur bei Vorsatz ein. Wesentlich und neu in der Empfehlung von November 2010 ist außerdem die Feststellung, dass Richter nicht persönlich haftbar gemacht werden sollen, wenn ihre Entscheidungen in einer höheren Instanz aufgehoben oder abgeändert

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533 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 54. 534 Id., Rn. 55. 535 In der Empfehlung von 1994 waren Trainingsaspekte nur als Teil der „Proper working conditions“ enthalten gewesen. Vgl. Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation No. R (94) 12 of the Committee of Ministers to Member States on Independence, Efficiency and Role of Judges, Principle III. 1. a). Zudem heißt es nunmehr explizit, dass der Staat solche Maßnahmen bezahlen solle: Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn 56 f. 536 Die Vorgängerempfehlung zeigte allenfalls indirekt („judges fail to carry out their duties (…)“), dass es sich nur um dienstliche und nicht private Tätigkeiten handelte: Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation No. R (94) 12 of the Committee of Ministers to Member States on Independence, Efficiency and Role of Judges, Principle VI., 1; siehe auch Müller, Judicial Independence as a Council of Europe Standard, S. 476 f.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

werden537 – eine Garantie, die in einer zukünftigen Empfehlung auch für die Bewertung von Richtern aufgenommen werden sollte. Neu ist zudem das Kapitel über richterliche Ethik (VIII) – eine Thematik, die in der Vorgängerempfehlung noch unberücksichtigt blieb und zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.538 Auch dieser Aspekt ist ausdrücklich vor dem Hintergrund der Bestrebungen um eine Steigerung des öffentlichen Vertrauens in die Justiz zu sehen,539 welcher die neue Empfehlung geprägt hat. Insgesamt legt die neue Empfehlung damit ein größeres Gewicht auf Parameter, die die richterliche Unabhängigkeit umgeben, wie Effizienz540 und Transparenz, oder neben der Unabhängigkeit ein gewichtiges Charakteristikum einer rechtsstaatlichen Justiz darstellen, wie die Unparteilichkeit. Diese drei Aspekte – Effizienz, Transparenz und Unparteilichkeit – stehen im Lichte der Bestrebung des Ministerkomitees, das öffentliche Vertrauen in die Gerichte zu stärken bzw. herzustellen und gehen damit Hand in Hand mit der Überzeugung des EGMR, dass das öffentliche Vertrauen der Gesellschaft in die Justiz ein maßgeblicher Pfeiler für funktionierende Rechtsstaaten und Demokratien ist.541 Insgesamt ist damit augenfällig, dass die Empfehlung von 2010 Garantien stärker beleuchtet, die zusätzlich notwendig sind für eine funktionsfähige Justiz – neben den genannten drei Aspekten auch die richterliche Ethik und das Verhältnis zwischen Justiz und Medien. Die größere Regelungsdichte, die die neue Empfehlung aufweist, wird allerdings dort problematisch, wo zu pauschal Modelle beschrieben werden, ohne die in der Präambel hervorgehobene Diversität zu respektieren und damit tragfähige Modelle für alle 47 Europaratsstaaten anzubieten. Dies zeigt sich insbesondere bei der Empfehlung zu justizieller Selbstverwaltung, die die Empfehlung als roter Faden durchzieht. Dabei werden die offenkundigen negativen Folgen in Staaten, die auf Selbst-

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537 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 66–71. Auch dies ist ein wesentlicher Aspekt mit Blick auf die Transformationsstaaten, siehe unten C. II. 2. 538 Sämtliche östliche Europaratsstaaten haben in den 2000er Jahren Ethikkodizes eingeführt, vgl. nur die vier in dieser Dissertation im Mittelpunkt stehenden Staaten (Ukraine 2002, Russland 2004, Georgien 2007 und Moldawien 2008). Näheres dazu in den Staatenberichten in Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition. Dafür, dass gerade bei Fortbildungen in Richterethik externe (internationale) Akteure wie die American Bar Association (ABA) oder die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH beteiligt sind: Report on the Independence of the Judiciary in Georgia (liegt der OSZE vor), 2009, D. 539 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 72–74. 540 Effizienz war zwar auch Teil des Titels der Vorgängerempfehlung, dort aber kaum inhaltlich weiter ausgeformt. Dass dieses Prinzip an Bedeutung zugenommen hat, belegt auch die Einrichtung der CEPEJ 2002 durch den Europarat: (zuletzt besucht am 19.03.2012). 541 Siehe in diesem Sinne bereits die Funktionsbestimmung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK unter B. I. 1. b).

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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verwaltung gesetzt hatten, nicht nur nicht berücksichtigt. Auch mit Blick auf Staaten, denen ein solches System bislang fremd ist, wird der Spielraum eingeengt und zeigt die Empfehlung, dass sie, entgegen ihrem Bekenntnis, gerade weniger offen ist für Diversität. Die auffälligste Neuerung ist dabei die explizite Berufung auf Richterräte, wie sie in den östlichen Europaratsstaaten in den letzten Jahrzehnten vermehrt eingeführt wurden542 und denen an vielen Stellen Kompetenzen übertragen und eine problematische Besetzung empfohlen wird. Andere Modelle, etwa jene gewachsener Justizverwaltungsstrukturen wie der deutschen, die sich durch eine besonders ausgeprägte Zuständigkeit der Exekutive auszeichnen, welche sich jedoch grundsätzlich nicht negativ auf die Unabhängigkeit der Richter auswirkt, werden dagegen kaum berücksichtigt.543 Da überzeugt auch nicht, dass es in dem Memorandum zu der Empfehlung als eine Notwendigkeit betrachtet wird, die Richterräte vor korporativem Einfluss zu schützen, wenn sie gleichzeitig mehrheitlich mit Richtern besetzt sein sollen. Ein solcher Widerspruch zwischen dem deklarierten Ziel (Korporatismus zu vermeiden) und dem Mittel („at least half of the members should be judges chosen by their peers“), zeigt sich auch mit Blick auf die Forderung nach mehr Effizienz. Während Letztere an sich zu mehr Vertrauen in die Justiz beitragen kann, so trägt gerade die Empfehlung nach einer „independent authority“, die für die Durchführung der Disziplinarverfahren zuständig sein soll,544 die Gefahr in sich, dass dies bei systematischer Auslegung ein Organ meint, das mindestens zur Hälfte aus Richtern zusammengesetzt ist.545 Gerade ein solches Modell hat sich jedoch in der Praxis als abträglich für die Effizienz (und damit auch für das Vertrauen in die Justiz) erwiesen, da gerade einer Richtermehrheit die Gefahr inne wohnt, das Drängen auf richterliche Verantwortlichkeit bis hin zu möglichen Disziplinarverfahren gegen ihre Kollegen zu vernachlässigen.546 Insgesamt lässt sich kritisch beobachten, dass die Empfehlung – getrieben von einer starren Auffassung von Gewaltenteilung – verstärkt zu einem Verständnis von richterlicher

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542 In der Vorgängerempfehlung war lediglich die Rede von „independent and competent body“ oder „authority“: Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation No. R (94) 12 of the Committee of Ministers to Member States on Independence, Efficiency and Role of Judges, Principle I, 2. c. 543 So auch Seibert-Fohr, Stellungnahme Seibert-Fohr zur „Draft Recommendation on Judges“, III. 1., und zum deutschen Modell: Seibert-Fohr, Judicial Independence in Germany. 544 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 69. 545 Id., Rn. 26, 27 und 46. 546 Seibert-Fohr, Stellungnahme Seibert-Fohr zur „Draft Recommendation on Judges“, III. 2; Parau, The Drive for Judicial Supremacy, C. I.; Fleck, Judicial Independence in Hungary, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 793 ff., B. I. 2., F.; Coman/Dallara, Judicial Independence in Romania, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 835 ff., B. I. 2., F.; Commission of the European Communities, Report from the Commission to the European Parliament and the Council: On Progress in Romania under the Co-operation and Verification Mechanism, Technical Update, 2010, COM (2010) 401 final, S. 7, 8.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

Unabhängigkeit beiträgt, nach welchem vor allem die Isolation von Kompetenzen rund um die Justiz in den Händen einer „independent authority“ für mehr Unabhängigkeit sorgen soll.547 Als eine der Ursachen hierfür wurde der von Anfang an bestehende Einfluss von reinen Richtergremien auf europäischer Ebene, wie dem CCJE, auf die Vorarbeiten ausgemacht. Weiterhin enthält die neue Empfehlung zwar ein ganzes Kapitel zu „Duties and responsibilities“ und mit dem grundsätzlichen Ausschluss der disziplinarischen sowie zivil- und strafrechtlichen Haftung für den Kernbereich richterlicher Entscheidungsfindung eine wesentliche Sicherung. Allerdings ist sie dort zu zurückhaltend, wo eine disziplinarische Ahndung für ein funktionsfähiges Justizsystem erforderlich wäre, da sie lediglich von „Disciplinary proceedings may follow“ spricht,548 anstelle des Wortlauts der Vorgängerempfehlung „where judges fail to carry out their duties (…), all necessary measures (…) should be taken“.549 Im Übrigen war der Vorgängerwortlaut insofern vorzugswürdig als dass hier eine Referenz zu dem spezifischen verfassungsrechtlichen Rahmen und zu Traditionen des einzelnen Staates hergestellt wurde,550 welcher in der neuen Empfehlung vom November 2010 fehlt.551 Auch wäre mit Blick auf die östlichen Europaratsstaaten ein ausdrücklicher Verweis auf ein transparentes Disziplinarverfahren wesentlich gewesen, wo mangelnde Transparenz dazu führt, dass Disziplinarverfahren zu missbrauchten Instrumenten werden.552 Vor dem Hintergrund, dass die neue Empfehlung das Ziel verfolgt, Entwicklungen zwischen 1994 und 2010 gerecht zu werden, wäre es zudem wünschenswert und aktuell gewesen, wenn nicht nur das Verhältnis Unabhängigkeit – Effizienz beleuchtet worden wäre, sondern auch das Verhältnis Unabhängigkeit – richterliche Verantwortlichkeit („accountability“).553

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547 So auch Seibert-Fohr, Judicial Independence – The Normativity of an Evolving Transnational Principle, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 1279 ff., IV. 3. 548 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 69 (Hervorhebung durch die Verf.). 549 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation No. R (94) 12 of the Committee of Ministers to Member States on Independence, Efficiency and Role of Judges, Principle VI, 1 (Hervorhebung durch die Verf.). 550 „Depending on the constitutional principles and the legal provisions and traditions of each state (…)“, Id., Principle VI. 1. 551 Ein diesbezüglicher Verbesserungsvorschlag an das Bundesjustizministerium wurde nicht berücksichtigt. Siehe Seibert-Fohr, Stellungnahme Seibert-Fohr zur „Draft Recommendation on Judges“, IV. 552 Siehe exemplarisch: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII. 5.; Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, F. 553 So auch Seibert-Fohr, Stellungnahme Seibert-Fohr zur „Draft Recommendation on Judges“, IV; näheres dazu unter C. II. 2.

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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2. Parlamentarische Versammlung a) Überblick über Struktur und Instrumente Obwohl die PV zweifelsohne einflussreich ist in ihrer Rolle als „Spenderin von Anregungen“,554 agiert sie als quasi-parlamentarisches Gremium mit lediglich beratender Funktion im Schatten des Ministerkomitees.555 Trotz der häufig anzutreffenden Bezeichnung als „Motor des Europarats“,556 ist die 1949 als eine das Ministerkomitee „Beratende Versammlung“ geschaffene, 1974 einseitig in „Parlamentarische Versammlung“ umbenannte Institution,557 nach wie vor von untergeordneter Bedeutung und verfügt nicht über traditionelle Kompetenzen eines Parlaments: es fehlt ihr – bis auf eine Stellungnahme zum Gesamthaushalt – an einer Haushaltsbefugnis,558 an der Möglichkeit, die Exekutive ihres Amtes zu entheben,559 und verbindlich Recht zu setzen.560 Aus Mitgliedern der 47 nationalen Parlamente zusammengesetzt,561 die die politische Zusammensetzung der nationalen Parlamente widerspiegeln,562 kommt sie

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554 Im Vergleich zu den Lenkungsausschüssen des Ministerkomitees verfügt sie über größere Freiheiten, neue Themen auf die Agenda zu setzen und dadurch zu der Gestaltung der Politik des Europarats beizutragen: Stegen, Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung als Motor des Europarats, S. 79 ff.; Tarschys, Wandel in Mittel- und Osteuropa und die Stellung des Europarates, 1996, S. 5; Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, 2000, S. 164. 555 Grote, Kapitel 1: Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der EMRK, Rn. 12; Bauer, Der Europarat nach der Zeitenwende 1989–1999, Zur Rolle Straßburgs im gesamteuropäischen Integrationsprozeß, 2001, S. 19 ff.; Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, S. 163 ff. 556 Stegen, Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung als Motor des Europarats, S. 79 ff.; Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, S. 164. 557 Die Bezeichnung „Beratende Versammlung“ erfolgte mangels Konsens für eine stärkere parlamentarische Komponente: Bauer, Der Europarat nach der Zeitenwende 1989–1999, Zur Rolle Straßburgs im gesamteuropäischen Integrationsprozeß, S. 16. Die Umbenennung wurde erst Mitte der 1990er Jahre durch das Ministerkomitee anerkannt: Klebes, Die Rechtsstruktur des Europarats und insbesondere der Parlamentarischen Versammlung, 1996, S. 18 f. Das Statut wurde jedoch bis heute nicht geändert, vgl. Council of Europe, Statute of the Council of Europe, Chapter V. 558 Stegen, Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung als Motor des Europarats, S. 87; Klebes, Die Rechtsstruktur des Europarats und insbesondere der Parlamentarischen Versammlung, S. 19 f. 559 Klebes, Die Rechtsstruktur des Europarats und insbesondere der Parlamentarischen Versammlung, S. 19. 560 Als „beratendes Innenorgan“ (so Bauer, Der Europarat nach der Zeitenwende 1989– 1999, Zur Rolle Straßburgs im gesamteuropäischen Integrationsprozeß, S. 23) leistet sie politische Beiträge, die rechtlich nur Verbindlichkeit erlangen, wenn sie das Ministerkomitee nach Empfehlung durch die PV in die Form etwa einer Konvention gießt. De Vel/Markert, Importance and Weaknesses of the Council of Europe Conventions and of the Recommendations addressed by the Committee of Ministers to Member States, S. 345. 561 Die Anzahl der Mitglieder pro Staat hängt von der jeweiligen Bevölkerungsgröße ab: Stegen, Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung als Motor des Europarats, S. 79, 82.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

pro Jahr zu vier einwöchigen Sitzungsperioden in Straßburg zusammen. Daneben beraten zehn Ausschüsse in regelmäßiger Zusammenkunft563 sowie ein Büro, welches den Präsidenten der PV, die 20 Vizepräsidenten, die Vorsitzenden der fünf politischen Gruppierungen in der PV und die Vorsitzenden der Ausschüsse umfasst.564 Zu ihren Einflussbereichen zählt insbesondere die Entscheidung um die Aufnahme neuer Staaten – ein Prozess der sich heute vor allem in Form von Monitoringkompetenzen fortsetzt.565 Einfluss hat die PV außerdem über die Wahl zentraler Entscheidungsträger des Europarats, so der Richter am EGMR, des Menschenrechtskommissars und des Generalsekretärs des Europarats sowie seines Stellvertreters und die Wahl des eigenen Generalsekretärs. Daneben kann sie Initiativen für neue Konventionen an das Ministerkomitee herantragen und Stellungnahmen zu den späteren Konventionsentwürfen des Ministerkomitees abgeben.566 Zur Erfüllung dieser Aufgaben bedient sich die PV Empfehlungen, Entschließungen sowie Stellungnahmen und Entwürfen für Verträge.567 b) Entschließung 1685 (2009) Aufschluss über das Verständnis der PV von richterlicher Unabhängigkeit gibt die Entschließung 1685 (2009) zu Behauptungen über den politisch motivierten

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Derzeit besteht die PV aus 318 Abgeordneten plus einer gleichen Anzahl von Stellvertretern, also insgesamt 636 Abgeordneten plus 18 Beobachtern (aus Kanada, Israel und Mexiko). Die Anzahl der Abgeordneten pro Staat variiert zwischen zwei (Andorra, Liechtenstein, Monaco, San Marino) und 18 Vertretern (Frankreich, Deutschland, Italien, Vereinigtes Königreich und Russland). 562 Zu aktuellen Daten siehe (zuletzt aufgerufen am 28.03.2012). 563 Stegen, Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung als Motor des Europarats, S. 83. 564 Vgl. (zuletzt aufgerufen am 29.03.2012). 565 Das Monitoring ist eine zentrale Funktion der PV, mit der insbesondere die Umsetzung der vor dem Beitritt eingegangenen Selbstverpflichtungen der östlichen Europaratsstaaten gewährleistet werden soll. Die Selbstverpflichtungen sind politisch bindend, ihre völkerrechtliche Verbindlichkeit ist indes umstritten: unentschlossen Klebes, Die Rechtsstruktur des Europarats und insbesondere der Parlamentarischen Versammlung, S. 27, ablehnend Stegen, Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung als Motor des Europarats, S. 84. Der PV stehen allerdings verschiedene Sanktionsmechanismen zu, wie die Entziehung der Berechtigung der nationalen Delegation oder, als ultima ratio, Suspension der Mitgliedschaft des betreffenden Staates im Europarat. Siehe für Beispiele für diese „harten Sanktionen“: BenoîtRohmer/Klebes, Council of Europe law, Towards a pan-European legal area, 2005, S. 40 ff. Regelmäßig funktionieren jedoch weichere Mechanismen, vgl. Steenbrecker, Politisches Monitoring im Europarat, in: U. Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, 2000, S. 177. 566 Stegen, Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung als Motor des Europarats, S. 79 ff.; Bauer, Der Europarat nach der Zeitenwende 1989–1999, Zur Rolle Straßburgs im gesamteuropäischen Integrationsprozeß, S. 24 f. 567 Vgl. (zuletzt aufgerufen am 29.03.2012).

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Missbrauch von Strafrechtssystemen in Europaratsstaaten.568 Hintergrund war ein Bericht von 2008 über Ermittlungen von Straftaten, die hohe Amtswalter in der Ukraine während des Kutschma-Regimes begangen haben sollen, darunter die versäumte Aufklärung des Falles des ermordeten Journalisten Gongadze.569 Der Vorsitzende des Rechts- und Menschenrechtsausschusses der PV bat daraufhin die Venedig-Kommission um Auskunft über bereits existierende Standards richterlicher Unabhängigkeit und um die Identifikation von Bereichen, für die neue Standards entwickelt werden müssten,570 dem die Venedig-Kommission mit einem systematischen Überblick über „Europäische Standards“ zur Unabhängigkeit der Justiz nachkam. Diesen stützte sie, neben der Empfehlung des Ministerkomitees von 1994, vor allem auf „Opinion No. 1“ des CCJE und die „European Charter“ – eine problematische Vorgehensweise, wie mit Blick auf die neue Empfehlung des Ministerkomitees bereits dargelegt wurde.571 Insofern verwundert es nicht, dass die spätere Entschließung 1685 (2009) der PV vielerlei Punkte aufweist, die auf die Zusammenfassung „Europäischer Standards“ durch die Venedig-Kommission zurückgehen und damit in vielen Teilen einheitlich sind mit denjenigen der Venedig-Kommission, des Ministerkomitees sowie Richtervereinigungen auf Ebene des Europarats. Daneben führte der Ausschuss selbst Fact-finding-Besuche in vier Staaten exemplarisch für vier verschiedene Systeme durch, so im Vereinigten Königreich, in Frankreich, Deutschland und Russland. Aus dem Bericht der Venedig-Kommission hat die PV in ihre Entschließung insbesondere die leistungsorientierte Bestellung und Beförderung von Richtern auf der Basis von Qualifikationen, Integrität, Befähigung und Effizienz, effektiven Schutz vor ungerechten Disziplinarverfahren und vor Entlassung aus dem Dienst, sowie den Schutz der internen Unabhängigkeit, mithin gegenüber Gerichtspräsidenten und Richtern höherer Gerichte, übernommen. Letzteres illustriert die PV auch in ihrem länderspezifischen Teil, wo sie in Bezug auf Russland feststellt, dass Gerichtspräsi-

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568 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states. 569 Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Investigation of crimes allegedly committed by high officials during the Kuchma rule in Ukraine – the Gongadze case as an emblematic example, 11 July 2008, Doc. 11686. 570 Diese Anfrage unterliegt einem restriktiven Zugriff. Dafür dass eine solche Anfrage erfolgt ist, siehe European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Meeting of the Sub-Commission on the Judiciary, 6 October 2008, CDL-JD-OJ (2008) 001ann; European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Meeting of the Sub-Commission on the Judiciary, 24 October 2008, CDL-JD-PV (2008) 001. 571 Wenngleich letztere immerhin feststellt: „One may, however, regret that the more detailed standards were prepared by bodies composed of judges and were not approved at the intergovernemental level“: Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venice Commission), European Standards on the Independence of the Judiciary, A Systematic Overview, 3 October 2008, CDL-JD(2008)002, III. Gleichzeitig bezeichnet sie diese aber als „existing standards“ und zieht sie als solche heran: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Meeting of the Sub-Commission on the Judiciary, Rn. 2.

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denten aufgrund der Zuständigkeit für die Fallzuweisung überdurchschnittlich viel Macht hätten. Um dem entgegenzuwirken, fordert die PV ein vorher festgelegtes, objektives System für die Fallzuweisung und strikte Regeln.572 Auch die PV wirbt, von Venedig-Kommission, CCJE und „European Charter“ beeinflusst, für mehr Selbstverwaltung der Justiz für alle Europaratsstaaten und weist Richterräten eine wesentliche Rolle und starke Kompetenzen, angefangen von der Richterbestellung und -beförderung bis hin zu Disziplinarverfahren, zu.573 Gemäßigter als die Venedig-Kommission ist die PV allerdings mit Blick auf die Zusammensetzung eines solchen Richterrates: zwar solle zumindest die Hälfte mit Richtern und StA besetzt sein,574 die andere Hälfte aber weitere Teile der Gesellschaft repräsentieren und durch politische Organe bestimmt werden.575 Zwar hält die PV auch die Einbeziehung parlamentarischer Gremien in die Bestellung von Richtern zu einigen höheren Positionen für akzeptabel, plädiert im Übrigen aber für Selbstverwaltung der Justiz für alle Europaratsstaaten.576 Mit Blick auf die vier verschiedenen Strafrechtsysteme, die die PV exemplarisch für europäische Systeme untersucht hat, wird dieses Werben noch verstärkt: Nicht nur wird die Einrichtung eines Richterrates in Russland auf Föderationsebene mit Zuständigkeit für die richterliche Karriere und Disziplinarverfahren (gemeint ist wohl das Qualifikationskollegium auf Föderationsebene)577 positiv hervorgehoben und als Zeichen der Berücksichtigung „Europäi-

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572 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states, Rn. 3.1.; ähnlich schon Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, State of human rights and democracy in Europe, 28 March 2007, Report Doc. 11202, Explanatory Memorandum, Rn. 51. 573 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states, 3.3.1., 5.5.1.; Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, 3.3.1., 5.5.1.; siehe schon (wenngleich mehr berichtend als bewertend): Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, State of human rights and democracy in Europe, Explanatory Memorandum, Rn. 50. 574 Die Empfehlung, Richterräte mit Vertretern aus der StA zu besetzen, sollte allerdings zumindest mit Blick auf die ehemaligen Sowjetrepubliken im Europarat mit Vorsicht genossen werden. Siehe näher dazu die Einleitung zu C. II. 575 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states, 3.3.2.; Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, 3.3.2. Diese gemäßigte Haltung in Bezug auf die Zusammensetzung wird auch in Bezug auf Frankreich deutlich: Die Richtermehrheit solle wieder hergestellt werden, oder es solle sicher gestellt werden, dass unter den Mitgliedern, die durch politische Organe bestimmt würden, auch Oppositionsmitglieder seien, 5.3.4. 576 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states, 3.3.2., 5.5.1.; Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, 3.3.2., 5.5.1. 577 Siehe näher zum russischen System: C. II. 1.; die Qualifikationskollegien entsprechen funktional den Richterräten in anderen Staaten, während die russischen Richterräte (auf Föde-

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scher Standards“ gewertet.578 Auch für Deutschland werden Richterräte gefordert, wobei die Bandbreite der Schärfe der Forderung von „to consider setting up a system of self-administration“,579 über die implizit-negative Feststellung „the French Conseil supérieur de la magistrature, (…), still does not have an equivalent in Germany“580, bis hin zu dem ausdrücklichen Aufruf „(…) the Committee calls for (…) in Germany, the setting-up of judicial councils – which exist in most other European countries“ reicht.581 Zwar wird in dem erklärenden Memorandum deutlich, dass die Gefahren einer „closed shop Mentalität“, des Korporatismus und des Verlustes demokratischer Verantwortlichkeit durch justizielle Selbstverwaltung gesehen wurden, man diesen aber über die Zusammensetzung des Richterrates mit Vertretern aller Gesellschaftszweige entgegenwirken wollte. Jedoch wird weder klar, wie pluralistisch ein Richterrat im Sinne der PV sein darf, um dem Ruf nach Selbstverwaltung zu entsprechen, noch überzeugen die Argumente, die für eine Einführung eines Richterrates in Deutschland angeführt werden.582 In einigen Punkten ist die PV in ihrer Entschließung jedoch positiv über die Vorarbeiten der Venedig-Kommission hinausgegangen und hat z. B. die Garantie aufgenommen, dass ein richterliches Gehalt für sich genommen ausreichen muss, ohne dass ein Richter und seine Familie von der Bereitstellung von Wohnraum und weiteren, durch die Exekutive gewährten Vorzügen abhänge – eine vor allem mit Blick auf Osteuropa grundlegende Aussage.583 Wesentlich und neu ist auch der Aspekt,

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rationsebene und auf Ebene der Subjekte) nur eine marginale Rolle spielen. Für die Vermutung, dass hier Qualifikationskollegien gemeint sind, siehe auch den Bericht des vorbereitenden Ausschusses: Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Rn. 78. 578 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states, 4.3.2. 579 Id., 5.4.1. 580 Id., 4.2.4.; Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, 4.2.4. 581 Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Summary. 582 Siehe Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, State of human rights and democracy in Europe, Explanatory Memorandum, Rn. 56 f.: Dass es sich um einen „Europäischen Standard“ handele, ist ebenso anzuzweifeln, wie die Beförderung eines solchen überhaupt und für Systeme, die auf andere Weise gut funktionieren. Das Argument eines möglichen drastischen Machtwechsels, der Vorkehrungen erfordere, falls die Justizverwaltung nochmals in unsichere Hände falle, erscheint wenig naheliegend. Die Forderung nach Selbstverwaltung für die deutsche Justiz, weil man diese sonst nicht den „new democracies“ empfehlen könne, ohne sich dem Vorwurf der doppelten Standards auszusetzen, ist ebenfalls nicht überzeugend. Reformvorschläge sollten im Optimalfall kontextbezogen gemacht werden, mithin nicht die Frage tangieren, ob der ratgebende Staat dasselbe System aufweist. 583 In den Kommentaren zu dem Überblick der Venedig-Kommission wurde dieses Problem allerdings gestreift: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Comments on European Standards as Regards the Independence of the Judicial

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dass die Evaluation von Richtern nicht auf die Frage abstellen dürfe, ob Urteile von den höheren Instanzen aufgehoben oder aufrecht erhalten würden584 – ein gravierendes Problem in den östlichen Europaratsstaaten, das in Teil C. noch einen größeren Raum einnehmen wird. Auch die PV sieht in Evaluationen von Richtern, ebenso wie in Disziplinarverfahren in Russland, exemplarisch für die postsowjetischen Staaten Moldawien, Ukraine sowie des Kaukasus eine Methode, um Druck auszuüben.585 Begrüßenswerter Weise stellt die PV auch die eigentliche Hürde bei der Herausbildung einer unabhängigen Justiz in den östlichen und insbesondere den postsowjetischen Europaratsstaaten heraus: den mangelnden Geist bzw. die mangelnde Mentalität richterlicher Unabhängigkeit („spirit of independence“).586 Die PV empfiehlt deshalb, kritische Analysefähigkeiten in der juristischen Ausbildung im Allgemeinen und in der anfänglichen und berufsbegleitenden Aus- und Weiterbildung von Richtern zu fördern sowie jeden Versuch, Weisungen an Richter zu erteilen und Weisungen zu erlangen, hart zu bestrafen.587

3. Venedig-Kommission a) Überblick über Funktion und Arbeitsweise 1990 mit dem Ziel gegründet, die osteuropäischen Staaten bei dem Systemwechsel hin zu demokratischen Rechtsstaaten zu unterstützen und sie so zugleich auf die Mitgliedschaft im Europarat vorzubereiten,588 ist die Kommission für Demokratie

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System: Judges by Ms Angelika Nussberger (Substitute Member, Germany); European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Comments on European Standards as Regards the Independence of the Judicial System: Judges by Mr Valery D. Zorkin (Member, Russian Federation) und in dem Überblick selbst: Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venice Commission), European Standards on the Independence of the Judiciary, A Systematic Overview, II. 584 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states, 3.1.4, 5.5.1. 585 Id., 4.3.6. Dafür dass die PV Russland nur als Beispiel für diese Region heranzieht, siehe Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Explanatory Memorandum, Rn. 64. 586 Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, 5.5.4. Und weniger explizit auch bei Zorkin: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Comments on European Standards as Regards the Independence of the Judicial System: Judges by Mr Valery D. Zorkin (Member, Russian Federation), General Considerations. 587 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states, 5.5.4.; Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, 5.5.4. 588 Van Dijk, The Venice Commission on Certain Aspects of the Application of the European Convention on Human Rights Ratione Personae, in: S. Breitenmoser (Hrsg.), Human Rights, Democracy and the Rule of Law, 2007, S. 185 f.

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durch Recht (sog. Venedig-Kommission) von zunächst 18 auf heute 57 Mitgliedsstaaten angewachsen – darunter auch Nichteuroparatsstaaten, Belarus als assoziiertes Mitglied und weitere Staaten mit Beobachter- oder speziellem Kooperationsstatus.589 Wenngleich die Beratung bei Reformen in den östlichen Europaratsstaaten noch nicht abgeschlossen ist, ist an die Stelle des ursprünglichen „emergency constitutional engineering“ in Bezug auf Osteuropa, ein „constitutional engineering“ in Bezug auf alle Mitglieder getreten.590 Thematisch findet die Arbeit der VenedigKommission insbesondere in drei Bereichen statt: demokratische Institutionen und Menschenrechte, Wahlen, politische Parteien und Volksabstimmungen, sowie Verfassungsgerichtsbarkeit, worunter auch die Befassung mit der Unabhängigkeit der Justiz fällt. Als „enlarged agreement“ ist sie eine Institution des Europarats,591 ohne jedoch ein Organ desselben zu sein, und finanziell unabhängig.592 Sie berät in Verfassungsfragen593 auf Anfrage,594 indem sie „Opinions“ zu laufenden Verfassungs- oder Gesetzesvorhaben in bestimmten Staaten, zu Fragen europäischer Standards sowie zu Europaratskonventionen oder Streitigkeiten zwischen Staaten ausarbeitet.595 Daneben kann sie aus eigener Initiative Recherchen durchführen, Studien erarbei-

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589 Zunächst durch das Ministerkomitee als Teilabkommen („partial agreement“) gegründet, bindet sie seit 2002 als erweitertes Abkommen („enlarged agreement“) auch Nichtmitglieder des Europarats gleichberechtigt ein: Committee of Ministers of the Council of Europe, Revised Statute of the European Commission for Democracy through Law adopted by the Committee of Ministers on 21 February 2002 at the 784th meeting of the Ministers’ Deputies, 2002, Resolution (2002)3; Committee of Ministers of the Council of Europe, On Partial and Enlarged Agreements adopted by the Committee of Ministers on 14 May 1993 at its 92nd Session, 1993, Statutory Resolution (93) 28, I. Zur Mitgliedschaft siehe (zuletzt aufgerufen am 19.02. 2011). 590 Van Dijk, The Venice Commission on Certain Aspects of the Application of the European Convention on Human Rights Ratione Personae, S. 186. 591 Brummer, Der Europarat, S. 225; van Dijk, The Venice Commission on Certain Aspects of the Application of the European Convention on Human Rights Ratione Personae, S. 183. 592 Sie finanziert sich aus den Beiträgen ihrer Mitglieder, wenngleich das Budget durch das Ministerkomitee verabschiedet werden muss: Committee of Ministers of the Council of Europe, Revised Statute of the European Commission for Democracy through Law adopted by the Committee of Ministers on 21 February 2002 at the 784th meeting of the Ministers’ Deputies, Art. 6. 593 Id., Art. 1 Abs. 1; EGMR GK, Sejdić und Finci gegen Bosnien und Herzegowina, Rn. 22. 594 Durch das Ministerkomitee, die PV, den Kongress der Gemeinden und Regionen, das Generalsekretariat, einen Mitgliedstaat, eine internationale Organisation oder Organe, die an der Arbeit der Venedig-Kommission teilhaben, z. B. durch OSZE oder EU: Committee of Ministers of the Council of Europe, Revised Statute of the European Commission for Democracy through Law adopted by the Committee of Ministers on 21 February 2002 at the 784th meeting of the Ministers’ Deputies, Art. 3 Abs. 2. 595 Van Dijk, The Venice Commission on Certain Aspects of the Application of the European Convention on Human Rights Ratione Personae, S. 187.

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ten596 und Guidelines, Gesetze und internationale Abkommen entwerfen, derer sich die Organe des Europarats bedienen können,597 und beteiligt sich als amicus curiae an nationalen Prozessen598 und Verfahren vor dem EGMR.599 Bei aller Unabhängigkeit beruht sie jedoch auf einem Abkommen des Ministerkomitees und ist diesem gegenüber rechenschaftspflichtig.600 Alle angenommenen „Opinions“ werden zudem nicht nur der anfragenden Stelle, sondern auch dem Ministerkomitee und der PV zugesandt,601 und ihr Sekretariat agiert unter dem Dach des Europaratssekretariats.602 Obwohl sämtliche Dokumente der Venedig-Kommission rechtlich nicht bindend sind, ist sie sehr einflussreich in der Praxis, was der Kompetenz ihrer Experten sowie ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit geschuldet ist.603 Die Experten sind jeweils ein Mitglied und ein Stellvertreter pro Staat, die von den Staaten für vier Jahre mit der Möglichkeit der Wiederernennung ernannt werden,604 der VenedigKommission jedoch in ihrer persönlichen Eigenschaft als weisungsunabhängige Experten dienen. Sie kommen vier Mal im Jahr zusammen. Daneben tagen thematische Unterausschüsse, darunter ein spezieller Unterausschuss zu Justizfragen.605

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596 Siehe z. B. European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, 16 March 2010, CDL-AD(2010)004; European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part II – The Prosecution Service, 3 January 2011, CDL-AD(2010)040. 597 Committee of Ministers of the Council of Europe, Revised Statute of the European Commission for Democracy through Law adopted by the Committee of Ministers on 21 February 2002 at the 784th meeting of the Ministers’ Deputies, Art. 3 Abs. 1, 2. 598 Siehe z. B. European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Amicus Curiae Brief for the Constitutional Court of „The Former Yugoslav Republic of Macedonia“ on Amendments to Several Laws Relating to the System of Salaries and Remunerations of Elected and Appointed Officials, 20 December 2010, CDL-AD(2010)038. 599 Siehe z. B. die Venedig-Kommission als „Third Party“ in EGMR GK, Sejdić und Finci gegen Bosnien und Herzegowina. 600 Committee of Ministers of the Council of Europe, Revised Statute of the European Commission for Democracy through Law adopted by the Committee of Ministers on 21 February 2002 at the 784th meeting of the Ministers’ Deputies, Art. 7. 601 Van Dijk, The Venice Commission on Certain Aspects of the Application of the European Convention on Human Rights Ratione Personae, S. 189. 602 Brummer, Der Europarat, S. 221 f. 603 Van Dijk, The Venice Commission on Certain Aspects of the Application of the European Convention on Human Rights Ratione Personae, S. 186 ff. 604 Anforderungen an die Mitglieder sind ihre Erfahrung in demokratischen Institutionen, die sie zu hohen Ehren haben kommen lassen oder ihr Beitrag zur Weiterentwicklung des Rechts und der Politikwissenschaft: Committee of Ministers of the Council of Europe, Revised Statute of the European Commission for Democracy through Law adopted by the Committee of Ministers on 21 February 2002 at the 784th meeting of the Ministers’ Deputies, Art. 2. In der Praxis handelt es sich um Professoren, Richter der Höchstgerichte und Abgeordnete des jeweiligen Parlaments. Siehe (zuletzt aufgerufen am 19.02.2011). 605 Committee of Ministers of the Council of Europe, Revised Statute of the European Commission for Democracy through Law adopted by the Committee of Ministers on 21 Feb-

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Des Weiteren ist die hohe Umsetzung trotz Unverbindlichkeit der Tatsache geschuldet, dass die „Opinions“ teilweise auf Einladung der Staaten angefertigt werden606 und sich EGMR607 und EU608 in verbindlicher Rechtsprechung bzw. Beitrittsdokumenten teilweise der „Opinions“ bedienen. b) Richterliche Unabhängigkeit nach der Venedig-Kommission Abgesehen von den länderspezifischen „Opinions“ zu konkreten Justizreformen, sind drei Dokumente von besonderer Bedeutung, um das Verständnis der VenedigKommission von richterlicher Unabhängigkeit aufzuzeigen: der Bericht über die Ernennung von Richtern von 2007,609 das „Draft Vademecum on the Judiciary“ von 2008, in dem die „Opinions“ der letzten Jahre zu Justizreformvorhaben zusammengetragen und kategorisiert wurden,610 und der Bericht der Venedig-Kommission von März 2010 über die Unabhängigkeit von Richtern.611 Da letzterer auf dem angesprochenen Überblick für die PV von 2008 beruht, verwundert nicht, dass sowohl die PV in ihrer Entschließung von 2009, als auch das Ministerkomitee in seiner Empfehlung von 2010, von der Venedig-Kommission inspiriert wurden und sich daher inhaltliche Parallelen feststellen lassen. Eine der größten Herausforderungen für die „newly established democracies“ sieht die Venedig-Kommission in der Suche nach einem adäquaten Richterbestel-

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ruary 2002 at the 784th meeting of the Ministers’ Deputies, Art. 4 Abs. 3; Brummer, Der Europarat, S. 222. 606 In der Praxis gehen die meisten abgegebenen „Opinions“ der Venedig-Kommission auf Anfragen der PV im Rahmen der Monitoringaktivität zurück. Van Dijk, The Venice Commission on Certain Aspects of the Application of the European Convention on Human Rights Ratione Personae, S. 187. 607 EGMR GK, Sejdić und Finci gegen Bosnien und Herzegowina; EGMR, Case of Parti Nationaliste Basque – Organisation Régionale d’Iparralde gegen Frankreich. Van Dijk, The Venice Commission on Certain Aspects of the Application of the European Convention on Human Rights Ratione Personae, S. 202, spricht von „cross-fertilization“, da die VenedigKommission auch mit der Rechtsprechung des EGMR arbeitet. 608 Siehe z. B. Commission of the European Communities, Turkey 2008 Progress Report accompanying the Communication from the Commission to the European Parliament and the Council, Enlargement Strategy and Main Challenges 2008–2009, 5 November 2008, SEC(2008) 2699; Council of the European Union, EU-Ukraine Cooperation Council, Thirteenth Meeting, Luxemburg 16 June 2009, EU Press Release, 16 June 2009, 11051/09 (Presse 180). 609 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Judicial Appointments, 22 June 2007, CDL-AD(2007)028. 610 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Vademecum on the Judiciary. 611 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges. Vgl. insgesamt zu dem Verständnis der Venedig-Kommission: Müller, Judicial Independence as a Council of Europe Standard, S. 477 ff.

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lungssystem.612 Wie das Ministerkomitee bereits in seiner Empfehlung von 1994 und die PV 2009 in Anlehnung an die Venedig-Kommission, hält sie objektive, an Leistung anknüpfende Kriterien für die Auswahl von Richtern für wesentlich, damit nicht nur die für die Richterbestellung zuständigen Organe an diese objektiven Merkmale gebunden sind, sondern deren Auswahlentscheidung nachprüfbar wird.613 Mit der Nachprüfbarkeit ist zugleich die generelle Notwendigkeit der Transparenz und Kohärenz im Auswahlverfahren, und damit die Frage, wie das öffentliche Vertrauen in die Gerichte hergestellt bzw. maximiert werden kann, angesprochen. Letzteres ist, wie gesehen, auch ein Hauptaugenmerk des EGMR und zugleich eines der Schlüsselprobleme vor allem in den östlichen Europaratsstaaten. Die VenedigKommission regt hierzu an, dass die Justiz allen qualifizierten Personen aus verschiedenen Gesellschaftsgruppen offen stehen müsse, um die Diversität der Gesellschaft abzubilden und dadurch von der Gesellschaft insgesamt akzeptiert zu werden.614 Neben den Kriterien und größerer Transparenz spielt außerdem die Frage des Organs für die Auswahl und Ernennung der Richter eine besondere Rolle. Die Venedig-Kommission unterscheidet zwischen Wahlsystem und direktem Ernennungsverfahren: Die Wahl von Richtern direkt durch das Volk oder indirekt durch das Parlament, trage zwar zu größerer demokratischer Legitimation der Richter bei, sei jedoch wegen der Gefahr der Politisierung der Richterwahl abzulehnen. Die direkte Ernennung von Richtern durch das Staatsoberhaupt („direct appointment system“) ist nach Auffassung der Venedig-Kommission dann problematisch, wenn das Staatsoberhaupt nicht nur eine rein formelle Funktion wahrnehme, sondern über materiell-rechtliche Kompetenzen und ein eigenes Ermessen verfüge. Nur wenn das Staatsoberhaupt keine eigenen Kandidatenvorschläge machen könne und sein Ermessen bei der Ernennung durch den Vorschlag eines Richterrates gebunden sei, den es nur ausnahmsweise zurückweisen könne, sei diese Modell mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar.615 Dass bei Ablehnung sowohl eines Wahlsystems durch das Volk oder Parlament, als auch eines Ernennungssystems durch die Exekutive (mit mehr als einer formalen Rolle) nur die Variante eines starken Richterrats verbleibt, stellt die Venedig-Kommission ausdrücklich fest und empfiehlt, im Idealfall einem Richterrat nicht nur die Auswahl, sondern auch die Ernennung selbst aufzugeben. Solange die Unabhängigkeit und Autonomie dieses Organs gesichert sei, sei die direkte Ernennung durch einen Richterrat in jedem Fall ein zulässiges Modell.616 Diese Empfehlung der Venedig-Kommission erscheint problema-

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612 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Judicial Appointments, Rn. 2. 613 Id., Rn. 10, 36–37, zitiert in European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Vademecum on the Judiciary, Part I, 1. 614 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 25 f. 615 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Judicial Appointments, Rn. 9 ff. 616 Id., Rn. 16 f.

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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tisch: Die wesentliche Frage der Richterbestellung wird in der Idealvorstellung, die sie zeichnet, auf ein einziges Organ konzentriert, statt weitere Entscheidungsträger einzubeziehen und dadurch größere Ausgewogenheit, Transparenz und eine stärkere demokratische Legitimation zu gewährleisten. Anstelle von „accountability“, also gerade der Verantwortlichkeit gegenüber den anderen beiden Gewalten und der Gesellschaft, hält die Venedig-Kommission eine möglichst große Isolierung dieses Organs für wünschenswert. Dies ist auch deshalb bedenklich, da die autonomen und mit einem Alleinentscheidungsauftrag ausgestatteten Richterräte in den Länderbeispielen, die die Venedig-Kommission anführt, für weitere wesentliche Aspekte der Richterkarriere zuständig sind, wie etwa der Versetzung von Richtern, ihrer Beförderung, ihrer Disziplinierung sowie der vorzeitigen Entlassung aus dem Dienst.617 Neben dieser Idealvorstellung hält die Venedig-Kommission Systeme mit „settled judicial traditions“, die die Ernennung von Richtern durch die Regierung vorsehen, zwar für funktionsfähig; dies jedoch nur unter Verweis auf die Regulierung der Machtausübung der Exekutive durch die vorherrschende Rechtskultur, die in diesen Staaten über lange Zeit gewachsen sei. Für die „new democracies“ rät sie von einem solchen Modell ab.618 Mithin ist festzustellen, dass das Werben für eine maximale Konzentration der Kompetenzen für die Richterbestellung in Richterräten, wie beim Ministerkomitee, von dem Blick auf die östlichen Europaratsstaaten geleitet ist. Gleichwohl erfolgt die nachdrückliche Empfehlung, einen Richterrat mit der Richterbestellung zu betrauen, trotz der Betonung der Vielfältigkeit verschiedener Rechtskulturen in Europa, recht unterschiedslos. Es bleibt somit unklar, ob die Venedig-Kommission nicht auch für die alten Demokratien Richterräte favorisieren würde.619 Problematischer als die Europaratsorgane sieht die Venedig-Kommission allerdings die Zusammensetzung eines Richterrates wegen drohendem Korporatismus und mangelnder demokratischer Rückbindung. Daher wirbt sie zwar für eine möglichst ausgewogene und pluralistische Zusammensetzung aus Vertretern der verschiedenen Gewalten, spricht sich aber zugleich für eine „large proportion“ bzw. „substantial element or a majority“620 bzw. „a substantial part if not the majority“621 aus Richtern aus. Auch abseits der Richterernennung basiert der Ansatz der Venedig-Kommission auf Richterräten als Dreh- und Angelpunkt einer unabhängigen Justiz.622 Richter-

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Id., Rn. 16, 25. Id., Rn. 15, 45, 46. 619 So ausdrücklich in European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 32. 620 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Judicial Appointments, Rn. 27 ff., 50. 621 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 82, 4. 622 Hintergrund mag auch hier vor allem der Einfluss des CCJE sein, der die Zusammenarbeit mit der Venedig-Kommission sogar in seinem Mandat angelegt hat, vgl. Consultative 617 618

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

räte sollten für die Beförderung,623 Richterfortbildung,624 Versetzung625 und die vorzeitige Entlassung aus dem Dienst verantwortlich sein.626 Auch für Disziplinarverfahren sollten, wenn nicht spezielle Disziplinargerichte,627 Richterräte oder spezielle disziplinarische Gremien innerhalb der Räte628 zuständig sein. Das Problem der nur unzureichend durchgeführten Disziplinarverfahren gegen Richter bei mangelnder Verantwortlichkeit des Richterrats, sieht die Venedig-Kommission zwar. Sie zieht daraus allerdings lediglich die Konsequenz, an die Staaten zu appellieren, dass Disziplinarverfahren von Richterräten effizient und ungeachtet der Tatsache, dass es Verfahren gegen die eigenen Kollegen seien, durchgeführt werden sollten.629 Explizit gegen eine Machtkonzentration oder für eine tatsächlich ausbalancierte Zusammensetzung spricht sie sich nicht aus. Zwar ist ihre Bekräftigung positiv hervorzuheben, dass gegen Disziplinarentscheidungen des Richterrats der Weg zu den Gerichten eröffnet sein sollte. Allerdings „heilt“ dies nicht das Grundproblem, das die Venedig-Kommission selbst anspricht, wenn sie davor warnt, dass Disziplinarverfahren nicht durch „undue peer restraint“ beeinträchtigt werden sollten: dass nämlich häufig schon keine Disziplinarverfahren eingeleitet werden.630 Wie die Europaratsorgane, hält die Venedig-Kommission Proberichterzeiten im Lichte richterlicher Unabhängigkeit für eher problematisch, aber mit Blick auf die „neuen Demokratien“ und aus dem legitimen Interesse heraus, die Befähigung eines Kandidaten zu testen, unter Umständen für gerechtfertigt. Aufgrund ihrer nicht voll gegebenen persönlichen Unabhängigkeit, sollten Proberichter nach der VenedigKommission Entscheidungen allerdings lediglich vorbereiten können, statt diese selbst zu fällen. In jedem Fall sollte die Ablehnung der Übernahme eines Proberichters in ein dauerhaftes Dienstverhältnis denselben objektiven Kriterien und Verfah-

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Council of European Judges (CCJE), Terms of reference of the CCJE for 2007, 19 February 2007, CCJE (2007) 2, Rn. 4. i. 623 Id., Rn. 25, 49. 624 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Interim Opinion on Constitutional Reforms in the Republic of Armenia, 6 December 2004, CDL-AD (2004) 044, Rn. 59, zitiert in European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Vademecum on the Judiciary, Part I, 2.2. 625 Wenngleich grundsätzlich nur unter Beachtung des Konsensprinzips: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 43. 626 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Interim Opinion on Constitutional Reforms in the Republic of Armenia, Rn. 59, zitiert in European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Vademecum on the Judiciary, Part I, 2.2. 627 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 43, 82. 628 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Judicial Appointments, Rn. 25. 629 Id., Rn. 51. 630 Id., Rn. 25, 51. Siehe zu diesem Problem etwa in Rumänien: Parau, The Drive for Judicial Supremacy, C. I.

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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rensgarantien genügen wie die Absetzung eines Richters von einer permanenten Stelle.631 Grundsätzlich favorisiert sie jedoch die direkte Ernennung bis zum Ruhestand, d.h. ohne Proberichterzeiten oder kurze Amtszeiten mit der Notwendigkeit der Wiederernennung.632 Einzig aufgrund der Rechtsprechung des EGMR in dieser Frage,633 akzeptiert die Venedig-Kommission auch kurze Amtszeiten von Richtern,634 fordert aber zum Schutz der Unabhängigkeit in einer kurzen Amtszeit den Ausschluss einer Wiederernennung.635 Weiterhin sollten Richtergehälter der Würde des Amtes und den Verpflichtungen, die damit einhergehen, entsprechen. In diesem Zusammenhang thematisiert die Venedig-Kommission nunmehr begrüßenswerter Weise die Problematik der Bonusleistungen und nicht-monetären Zuwendungen an Richter in den ehemaligen Sowjetstaaten. Wenngleich es schwierig erscheine, diese von heute auf morgen abzuschaffen, müssten längerfristig Zusatzleistungen durch ein adäquates Gehalt ersetzt werden, da mit der Vergabe von Bonusleistungen ein nicht unerhebliches Ermessen verbunden sei, welches die Unabhängigkeit der Richter bei ihrer Entscheidungstätigkeit beeinträchtige.636 Um die Beeinträchtigung der Entscheidungsfindung durch zusätzlich ausgeübte Tätigkeiten, die mit der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht in Einklang zu bringen seien, zu verhindern, seien Inkompatibilitätsregeln und die Untersagung der politischen Betätigung von Richtern ebenfalls

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631 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Judicial Appointments, Rn. 38 ff. 632 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 33 ff. 633 Vgl. oben B. I. 3. b). 634 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Amendments to the Constitution of Liechtenstein proposed by the Princely House of Liechtenstein, 16 December 2002, CDL-AD(2002)32, Rn. 31, zitiert in European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Vademecum on the Judiciary, Part I, 2.2. 635 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint opinion on a proposal for a constitutional law on the changes and amendments of the Constitution of Georgia, 9 February 2005, CDL-AD(2005)003, Rn. 105, zitiert in European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Vademecum on the Judiciary, Part I, 2.2. 636 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 44–51; dazu European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Comments on European Standards as Regards the Independence of the Judicial System: Judges by Mr Valery D. Zorkin (Member, Russian Federation); European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Comments on European Standards as Regards the Independence of the Judicial System: Judges by Ms Angelika Nussberger (Substitute Member, Germany). Siehe auch Nußberger, Judicial Reforms in Post-Soviet Countries – Good Intentions with Flawed Results?, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 885 ff., die in Fn. 53 kritisiert, dass die Venedig-Kommission, wohl aus Rücksicht auf das französische System, welches eine leistungsbezogene Bezahlung kenne, von einer schärferen Formulierung Abstand genommen habe.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

zulässig.637 Zudem fordert die Venedig-Kommission generell eine stabile Finanzierung der Gerichte, die sie in die Lage versetze, den Anforderungen aus Art. 6 EMRK gerecht zu werden und ihre Funktionen in einer Weise zu erfüllen, die das Vertrauen in die Gerichte und die Rechtsstaatlichkeit stärke.638 Für den Bereich der richterlichen Immunität regt die Venedig-Kommission an, von funktionaler Immunität auszugehen – ein Ansatz, der so in die jüngsten Äußerungen der Europaratsorgane übernommen wurde. Funktionale Immunität unterscheidet zwischen der Amtsausübung, für welche grundsätzlich – außer bei vorsätzlichen Straftaten – Immunität eingreifen solle und privatem Dasein, in welchem der Richter wie jede Privatperson hafte.639 Dieser Ansatz der Venedig-Kommission ist deshalb zu begrüßen, da er Immunität nur dort einsetzt, wo ihr Eingreifen notwendig ist, um die Unabhängigkeit der Richter zu schützen, mithin im Kernbereich ihrer Spruchtätigkeit. Die Grenze verläuft bei vorsätzlichen Straftaten, wie etwa der Annahme von Bestechungszahlungen, die eine Haftungsprivilegierung nicht mehr rechtfertigen, ein Haftungsdurchgriff vielmehr für die Gewährleistung einer verantwortlichen Entscheidungsfindung notwendig ist. Verschiedene Prinzipien richterlicher Unabhängigkeit, die die Venedig-Kommission betont, greifen außerdem Rechtsprechung des EGMR auf, wie die bindende Natur richterlicher Entscheidungen, die außerhalb der ordentlichen Rechtsmittelverfahren keiner weiteren Überprüfung oder Anfechtung unterliegen dürften.640 Der EGMR hat – wie die Rechtsprechungsanalyse gezeigt hat – im Lichte einer Vielzahl von Fällen zu der Überwachungskontrolle in postsowjetischen Europaratsstaaten, seine Forderung nach verbindlichen Entscheidungen immer wieder herausgestellt.641 Dasselbe gilt für die interne Unabhängigkeit, die in den letzten Jahren aufgrund der Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten ein größeres Gewicht vor dem EGMR eingenommen hat. Die Venedig-Kommission greift diese Problematik auf und verweist zugleich auf die Praxis höherer Instanzen in einigen postsowjetischen Staaten, „guidelines“ an untere Instanzen herauszugeben, die diese bei

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637 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 62, 82. 638 2010 hat die Venedig-Kommission überdies ihre Meinung zur Einbeziehung der Justiz in den Prozess der Haushaltverabschiedung geändert und ist nunmehr der Ansicht, dass diese unmittelbar beteiligt werden sollte – etwa durch den Richterrat, der die Möglichkeit haben sollte, seine Einschätzung dem Parlament gegenüber zu äußern: Id., Rn. 52 ff. In European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Draft Law on Judicial Power and Corresponding Constitutional Amendments of Latvia, 29 October 2002, CDL-AD(2002)026, Rn. 48, hatte sie dies aufgrund der hohen Politisierung der Aushandlung des Budgets noch abgelehnt und stattdessen dafür plädiert, diesen Prozess vollständig dem Justizminister oder der gesamten Regierung zu überlassen. 639 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 59 ff. 640 Id., Rn. 65 ff., eines der wenigen Themen, wo die Venedig-Kommission von dem CCJE abweicht. 641 Siehe oben B. I. 3. c) cc).

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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der Entscheidungsfindung zu beachten hätten. Nicht weiter begründet und daher nicht nachvollziehbar ist jedoch die Empfehlung, dass der beste Schutzmechanismus auch für die interne Unabhängigkeit ein Richterrat sei.642 Gelungen ist in diesem Kontext hingegen die Befassung mit der Zuweisung von Fällen an Gerichten, da die Venedig-Kommission ein zentrales Problem in den östlichen Europaratsstaaten anspricht: die Macht der Gerichtspräsidenten, über die Fallzuweisung die Unabhängigkeit der Richter zu beeinträchtigen. Sie empfiehlt, die Zuweisung von Fällen auf objektive und transparente Kriterien zu stützen, die vorher gesetzlich festgelegt werden müssten – sei es auch durch Verordnungen auf Grundlage eines Ermächtigungsgesetzes durch den Gerichtspräsidenten oder das Präsidium des jeweiligen Gerichts. Beispiele für einen objektiven Mechanismus seien eine alphabetische Reihenfolge, computergesteuerte Systeme oder eine objektive Orientierung an Fallkategorien. Zugleich berücksichtigt die Venedig-Kommission legitime Konstellationen, in denen es zu Abweichungen von einem festgelegten Verteilungssystem kommen kann, etwa um die Arbeitsbelastung unter den Richtern auszugleichen, ihren Spezialisierungen gerecht zu werden, oder junge mit erfahrenen Richtern zu kombinieren bzw. Grundsatzurteile erfahrenen Kollegen zu überlassen. Als Sicherungsmechanismus müsse aber auch in diesen Fällen gelten, dass die Abweichung gesetzlich vorgesehen und eine Überprüfungsmöglichkeit gegeben sei.643 Der Venedig-Kommission ist es damit in vielen Bereichen gelungen, wesentliche Elemente richterlicher Unabhängigkeit zusammenzutragen. Dies macht ihre „Opinions“, Guidelines und Berichte zu einer Orientierungsquelle vor allem für Staaten, die sich in einem Umbruch hin zu einem rechtsstaatlichen System befinden und deren Probleme sie auch bei ihren allgemeinen Empfehlungen besonders vor Augen zu haben scheint – so etwa mit Blick auf die Frage der Bonusleistungen oder Probleme interner Unabhängigkeit. Kritisch wird dies allerdings dort, wo sie zu einseitig Lösungen vorgibt, wie z. B. mit Blick auf die beinahe unbedingte Empfehlung richterlicher Selbstverwaltung.644 Bei der empfohlenen Machtkonzentration in Richterräten, angefangen von der Ernennung, über die Beförderung, zur Versetzung, bis hin zu Disziplinarverfahren, frühzeitiger Entlassung aus dem Dienst und neuerdings

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642 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 68, 71. 643 Id., Rn. 73–81. Bedenklich ist allerdings die Verbindung, die die Venedig-Kommission in Rn. 78, 79 zwischen Fallzuweisung und dem Recht auf den gesetzlichen Richter herstellt, wie er insbesondere im deutschen Verfassungsrecht (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) angelegt ist. Hier fehlt es an einer Klarstellung, dass der Gehalt des Rechts auf den gesetzlichen Richter zwischen den Mitgliedstaaten variiert. Auch der EGMR fordert, wie in B. I. 2. b) analysiert, dass die Zusammensetzung der Richterbank vorher feststehen müsse, ist jedoch zurückhaltend mit Blick auf die Common Law Systeme. Siehe zu der Problematik der Fallzuweisung durch Gerichtspräsidenten in östlichen Europaratsstaaten unten C. II. 1. b). 644 Dies war nicht immer so. Siehe zurückhaltend noch vor der ersten „Opinion“ des CCJE, das stellvertretende Mitglied Italiens in der Venedig-Kommission: Bartole, Final Remarks: The Role of the Venice Commission, in: Review of Central and East European Law, Vol. 39, Issue 3, 2000, S. 357 ff.

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

auch Budgetfragen, bleibt unklar, wie die Venedig-Kommission dem Gesamtziel, der Förderung richterlicher Unabhängigkeit, gerecht werden möchte. Am Ende bleibt ein Organ, das unkontrollierbar über beinahe jeden Aspekt der richterlichen Karriere verfügen kann, was gerade für die Staaten, für die diese Empfehlung vor allem gelten soll, problematisch erscheint: die „new democracies“.645

4. Abgleich und abschließende Bewertung: Soft Law-Vorgaben des Europarats im Spiegel der Rechtsprechung Die Analyse des vielfältigen Soft Law des Europarats weist hinsichtlich der absoluten Grundsätze Gemeinsamkeiten mit der Rechtsprechung des EGMR auf. Dies betrifft etwa die Unabsetzbarkeit von Richtern, die nur in Ausnahmefällen durchbrochen werden darf, den zentralen Grundsatz der Weisungsfreiheit, den bindenden Charakter von Urteilen sowie die Unabhängigkeit innerhalb der Judikative. Wechselseitig nehmen Rechtsprechung und Soft Law-Dokumente auch aufeinander Bezug. Daneben bleibt ein großer Bereich, zu dem sich der EGMR bislang nur am Rande geäußert hat. Dies wird besonders deutlich mit Blick auf eines der zentralen Themen richterlicher Unabhängigkeit aus Sicht der Europaratsorgane und der Venedig-Kommission: die Selbstverwaltung der Justiz durch Richterräte. Diese haben in der Rechtsprechung des EGMR bislang kaum eine Rolle gespielt. Entweder kam es vor einem Urteil zu einem „Friendly Settlement“,646 oder der Richterrat spielte nur indirekt eine Rolle, etwa als Disziplinargericht iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK,647 oder nicht der Richterrat, sondern der Vorsitz durch den Staatspräsidenten und damit der exekutive Einfluss auf die Ernennung von Richtern wurde in den Vordergrund gerückt.648 Richterräte wurden in der Rechtsprechung des EGMR daher bisher nicht auf ihre Geeignetheit als Organe der Justizverwaltung sowie konkret hinsichtlich der notwendigen Balance mit Blick auf Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit untersucht.649 Insofern bleibt abzuwarten, wie der EGMR zukünftig entscheiden

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645 So die vormalige Bezeichnung der Venedig-Kommission, die sie mittlerweile aufgegeben zu haben scheint. Vgl. European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges; lediglich bei Bezugnahme auf alte Berichte kommt diese Unterscheidung noch vor, vgl. Rn. 31. 646 EKMR, Hazar, Hazar und Açik gegen Türkei; EKMR, Hazar, Hazar und Açik gegen Türkei (Friendly Settlement). 647 EGMR, Olujić gegen Kroatien; EGMR, Özpinar gegen Türkei; vgl. auch oben B. I. 3. h) bb). 648 EGMR, Galstyan gegen Armenien; EGMR, Ashughyan gegen Armenien. 649 Siehe aber auch das Urteil EGMR, Forum Maritime S. A. gegen Rumänien, Rn. 154, aus dem sich ganz am Rande herauslesen lässt, dass der EGMR den Richterräten eine eher positive Rolle zumisst, indem er diese in einem Zug mit den nach der Ernennung eingreifenden Sicherungen der Unabsetzbarkeit und Weisungsfreiheit nennt. Ebenso unproblematisch scheint er die Funktionsakkumulation in Richterräten zu sehen, wenngleich auch dies nur am Rande herauszulesen ist: EGMR, Iovchev gegen Bulgarien, S. 25.

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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wird, wenn die konkrete Funktionsdichte oder Zusammensetzung des Richterrats im Mittelpunkt einer Beschwerde stehen wird. Darauf nämlich ist der EGMR, anders als die Europaratsorgane und die Venedig-Kommission, angewiesen: Sein Mandat macht ihn abhängig von den Problemen richterlicher Unabhängigkeit, die vor ihn gebracht werden. Selbst dann entscheidet er aber nur über den konkreten Einzelfall, statt generelle Kriterienkataloge wie die Venedig-Kommission oder das Ministerkomitee aufzustellen. Neben diesen objektiven Zwängen hat die Gegenüberstellung von Rechtsprechungsanalyse und Soft Law auch gezeigt, dass der EGMR den Staaten mit Blick auf die Diversität der unterschiedlichen Justizsysteme einen vergleichsweise größerer Spielraum belässt. Auch dort, wo er die Möglichkeit einer kleinteiligeren Befassung und stärkeren Standardisierung gehabt hätte, hat er davon nicht unbedingt Gebrauch gemacht.650 Die Europaratsinstitutionen durchdringen hingegen sämtliche Bereiche der richterlichen Unabhängigkeit und Beschaffenheit von Justizsystemen und haben eher rigide Standards geschaffen. Teilweise wird zwar, z. B. im Bereich der Justizverwaltung, noch betont, es gäbe „alte Demokratien“, die ohne Selbstverwaltung gut funktionieren würden. Die Analyse hat jedoch gezeigt, dass die Akzeptanz bzw. Offenheit gegenüber anderen Justiztraditionen, die von dem empfohlenen Einheitsmodell Richterrat abweichen, schwindet.651 In diesem Zusammenhang fiel nicht nur auf, dass die neueren, hier untersuchten Dokumente allesamt von rein aus Richtern zusammengesetzten Organen wie dem CCJE beeinflusst wurden und im Europarat eine überdimensionale Verbundenheit herrscht, anderen, womöglich „spezielleren“ Organen nicht in den Rücken fallen zu wollen.652 Das Streben nach Kohärenz innerhalb des Europarats ist dabei zwar nachvollziehbar und teilweise die Bezugnahme bereits im Mandat angelegt. Teilweise hat zudem auch diese Arbeit bemängelt, dass manche, bereits durch die Venedig-Kommission und die PV entwickelten Vorgaben in die neue Empfehlung des Ministerkomitees nicht aufgenommen wurden. Problematisch wird dies aber dann, wenn durch die starke Bezugnahme untereinander vermeintliche „Standards“ bis an die Regierungen der Mitgliedstaaten befördert werden, die unkritisch übernommen wurden. Das beste Beispiel hierfür ist die Propagierung der Selbstverwaltung der Justiz, die als Meinung des CCJE von der Venedig-Kommission aufgegriffen und als „Europäischer Standard“ ausgegeben,653 ihren Weg in die Entschließung der PV und die neue Empfehlung des Ministerkomitees gefunden hat, mit der das Minister-

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Vgl. B. I. 3. a); 4. d). Vgl. den Unterschied zwischen der 1994er-Empfehlung des Ministerkomitee und der Empfehlung von 2010 unter B. II. 1. b) sowie die Entschließung der PV von 2009, die auch Deutschland die Einführung eines Richterrates anrät und zwischen den Zeilen eine Rückschrittlichkeit Deutschlands aus diesem Grund festgestellt wird: B. II. 2. b). Siehe auch European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 32. 652 Siehe z. B. European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges. 653 Id., Rn. 32. 650 651

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B. Anforderungen an die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte

komitee wiederum die Regierungen der Europaratsstaaten adressiert. Abgesehen von dem Problem der Legitimität der so erarbeiteten „Standards“ durch ein reines Richtergremium, ist deren einseitige Sicht auf die Stärkung richterlicher Unabhängigkeit durch Selbstverwaltung auch im Ergebnis problematisch. Die Annahme, ein autonomes Organ, das die Geschicke der Richterschaft lenkt, sei gerade in den postsowjetischen Staaten sinnvoll, um ein möglichst hohes Maß an Unabhängigkeit zu erzielen, wird nicht nur durch eine gemeinsame Untersuchung von Max-PlanckInstitut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und OSZE widerlegt.654 Zu sehr bleibt die andere Seite der Medaille unberücksichtigt, nämlich dass für richterliche Verantwortlichkeit zugunsten einer funktionsfähigen, effizienten Justiz, die wiederum das so oft genannte öffentliche Vertrauen in die Justiz stärken soll, gleichermaßen zu sorgen ist. Abweichungen von der gemeinsamen Haltung wären, gerade wenn man die Hierarchie zwischen dem CCJE als bloßem Ad-hocAusschuss und dem Ministerkomitee als intergouvernementalem Exekutivorgan des Europarats bedenkt, möglich, werden aber auch bei anderen Aspekten richterlicher Unabhängigkeit selten vollzogen. Lediglich teilweise kommt es zu Abweichungen, etwa hinsichtlich der Frage, wie weit die Offenheit gegenüber althergebrachten Modellen der Justizverwaltung reicht655 sowie wohl bei der Einschätzung des Verhältnisses von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.656 Im Übrigen unterscheiden sich die entwickelten Elemente richterlicher Unabhängigkeit und deren Bewertung durch die Europaratsinstitutionen nur durch Nuancen, wie etwa hinsichtlich der Zusammensetzung der Richterräte bzw. durch eine verschiedene Schwerpunktsetzung.657 Positiv hervorzuheben ist, dass die Soft Law-Dokumente gegenüber spezifischen Problemfeldern in den östlichen Europaratsstaaten besonders sensibilisiert sind und wesentliche Gesichtspunkte bei den Reformdebatten in den östlichen Europaratsstaaten aufgreifen. Dazu zählt die neuerdings deutliche Thematisierung des Problems der Bonusleistungen und nicht-monetären Zuwendungen, der Problematik der internen Unabhängigkeit und rigiden Hierarchien innerhalb der Gerichte in postsowjetischen Staaten und des Anknüpfungspunktes von Evaluationen. Wünschenswert wäre hingegen, wenn bei der Erarbeitung des Soft Law zukünftig stärker auf rechtsvergleichende Untersuchungen der letzten Jahre zurückgegriffen würde, statt sich der einseitigen „Opinions“ eines Richtergremiums zu bedienen. In diesem Zusammenhang wäre es notwendig, die eigenen Empfehlungen der letzten Jahre auf

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Vgl. die Staatenberichte in Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition. „The position of the Venice Commission (CDL-AD(2007)028) is more nuanced“, so die Selbstbeschreibung der Venedig-Kommission in European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, Rn. 31. 656 Vgl. Id., Rn. 63. 657 Vgl. z. B., dass in der neuen Empfehlung des Ministerkomitees ein größerer Schwerpunkt auf dem Training von Richtern liegt – ein Aspekt, der in dem neuen Bericht der Venedig-Kommission zur richterlichen Unabhängigkeit nicht vorkommt. 654 655

II. Anforderungen von Seiten des Europarats und der Venedig-Kommission

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ihre Fruchtbarkeit in der Praxis hin zu evaluieren, also eine Art „Feedback“Mechanismus zu schaffen, um dem Risiko zu entgehen, Ansätze zu empfehlen, die in der Praxis bereits versagt bzw. negative Nebenfolgen hervorgerufen haben.658 Inhaltlich wäre ein größerer Schwerpunkt der beiden Europaratsorgane und der Venedig-Kommission auf konkreten Vorschlägen zur Stärkung von Rechtskultur erstrebenswert. Ansätze hierzu sind in dem Bericht der Venedig-Kommission von 2010 und der Entschließung der PV von 2009 bereits vorhanden – ein Kurs, der in Zukunft intensiviert werden sollte.

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658 Siehe auch Bartole, Final Remarks: The Role of the Venice Commission, S. 355, 363: „(…) we have to realize that our standards have on the one hand to reflect the predominant exigencies of transition, and on the other, to comply with the requirements of the later stages of transition when initial choices have to be analyzed in the light of actual experiences and developments“.

C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten I. Einführung zu den östlichen Europaratsstaaten und ihrer Mitgliedschaft im Europarat Nachdem bis in die 1980er Jahren keinerlei Kooperation zwischen dem Europarat und der Sowjetunion, zu der die im Folgenden im Mittelpunkt stehenden Staaten zählten, erfolgt war,1 kam mit Gorbatschow eine neue Politik der Umgestaltung, Beschleunigung, Transparenz und Demokratisierung. Diese veränderte auch die Beziehungen zum Westen und fand in Gorbatschows Rede vor der PV im Juli 1989 ihren Höhepunkt.2 Die genaue historische Entwicklung zwischen dem Europarat und den heutigen östlichen Europaratsstaaten wurde bereits andernorts ausgiebig erörtert.3 Hier soll daher einführend lediglich untersucht werden, welche Rolle die Forderung nach einer unabhängigen Justiz im Rahmen des Beitritts zum Europarat generell spielt, und welchen Raum sie konkret in den Beitrittsverhandlungen mit Russland, der Ukraine, Moldawien und Georgien eingenommen hat.

1. Richterliche Unabhängigkeit als Teil der Beitrittsvoraussetzungen Rechtsstaatlichkeit zu garantieren und damit die tragende Säule richterlicher Unabhängigkeit, zählt gemäß Art. 4 iVm Art. 3 des Statuts des Europarats zu den materiellen Voraussetzungen eines Beitritts. Ein beitrittswilliger europäischer Staat4 muss nicht nur willens sein (subjektive Voraussetzung), sondern auch fähig (objek-

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1 Weber, Der Europarat und Osteuropa, 1972, S. 15; bzgl. des Umdenkens unter Gorbatschow auch mit Blick auf den Europarat, siehe Pietrowicz, Die Umsetzung der zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ergangenen Urteile des EGMR in der Russischen Föderation, S. 31 f. Anders gestaltete sich das Verhältnis zwischen dem Europarat und den mittel- und osteuropäischen Staaten, die nicht Teil der Sowjetunion waren. Dazu Weber, Der Europarat und Osteuropa; Bauer, Der Europarat nach der Zeitenwende 1989–1999, Zur Rolle Straßburgs im gesamteuropäischen Integrationsprozeß, S. 30 ff.; Tarschys, Wandel in Mittel- und Osteuropa und die Stellung des Europarates, S. 7. 2 Babajanyan, Integration des Südkaukasus in den Europarat, 2007, S. 50. 3 Bauer, Der Europarat nach der Zeitenwende 1989–1999, Zur Rolle Straßburgs im gesamteuropäischen Integrationsprozeß; Weber, Der Europarat und Osteuropa; Doyé, Die Integration der osteuropäischen Staaten in den Europarat, 2002; Tarschys, Wandel in Mittelund Osteuropa und die Stellung des Europarates; Elvers, Der Europarat und die Russische Föderation, in: U. Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, 2000, S. 213 f. 4 Näher zu dem Merkmal „europäisch“: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Recommendation on the enlargement of the Council of Europe, 4 October 1994, Recommendation 1247 (1994).

I. Einführung zu den östlichen Europaratsstaaten

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tive Voraussetzung), das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit anzuerkennen.5 Letzteres muss sich in der gesetzlichen Niederlegung rechtsstaatlicher Prinzipien und in einer korrespondierenden Rechtswirklichkeit widerspiegeln.6 Daneben folgt die Anforderung, unabhängige Gerichte zu gewährleisten, aus der materiellen Beitrittsvoraussetzung der Achtung der Menschenrechte, Art. 4 iVm Art. 3 Europaratsstatut. Zwar muss die EMRK erst am Tag des Beitritts unterzeichnet werden7 und die Ratifikation binnen 24 Monaten nach Beitritt erfolgen.8 Dennoch wurden die Vorschriften der EMRK häufig bereits im Rahmen der Prüfung der Beitrittsfähigkeit als Maßstab herangezogen, ohne dass der Beitrittskandidat formell Konventionsstaat war.9 Fak-

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Council of Europe, Statute of the Council of Europe, Art. 3. Committee of Ministers of the Council of Europe, Resolution (92) 29 on Ukraine, 23 September 1992; Committee of Ministers of the Council of Europe, Accession of Georgia to the Council of Europe, Resolution (96) 33 on Georgia, 18 September 1996, Doc. 7646; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of the Russian Federation with Council of Europe standards, prepared by Rudolf Bernhardt, Stefan Trechsel, Albert Weitzel and Felix Ermacora, 28 September 1994, Doc. AS/Bur/Russia (1994) 7, in: Human Rights Law Journal, Vol. 15, No. 7, 1994, S. 249 ff. 7 Dabei handelt es sich um eine gewohnheitsrechtliches Beitrittskriterium, das von einer entsprechenden Praxis und Rechtsüberzeugung getragen wird. Zur Praxis: Erstmals hatte die PV gegenüber Malta 1965 Bezug auf die EMRK iRd Beitrittsprozesses genommen, woraufhin viele Staaten von selbst erklärten, der EMRK beitreten zu wollen; gegenüber Spanien 1977 bezog sich das Ministerkomitee in seiner Einladung auf die Intention Spaniens, der EMRK beitreten zu wollen. Als die mittel- und osteuropäischen Staaten dem Europarat in den 1990er Jahren beitreten wollten, habe es diese Praxis bereits gegeben: Djerić, Admission to Membership of the Council of Europe and Legal Significance of Commitments Entered into by New Member States, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Vol. 60, 2000, S. 611, Fn. 26. Diese Annahme bestätigt sich mit Blick auf die hier untersuchten Staaten: Russland: Beitritt und Signatur der EMRK am 28.02.1996; Ukraine: Beitritt und Signatur am 09.11.1995; Moldawien: Beitritt und Signatur am 13.07.1995; Georgien: Beitritt und Signatur am 27.04.1999. Zur Rechtsüberzeugung: Heads of State and Government of the Council of Europe, Vienna Declaration, 9 October 1993, Decl.-09.10.93E. Djerić hält dies gleichwohl nicht für eine rechtliche, sondern faktische Verpflichtung, vgl. S. 611. 8 Tarschys, 50 Jahre Europarat: der Weg nach einem Europa ohne Trennungslinien, in: U. Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, 2000, S. 43; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, On Russia’s request for membership of the Council of Europe, 25 January 1996, Opinion No. 193 (1996), Rn. 10 i. Russland hat sich mit seiner Ratifikation am 5. Mai 1998 jedoch nicht daran gehalten, vgl. Nußberger, The Reception Process in Russia and Ukraine, S. 606. In der Praxis wird die Ratifikation idR sogar bereits innerhalb der ersten 12 Monate eingefordert: Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Georgia’s application for membership of the Council of Europe, Rn. 10. i. b.; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, 22 May 1995, Doc. 7278 Revised, Rn. 10. b. 9 Siehe zur Prüfung der Beitrittsfähigkeit Russlands u. a. am Maßstab der Art. 3, 5 und 6 EMRK: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of the Russian Federation with Council of Europe standards, prepared by Rudolf Bernhardt, Stefan Trechsel, Albert Weitzel and Felix Ermacora, S. 287; und zur Beitrittsfähigkeit Georgiens am Maßstab der Art. 2, 3, 5, 6, 8, 9, 10 und 11 EMRK: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of Georgia with Council of Europe standards submitted by Stefan Trechsel and Isi Foighel, 25 September 1997, AS/Bur/Georgia (1997) 1, Rn. 148 ff. 5 6

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

tisch muss ein beitrittwilliger Staat daher bereits im Vorfeld der Unterzeichnung und Ratifikation der EMRK die Vorgaben von Art. 6 Abs. 1 EMRK und damit ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht gewährleisten. Nicht zuletzt folgt die Anforderung an einen Beitrittskandidaten, unabhängige Gerichte zu garantieren, auch – unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung – aus dem Demokratieprinzip.10 Die Gewährleistung unabhängiger Gerichte ist jedoch nicht nur materielle Beitrittsvoraussetzung nach allen drei Prinzipien der Wertetrias des Europarats, sondern bereits im Vor-Beitrittsstadium relevant, um den im Mai 1989 für den Beitrittsprozess der mittel- und osteuropäischen Staaten eingeführten sog. Special Guest Status (Sondergaststatus) zu erlangen.11 Voraussetzung für die Erlangung dieses Status war gemäß der Res. 917 (1989) – neben der Eigenschaft, dass es sich um einen „europäischen“ Staat handeln musste – die Anwendung der Schlussakte von Helsinki von 1975, der Instrumente, die auf KSZE-Konferenzen verabschiedet worden waren sowie der beiden VN-Pakte.12 Später sind ähnliche Voraussetzungen in die Verfahrensregeln der PV aufgenommen worden.13 Während das später für die Erlangung des Sondergaststatus zu erfüllende Dokument von Kopenhagen sowie die Charter von Paris von 1990 sehr viel deutlichere Worte hinsichtlich der Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und explizit einer unabhängigen Justiz wäh-

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10 Siehe zu der Herleitung des Demokratieprinzips als Beitrittskriterium trotz mangelnder Kodifizierung: Djerić, Admission to Membership of the Council of Europe and Legal Significance of Commitments Entered into by New Member States, S. 606. Und zu einer entsprechenden Prüfung mit Blick auf Georgien: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of Georgia with Council of Europe standards submitted by Stefan Trechsel and Isi Foighel. Meron und Sloan sehen in der richterlichen Unabhängigkeit sogar einen eigenständiger Teil der horizontalen Elemente des Demokratieverständnisses des Europarats: Meron/Sloan, Democracy, Rule of Law and Admission to the Council of Europe, in: Israel Yearbook on Human Rights, Band 26, 1996, S. 145. 11 Es ging dabei um eine möglichst frühzeitige Einbeziehung in die Arbeit der PV. Die Anzahl der Sitze eines solchen Sondergastes entsprach bereits der späteren Sitzzahl: (zuletzt aufgerufen am 21.03.2011). Er gestattete die Teilnahme an den Sitzungen der PV und einiger Ausschüsse ohne Stimmrecht, aber mit der Möglichkeit eines Rederechts: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Rules of Procedure of the Assembly, Art. 58.7, 58.8. 12 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, On a special guest status with the Parliamentary Assembly, 11 May 1989, Resolution 917 (1989), 4. i. 13 Hinzugetreten ist lediglich die Notwendigkeit, die später verabschiedete „Charter von Paris für ein neues Europa“ von 1990 unterzeichnet zu haben, der Wortlaut wurde an die 1995 erfolgte Umwandlung der KSZE in die OSZE angepasst, und mit Blick auf die Instrumente, die keine völkerrechtlichen Verträge darstellen, der Wortlaut von ,apply and implement‘ in ,sign‘ bzw. ,accept‘ geändert: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Rules of Procedure of the Assembly, Resolution 1202 (1999) adopted on 4 November 1999 with subsequent modifications of the Rules of Procedure (zuletzt durch Res. 1780 (2010)), Art. 58. 1.

I. Einführung zu den östlichen Europaratsstaaten

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len,14 mussten sich auch die Staaten, denen bereits 1989 der Sondergaststatus eingeräumt wurde, zu der Achtung der Menschenrechte und insbesondere zu einem Handeln im Einklang mit der AEMR und den VN-Pakten bekennen:15 Art. 10 AEMR, welcher völkervertragrechtlich nicht justiziabel ist, und Art. 14 des völkerrechtlich verbindlichen IPbpR sehen die Forderung nach unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gerichten vor. Alle ehemaligen Beitrittskandidaten aus Mittel- und Osteuropa mussten daher bereits um den Sondergaststatus zu erlangen, der Forderung nach unabhängigen und unparteiischen Gerichten nachkommen.16

2. Die abweichende Praxis der Aufnahme: „integration is better than isolation“17 Tatsächlich entsprach die Praxis der Aufnahme nicht den skizzierten materiellen Beitrittsvoraussetzungen. Zwar war regelmäßig an dem subjektiven Element, d. h. dem Willen der Beitrittskandidaten, diesen Werten entsprechen zu wollen, grundsätzlich nicht zu zweifeln.18 Anders verhielt es sich jedoch mit dem sehr viel schwieriger zu erfüllenden objektiven Element – der Fähigkeit, den Anforderungen an Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Schutz der Menschenrechte gerecht zu werden.19 Man war sich darüber bewusst, dass die östlichen Europaratsstaaten20 diese

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14 Conference on Security and Co-operation in Europe, Document of the Conference on the Human Dimension of the CSCE, 29 June 1990, (5. 12), (5.16); Conference on Security and Co-operation in Europe, Charter of Paris for a New Europe, 19–21 November 1990. 15 Conference on Security and Co-operation in Europe, Helsinki Final Act, 1 August 1975, VII. 16 Zunächst wurde der Sondergaststatus an Ungarn, Polen und das ehemalige Jugoslawien verliehen, mit letzterem aber jegliche Beziehung 1991 wieder abgebrochen: Tarschys, Wandel in Mittel- und Osteuropa und die Stellung des Europarates, S. 9. Auch die damalige Sowjetunion gehörte zu den ersten Inhabern eines Sondergaststatus. Letzterer ging 1992 auf Russland als offiziellem Nachfolgestaat über: Doyé, Die Integration der osteuropäischen Staaten in den Europarat, S. 29. Heute ist Belarus (neben dem Kosovo) der einzige Staat Europas, der weder Mitglied noch Sondergast ist; der Sondergaststatus wurde Belarus 1997 wieder entzogen: Stegen, Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung als Motor des Europarats, S. 85. 17 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on Russia’s request for membership of the Council of Europe, 2 January 1996, Doc. 7443, abgedruckt in: Human Rights Law Journal, Vol. 17, No. 3–6, 1996, S. 187 ff., 194. 18 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, On Russia’s request for membership of the Council of Europe, Rn. 7. Ausnahme ist das ehemalige Jugoslawien (Serbien und Montenegro): Djerić, Admission to Membership of the Council of Europe and Legal Significance of Commitments Entered into by New Member States, S. 608. 19 So auch Djerić, Admission to Membership of the Council of Europe and Legal Significance of Commitments Entered into by New Member States, S. 608; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, On Russia’s request for membership of the Council of Europe, Rn. 7. 20 Vgl. aber auch Tarschys, Wandel in Mittel- und Osteuropa und die Stellung des Europarates, S. 24, der auf die noch ungefestigte demokratische Ordnung Deutschlands zum Zeitpunkt des Beitritts 1950 sowie auf das Fehlen endgültiger Verfassungsordnungen in Portugal

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

Anforderungen noch nicht erfüllten, und gewährte den beitretenden Staaten einen Vertrauensvorschuss. Die Europaratsmitglieder des Ostens, die im Laufe der 1990er und 2000er Jahre aufgenommen wurden, bekannten sich ihrerseits bei ihrer Aufnahme zu noch bestehenden Mängeln und gingen, zusätzlich zu den ihnen von der PV auferlegten Bedingungen, Selbstverpflichtungen hinsichtlich noch bestehender Defizite ein, die mit Monitoring-Mechanismen flankiert wurden.21 Hintergrund der Aufnahme trotz fehlender Erfüllung des objektiven Elements der materiellen Beitrittsvoraussetzungen war die Überlegung, dass man durch Integration gezielter und effizienter Einfluss nehmen können würde. Gleichzeitig wurde aber eine gewisse Grundbereitschaft der Beitrittsstaaten verlangt, sich diese Fähigkeit zu erarbeiten, wie an dem Aussetzen der Beitrittsverhandlungen im Falle Russland aufgrund offenkundiger Missachtung der Standards während des Ersten Tschetschenienkrieges beobachtet werden kann.22 Der Gedanke der frühen Integration, um Einfluss zu nehmen auf die Entwicklung hin zu (mehr) Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, spiegelt sich in den Worten des damaligen Berichterstatters des Ausschusses für politische Angelegenheiten mit Blick auf Russland 1996 wider: „Russia does not yet meet all Council of Europe standards. But integration is better than isolation; cooperation is better than confrontation.“23

3. Die konkreten Beitrittsverhandlungen a) Russland Russland hatte sich bereits 1992 um Aufnahme beworben und wurde (verzögert durch den Ersten Tschetschenienkrieg)24 am 28. Februar 1996 als Mitglied aufgenommen.25 Viele Experten hielten Russland nicht bereit für einen Beitritt, was neben dem Ersten Tschetschenienkrieg an der mangelnden demokratischen Ausrich-

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und Spanien in den 1970er Jahren verweist, eine derartige Aufnahmepraxis daher nicht nur iBa Osteuropa verstanden wissen will. 21 Zur rechtlichen Bedeutung der Selbstverpflichtungen, weiterführend Djerić, Admission to Membership of the Council of Europe and Legal Significance of Commitments Entered into by New Member States. 22 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on Russia’s request for membership of the Council of Europe, v. a. S. 191. 23 Id., S. 194. Vgl. auch Nußberger, The Reception Process in Russia and Ukraine, S. 604. Kritisch: Luchterhandt, „Rechtsstaat Russland“, Beachtliche Fortschritte – schwere Defizite – ungünstige Perspektiven, in: Internationale Politik, Heft 10, 1998, S. 21 f., der darauf verweist, dass man von einer Ausgrenzung nur dort sprechen könne, wo einem Staat willkürlich die Mitgliedschaft verweigert werde, was bei Russland gerade nicht der Fall gewesen sei. 24 Zur Aussetzung des Beitrittsprozesses: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Resolution 1055 (1995) on Russia’s request for membership in the light of the situation in Chechnya, 2 February 1995, 1055 (1995); zur Wiederaufnahme: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Resolution 1065 (1995) on procedure for an opinion on Russia’s request for membership of the Council of Europe, 26 September 1995, 1065 (1995). 25 Siehe ausführlich: Althauser, Rußlands Weg in den Europarat, 1997.

I. Einführung zu den östlichen Europaratsstaaten

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tung und fehlenden Rechtsstaatlichkeit lag.26 Teilweise wird sogar argumentiert, dass durch eine Beibehaltung des Sondergaststatus das Dilemma zwischen einem Beitrag zur Demokratisierung und Rechtsstaatsentwicklung einerseits, und der Gefahr der Herabsenkung der eigenen Standards und eines Verlustes an Glaubwürdigkeit durch die Aufnahme nicht bereiter Staaten andererseits,27 hätte gelöst werden können. Der Sondergaststatus hätte integrierend gewirkt, ohne das Druckmittel des Beitritts zu verlieren, und deshalb zu einer effizienteren Umsetzung der Europaratsvorgaben geführt, als es die Sanktionsmöglichkeiten nach einem erfolgten Beitritt vermochten und vermögen.28 Zwischen 1994 und 1996 hat insbesondere die PV durch sog. Fact-finding missions, bestehend aus namhaften Juristen, gefolgt von sog. On-the-spot-visits durch Vertreter der einschlägigen Ausschüsse,29 die Lage in Russland evaluiert. In dem Bericht der Fact-finding mission von 1994 heißt es, dass Russland die Voraussetzungen für einen Beitritt nicht erfülle, insbesondere nicht das Kriterium der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte. Richterliche Unabhängigkeit spielt dabei grundsätzlich unter beiden Prinzipien eine Rolle,30 explizit erfolgte die Befassung aber unter dem speziellen Prüfungspunkt der Erfüllung der Voraussetzungen aus Art. 6 EMRK. Interessanterweise wurde das Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative zum damaligen Zeitpunkt als unproblematisch bewertet31 –

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26 Kahn, Vladimir Putin and the Rule of Law in Russia, in: Georgia Journal of International and Comparative Law, Vol. 36, Number 3, 2008, S. 533 ff.; Gimbal, Persilschein oder Gütesiegel? Der Europarat verspielt mit seiner Aufnahmepolitik Ansehen und Glaubwürdigkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.1997. 27 Zu dem Ergebnis, dass Russland nicht bereits für eine Aufnahme war, kamen alle Expertenmeinungen: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of the Russian Federation with Council of Europe standards, prepared by Rudolf Bernhardt, Stefan Trechsel, Albert Weitzel and Felix Ermacora, S. 287; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on Russia’s request for membership of the Council of Europe, S. 194; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion on Russia’s application for membership of the Council of Europe, 18 January 1996, Doc. 7463, in: Human Rights Law Journal, Vol. 17, No. 3–6, S. 218 ff., 226. 28 Gimbal, Persilschein oder Gütesiegel? Der Europarat verspielt mit seiner Aufnahmepolitik Ansehen und Glaubwürdigkeit; Kahn, Vladimir Putin and the Rule of Law in Russia, S. 533 ff.; Janis, Russia and the ,Legality‘ of Strasbourg Law, in: European Journal of International Law, Vol. 8, Issue 1, 1997, S. 98 f.; Bowring, Russia’s Accession to the Council of Europe and Human Rights: Four Years On, in: European Human Rights Law Journal, Issue 4, 2000, S. 378 f. Anders: Tarschys, Wandel in Mittel- und Osteuropa und die Stellung des Europarates, S. 15 f.; Tarschys, 50 Jahre Europarat: der Weg nach einem Europa ohne Trennungslinien, S. 42 f. 29 Ausschuss für Politische Angelegenheiten; Ausschuss für Menschenrechte und rechtliche Angelegenheiten; Ausschuss für die Beziehungen mit Europäischen Nicht-Mitgliedstaaten. 30 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of the Russian Federation with Council of Europe standards, prepared by Rudolf Bernhardt, Stefan Trechsel, Albert Weitzel and Felix Ermacora, S. 285 f. 31 Die Experten stellten fest, dass es im Gegensatz zu der Telefonjustiz unter dem kommunistischen Regime, nach ihrem Eindruck keine Einflussnahmen seitens der Exekutive und

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eine Abweichung zu der heutigen Situation, die sich mit einer Verschlechterung dieses Aspekts nach einem ersten Auftrieb in den 1990er Jahren erklären lässt.32 Auch die noch nicht funktionierende Ernennung auf Lebenszeit, einschließlich einer damals neu eingeführten Proberichterzeit, wurde unter Verweis darauf, dass eine Ernennung auf Lebenszeit nicht Europaratsstandard sei, als nicht weiter problematisch angesehen.33 Vielmehr stellten die Experten als Hauptprobleme der Unabhängigkeit der Justiz in Russland – neben der mangelnden Reform des Zivil- und Strafprozessrechts – erstens das rein praktische Problem der defizitären Ausstattung der Gerichte fest. Letztere würde sich insbesondere in völlig inadäquaten Gerichtsräumlichkeiten, einer unzureichenden Mitarbeiterzahl und dem Mangel an technischer Ausstattung sowie in den vergleichweise niedrigen Gehältern der Richter zeigen. Daneben würden Korruption und Bedrohungen des Lebens und der Gesundheit von Richtern verbreitete Methoden darstellen, um Gerichtsentscheidungen zu beeinflussen und dadurch zu der Schwierigkeit beitragen, Kandidaten für das Richteramt, ebenso wie für das Laienrichteramt zu finden.34 Zweitens wurde das Verhältnis zwischen „Prokuratura“ (StA mit weiterreichenden Funktionen) und Richterschaft kritisiert, da die Gerichte regelmäßig der Meinung der StA folgten,35 und sich Richter zudem über die Dominanz der „Prokuratura“ im Gerichtssaal beschwert hatten.36 Die „Prokuratura“ könne sogar die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten überprüfen – eine Funktion, die in anderen Europaratsstaaten Verwaltungsgerichte innehätten.37 Bis heute ist die spezielle Rolle der „Prokuratura“, die noch die Handschrift der ehemaligen Sowjetunion trägt, nicht ganz überwunden und hat auch den EGMR mehrfach, insbesondere im Zusammenhang mit der Anfechtung rechtskräftiger Urteile, beschäftigt.38 Das dritte und vielleicht größte Hindernis für die Rechtsstaatlichkeit, genauer die richterliche Unabhängigkeit, sahen die Fact-finding missions von 1994 und 1996 in rechtskulturellen Defiziten – eine Beobachtung, die bis heute zutrifft. Während 1994 das Fortwirken eines autoritären Denkens in der öffentli-

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der Verwaltungsbehörden mehr gebe, die Gerichte vielmehr strukturell unabhängig von der Exekutive seien. Id., S. 284 ff. 32 Mommsen/Nußberger, Das System Putin – Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, 2007, S. 9 ff., 122; Voswinkel, Nichts als Strafen, Wer in Russland ein faires Gerichtsverfahren verlangt, wartet vergeblich, wie der Fall Politkowskaja zeigt, in: DIE ZEIT, 11. Dezember 2008. Zur heutigen Lage siehe unten C. II. 1. und 2. 33 Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, siehe näher B. I. 3. b). 34 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion on Russia’s application for membership of the Council of Europe. 35 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of the Russian Federation with Council of Europe standards, prepared by Rudolf Bernhardt, Stefan Trechsel, Albert Weitzel and Felix Ermacora, S. 251. 36 Id., S. 285. Zwar erfolgte die Befassung unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit, implizierte jedoch auch eine dominierende Stellung der „Prokuratura“ im Verhältnis zu dem jeweiligen Richter. 37 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion on Russia’s application for membership of the Council of Europe, 220. 38 Siehe oben B. I. 3. c) cc) sowie f).

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chen Verwaltung,39 noch aus kommunistischer Zeit geprägte Einstellungen bei den Richtern,40 sowie ein verbreiteter Rechtsnihilismus unter staatlichen Hoheitsträgern41 benannt wurden, brachte es der Bericht des Ausschusses für rechtliche Angelegenheiten und Menschenrechte 1996 auf den Punkt: Zunächst würde es teilweise an einer gesetzlichen Kodifizierung fehlen; dort, wo es neu verabschiedete Regelungen gebe, würden diese nicht angewendet. Hinzutreten würden Strukturen und Mentalitäten, die noch von der Sowjetzeit herrührten und dazu führten, dass Gesetze nicht wie selbstverständlich ignoriert würden, jedoch von allen Ebenen der Staatsverwaltung, angefangen mit dem Staatspräsidenten bis hinunter zu den einfachen örtlichen Beamten, missachtet würden, wenn sich eine „bessere“ Lösung für ein bestimmtes Problem anbiete.42 Weiterhin wird in dem Bericht von 1996 implizit deutlich, dass Richter sich nicht als Organe verstünden, die zum Schutz der Rechte der Bürger agierten. Selbst dann aber, wenn sie gegen die öffentliche Verwaltung urteilten, stelle sich wegen der geringen Achtung von Gerichten in der öffentlichen Meinung das Problem der Umsetzung. Gerade hier, beim Zugang zu Gerichten und der effizienten Umsetzung ihrer Urteile, müssten wichtige Reformen durchgeführt werden, um eine Gesetzgebung in Übereinstimmung mit Europaratsstandards zu erreichen und deren Umsetzung zu sichern. Eine erfolgreiche Umsetzung sei aber wiederum nur bei einem Wandel des tief sitzenden Rechtsnihilismus zu erreichen, wofür öffentliche Informationskampagnen sowie spezifische Fortbildungen für Juristen empfohlen wurden.43 Insgesamt erfüllte Russland damit weder im September 1994, noch im Januar 1996 nach dem Votum der Experten die Anforderungen für einen Beitritt,44 wobei die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz unter allen drei Aspekten der Trias des Europarats kritisiert wurde.45

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39 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of the Russian Federation with Council of Europe standards, prepared by Rudolf Bernhardt, Stefan Trechsel, Albert Weitzel and Felix Ermacora, S. 287. 40 Luchterhandt, „Rechtsstaat Russland“, Beachtliche Fortschritte – schwere Defizite – ungünstige Perspektiven, S. 14. 41 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of the Russian Federation with Council of Europe standards, prepared by Rudolf Bernhardt, Stefan Trechsel, Albert Weitzel and Felix Ermacora, S. 251, 287; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on Russia’s request for membership of the Council of Europe, S. 191; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Resolution 1065 (1995) on procedure for an opinion on Russia’s request for membership of the Council of Europe, Rn. 9; Bindig/Kleinsorge, Monitoring the compliance of member states with obligations and commitments: The case of Estonia, in: B. Haller/H. C. Krüger/H. Petzold (Hrsg.), Law in Greater Europe, Towards a Common Legal Area, S. 218. 42 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion on Russia’s application for membership of the Council of Europe, S. 218. 43 Id., S. 219. 44 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of the Russian Federation with Council of Europe standards, prepared by Rudolf Bernhardt, Stefan Trechsel, Albert Weitzel and Felix Ermacora, S. 287. 45 Während der Bericht von 1994 schwerpunktmäßig die Achtung der Menschenrechte, ebenso wie die Beitrittsvoraussetzung der Rechtsstaatlichkeit nicht erfüllt sah, ordnete der

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Zwischen den beiden Fact-finding missions fanden On-the-spot-visits durch die Vorsitzenden der einschlägigen Ausschüsse der PV statt und Russland wurde zur Beantwortung einer Reihe von Fragen aufgefordert.46 Aus Letzteren lässt sich herauslesen, dass der Europarat Reformen des Strafgesetzbuches, des Strafprozessrechts, des Zivilgesetzbuches und des Zivilprozessrechts, ebenso wie die Annahme bzw. Korrektur des Gesetzes über den Status von Richtern sowie des Gesetzes über die StA voraussetzte. Daraus wird deutlich, dass im Rahmen der Aufnahmebedingungen beide Aspekte verlangt waren und bis heute notwendig sind: eine Reform der Rechtslage und damit die Einführung bzw. Reformierung detaillierter Regelungen zur Absicherung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit,47 ebenso wie ihre konkrete Umsetzung.48 Von Februar bis September 1995 wurde der Beitrittsprozess wegen des Ersten Tschetschenienkrieges unterbrochen,49 am 20. Dezember 1995 sprach sich der Ausschuss für Politische Angelegenheiten für eine Einladung zum Beitritt an Russland aus, obwohl ebenso offen angesprochen worden war, dass Russland die Beitrittsvoraussetzungen, darunter die Unabhängigkeit der Justiz, (noch) nicht erfüllte.50 Im Grunde brachte der Vorsitzende des Rechts- und Menschenrechtsausschusses das Dilemma auf den Punkt: „Thus the final decision would depend on whether a critical assessment of the current legal and human rights situation or a political evaluation of the chances and perspectives for improvement of this situation following the admission should prevail.“51 Nur einen Monat nachdem sowohl der Ausschuss für politische Angelegenheiten als auch der Rechts- und Menschenrechtsausschuss die Erfüllung der Beitrittsvoraussetzungen

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Bericht von 1996 die mangelnde Unabhängigkeit der Richter darüber hinaus bei dem Demokratieprinzip ein: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on Russia’s request for membership of the Council of Europe, S. 191. 46 Russian Federation, High level Russian Message, Appendix, 18 Januar 1995, Doc. 7443, in: Human Rights Law Journal, Vol. 17, No. 3–6, 1996, S. 201–214. 47 Id., S. 202 ff., I, II. 48 Id., S. 208, VIII. 49 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Resolution 1055 (1995) on Russia’s request for membership in the light of the situation in Chechnya; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Resolution 1065 (1995) on procedure for an opinion on Russia’s request for membership of the Council of Europe. 50 Diesem Votum lagen eine Reihe von Verpflichtungen seitens Russlands zugrunde, ebenso wie ein gemeinsames Programm von EU und Europarat zu Russland: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on Russia’s request for membership of the Council of Europe, S. 187, 194; Bowring, Russia’s Accession to the Council of Europe and Human Rights: Compliance or Cross-Purposes?, in: European Human Rights Law Journal, Issue 6, 1997, S. 632 ff. 51 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion on Russia’s application for membership of the Council of Europe, S. 226. Siehe auch Janis, Russia and the ,Legality‘ of Strasbourg Law, S. 97; Luchterhandt, „Rechtsstaat Russland“, Beachtliche Fortschritte – schwere Defizite – ungünstige Perspektiven, S. 21.

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negativ beschieden hatten,52 wurde Russland am 28. Februar 1996 Vollmitglied des Europarats.53 Anhand der nachfolgenden Problemanalyse wird für den Bereich richterlicher Unabhängigkeit deutlich werden, dass auch nach eineinhalb Jahrzehnten der Mitgliedschaft und damit Integration und Kooperation auf vollwertiger Basis, noch gravierende Defizite erkennbar sind, die teilweise nach wie vor diejenigen widerspiegeln, die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen bereits eine Rolle spielten. Dazu zählen mangelnde gesetzliche Vorkehrungen und unpräzise Regelungen, die ein viel zu großes Ermessen lassen. Aber auch dort, wo Regelungen existieren, ist nach wie vor ihre Nichtanwendung in der Praxis zu beobachten, und damit das über allem schwebende Problem der mangelnden Rechtskultur.54 b) Ukraine Die Ukraine trat dem Europarat nur wenige Monate vor Russland am 9. November 1995 bei, nachdem sie sich am 14. Juli 1992 um Mitgliedschaft beworben hatte. Der Beitrittsprozess war daher kürzer als der russische und wurde nicht zwischendurch ausgesetzt. Probleme bestanden jedoch in ähnlichen Bereichen,55 trotz der vergleichsweise sehr viel positiveren Reaktionen der beiden Juristen der Factfinding mission und der Berichterstatter der Ausschüsse auf die Fortschritte in der Ukraine hinsichtlich der drei Grundprinzipien des Europarats.56 Als gleichgelagerte Probleme sind die ebenfalls veraltete Straf- und Zivilprozessordnung, Diskussionen rund um die Amtszeit der Richter und hier auch ihrer

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52 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on Russia’s request for membership of the Council of Europe, S. 194; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion on Russia’s application for membership of the Council of Europe, S. 226. 53 Committee of Ministers of the Council of Europe, Invitation to the Russian Government to Become a Member of the Council of Europe, adopted by the Committee of Ministers on 8 February 1996, at the 557th meeting of the Ministers’ Deputies. 54 Für die Nichterfüllung weiterer Anforderungen: Nußberger, The Reception Process in Russia and Ukraine, S. 605 f.; Bowring, Russia’s Accession to the Council of Europe and Human Rights: Four Years On, S. 371 ff. 55 Nußberger, The Reception Process in Russia and Ukraine, S. 610 f. 56 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the legislation of Ukraine prepared by José Maria Morenilla Rodriguez and Jean-Claude Soyer, 7 April 1995, Doc. AS/Bur/Ukraine (1995) 1, abgedruckt in: Human Rights Law Journal, Vol. 16, No. 7–9, 1995, S. 361 f.; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Ukraine for membership in the Council of Europe, 7 September 1995, Doc. 7370, Rn. 77 ff.; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Opinion on the application by Ukraine for membership of the Council of Europe, 25 September 1995, Doc. 7398, 9. iVm Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Ukraine for membership in the Council of Europe, Conclusion; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion No. 190 (1995) on the application by Ukraine for membership of the Council of Europe, 26.09.1995, No. 190 (1995).

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Ernennung, sowie Rolle und Funktionen der „Prokuratura“57 sowie die defizitäre Finanzierung der Gerichte zu nennen.58 Weiterhin wurden die Defizite ebenfalls nicht nur im Bereich der gesetzlichen Vorschriften, sondern auch in dem Erbe der sowjetischen „Rechtskultur“, mithin dem auch mit Blick auf Russland festgestellten, verbreiteten Rechtsnihilismus in der Praxis gesehen.59 Bereits der Bericht der Fact-finding mission von 1995 befasste sich ausführlich mit der Unabhängigkeit der Justiz. Gerade die Ausgestaltung des Strafprozesses stieß auf heftige Kritik, da nicht nur die Rolle des Ermittlungsrichters durch die Polizei unter Kontrolle der „Prokuratura“ wahrgenommen wurde, sondern es – außer bei Festnahmen – keine Rechtsbehelfe zu einem Gericht gab, Richter vielmehr erst im Hauptverfahren und in der Rechtsmittelinstanz vorgesehen waren. Die Organisation des Strafprozesses wurde daher, wie im Falle Russlands, noch als weit entfernt von den Garantien der Art. 5 und 6 EMRK eingestuft.60 Auch die Berichterstatter der drei Ausschüsse rügten mit Blick auf die Justiz die mächtige Rolle der „Prokuratura“, die auf die Funktionen westlicher StA reduziert werden sollte, und mahnten eine Erneuerung des Prozessrechts, allen voran des Strafprozessrechts samt entsprechender Neukodifizierung, an.61 Die Unabhängigkeit der Justiz wurde dabei insbesondere von dem Berichterstatter des Ausschusses für die Beziehungen mit Nicht-Mitgliedstaaten kritisch gesehen. Er kam, anders als die beiden Juristen der Fact-finding mission, zu dem Schluss, dass die Strukturen und die Arbeitsweise der Gerichte in der Ukraine seit dem kommunistischen Regime weitgehend unverändert geblieben und Gesetze lediglich in Vorbereitung seien. Die Judikative müsse daher mehr werden, als „the weak link in the institutional system“,62 und insbeson-

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57 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion No. 190 (1995) on the application by Ukraine for membership of the Council of Europe, Rn. 11; Committee of Ministers of the Council of Europe, Resolution (92) 29 on Ukraine; zur „Prokuratura“ als Sowjeterbe: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the legislation of Ukraine prepared by José Maria Morenilla Rodriguez and Jean-Claude Soyer, S. 346 f., 357. 58 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Opinion on the application by Ukraine for membership of the Council of Europe, Rn. 31. 59 Nußberger, The Reception Process in Russia and Ukraine, S. 610 ff.; ähnlich Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the legislation of Ukraine prepared by José Maria Morenilla Rodriguez and Jean-Claude Soyer, S. 362: „Furthermore, beyond the laws, a whole new practice must be turned upside down.“ 60 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the legislation of Ukraine prepared by José Maria Morenilla Rodriguez and Jean-Claude Soyer, S. 356 ff. 61 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Relations with NonMember Countries), Opinion on the application by Ukraine for membership of the Council of Europe, 26 September 1995, Doc. 7396, II; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Opinion on the application by Ukraine for membership of the Council of Europe, Rn. 13, 25 ff. 62 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Relations with NonMember Countries), Opinion on the application by Ukraine for membership of the Council of Europe, II.

I. Einführung zu den östlichen Europaratsstaaten

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dere Amtszeit und Ernennungsweise von Richtern in Einklang mit Europaratsvorgaben gebracht werden.63 Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Ukraine schon damals die Amtszeit durch neue gesetzliche Regelwerke von fünf auf zehn Jahre verlängert sowie einen neuen, stärker auf Selbstverwaltung setzenden Ansatz für die Ernennung der Richter eingeführt hatte,64 und auch eine Ernennung auf lediglich fünf Jahre durch die Exekutive nicht als unvereinbar mit den einzig verbindlichen EMRK-Vorgaben hätte eingeschätzt werden können,65 trat sie dennoch, wie Russland, dem Europarat bei, ohne alle Voraussetzungen zu erfüllen.66 Mangelhaft, insbesondere in der Praxis, war nach Ansicht der Experten nicht die Erfüllung des Demokratieprinzips,67 sondern die Umsetzung der beiden anderen Grundprinzipien des Europarats – Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Auf der Grundlage von erzieltem Teilerfolg, erkennbarem guten Willen, (Selbst-)Verpflichtungen und Hilfestellungen des Europarats auch nach dem Beitritt sowie begleitet von einem gewissen Verständnis dafür, dass die Ukraine nicht auf einmal Prinzipien, Gesetzgebung, Praxis und psychologische Muster umstellen können würde, wurde sie am 9. November 1995 in den Europarat aufgenommen.68

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63 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Ukraine for membership in the Council of Europe, Rn. 11 vii., 32 f.; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Relations with NonMember Countries), Opinion on the application by Ukraine for membership of the Council of Europe, II. Ähnlich die Kritik an der Amtszeit und Ernennung durch den Berichterstatter des Ausschusses für rechtliche Angelegenheiten und Menschenrechte, der jedoch insgesamt zu dem Ergebnis kam, dass die Unabhängigkeit gewahrt sei: Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Opinion on the application by Ukraine for membership of the Council of Europe, Rn. 31. 64 Einschließlich der Garantie ihrer Unabsetzbarkeit und klar festgelegter Ausnahmen hiervon, vgl. Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the legislation of Ukraine prepared by José Maria Morenilla Rodriguez and Jean-Claude Soyer, S. 356. 65 Siehe oben B. I. 3. a) und b). 66 Nußberger, The Reception Process in Russia and Ukraine, S. 614; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Ukraine for membership in the Council of Europe, in dem die Beitrittsempfehlung explizit auf der Basis eingegangener Selbstverpflichtungen und einem stärkeren Monitoringmechanismus getroffen wurde; ebenso Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Communication from the Committee of Ministers, Resolution (95) 22, Invitation to Ukraine to become a member of the Council of Europe, 25 October 1995, Doc. 7420. 67 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the legislation of Ukraine prepared by José Maria Morenilla Rodriguez and Jean-Claude Soyer, S. 362; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Ukraine for membership in the Council of Europe, Rn. 77. 68 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the legislation of Ukraine prepared by José Maria Morenilla Rodriguez and Jean-Claude Soyer, S. 363.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

c) Moldawien Noch kürzer fiel das Verfahren um die Aufnahme Moldawiens aus, wenngleich ähnlich wie bei Russland territoriale Konflikte die Aufnahme erschwerten.69 Moldawien erhielt im Februar 1993 einen Sondergaststatus in der PV, bewarb sich zwei Monate später um Aufnahme als Vollmitglied, 1994 fanden erste freie Wahlen statt, und nach intensiven Beratungen mit dem Europarat wurde eine neue Verfassung verabschiedet. Bereits am 13. Juli 1995 trat Moldawien als erster der hier im Fokus stehenden Staaten dem Europarat bei. Wie schon mit Blick auf Russland und die Ukraine, waren auch hier Justizreformen eine der obersten Prioritäten des Europarats im Rahmen der Beitrittsverhandlungen und kamen bei der Etablierung rechtsstaatlicher Strukturen direkt nach der Notwendigkeit einer neuen Verfassung.70 Da das moldawische Justizsystem ebenfalls noch auf dem sowjetischen Modell basierte, waren weitreichende gesetzgeberische Reformen zwingend geboten.71 Ein Hauptaugenmerk lag neben der Einrichtung eines Verfassungsgerichts auch hier auf den weitreichenden Befugnissen der „Prokuratura“ im Strafverfahren: Diese würde nicht nur in vielerlei Hinsicht richterliche Funktionen anstelle von Richtern wahrnehmen, was im Vorverfahren des Strafverfahrens gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK verstoße.72 Sie überwache auch, konträr zum Rechtsstaatsprinzip, die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Gerichte und habe ausdrücklich die Kompetenz, sich in die Angelegenheiten der Gerichte einzumischen.73 Sie sei mit ähnlichen Strukturen und Kompetenzen wie unter sowjeti-

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69 Die politische Auseinandersetzung um Transnistrien und der ethnische Konflikt um Gagausien: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the Legislation of the Republic of Moldova prepared by Karel Jungwiert and Marek A. Nowicki, 7 October 1994, AS/Bur/Moldova (1994) 2, Rn. 81 ff., 92 ff.; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 6, 9, 24 ff., 46 ff., 88 ff., 123 ff.; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Opinion on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, 15 June 1995, Doc. 7325, Rn. 36; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Relations with Non-Member Countries), Opinion on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, 19 June 1995, Doc. 7331, Rn. 5; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion No. 188 (1995) on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, 27 June 1995, No. 188 (1995). Rn. 5 f., 11 k. 70 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 93; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Opinion on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 5 ff., das die richterliche Unabhängigkeit als „a cornerstone of the rule of law and a democratic society“ bezeichnete (Rn. 7). 71 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 93 ff. 72 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the Legislation of the Republic of Moldova prepared by Karel Jungwiert and Marek A. Nowicki, Rn. 44. 73 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Opinion on the application by Moldova for membership of the Council of

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scher Herrschaft nach wie vor in Kraft74 und operiere – gleichberechtigt neben Exekutive, Legislative und Judikative – als spezifische Institution mit außergewöhnlichen Kompetenzen, gleich einer 4. Gewalt. Eine neue StPO und ein neues Strafgesetzbuch wurden gleichfalls angemahnt,75 da diese Gesetze, wie ZPO und Zivilgesetzbuch, die in der täglichen Rechtsprechung angewandt würden, aus der vorherigen demokratienfeindlichen Haltung herrührten.76 Wie im Hinblick auf die Ukraine und Russland, wurde außerdem die unzureichende materielle Situation gerügt, die sich nicht nur in der inadäquaten Bezahlung von Richtern im Verhältnis zu anderen juristischen Berufen zeigen würde, sondern sich auch in der defizitären Ausstattung der Gerichte und mangelnden technischen Ausstattung widerspiegele. Die materielle Situation der Judikative sei insbesondere schwächer als diejenige der anderen beiden Gewalten, was nach wie vor aus der Sowjetzeit herrühre, in der die Justiz der willkürlichen Kontrolle durch Partei, Exekutive und „Prokuratura“ unterstanden habe.77 Und schließlich wurde auch Moldawien ein Mangel an Rechtskultur bescheinigt, der sich insbesondere in der Gesetzlosigkeit, dem Mangel an demokratischem Geist und ebensolcher Tradition sowie dem Auseinanderklaffen zwischen schriftlichen Zusicherungen und praktischer Umsetzung zeige.78 Anders als im Hinblick auf Russland und die Ukraine, rügten die beiden Juristen der Fact-finding mission in Auseinandersetzung mit den EMRK-Vorgaben überdies die Kompetenzen der Gerichtspräsidenten – ein weiteres Schlüsselproblem in den postsowjetischen Europaratsstaaten.79 Gerichtspräsidenten würden in Moldawien nicht nur die Einschätzung über Natur und Komplexität eines eingehenden Falls treffen, sondern sich selbst als Richter betätigen, wenn bei Kammern von zwei Richtern eine Pattsituation entstünde. Bei dieser Kombination der Befugnisse in der Hand der Gerichtspräsidenten sei die Unabhängigkeit der Gerichte fraglich. Positiv wurden die Anstrengungen zur Neufassung des Status von Richtern hervorgehoben, deren Unabhängigkeit insbesondere durch die Einführung eines Rich-

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Europe, Rn. 16 ff., 39; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 95; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the Legislation of the Republic of Moldova prepared by Karel Jungwiert and Marek A. Nowicki, Rn. 37 ff. Vgl. auch die Verurteilung der Überwachungskontrolle in der Rechtsprechung des EGMR unter B. I. 3. c) ee). 74 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the Legislation of the Republic of Moldova prepared by Karel Jungwiert and Marek A. Nowicki, Rn. 37 ff. 75 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Opinion on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 39. 76 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the Legislation of the Republic of Moldova prepared by Karel Jungwiert and Marek A. Nowicki, Rn. 27. 77 Id., Rn. 34 ff. 78 Id., Rn. 28 ff., 115; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Appendix 3. 79 Siehe dazu ausführlich unten C. II. 1. b).

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terrats, der Neuregelung der Ernennung von Richtern und des Disziplinarsystems gestärkt werden sollte. Daneben spielte die Amtszeit von Richtern eine Rolle, mit zunächst stufenweiser Anhebung von fünf auf zehn Jahre und schließlich auf Lebenszeit. Diese wurde nicht nur implizit als zu kurz bemängelt, indem ausreichende Sicherungen der Unabhängigkeit angesichts der Kürze der Amtszeit angemahnt wurden.80 Sondern es wurde eine Verfassungsänderung in diesem Punkt gefordert, da eine begrenzte Amtszeit die richterliche Unabhängigkeit verletze und binnen Jahresfrist in Einklang mit Europaratsstandards zu bringen sei.81 Wenngleich sich dem Bericht und den Meinungen der Ausschüsse zum Beitritt entnehmen lässt, dass Moldawien nach Ansicht des Europarats durch Aushandlung und Verabschiedung rechtlicher Regelungen zur Schlichtung des Konflikts mit Gagausien bereits eine demokratische Einstellung bewiesen82 sowie eine neue Verfassung mit Unterstützung des Europarats erarbeitet hatte, und damit eher die Anforderungen des Europarats an eine Mitgliedschaft zu erfüllen schien als die Ukraine und Russland, so ist auch Moldawien unter der Prämisse der Einwirkung und Unterstützung durch frühe Mitgliedschaft, anstelle einer vollständigen Erfüllung aller Kriterien, aufgenommen worden.83 d) Georgien Georgien trat dem Europarat am 27. April 1999 bei, nachdem sich das südkaukasische Land im Juli 1996 um Aufnahme beworben hatte. Erst kurz zuvor, im Mai 1996, hatte es einen Sondergaststatus in der PV erhalten, obwohl es sich bereits

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80 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 94 ff. 81 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Opinion on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 5 ff., 39; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion No. 188 (1995) on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 8 f. Dem ist wie oben im Hinblick auf die Ukraine entgegenzuhalten, dass es nicht den verbindlichen Standards der Menschenrechtskonvention entsprach und entspricht, dass richterliche Unabhängigkeit zwangsläufig eine Ernennung auf Lebenszeit voraussetzt, vgl. oben B. I. 3. b). Daher hätte sich eine Beanstandung allein darauf beziehen sollen, dass die kurzen Amtszeiten gepaart mit der Wiederernennungsmöglichkeit eine Gefahr darstellen können (so auch 2006 die Richter Garlicki und Pellonpää in ihrem Sondervotum zu Gurov gegen Moldawien). 82 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Report on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 125. 83 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the Legislation of the Republic of Moldova prepared by Karel Jungwiert and Marek A. Nowicki, Rn. 121 f.; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Opinion on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 39; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion No. 188 (1995) on the application by Moldova for membership of the Council of Europe, Rn. 8, 11; Committee of Ministers of the Council of Europe, Communication from the Committee of Ministers, Resolution (95) 7 inviting Moldova to become a member of the Council of Europe, 13 July 1995, Doc. 7361.

I. Einführung zu den östlichen Europaratsstaaten

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1993 darum beworben hatte. Die Verzögerung zwischen 1993 und 1996 war vor allem der geografischen Lage Georgiens geschuldet.84 1994 sprach die PV eine Empfehlung aus, in der sie den Staaten des Südkaukasus die Möglichkeit eröffnete, sich für eine Mitgliedschaft im Europarat zu bewerben, obwohl diese nicht in die „generally accepted geographical limits of Europe“ fielen und obwohl dies der in derselben Empfehlung betonten grundsätzlichen Linie des Europarats widersprach, dass eine kulturelle Verbundenheit ohne geografischen Bezug grundsätzlich nicht ausreichen sollte.85 Dennoch wurde dieser Schritt im Falle Armeniens, Aserbaidschans und Georgiens mit ihrer kulturellen Verbundenheit mit Europa begründet, zugleich aber gefordert, dass diese drei Staaten deutlich ihren Willen zeigen müssten, ein Teil Europas zu sein.86 Eine weitere Verzögerung kam schließlich durch die ungeklärte humanitäre Situation verschiedener Gruppen Vertriebener im südlichen Kaukasus zustande,87 sowie dadurch, dass zunächst die Parlamentswahlen von 1995 überwacht werden sollten.88 Wie schon im Falle Russlands und Moldawiens spielten im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit Georgien territoriale Konflikte eine Rolle.89 Anders als die anderen drei Beitrittskandidaten war Georgien aber – teilweise unter dem Einfluss der Venedig-Kommission90 – zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts der Factfinding mission bereits weit fortgeschritten. 1995 war eine neue Verfassung verabschiedet worden, welche nach Ansicht des Europarats mit Verfassungen traditioneller Demokratien verglichen werden konnte,91 ein Verfassungsgericht war eingesetzt, die problematischen Kompetenzen der „Prokuratura“ aus der Sowjetära be-

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84 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Georgia’s application for membership of the Council of Europe, Rn. II. 1. 85 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Recommendation on the enlargement of the Council of Europe, Rn. 2 ff.; näher zu den Grenzen Europas: Babajanyan, Integration des Südkaukasus in den Europarat, S. 78 f. 86 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Recommendation on the enlargement of the Council of Europe, Rn. 8. 87 Babajanyan, Integration des Südkaukasus in den Europarat, S. 84 f. 88 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Georgia’s application for membership of the Council of Europe, Rn. II. 2. 89 Hier der Abchasienkonflikt und die Auseinandersetzung um Südossetien: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of Georgia with Council of Europe standards submitted by Stefan Trechsel and Isi Foighel, Rn. 15 ff.; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Georgia’s application for membership of the Council of Europe, Rn. I. 10. v., II. 21 ff., 89; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Georgia’s application for membership of the Council of Europe, 12 January 1999, Doc. 8296, Rn. 8 ff. 90 Babajanyan, Integration des Südkaukasus in den Europarat, S. 69, 140 f.; (zuletzt besucht am 19.03.2012). 91 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of Georgia with Council of Europe standards submitted by Stefan Trechsel and Isi Foighel, Rn. 274.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

reits durch Änderungen des alten Strafprozessbuches beseitigt,92 und ein neues Richtergesetz 1997 in Kraft getreten.93 Diese Schritte mussten in den anderen drei Staaten im Rahmen der Beitrittsverhandlungen erst angemahnt und Schritt für Schritt realisiert werden: in der Ukraine wurde gar erst nach dem Beitritt eine neue Verfassung als Auflage des Europarats verabschiedet.94 Insbesondere das Richtergesetz von 1997 sah bereits weitreichende Sicherungen für die Unabhängigkeit der Justiz vor, wie etwa die Ernennung von Richtern durch ein Zusammenspiel verschiedener Staatsorgane. Ein Richterrat war durch das Richtergesetz von 1997 eingeführt worden, der für die Auswahl von Kandidaten für das Richteramt an den unteren Instanzen, wie für die Entlassung, ein Vorschlagsrecht innehatte.95 Auch sah das Gesetz bereits eine obligatorische Schulung für Richter vor der Amtsausübung, präzise Regelungen und Gründe für die Entlassung von Richtern sowie für Disziplinarverfahren, Immunität und zum Schutz ihrer Sicherheit vor. Rechtlich waren in Georgien daher bereits 1997 entscheidende Sicherungen geschaffen worden, was von den Experten auch so gewertet wurde. Gleichzeitig lassen sich auch hinsichtlich Georgiens Zweifel an der Übereinstimmung zwischen dem vergleichsweise begrüßenswerten Regelwerk zur Sicherung der Unabhängigkeit und der tatsächlichen Situation in der Praxis herauslesen.96 Praktische Probleme für die Unabhängigkeit der Justiz bestanden insbesondere in der massiven Korruption, die mit den, schon mit Blick auf Russland und Moldawien als problematisch eingestuften, niedrigen Richtergehältern zusammenhängen würde. Einen weiteren Grund sahen die Experten in dem mangelhaften Disziplinarsystem gegen Richter, sowie in der noch von der Sowjetzeit herrührenden Mentalität und mangelnden Rechtsstaatstradition.97 Neben der Korruption, wurde als zweites großes Problem der georgischen Justiz die mangelnde Kompetenz der Richter gesehen, deren Ursprung zum einen in der aus Sowjetzeiten herrührenden Gewohnheit der

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92 Id., Rn. 118 ff.; ein kompletter Austausch der StA, um Kompetenzen zu steigern und die moralische Integrität der Institution zu verbessern, war außerdem für 1999–2001 angeplant: Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Georgia’s application for membership of the Council of Europe, Rn. II. 54. 93 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of Georgia with Council of Europe standards submitted by Stefan Trechsel and Isi Foighel. 94 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Opinion No. 190 (1995) on the application by Ukraine for membership of the Council of Europe, 26 September 1995, No. 190 (1995), Rn. 11 v. 95 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the conformity of the legal order of Georgia with Council of Europe standards submitted by Stefan Trechsel and Isi Foighel, Rn. 68; siehe für mehr Details zum georgischen Richterrat unten C. II. 1. a). 96 Id., Rn. 67 ff.; insbesondere Rn. 84: „The actual situation is another matter and leaves much to be desired indeed.“, sowie drastisch Rn. 200: „(…) in practice, independent and impartial courts do not exist today in Georgia, with the exception of the Supreme Court and the Constitutional Court.“ 97 Id., Rn. 115 f., 135.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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zentralen Überprüfung der Entscheidungen durch das Oberste Gericht in Moskau,98 zum anderen in der defizitären Veröffentlichung (höchstrichterlicher) Rechtsprechung gesehen wurde.99 Für beide großen Probleme waren allerdings gesetzliche Hebel bereits gestellt worden, und es war daher nur eine Frage der Zeit, dass diese angewandt werden konnten. So hatte man durch das neue Richtergesetz von 1997 einen neuen Modus der Richterbestellung, ebenso wie Examina und Schulungen für Richter eingeführt, um die Inkompetenz zu bekämpfen, und das Disziplinarverfahren war neu geregelt und die Gehälter erhöht worden, um Korruption zu bekämpfen.100 Georgien wurde daher mit einem sehr viel positiveren Feedback für bereits getätigte Reformen aufgenommen. Allerdings, wie die anderen drei Staaten, nur unter der Auflage, die Reformen fortzuführen und sich weiteren Selbstverpflichtungen zu unterwerfen.101

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten im Hinblick auf die Anforderung richterlicher Unabhängigkeit Viele der während des Beitrittsprozesses beobachteten Probleme bestehen in Russland, der Ukraine, Moldawien und Georgien, exemplarisch für weitere östliche Europaratsstaaten, bis heute fort. Dies gilt für die Problematik des Verhältnisses zwischen Richterschaft und „Prokuratura“,102 die in der Zarenzeit als „Auge des

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Id., Rn. 117. Id., Rn. 117; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Georgia’s application for membership of the Council of Europe, Rn. 20. 100 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Georgia’s application for membership of the Council of Europe, Rn. II. 51 f.; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Georgia’s application for membership of the Council of Europe, Rn. 20. 101 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Political Affairs Committee), Georgia’s application for membership of the Council of Europe, Rn. I. 11 f., II. 90; Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Committee on Legal Affairs and Human Rights), Georgia’s application for membership of the Council of Europe, Rn. 46 f.; zu der Entwicklung bis 2006: Babajanyan, Integration des Südkaukasus in den Europarat, S. 111 ff. 102 Wenngleich sich die nachfolgenden Referenzen vor allem auf Russland beziehen, ist die Problematik bis heute in vergleichbarer Weise in fast allen ehemaligen Sowjetrepubliken, mit Ausnahme Georgiens, anzutreffen: Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Rn. 64. Zur innerrussischen Kritik an der Übermacht der „Prokuratura“ in den 1990ern und dem Widerstand der „Prokuratura“ gegen Kompetenzbeschneidungen: Trebilcock/Daniels, Rule of Law Reform and Development – Charting the Fragile Path of Progress, 2008, S. 158 ff.; Luchterhandt, Rußlands unsicherer Weg zum Rechtsstaat, in: Osteuropa, Band 49, Heft 11–12, 1999, S. 1118. Georgien hatte dieses Erbe aus Sowjetzeiten zunächst übernommen, in den 1990er Jahren aber abgeschafft: Chanturia, Die Europäisierung des georgischen Rechts – bloßer Wunsch oder große Herausforderung?, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, Bd. 74, 2010, S. 166 f.; Chanturia, Recht und Transformation, Rechtliche Zusammenarbeit aus der Sicht eines rezipierenden Landes, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, Bd. 72, 2008, S. 127. 98 99

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

Zaren“ geschaffen wurde, in der Sowjetzeit als übermächtige Überwachungsbehörde der Gerichte und Verwaltung fortgeführt und nach dem Systemwechsel Anfang der 1990er Jahre übernommen wurde.103 Die im Beitrittsprozess angemahnte Notwendigkeit neuer prozessualer Regelungen, insbesondere für das Strafverfahren, wurde in den vier Staaten zwar mittlerweile beherzigt und einige Reformschritte mit Blick auf die „Prokuratura“ unternommen.104 Ausreichende Reformen, die ihre Funktion effizient auf Ermittlungen und Anklage beschränken würden, sind jedoch bis heute nicht durchgeführt worden,105 so dass sie nach wie vor über erweiterte Kompetenzen, wie das Recht, das erneute Aufrollen bereits rechtskräftig abgeschlossener Zivil- und Strafverfahren zu beantragen, verfügt.106 Der EGMR hat dies bereits mehrfach in Bezug auf unterschiedliche östliche Europaratsstaaten als konventionswidrig gewertet.107 Die Richterschaft beugt sich dabei regelmäßig dem Willen der „Prokuratura“,108 hinter der aufgrund seines maßgeblichen Einflusses auf

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103 Nußberger, Judicial Reforms in Post-Soviet Countries – Good Intentions with Flawed Results?, E; Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Rn. 64 ff.; Senyk, Die Reform des Justizsystems: Politisierung und Disziplinierung, in: ukraine-analysen, Heft 100, 2012, S. 2. Für einen guten Überblick zur „Prokuratura“ während der Sowjetunion: Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report on the Legislation of the Republic of Moldova prepared by Karel Jungwiert and Marek A. Nowicki, Rn. 37 ff. Zur Sowjetzeit und Rolle der „Prokuratura“ bis Ende der 1990er Jahre: Bowring, Politics, the Rule of Law and the Judiciary, in: N. Robinson (Hrsg.), Institutions and Political Change in Russia, 2000, S. 78 ff., und bis in die Putin’schen Jahre: Mommsen/Nußberger, Das System Putin – Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, S. 111 ff. 104 Nußberger, The Reception Process in Russia and Ukraine, S. 609 f.; von Gall, Macht und Recht in Russland: Das sowjetische Erbe, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 49–50, 2011, S. 25; Merlin, The power of law versus the law of power – Interview with Stanislav Markelov, Lawyer, Moscow, 3 June 2008, in: The Journal of Power Institutions in PostSoviet Societies, Issue 9, 2009, abrufbar unter (zuletzt besucht am 19.03.2012), Rn. 81 ff. Zumindest haben Georgien, die Ukraine und Moldawien wohl die rechtliche Kompetenz der „Prokuratura“ zur Überwachung abgeschafft; siehe auch B. I. 3. c) cc). 105 Dies trifft wohl am stärksten auf Russland und die Ukraine zu: von Gall, Macht und Recht in Russland: Das sowjetische Erbe, S. 25; Senyk, Die Reform des Justizsystems: Politisierung und Disziplinierung, S. 2. Neben der Vielzahl an Funktionen, ist die mangelnde personelle Erneuerung problematisch: Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Rn. 65; Caflisch/Keller, Der EGMR im Neuen Europa – Folgen des Beitritts der Staaten Mittel- und Osteuropas, S. 82 ff.; The Danish Helsinki Committee for Human Rights, Legal Monitoring in Ukraine II, Second Preliminary Report, 16 August 2011, S. 12 f.; vgl. Zivilprozessordnung der Russischen Föderation, 14.11.2002 (in der Fassung vom 03.12.2011), Art. 377 Abs. 3 1., Art. 39 1.1. III. 106 So zumindest immer noch in Russland: von Gall, Macht und Recht in Russland: Das sowjetische Erbe, S. 25; Mommsen/Nußberger, Das System Putin – Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, S. 113. 107 Siehe oben B. I. 3. c) cc). 108 Mommsen/Nußberger, Das System Putin – Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, S. 114.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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die Ernennung und Entlassung ihrer Mitglieder der Staatspräsident steht.109 Neben die Kompetenzen der „Prokuratura“ tritt das teilweise unter Richtern anzutreffende Verständnis, Teil des „Law Enforcement“-Apparats zu sein. Dieses Selbstverständnis folgt nicht nur aus dem kommunistischen Erbe einer Richterschaft, die an einem Strang mit den Durchsetzungsorganen im gemeinsamen Kampf gegen das Verbrechen ziehen sollte,110 sondern setzt sich in der Mentalität vieler Richter durch die teilweise erforderliche Wahrnehmung einer Doppelfunktion mangels anwesendem StA,111 dem häufig anzutreffenden Karriereweg von der StA in das Richteramt112 sowie durch Institutionen, die zwar mittlerweile durch den Gesetzgeber abgeschafft wurden, weiterhin aber informell genutzt werden,113 fort. Eine Folge dieses mit den

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109 In Russland schlägt der Staatspräsident z. B. die Ernennung und Entlassung des Generalstaatsanwalts vor, die durch den Föderationsrat (2. Kammer des Parlaments) vorgenommen wird: Verfassung der Russischen Föderation, 12.12.1993 (in der Redaktion vom 30.12.2008), Art. 129 Abs. 2. Da die Mitglieder des Föderationsrats (die Gouverneure der Föderationssubjekte) seit Mitte der 2000er Jahre unmittelbar durch den Präsidenten bestellt werden, ist nicht zu erwarten, dass er sich dem Vorschlag des Präsidenten widersetzt: Mommsen/Nußberger, Das System Putin – Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, S. 123. Die Mitglieder der StA auf Ebene der Subjekte werden wiederum von dem Generalstaatsanwalt ernannt: Russ. Verfassung, Art. 129 Abs. 3. Weiterhin wurde das 2007 geschaffene Untersuchungskomitee durch Gesetzesänderung 2010 institutionell dem Staatspräsidenten untergeordnet: von Gall, Macht und Recht in Russland: Das sowjetische Erbe. 110 Solomon, Informal Practices in Russian Justice: Probing the Limits of Post-Soviet Reform, in: F. Feldbrugge (Hrsg.), Russia, Europe, and the Rule of Law, 2007, S. 86, 89. 111 Dies war nach der alten sowjetischen StPO von 1960 sogar durch den Gesetzgeber legitimiert und wurde erst 2001 mit der neuen StPO abgeschafft, nachdem auch das russische Verfassungsgericht dies bereits 1999 für eine Verletzung einer unabhängigen und unparteiischen Rechtspflege gehalten hatte. Dazu und zur Konventionswidrigkeit: EGMR, Ozerov gegen Russland, Rn. 23 ff., 50 ff. Vgl. auch Solomon, Informal Practices in Russian Justice: Probing the Limits of Post-Soviet Reform, S. 86 (iBa die Richter in der Sowjetzeit); Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, C. II. 2. (iBa die heutige Situation). 112 Solomon, Informal Practices in Russian Justice: Probing the Limits of Post-Soviet Reform, S. 89; Human Rights Council, Promotion and Protection of all Human Rights, Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights, Including the Right to Development, Report of the Special Rapporteur on the independence of judges and lawyers, Leandro Despouy, Addendum, Mission to the Russian Federation, Russian Federation, 23 March 2009, A/HCR/11/41/Add.2, Rn. 54; D’Cruz, The Rule of Law and Independence of the Judiciary in Russia, S. 15. Den Karriereweg so zu gestalten, verstößt grundsätzlich nicht gegen die EMRK, es sei denn, der spätere Richter war in früherer staatsanwaltlicher Funktion mit demselben Fall bereits befasst. Vgl. B. I. 3. f) bb). In den östlichen Europaratsstaaten sollte dennoch über eine Durchbrechung dieser Möglichkeit nachgedacht werden, da dieser Karriereweg die alte Mentalität verschärft, Teil des „Law Enforcement“-Apparats zu sein. 113 Z. B. die in Russland 2001 offiziell abgeschaffte Möglichkeit der „Prokuratura“, eine erneute Ermittlung nach Zurückverweisung durch das Gericht vorzunehmen, sollte sich herausstellen, dass keine ausreichenden Beweise für eine Verurteilung vorliegen, und damit ein Freispruch die Folge wäre. Zur informellen Weiterführung: Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Rn. 69. Anders der mittlerweile ermordete Anwalt Markelov in einem Interview 2008, der die Abschaffung des Zurückverweisungsrechts für die Praxis negativ sah: Zurückverweisungen seien häufig im Sande verlaufen und der Fall letztlich offen geblieben. Nunmehr würden Richter regelmäßig der StA folgen und verurteilen,

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

Worten Solomons „accusatorial bias“114 sind die auffällig niedrigen Freispruchraten in allen vier Staaten,115 die noch potenziert werden durch den Einfluss, den das Schicksal der Entscheidung in höherer Instanz für den Ausgang von Evaluationen und Disziplinarverfahren hat.116 Aber auch eine voreingenommene Haltung des Richters zugunsten der StA im konkreten Verfahren kann eine Folge sein, die auch den EGMR bereits beschäftigt hat.117 Trotz diverser Anstrengungen in den letzten Jahren, zählt zu den anhaltenden Problemen auch die defizitäre Bezahlung von Richtern,118 die Folgeprobleme wie die Schwierigkeit, überhaupt qualifizierte Bewerber für das Richteramt zu finden, hervorruft, und damit zu vakanten Stellen und starker Fluktuation führt.119 Selbst wenn sich geeignete Kandidaten für das Richteramt entschließen, führt die mangelhafte Bezahlung dazu, dass diese das Richteramt häufig lediglich als Sprungbrett in besser bezahlte Jobs nutzen.120 Als weitere Konsequenz unzureichender Bezahlung ist das immer noch virulente Problem der Korruption in der Justiz in den östlichen Europaratsstaaten zu sehen, das eine der Schwierigkeiten insbesondere Georgiens im Beitrittsprozess darstellte.121 Verbunden mit der Korruption und der oft unzu-

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dies aber mangels Möglichkeit der Zurückverweisung auf Basis dünner oder keiner Beweise: Merlin, The power of law versus the law of power – Interview with Stanislav Markelov, Lawyer, Moscow, 3 June 2008, Rn. 109. 114 Solomon, The Accountability of Judges in Post Communist States: From Bureaucratic to Professional Accountability, S. 22. 115 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, C. II. 2.; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, C. II. 2.; Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, C. II. 2.; Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, C. II. 2. 116 Dazu näher weiter unten unter C. II. 2. 117 Wenngleich iRv Art. 5 Abs. 4 EMRK: EGMR, Ramishvili und Kokhreidze gegen Georgien, Rn. 134 f. 118 Zu dem Stellenwert der Verbesserung des sozialen Status von Richtern für nachhaltige Rechtsstaatsprogramme: Seibert-Fohr, Judicial Independence – The Normativity of an Evolving Transnational Principle, IV. 2.; zur katastrophalen Situation an russischen Gerichten in den späten 1990er Jahren: Solomon, Assessing the Courts in Russia: Parameters of Progress under Putin, in: Demokratizatsiya, Vol. 16, Number 1, 2008, S. 66; zu der verbesserten, aktuellen finanziellen Situation russischer Richter, die dennoch aber zur Sicherung richterlicher Unabhängigkeit und der Anziehung hochqualifzierter Juristen nicht reiche: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. IV. 1. 119 Luchterhandt, Rußlands unsicherer Weg zum Rechtsstaat, S. 1120; Wyman, Public Opinion and Political Institutions, in: N. Robinson (Hrsg.), Institutions and Political Change in Russia, 2000, S. 186; Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, IV. 1.; Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. IV. 1. 120 Zimmer, Judicial Independence in Central and Eastern Europe: The Institutional Context, in: Tulsa Journal of Comparative and International Law, Vol. 14, Issue 1, 2006, S. 83 f. 121 Id., S. 84; Dietrich, Legal and Judicial Reform in Central Europe and the Former Soviet Union – Voices from Five Countries, S. 34 f.; Luchterhandt, „Rechtsstaat Russland“, Beachtliche Fortschritte – schwere Defizite – ungünstige Perspektiven, S. 17. Siehe zu aktuellen Umfragen zu der Einschätzung der Bevölkerung bzgl. Korruption an russischen Gerichten: Russian Analytical Digest, Heft 59, S. 12 ff. Zu Moldawien: Soros Foundation Moldova, Victimisation and Public Confidence Survey, Benchmarks for the Development of Criminal

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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reichenden Qualifikation von Richtern, lastet das historisch begründete Imageproblem der Justiz weiter, welches die Etablierung einer unabhängigen Justiz erschwert.122 Es fehlt an der auch vom EGMR immer wieder als maßgeblich im Rahmen des „appearance“-Kriteriums genannten „confidence which the courts in a democratic society must inspire in the public“.123 Daneben sei auf die bis heute anzutreffende Problematik der defizitären Ausstattung der Gerichte verwiesen, die sich sowohl an dem Mangel an Computerisierung und Internet zeigt,124 als auch, mangels räumlicher Kapazitäten, zum Abhalten von Verfahren in den Büroräumlichkeiten der Richter führt.125 Während dies in erster Linie ein Problem des fairen Verfahrens im weiteren Sinne, insbesondere des Grundsatzes der Öffentlichkeit, ist, können mit dessen Verletzung indirekt Probleme richterlicher Unabhängigkeit verzahnt sein. Die Öffentlichkeit diene der Verifizierung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter und zudem unmittelbar dem Vertrauen der Öffentlichkeit in die Gerichte, so der EGMR.126 Mit der hier getroffenen Beschränkung auf die beiden generischen Problemfelder der Justizverwaltung im weiteren Sinne unter Einbeziehung der Richterauswahl und -ernennung sowie der Ausbalancierung zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit am Beispiel von Evaluationen und Disziplinarverfahren, wurden zwei Schlüsselbereiche gewählt, die nach Ansicht der Verfasserin, neben der Problematik der Korruption, zum einen gravierende Hindernisse bei der nachhaltigen Schaffung einer unabhängigen Justiz darstellen, zum anderen einer rechtlichen Erörterung bedürfen. Dabei beziehen sich die Probleme, die analysiert, und die Reformvorschläge, die gegeben werden, allein auf die östlichen Europaratsstaaten, allen voran die postsowjetischen Staaten, die heute im Europarat sind. Sie sind nicht übertragbar auf westliche Europaratsstaaten, in denen Modelle, die in Osteuropa Gefahren für die Unabhängigkeit darstellen oder nach sich ziehen, gut funktionieren können. Die Venedig-Kommission hat dies in ihrer Meinung zu der Frage der Richterernennung auf den Punkt gebracht – eine Einschätzung, die für sämtliche Bereiche der Justizverwaltung und der Ausbalancierung zwischen Verantwortlichkeit

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Justice Policy in Moldova (December 2010), (zuletzt besucht am 17.03.2012), S. 31 f.; Schwarz, Chaos in Chişinau − Die Lage in Moldau ist ernst, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.02.2012. 122 Zimmer, Judicial Independence in Central and Eastern Europe: The Institutional Context, S. 83. 123 Exemplarisch für viele Weitere: EGMR, Sutyagin gegen Russland, Rn. 182. 124 Dietrich, Legal and Judicial Reform in Central Europe and the Former Soviet Union – Voices from Five Countries, S. 29 f. Dies mindert die Qualität richterlicher Entscheidungen und erschwert auch die Veröffentlichung, die die Transparenz erhöhen und damit proaktiv zur Förderung richterlicher Verantwortlichkeit beitragen würde. 125 EGMR, Galstyan gegen Armenien, Rn. 21, 80 f. 126 EGMR, Galstyan gegen Armenien, Rn. 80; EGMR, Ashughyan gegen Armenien, Rn. 66 f.; EGMR, Nevskaya gegen Russland, Rn. 35; EGMR, Raks gegen Russland, Rn. 43.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

und Unabhängigkeit gleichermaßen gilt: „In older democracies, the executive power has sometimes a decisive influence on judicial appointments. Such systems may work well in practice and allow for an independent judiciary because these powers are restrained by legal culture and traditions, which have grown over a long time. New democracies, however, did not yet have a chance to develop these traditions, which can prevent abuse, and therefore, at least in these countries, explicit constitutional and legal provisions are needed as a safeguard to prevent political abuse in the appointment of judges.“127

1. Justizverwaltung in den östlichen Europaratsstaaten Eine der größten Herausforderungen für Staaten, die ihre Justizsysteme im Zuge der Transformation ihrer Staatsorganisation und des Aufbaus eines Rechtsstaats grundlegend neu gestalten, ist es, eine Justizverwaltung zu etablieren, die nicht nur unabhängig genug agiert, um wiederum die Unabhängigkeit der Richter zu sichern, sondern ebenso einer Verantwortlichkeit unterliegt, die die Willkürlichkeit von Entscheidungen oder Untätigkeit verhindert. Zwischen diesen beiden – Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit – gilt es daher, auch mit Blick auf die Justizverwaltungsorgane, eine Balance zu schaffen. Ein notwendiges drittes Element ist in diesem Zusammenhang die Transparenz der Justizverwaltung, um Missbrauch vorzubeugen und öffentliche Kontrolle zu stärken.128 Justizverwaltung umfasst nach dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Verständnis die für die Unabhängigkeit der Richter besonders sensiblen Bereiche der Auswahl und Ernennung, Beförderung, Disziplinarverfahren, Versetzung und Entlassung sowie Mechanismen der Fallzuweisung. Ausgeklammert bleiben die klassischen Bereiche der Finanzverwaltung, der Verwaltung nicht-richterlichen Personals oder Effizienzerwägungen, wie z. B. Bearbeitungszeiten. Im Fokus der Untersuchung stehen die beiden wichtigsten Institutionen, die allen vier Staaten gemein sind. Dies sind zum einen Richterräte („Judicial Councils“) bzw. für Russland sog. Qualifikationskollegien, zum anderen Gerichtspräsidenten. Neben diesen beiden Akteuren werden Justizverwaltungsfunktionen in den ehemals kommunistischen Staaten durch weitere, weniger zentrale Organe der (Selbst-)Verwaltung wahrgenommen, wie etwa durch spezielle Abteilungen für die Gerichtsverwaltung an den Gerichten, meist dem obersten Gericht, dem Justizministerium, oder durch Organe ohne institutionelle Anbindung.129 Aber auch institutionalisierte Richterversamm-

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127 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Judicial Appointments, 22 June 2007, CDL-AD(2007)028, Rn. 45 f. 128 Siehe auch Müller, Judicial Administration in Transitional Eastern Countries. 129 Z. B. Gerichtsdepartements oder Justizverwaltungsabteilungen in Russland, Armenien und Moldawien oder die Staatliche Gerichtsverwaltung in der Ukraine: Müller, Judicial Administration in Transitional Eastern Countries, A. Fn. 2.; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. I. 1.; Solomon/Foglesong, Courts and Transition in Russia – The Challenge of Judicial Reform, 2000, S. 58 ff.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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lungen oder zusätzliche Qualifikationskollegien nehmen Justizverwaltungsaufgaben wahr.130 Darüber hinaus wird ein unterschiedlich starkes Maß an Justizverwaltung durch die Exekutive ausgeübt. Vor dem Hintergrund der in Teil B. herausgearbeiteten Rechtspechung von EGMR und EKMR, ergänzt durch Erwägungen des Soft Law des Europarats, ebenso wie rechtsvergleichender Beobachtungen und Einsichten aus der Praxis, sollen die verschiedenen Fragestellungen, die sich im Rahmen der Justizverwaltung stellen, in den vier Staaten erörtert und Reformvorschläge getätigt werden. a) Richterräte („Judicial Councils“) als Reformmodell? „Die Schaffung eines neuen Organs ist keine vorbehaltlose Prämisse der institutionellen Unabhängigkeit der Gerichte.“131 Nach Jahrzehnten ohne unabhängige Justiz während der kommunistischen Regime132 haben viele Staaten Osteuropas und des Südkaukasus im Zuge der Rechtsstaatsreformen seit den 1990er Jahren Richterräte eingeführt.133 Dabei handelt es

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130 Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. I. 2.; vgl. auch den eigenen Rat nur für Gerichtspräsidenten in Armenien: Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, B. I. 1. 131 Chanturia, Die Europäisierung des georgischen Rechts – bloßer Wunsch oder große Herausforderung?, S. 169. 132 Siehe exemplarisch: Parau, The Drive for Judicial Supremacy, C.; Schroeder, Der Aufbau des Rechtsstaats in der Ukraine, in: Jahrbuch für Ostrecht, Band 51, Heft 1, 2010, S. 97 ff.; Koslosky, Towards an Interpretive Model of Judicial Independence: A Case Study of Eastern Europe, S. 208 f.; Solomon, Courts and Judges in Authoritarian Regimes, in: World Politics, Vol. 60, Number 1, 2007, S. 125 f.; Solomon, Courts in Russia: Independence, Power, and Accountability, in: A. Sajó (Hrsg.), Judicial Integrity, 2004, S. 230 ff.; Zustimmendes Sondervotum der Richter Garlicki und Pellonpää zu EGMR, Gurov gegen Moldawien; Dietrich, Legal and Judicial Reform in Central Europe and the Former Soviet Union – Voices from Five Countries, S. 4. 133 Siehe für östliche Europaratsstaaten außerhalb der hiesigen Staaten: Polen 1989: Bodnar/Bojarski, Judicial Independence in Poland, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 667 ff., B. I. 1.; Bulgarien 1991 (ein Vorgängermodell bestand bereits zwischen 1910 und dem Beginn der kommunistischen Ära nach dem Zweiten Weltkrieg): Melone, The Struggle for Judicial Independence and the Transition Toward Democracy in Bulgaria, in: Communist and Post-Communist Studies, Vol. 29, Issue 3, 1996, S. 234; Ungarn 1997: Fleck, Judicial Independence in Hungary, B. I. 1.; Slowakei 2001: Bobek, The Administration of Courts in the Czech Republic: In Search of a Constitutional Balance, in: European Public Law, Vol. 16, Issue 2, 2010, S. 254 ff.; Estland 2002: Ligi, Judicial Independence in Estonia, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 739 ff., A. Ausnahmen bilden z. B. Tschechien und Lettland: Kühn, Judicial Administration Reforms in Central-Eastern Europe: Lessons to be Learned, in: A. SeibertFohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 603 ff. B.; Bobek, The Administration of Courts in the Czech Republic: In Search of a Constitutional Balance, S. 251 ff. Vgl. für den Südkaukasus neben Georgien: Armenien 1995: Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, B. I. 2.; Aserbaidschan 2004: European Commission for Democracy

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sich insgesamt um Selbstverwaltungsorgane, wenngleich zu einem unterschiedlichen Grad. Teils sind es reine Selbstverwaltungsorgane, größtenteils aus Richtern bestehend und von ihresgleichen gewählt, teils setzen sie sich heterogen zusammen, beteiligen andere Gewalten und werden von verschiedenen Entscheidungsträgern bestellt.134 Sie nehmen Funktionen der Justizverwaltung im weiten Sinne wahr, die in der Regel nach dem Untergang der Sowjetunion zunächst übergangsweise von der Exekutive, regelmäßig dem Justizministerium, ausgeführt wurden.135 Bei der Etablierung von Richterräten stand daher die Zurückdrängung exekutiven Einflusses auf Fragen der Justizverwaltung im Vordergrund und damit ein neuer Kurs in Richtung Selbstverwaltung. Klassische Kompetenzfelder der Richterräte sind die Mitwirkung bei der Auswahl, Ernennung und Beförderung von Richtern sowie bei Disziplinarverfahren. Einige Richterräte sind darüber hinaus an der Aufhebung richterlicher Immunität, der Evaluation von Richtern oder der Erstellung des Justizbudgets beteiligt. Richterräte sind allerdings kein neues Phänomen. Vielmehr wurde ihre Etablierung in Osteuropa inspiriert von den Richterräten in südeuropäischen Staaten wie Italien, Spanien und Portugal, die nach dem Ende ihrer autoritären Regime Richterräte geschaffen haben.136 Auch in beinahe allen Staaten Osteuropas und des Südkaukasus schien die Einführung von Richterräten für den breiten Bereich der Justizverwaltung nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime und damit Jahrzehnten ohne eine unabhängige Justiz ein vielversprechender Weg. Dadurch sollten unabhängige Gerichte geschaffen werden, die nicht mehr von Partei oder

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through Law (Venice Commission), Judicial reforms in the South Caucasus: Past achievements and future perspectives, 2008, Intervention by Mr Harry Gstöhl, Member of the Venice Commission, Liechtenstein, Rn. 3. 134 Küpper, Die Forderung der deutschen Justiz nach Selbstverwaltung – Modell Osteuropa?, S. 27, 39 ff. Allerdings versteht Küpper nur solche Organe als Richterräte, die mehrheitlich aus Richtern zusammengesetzt sind und von diesen bestimmt wurden. Nachfolgend werden auch Räte mit einer ausgeglichenen Zusammensetzung oder Minderheit an Richtern unter den Begriff des Richterrats gefasst, da diese Institution in der Praxis auch bei unterschiedlicher Zusammensetzung unter diesen Begriff fällt, vgl. Gesetz über den Hohen Richterrat, 19.07.1996 (zuletzt geändert am 26.03.2011), Art. 1. 135 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. I. 1.; Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, A.; Kochenov, EU Enlargement and the Failure of Conditionality, Pre-accession Conditionality in the Fields of Democracy and the Rule of Law, S. 260 ff.; ABA, Zimmer, Markus B.: Analysis of the Draft Law on the Department of Judicial Administration for the Republic of Moldova, CEELI Legal Assessment Series 2004, S. 1 ff. In Estland teilte sich der 2002 eingeführte Richterrat zunächst seine Kompetenzen mit dem Justizministerium. Erst in letzter Zeit soll der Einfluss des Justizministeriums zugunsten einer speziellen Verwaltungsagentur reduziert worden sein: Ligi, Judicial Independence in Estonia, B. I. 1. a; B. I. 6. 136 Küpper, Die Forderung der deutschen Justiz nach Selbstverwaltung – Modell Osteuropa?, S. 12, 25; Garoupa/Ginsburg, Guarding the Guardians: Judicial Councils and Judicial Independence, S. 107, 110.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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Exekutive dominiert würden.137 Zusätzlich wurde die Etablierung von Selbstverwaltungsstrukturen mit einem Richterrat als dem maßgeblichen Organ stark von außen beworben: für diejenigen osteuropäischen Staaten, für die eine Mitgliedschaft in der EU in Frage kam, auch durch letztere;138 für alle Beitrittskandidaten und späteren Mitglieder des Europarats durch dessen Organe, und vor allem durch die Venedig-Kommission.139 Richterräte wurden zu einem der zentralen Bausteine notwendiger Justizreformen erklärt, welche zum Großteil aus Richtern besetzt und in beinahe jedem Bereich der Justizverwaltung einflussreich sein sollten. Dies hing und hängt bis heute mit einem historisch begründeten Misstrauen gegenüber den anderen beiden Gewalten zusammen, lässt sich aber auch auf die einflussreiche Stellung von Richtervereinigungen auf die Entwicklung des Soft Law des Europarats im Bereich justizieller Unabhängigkeit zurückführen.140 Daneben besteht ein genereller Trend weltweit, Richterräte mit unterschiedlich starken Kompetenzen zu etablieren.141 Auch die hier im Mittelpunkt stehenden vier Staaten haben im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte Richterräte eingeführt. Der moldawische Hohe Richterrat („Consiliul Superior al Magistraturii“; im Folgenden „Richterrat“) wurde mit der neuen Verfassung vom 29. Juli 1994 eingerichtet.142 Die Ukraine weist ein kompliziertes System verschiedener Richterräte auf, die entsprechend ihrer Zusammensetzung Selbstverwaltungs- oder Verwaltungsorgane darstellen. Neben dem Hohen Justizrat als Verwaltungsorgan und dem Richterrat als Selbstverwaltungsorgan, bestehen darüber hinaus Richterräte als Ausprägung von Selbstverwaltung an den jeweiligen Gerichten.143 Für die hiesige Betrachtung ist der Hohe Justizrat („Вища рада юстиції“; im Folgenden zur Unterscheidbarkeit weiterhin „Hoher Justizrat“) maß-

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137 Piana, Judicial Accountabilities in New Europe – From Rule of Law to Quality of Justice, S. 107; Bobek, The Administration of Courts in the Czech Republic: In Search of a Constitutional Balance, S. 252, 255. 138 Ligi, Judicial Independence in Estonia, B. I. 2.; Seibert-Fohr, Judicial Independence in European Union Accessions: The Emergence of a European Basic Principle, S. 425; Kochenov, EU Enlargement and the Failure of Conditionality, Pre-accession Conditionality in the Fields of Democracy and the Rule of Law, S. 259 ff.; Parau, The Drive for Judicial Supremacy, C. I.; Piana, Judicial Accountabilities in New Europe – From Rule of Law to Quality of Justice, S. 49 ff., 77 f. 139 Siehe ausführlich oben B. II. Bobek bezeichnet die von europäischen Institutionen als alternativlos dargestellte und beworbene Einführung von Richterräten kritisch als „readymade Euro product“: Bobek, The Administration of Courts in the Czech Republic: In Search of a Constitutional Balance, S. 251; Piana, Judicial Accountabilities in New Europe – From Rule of Law to Quality of Justice, S. 56 ff., 74 ff. 140 Siehe dazu oben B. II. 141 Garoupa/Ginsburg, Guarding the Guardians: Judicial Councils and Judicial Independence, S. 105. 142 Verfassung Moldawiens, 29.07.1994 (zuletzt geändert 29.06.2006), Art. 122, 123. 143 Vgl. zu den Selbstverwaltungsorganen: Ukr. Gesetz über den Gerichtsaufbau und den Status von Richtern, 07.07.2010 (zuletzt geändert am 05.04.2011), Art. 114; zu dem Hohen Justizrat: Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat.

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geblich, da er wesentliche Funktionen für den Bereich der Justizverwaltung auf sich vereint und damit den Richterräten in den Nachbarstaaten entspricht. Er wurde mit der Verfassung vom 28. Juni 1996 eingeführt144 und 1998 durch das Gesetz über den Hohen Justizrat einfachgesetzlich und im Detail geregelt. Der georgische Hohe Justizrat („საქართველოს იუსტიციის საბჭო“; im Folgenden „Richterrat“) wurde 1997 eingeführt, zunächst noch als Beratungsorgan des Staatspräsidenten, seit 2004 auch unter dessen Vorsitz.145 2006 wurde der Status des Richterrats nochmals in die Form abgeändert, wie er seit Juni 2007 zusammentritt: als unabhängiges Organ, nicht Beratungsorgan, und unter dem Vorsitz des Präsidenten des Obersten Gerichts anstelle des Staatspräsidenten.146 In Russland haben die Richterräte, die sowohl auf Ebene der Föderation („Совет судей Российской Федерации“) als auch auf Ebene der Föderationssubjekte („Советы судей субъектов Российской Федерации“) bestehen, nicht nur einen deutlich anderen Umfang – allein der Richterrat der Russischen Föderation auf höchster föderaler Ebene hat über 120 Mitglieder.147 Richterräte bestehen außerdem auf beiden Ebenen ausschließlich aus Richtern und werden sowohl auf Ebene der Föderation als auch auf Ebene der Subjekte vollständig von richterlichen Vertretungsorganen gewählt.148 Weiterhin haben die Richterräte auf beiden Ebenen nach Art und Umfang keine mit den Richterräten anderer osteuropäischer Staaten vergleichbaren Kompetenzen, sondern nehmen nur mittelbar auf Fragen der Justizverwaltung und des Status des einzelnen Richters Einfluss.149 Aufgrund der geringen

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Verfassung der Ukraine, 28.06.1996 (zuletzt geändert am 01.02.2011), Art. 131. Georgisches Organgesetz über die Allgemeinen Gerichte, 13.06.1997 (zuletzt geändert: 12.04.2009); The High Council of Justice of Georgia, Reform of Judicial System, Prospects and Achievements, High Council of Justice of Georgia; European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Judicial reforms in the South Caucasus: Past achievements and future perspectives, Rn. 3. 146 Verfassung Georgiens, 24.08.1995 (zuletzt geändert: 12.02.2010), Art. 86-1; Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. I. 2; The High Council of Justice of Georgia, Reform of Judicial System, Prospects and Achievements, High Council of Justice of Georgia. 147 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. I. 2. 148 Auf föderaler Ebene durch den gesamtrussischen Richterkongress („Всероссийский съезд судей“); auf Ebene der Subjekte durch die regionalen Richterkonferenzen („Конференции судей субъектов Российской Федерации“). 149 Der Richterrat der Föderation hat ein Zustimmungsrecht iBa die Ernennung und Entlassung des Generaldirektors des Gerichtsdepartements, das institutionell an das Oberste Gericht angebunden ist und Funktionen der Justizverwaltung im engen Sinne wahrnimmt; der Generaldirektor ist dem Richterrat der Föderation zudem berichtspflichtig; außerdem wirkt der Richterrat der Föderation bei der Erstellung des föderalen Budgets mit und wählt die richterlichen Mitglieder des Qualifikationskollegiums auf föderaler Ebene (18 von 29 Mitgliedern): Bundesgesetz über die Organe der Richtergemeinschaft in der Russischen Föderation, 14.03.2002 (zuletzt geändert 08.12.2010), Art. 10; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. I. 2. Die Richterräte auf Ebene der Subjekte haben noch weniger Kompetenzen und wählen nur ausnahmsweise die richterlichen Mitglieder der Qualifikationskollegien der Subjekte: Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 10 Abs. 4 Nr. 3. 144 145

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Funktionsdichte und der nur mittelbaren Rolle stehen mit Blick auf Russland die Qualifikationskollegien (auf Ebene der Föderation: „Высшая квалификационная коллегия судей Российской Федерации“; auf Ebene der Subjekte: „квалификационные коллегии судей субъектов Российской Федерации“) im Mittelpunkt der Betrachtung. Diese spielen im Vergleich zu den russischen Richterräten eine gewichtigere Rolle im Rahmen der Justizverwaltung im weiten Sinne und sind damit in der Art der Funktionen mit Richterräten in den anderen Staaten vergleichbar.150 Sie wurden bereits 1989 formal geschaffen,151 jedoch erst mit der Verabschiedung des Gesetzes über den Status von Richtern 1992 mit den breiteren Zuständigkeiten für die Justizverwaltung ausgestattet,152 und durch die Reformen unter Putin von 2001 in ihrer Zusammensetzung geändert.153 Im Folgenden soll diskutiert werden, ob Richterräte bzw. in Russland Qualifikationskollegien die Unabhängigkeit der Richter sichern, mithin das halten, als was sie von außen beworben wurden, oder ob das Problem der Justizverwaltung lediglich in Gestalt der Richterräte in anderer Weise fortdauert.154 Leider ergeben sich für diese gewichtige Frage aus der Rechtsprechung des EGMR bisher lediglich Anhaltspunkte, da letzterer, wie gesehen, wenig Gelegenheit hatte, sich mit Richterräten zu befassen. In den wenigen Fällen waren entweder keine grundsätzlichen strukturellen Fragen aufgeworfen, sondern Unparteilichkeitsprobleme von Richterräten als Disziplinargerichte im jeweiligen Einzelfall.155 Oder er begegnete den strukturellen Fragen, wie etwa der Machtfülle in den Händen von Richterräten im Rahmen der Auswahl und Ernennung von Richtern, mit wenig Problembewusstsein. Nur am Rande – die Kompetenzakkumulation war nicht Schwerpunkt der Beschwerden – lässt sich entnehmen, dass der EGMR Richterräten eine eher positive Rolle zumisst, indem er sie in einem Zug mit den nach der Ernennung eingreifenden Sicherungen der Unabsetzbarkeit und Weisungsfreiheit nannte und ihnen dadurch eine die exekutive Ernennung relativierende Funktion einräumte.156 Auch der personellen Zusammensetzung, hier der Frage des Vorsitzes über den Richter-

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Id., Art. 17 ff. So Solomon, Threats of Judicial Counterreform in Putin’s Russia, in: Demokratizatsiya, Vol. 13, Number 3, 2005, S. 329; Solomon/Foglesong, Courts and Transition in Russia – The Challenge of Judicial Reform, S. 55. 152 Solomon, Courts in Russia: Independence, Power, and Accountability, S. 233; Solomon, Threats of Judicial Counterreform in Putin’s Russia, S. 329; Mommsen/Nußberger, Das System Putin – Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, S. 96. 153 Mit Wirkung ab 2002: Solomon, Putin’s Judicial Reform: Making Judges Accountable as well as Independent, in: East European Constitutional Review, Vol. 11, Issue 1/2, 2002, S. 117 ff.; Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 11. 154 So auch Bobek, The Administration of Courts in the Czech Republic: In Search of a Constitutional Balance, S. 269. 155 Ausführlich oben Teil B.; EGMR, Olujić gegen Kroatien; EGMR, Kudeshkina gegen Russland; EGMR, Özpinar gegen Türkei. 156 EGMR, Forum Maritime S. A. gegen Rumänien, Rn. 154; EGMR, Iovchev gegen Bulgarien, S. 25. 150 151

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rat, ist der EGMR bislang mit wenig Problembewusstsein begegnet, obwohl, wie in zwei Fällen gegen Armenien, der Staatspräsident selbst den Richterrat leitete.157 Umgekehrt lässt sich der ständigen Rechtsprechung aber auch keine Notwendigkeit einer exekutivfreien Richterauswahl und -ernennung entnehmen und damit kein Appell für die Einführung von Richterräten, wie sie in den Soft Law-Empfehlungen des Europarats mit Nachdruck angeraten wird.158 Vielmehr ist die Ernennung von Richtern durch die Exekutive in ständiger Rechtsprechung als konventionskonform bewertet worden.159 Die Schlussfolgerung, alle Schritte der Richterauswahl und -ernennung müssten auf Richterräte übertragen werden, ergibt sich daher bisher nur aus dem Soft Law, nicht aber aus der verbindlichen Rechtsprechung des EGMR. Zudem erscheint seine Rechtsprechung zu Gerichtspräsidenten auf die Funktionsakkumulation in Richterräten übertragbar, in der der EGMR klargestellt hat, dass er auf eine institutionelle Trennung zwischen verschiedenen Aspekten Wert legt.160 Hintergrund der nachfolgenden Analyse sind deshalb in erster Linie Probleme, die sich im Zusammenhang mit Richterräten im Spiegel rechtsvergleichender Beobachtungen und Entwicklungen stellen. Dabei dienen als Anhaltspunkt Beobachtungen aus den Nachbarstaaten Zentralosteuropas, die mittlerweile Teil der EU sind und eine Vielzahl von Rechtsstaatsreformen durchlaufen haben. Diese setzten ebenfalls mehrheitlich auf Richterräte, um eine unabhängige Justiz zu schaffen. Mittlerweile lässt sich jedoch erkennen, dass sich einige dieser Staaten mit starken Richterräten nunmehr mit dem Problem mangelnder Verantwortlichkeit („accountability“) der Richterräte konfrontiert sehen: Richterräte sind in einigen Staaten Zentralosteuropas zu unabhängig geworden, um eine ordnungsgemäße, unabhängige Rechtspflege zu gewährleisten.161 Dies ist dort, z. B. im Disziplinarrecht, zum einen der Zusammensetzung geschuldet, die von zentraler Bedeutung ist, um eine ausgewogene und nachhaltige Justizverwaltung zu ermöglichen. Da Richterräte bislang vor allem unter dem Aspekt der Maximierung ihrer Unabhängigkeit gesehen wurden, wurde bisher von Seiten des Europarats und nationaler Gerichte für mindestens mehrheitlich, wenn nicht gar ausschließlich mit Richtern besetzte Richterräte ge-

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157 EGMR, Galstyan gegen Armenien, Rn. 62 f.; EGMR, Ashughyan gegen Armenien; zu dieser Rechtsprechung im Spiegel von Gefahren in der Praxis: C. II. 1. a) bb) (4). 158 Jüngst wieder Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (VenedigKommission), Joint Opinion on the Draft Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, 16 March 2010, CDL-AD(2010)003; ausführlich dazu unter B. II. 159 Ob zu der Ernennung von Richtern durch Staatspräsidenten in Ländern ohne Rechtsstaatstradition bereits das letzte Wort gesprochen ist, ist mangels Gelegenheit des EGMR noch nicht gesagt. Vgl. das kritische Zustimmende Sondervotum der Richter Garlicki und Pellonpää zu EGMR, Gurov gegen Moldawien. 160 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien. 161 Zum Zusammenhang zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit: C. II. 2., das sich materiellen Aspekten der Herstellung richterlicher Verantwortlichkeit zuwenden wird, während hier institutionelle Fragen im Vordergrund stehen.

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worben.162 Die zu beobachtende Folge in der Praxis sind Klüngelei und Vetternwirtschaft. Zum anderen liegt in der Verschiebung von sensiblen Kompetenzen in eine Hand, zumal in Staaten ohne Rechtsstaatstradition, das Risiko einer Gefährdung der Unabhängigkeit der Richter, da die Vielzahl von Funktionen zu mächtige Organe schafft, die eine ausgewogene Aufteilung verschiedener Justizverwaltungsaspekte und damit eine gegenseitige Kontrolle der Ausübung unmöglich macht. Die Macht, die zuvor im Justizministerium konzentriert war, wurde daher lediglich auf ein neues Gremium übertragen.163 Neben diesen Staaten mit starken Richterräten gibt es östliche Europaratsstaaten, die schwache Richterräte aufweisen und sich mit einer direkten oder indirekten Einflussnahme von Seiten der Exekutive konfrontiert sehen. Dies trifft auf die Richterräten vergleichbaren Qualifikationskollegien in Russland zu, aber auch auf die hier nicht weiter im Mittelpunkt stehenden südkaukasischen Staaten Armenien164 und Aserbaidschan.165 Daher sollen nachfolgend beide Szenarien diskutiert und ihre Schwachstellen aufgezeigt werden, um beiden Bedürfnissen gerecht zu werden: einerseits verantwortliche Organe zu etablieren, die in ihrer Unabhängigkeit nicht so stark sind, dass sie wiederum der Unabhängigkeit der Richter schaden, indem lediglich die Macht, die vormals in den Justizministerien konzentriert war, in diese Organe verschoben wird;166 andererseits dem Bedürfnis nach ausreichender Unabhängigkeit dieser Organe und damit auch der Richter gerecht zu werden, die durch einen Durchgriff, regelmäßig der Exekutive, vereitelt wird. Neben Funktionen und Zusammensetzung

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162 Vgl. oben B. II. und die Diskussion bei C. II. 1. a) bb) sowie 97/2009 (X.16.) Verfassungsgericht der Republik Ungarn (Magyar Köztársaság Alkotmánybírósága), Entscheidung über die Zusammensetzung des Nationalen Richterrates, MK 2009 Nr. 146; 163 Vgl. sowohl hinsichtlich der Problematik der Zusammensetzung als auch der Funktionsdichte die rumänischen Erfahrungen: Parau, The Drive for Judicial Supremacy, C. I.; zur negativen Bewertung des Status quo in der Slowakei: Bobek, The Administration of Courts in the Czech Republic: In Search of a Constitutional Balance, S. 254 ff., insb. S. 257, 268 ff. Und zur problematischen Lage in Ungarn zumindest bis Ende 2011: Fleck, Judicial Independence in Hungary, B. I. 2. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass Ungarn im November 2011 sein Justizverwaltungssystem grundlegend geändert hat und nunmehr einer einzelnen Person (dem Präsidenten des neuen „National Judicial Office“) weitreichende Kompetenzen des Richterrats übertragen hat. Siehe weiterführend und zur Kritik der Venedig-Kommission: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on Act CLXII of 2011 on the Legal Status and Remunerations of Judges and Act CLXI of 2011 on the Organisation and Administration of Courts of Hungary, 19 March 2012, CDL-AD (2012)001, insb. Rn. 23 ff. 164 Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, insbesondere B. I. 2. 165 UN Human Rights Committee, Considerations of Reports Submitted by States Parties Under Article 40 of the Covenant, Concluding observations of the Human Rights Committee, Azerbaijan, 13 August 2009, UN Doc. CCPR/C/AZE/CO/3, Rn. 12; Report on the Independence of the Judiciary in Azerbaijan (liegt der OSZE vor), 2010, B. I.; zu Aserbaidschan und Armenien auch Müller, Judicial Administration in Transitional Eastern Countries, B. II. 166 So auch Bobek, The Administration of Courts in the Czech Republic: In Search of a Constitutional Balance, S. 269.

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von Richterräten bzw. Qualifikationskollegien stellt sich für alle östlichen Europaratsstaaten die Frage, wie Transparenz bei dem Prozess der Zusammensetzung und der späteren konkreten Ausübung der Justizverwaltungsfunktionen gestärkt werden kann. aa) Funktionen von Richterräten und ihrer Entsprechung in Russland (1) Machtkonzentration in Richterräten – Georgien, Moldawien und Ukraine (a) Richterliche Karriere: Auswahl, Ernennung und Beförderung von Richtern Eine der Kernzuständigkeiten von Richterräten ist regelmäßig die Partizipation an der Richterauswahl und/oder -ernennung sowie an der Beförderung von Richtern. Das größte Gewicht bei der Auswahl und Ernennung von Richtern hat von den drei hier im Fokus stehenden Richterräten der georgische Richterrat: Er organisiert auf der ersten Stufe die schriftlichen Qualifikationsprüfungen, die Kandidaten durchlaufen müssen, um für die Richterakademie ausgewählt zu werden, indem er die Prüfungskommission bestellt.167 Anschließend müssen die Kandidaten, die die Prüfung bestanden haben, noch ein mündliches Auswahlverfahren vor dem Richterrat durchlaufen.168 In der zweiten Etappe des Auswahlprozesses erfolgt die vierzehnmonatige Ausbildung in Theorie und Praxis an der Richterakademie. Nach den Abschlussprüfungen ist im dritten Schritt wieder der Richterrat maßgeblich, der Absolventen, die sich für vakante Stellen beworben haben, einem persönlichen Auswahlgespräch unterzieht. Die Kriterien für die Auswahl sind zwar gesetzlich festgelegt;169 allerdings wurden sie durch den Richterrat selbst weiter präzisiert und sind überdies so vage (Charakter, Ausdrucksstärke, analytische Fähigkeiten), dass er faktisch über ein weites Ermessen verfügt.170 Abschließend ernennt der georgische Richterrat die Richter,171 was in anderen Staaten regelmäßig Aufgabe des Staatspräsidenten, so auch in Georgien bis 2007, oder des Justizministers ist. Mit der Transformation des Richterrats im Juni 2007 weg vom Status eines bloßen Beratungsorgans des Staatspräsidenten, wurde auch die Zuständigkeit der Richterernennung auf das nun unabhängige Organ übertragen.172 Geblieben ist dem Staatspräsidenten einzig die Kompetenz, die Richter und den Präsidenten für das Oberste Gericht Georgiens zu nominieren, die durch das Parlament gewählt werden;173 ferner bleibt ihm ein mittelbarer Einfluss auf die Zuständigkeiten des Richterrats, einschließlich

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167 Georg. Organgesetz, Art. 67, 68; Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. II. 168 Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. II. 2. 169 Georg. Organgesetz, Art. 46, 47. 170 Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. II. 2. 171 Verfassung Georgiens, Art. 86; Georg. Organgesetz, Art. 47 Nr. 5. 172 Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. I. 2. 173 Verfassung Georgiens, Art. 90 Nr. 2.

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der Ernennung von Richtern, indem er zwei Mitglieder zum Richterrat ernennt,174 und den Präsidenten des Obersten Gerichts, der zugleich ex officio Vorsitzender des Richterrats ist, nominiert.175 Der georgische Richterrat entscheidet damit fast ausschließlich im Alleingang über die Besetzung der Richterposten an den unteren Instanzen, die den Großteil der Fälle bewältigen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere kritisch zu sehen, dass der Richterrat auf sich die Kompetenz zur Besetzung der Prüfungskommission einerseits, und die anschließende Auswahl- und Ernennungsgewalt andererseits vereint, und damit das Organ, das die Vorauswahl trifft, selbst zusammengesetzt hat. Hier lässt sich die Kritik der VenedigKommission hinsichtlich der Akkumulation von Zuständigkeiten im Bereich des Disziplinarrechts gegen Richter in Georgien auf das Auswahlverfahren von Richtern übertragen: Die Venedig-Kommission hatte die Akkumulation der Zuständigkeit des Richterrats zur Besetzung des Disziplinarorgans mit seiner Zuständigkeit zur Einleitung von Disziplinarverfahren kritisiert, da es nicht mehr um zwei separate und mithin voneinander unabhängige Organe handele, die Teilaspekte erfüllten, sondern der Richterrat mit dem speziellen Organ verwoben sei.176 Weiterhin entscheidet der georgische Richterrat über die Wiederernennung von Richtern, die sich bislang noch alle zehn Jahre einem erneuten Wettbewerb unterziehen müssen. Eine entsprechende Verfassungsänderung ist jedoch beschlossen, nach der eine unbefristete Ernennung mit der Möglichkeit einer höchstens dreijährigen Probezeit vorgesehen ist. Sie wird im Herbst 2013 in Kraft treten.177 Daneben fällt die Beförderung von Richtern in die Zuständigkeit des Richterrats, die nach demselben Verfahren abläuft wie die erstmalige Ernennung,178 und auch die Entlassung von Richtern liegt in seinen Händen.179 Der georgische Richterrat beherrscht mithin die gesamte

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Georg. Organgesetz, Art. 60 Nr. 5. Id., Art. 60 Nr. 2. 176 Dies wurde für das Disziplinarrecht mittlerweile offenbar modifiziert, vgl. den neuen Art. 24 Abs. 1 des Georgisches Gesetz über die disziplinarische Verantwortung von Richtern an den Allgemeinen Gerichten Georgiens und Disziplinarverfahren, 23.02.2000 (zuletzt geändert am 25.12.2009). Zur ursprünglichen Kritik der Venedig-Kommission: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Law on Disciplinary Responsibility and Disciplinary Prosecution of Judges of Common Courts of Georgia, 19 March 2007, CDL-AD(2007)009, Rn. 33. 177 (Geänderte) Verfassung Georgiens, 24.08.1995 (zuletzt geändert: 01.07.2011; Inkrafttreten der relevanten Änderungen vom 15.12.2010 im Jahr 2013), Art. 86 Abs. 2; Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venice Commission), Draft Constitutional Law on the Changes and Amendments to the Constitution of Georgia, 7 October 2010, CDL(2010)110, Rn. 36. Auch wenn eine unbefristete Ernennung durch den EGMR in Auslegung von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht gefordert wird siehe oben B. I. 3. b), bedeutet dieser Schritt eine Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit, da das Risiko beseitigt wird, dass Richter, in der Angst um ihr Amt, ihre Rechtsprechung an dem sachfremden Aspekt der Wiederernennung ausrichten könnten und empfänglicher für Druck und Weisungen von außen sind. 178 Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. II. 3., III. 2. 179 Verfassung Georgiens, Art. 86 Nr. 1. 174 175

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richterliche Karriere von der Auswahl und Ernennung über die Beförderung bis hin zu einer möglichen Entlassung, auch wenn die permanente Ernennung ab Herbst 2013 seine Macht über die richterliche Karriere etwas reduzieren wird. Wie in Georgien ist das moldawische Verfahren zur Ernennung zum Richteramt mehrstufig und sieht zunächst grundsätzlich die Zulassung zu einer Richterakademie vor. Diese ist zwar unabhängig, der moldawische Richterrat aber personell und inhaltlich involviert: Er ernennt sieben der 13 Mitglieder des Leitungsgremiums der Richterakademie, ist an Strategie und konkretem Umsetzungsplan für die Vorbereitung der Richter auf ihren Dienst beteiligt, gibt seine Meinung zu den Kriterien des Auswahlverfahrens und zum Lehrplan ab, ebenso wie zu der Zusammensetzung der Auswahlkommission an der Akademie und der Anzahl der jährlich Auszubildenden.180 Außerdem ernennt er die Lehrkräfte der Akademie.181 Daneben wird ein kleiner Teil der Kandidaten für die Richterlaufbahn aus Personen mit Berufserfahrung rekurriert, die nicht die Richterakademie besucht haben, und deren Auswahl von einem Qualifikationsorgan vorgenommen wird. Letzteres ist – anders als die Richterakademie – nicht einmal formal unabhängig, sondern ein Unterorgan des Richterrats. Zwar unterscheidet es sich personell vom Richterrat,182 jedoch ist es nicht in der Lage, unabhängig von diesem Entscheidungen zu treffen, da diese sowohl im negativen als auch im positiven Fall seiner Überprüfung unterliegen: der Richterrat ist sowohl zuständig für Beschwerden gegen Entscheidungen dieses Unterorgans als auch für die Bestätigung seiner Entscheidungen. Aus dem Kreis der Absolventen der Akademie sowie derjenigen mit Berufserfahrung, bestimmt der moldawische Richterrat mit einfacher Mehrheit diejenigen Kandidaten, die dem Staatspräsidenten (für die unteren beiden Gerichtsebenen) bzw. dem Parlament (für das Oberste Gericht) zur Ernennung vorgeschlagen werden. Damit sind Einfluss und Kompetenzdichte des moldawischen Richterrats zwar geringer als diejenigen des georgischen Richterrats, der die Kandidaten sogar selbst zum Richteramt ernennt. Jedoch muss jeder Kandidat zum einen zunächst durch den Richterrat vorgeschlagen werden, um überhaupt für eine Ernennung in Betracht zu kommen, d. h. er nimmt eine Schlüsselrolle ein. Zum anderen hat er die Möglichkeit, den Präsidenten bzw. das Parlament zu zwingen, einen bestimmten Kandidaten zu ernennen, indem er im Falle einer Ablehnung den Vorschlag mit Zweidrittelmehrheit wiederholt. In diesem Fall ist der Präsident bzw. das Parlament verpflichtet, die entsprechende Person zu ernennen.183 Dasselbe Verfahren mit einer ähnlich gewichtigen Rolle des moldawischen Richterrates, einschließlich der Möglichkeit, seinen Antrag mittels Zweidrittelmehrheit

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Moldaw. Gesetz über den Hohen Richterrat, Art. 4 Abs. 2 a, b, c. Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. I. 2. 182 Es besteht nicht aus Mitgliedern des Richterrats, sondern aus sechs Richtern verschiedener Instanzen sowie aus sechs Juraprofessoren, von denen drei durch den Richterrat ausgewählt und ernannt werden: Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. I. 2. 183 Id., B. II. 2. 180 181

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gegenüber dem Präsidenten bzw. dem Parlament zu erzwingen, und einer nur untergeordneten Funktion des Qualifikationsorgans, gilt für die Beförderung, Versetzung und Entlassung von Richtern sowie für die permanente Ernennung nach einer fünfjährigen Probezeit. Im Falle einer nur vorübergehenden Beförderung oder Versetzung trifft der moldawische Richterrat sogar selbst die Entscheidung.184 Er spielt damit eine entscheidende Rolle, wenngleich weitere Organe stärker als in Georgien beteiligt sind. Der Hohe Justizrat in der Ukraine nominiert Kandidaten für die anfängliche Ernennung durch den Staatspräsidenten und schlägt diesem bzw. dem Parlament die Entlassung von Richtern vor.185 Im Vorfeld seines Vorschlags an den Staatspräsidenten ist er, anders als der georgische Richterrat, kaum beteiligt, sondern in erster Linie die Hohe Qualifikationskommission.186 Anders als der moldawische Richterrat, verfügt er außerdem nicht über die Möglichkeit einer Erzwingung seines Vorschlags über eine qualifizierte Mehrheit. Der ukrainische Hohe Justizrat ist damit mit Blick auf die richterliche Karriere kompetenziell schwächer ausgestaltet als die Richterräte in Georgien und Moldawien. Allerdings kann er die Entscheidung der Hohen Qualifikationskommission auf Antrag eines abgelehnten Kandidaten überprüfen und die Hohe Qualifikationskommission verpflichten, den Kandidaten erneut zu prüfen. Desgleichen fungiert er als Beschwerdeinstanz für Richter, deren Ernennung auf Lebenszeit nach anfänglicher Probezeit abgelehnt wurde und kann der Hohen Qualifikationskommission aufgeben, eine neue Entscheidung zu treffen.187 Seit Juli 2010 nimmt der Hohe Justizrat außerdem Beförderungen zu der Position des Gerichtspräsidenten und seines Stellvertreters vor und entlässt diese auch188 – beides auf Empfehlung der Richterräte als Organe der Selbstverwaltung auf Ebene der einzelnen Gerichtsbarkeit.189

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Id., B. III. Ob der Präsident oder das Parlament zuständig ist, hängt davon ab, ob es sich um eine anfängliche Ernennung oder eine Ernennung auf Lebenszeit handelt bzw. eine Entlassung während der Probezeit oder während der Lebenszeiternennung: Verfassung der Ukraine, Art. 131 Abs. 1 Nr. 1; Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 3 Abs. 1, 29; Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 66 Abs. 11, 72, 74 ff. (Ernennung); Art. 100 ff. (Entlassung). 186 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 66, Art. 81 Abs. 2, 3. 187 Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 29-2; Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 70 Abs. 10 (Wiederholung der Qualifikationsprüfung), Art. 77 Abs. 2 (Beschwerde im Falle der Ablehnung einer Lebenszeiternennung). 188 Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 3 I-1. Die Verfassungsmäßigkeit dieser Kompetenz wird jedoch vereinzelt in Frage gestellt: die Kompetenzen des Hohen Justizrats seien in Art. 131 der Verfassung abschließend aufgelistet, wozu die Ernennung zu leitenden administrativen Posten nicht zähle. Die Venedig-Kommission stützt dies außerdem auf ein Urteil des Verfassungsgerichts von 2002: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law Amending Certain Legislative Acts of Ukraine in Relation to the Prevention of Abuse of the Right to Appeal, 18 October 2010, CDL-AD(2010)029, Rn. 26; siehe aber andererseits European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, 18 October 2010, CDL-AD(2010)026, Rn. 18, in der die 184 185

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(b) Disziplinarverfahren, Immunität und Ethik Ein klassischer Zuständigkeitsbereich von Richterräten neben der richterlichen Karriere sind Funktionen im Bereich der richterlichen Verantwortlichkeit. Dazu zählen vor allem disziplinarische Schritte gegen Richter, die Aufhebung der richterlichen Immunität, um strafrechtlich gegen Richter vorzugehen, sowie Fragen der richterlichen Ethik.190 Der georgische Richterrat weist auch hier die höchste Kompetenzdichte auf, da er sowohl für die Initiierung von Disziplinarverfahren gegen Richter, als auch für die weiteren Ermittlungen und die Verhandlung sowie die Entscheidung über die Verhängung einer Disziplinarstrafe zuständig ist. Damit liegen alle Verfahrensschritte eines Disziplinarverfahrens grundsätzlich in seiner Hand, wenngleich verschiedene Akteure unter dem Dach des Richterrats die konkreten Teilaspekte wahrnehmen.191 Der Rat selbst hat ein umfassendes Initiativrecht gegen alle Richter. Dazu prüft zunächst der Sekretär des Richterrats192 eine eingegangene Beschwerde und führt Ermittlungen durch, kann aber im Anschluss daran dem Richterrat nur vorschlagen, ob Anklage zu erheben ist oder nicht. Mithin entscheidet letztlich der Richterrat über die Anklageerhebung und damit die Eröffnung des Verfahrens. Beschließt der Richterrat die Anklage, kommt es zu einem Verfahren vor einem speziellen Disziplinargremium. Dieses setzt sich aus sechs Mitgliedern des Richterrats zusammen, darunter drei Richter und drei nichtrichterliche Mitglieder,193 die jedoch

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Venedig-Kommission sogar von einer scheinbaren Stärkung der Unabhängigkeit durch diese neue Kompetenzzuweisung spricht. 189 Diese bestehen aus elf Richtern, die von „Richterkonferenzen“ gewählt werden, die für jeden Zweig der Gerichtsbarkeit (allgemeine Gerichtsbarkeit, Handelsgerichte, Verwaltungsgerichtsbarkeit) als Ausprägung von Selbstverwaltungsstrukturen zusammentreten. Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 122 Abs. 6 Nr. 3 (Empfehlung des jeweiligen Richterrats), Art. 122 Abs. 3 (Zusammensetzung von Richterräten), Art. 119 Abs. 1 (Richterkonferenzen). 190 Daneben zählt dazu auch die Evaluation, die jedoch in diesen Staaten regelmäßig durch die Gerichtspräsidenten wahrgenommen wird. Dazu detailliert C. II. 2. a). 191 Daneben haben nur der Präsident des Obersten Gerichts und des Appellationsgerichts ein eingeschränktes Initiativrecht sowie ein eingeschränktes Ermittlungsrecht. Eine spezielle Kammer für Disziplinarsachen beim Obersten Gericht fungiert darüber hinaus als Revisionsinstanz, ist aber wohl lediglich befugt, nach Aktenlage zu entscheiden und die Parteien anzuhören, nicht jedoch erneut Beweis zu erheben: Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 7, Art. 65 ff.; Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. VII. 3. 192 Dieser ist nicht zu verwechseln mit dem Vorsitzenden des Richterrats und wird auf drei Jahre von der Richterkonferenz auf Vorschlag des Präsidenten des Obersten Gerichts ernannt. Er ist für die Durchführung der organisatorisch-technischen Arbeit des Richterrats zuständig: Georg. Organgesetz, Art. 66. 193 Die drei nicht-richterlichen Mitglieder werden in das Disziplinargremium durch den Richterrat gewählt; die drei richterlichen Mitglieder vom Präsidenten des Obersten Gerichts nominiert und von der georgischen Richterkonferenz gewählt: Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 24 Abs. 1. Kritisch: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Law on Disciplinary Responsibility and Disciplinary Prosecution of Judges of Common Courts of Georgia, Rn. 32, 38.

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zuvor nicht an der Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens im Richterrat teilnehmen durften.194 Das Disziplinargremium verhandelt den Fall und trifft die Entscheidung über die Verhängung der Sanktion bzw. den Freispruch.195 Insofern entscheiden mit dem Richterrat zwar andere Personen über die Anklageerhebung als über die Verhängung der Sanktion, die von den Mitgliedern des Disziplinargremiums verhängt wird. In beiden Fällen sind es aber Mitglieder des Richterrats, wenngleich die Mitglieder des Richterrats, die im Disziplinargremium sitzen, nicht an der Entscheidung über die Anklage mitwirken durften. Außerdem haben die Mitglieder des Richterrats Einfluss darauf, wer aus ihrem Kreis Teil des Disziplinargremiums wird.196 Dies wurde insbesondere von der Venedig-Kommission kritisiert, die zu Recht darauf hinwies, dass ein Organ, das bereits ein Initiativrecht für die Einleitung von Disziplinarverfahren habe, nicht zugleich das Organ besetzen können sollte, das später über die von ihm initiierte Disziplinarsache entscheide.197 Da Verstöße gegen die richterliche Ethik Anlass zu Disziplinarverfahren geben können,198 ist der georgische Richterrat über seine zentrale Stellung in Disziplinarsachen auch mit Fragen der richterlichen Ethik befasst. Kein Mitspracherecht hat er hingegen, anders als sein moldawisches Pendant, bei der Aufhebung der richterlichen Immunität, die für eine Strafverfolgung Voraussetzung ist. Hierzu ist der Präsident des georgischen Obersten Gerichts zuständig,199 der allerdings zugleich ex officio den Vorsitz im Richterrat innehat. Eine ähnlich zentrale Rolle in Disziplinarverfahren gegen Richter spielt der moldawische Richterrat. Bereits ein einzelnes Mitglied des moldawischen Richterrats hat das Recht, ein Disziplinarverfahren zu initiieren. Zwar führt anschließend auch hier ein spezielles Disziplinargremium das Verfahren durch. Letzteres stellt jedoch, ebenso wie das Qualifikationsorgan im Rahmen der Richterauswahl, lediglich ein Unterorgan des Richterrats dar. Letzterer ernennt selbst zwei der zehn Mitglieder des Disziplinargremiums, alle Entscheidungen des Disziplinargremiums bedürfen der Bestätigung durch den Richterrat und er fungiert auch als Beschwerdeinstanz gegen dessen Entscheidungen. Er kann somit alle Entscheidungen des Disziplinargremiums aufheben oder abändern.200 Mithin ist es wieder der Richterrat, der die maßgebliche Entscheidung trifft, selbst wenn eine spezielle Disziplinarkammer

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Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 17 Abs. 3. Id., Art. 7 ff.; Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. VII. 1., 2. 196 Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 24 Abs. 1. 197 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Law on Disciplinary Responsibility and Disciplinary Prosecution of Judges of Common Courts of Georgia, Rn. 33, 38. 198 Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 2 Abs. 2 i). 199 Verfassung Georgiens, Art. 87; Georg. Organgesetz, Art. 52 Abs. 1. 200 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VII. 1., 2. 194 195

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beteiligt ist. Letztere wird sich gegen den Richterrat nicht durchsetzen können. Die Entscheidungen des Richterrats können allerdings wiederum vor einem Gericht angefochten werden. Kritische Stimmen plädieren dafür, den Richterrat in Moldawien als Bestätigungs- und Beschwerdeinstanz ganz zu streichen und stattdessen gegen die Entscheidungen des Qualifikationsgremiums direkt den Rechtsweg zu einem Gericht zu eröffnen.201 Außerdem sehen Beobachter eine Gefahr in dem Initiativrecht jedes einzelnen Mitglieds des Richterrats, das auch den ex officio Mitgliedern, wie dem Generalstaatsanwalt und dem Justizminister, zusteht. Unter Berufung auf Beispiele aus der Praxis, wird darauf hingewiesen, dass Richter aus Angst vor Disziplinarverfahren ihre Entscheidungen so ausrichten würden, dass sie nicht den Generalstaatsanwalt oder Justizminister gegen sich aufbringen, weil diese eigenständig ein Disziplinarverfahren einleiten können.202 Der moldawische Richterrat ist außerdem von zentraler Bedeutung für Beschwerden über die Verletzung der richterlichen Ethik,203 mitverantwortlich für die Aufhebung der richterlichen Immunität,204 und entscheidet über die Möglichkeit des Staates, Regressforderungen gegen Richter zu richten.205 Für Entscheidungen über die Verletzung der richterlichen Ethik und die Aufhebung der Immunität bedient er sich zwar wiederum eines Unterorgans, einer Art justizieller Aufsichtsbehörde.206 Wie die beiden anderen Unterorgane – Qualifikationsgremium und Disziplinargremium – wird jedoch auch dieses Unterorgan in Abhängigkeit vom Richterrat tätig: Letzterer besetzt alle fünf Posten in der Aufsichtsbehörde und jede ihrer Entscheidungen bedarf der Bestätigung durch den Richterrat. Er kann im Falle einer Verletzung der richterlichen Ethik entweder die Entscheidung der Aufsichtsbehörde bestätigen und Disziplinarmaßnahmen einleiten, zu denen Ethikverletzungen in schweren Fällen führen können; oder er entscheidet, dass es sich um einen weniger schweren Verstoß handelt und der Richter daher über den Verstoß nur zu informieren sei.207 Im Rahmen der Immunität entscheidet der moldawische Richterrat gemeinsam mit Staatspräsident oder Parlament (je nachdem, wer die Ernennungskompetenz hatte) über deren Aufhebung; die Aufsichtsbehörde prüft lediglich den Antrag des Generalstaatsanwalts. Ein Regress des Staates gegen den einzelnen

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201 Id., B. I. 2., F.; ABA Rule of Law Initiative, Judicial Reform Index for Moldova, 2009, Volume III, S. 52. 202 ABA Rule of Law Initiative, Judicial Reform Index for Moldova, S. 54. 203 Moldaw. Gesetz über den Hohen Richterrat, Art. 4 Abs. 3 a). 204 Id., Art. 7 (1) VI c), Art. 23; Gesetz über den Status von Richtern, 20.07.1995 (zuletzt geändert am 09.06.2011), Art. 19 Abs. 4. 205 Moldaw. Richterstatusgesetz, Art. 21 (1) VI 2; Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VIII.; ABA Rule of Law Initiative, Judicial Reform Index for Moldova, S. 50. 206 Moldaw. Gesetz über den Hohen Richterrat, Art. 7(1) VI b). 207 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, D. I.

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Richter ist ebenfalls nur möglich nach Zustimmung des Richterrats. Wird Moldawien wegen einer richterlichen Entscheidung, die gegen Grund- und Menschenrechte aus der Verfassung oder aus völkerrechtlichen Verträgen (z. B. der EMRK) verstoßen hat, in Anspruch genommen, und handelte der Richter grob fahrlässig oder bösgläubig, so liegen die Voraussetzungen für eine unmittelbare materielle Verantwortlichkeit der moldawischen Richter vor. Auch bei diesem Zugriff auf ihr persönliches Vermögen als Konsequenz einer richterlichen Entscheidung, hat der Richterrat die entscheidende Stimme – er kann seine Zustimmung erteilen oder verweigern. Der ukrainische Hohe Justizrat hat ein eingeschränktes Initiativrecht für Disziplinarverfahren, das sich nur auf Verfahren gegen die Richter am Obersten Gericht und den höheren spezialisierten Gerichten bezieht.208 Allerdings nimmt er in dieser Hinsicht alle Verfahrensschritte selbst wahr: Die Informationen bezüglich eines möglichen disziplinarrechtlich relevanten Verhaltens eines Richters werden von einem Mitglied des Hohen Justizrats geprüft, im Anschluss entscheidet der Hohe Justizrat über die Einleitung eines Disziplinarverfahrens, verhandelt im Falle der Einleitung die Disziplinarsache selbst und trifft am Ende die Entscheidung.209 Daneben agiert er als Berufungsinstanz in Disziplinarverfahren gegen Richter der unteren beiden Instanzen. Er kann die Entscheidung der Hohen Qualifikationskommission, die zunächst das Disziplinarverfahren gegen Richter der unteren Instanzen durchgeführt hat,210 aufheben und das Disziplinarverfahren beenden oder die Entscheidung abändern oder bestätigen.211 Wesentliche Funktionen erfüllt der Hohe Justizrat der Ukraine darüber hinaus mit Blick auf Entlassungen von Richtern als schärfster Disziplinarstrafe: Jedes Mitglied des Hohen Justizrats kann die Entlassung von Richtern vorschlagen.212 Außerdem tritt er als wesentliches Bindeglied zwischen den beiden Entscheidungsträgern in dieser Frage auf (Hohe Qualifikationskommission und Parlament bzw. Staatspräsident – je nachdem, wer für die Ernennung zuständig war), indem er die Empfehlung der Hohen Qualifikationskommission bei Parlament oder Staatspräsident einreicht.213 Da die vorzeitige Entlassung aus dem Dienst – ein Eingriff in die stabile Amtszeit und damit in eine der wesentlichen Garantien richterlicher Unabhängigkeit – seiner Mehrheitsentscheidung bedarf,214 bevor Staatspräsident

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208 Verfassung der Ukraine, Art. 131 Abs. 1 3); Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 3 Abs. 3, Art. 37 ff. 209 Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 38 Abs. 3 iVm Art. 40 ff. 210 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 85. 211 Verfassung der Ukraine, Art. 131 Abs. 1 3); Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 3 Abs. 4, Art. 45 ff. 212 Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 30 Abs. 2. 213 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 87 Abs. 5 iVm Art. 100, 105. 214 Einfache Mehrheit der anwesenden Mitglieder: Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 31. In einem Entwurf von 2011 zur Abänderung des Gesetzes über das Gerichtswesen und den Status von Richtern ist zu Recht eine Zweidrittelmehrheit der gesetzlichen Mitglieder

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oder Parlament entscheiden, erfüllt der Hohe Justizrat hier eine bedeutende Funktion.215 Des Weiteren hat er auf Fragen der richterlichen Ethik über seine Kompetenzen im Disziplinarrecht Einfluss, da systematische und grobe Ethikverletzungen einen Grund für die Eröffnung von Disziplinarverfahren darstellen.216 Nicht zuständig ist der ukrainische Richterrat hingegen für Fragen der richterlichen Immunität, für deren Aufhebung die Zustimmung des Parlaments217 und nicht, wie in Moldawien, diejenige des Richterrats notwendig ist. (c) Budget Daneben haben die verhältnismäßig starken Richterräte Georgiens und Moldawiens Einfluss auf das Budget. Der georgische Richterrat macht einen Vorschlag über das für die Justiz benötigte Budget an das Finanzministerium, welches das Gesamtbudget anschließend zusammenstellt und dem Parlament vorlegt. Außerdem überwacht er auf der Ausführungsseite durch eine ihm beigeordnete Abteilung die Ausgaben, die von den Gerichten getätigt werden.218 Der moldawische Richterrat hat ebenfalls ein Vorschlagsrecht über das für die Justiz benötigte Budget. Er prüft dazu die Budgetentwürfe, die die Gerichte aufgestellt haben, genehmigt diese und bringt seinen Vorschlag unmittelbar vor das moldawische Parlament.219 Anders als der georgische Richterrat, überwacht er jedoch nicht die Ausgaben der Gerichte; ein entsprechendes Gesetz, mit dem 2006 eine ähnliche spezielle Justizverwaltungseinheit innerhalb des moldawischen Richterrats für die Verteilung des Justizbudgets, die Überwachung der Ausgaben der Gerichte und ihre finanzielle Absicherung eingerichtet werden sollte, wurde durch den moldawischen Staatspräsident unter Verweis auf das bereits bestehende Vorschlagsrecht des Richterrats in Budgetangelegenheiten verhindert. Stattdessen wurde die Abteilung dem Justizministerium un-

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des Richterrats für den Entlassungsantrag vorgesehen: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, 17 August 2011, CDLREF(2011)043, Art. 116 Abs. 3. 215 Siehe auch unten C. II. 2. b) dd) (2). Der Änderungsentwurf von 2011 sieht sogar vor, dass die Hohe Qualifikationskommission den Richterrat in einem zweiten Anlauf zwingen können soll, die Entlassung vorzuschlagen: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 116 Abs. 8; kritisch: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Draft Law Amending the Law on the Judiciary and the Status of Judges and Other Legislative Acts of Ukraine, 18 October 2011, CDL-AD(2011)033, Rn. 65. 216 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 83 Abs. 1 4). 217 Id., Art. 48 Abs. 1. 218 Georg. Organgesetz, Art. 70, 71, insbesondere d) und Art. 81. 219 Moldaw. Gesetz über den Hohen Richterrat, Art. 4 Abs. 4 c); Gesetz über das Gerichtswesen, 06.07.1995 (zuletzt geändert am 03.02.2009), Art. 22 Abs. 1.

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terstellt, was wegen des dadurch entstandenen großen Einflusses des Justizministeriums auf Organisation und Finanzierung der Gerichte auf Kritik stößt.220 In der Ukraine hat der Hohe Justizrat kein Mitsprache- oder gar Vorschlagsrecht mit Blick auf das Budget oder Ausgaben der Gerichte. Das Budget für die Justiz als Teil des Staatshaushalts auszuarbeiten, vorzuschlagen und anzunehmen, liegt in der Hand der klassischen Verfassungsorgane Regierung und Parlament.221 Vertreterin der Gerichte bei der Ausarbeitung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes im Ministerkabinett und den Verhandlungen im Parlament ist die Staatliche Justizverwaltungsbehörde, die bis zu der Justizreform im Juli 2010 der Exekutive angehörte,222 und seitdem, wohl auf Drängen der Venedig-Kommission,223 den richterlichen Selbstverwaltungsorganen unterstellt wurde, ohne Teil derselben zu sein.224 Für die Verteilung des verabschiedeten Budgets an die Gerichte sind die Gerichte der allgemeinen Gerichtsbarkeit sowie das Verfassungsgericht zuständig, wobei es bei dieser allgemeinen Kompetenzzuweisung bleibt.225 Die Venedig-Kommission kritisiert insbesondere, dass unklar sei, inwieweit die Justiz Einfluss auf die Bildung des Budgets nehmen könne, insbesondere, ob ihre Forderungen von den zuständigen Staatsorganen zu beachten seien.226 (d) Bewertung Der Überblick über die Funktionen von Richterräten in Georgien, Moldawien und der Ukraine hat gezeigt, dass in allen drei Staaten eine Vielzahl von Funktionen auf die nach dem Umbruch Anfang der 1990er Jahre eingeführten Richterräte übertragen wurde. In allen drei Staaten sind es ähnliche Funktionen, die beinahe alle Fragen der richterlichen Karriere von der erstmaligen Ernennung, über die Lebenszeiternennung, über eine Versetzung und Beförderung bis hin zu Disziplinarsanktionen, Ethikverstößen und der Beendigung des Dienstes betreffen, teilweise kumulativ die Beteiligung an der Aufhebung der Immunität, teilweise Fragen des Justiz-

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Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. I. 1., F. Verfassung der Ukraine, Art. 85 Abs. 4, Art. 116 Abs. 6. 222 Zur alten Rechtslage: Gesetz über das ukrainische Gerichtswesen, 07.02.2002 (außer Kraft seit 07.07.2010), Art. 125 Abs. 2. 223 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 106 f. 224 Державна судова адміністрація України. Vgl. zur Staatlichen Justizverwaltungsbehörde näher: Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 145 Abs. 2, 6, Art. 146 Abs. 1 1), Art. 147 Abs. 2. Die genaue Zuordnung ist jedoch unklar: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 129. 225 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 142 Abs. 2. Die Staatliche Justizverwaltungsbehörde weist lediglich der Qualifikationskommission, den Selbstverwaltungsorganen und der Richterakademie die entsprechenden Gelder zu. 226 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 102. 220 221

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budgets einschließen. Wenngleich daneben zu einem gewissen Grad die Exekutive und Legislative und – gerade in Moldawien – spezielle Unterorgane einzelne Aspekte der Justizverwaltung wahrnehmen, so ist in vielen Belangen keine Entscheidung ohne die Beteiligung des Richterrats möglich. Entweder kann der Richterrat, wie in Moldawien, eine Ernennungs- oder Beförderungsentscheidung durch qualifizierte Mehrheit erzwingen und bedarf jede Entscheidung in Disziplinar- oder Strafsachen gegen Richter seiner Bestätigung, was auch die Abänderung oder Aufhebung der vormals von einem anderen Unterorgan getroffenen Entscheidung einschließt. Oder es werden, wie in Georgien, von vorneherein vergleichsweise wenig zusätzliche Organe einbezogen. Dort, wo eine Prüfungskommission im Auswahlverfahren eine Rolle spielt, wird diese bereits durch den Richterrat selbst bestellt, und er trifft stets eine nachgelagerte Entscheidung, bleibt mithin das zentrale Organ. Das spezielle Disziplinargremium, das als weiteres Organ in Disziplinarverfahren agiert, setzt sich bereits aus Ratsmitgliedern zusammen, die wiederum hälftig von dem Richterrat selbst ausgewählt, zur anderen Hälfte durch seinen Vorsitzenden nominiert werden. Selbst der vergleichweise schwächere Hohe Justizrat der Ukraine kann Entscheidungen der Hohen Qualifikationskommission, die in der Ukraine nicht unwesentlich in Auswahl- und Disziplinarverfahren eingebunden ist, in Auswahlverfahren aufheben und die Angelegenheit zurückverweisen bzw. in Disziplinarverfahren selbst abändern oder einfach verwerfen. Dieselbe Machtakkumulation wird aber nicht nur deutlich, wenn man die Verkettung verschiedener zentraler Kompetenzen betrachtet, die für die richterliche Karriere entscheidend sind, sondern auch innerhalb der einzelnen Kompetenzbereiche. So lässt sich etwa mit Blick auf Disziplinarverfahren beobachten, dass die starken Richterräte teilweise sowohl für die Einleitung, als auch die Verfolgung und für die Entscheidung über die Disziplinarstrafe zuständig sind. Während es auf den ersten Blick naheliegend erscheint, dass die Übertragung möglichst vieler Kompetenzen auf ein unabhängiges, überwiegend mit Richtern besetztes Organ,227 zur Schaffung und Förderung richterlicher Unabhängigkeit beiträgt und dadurch exekutiver Einfluss minimiert werden kann, so haben Erfahrungen aus den zentralosteuropäischen Staaten wie Ungarn und Rumänien gezeigt, dass Richterräte, die eine große Kompetenzdichte aufweisen, dazu neigen, unkontrollierbar zu werden.228 Werden sie zu mächtig, kann dies die Unabhängigkeit der Richter gefährden, da der Richterrat eine Vielzahl an Kompetenzen auf sich vereint,

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227 Anders der ukrainische Hohe Justizrat, der pluralistisch besetzt ist und nur eine Minderheit an Richtern enthält. Kritisch deshalb European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 94, 126, 129. Näher dazu C. II. 1. a) bb). 228 Fleck, Judicial Independence in Hungary, B. I. 2., F.; Coman/Dallara, Judicial Independence in Romania, B. I. 2., F.; Parau, The Drive for Judicial Supremacy, C. IV; vgl. auch die negativen Erfahrungen mit Richterräten in der Slowakei: Bobek, The Administration of Courts in the Czech Republic: In Search of a Constitutional Balance, S. 256 f., 269.

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die von sensibler Natur sind und sich auf die richterliche Entscheidungsfindung auswirken können. Sowohl die Entscheidung über die Ernennung und Beförderung als auch die Entlassung oder zumindest die Empfehlung der Entlassung ein und desselben Richters liegen entweder in der Hand der Richterräte oder sie leisten dazu zumindest einen zentralen Beitrag, ohne dass eine gegenseitige Kontrolle der Ausübung gewährleistet würde. Diejenigen postkommunistischen Staaten, die eine solche Kompetenzakkumulation früher als die hiesigen Staaten vornahmen, sehen sich daher jetzt mit dem Problem mangelnder Verantwortlichkeit dieser Organe konfrontiert, die sich schädigend auf die Unabhängigkeit der Richter auswirkt.229 Die Macht, die zuvor im Justizministerium konzentriert war, wurde in diesen zentralosteuropäischen Staaten lediglich verschoben; die Probleme sind dieselben geblieben.230 Betrachtet man diese Erfahrungen in den zentralosteuropäischen Nachbarstaaten, muss die Akkumulation von Macht in den Richterräten in Georgien, Moldawien und der Ukraine ebenfalls kritisch gesehen werden.231 Dies gilt auch vor dem Hintergrund der übertragbar erscheinenden Rechtsprechung des EGMR zu Gerichtspräsidenten, wonach eine Kompetenzakkumulation in den Händen eines Organs abträglich für die richterliche Unabhängigkeit ist.232 Verschiedene Modelle sind für die vier hier betrachteten postsowjetischen Staaten denkbar, um eine ähnliche Entwicklung wie in Teilen der zentralosteuropäischen Staaten zu verhindern, und stattdessen den Einfluss auf die Justizverwaltung zu verteilen. Denkbar wäre zunächst, Unterorgane, wie sie insbesondere in Moldawien existieren, zu stärken, indem etwa die Bestätigungspflicht durch den Richterrat abgeschafft würde.233 Auch für Georgien könnte dieser Schritt lohnenswert sein, da das für Disziplinarsachen zuständige Gremium zwar keiner Bestätigungspflicht unterliegt, aber personell mit dem georgischen Richterrat verwoben ist, auch wenn

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229 Fleck, Judicial Independence in Hungary, B. I. 2., F.; Coman/Dallara, Judicial Independence in Romania, B. I. 2., F.; Commission of the European Communities, Report from the Commission to the European Parliament and the Council: On Progress in Romania under the Co-operation and Verification Mechanism, 2008, COM(2008) 494 final, 1, 4, 5; Commission of the European Communities, Report from the Commission to the European Parliament and the Council: On Progress in Romania under the Co-operation and Verification Mechanism, Technical Update, 2010, COM (2010) 401 final, 7, 8; Parau, The Drive for Judicial Supremacy, C. IV. 230 Bobek, The Administration of Courts in the Czech Republic: In Search of a Constitutional Balance, S. 269. 231 Die Entwicklung geht derzeit jedoch in Richtung einer weiteren Stärkung der Richterräte, z. B. in der Ukraine: Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 3 I-1, eine Kompetenz, die der Hohe Justizrat erst seit 2010 hat. Vgl. auch die Empfehlungen der VenedigKommission im Vorfeld der ukrainischen Justizreform 2010, mit denen sie für die Stärkung eines Richterrats nach Vorbild des ungarischen Richterrats warb: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Draft Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, 16 March 2010, CDL-AD (2010) 003, Rn. 99. 232 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien. 233 So Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, F.

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die Mitglieder des Disziplinargremiums von dem zuvor stattfindenden Entscheidungsprozess im Richterrat ausgeschlossen sind. In beiden Staaten müssten mithin die Unterorgane gestärkt und autonomer gestaltet werden, um sie von ihrer derzeitigen Abhängigkeit vom Richterrat und damit ihrem marginalen Einfluss zu befreien und ihre Existenz aufzuwerten. In der Ukraine müssten sie erst noch eingeführt werden.234 Dies würde dazu führen, dass die Kompetenzfülle im Bereich der Justizverwaltung auf mehrere kleinere Einheiten innerhalb ein und desselben Hauptorgans tatsächlich verteilt werden würde, statt dies nur anzudeuten.235 Selbst wenn jedoch eine solche Untereinheit gestärkt werden würde, würde sie dennoch ein Unterorgan bleiben und damit abhängig von einem Hauptorgan. Daher erscheint es überzeugender, statt der Stärkung oder Neueinrichtung von Unterorganen zu Richterräten, separate unabhängige Organe neben dem Richterrat einzurichten und die Teilbereiche der Justizverwaltung zwischen Richterrat einerseits und neu eingeführten separaten Organen andererseits stärker zu verteilen. Einen ähnlichen Schritt empfehlen die sog. Kyiv Recommendations, die im Sommer 2010 in Kiew mit Experten aus und zu den verschiedenen Staaten Zentral- und Osteuropas, des Südkaukasus und Zentralasiens entwickelt wurden: eine Aufteilung von Funktionen auf verschiedene Organe statt einer Konzentration von Kompetenzen in einem Richterrat, um begrenzte Macht und gegenseitige Kontrolle herzustellen und damit dem Problem der mangelnden Verantwortlichkeit entgegenzuwirken.236 Verschiedene Optionen der Verteilung von Macht sind denkbar: Richterräte könnten sich auf einen Aspekt der Justizverwaltung konzentrieren, z. B. Auswahl, Ernennung und Beförderung, wobei die konkreten Befugnisse zwischen den unterschiedlichen Staaten sicherlich abweichen werden. Dennoch ist es wichtig klarzustellen, dass eine Konzentration des Richterrats auf Fragen der richterlichen Karriere, wie sie hier vertreten wird, nicht den Ausschluss der anderen beiden Gewalten von diesem Prozess impliziert. Um gegenseitige Kontrolle zu gewährleisten im gewaltengeteilten System, statt die wesentlichen Fragen der Auswahl, Ernennung und Beförderung zu isolieren, sollten Legislative und Exekutive in diese Entscheidungen einbezogen werden, ohne den Prozess zu determinieren. Es geht also weniger darum, die anderen Gewalten aus diesem Prozess herauszudrängen, als darum, den Richterrat auf diese Funktionen zu fokussieren und damit andere Fragen, wie

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234 So iBa die Ukraine auch: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 94. 235 Fleck, Judicial Independence in Hungary, B. I. 2., der sogar so weit geht, für eine Verschiebung einiger Funktionen (wie der Bezahlung von Richtern) vom Richterrat zurück auf die Exekutive zu plädieren, um eine ausgewogene Machtverteilung und ein System gegenseitiger Kontrolle herzustellen. 236 Kyiv Recommendations on Judicial Independence in Eastern Europe, South Caucasus and Central Asia – Judicial Administration, Selection and Accountability, 2010, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, Annex 1, Rn. 2.

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Disziplinarverfahren, seinem Aufgabenbereich zu entziehen.237 Gleichzeitig könnte ein Richterrat, der auf eine, anstelle einer Vielzahl von Funktionen beschränkt ist, bedeutende Kompetenzen in diesem Bereich haben. Ein Beispiel für eine solche Stellung ist etwa die Kompetenz des moldawischen Richterrats, den Staatspräsidenten oder das Parlament (je nach Instanz) zu der Ernennung eines bestimmten Kandidaten zu verpflichten. Der Richterrat hat mithin eine entscheidende Stimme, mit der er sogar die ernennende Autorität überstimmen kann. Gleichzeitig ist dieses Modell wiederum insofern abgesichert, als dass für eine derartige Erzwingung eines Kandidaten eine Zweidrittelmehrheit im Richterrat Voraussetzung ist.238 So kann weder auf diese Weise der Staatspräsident oder das Parlament ein Vetorecht unbegrenzt ausüben, noch der Richterrat jeden Kandidaten durchsetzen. Beide begrenzen sich dadurch gegenseitig in ihrer Macht. Neben der Begrenzung von Macht durch Fokussierung der Richterräte in diesen Staaten auf einen Aspekt der Justizverwaltung, wäre ein weiterer gangbarer Weg, Richterräte nach wie vor in verschiedene Aspekte der Justizverwaltung einzubeziehen, dafür mit weniger Kompetenzen. Dies würde auf eine Einbeziehung in die Breite hinauslaufen, jedoch durch Beschränkung auf wenige Fragen in den einzelnen Teilbereichen ebenfalls zu einer stärkeren Machtverteilung führen. Etwa wäre es nicht denkbar, dass Richterräte zugleich Disziplinarverfahren einleiten und am Ende über die Disziplinarstrafe entscheiden könnten, wie dies derzeit in Georgien und Moldawien trotz der Einbeziehung von spezialisierten Gremien der Fall ist.239 Um klarere und transparente Strukturen und Zuständigkeiten zu schaffen, plädiert diese Arbeit für die Option, den Richterrat auf einen Aspekt zu begrenzen und weitere Organe für andere Teilbereiche der Justizverwaltung einzuführen. Einem solchen Vorschlag der Verteilung von Macht auf verschiedene Organe ließe sich entgegenhalten, dass er zu einer unübersichtlichen Situation führen könnte. Das ukrainische System, wie es sich seit den Reformen 2010 mit verschiedenen Organen darstellt, darunter neben dem Hohen Justizrat einem weiteren Richterrat als Selbstverwaltungsorgan, Richterräten für die einzelnen Gerichtsbarkeiten,240 Qualifikationskommissionen und weiteren verästelten Selbstverwaltungsstrukturen, die sich teilweise überschneidende, wenngleich überwiegend nicht sehr einflussreiche Funktionen ausüben, wurde für seine Unübersichtlichkeit scharf kritisiert.241

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237 Vgl. auch Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. I. 2., die eine Übertragung der vollständigen Disziplinarzuständigkeit auf das spezielle Disziplinargremium anregen, mit Einspruchsmöglichkeit direkt an ein Gericht, statt zunächst an den Richterrat. 238 Id., B. II. 2. 239 Vgl. zu dieser Option Kyiv Recommendations, Rn. 5. 240 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 122 Abs. 3 iVm Art. 119 Abs. 1. 241 Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. I. 2.; European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Draft Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 97, 108, 122 f.

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Allerdings spricht diese Erfahrung nicht generell gegen das Verteilen von verschiedenen Justizverwaltungsfunktionen auf verschiedene Organe. Vielmehr liegt das Problem in der Ukraine in den sich überschneidenden Kompetenzen der verschiedenen Organe, darunter der Existenz zweier zentraler Richterräte (Hoher Justizrat und Richterrat der Ukraine), von denen einer ein Verwaltungsorgan, der andere ein Selbstverwaltungsorgan ist, und der Vielzahl weiterer (Selbst-)Verwaltungsorgane, deren Zuständigkeiten nicht klar und transparent abgeschichtet sind. Auch Zuständigkeiten je nach Instanz (z. B. für Disziplinarverfahren) zu trennen,242 statt nach dem Justizverwaltungsaspekt, um den es geht, trägt zusätzlich zu dem Eindruck einer verwirrenden und intransparenten Organisation der Justizverwaltung bei. Daher wird hier dafür plädiert, nach den verschiedenen Aspekten der Justizverwaltung klar zu trennen, anstatt mehreren Verwaltungs- und Selbstverwaltungsorganen aus der Justiz die Zuständigkeiten für einen Aspekt der Justizverwaltung zuzuordnen. Gleichzeitig wird Transparenz dadurch gewahrt, dass nicht nur kompetenziell sauber abgeschichtet wird, sondern auch eine überschaubare Anzahl an Organen agiert, die zudem nicht ähnliche Bezeichnungen tragen sollten. Die falsche Reaktion auf die Situation in der Ukraine wäre es, noch mehr Aspekte auf einen Richterrat zu übertragen und damit ein einziges, dafür in allen wesentlichen Bereichen der Justizverwaltung mächtiges Organ zu schaffen, wie dies etwa die Venedig-Kommission empfiehlt.243 Die Analyse der Gefahren, die mit starken Richterräten auf längere Sicht einhergehen können, sowie ein Blick auf die neben einem starken Richterrat existierende, unübersichtliche Vielzahl an schwachen Selbstverwaltungsorganen in der Ukraine, hat gezeigt, dass eine gangbare Alternative zugunsten einer klaren und transparenten Struktur in der Justizverwaltung sein kann, eine kleine Anzahl an Organen zu etablieren, die verschiedene, klar abgetrennte Kompetenzbereiche innehaben, ohne sich in ihren Zuständigkeiten zu überlappen. (2) Einfluss von Seiten der Exekutive und der Gerichtspräsidenten auf die Justizverwaltung de jure und de facto – Russland Neben den starken Richterräten in Georgien, Moldawien und der Ukraine, haben andere östliche Europaratsstaaten das gegenteilige Problem – Richterräte, die entweder zwar de jure stark, aber de facto schwach sind, wie etwa in Aserbaidschan, oder bereits de jure wenig Einfluss auf die Justizverwaltung haben, wie in Armenien. Das Modell eines Richterrats als bloßes Beratungsorgan des Staatspräsidenten, wie dies in Georgien bis 2007 der Fall war, existiert hingegen so nur noch in

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Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 85. European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Draft Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 97 ff., allerdings unter der Prämisse, dass die Ukraine die Zusammensetzung des Hohen Justizrats zuvor ändert. 242 243

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ehemaligen Sowjetstaaten, die nicht Teil des Europarats sind.244 Russland als der im Folgenden zu beleuchtende Staat verfügt schon nicht über einen vergleichbaren Richterrat.245 Zwar existieren so bezeichnete Organe sowohl auf Ebene der Föderation, als auch auf Ebene der Subjekte; sie sind aber mit Blick auf ihre Zusammensetzung und ihre Funktionen, wie einführend dargelegt, anders einzustufen.246 Wesentliche Funktionen der Justizverwaltung, vergleichbar mit Richterräten in Moldawien, der Ukraine und Georgien, werden in Russland vielmehr von den Qualifikationskollegien wahrgenommen, die ebenfalls auf Ebene der Föderation als auch auf Ebene der Föderationssubjekte bestehen. Daneben ist in diesen Staaten der zweiten Gruppe, zu der auch Russland zählt, generisch, dass der Einfluss des Staatspräsidenten und der Gerichtspräsidenten auf die Justizverwaltung nach wie vor besonders groß ist. So hat die Präsidialverwaltung in Russland offiziell wie inoffiziell großen Einfluss auf den gesamten Prozess der Justizverwaltung. Beispielhaft kann dies mit Blick auf den Generaldirektor des Gerichtsdepartements gesehen werden, eines der Hauptorgane für administrativ-technische Belange der Justiz. Während Letzteres am Obersten Gericht angesiedelt ist und damit formal zur Judikative gehört, sei die Präsidialverwaltung inoffiziell involviert in den Aushandlungsprozess rund um die Ernennung des Direktors des Gerichtsdepartements.247 Aber auch auf den Prozess der Zusammensetzung der Qualifikationskollegien nimmt die Exekutive starken Einfluss.248 Daneben haben Gerichtspräsidenten und verschiedene Organe der Exekutive das letzte Wort in allen Belangen, die zuvor von den Qualifikationskollegien behandelt wurden. Qualifikationskollegien wirken daher bei Auswahl, Beförderung und Disziplinarverfahren mit. Im Gegensatz zu den starken Richterräten Georgiens, Moldawiens und der Ukraine sind sie jedoch schwach und einer Dominanz von Seiten der Exekutive und der Gerichtspräsidenten ausgesetzt.249

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244 Z. B. Kasachstan: Müller, Judicial Administration in Transitional Eastern Countries, B. II.; zum georgischen Richterrat vor der Reform 2007: Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. I. 2. 245 Ebenso Weißrussland, das jedoch mangels Mitgliedschaft im Europarat nicht weiter betrachtet wird. Weiterführend: Vashkevich, Judicial Independence in the Republic of Belarus, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 1065 ff., sowie vergleichend: Müller, Judicial Administration in Transitional Eastern Countries. 246 Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 10, sowie einführend oben C. II. 1. a). 247 So Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. I. 1., sowie Nußberger, Judicial Reforms in Post-Soviet Countries – Good Intentions with Flawed Results?, B. III. 248 Näheres dazu unten: C. II. 1. a) bb). 249 Zwar werden auch dem ukrainischen Hohen Justizrat immer wieder eine zu starke Politisierung und ein deutlicher Einfluss der Exekutive durch Präsidialverwaltung und StA vorgeworfen. Diese hängen hier jedoch, anders als in Russland, nicht mit der mangelnden Macht des Hohen Justizrats zusammen, sondern mit dessen Zusammensetzung, vgl. Senyk, Die Reform des Justizsystems: Politisierung und Disziplinierung, S. 2.

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(a) Richterliche Karriere: Auswahl, Ernennung und Beförderung von Richtern Die russischen Qualifikationskollegien spielen zwar für den zentralen Aspekt der Richterauswahl keine unbedeutende Rolle. Sie richten die Prüfungskommissionen ein, ernennen deren Mitglieder und schlagen in einem späteren Verfahrensschritt Kandidaten an die Gerichtspräsidenten vor. Dennoch sind alle Vorschläge anschließend abhängig von dem Vetorecht des jeweiligen Gerichtspräsidenten, der die vakante Stelle zu besetzen hat. Ist er anderer Meinung, kann er von dem Qualifikationskollegium fordern, die Empfehlung wieder zurückzunehmen. Zwar können Qualifikationskollegien mit Zweidrittelmehrheit – ähnlich wie der moldawische Richterrat – das Veto des Gerichtspräsidenten in einem zweiten Anlauf überwinden.250 Jedoch würden die Qualifikationskollegien ihre Empfehlung für den von ihnen ausgewählten Kandidaten in der Praxis regelmäßig nicht wiederholen, sondern dem Wunsch des Gerichtspräsidenten entsprechen bzw. von vorneherein dazu tendieren, nur diejenigen Kandidaten an den Gerichtspräsidenten vorzuschlagen, die durch Letzteren unterstützt würden.251 Zudem schließt sich an das Vetorecht der Gerichtspräsidenten ein vertrauliches Verfahren in der Personalabteilung der Verwaltung des Staatspräsidenten an, an dessen Ende diese eine Empfehlung an den Staatspräsidenten abgibt, welcher anschließend nochmals Ermessen darüber hat, ob er dem Vorschlag folgt oder nicht.252 Vergegenwärtigt man sich mithin den langen Prozess und die im Anschluss an das Qualifikationskollegium handelnden Akteure, die jeweils über Ermessen und ein damit einhergehendes Vetorecht verfügen, so wird deutlich, dass die Qualifikationskollegien in Russland nicht als unabhängige Schlüsselorgane für die Auswahl von Kandidaten für das Richteramt charakterisiert werden können. Vielmehr werden sich ihre Empfehlungen nicht durchsetzen können, wenn nicht Gerichtspräsident und Staatspräsident denselben Kandidaten präferieren. Anders als in Moldawien, können die Qualifikationskollegien in Russland über die Zweidrittelmehrheit zudem nicht unmittelbar die ernennende Autorität dazu zwingen, ihrem Vorschlag zu folgen, sondern ihre qualifizierte Empfehlung richtet sich nur an den jeweiligen Gerichtspräsidenten. In einem späteren Stadium des Auswahlverfahrens wird außerdem der russische Staatspräsident eine eigene Ermessensentscheidung treffen, die ebenso gut in einer Zurückweisung bestehen kann und nicht begründet werden muss.253 Aufgrund der Zusammensetzung der Qualifikationskollegien kann zudem bereits deren Empfehlung eines Kandidaten durch die Präsidialverwaltung beein-

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250 Bundesgesetz über den Status von Richtern in der Russischen Föderation, 26.06.1992 (zuletzt geändert: 29.12.2010), Art. 5. 251 So Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. II. 2., mit weiteren Belegen. 252 Id., B. II. 2. mit weiteren Nachweisen. 253 Id., B. II. 2.

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flusst sein. Da ein Mitglied pro Qualifikationskollegium durch den Staatspräsidenten ernannt wird, kann es von der Möglichkeit Gebrauch machen, bereits in diesem Stadium vertrauliche Informationen einfließen zu lassen, zu der nur die Präsidialverwaltung Zugang hat. Expertinnen zufolge werden daher bereits an dieser Stelle häufig die Stellschrauben gestellt, damit ein von dem Staatspräsidenten unterstützter Kandidat empfohlen wird.254 Dasselbe Verfahren mit denselben Entscheidungsträgern, Veto- und Einflussmöglichkeiten findet mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung des Beförderungsverfahrens in Russland auf die Beförderung zu höheren Instanzen Anwendung.255 (b) Disziplinarverfahren und Immunität Im Bereich der Disziplinarverfahren gegen Richter spielen die Qualifikationskollegien in Russland ebenfalls eine nicht unwichtige Rolle und werden dennoch von denselben Akteuren (Exekutive und Gerichtspräsidenten) in ihrer Entscheidungsgewalt überlagert. Sie sind das zentrale Organ, an das Beschwerden über Verstöße gegen die richterliche Disziplin durch Richter von Seiten der Bürger, Beamten und staatlichen Einrichtungen gerichtet werden können. Der Präsident des Gerichts, dem der Richter angehört, sowie der Präsident des übergeordneten Gerichts, können einen offiziellen Antrag auf Einleitung eines Disziplinarverfahrens stellen.256 Die Beschwerden und Anträge untersucht das zuständige Qualifikationskollegium entweder selbst durch eine spezielle, heterogen besetzte Untersuchungskommission, für deren Mitgliederzahl und Zusammensetzung keine strengen gesetzlichen Vorschriften existieren; oder sie beauftragt den zuständigen Gerichtspräsidenten mit der Untersuchung der Beschwerde.257 Im Anschluss an die Untersuchung trifft das zuständige Qualifikationskollegium eine Entscheidung darüber, ob sanktioniert werden soll oder nicht. Die Entlassung eines Richters aus dem Dienstverhältnis als schärfste Sanktion im Disziplinarrecht bedarf allerdings einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder.258 Die Entscheidungen der Qualifikationskollegien der Föderationssubjekte über die Verhängung von Disziplinarstrafen können vor dem Höchsten Qualifikationskollegium, den Gerichten der allgemeinen Gerichtsbarkeit oder dem neu eingerichteten Disziplinargericht angegriffen werden.259 Wenngleich die Stellung der Qualifikationskollegien in Disziplinarverfahren damit auf den ersten Blick zentral zu sein scheint, so mindern Gerichtspräsidenten durch ihren Einfluss auf das Verfahren sowohl rechtlich als auch faktisch die Macht

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Id., B. II. 2. Id., B. III. 2. Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 22 Abs. 1. Id., Art. 22 Abs. 2. Id., Art. 23 Abs. 1. Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 26 Abs. 1, 5.

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der Qualifikationskollegien. Das Gesetz räumt ihnen rechtlich ein Initiativ-, Untersuchungs-, Anwesenheits- und Rederecht im Disziplinarverfahren ein. Zusätzlich beeinflussen sie nach Einschätzung verschiedener Experten informell die Mitglieder der Qualifikationskollegien.260 Wenngleich sie damit nicht über ein der Richterauswahl und -beförderung vergleichbares Vetorecht verfügen, so sind sie derart in Fragen der richterlichen Disziplinierung involviert, dass russische Expertinnen sogar anregen, den Einfluss der Gerichtspräsidenten auf Disziplinarverfahren gegen Richter einer unabhängigen Untersuchung zu unterwerfen – sei sie parlamentarischer Natur oder durch eine spezielle StA. Alternativ regen sie zur Verringerung der informellen Einflussnahme durch Gerichtspräsidenten auf Disziplinarverfahren an, einen speziellen Ausschuss für Disziplinarsachen mit einer zufälligen Zusammensetzung aus Richtern einzurichten, deren Identität den Gerichtspräsidenten vorenthalten werden solle.261 Bei der skizzierten Einflussnahme, die Gerichtspräsidenten rechtlich und faktisch möglich ist, darf zudem nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Gerichtspräsidenten in Russland durch den Staatspräsidenten ernannt werden. Obwohl bei der Auswahl und Ernennung von Gerichtspräsidenten, wie bei anderen Beförderungen, vorgeschaltet die Qualifikationskollegien zuständig sind,262 so ist der Staatspräsident über seinen Vertreter in den Qualifikationskollegien und später durch seine Ermessensentscheidung die eigentlich ausschlaggebende Figur. Über die Aufhebung richterlicher Immunität haben die Qualifikationskollegien auf Antrag des Generalstaatsanwalts bis zu den Reformen unter Putin 2001 alleine entschieden. Nach vielfältigen Reformen sieht das heutige Verfahren nur die Zustimmung des jeweiligen Qualifikationskollegiums zu einem Antrag des Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses auf Aufhebung der Immunität vor.263 Hinzuzufügen ist, dass der Untersuchungsausschuss 2010 unmittelbar dem russischen

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260 Solomon, Authoritarian legality and informal practices: Judges, lawyers and the state in Russia and China, in: Communist and Post-Communist Studies, Vol. 43, Issue 4, 2010, S. 354; Nikolskaja/Berseneva, Die Richter in der Gesellschaft der Ihresgleichen, In das Justizsystem wird die Öffentlichkeit nicht hineingelassen, in: газета.ru, 09.11.2011, abrufbar unter: (zuletzt besucht am 18.03.2012); Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII., F. 261 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, F. 262 Russ. Richterstatusgesetz, Art. 6-1. 263 2001 wurde die Aufhebung der richterlichen Immunität schwerpunktmäßig auf ein Gremium aus drei Richtern des jeweils höheren Gerichts übertragen, während die Qualifikationskollegien erst in einem zweiten Schritt beteiligt sein sollten: Solomon, Putin’s Judicial Reform: Making Judges Accountable as well as Independent, S. 118 ff. 2007 wurde das Antragsrecht des Generalstaatsanwalts ersetzt durch ein dem Vorsitzenden des neu eingerichteten Untersuchungsausschusses zustehendes Recht (Bundesgesetz über die Änderung in bestimmten Gesetzgebungsakten im Zusammenhang mit dem Bundesgesetz über die Änderung der Strafprozessordnung der Russischen Föderation und des Bundesgesetzes über die Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation, 24.07.2007 (zuletzt geändert 25.12.2008), Art. 4), im März 2010 das Verfahren nochmals umstrukturiert, das 2001 eingeführte System rückgängig gemacht und das Gremium aus drei Richtern aus dem Prozess um die Aufhebung der Immunität herausgedrängt. Zur heutigen Regelung: Russ. Richterstatusgesetz, Art. 16 Abs. 3.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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Staatspräsidenten unterstellt wurde, was die These untermauert, dass der Staatspräsident auf zentrale Fragen der Justizverwaltung in Russland nach wie vor (oder wieder) entscheidenden Einfluss nimmt.264 (c) Bewertung Der Analyse sind zwei Schlussfolgerungen zu entnehmen: Zum einen resultiert die wenig einflussreiche Position der Qualifikationskollegien auf Fragen der Justizverwaltung teilweise aus faktischen Divergenzen zwischen den Kompetenzen, die das Organ per Gesetz hat, und der Praxis, in der andere Mechanismen und Einflüsse vorherrschen;265 zum anderen sind die Faktoren, die zu der Schwäche beitragen, teilweise bereits im Gesetz so angelegt und müssen überdacht werden. Dazu zählt etwa das Vetorecht des Gerichtspräsidenten, mit dem Empfehlungen der Qualifikationskollegien zunichte gemacht werden können, und das in der Praxis teilweise dazu führt, dass von vorneherein nur solche Kandidaten empfohlen werden, die dem Wunsch des Gerichtspräsidenten entsprechen. Daran schließt sich ein vertraulicher Verfahrensabschnitt in der Präsidialverwaltung und eine Ermessensentscheidung des Staatspräsidenten an, wodurch die ursprünglichen Empfehlungen der Qualifikationskollegien untergehen. Daher sollte nicht nur das Vetorecht abgeschafft, sondern auch über eine Verkürzung des Verfahrens nachgedacht und der Einfluss der Qualifikationskollegien durch ein Vorschlagsrecht unmittelbar an den Staatspräsidenten gestärkt werden.266 Zugleich sollte die Möglichkeit der Erzwingung eines Kandidaten über eine qualifizierte Mehrheit beibehalten werden, die sich bei einem unmittelbaren Vorschlagsrecht an den Staatspräsidenten stärker auswirken würde.267 Es geht mithin nicht darum, dass zusätzliche Kompetenzbereiche in der Justizverwaltung auf die Qualifikationskollegien übertragen werden sollten. Vielmehr ist erforderlich, dass ein bestehender Kompetenzbereich durch eine rechtliche Neufassung der entsprechenden Vorschriften ausgebaut wird, so dass eine Einflussnahme der Qualifikationskollegien auf die Justizverwaltung auch in der Praxis möglich wird. Stärkt man Qualifikationskollegien sowohl in Bezug auf Auswahl und Beförderung als auch auf Disziplinarverfahren, würde die Gefahr bestehen, dass auf lan-

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264 Zuvor war der Untersuchungsausschuss institutionell der Generalstaatsanwaltschaft untergeben. Zur Änderung: Bundesgesetz über die Änderung in bestimmten Gesetzgebungsakten der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Verbesserung der Tätigkeit der Organe der Voruntersuchungen, 28.12.2010, Art. 2. 265 Vgl. auch Solomon, Courts and Judges in Authoritarian Regimes, S. 126 f., 143. 266 Ähnlich auch Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. II. 2., die ebenfalls eine Reduzierung der Entscheidungsträger in dem Auswahlprozess und die Abschaffung jedenfalls des Vetorechts der Gerichtspräsidenten anregen, um Qualifikationskollegien im Auswahlprozess klar zu stärken. 267 Daneben geht die schwache Stellung der Qualifikationskollegien in Russland auf ihre Zusammensetzung und die Art und Weise, wie ihre Mitglieder ausgewählt werden, zurück. Dazu sogleich unter C. II. 1. a) bb).

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

ge Sicht ähnliche Konsequenzen eintreten, wie dies mit Blick auf die starken Richterräte in Georgien, Moldawien und der Ukraine zu befürchten ist und sich in zentralosteuropäischen Staaten teilweise bereits gezeigt hat.268 Das russische Justizverwaltungssystem ist davon sicherlich weit entfernt. Dass es auf lange Sicht jedoch keine nachhaltige Alternative sein kann, noch mehr Funktionen auf schwache Richterräte bzw. auf die russischen Qualifikationskollegien zu übertragen, um richterliche Unabhängigkeit zu stärken, wurde oben bereits diskutiert. Daher empfiehlt es sich, die Rolle der Qualifikationskollegien im Bereich der Richterauswahl und -beförderung in dem vorgeschlagenen Sinne zu stärken. Für Disziplinarverfahren sollte dagegen ein weiteres Organ vorgesehen werden, welches den Spagat zwischen der Berücksichtigung der Einblicke, die Gerichtspräsidenten in die tägliche Arbeit ihrer Richter haben, und dem Schutz gegen unzulässige Einflussnahme durch selbige besser bewerkstelligen kann.269 Neben der Änderung der Rechtslage, muss zur Stärkung der Rolle der Qualifikationskollegien in der Richterauswahl und -beförderung, auch darüber nachgedacht werden, wie der in der Praxis bestehende, faktische Einfluss abseits des Gesetzes minimiert werden kann. Der informellen Einflussnahme durch die Exekutive, aber auch durch die Gerichtspräsidenten, könnte durch die Stärkung von Transparenz entgegengewirkt werden. Neben der Reformierung bestehender Organe, wie der Zusammensetzung der Qualifikationskollegien,270 ließen sich transparentere Entscheidungsprozesse durch Kontrollmechanismen erzielen. Russische Expertinnen fordern deshalb, zur Kontrolle der korrekten Aufgabenwahrnehmung durch die Gerichtspräsidenten neue unabhängige Institutionen einzurichten.271 Die Verteilung von Kompetenzen und die Einrichtung mehrerer heterogen besetzter Organe, die als Reformvorschläge für starke Richterräte entwickelt wurden, um mangelnder Verantwortlichkeit entgegen zu wirken, sind mithin genauso gültig für die de jure und de facto vergleichsweise schwachen russischen Qualifikationskollegien. Allerdings dienen sie hier in erster Linie der Unterbindung exekutiver Einflussnahme und der Stärkung der Transparenz. In einem zweiten Schritt sollen sie ähnliche Entwicklungen, wie sie in den Staaten mit starken Richterräten zu befürchten und in einigen zentralosteuropäischen Staaten bereits eingetreten sind, verhindern. bb) Zusammensetzung der Richterräte und ihrer Entsprechung in Russland Neben der Funktionsverteilung ist ein weiteres virulentes Problem, dem sich alle vier Staaten – prototypisch für beinahe alle östlichen Europaratsstaaten – gegenüber sehen, wie die Richterräte bzw. in Russland die Qualifikationskollegien zusammen-

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C. II. 1. a) aa) (1). Dazu näher unter C. II. 2. Dazu sogleich unter C. II. 1. a) bb). Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, F.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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zusetzen sind, um die Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit der durch sie verwalteten Richter zu sichern. (1) Zwischen Richtermehrheit und Richterminderheit Das vordringlichste und am meisten diskutierte Problem ist die Frage, wie viele Richter in dem zentralen Justizverwaltungsorgan sitzen sollten. Drei verschiedene Ansätze sind dabei zu beobachten: die erste Gruppe betrifft Staaten wie Georgien und seine südkaukasischen Nachbarn Armenien und Aserbaidschan, deren Richterräte sich aus einer Richtermehrheit zusammensetzen, die von der Richterschaft selbst gewählt wird. Dies wurde dort als wichtige Errungenschaft für die Stärkung der Unabhängigkeit der Richterräte und damit der Unabhängigkeit der Justiz gesehen.272 Zweitens gibt es Staaten wie Moldawien, die zunächst ebenfalls eine Richtermehrheit im Richterrat vorsahen, diese jedoch aus Gründen der entstandenen Vetternwirtschaft („corporatism“), die sich in der zurückhaltenden Anwendung von Disziplinarmaßnahmen gegen die eigenen Kollegen zeigte, wieder abgeschafft haben. Stattdessen führte Moldawien eine ausgeglichene Zusammensetzung mit einer nur hälftigen Besetzung des Richterrats aus Richtern ein.273 Fünf der sechs Richter der insgesamt 12 Mitglieder im moldawischen Richterrat werden von der Richterschaft selbst bestimmt, das sechste richterliche Mitglied, der Präsident des Obersten Gerichts, ist Mitglied ex officio und wird auf Vorschlag des Richterrats vom Parlament gewählt. Neben den beiden weiteren Mitgliedern kraft Amtes (Justizminister und Generalstaatsanwalt) wird insbesondere der Einfluss der Exekutive gering gehalten, da die vier weiteren nichtrichterlichen Mitglieder durch das Parlament gewählt werden.274 Ebenso hat Russland die Zusammensetzung der Qualifikationskollegien aufgrund des Vorwurfs von Vetternwirtschaft in eine heterogenere Zusammensetzung geändert.275 Mit der Justizreform 2001 wurde die ausschließliche Richterbesetzung in eine von Richtern gewählte Richtermehrheit eingetauscht und ergänzt um einen Vertreter des Präsidenten und mehrere Vertreter der Öffentlichkeit in jedem Qualifikationskollegium.276 Drittens gibt es Staaten, in denen Richterräte

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272 Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. I. 2.; Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, B. I. 2. 273 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. I. 2.; ABA Rule of Law Initiative, Judicial Reform Index for Moldova, 2007, Volume II, S. 67 f. 274 Vgl. Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. I. 2., E. 275 So Solomon, Putin’s Judicial Reform: Making Judges Accountable as well as Independent; Solomon, Threats of Judicial Counterreform in Putin’s Russia, S. 328 f.; und die ehemalige Präsidentin des Föderalen Gerichts für Wirtschaftsstreitigkeiten des Moskauer Kreises, Frau Maikova, in: Nikolskaja/Berseneva, Die Richter in der Gesellschaft der Ihresgleichen, In das Justizsystem wird die Öffentlichkeit nicht hineingelassen. Anders aber: Nußberger, Judicial Reforms in Post-Soviet Countries – Good Intentions with Flawed Results?, B. III., die das Motiv für diese Änderung in der Sicherung präsidialer Kontrolle sieht. 276 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. I. 2.; Solomon, Putin’s Judicial Reform: Making Judges Accountable as well as Independent.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

nur mit einer Minderheit von Richtern besetzt sind, wie in vielen der ehemaligen Sowjetstaaten außerhalb des Europarats277 und der Ukraine.278 Mit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes über den Gerichtsaufbau und den Status von Richtern im Zuge der Justizreform in der Ukraine 2010, ist eine knappe Mehrheit von Richtern im Hohen Justizrat zwar gesetzlich vorgesehen, wird jedoch zum einen aufgrund einer Übergangszeit erst ab 2016 vollständig sichtbar sein.279 Zum anderen werden von den elf der 20 Mitglieder des ukrainischen Hohen Justizrats, die nach Ablauf der Übergangszeit durch Richter zu besetzen sind, nur drei durch die Richterschaft selbst bestimmt. Die übrigen Richter werden von den anderen Gewalten bzw. anderen Interessengruppen gewählt, davon je zwei Richter durch Präsident und Parlament und je ein Richter durch den Anwaltskongress, Vertreter der Juristenausbildung und des Staatsanwaltschaftskongresses.280 Der Vorsitzende des Obersten Gerichts, der Mitglied ex officio ist, wurde ebenfalls ursprünglich durch das Parlament zu diesem Gericht gewählt. An den drei Gruppen von Staaten und ihren Reformphasen kann beobachtet werden, dass die Suche nach einer Zusammensetzung des Richterrats bzw. der Qualifikationskollegien, die die richterliche Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit bestmöglich schützt, für die östlichen Europaratsstaaten im Umbruch immer noch ein Dilemma darstellt: eine Minderheit an Richtern bringt eine zu starke Dominanz des Rates durch andere Kräfte, allen voran die Exekutive, mit sich, wie an den jüngsten Reformanstrengungen in der Ukraine gesehen werden konnte.281 Letztere hat eine neue Zusammensetzung mit einer knappen Richtermehrheit für die Zukunft bereits auf den Weg gebracht.282 Das Problem liegt nun aber in der Zuständigkeit für die

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277 Siehe z. B. Kachkeev, Judicial Independence in Kyrgyzstan and Kazakhstan: A Legislative Overview, Part II, I. 2. 278 Siehe zu der alten Zusammensetzung wie sie übergangsweise noch gilt: Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, I. 2. sowie zu Kritik an der alten Zusammensetzung: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law Amending Certain Legislative Acts of Ukraine in Relation to the Prevention of Abuse of the Right to Appeal, Rn. 28 ff. 279 Nach Ende der Amtszeit der gegenwärtigen Mitglieder, vgl. Ukr. Richterstatusgesetz, Übergangsbestimmung XIII.8. Aufgrund verschiedener Ernennungen in den Jahren 2009 und vor Juli 2010 und der sechsjährigen Amtszeit der Mitglieder (Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 1 Abs. 3), kann mit einer vollständigen Neubesetzung erst 2016 gerechnet werden. Vgl. auch European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law Amending Certain Legislative Acts of Ukraine in Relation to the Prevention of Abuse of the Right to Appeal, Rn. 29. 280 Vgl. die Änderungen im Gesetz über den Hohen Justizrat durch das Ukr. Richterstatusgesetz, Schlussbestimmungen, Abschnitt XII, 3.11; Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 5 iVm Art. 8 ff., wonach nunmehr auch bei den von den anderen Organen zu ernennenden Mitgliedern jeweils zwei bzw. ein Mitglied Richter sein muss. 281 Vgl. nämlich zum alten Modell: Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. I. 2. 282 Fälschlicherweise wird in der Literatur teilweise angenommen, dass auch nach 2016 Richter nicht die Mehrheit stellen würden: Himmelreich, IOR Chronik, Ukraine, in: Wirt-

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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Bestimmung der richterlichen Mitglieder im Rat: Auch eine Richtermehrheit wird nichts an dem kritisierten Einfluss der Exekutive auf den ukrainischen Richterrat und der ihm vorgeworfenen Politisierung283 ändern, solange nicht auch die wesentliche Frage, wer die Richter in den Rat wählt, bedacht wird. Dies wird dem Hohen Justizrat nach wie vor den Anschein eines stark exekutiv gesteuerten Organs geben. Den ukrainischen Reformbemühungen lässt sich daher auch entnehmen, dass der Prozess der Besetzung, einschließlich der Zuständigkeiten für die Auswahl der Mitglieder des Richterrates, entscheidenden Einfluss darauf hat, ob der Rat einer stärkeren Abhängigkeit ausgesetzt ist oder nicht. Eine weitere Phase verkörpern die südkaukasischen Staaten, die sich von dem Status eines abhängigen Organs mit Richterminderheit verabschiedet haben und durch eine Richtermehrheit im Rat vor einigen Jahren dessen Unabhängigkeit zu stärken suchten. Dass eine Richtermehrheit (oder gar eine ausschließliche Besetzung mit Richtern) die Gefahr der Vetternwirtschaft mit sich bringen kann, haben wiederum Staaten wie Moldawien und Russland gezeigt: Moldawien ist noch einen Schritt weitergegangen und hat die Richtermehrheit in ein Gleichgewicht eingetauscht; Russland verfügt zwar noch über eine Mehrheit an Richtern in den Qualifikationskollegien, die von der Richterschaft gewählt werden, zählt aber wie Moldawien zu den Staaten, die wegen der erkannten Risiken eines zu großen Übergewichts an Richtern, eine heterogenere Zusammensetzung angestrebt und umgesetzt haben.284 Daraus folgt, dass eine Minderheit an Richtern im Rat ebenso wie die Wahl nur einer Minderheit der im Rat tatsächlich in größerer Anzahl vertretenen Richter durch die Richterschaft zu einer Abhängigkeit des Rates, regelmäßig von der Exekutive, führen kann, die sich mit Blick auf zentrale Funktionen wie Auswahl und Beförderung von Richtern gefährdend auf die richterliche Unabhängigkeit auswirken kann. Zugleich birgt die Gegenreaktion auf eine Richterminderheit – das Aufstocken der Anzahl der Richter im Rat zu einer Richtermehrheit – die Gefahr von Vetternwirtschaft und das Risiko mangelnder Verantwortlichkeit in sich. Die so oft

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schaft und Recht in Osteuropa, Heft 5, 2011, S. 151; von Gall, Die Entwicklung der ukrainischen Justiz unter Janukovič, in: Jahrbuch für Ostrecht, Band 52, Heft 2, 2011, S. 215, 227. 283 Von Gall, Neues Justizgesetz – alte Probleme, ukraine-analysen, Heft 87, 2011, S. 4; Senyk, Die Reform des Justizsystems: Politisierung und Disziplinierung, S. 2. 284 Auch Russland sollte jedoch die Zahl der Vertreter der Öffentlichkeit in den Qualifikationskollegien erhöhen, allerdings nicht ohne bereits im Bundesgesetz zu definieren, wer genau zu diesem Amt ernannt werden kann, und ob und wenn ja, welche Personengruppe und Angehörige der verschiedenen Gewalten ausgeschlossen sind. Derzeit ist die Anzahl der Öffentlichkeitsvertreter nicht nur zu gering, sondern auch vollkommen uneinheitlich in den Föderationssubjekten geregelt und letztlich offen für die Instrumentalisierung durch Interessenvertreter, die keine unabhängigen Vertreter der Öffentlichkeit hineinlassen: Nikolskaja/Berseneva, Die Richter in der Gesellschaft der Ihresgleichen, In das Justizsystem wird die Öffentlichkeit nicht hineingelassen; Moskauer Helsinki Gruppe, Die Rolle der Vertreter der Öffentlichkeit bei der Steigerung der Unabhängigkeit und Effizienz der Justiz in der Russischen Föderation, 2011, abrufbar unter (zuletzt besucht am 12.03.2012).

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

durch den Europarat285 und in Teilen der Literatur286 vertretene Auffassung, nur ein Richterrat mit einer Mehrheit an Richtern führe zu einer unabhängigen Justiz, sollte daher aufgegeben werden. Zwar mag ein solcher Schritt eine erste Maßnahme sein, um die Justizverwaltung von der Exekutive zu lösen. Zur Sicherung richterlicher Unabhängigkeit auf lange Sicht greift dieses Mittel jedoch zu kurz.287 Daher plädiert diese Arbeit dafür, dem moldawischen Beispiel einer Ausbalancierung der Zusammensetzung im Richterrat zu folgen.288 Trotz des Risikos einer möglichen größeren politischen Einflussnahme aufgrund der erhöhten Anzahl von nichtrichterlichen Mitgliedern im Richterrat, stellt die Ausbalancierung in der Zusammensetzung einen Schritt in eine richtige Richtung dar, die Unabhängigkeit schafft und zugleich die Verantwortlichkeit des Richterrats garantiert.289 (2) Auswahlprozess zum Richterrat Gleichzeitig ist dem moldawischen Modell sowie den ukrainischen Reformen von 2010 zu entnehmen, dass die Hälfte der Mitglieder im Richterrat, die aus der Richterschaft stammt, auch von dieser gewählt werden sollte, um die de factoAbhängigkeit des Richterrats von der Exekutive zu reduzieren. In Moldawien und Russland ist dies in Bezug auf die richterlichen Mitglieder des Richterrats bzw. der Qualifikationskollegien, anders als in der Ukraine, bereits der Fall. Aber auch im Hinblick auf die übrigen Mitglieder in einem Richterrat oder Qualifikationskollegium bestätigt sich die These, dass nicht die heterogene Zusammensetzung allein zu einer Erhöhung des exekutiven Einflusses führt, sondern auf die Ernennungskompetenzen und -abläufe zum Richterrat zurückzuführen ist. In Russland bereitet in erster Linie die Auswahl der sog. Vertreter der Öffentlichkeit, die seit den Reformen Anfang der 2000er Jahre zehn der 29 Mitglieder des Höchsten

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Vgl. oben B. II. Jüngst wieder von Gall, Die Entwicklung der ukrainischen Justiz unter Janukovič, S. 214, die im Hinblick auf die Oberste Qualifikationskommission in der Ukraine – in der Argumentation aber übertragbar auf Richterräte – feststellt, dass die Zusammensetzung als „problematisch“ anzusehen sei, da sich „unter den elf Mitgliedern der Qualifizierungskommission nur sechs Richter befinden“. 287 Dass eine reine Richterbesetzung zu Vetternwirtschaft und mangelnder Verantwortlichkeit des Organs gegenüber den Richtern und in der Konsequenz der Richter selbst führen kann, bestätigt die parallele Problematik mit Blick auf das tschechische Disziplinarorgan, dessen Zusammensetzung mittlerweile ausgeglichen wurde: Bobek, The Administration of Courts in the Czech Republic: In Search of a Constitutional Balance, S. 265 f. 288 Selbst wenn dem oben vertretenen Ansatz gefolgt und Richterräte und Qualifikationskollegien zukünftig nur noch auf einen Bereich der Justizverwaltung beschränkt werden sollten, ist die Frage der Zusammensetzung gültig. Dies zeigt das tschechische Bsp., wo aus gleichen Erwägungen die Zusammensetzung des Disziplinarkörpers 2008 von einer reinen Richterbesetzung in eine ausgewogene Zusammensetzung (drei Richter plus ein StA, ein Rechtsanwalt, ein Juraprofessor) geändert wurde, um Vetternwirtschaft zu begegnen: Id., S. 265 f. 289 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. I. 2., sowie Korrespondenz mit N. Hriptievschi am 10.08.2010. 285 286

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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Qualifikationskollegiums und sieben der 21 Mitglieder der Qualifikationskollegien der Subjekte ausmachen, besondere Probleme, und trägt zu einer de facto-Abhängigkeit der Qualifikationskollegien von der Exekutive bei.290 Die wesentliche Hürde ist dabei, einerseits gesetzlich klar und einheitlich festzulegen, wer Vertreter der Öffentlichkeit sein kann, um Missbrauch vorzubeugen, und andererseits dem Mitspracherecht von NGOs, wie es in Russland eigentlich für die Bestimmung der Öffentlichkeitsvertreter gesetzlich vorgesehen ist, zu einem realen Recht zu verhelfen. Da es bis heute an einer gesetzlichen Definition fehlt, wer zu diesem Amt bestimmt werden kann, wird dies nicht nur in den Föderationssubjekten sehr uneinheitlich ausgelegt, sondern die Unklarheiten geben bestimmten Interessenvertretern auch ein Instrument an die Hand, um Personen, die tatsächlich unabhängig von der Staatsgewalt sind, zu verhindern.291 NGOs haben zwar zumindest für die Öffentlichkeitsvertreter im Höchsten Qualifikationskollegium ein Vorschlagsrecht, bevor die Vorschläge im Ausschuss für rechtliche und gerichtliche Angelegenheiten des Föderationsrates diskutiert werden. Jedoch seien die Vorschläge in der Praxis zuvor mit der Präsidialverwaltung, den Gouverneuren der Subjekte oder dem präsidialen Gesandten in den Subjekten abgesprochen, was soweit reiche, dass die Präsidialverwaltung teilweise den NGOs vorher nahe lege, diesen oder jenen Kandidaten mit ihrem Vorschlag zu empfehlen.292 Um solche institutionellen Fehlabläufe abzustellen und dadurch die Unabhängigkeit der Vertreter der Öffentlichkeit zu stärken, wäre ein erster Schritt, den NGOs (z. B. mittels eines Gremiums, in dem Vertreter verschiedener NGOs sitzen), die Wahl der Mitglieder der Öffentlichkeit zum Höchsten Qualifikationskollegium direkt zu überlassen oder ihnen jedenfalls ein Vorschlagsrecht an die Duma, die – anders als der Föderationsrat293 – direkt durch das Volk gewählt wird, zu geben.294

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290 Представители общественности. Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 11 Abs. 2, 4; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, F., fordern daher und aufgrund des Eindrucks, dass als Richter in die Qualifikationskollegien der Subjekte nur gewählt würde, wer den Gouverneuren der Subjekte der Russischen Föderation besonders nahe stünde, die Etablierung neuer glaubwürdiger und unabhängiger Organe. 291 In der Praxis sind es vor allem Juraprofessoren, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum späteren Kader der Strafverfolgungsbehörden nicht gänzlich unabhängig sind, oder Vertreter bestimmter Vereinigungen (z. B. Union der Afghanistanveteranen): Nikolskaja/Berseneva, Die Richter in der Gesellschaft der Ihresgleichen, In das Justizsystem wird die Öffentlichkeit nicht hineingelassen; Moskauer Helsinki Gruppe, Die Rolle der Vertreter der Öffentlichkeit bei der Steigerung der Unabhängigkeit und Effizienz der Justiz in der Russischen Föderation. 292 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. I. 2. 293 Der Föderationsrat als zweite Kammer des russischen Parlaments, setzt sich aus den Gouverneuren der Subjekte zusammen, die seit entsprechenden Reformen unter Putin Mitte der 2000er Jahre vom Staatspräsidenten selbst ernannt werden. Der Föderationsrat ist damit ein verlängerter Arm des Präsidenten. Vgl. Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. II. 2. 294 In den Subjekten der Föderation wird die Ernennung bereits durch die gesetzgebende Versammlung vorgenommen: Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 11 Abs. 6.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

(3) Gerichtspräsidenten, Richter höherer Instanzen und Staatsanwaltschaftsvertreter Drei Gruppen von Mitgliedern in Richterräten bzw. Qualifikationskollegien bereiten in den östlichen Europaratsstaaten besondere Probleme für die Unabhängigkeit der Richter: Gerichtspräsidenten, die klassischerweise ex officio anzutreffenden Vertreter der StA sowie die überproportionale Repräsentation von Richtern höherer Instanzen. In Russland wirft zudem die Sonderkonstellation eines Vertreters des Staatspräsidenten in den Qualifikationskollegien, der 2002 zusammen mit den Vertretern der Öffentlichkeit eingeführt wurde, Probleme auf.295 Gerichtspräsidenten in Richterräten können zum einen die effiziente Ausübung einer Kontrollfunktion, die Richterräte teilweise mit Blick auf die Amtsausübung von Gerichtspräsidenten wahrnehmen sollen, verhindern. Zum anderen kann sich ihre mächtige Stellung im institutionellen Gefüge vieler östlicher Europaratsstaaten als Gefahr für das Abstimmungsverhalten der Richtermitglieder im Rat auswirken.296 Russland hat daher schon gesetzlich Gerichtspräsidenten von einer Mitgliedschaft in den Qualifikationskollegien ausgeschlossen, andere Staaten der Region haben dies mit Blick auf den Richterrat vollzogen.297 Ein anderes Modell kann sein, Gerichtspräsidenten nicht generell von Richterräten oder Qualifikationskollegien auszuschließen, sondern, wie es die Kyiv Recommendations vorsehen, Gerichtspräsidenten einzubeziehen, allerdings nur unter der Prämisse, dass sie im

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295 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. I. 2., II. 2., III. 2. schlagen den vollständigen Ausschluss des Vertreters des Präsidenten aus den Qualifikationskollegien vor, um den exekutiven Einfluss auf dieses Organ zu minimieren. Nach der hier vertretenen Auffassung einer ausgeglichenen heterogenen Besetzung sollte jedoch ebenso ein durch die Exekutive bestimmtes Mitglied Teil des Organs sein. Eine Verbesserung würde darstellen, wenn dies nicht ein unmittelbar Gesandter des Staatspräsidenten wäre, sondern durch ein mit mehreren Personen besetztes Organ gewählt würde, etwa das Kabinett. Entscheidend ist darüber hinaus ein transparentes Ernennungsverfahren sowie Transparenz in der Arbeitsweise der Qualifikationskollegien, um insbesondere das Risiko von Weisungen nach der Ernennung zu minimieren. Dazu sogleich C. II. 1. a) cc). 296 Beide Bedenken wurden in der Arbeitsgruppe zu Justizverwaltung auf der KiewKonferenz vorgebracht. 297 Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 11 Abs. 7; Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, B. I. 2. Allerdings ist zu beachten, dass in Russland der Einfluss der Gerichtspräsidenten auf die Entscheidung der Qualifikationskollegien in rechtlicher Hinsicht durch ihr nachgelagertes Vetorecht bei der Richterauswahl und bei Disziplinarverfahren ungleich stärker ist: C. II. 1. a) bb) (2); Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. II. 2. Über diese kompetenzielle Beobachtung hinaus, kommt Gerichtspräsidenten in Russland auch informell großes Gewicht im Hinblick auf die Qualifikationskollegien zu, so dass teilweise sogar behauptet wird, dass Gerichtspräsidenten die Tätigkeit der Qualifikationskollegien faktisch kontrollierten: Solomon, Authoritarian legality and informal practices: Judges, lawyers and the state in Russia and China, S. 354; Nikolskaja/Berseneva, Die Richter in der Gesellschaft der Ihresgleichen, In das Justizsystem wird die Öffentlichkeit nicht hineingelassen.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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Falle einer Ernennung zum Richterrat ihr Amt niederlegen.298 Auch die VenedigKommission plädiert dafür, Gerichtspräsidenten nicht vollständig auszuschließen, um eine konfrontative Atmosphäre zu vermeiden. Sie schlägt als drittes Modell vor, Gerichtspräsidenten in dieser Funktion in Richterräte einzubeziehen, allerdings ohne Stimmrecht.299 Bedenkt man die mächtige Stellung, die Gerichtspräsidenten in den hier im Mittelpunkt stehenden Staaten haben, ist der Vorschlag der Kyiv Recommendations vorzuziehen. Auch ein Gerichtspräsident, der ohne Stimmrecht im Richterrat sitzt, mag eine einschüchternde Wirkung auf die abstimmenden Richter haben, die in ihm eine hierarchisch höher geordnete Figur mit regelmäßig starkem Determinierungspotential hinsichtlich ihrer Karriere erkennen könnten.300 Zudem ist fraglich wie sich der Vorschlag der Venedig-Kommission realisieren ließe, wenn, wie in Ungarn zeitweise, sechs von neun Richtern im Richterrat Gerichtspräsidenten sind.301 Durch Einbeziehung unter der Voraussetzung der Amtsniederlegung kann sichergestellt werden, dass von der Erfahrung und dem Wissen der Gerichtspräsidenten profitiert werden kann, ohne zu riskieren, dass Richterräte – dort wo dies zu ihren Aufgaben gehört – ihre Kontrollfunktion gegenüber letzteren nicht ordentlich wahrnehmen, oder die Richtermitglieder im Rat eingeschüchtert werden. Neben Gerichtspräsidenten weisen Richterräte oftmals vorrangig Richter der höheren Instanzen auf, die über die Interessen der ganzen Richterschaft entscheiden. Um einer weiteren Hierarchisierung der Justiz vorzubeugen, die in vielen der ehemaligen Sowjetstaaten ohnehin stark ausgeprägt ist, sollte gesetzlich festgelegt werden, dass Richter aller Instanzen im Richterrat bzw. Qualifikationskollegium vertreten sein müssen.302 Desgleichen sollte die Mitgliedschaft von Vertretern der StA im Richterrat bzw. in Qualifikationskollegien in den östlichen Europaratsstaaten, insbesondere den ehemaligen Sowjetstaaten unter ihnen, überdacht werden. Anders als bei den teilweise anzutreffenden Geheimdienstvertretern im Richterrat,303 lassen sich die Probleme, die sich durch die Mitgliedschaft von Vertretern der StA im Richterrat stellen, nicht durch Hauptamtlichkeit lösen. Denn der regelmäßig im Richterrat anzutreffende Generalstaatsanwalt ist Mitglied ex officio, mithin gerade in seiner Eigenschaft als höchster Vertreter der StA Teil des Rats. Expertenstimmen zufolge, wirkt sich die Rolle, die die „Prokuratura“ in der Sowjetunion spielte und heutzutage, teilweise kompetenziell, regelmäßig informell, noch spielt,304 bis heute auf die Ent-

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298 Kyiv Recommendations, Rn. 7. Dies wäre ohnehin die Konsequenz, würde man der Empfehlung der Hauptamtlichkeit folgen. Siehe dazu sogleich C. II. 1. a) bb) (5). 299 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Draft Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 107. 300 So Expertenaussagen in der Arbeitsgruppe über Justizverwaltung auf der KiewKonferenz im Juni 2010. 301 Fleck, Judicial Independence in Hungary, B. I. 2. 302 So auch Kyiv Recommendations, Rn. 7. 303 Dazu sogleich: C. II. 1. a) bb) (5). 304 Siehe die Einführung zu C. II.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

scheidungsfindung der Richtermitglieder im Richterrat oder Qualifikationskollegium aus.305 Zusätzlich kann die Mitgliedschaft der Vertreter der StA im Richterrat auch die Rechtsprechungstätigkeit der Richter beeinflussen. Dies zeigen aktuelle Berichte aus der Ukraine, nach denen Richter, insbesondere in Strafverfahren, Gefahr liefen, nicht mehr unabhängig und unparteiisch zu entscheiden, da der Vorgesetzte des zuständigen Staatsanwalts, der Generalstaatsanwalt, ex officio Mitglied im Hohen Justizrat sei und damit über ihr weiteres berufliches Schicksal entscheide. Richter müssten fürchten, dass sie jederzeit durch die StA mithilfe des Gremiums, das für ihr weiteres berufliches Dasein entscheidend ist, unter immensen Druck gesetzt würden.306 Während die Empfehlung, die StA solle in den Staaten aus dem Richterrat oder Qualifikationskollegium ausgeschlossen werden, wo sie institutionell der Exekutive angehöre,307 zwar die erstgenannte Gefahr der Einschüchterung der Richter im Richterrat aufgrund von Erfahrungen mit der „Prokuratura“ während der Sowjetzeit adressiert, greift dieser Vorschlag für die von der VenedigKommission thematisierten Auswirkungen auf die unabhängige Urteilsfindung der Richter im Prozess zu kurz, da es dafür unerheblich ist, ob die StA zur Exekutive oder Judikative zählt. Daher wird hier für einen vollständigen Ausschluss von Vertretern der StA aus Richterräten oder Qualifikationskollegien plädiert, gleich, ob letztere institutionell der Exekutive oder Judikative angehören.308

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305 Diese Expertenmeinungen wurden in der Arbeitsgruppe zu Problemen der Justizverwaltung auf der Kiew-Konferenz im Juni 2010 geäußert. 306 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law Amending Certain Legislative Acts of Ukraine in Relation to the Prevention of Abuse of the Right to Appeal, Rn. 30; The Danish Helsinki Committee for Human Rights, Legal Monitoring in Ukraine II, Report veröffentlicht am: 16 August 2011, S. 12 f., mit konkreten Beispielen; Schuller, Zweifelhaft, Eine Untersuchung über die Gebaren der ukrainischen Justiz im Fall Timoschenko, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.08.2011; Schuller, Die Rache der Oligarchen, Jurij Luzenko war der Innenminister der Revolution in Orange in der Ukraine. Jetzt sitzt er im Gefängnis – wegen eigenartig klingender Vorwürfe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.07.2011. Neben dem Generalstaatsanwalt als ex officio Mitglied, sind auch die beiden stellvertretenden Generalstaatsanwälte im Hohen Justizrat vertreten, davon einer ernannt durch die Gesamtukrainische Konferenz der Staatsanwaltschaftsangestellten (Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 13), der andere durch den Präsidenten der Ukraine. Zur jeweils aktuellen Zusammensetzung: (zuletzt besucht am 12.03.2012). 307 So die Kyiv Recommendations, Rn. 7. 308 Umgekehrt sollte dann der Richterrat keine Funktionen mehr mit Blick auf die Vertreter der StA innehaben, wie dies z. B. in der Ukraine der Fall ist, da diese in dem Rat dann keine Repräsentation mehr hätten: Verfassung der Ukraine, Art. 131 Abs. 2, 3; Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 3 Abs. 2, 4. Daher sollte parallel dort, wo noch nicht geschehen, für die Verwaltung der StA ein separater Rat eingerichtet werden. Siehe dazu die Entwicklungen in Moldawien, wo der neu geschaffene Hohe Rat der Staatsanwälte 2009 erstmals zusammen getreten ist: Gesetz über die Staatsanwaltschaft, 25.12.2008, Art. 80 ff.; weiterführend OSCE ODIHR, Assessment Report, Superior Council of Prosecutors, Republic of Moldova, February 2011, (zuletzt besucht am 19.03.2012). Dennoch sitzt nach wie vor der Generalstaatsanwalt als ex officio Mitglied im Richterrat, was von Expertinnen kritisiert wird: Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, F.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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(4) Vorsitz Schließlich ist die Frage des Vorsitzes im Richterrat oder Qualifikationskollegium von Bedeutung, da der Vorsitzende die Beratungen in diesem Gremium leitet, dadurch die Ergebnisse stärker beeinflussen kann als andere Mitglieder und in manchen Staaten die Funktion innehat, die Ergebnisse der Diskussionen im Richterrat oder Qualifikationskollegium an weitere Organe zu kommunizieren.309 Während es lange ein verbreitetes Konzept in den östlichen Europaratsstaaten darstellte, die Leitung in die Hände der Exekutive (Staatspräsident310 oder Justizminister311) zu legen, sind manche Staaten, wie Georgien, einen Schritt weitergegangen und haben diese Funktion ex officio dem Präsidenten des Obersten Gerichts anvertraut.312 Russland, Moldawien und die Ukraine sind in den letzten Jahren noch einen Schritt weitergegangen und haben sich als drittes Modell für die Wahl des Vorsitzenden durch die Rats- bzw. Kollegiumsmitglieder selbst entschieden, wobei die ex officio Mitglieder von dem passiven Wahlrecht in Moldawien und der Ukraine gesetzlich ausgeschlossen sind.313 Dies ist zu begrüßen, da die ex officio Mitglieder andernfalls dieses Amt bekleiden könnten, wenngleich in diesem Fall gewählt durch die übrigen Mitglieder. Russland kennt schon keine ex officio Mitglieder.314 Zwar ist einer Entscheidung des EGMR gegen Armenien zu entnehmen, dass er den (damaligen) Vorsitz des Staatspräsidenten über den armenischen Richterrat nicht weiter problematisiert und stattdessen darauf verweist, dass die Ernennung von Richtern durch die Exekutive im Einklang mit Art. 6 EMRK stehe und deshalb auch der Vorsitz der Exekutive über ein Gremium, das die Richterauswahl vornehme, nicht zu beanstanden sei.315 Dennoch ist das Modell der Wahl des Vorsitzenden aus der Mitte und durch die Mehrheit der Mitglieder des Richterrats bzw. Qualifikationskollegiums in einer geheimen Abstimmung für die östlichen Europaratsstaaten vorzugswürdig.316 Es ist auch der Bekleidung dieser Schlüsselfunktion durch einen

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309 Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 21 Abs. 2; Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, B. I. 2. 310 So in Armenien bis 2005, in Georgien bis 2007: Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, A., B. I. 2.; Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. I. 2. 311 So bis heute in Aserbaidschan: Report on the Independence of the Judiciary in Azerbaijan (liegt der OSZE vor), B. I. 312 In Georgien seit 2007: Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. I. 2. 313 Moldaw. Gesetz über den Hohen Richterrat, Art. 5; Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 20; Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 14 Abs. 3 iVm Regelung über die Arbeitsweise der Qualifikationskollegien, 22.03.2007 (zuletzt geändert: 25.05.2010), Art. 10. 314 In Russland sollte aber der Vertreter des Präsidenten in den Qualifikationskollegien gesetzlich von diesem Amt ausgenommen werden, da der Staatspräsident, Expertinnen zufolge, bereits durch die bloße Mitgliedschaft seines Repräsentanten in den Qualifikationskollegien starken Einfluss hat: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. II. 2. 315 EGMR, Galstyan gegen Armenien, Rn. 62. 316 So auch Kyiv Recommendations, Rn. 7.

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bestimmten Amtsträger ex officio vorzuziehen, da dies entweder der Präsident des obersten Gerichts oder der Generalstaatsanwalt in dem jeweiligen Staat ist, die eine problematische Rolle in den östlichen Europaratsstaaten einnehmen,317 oder der Justizminister. Die Argumentation des EGMR in „Galstyan gegen Armenien“ zu der Vereinbarkeit des Vorsitzes durch den Staatspräsidenten aufgrund der Zulässigkeit einer exekutiven Richterbestellung, reicht nämlich nicht weit genug, da sie die spezielle Problematik der Abhängigkeiten der Mitglieder des Richterrats bzw. Qualifikationskollegiums von dem Vorsitzenden und den Gewalten, die über die Kompetenz zur Bestellung indirekten Einfluss auf das Gremium nehmen können, nicht realisiert. Angesichts des zunehmend schärferen Tonfalls und genaueren Blicks des EGMR für informelle Abhängigkeiten in den östlichen Europaratsstaaten, ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass der EGMR dies in Zukunft ähnlich kritisch sehen wird. (5) Förderung der Integrität durch Hauptamtlichkeit Um die Integrität der Mitglieder des zentralen Justizverwaltungsgremiums zu stärken, Interessenkonflikte zu vermeiden und eine effiziente, konzentrierte Arbeitsatmosphäre in zeitnah stattfindenden Sitzungen zu ermöglichen, sollte allen Mitgliedern (außer den ex officio Mitgliedern) gesetzlich die Verpflichtung auferlegt werden, dieses Amt hauptberuflich auszuüben; im Gegenzug müsste der Staat dieses Amt, das für vier bzw. sechs Jahre wahrgenommen wird,318 entsprechend vergüten.319 In dieser Frage zeigt sich in den vier hier im Zentrum der Betrachtung stehenden Staaten ein heterogenes Bild: Moldawien ist auch in dieser Frage am Weitesten fortgeschritten und führte die Freistellung vom richterlichen Dienst während der Amtszeit im Richterrat Ende 2008 ein,320 was nach Einschätzung moldawischer Justizexperten zu einer stärkeren Fokussierung der Mitglieder auf ihre Arbeit im Rat und insgesamt zu einer verbesserten Mandatsausübung führen wird.321 Georgien sieht für die Richterratsmitglieder zwar grundsätzlich vor, dass sie nicht zeitgleich ein öffentliches Amt, eine Tätigkeit bei einem Selbstverwaltungsorgan

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Siehe oben C. II. 1. a) bb) (3) und zur Rolle generell unter C. II. 1. b). In Moldawien, Georgien und Russland für vier Jahre, in der Ukraine für sechs Jahre. Die Amtszeit der ex officio Mitglieder richtet sich nach ihrer Amtszeit in der entspr. Funktion (außer in Russland, das keine ex officio Mitglieder kennt): Moldawien: Hriptievschi/ Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. I. 2.; Georgien: (zuletzt besucht am 09.01.2013); Russland: Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 13 Abs. 1; Ukraine: Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 1. 319 So auch Experten iRd Diskussion in der Arbeitsgruppe zu Justizverwaltung auf der Kiew-Konferenz im Juni 2010; ebenso European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law Amending Certain Legislative Acts of Ukraine in Relation to the Prevention of Abuse of the Right to Appeal, Rn. 20. 320 Moldaw. Richterstatusgesetz, Art. 24-1. 321 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. I. 2. 317 318

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oder eine andere besoldete Tätigkeit ausüben dürfen; ausgenommen davon ist jedoch das Richteramt sowie die Abgeordnetentätigkeit im georgischen Parlament. Damit ist eine gegenteilige Regelung zu Moldawien vorgesehen, wo gerade die richterliche Tätigkeit nicht fortgesetzt werden darf.322 In der Ukraine wird die Ausübung der regulären beruflichen Tätigkeit, gleich welcher Art, durch das Gesetz über den Hohen Justizrat nicht explizit ausgeschlossen und ist damit erlaubt.323 Das Gesetz sieht lediglich Befangenheitsregelungen für bestimmte Entscheidungen vor.324 Dass dies jedoch nicht gleichermaßen effizient ist wie eine von vorneherein bestehende Inkompatibilität, zeigt die 2010 zwischenzeitlich erfolgte Ernennung des Chefs des ukrainischen Geheimdienstes in den Hohen Justizrat.325 Die russischen Gesetze sehen ebenfalls keine Verpflichtung zur Unterbrechung der bisherigen beruflichen Tätigkeit während einer Mitgliedschaft in den Qualifikationskollegien vor, die ein unbezahltes Ehrenamt darstellt.326 Zur Vermeidung von Interessenkonflikten sollten Russland und die Ukraine die Unvereinbarkeit anderer beruflicher Tätigkeiten mit dem Amt im Richterrat bzw. Qualifikationskollegium einführen und die Mitglieder entsprechend vergüten. Mit der grundsätzlichen Verpflichtung, die reguläre Berufstätigkeit auszusetzen, würde man umgehen, im Gesetz alle Interessenkonflikte antizipieren und einzelne unvereinbare Berufsgruppen spezifisch aufzählen zu müssen. Dabei könnte, wie in Moldawien und Georgien, eine Ausnahme für Lehre und Wissenschaft gemacht werden.327 Aber auch Georgien sollte die Unvereinbarkeit der aktiven Ausübung des Richteramts mit der Mitgliedschaft im Richterrat gesetzlich festlegen, um eine größere Distanz der Richtermitglieder im Richterrat zu ihren Kollegen, über die sie zu entscheiden haben, zu ermöglichen und Konfliktpotential zu vermeiden.

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Georg. Organgesetz, Art. 60 Abs. 10 S. 1. Siehe auch European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law Amending Certain Legislative Acts of Ukraine in Relation to the Prevention of Abuse of the Right to Appeal, Rn. 30. 324 Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 26. 325 Präsident Janukowitsch hatte Walerij Choroschkowskij im Mai 2010 zum Mitglied des Richterrats ernannt, ihn dann aber aufgrund massiver Kritik Ende 2010 wieder aus dem Richterrat entlassen: United States Agency for International Development (USAID), 2010 Human Rights Reports: Ukraine, 2010 Country Reports on Human Rights Practices, 8 April 2011, (zuletzt besucht am 12.03.2012); Protsyk, Old and New Challenges for the Current Ukrainian Leadership, in: Institute for Peace Research and Security Policy at the University of Hamburg /IFSH (Hrsg.), OSCE Yearbook 2010, Nomos, Baden-Baden 2011, S. 173; von Gall, Neues Justizgesetz – alte Probleme, S. 4. 326 Dies folgt e contrario aus dem Fehlen einer entsprechenden gesetzlichen Regelung. 327 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. I. 2., Fn. 29; Georg. Organgesetz, Art. 60 Abs. 10 S. 2. 322 323

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cc) Transparenz Nach wie vor ist das historisch gewachsene Misstrauen in die Gerichte in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ein virulentes Problem328 – ein Defizit, das auch der EGMR in den letzten Jahren gegenüber den östlichen Europaratsstaaten immer wieder adressiert hat, indem er den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeitsprinzip, richterlicher Unabhängigkeit und Vertrauen in die Gerichte in einer demokratisch organisierten Gesellschaft betonte.329 Der Ministerrat des Europarats hat sich dem 2010 angeschlossen.330 Um das öffentliche Vertrauen in die Justiz zu stärken, wäre ein wesentlicher Schritt, die Arbeit der Gerichte und der diese umgebenden Prozesse der Justizverwaltung transparenter zu gestalten, sie dadurch in der Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen und ihnen den Eindruck politischen und willkürlichen Charakters zu nehmen.331 Zwar sind Personalentscheidungen, wie sie sowohl in Auswahl- und Beförderungs- als auch in Disziplinarsachen zu der täglichen Arbeit von Richterräten bzw. Qualifikationskollegien in den vier hier in der Betrachtung stehenden Staaten zählen, in westlichen Europaratsstaaten aus gutem Grund vertraulich, um die sensiblen Informationen über die Kandidaten nicht zum Spielball der Öffentlichkeit und der Medien werden zu lassen, was der Würde des Amtes entgegenstehen und den Auswahlprozess torpedieren kann.332 Gleichzeitig muss jedoch für die hier in der Betrachtung stehenden östlichen Europaratsstaaten der Schwerpunkt zukünftiger Reformen zunächst auf der Transparenzförderung liegen, um den gravierenden und spezifischen Problemen der Transformationsstaaten bei der Herausbildung einer unabhängigen Justiz Rechnung zu tragen. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Abwägung zwischen Transparenz und Diskretion zu einem späteren Zeitpunkt wieder in Richtung größerer Vertraulichkeit ausgehen muss. Solange aber die fehlende Transparenz in diesen Staaten zu dem Eindruck politisch motivierter Personalent-

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328 Chanturia, Die Europäisierung des georgischen Rechts – bloßer Wunsch oder große Herausforderung?, S. 174 ff. 329 EGMR, Galstyan gegen Armenien, Rn. 80; EGMR, Nevskaya gegen Russland, Rn. 35; EGMR, Raks gegen Russland, Rn. 43. Generell zu der ständigen Rechtsprechung des EGMR, wonach Gerichte ohne das Vertrauen der Öffentlichkeit nicht effektiv arbeiten können, siehe anstelle Vieler: EGMR, Olujić gegen Kroatien, Rn. 57. 330 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 20. 331 So auch Autheman/Elena, Global Best Practices: Judicial Councils, Lessons Learned from Europe and Latin America, IFES Rule of Law White Paper Series (April 2004), (zuletzt besucht am 13.03.2012); Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. II. 2., F. 332 Für die Debatte in Deutschland um die Torpedierung der Richterwahl durch Indiskretion, siehe z. B. die vereitelte Wahl von Prof. Dr. Dreier zum Bundesverfassungsgericht: Jungholt, Parteienstreit um höchstes deutsches Richteramt, in: DIE WELT Online, 01.02.2008, abrufbar unter: (zuletzt besucht am 10.01.2013).

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scheidungen führt, die wesentlichen Prozesse der Neueinstellung von Richtern, ihrer Beförderung und der im Wege von Disziplinarverfahren erzwungenen Entlassung aus dem Dienst für ihre mangelnde Nachvollziehbarkeit kritisiert werden und dadurch in dem Transparenzdefizit ein Hindernis für die Herausbildung einer unabhängigen Justiz zu sehen ist,333 müssen diese Prozesse in den östlichen Europaratsstaaten zunächst geöffnet werden. Dadurch würde auch das durch den EGMR immer wieder angemahnte Vertrauen der Öffentlichkeit in die Gerichte gefördert, da ihre Besetzung nachvollziehbar gestaltet würde; der Empfehlung des Ministerkomitees nach einem höchsten Maß an Transparenz der Richterräte gegenüber den Richtern und der Gesellschaft würde durch vorher festgelegte Verfahren und begründete Entscheidungen genügt werden.334 Auch die Kyiv Recommendations empfehlen für die östlichen Europaratsstaaten vor dem Hintergrund der Gefährdung der Herausbildung einer unabhängigen Justiz durch eine intransparente Justizverwaltung, dass sowohl gesetzlich, als auch in der praktischen Realität der Zugang der Öffentlichkeit zu den Sitzungen der Richterräte und die Veröffentlichung ihrer Entscheidungen gewährleistet werden müssten.335 Russland, Moldawien und die Ukraine sehen grundsätzlich bereits den öffentlichen Charakter der Sitzungen der Richterräte und Qualifikationskollegien vor und nur ausnahmsweise den Ausschluss der Öffentlichkeit, während die Beschlussfassung stets vertraulich ist und nur das Ergebnis bekanntgegeben wird.336 Der georgische Richterrat scheint demgegenüber die größte Intransparenz bei der täglichen Arbeit aufzuweisen.337 Allerdings ist auch in den erstgenannten Staaten der Aus-

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333 Siehe insbesondere Georgien: USAID, 2010 Human Rights Report: Georgia, 2010 Country Reports on Human Rights Practices, 8 April 2011, (zuletzt besucht am 13.03.2012); Moldawien: Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. II. 2.; Russland: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. II. 2., III. 2., F.; Ukraine: Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. II. 2., III. 2., F. Dafür, dass das Transparenzdefizit ein generisches Problem in den postsowjetischen Staaten ist, siehe z. B. Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, B. II. 1., 2., III. 2.; Report on the Independence of the Judiciary in Azerbaijan, B. I. 334 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 28, 48. 335 Kyiv Recommendations, Rn. 10. 336 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. II. 2. mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung der russischen Höchstgerichte zu dieser Thematik; Regelung über die Arbeitsweise der Qualifikationskollegien, Art. 18 Abs. 7. Moldaw. Gesetz über den Hohen Richterrat, Art. 24 Abs. 2; Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. II. 2. In der Ukraine ist die Abstimmung selbst nicht geregelt, es ist lediglich davon die Rede, dass die Sitzungen öffentlich seien: Regeln des Hohen Justizrats, 04.10.2010, angenommen durch den Hohen Justizrat am 04.10.2010, Kapitel 1, Unterkapitel 2, § 1 Abs. 6. 337 Siehe zu dieser Einschätzung USAID, 2010 Human Rights Report: Georgia, 2010 Country Reports on Human Rights Practices, 8 April 2011, (zuletzt besucht am 13.03.2012): „Oral interviews of appointees were held behind closed doors with no public knowledge of what criteria were used for selection.“

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

schluss der Öffentlichkeit, dem nur Ausnahmecharakter zukommen soll, gesetzlich so unzureichend ausgestaltet, dass er gegen Missbrauch nicht geschützt ist. So kann in Moldawien auf Entscheidung des Richterrats hin, für „manche Fragen“ die Sitzung nicht-öffentlich stattfinden, ohne dass das Gesetz nähere Gründe vorsieht.338 In Russland und in der Ukraine sind die Fälle des Ausschlusses der Öffentlichkeit zwar grundsätzlich gesetzlich vorgesehen, aber lediglich unpräzise und weit gefasst. So sieht etwa die Ukraine unter anderem die Möglichkeit vor, bei Vorliegen „andere[r] wichtige[r] Gründe“ die Öffentlichkeit auszuschließen.339 Sitzungen hinter geschlossenen Türen nur als absolute Ausnahme in gesetzlich eindeutig festgelegten Fällen vorzusehen, würde der Überprüfbarkeit des Handelns der Richterräte und Qualifikationskollegien dienen und den Eindruck von Willkürlichkeit vermeiden.340 Transparenz kann weiterhin durch die Begründung von Entscheidungen geschaffen werden, wie sie auch das Ministerkomitee empfiehlt. In den östlichen Europaratsstaaten fehlt es, wie z. B. in Georgien und Russland, bereits an einer gesetzlichen Verpflichtung der Richterräte und Qualifikationskollegien zur Begründung ihrer Entscheidungen.341 Ebenso mangelt es an ausreichend geregelten gesetzlichen Kriterien, die den Entscheidungen über Auswahl, Beförderung, Einleitung von Disziplinarverfahren und Entlassung zugrunde zu legen sind, was die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen der Richterräte bzw. Qualifikationskollegien zusätzlich erschwert.342 Um das Problem mangelnder Transparenz in den öst-

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Moldaw. Gesetz über den Hohen Richterrat, Art. 15 Abs. 3. Regeln des Hohen Justizrats, Kapitel 1, Unterkapitel 2, § 1 Abs. 6 (Grundsatz), 9 (Ausnahmen). In Russland erfolgt der Ausschluss der Öffentlichkeit in den vorgesehenen Fällen automatisch, ohne dass es einer Abstimmung bedarf: Regelung über die Arbeitsweise der Qualifikationskollegien, Art. 4 Abs. 1 (Grundsatz), 2, 3 (Ausnahmen). 340 Georgische Experten fordern darüber hinaus, die Verhandlungen und Auswahlprozesse vor dem Richterrat für die Medien zu öffnen: Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. II. 2. Dies muss sicherlich mit der Vertraulichkeit abgewogen werden, da es den Prozess noch weiter, nämlich einer breiten Öffentlichkeit, öffnen und einer (möglicherweise nicht nur sachlichen) Diskussion unterwerfen würde. Die hiesigen Staaten haben sich hiermit teilweise bereits auseinandergesetzt: In Russland wird eine Abwägung dadurch getroffen, dass in öffentlichen Sitzungen der Qualifikationskollegien die Mitschrift und die Anfertigung von Audioaufnahmen erlaubt ist, Foto- oder Videoaufnahmen jedoch dem Zustimmungsvorbehalt der Mehrheit der Mitglieder des Qualifikationskollegiums unterliegen: Regelung über die Arbeitsweise der Qualifikationskollegien, Art. 4 Abs. 6. Moldawien stellt die Präsenz von Medienvertretern im Richterrat generell unter Zustimmungsvorbehalt: Moldaw. Gesetz über den Hohen Richterrat, Art. 15 Abs. 5. 341 USAID, 2010 Human Rights Report: Georgia; Oberstes Gericht der Russischen Föderation, Entscheidung des Obersten Gerichts der Russischen Föderation Nr. GKPI 05-1119 über den Antrag von D. A. Fursov, 04.10.2005, in der das Oberste Gericht eine ohne Begründung mit der Mehrheit der Stimmen erfolgte Ablehnung einer Beförderungsempfehlung durch das Höchste Qualifikationskollegium für zulässig befand: Die Qualifikationskollegien seien nicht verpflichtet, eine vergleichende Analyse der Eignung der konkurrierenden Bewerber durchzuführen. Ein Wettbewerb an sich sei zwar nicht ausgeschlossen, aber Bedingungen dafür müssten die Qualifikationskollegien nicht definieren. 342 Dazu näher: C. II. 2. a) bb), b) bb) und dd); siehe auch Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. II. 2. Teilweise seien auch die vorgesehenen 338 339

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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lichen Europaratsstaaten anzugehen, sollten daher zunächst sowohl das Verfahren, einschließlich der genauen, restriktiven Gründe für den Ausschluss der Öffentlichkeit, als auch die den Entscheidungen der Richterräte bzw. Qualifikationskollegien ausschließlich zugrunde zu legenden Kriterien präzise gesetzlich festgelegt, ebenso wie eine Begründungspflicht anhand dieser Merkmale für jede Entscheidung statuiert werden. Diese gesetzlichen Vorgaben sind teilweise noch nicht anzutreffen, stellen aber die Basis für jede Überprüfung des Handelns und damit für mehr Transparenz dar. Zusätzlich sollten mehr Informationen über die Arbeit der Richterräte und Qualifikationskollegien in den östlichen Europaratsstaaten durch Publikation auf der Webseite und in Fachzeitschriften, aber auch in der normalen Presse zugänglich gemacht werden, um die breite Bevölkerung zu erreichen und durch die Aussicht auf eine obligatorische Veröffentlichung das Verantwortungsbewusstsein der Entscheidungsträger zu steigern. Diese Informationen sollten zum einen generelle Einblicke in Mitglieder, Struktur, Arbeitsweise und Entscheidungsprozesse wie etwa Ablauf und Kriterien des Auswahlverfahrens gewähren, wie sie derzeit jedenfalls in Russland noch nicht anzutreffen sind.343 In der Ukraine veröffentlich der Hohe Justizrat auf seiner Seite zwar die Namen seiner Mitglieder. Konkrete Informationen, etwa zu vakanten Richterstellen, Auswahlterminen, getroffenen Entscheidungen und Entscheidungsgründen, die zur Schaffung größerer Transparenz in diesen Staaten ebenfalls auf der Internetseite bekannt gegeben werden sollten, werden in der Ukraine allerdings nur an sich veröffentlicht (z. B. die Beförderung zu den Positionen des Gerichtspräsidenten und Stellvertreters), ohne dass die Entscheidung einschließlich ihrer Begründung in vollständiger Form zugänglich gemacht würde; alle weiteren Informationen und Entscheidungen des Hohen Justizrats sind grundsätzlich vertraulich.344 Georgien hat sein System in diese Richtung kürzlich verbessert und veröffentlicht nunmehr vakante Stellen und die Daten für den Auswahlprozess.345 Der moldawische Richterrat hat 2010 sogar mit der Veröffentlichung aller

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Regelungen so gestaltet, dass sie kein transparentes Verfahren vorsehen würden, vgl. Id., B. III. 2.; Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. II. 2. 343 Für die Kritik an den russischen Qualifikationskollegien für mangelnde Transparenz auf den Internetseiten und mangelnde Auskunftbereitschaft über ihre Arbeitsweise und ihre Mitglieder: Nikolskaja/Berseneva, Die Richter in der Gesellschaft der Ihresgleichen, In das Justizsystem wird die Öffentlichkeit nicht hineingelassen; Moskauer Helsinki Gruppe, Die Rolle der Vertreter der Öffentlichkeit bei der Steigerung der Unabhängigkeit und Effizienz der Justiz in der Russischen Föderation. 344 Regeln des Hohen Justizrats, Kapitel 1, § 3.1. (14), § 5.9. Siehe dazu auch die Seite des Hohen Justizrats: (zuletzt besucht am 12.03.2012). 345 Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. II. 2. Allerdings wird man über die datenschutzrechtliche Zulässigkeit der außerdem eingeführten Veröffentlichung der Namen der Bewerber und Zweckmäßigkeit der Öffnung der Bewerberliste für die öffentliche Kommentierung streiten können. Zur neuen Internetpräsenz des georgischen Richterrats (neuerdings auch auf englisch): (zuletzt besucht am 10.01.2013).

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disziplinarrechtlichen Entscheidungen des Disziplinargremiums und Bestätigungsentscheidungen des Richterrats begonnen.346 Weiterhin ließe sich die in den östlichen Europaratsstaaten dringend gebotene Stärkung der Transparenz der Justizverwaltungsprozesse, insbesondere der Auswahl von neu einzustellenden Richtern, durch Monitoringprozesse erreichen. Dazu könnten in den vier Staaten und weiteren östlichen Europaratsstaaten, die über dasselbe Transparenzproblem verfügen, internationale und nationale (Nichtregierungs-) Organisationen zu den Interviews im Richterrat bzw. den Qualifikationskollegien während des Auswahlprozesses zugelassen werden, die die Prozesse über einen längeren Zeitraum kritisch begleiten sollten, damit informelle Praktiken langfristig abgestellt werden – ein Weg, der in Georgien zeitweilig bereits beschritten wurde.347 Darüber hinaus könnten regelmäßige Berichtspflichten des Richterrats oder Qualifikationskollegiums, z. B. an zivilgesellschaftliche Organisationen, eingeführt werden.348 b) Die Rolle von Gerichtspräsidenten Der zweite zentrale Akteur in der Justizverwaltung in den postsowjetischen Europaratsstaaten ist der Präsident des jeweiligen und vielerorts auch des übergeordneten Gerichts, dessen Funktionsfülle und Auswahlprozess sich problematisch für eine unabhängige Entscheidungsfindung der Richter seines bzw. des unterinstanzlichen Gerichts darstellen.349 Wenngleich auch in westlichen Europaratsstaaten Gerichtspräsidenten in verschiedenen Bereichen der Justizverwaltung Einfluss haben,350 so bereitet in den postsowjetischen Europaratsstaaten die starke Rolle der Gerichtspräsidenten vor dem spezifischen Hintergrund, dass es sich um im Entstehen begriffene Rechtsstaaten handelt und die einflussreichen Gerichtspräsidenten ein Relikt aus der Sowjetzeit darstellen, besondere Probleme für die Unabhängigkeit der Richter. Zu der Akkumulation der verschiedenen Kompetenzen in der Hand von Gerichtspräsidenten, wie man sie auch in westlichen Europaratsstaaten antref-

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Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, F. Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. II. 2. 348 So die Empfehlung bei Autheman/Elena, Global Best Practices: Judicial Councils, Lessons Learned from Europe and Latin America, S. 16. 349 Chanturia, Die Europäisierung des georgischen Rechts – bloßer Wunsch oder große Herausforderung?, S. 171 f.; Nußberger, Judicial Reforms in Post-Soviet Countries – Good Intentions with Flawed Results?, B. III. V., C. VIII., D.; Solomon, Informal Practices in Russian Justice: Probing the Limits of Post-Soviet Reform, S. 82 f.; Solomon, Assessing the Courts in Russia: Parameters of Progress under Putin, S. 64; Human Rights Council, Promotion and Protection of all Human Rights, Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights, Including the Right to Development, Report of the Special Rapporteur on the in dependence of judges and lawyers, Leandro Despouy, Addendum, Mission to the Russian Federation, Rn. 60. 350 Siehe weiterführend zu den westlichen Europaratsstaaten die Berichte in Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, Abschnitt II. 346 347

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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fen mag, tritt in den hier im Mittelpunkt stehenden Staaten ein weites Ermessen bei der Ausübung der einzelnen Funktionen hinzu, dem gesetzlich kaum Schranken gesetzt sind – sei es durch gesetzlich vorgegebene Kriterien, die das Ermessen einschränken, sei es durch weitere beteiligte Organe, die die Macht ausgleichen und relativieren würden. Beide Faktoren – die Vielzahl der Kompetenzen und das weite Ermessen bei ihrer Ausübung – begünstigen zudem in vielen der östlichen Europaratsstaaten in der Praxis informellen Einfluss durch die Gerichtspräsidenten bzw. vorauseilenden Gehorsam durch die Richter.351 Das Sowjeterbe der machtvollen Stellung der Gerichtspräsidenten im Hinblick auf den einzelnen Richter beschäftigt in den letzten Jahren auch zunehmend den EGMR, insbesondere mit Blick auf Russland.352 Besonders hervorzuheben ist dabei, dass der EGMR entgegen früherer, eher formal orientierter Rechtsprechung zur Unabhängigkeit eines Gerichts, mit Blick auf die Gerichtspräsidenten in den östlichen Europaratsstaaten mit größerem Problembewusstsein urteilt und der spezifische Kontext ihn dazu motiviert, auch informelle Strukturen in seine Verurteilung einzubeziehen.353 Die Machtkonzentration in Gerichtspräsidenten hält er insbesondere dann im Lichte der richterlichen Unabhängigkeit für problematisch, wenn sie von einem uneingeschränkten Ermessen geprägt ist und zu vorauseilendem Gehorsam führt. Hinsichtlich des weiten Ermessenspielraums von Gerichtspräsidenten ist für den EGMR entscheidend, ob es sich um ungeteilte, abschließende Zuständigkeiten handelt, und ob es, wie etwa bei einer unvorteilhaften Evaluation, ein Rechtsmittel gibt.354 Für die zentrale Kompetenz der Fallzuweisung, die in allen vier Staaten der hiesigen Betrachtung nach wie vor ein virulentes Problem darstellt, hat der EGMR ausreichende Sicherungsmechanismen gegen eine unbegrenzte Ermessensausübung durch Gerichtspräsidenten und damit eine Konventionskonformität dann angenommen, wenn der Gesetzgeber der Ermessensausübung abstrakte Regeln für die Fallverteilung, wie etwa eine vorgegebene alphabetische Ordnung, vorgibt.355 Existieren jedoch keinerlei Regelungen, wie und nach welchen Kriterien

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351 Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Rn. 83; Mommsen/Nußberger, Das System Putin – Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, S. 107 f.; Chanturia, Die Europäisierung des georgischen Rechts – bloßer Wunsch oder große Herausforderung?, S. 171. Für andere östliche Europaratsstaaten, siehe z. B. Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, C. I. 2.; Report on the Independence of the Judiciary in Azerbaijan, C. II. 1. 352 Siehe oben B. I. 3. e) sowie EGMR, Khrykin gegen Russland; EGMR, Moiseyev gegen Russland; EGMR, Sutyagin gegen Russland; EGMR, Daktaras gegen Litauen; EGMR, Hirschhorn gegen Rumänien; EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien; EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine. 353 EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 36 f.; EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, Rn. 137 f. 354 Vgl. EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 91 ff. 355 Id., Rn. 89 ff. Letztlich wurde jedoch keine Verletzung aufgrund der Kompetenzdichte festgestellt.

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Fälle verteilt werden müssen und umverteilt werden können, ist des Weiteren nicht vorgegeben, dass über die Verteilung und Umverteilung in einer prozessualen Entscheidung zu befinden ist und wird die Verteilung bzw. Umverteilung nicht begründet, handelt es sich nach dem EGMR um eine uneingeschränkte Ermessenausübung durch den Präsidenten des Gerichts, die die Richter für Druck von außen anfällig mache.356 Mithin müssen an der Ausübung der jeweiligen Justizverwaltungskompetenz mehrere Akteure außer den Gerichtspräsidenten beteiligt sein; für die Fallzuweisung durch Gerichtspräsidenten muss insbesondere eine gesetzliche Grundlage existieren, die zugänglich und vorhersehbar ist, unmissverständliche Kriterien bereit hält und dadurch Transparenz und Objektivität der Zuweisung der Fälle sichert. Bereits jeglicher Anschein von Willkür muss dem EGMR zufolge vermieden werden, um mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar zu sein.357 Zum vorauseilenden Gehorsam, wie er durch die Macht der Gerichtspräsidenten iBa Evaluation und Einleitung von Disziplinarverfahren in den östlichen Europaratsstaaten entstehen kann, machte der EGMR zudem in „Khrykin gegen Russland“ 2011 deutlich, dass Zweifel an der Unabhängigkeit dann gerechtfertigt seien,358 wenn Richter informellen Instruktionen höherer Instanzen folgen „müssten“, da ihnen im Falle einer Weigerung nach der Systematik des Disziplinarwesens Konsequenzen durch die Gerichtspräsidenten der höheren Instanz drohten. In diesem Fall gegen Russland hatte ein Richter einer unteren Instanz erneut über denselben, von ihm bereits rechtskräftig abgeschlossenen Fall in gegenteiliger Weise entschieden, nachdem er einen Brief der Präsidentin der nächsthöheren Instanz erhalten hatte, die die Entscheidung des Richters als rechtsfehlerhaft bezeichnete und nach russischem Recht – so auch bis heute – zugleich die Kompetenz zur Einleitung von Disziplinarverfahren besaß.359 aa) Formelle und informelle Machtkonzentration in den Händen von Gerichtspräsidenten Die Machtkonzentration in den Händen von Gerichtspräsidenten trifft sowohl rechtlich als auch faktisch auf alle postsowjetischen Staaten der östlichen Europaratsstaaten bis heute zu, dabei vor allem auf diejenigen mit schwachem oder ohne vergleichbaren Richterrat, wie Russland. Neben klassischen Managementfunktionen mit Blick auf das Gericht, an dem sie tätig sind,360 umfassen die Kompetenzen

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EGMR, Moiseyev gegen Russland, Rn. 182; EGMR, Sutyagin gegen Russland, Rn. 190. Vgl. die Rechtsprechungsanalyse unter B. I. 2. b). 358 Dieser Maßstab kommt ursprünglich aus der Unparteilichkeitsrechtsprechung, da diese schwerer nachzuweisen ist, da es, wie auch der EGMR in Khrykin, Rn. 28, feststellt, um eine Frage des „state of mind“ gehe. Die Heranziehung desselben auch für die Unabhängigkeit wurde in B. bereits kritisiert. 359 EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 36 f. 360 Russland hat mittlerweile spezielle Verwalter eingeführt, um die Kompetenzen von Gerichtspräsidenten im Managementbereich zu reduzieren. In der Praxis würden diese aber 356 357

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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von Gerichtspräsidenten in den postsowjetischen Europaratsstaaten Zuständigkeiten im Rahmen der Auswahl und Beförderung von Richtern, teils gewichtige Kompetenzen im Disziplinarrecht, die Zuständigkeit für die Evaluation der Richter ihres Gerichts,361 sowie, mit Ausnahme Moldawiens, die Zuweisung von Fällen. Die Karriere von Richtern – sowohl die anfängliche Auswahl als auch Beförderungen – sind dabei einer der größten Kompetenzbereiche der Gerichtspräsidenten in den postsowjetischen Europaratsstaaten, insbesondere in Russland.362 In Russland haben Gerichtspräsidenten bei der Auswahl der Richter für ihr Gericht bereits rechtlich weitreichende Kompetenzen einschließlich eines Vetorechts, mit dem sie Kandidatenempfehlungen des jeweiligen Qualifikationskollegiums zurückweisen können. Dies führt in der Praxis dazu, dass ein Bewerber für das Richteramt in Russland nicht durchdringen wird mit seiner Bewerbung, wenn er nicht durch den Gerichtspräsidenten mit der vakanten Stelle unterstützt wird.363 Dasselbe gilt für die Beförderungen von Richtern.364 Für die Beförderung zu einer höheren Instanz hat der Präsident dieses höheren Gerichts ein ebensolches Vetorecht wie der Präsident des Gerichts bei der erstmaligen Auswahlentscheidung.365 Für die Beförderung zur Position des Gerichtspräsidenten leitet der Präsident des Obersten Gerichts der Russischen Föderation bzw. des Obersten Wirtschaftsgerichts die Empfehlung von Kandidaten des zuständigen Qualifikationskollegiums an den Staatspräsidenten weiter.366 Über kleinere Beförderungen innerhalb des Gerichts, etwa zum Vorsitzenden einer Kammer, entscheiden die jeweiligen Gerichtspräsidenten vollkommen selbstständig.367 Neben dieser direkten Involvierung in die Beförderung von Richtern, nehmen Gerichtspräsidenten in Russland indirekt Einfluss auf die Beförderung, indem sie für die Evaluation der Richter an ihren Gerichten zuständig sind, deren Ergebnisse in einem weiteren Schritt einer Beförderungsentscheidung durch die zuständigen Organe zugrunde gelegt werden.368 Aber auch in Staaten mit starken Richterräten wie in der Ukraine wird ein beträchtlicher Einfluss durch Gerichtspräsidenten sowohl auf die erstmalige Auswahl, als auch die Beförderung genommen, wenngleich dort nicht gesetzlich so vorgese-

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lediglich die Weisungen der Gerichtspräsidenten ausführen, da sie von letzteren ernannt wurden und ihnen unterstehen: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. I. 1. 361 Näher zur Evaluation von Richtern in den vier Staaten: C. II. 2. a) bb). 362 Müller, Judicial Administration in Transitional Eastern Countries, C. 363 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. II. 2. 364 Der Beförderungsprozess selbst ist gesetzlich gar nicht geregelt, sondern wird in die Regeln über die erstmalige Auswahl und Ernennung im Gesetz über den Status von Richtern, Art. 4 f., hineingelesen. Näher dazu: Id., B. III. 2. 365 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. III. 2. 366 Regelung über die Arbeitsweise der Qualifikationskollegien, Art. 6 (1) Abs. 6 ff. 367 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. III. 2. 368 Siehe genauer C. II. 2. a) bb).

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hen, sondern de facto. Experten zufolge wird ein Kandidat für das Richteramt in der Ukraine ohne Protektion durch den entsprechenden Gerichtspräsidenten nicht ernannt werden.369 Für Beförderungen gibt es, wie in Russland, auch in der Ukraine trotz der jüngsten Justizreform vom Juli 2010 nur wenige Regelungen. Zwar sind die zuständigen Organe gesetzlich festgelegt – für die Beförderung zu einem höheren Gericht ist das ukrainische Parlament zuständig,370 für die Ernennung zu der Position des Gerichtspräsidenten seit der Justizreform der Hohe Justizrat.371 Es fehlt aber an präzisen Kriterien, wie die Beförderungsentscheidung zu treffen ist, und wie bzw. ob überhaupt ein Wettbewerb um entsprechende höhere Positionen stattfinden soll.372 Mangels klarer gesetzlicher Vorgaben seien Gerichtspräsidenten, Experten zufolge, de facto sehr einflussreich und Kandidaten wie bei der erstmaligen Ernennung in der Praxis auf deren Protektion angewiesen.373 Teil der Beförderung ist es in einigen der östlichen Europaratsstaaten auch, Bonusleistungen und Qualifikationsränge zu vergeben, die Einfluss auf das Gehalt des einzelnen Richters haben. In der Ukraine und Moldawien sind die Präsidenten der Gerichte an diesem Vergabeprozess beteiligt,374 ähnlich in Russland.375 Auch in Disziplinarverfahren gegen Richter sind Gerichtspräsidenten in erster Linie in den Ländern stark involviert, die keinen vergleichbaren Richterrat aufweisen oder lediglich einen schwachen Richterrat haben, für die hiesige Betrachtung daher nur in Russland;376 in Staaten mit starken Richterräten nehmen vor allem die Richterräte einflussreiche Funktionen in Disziplinarverfahren wahr.377 Disziplinarische Kompetenzen in der Hand des jeweiligen Gerichtspräsidenten werden in Russland und anderen postsowjetischen Europaratsstaaten mit schwachem Richterrat als

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Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. II. 2. Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 80 Abs. 2. 371 Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 3 Abs. 1-1. 372 So auch die Kritik der Venedig-Kommission: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 67 ff.: „However, the Law leaves the door open to political considerations in the promotion of judges […]. It is striking that the question of promotion of judges is hardly regulated at all“. 373 Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. III. 2. 374 Id., B. IV. 1.; Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. III. 1. 375 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. IV. 1.; Voswinkel, Nichts als Strafen, Wer in Russland ein faires Gerichtsverfahren verlangt, wartet vergeblich, wie der Fall Politkowskaja zeigt; Solomon, Assessing the Courts in Russia: Parameters of Progress under Putin, S. 64. 376 Siehe weiterführend zu weiteren Staaten ohne Richterrat wie das Nicht-Mitglied Weißrussland und Staaten mit schwachen Richterräten wie Aserbaidschan, Armenien und das Nicht-Mitglied Kasachstan, auf die die Beobachtungen in ähnlicher Weise zutreffen würden: Müller, Judicial Administration in Transitional Eastern Countries. 377 Vgl. aber auch, dass in Moldawien, das grundsätzlich einen starken Richterrat aufweist, gesetzlich vorgesehen ist, dass ein Gerichtspräsident, der Disziplinarverstöße der Richter an seinem Gericht nicht an den Richterrat meldet, disziplinarisch verfolgt werden kann: Moldaw. Richterstatusgesetz, Art. 22 Abs. 1 l). 369 370

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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Mittel gesehen, um Richter auf vorauseilende Loyalität gegenüber ihrem Gerichtspräsidenten auszurichten, wie dies auch in „Khrykin gegen Russland“ bereits durch den EGMR verurteilt wurde. Zwar ist in Russland die Stellung der Qualifikationskollegien in Disziplinarverfahren zunächst scheinbar zentral, dennoch haben Gerichtspräsidenten gesetzlich eine sehr einflussreiche Stellung: Beide, der Gerichtspräsident des Gerichts, dem der Richter angehört, als auch der Gerichtspräsident der nächsthöheren Instanz, sind nicht nur befugt, Disziplinarverfahren bei dem zuständigen Qualifikationskollegium zu beantragen. Sondern sie nehmen auch selbst die Voruntersuchungen vor, so dass in ihrem Fall nicht mehr eine spezielle Kommission mit der Untersuchung beauftragt wird.378 Dabei sind dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet, da die Gerichtspräsidenten nicht nur die Personalakte manipulieren könnten, sondern die Qualifikationskollegien, Experten zufolge, den Einschätzungen der Gerichtspräsidenten mehrheitlich trauten und ihren Anträgen in der Praxis regelmäßig folgten.379 Aber auch, wenn Beschwerden über Richter von anderen Antragsstellern ausgehen, gestattet es die Rechtslage, dass der zuständige Gerichtspräsident mit der Untersuchung der Beschwerde beauftragt wird.380 Außerdem sind sie berechtigt, jederzeit an den Sitzungen der Qualifikationskollegien teilzunehmen, in denen über das Disziplinarverfahren verhandelt wird, und ihre Sichtweise darzulegen. Obwohl sie nicht Teil der Qualifikationskollegien sind und nicht über ein Vetorecht wie hinsichtlich der Richterauswahl und -beförderung verfügen, haben Gerichtspräsidenten in Russland durch ein Initiativ-, Untersuchungs-, Anwesenheits- sowie Rederecht daher großen Einfluss auf das Disziplinarverfahren und beeinflussen zudem, neben ihren formal bereits weitreichenden Kompetenzen, nach Einschätzung von Expertinnen, informell die Mitglieder der Qualifikationskollegien.381 Das Initiativrecht von Gerichtspräsidenten in Disziplinarverfahren kann nicht nur dazu führen, dass Richter, wie infolge der Evaluationskompetenz von Gerichtspräsidenten, Entscheidungen nach deren Willen ausrichten, um kein Disziplinarverfahren zu riskieren. Sondern die Rolle der Gerichtspräsidenten der höheren Instanz gegenüber unteren Instanzen in Russland382 führt zusätzlich dazu, dass zwischen den Instanzen Druck und Abhängigkeitsverhältnisse einschließlich eines

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Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 22 Abs. 1. Für konkrete Fälle aus der Praxis, siehe Solomon, Informal Practices in Russian Justice: Probing the Limits of Post-Soviet Reform, S. 85; Solomon, Can President Medvedev Fix the Courts in Russia? The First Year, in: Russian Analytical Digest, Heft 59, 2009, S. 2; Solomon, Assessing the Courts in Russia: Parameters of Progress under Putin, S. 68; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII. 2. 380 Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 22 Abs. 2. 381 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII., F, auch unter Verweis auf eine Entscheidung des russ. Verfassungsgerichts von 2008, in dem die breiten Kompetenzen der Gerichtspräsidenten für verfassungsgemäß befunden wurden, da das Gesetz weitere Beratungen durch die Qualifikationskollegien sowie eine geheime Abstimmung in selbigen vorsehen würde. Kritisch aber hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 EMRK: EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 17. 382 Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 22 Abs. 1. 378 379

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„vorauseilenden Gehorsams“ entstehen. Dass der EGMR in dieser Kombination aus formellen und informellen Mechanismen im russischen Disziplinarrecht eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK sieht, hat die Verurteilung Russlands in „Khrykin gegen Russland“ 2011 gezeigt.383 Ein grundlegendes Problem, mit dem sich alle vier Staaten, wenngleich mittlerweile in unterschiedlichen Entwicklungsstufen, konfrontiert sehen und das den EGMR ebenfalls bereits beschäftigt hat, ist die teils de jure-, teils de factoZuständigkeit der Gerichtspräsidenten über die Zuweisung der Fälle an ihrem Gericht zu entscheiden. Dieses Relikt aus Sowjetzeiten erlaubt es ihnen, das Ergebnis des konkreten Verfahrens zu beeinflussen, indem ausgewählt wird, an wen welcher Fall gerät; zusätzlich ermöglicht es ihnen, auf diesem Wege gezielt Einfluss auf die weitere Karriere der Richter zu nehmen.384 In Russland gibt es bis heute keine klaren, kohärenten Regeln für die Fallzuweisung. Dort haben die Gerichtspräsidenten de facto die Zuständigkeit für die Verteilung übernommen bzw. sie seit Sowjetzeiten nicht abgegeben. Unternommene Reformschritte sind bisher erfolglos geblieben.385 Damit entspricht das russische System in diesem Punkt bis heute nicht den Mindestanforderungen, die der EGMR in Form abstrakter gesetzgeberischer Kriterien für die Verteilung iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt.386 Dass es gesetzlichen Regelungen bedarf und eine bloße, so gepflegte Praxis der Besetzung der Richterbank unzureichend ist, um Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht zu werden, hatte der EGMR bereits 2006 gegenüber Moldawien klargestellt.387 In Georgien gibt es zwar Zuweisungsregeln, die eine Verteilung nach alphabetischer Reihenfolge vorsehen, was nach der Rechtsprechung des EGMR aus „Parlov-Tkalčić gegen Kroatien“ grundsätzlich für ein konventionskonformes System ausreichend ist. Problematisch ist allerdings, dass das georgische System weiterhin vorsieht, dass jede Zuweisung

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Siehe dazu eindrücklich EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 36 ff. Indem die einen mit Fällen überladen werden, denen sie nicht mehr nachkommen können, andere Richter wiederum wichtige, karrierefördernde Fälle zugewiesen bekommen: Voswinkel, Nichts als Strafen, Wer in Russland ein faires Gerichtsverfahren verlangt, wartet vergeblich, wie der Fall Politkowskaja zeigt; Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. V.; Solomon, Assessing the Courts in Russia: Parameters of Progress under Putin, S. 68; Solomon, Authoritarian legality and informal practices: Judges, lawyers and the state in Russia and China, S. 354. 385 Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Rn. 4.3.5.; Mommsen/Nußberger, Das System Putin – Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, S. 107 f.; Pietrowicz, Die Umsetzung der zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ergangenen Urteile des EGMR in der Russischen Föderation, S. 279; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. V.; Human Rights Council, Promotion and Protection of all Human Rights, Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights, Including the Right to Development, Report of the Special Rapporteur on the independence of judges and lawyers, Leandro Despouy, Addendum, Mission to the Russian Federation, Rn. 61, 99. 386 EGMR, Moiseyev gegen Russland, Rn. 168 ff., insb. Rn. 177. 387 EGMR, Gurov gegen Moldawien, Rn. 37 und genauer dazu die Rechtsprechungsanalyse unter B. I. 2. b). 383 384

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der Bestätigung und damit der nachgeschalteten Ermessensausübung des jeweiligen Gerichtspräsidenten bedarf, der auch Ausnahmen zu den allgemein geltenden Verteilungsregeln machen kann,388 was die Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 EMRK fraglich erscheinen lässt. In der Ukraine hatten Gerichtspräsidenten lange ebenfalls die Verteilung der Fälle inne.389 Seit einigen Jahren laufen jedoch Pilotsysteme in Richtung eines automatischen Zuweisungssystems an,390 mit dem neuen Justizgesetz im Sommer 2010 wurde die automatisierte Verteilung der Fälle auch gesetzlich normiert.391 Dabei heißt es aber lediglich, dass ein automatisiertes, auf Zufall basierendes Fall-Management-System zugrunde zu legen ist, und dadurch garantiert werden soll, dass die Belastung, die Spezialisierung eines jeden Richters sowie die Anforderungen des Prozessrechts berücksichtigt werden. Wie das automatische System der Fallzuweisung funktionieren soll, regelt der parlamentarische Gesetzgeber nicht selbst, sondern verweist auf eine Regelung, die durch den Richterrat der Ukraine (ein Selbstverwaltungsorgan, das von dem Hohen Justizrat zu unterscheiden ist) in Übereinstimmung mit der Staatlichen Justizverwaltung zu verabschieden sei. Immerhin wurde daher die Forderung des EGMR nach einer gesetzlichen Grundlage im Gegensatz zum vorherigen Zustand im Kern befolgt. Jedoch steht die Umsetzung der wesentlichen weiteren Forderung des EGMR nach eindeutigen, unmissverständlichen Kriterien in einer vorhersehbaren und zugänglichen Regelung noch aus. Hinzu kommt, dass eine Festlegung im Gesetz zwar den notwendigen ersten Schritt darstellt, um die Voraussetzungen für ein Umdenken zu schaffen, zugleich aber erst ein Anfang ist, der nicht einen schlagartigen Mentalitätswandel bewirken kann. Dass es noch Zeit brauchen wird, bis das neue und erst rudimentär geregelte automatische Zuweisungssystem in der Ukraine einen Beitrag zu diesem Wandel leisten kann, zeigen gegenwärtig Indizien, die auf eine schlichte Nichtanwendung oder Manipulation des Systems hindeuten.392 Daran wird deutlich, dass auch die Einführung eines automatischen, zufälligen Systems der Fallzuweisung nicht notwendigerweise eine objektive Verteilung der Fälle garantiert, da Manipula-

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Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. V. Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. V.; Kellermann, Blinde Justitia: Das korrumpierte Rechtssystem in der Ukraine, 29.05.2010, (zuletzt besucht am 15.03.2012); von Gall, Neues Justizgesetz – alte Probleme, S. 3. 390 USAID, Combating Corruption and Strengthening Rule of Law in Ukraine, November 2007, (zuletzt besucht am 15.03.2012), S. 18 f. 391 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 15 Abs. 3, 4, 5. 392 Siehe zu der vermehrt aufgetretenen Zuweisung von Fällen mit hoher politischer Brisanz an junge Richter, die in der Proberichterzeit aufgrund der Angewiesenheit auf eine Lebenszeiternennung und aufgrund ihrer Unerfahrenheit und ihres Alters besonders anfällig für Einfluss von außen sind: The Danish Helsinki Committee for Human Rights, Legal Monitoring in Ukraine II, Second Preliminary Report, S. 13 f.; Schuller, Zweifelhaft, Eine Untersuchung über die Gebaren der ukrainischen Justiz im Fall Timoschenko, S. 8; Senyk, Die Reform des Justizsystems: Politisierung und Disziplinierung, S. 3 f. 388 389

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tionen oder schlichte Nichtanwendung des Systems nicht ausgeschlossen werden können.393 Moldawien hat 2003 für Strafverfahren und 2006 für alle Gerichte ein zufälliges Zuteilungssystem eingeführt.394 Lediglich wenn es einem Richter objektiv unmöglich ist, an einem Verfahren teilzunehmen, wird das zufällige Verteilungssystem durchbrochen. Im Übrigen können Gerichtspräsidenten unter gesetzlich vorgegebenen Umständen einen Fall noch einmal an eine andere Kammer verweisen.395 Expertinnen zufolge wird jedoch auch in Moldawien das neue zufällige System in der Praxis noch nicht vollständig beachtet und das zu dessen Förderung entwickelte Computersystem scheint noch nicht überall zu funktionieren.396 Die Macht der Gerichtspräsidenten bei der Fallzuweisung in den vier Staaten ist somit noch nicht vollends überwunden, wenngleich gerade in der Ukraine und Moldawien Reformschritte in diese Richtung unternommen wurden, und Georgien immerhin einen alphabetischen Schlüssel vorsieht. Dies unterscheidet sie zwar von anderen Staaten der Region, wie z. B. Russland, in denen Maßnahmen in diese Richtung ausbleiben.397 Dennoch sind ihre gegenwärtigen Systeme, wie die Analyse gezeigt hat, noch nicht vollständig im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 EMRK. Warum der Prozess in diesen drei Staaten und noch gravierender in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken so schleppend ist, lässt sich nur mit einer Kombination verschiedener Ursachen erklären. Zum einen haben Gerichtspräsidenten in allen Staaten der Region nach wie vor eine machtvolle Stellung in der Justizverwaltung inne und sind nicht willens, diese entscheidende Funktion aufzugeben.398 Hinzu tritt ein Ressourcenproblem, das andauert, und das sowohl die flächendeckende Computerisierung der Gerichte als auch ihre Finanzierung generell betrifft und die Einrichtung neuer technischer Systeme erschwert.399 Um das andauernde strukturelle Defizit der übermächtigen Gerichtspräsidenten in der Justizverwaltung in den östlichen Europaratsstaaten zu überwinden und in den aufgezeigten Punkten Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht zu werden, erfordert die Implementierung dieser Rechtsprechung in den östlichen Europaratsstaaten, dass ihre Kompetenzen, die sich bis auf die tägliche Entscheidungsfindung der Richter ihres Gerichts auswirken, eingegrenzt werden. Nach der Rechtsprechung des

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393 Vgl. auch Parau, The Drive for Judicial Supremacy, C. I. Zwar hat die Einführung des computergestützten Fallzuweisungssystems in Rumänien tatsächlich die vorherrschende Stellung der Gerichtspräsidenten reduziert, allerdings ist bereits Kritik laut geworden, dass die Parameter für die zufällige Verteilung manipuliert würden. 394 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. V. 395 Moldaw. Gesetz über das Gerichtswesen, Art. 6 Abs. 1 und 2. 396 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. V. 397 Neben Russland z. B. auch Aserbaidschan: Report on the Independence of the Judiciary in Azerbaijan, B. V. 398 Nußberger, Judicial Reforms in Post-Soviet Countries – Good Intentions with Flawed Results?, B. V. Vgl. auch Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, B. V., wo der Rat der Gerichtspräsidenten selbst (ein spezielles Organ, in dem nur Gerichtspräsidenten sitzen), für die Entwicklung eines neuen Mechanismus zuständig wäre. 399 Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. V.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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EGMR in „Parlov-Tkalčić gegen Kroatien“ liegt zwar grundsätzlich ein arbeitsteiliger Prozess im Rahmen der Auswahl und Beförderung von Richtern vor, wenn Gerichtspräsidenten neben anderen Organen tätig werden. In Russland haben Gerichtspräsidenten jedoch, wie gesehen, sowohl bei der Auswahl als auch bei der Beförderung zu einem höheren Gericht durch ihr Vetorecht ein besonderes Gewicht.400 In der Ukraine wurde auf die unabdingbare Protektion durch Gerichtspräsidenten hingewiesen.401 Insofern ist zumindest fraglich, ob dies noch der Arbeitsteilung aus Sicht des EGMR entspricht. Hinzutritt, dass die unzureichende gesetzliche Regulierung, insbesondere der Beförderung, den Gerichtspräsidenten ein weites Ermessen lässt oder ihren Einfluss, wie in der Ukraine, gerade erst ermöglicht. Angesichts der eingangs skizzierten Rechtsprechung des EGMR dürfte es daher auch an ausreichenden gesetzlichen Beschränkungen des Ermessens fehlen. Neben diesen Vorgaben aus der Rechtsprechung des EGMR, zeigt ein rechtsvergleichender Blick nach Zentralosteuropa, dass die Kompetenzen von Gerichtspräsidenten hinsichtlich der materiellen Situation von Richtern (Vergabe von Qualifikationsrängen und Bonussen) wegen der Gefahr des Rechtsmissbrauchs und erzeugter Abhängigkeiten abgeschafft wurden402 – ein Schritt, der sich auch für die Ukraine, Moldawien und Russland empfehlen würde. Was die rechtliche und faktische Macht der Gerichtspräsidenten im Disziplinarrecht gegen Richter anbelangt, wurde Russland bereits durch den EGMR verurteilt. Als Reaktion auf die Verurteilung in „Khrykin gegen Russland“ und um weitere Verurteilungen durch den EGMR zu verhindern, muss Russland die Kompetenzen der Gerichtspräsidenten in diesem Bereich ebenfalls einschränken, indem es jedenfalls die Möglichkeiten für Gerichtspräsidenten derselben oder einer höheren Instanz, Disziplinarverfahren einzuleiten, abschafft. Zwar forderte der EGMR dies in seiner Khrykin-Rechtsprechung nicht explizit ein, sondern wandte sich primär gegen das Ersuchen der höheren Instanz, den Fall nochmals anders zu entscheiden. Gleichzeitig wurde dieses Ersuchen aus Sicht des EGMR erst dadurch zu einer zwingend zu befolgenden Weisung für den Richter der unteren Instanz, da die Verfasserin des Briefs zugleich disziplinarisch in der Lage war, eine Entlassung des Richters zu erwirken. Auf lange Sicht steht zu hoffen, dass durch Beschränkung der Kompetenzen von Gerichtspräsidenten im Disziplinarrecht in Russland, bei den Richtern keine Notwendigkeit mehr bestehen wird, Fälle vor-

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400 Auch bei Beförderungen zu der Position des Gerichtspräsidenten wird der bedeutende Einfluss, der den Präsidenten des Obersten Gerichts und des Obersten Gerichts in Wirtschaftsstreitigkeiten zukomme, betont: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. III. 2. 401 Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. II. 2. 402 Ondrejka, Slowakei – Neues Richtergesetz verabschiedet – eine wichtige Wegmarke einer umfassenden Justizreform ist erreicht, in: Osteuropa-Recht, Heft 1, 2011, S. 107. Näher zur slowakischen Justizreform, die neben der Begrenzung der Macht der Gerichtspräsidenten auch bemüht war, die bedenkliche Machtverschiebung in den Richterrat zu adressieren: Bohata, Slowakische Richterschaft formiert sich, in: Wirtschaft und Recht in Osteuropa, Heft 1, 2011, S. 1 ff.

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her mit ihrem Gerichtspräsidenten durchzusprechen, mit der nächsthöheren Instanz abzustimmen oder nach Rechtskraft noch einmal abzuändern. Die empfohlene Kompetenzbeschränkung als mögliches Mittel, um in den vier Staaten die EGMR-Rechtsprechung zu implementieren, gilt – mit Ausnahme Moldawiens – auch für die Zuweisung der Fälle innerhalb der Gerichte. Müssen nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK an der Ausübung der jeweiligen Justizverwaltungskompetenz grundsätzlich mehrere Akteure außer den Gerichtspräsidenten beteiligt sein, um das Ermessen in Bahnen zu lenken, kann über die Fallzuweisung nicht der jeweilige Gerichtspräsident alleine entscheiden. Für die Fallzuweisung durch Gerichtspräsidenten hat der EGMR weiter präzisiert, dass eine gesetzliche Grundlage existieren müsse, die zugänglich und vorhersehbar sei, unmissverständliche Kriterien bereit halte und dadurch Transparenz und Objektivität der Zuweisung von Fällen sichere und bereits jeglicher Anschein von Willkür vermieden werden müsse.403 Auch dies ist, wie gesehen, in Russland und der Ukraine noch nicht der Fall, und der alphabetische Schlüssel in Georgien als objektives Kriterium ist überlagert von dem Ermessen der Gerichtspräsidenten. Um den Anforderungen des EGMR gerecht zu werden, wird daher angeregt, entweder, wie dies in Moldawien und der Ukraine bereits anläuft, ein computergesteuertes Zufallssystem einzurichten, dass einerseits den Gerichtspräsidenten das Ermessen nimmt und damit Willkür verhindert, andererseits subjektive Kriterien für die Verteilung ausschließt. Statt eines Zufallssystems wäre außerdem mit der Rechtsprechung des EGMR vereinbar, dem deutschen Modell eines abstrakten Geschäftsverteilungsplans zu folgen, der das Verfahren verobjektiviert, indem die abstrakten, objektiven und transparenten Kriterien, wie z. B. der Nachname des Beschuldigten oder eine Sortierung nach Eingang, vorher für das kommende Gerichtsjahr von einem Gremium festgelegt werden.404 Ein solches Gremium könnte auch in den hier in Rede stehenden Staaten an jedem Gericht eingerichtet werden. Dadurch würde nicht eine einzelne Person über die Zuteilung entscheiden, sondern die Mitglieder des Ausschusses würden auf der Basis einer gesetzlichen Grundlage abstrakte, vorhersehbare und für jedermann zugängliche Kriterien festlegen, über deren Einhaltung sie wachen und damit gegenseitig eine Art „watchdog“-Funktion wahrnehmen würden.405 Wenngleich beide Wege nicht vollständig vor Missbrauch schützen können und gerade das automatische computergestützte Verteilungssystem, wie mit Blick auf die Ukraine skizziert, zu Manipulationen und Nichtanwendung führen kann, erfüllen beide grundsätzlich die durch den EGMR formulierten Anforderungen. Die in den östlichen Europaratsstaaten notwendige Kompetenzbeschneidung bedeutet deshalb nicht, dass die Rolle von Gerichtspräsidenten auf die Repräsentation

–––––––––– 403 404

B. V.

Vgl. die Rechtsprechungsanalyse unter B. I. 2. b). Siehe näher zum deutschen Modell: Seibert-Fohr, Judicial Independence in Germany,

405 Für einen ähnlichen Vorschlag siehe Mouradian, Independence of the Judiciary in Armenia, F.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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des Gerichts und Kontrolle des nichtrichterlichen Gerichtspersonals reduziert werden muss.406 Andernfalls würden die Einblicke, die Gerichtspräsidenten aufgrund ihrer hervorgehobenen Stellung in einem Gericht haben, und die z. B. für eine Evaluation von Richtern wesentlich sind, abgeschnitten. Um beiden Zielen gerecht zu werden, mithin einerseits die Akkumulation von Macht und unbegrenztes Ermessen zu verhindern und dadurch die Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK zu implementieren, andererseits Gerichtspräsidenten in Entscheidungsprozesse dort einzubinden, wo sie über die relevanten Informationen und Kenntnisse verfügen, sollten einige Aufgaben auf ein neues Gremium übertragen werden, das aus dem Gerichtspräsidenten und weiteren richterlichen Mitgliedern bestehen könnte. Dies würde dem entsprechenden Gerichtspräsidenten dort eine Stimme geben, ihm aber andererseits die Möglichkeit nehmen, alleine unter Ausübung individuellen Ermessens über wesentliche Fragen, wie z. B. der Evaluation oder der Fallverteilung zu entscheiden, sondern ihn unter kollegiale Kontrolle stellen.407 Russische Expertenstimmen regen alternativ an, Kontrollmechanismen von außen für die Entscheidungen von Gerichtspräsidenten zu etablieren, indem alle Fälle potentieller Einflussnahme durch Gerichtspräsidenten, z. B. auf Disziplinarverfahren, einer unabhängigen Untersuchung unterzogen werden sollten.408 Die gesetzliche Neufassung der Macht von Gerichtspräsidenten, wie sie hier kontextspezifisch empfohlen wurde, setzt nicht nur einen entsprechenden politischen Willen seitens der betroffenen östlichen Europaratsstaaten voraus, sich gegen die einflussreichen Gerichtspräsidenten durchzusetzen. Sie verlangt auch, auf eigenen Einfluss zu verzichten, der derzeit in diesen Staaten auf die Richter durch Gerichtspräsidenten als „Transmissionsriemen“409 noch genommen werden kann. Dieser politische Wille wird, wenn nicht von allein, so von außen durch vermehrte Verurteilungen der östlichen Europaratsstaaten durch den EGMR kommen, in denen die Übermacht der Gerichtspräsidenten zunehmend kritisiert wird,410 oder zumindest in das Blickfeld des EGMR gerückt ist.411

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So z. B. Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, F. So auch die Empfehlung der Kyiv Recommendations, Rn. 30. 408 Durch einen speziellen StA oder einen speziellen parlamentarischen Ausschuss: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, F. Angesichts der spezifischen Rolle der StA in den postsowjetischen Europaratsstaaten (vgl. dazu die Einführung zu C. II.) ist eine Kontrolle der Gerichtspräsidenten (und damit letztlich der Gerichte) durch die StA abzulehnen. Auch die Alternative eines parlamentarischen Ausschusses ist vor dem Hintergrund der vielerorts anzutreffenden Mehrheiten im Parlament zugunsten des machthabenden Präsidenten eher ungünstig. 409 Mommsen/Nußberger, Das System Putin – Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, S. 107. 410 EGMR, Khrykin gegen Russland; EGMR, Moiseyev gegen Russland; EGMR, Sutyagin gegen Russland; EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine. 411 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien. 406 407

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

bb) Auswahl und Ernennung von Gerichtspräsidenten Bei der derzeitigen Funktionsdichte, aber auch, wenn die Kompetenzen von Gerichtspräsidenten in diesen Staaten in Zukunft eingeschränkt würden, kommt ihnen eine Schlüsselstellung für die Richter ihrer Gerichte zu. Diese macht es erforderlich, ihren Auswahl- und Ernennungsmodus zu überdenken, damit durch die Art und Weise der Auswahl und Ernennung der Gerichtspräsidenten kein Durchgriff auf die Richter gesichert wird. Außer in Staaten mit starken Richterräten werden Gerichtspräsidenten in den östlichen Europaratsstaaten durch den Staatspräsidenten entweder nominiert oder durch diesen ernannt. Durch den Staatspräsidenten ernannt werden Gerichtspräsidenten z. B. in Russland, mit Ausnahme der Präsidenten der obersten Gerichte,412 die vom Staatspräsidenten allerdings nominiert werden.413 Der exekutive Ernennungsmodus führt in Russland zu einer Sicherung von Einfluss, weshalb hierhin teilweise die Achillesferse der Unabhängigkeit der Gerichte in Russland gesehen,414 und Gerichtspräsidenten kritisch als „Transmissionsriemen“ der Exekutive bezeichnet werden.415 In Georgien, Moldawien und der Ukraine spielt hingegen der Richterrat eine entscheidende Rolle, indem er entweder die Kandidaten auswählt, um einem anderen Organ einen Vorschlag zu unterbreiten. Dies ist der Fall in Moldawien, wo der Richterrat die Kandidaten für diese Schlüsselposition entweder dem Parlament oder dem Staatspräsidenten (in Abhängigkeit von der Instanz) zur Ernennung vorschlägt.416 Oder er ernennt die Gerichtspräsidenten selbst nach Vorschlag durch ein anderes Organ, so – mit Ausnahme der Richter am Obersten Gericht – der Hohe Justizrat in der Ukraine seit der Justizreform 2010.417 Der Vorschlag für einen Kandidaten wird in der Ukraine von Selbstverwaltungsorganen der einzelnen Gerichtsbarkeiten418 gemacht.419 Bis zu den Reformen im Juli 2010 war der Richterrat der

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412 Oberstes Gericht; Oberstes Gericht in Wirtschaftsstreitigkeiten; Verfassungsgericht der Russischen Föderation. 413 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. III. 2. 414 Pietrowicz, Die Umsetzung der zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ergangenen Urteile des EGMR in der Russischen Föderation, S. 110, 279. 415 Mommsen/Nußberger, Das System Putin – Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, S. 107. 416 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. III. 2., E. 417 Teilweise wird dies jedoch für verfassungswidrig gehalten, da die Kompetenzen des Hohen Justizrats über die ihm in Art. 131 der ukrainischen Verfassung eingeräumten Zuständigkeiten hinaus erweitert werden: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law Amending Certain Legislative Acts of Ukraine in Relation to the Prevention of Abuse of the Right to Appeal, Rn. 26; ganz klar ist die Venedig-Kommission in ihrer Sichtweise jedoch nicht, vgl. European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 18. 418 Dritte Form von Richterräten in der Ukraine als Organe der Selbstverwaltung, bestehend aus elf Richtern, die von den Richterkonferenzen gewählt werden, die für jeden Zweig von Gerichtsbarkeit (allgemeine Gerichtsbarkeit, Handelsgerichte, Verwaltungsgerichtsbar-

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Ukraine (das vom Hohen Justizrat zu unterscheidende Selbstverwaltungsorgan) zuständig, der seinerseits größtenteils aus Richtern in administrativen Positionen sowie Richtern der oberen Instanzen zusammengesetzt war – ein Verfahren, das wegen der Ernennung der Gerichtspräsidenten durch Personen, die dieses Amt selbst bekleideten, kritisiert wurde.420 In Georgien nimmt der Richterrat sogar die Auswahl und Ernennung der Gerichtspräsidenten, mit Ausnahme desjenigen am Obersten Gerichts, wahr. Auch diese Auswahl- und Ernennungsverfahren sind nicht ohne Kritik geblieben. Insbesondere in Georgien gilt das Verfahren als politisch motiviert, da Auswahl und Ernennung der Gerichtspräsidenten ohne Durchführung eines Wettbewerbs hinter geschlossenen Türen vorgenommen würden. Zudem berücksichtige das georgische System der Auswahl und Ernennung der Gerichtspräsidenten durch die Zentralisierung im Richterrat zu wenig die Stimmen der Richter der unteren Instanzen, für die der Gerichtspräsident ausgewählt und ernannt werde.421 Der EGMR hat sich zur Ernennung von Gerichtspräsidenten noch nicht geäußert. Überträgt man seine ständige Rechtsprechung zu der exekutiven Ernennung von Richtern auf die Ernennung der Gerichtspräsidenten durch den Staatspräsidenten in den östlichen Europaratsstaaten, wäre eine solche vereinbar mit Art. 6 Abs. 1 EMRK, solange Weisungsfreiheit garantiert ist. Allerdings hat die neuere Rechtsprechung des EGMR mit Blick auf die östlichen Europaratsstaaten gezeigt, dass der EGMR zunehmend sensibilisiert ist für die spezifischen Gefahren, die der richterlichen Unabhängigkeit iSv Art. 6 EMRK im Kontext der östlichen Europaratsstaaten drohen, und die insbesondere trotz formaler Sicherungen bestehen. Nichts anderes gilt für eine formale Zusicherung der Weisungsfreiheit, wenn die Praxis, zumindest in Russland, das Bild von Gerichtspräsidenten als „Transmissionsriemen“ der Exekutive zeichnet.422 Es spricht deshalb vieles dafür, dass der EGMR bei einer zukünftigen Gelegenheit seine sonst exekutivfreundliche Rechtsprechung mit Blick auf exekutive Ernennungen von Gerichtspräsidenten in Osteuropa außer Acht lassen könnte. Umgekehrt erweitert das Modell einer Auswahl und/oder Ernennung dieser zentralen Figuren unter maßgeblicher Beteiligung des Richterrats nur die ohnehin schon problematisch weiten Kompetenzen der Richterräte.423

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keit) zusammentreten: Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 122 Abs. 3 iVm Art. 119 Abs. 1. Sie sind auch zu unterscheiden von dem Richterrat der Ukraine, der das höchste Selbstverwaltungsorgan darstellt, vgl. Art. 127. 419 Vgl. Id., Art. 20 Abs. 2 sowie das geänderte Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 3 Abs. 1-1. 420 Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. III. 2. 421 Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. III. 2. 422 Mommsen/Nußberger, Das System Putin – Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, S. 107. 423 Siehe zu der Problematik der Kompetenzdichte in Richterräten, C. II. 1. a).

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

Alternativ zu einer Auswahl und/oder Ernennung durch die Exekutive oder durch Richterräte sollte daher in den östlichen Europaratsstaaten, die mit der Macht der Gerichtspräsidenten zu ringen haben, über eine Wahl dieser Schlüsselfiguren durch die Richter des jeweiligen Gerichts nachgedacht werden, wie sie auch die Kyiv Recommendations und Experten aus diesen Ländern zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter empfehlen,424 und wie dies teilweise in der Vergangenheit, etwa in Russland 2006, bereits in Erwägung gezogen wurde.425 Wenngleich ein solcher Vorschlag notgedrungen dem Vorwurf eines sehr starren oder gar absoluten Verständnisses von Gewaltenteilung und mangelnder demokratischer Legitimation der so bestellten Gerichtspräsidenten ausgesetzt ist, so scheint er doch in dem spezifischen Kontext der östlichen Europaratsstaaten ein vorzugswürdiger Weg zu sein: in Staaten wie Russland, mit schwachen oder ohne Richterräte, um den Durchgriff der Exekutive über die Gerichtspräsidenten auf die Richter zu reduzieren; in Staaten mit starken Richterräten, wie Georgien, um die Dezentralisierung von Macht zu fördern, und in allen vier Staaten, um die Auswahl und Ernennung der Gerichtspräsidenten transparenter zu gestalten.426 Leider deutet aber zumindest die jüngste und im Lichte richterlicher Unabhängigkeit stark kritisierte427 Entwicklung in Russland in eine andere Richtung: Wenngleich mit Blick auf den speziellen Fall des Verfassungsgerichts, wurde dort 2009 das Modell der Wahl des Präsidenten durch die Richter desselben Gerichts abgeschafft.428

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424 Kyiv Recommendations, Rn. 16; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, F.; Human Rights Council, Promotion and Protection of all Human Rights, Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights, Including the Right to Development, Report of the Special Rapporteur on the independence of judges and lawyers, Leandro Despouy, Addendum, Mission to the Russian Federation, Rn. 99. 425 Solomon, Assessing the Courts in Russia: Parameters of Progress under Putin, S. 71; Solomon, Can President Medvedev Fix the Courts in Russia? The First Year, S. 3. Die Ukraine hat eine gewisse Dezentralisierung insofern bereits verwirklicht, als dass die Kandidaten von dem Rat der Richter der jeweiligen Gerichtsbarkeit vorgeschlagen werden. 426 Dies würde auch die Gefahr in den postsowjetischen Staaten bannen, dass Gerichtspräsidenten Wünschen, die von außen informell herangetragen werden, entsprechen müssten, um weiterhin ihr Amt besetzen zu dürfen. Dies wird insb. in Russland nach der Einführung von kurzen Amtszeiten mit Wiederernennungsmöglichkeit für Gerichtspräsidenten als Gefahr gesehen: Solomon, Informal Practices in Russian Justice: Probing the Limits of Post-Soviet Reform, S. 86. 427 Journal of Eurasian Law, (2009), S. 140; Henderson, Tenure and Discipline Developments in Russia, in: European Public Law, Vol. 17, Issue 1, 2011, S. 5; Reuters, Kremlin Proposes Tighter Control of Court System, The Moscow Times, 12 May 2009. 428 Mit Wirkung ab 2012. Stattdessen wurde diese Kompetenz in die Hände des Föderationsrats gelegt, der die zentrale Figur auf Vorschlag des Staatspräsidenten ernennen soll. Neben der Beteiligung des Staatspräsidenten, wird auch der Föderationsrat von den Gouverneuren der Subjekte besetzt, die wiederum unmittelbar durch den Staatspräsidenten eingesetzt werden. Verfassungsgesetz über das Verfassungsgericht der Russischen Föderation, N 1-ФКЗ, 21.07.1994 (zuletzt geändert am 28.12.2010), Art. 23 Abs. 1.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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c) Zusammenfassende Problemanalyse und Reformvorschläge Die Analyse hat gezeigt, dass die Verwaltung der Justiz eines der Kernstücke darstellt, um eine unabhängige Justiz zu etablieren. Wenngleich man argumentieren kann, dass die Annahme naiv sei, strukturelle Reformen würden zu mehr Vertrauen in die Gerichte führen, und es für die Vertrauensförderung eher darauf ankomme, dass Richter mutige Entscheidungen träfen,429 so müssen doch zuerst die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, um Richter überhaupt in die Lage zu versetzen, Entscheidungen solcher Qualität und solchen Anspruchs treffen zu können. Strukturreformen der Justizverwaltung in den östlichen Europaratsstaaten sollten, wie für Georgien, Moldawien, die Ukraine und Russland exemplarisch untersucht, vor allem an zwei wesentlichen Aspekten anknüpfen: den Funktionen der Organe, die Justizverwaltungsaufgaben wahrnehmen, und ihrer Zusammensetzung bzw. dem dazugehörigen Wahl- und Ernennungsmodus. Wie die Analyse gezeigt hat, sollte jede Reform der Funktionsverteilung und der Zusammensetzung der Richterräte bzw. Qualifikationskollegien, aber auch der Konzeptionalisierung der Funktion der Gerichtspräsidenten und ihres Wahlmodus, stets zwei Maßgaben im Blick behalten: für die notwendige Balance zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit zu sorgen und größtmögliche Transparenz zu gewährleisten. Da die Rechtsprechung des EGMR zu Richterräten iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK mangels ausreichender Gelegenheit noch unterentwickelt ist, haben insbesondere rechtsvergleichende Beobachtungen und Einblicke in die Praxis ergeben, dass die drei Staaten mit vergleichsweise starken Richterräten, die Funktionen der Justizverwaltung auf eine kleine Anzahl verschiedener Organe verteilen sollten, statt immer mehr Funktionen in einem Richterrat zu konzentrieren.430 Die Richterräte sollten dabei auf eine zentrale Funktion, wie etwa die Richterauswahl und -beförderung, beschränkt und dadurch diese Kompetenz von der Disziplinargewalt bis hin zur Entlassung abgetrennt werden, um die Machtkonzentration über den gesamten Verlauf der richterlichen Karriere und ihre Beendigung durch ein und dasselbe Organ zu durchbrechen. Dadurch würde die Notwendigkeit einer Ausbalancierung von Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit adressiert, durch klarere Kompetenzabgrenzungen und Beschränkung von Macht mehr Transparenz erzielt und das öffentliche Vertrauen in die Gerichte und ihre Unabhängigkeit gestärkt. In Staaten ohne vergleichbaren Richterrat, wie Russland und solche östlichen Europaratsstaaten, die lediglich schwache Richterräte aufweisen,431 ist das Transparenzproblem ähnlich virulent und erlaubt hier vor allem der Exekutive, Einfluss auf die

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429 So Nußberger, Judicial Reforms in Post-Soviet Countries – Good Intentions with Flawed Results?, E. 430 So aber jüngst wieder: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Draft Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 97, 108, 122, 123. 431 Siehe Näheres bei Müller, Judicial Administration in Transitional Eastern Countries, B. II.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

Justizverwaltung und damit auf die Richter zu nehmen. Hier sollten zunächst die bereits bestehenden Organe reformiert und gestärkt werden, um ihren praktischen Einfluss zu steigern, der, wie oben gesehen, durch Intransparenz bei dem Prozess ihrer Zusammensetzung und Funktionsweise gemindert wird. Des Weiteren gilt, was für die östlichen Transformationsstaaten mit starken Richterräten gesagt wurde: Auch Staaten ohne vergleichbaren Richterrat oder schwachen Richterräten sollten neue, unabhängige und heterogen besetzte Organe schaffen, die in diesen Staaten Funktionen der Exekutive in der Justizverwaltung übernehmen könnten. Daneben sind – vor allem in den zuletzt genannten Staaten – noch etliche gesetzgeberische Schritte zu gehen, wie etwa das Vetorecht der russischen Gerichtspräsidenten bei Auswahl- und Beförderungsentscheidungen abzuschaffen, das keine informelle Praxis darstellt, sondern in dieser Form im Gesetz vorgesehen ist. Zunehmend deutlich folgt aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK die Forderung, dass in dem spezifischen Kontext der vier betrachteten Staaten, exemplarisch für weitere östliche Europaratsstaaten, eine Eingrenzung der seit Sowjetzeiten umfangreichen Kompetenzen der Gerichtspräsidenten erfolgen muss. Um dieses Erbe, das der Herausbildung einer unabhängigen Justiz in diesen Staaten entgegensteht, zu überwinden, empfiehlt diese Arbeit, ihre Rolle in diesen Staaten nicht auf repräsentative Funktionen sowie die Kontrolle des nicht richterlichen Personals zu beschränken, sondern die Einblicke von Gerichtspräsidenten in die Arbeit der einzelnen Richter dort zu nutzen, wo es notwendig ist, wie etwa bei der Evaluation. Zugleich sollten Mechanismen etabliert werden, um den Missbrauch von Macht durch Gerichtspräsidenten zu verhindern, wie er derzeit in allen vier Staaten, aufgrund von freien Ermessensentscheidungen der Gerichtspräsidenten über das Wohl und Wehe der Richter, allen voran in Russland, beklagt wird und auch den EGMR bereits beschäftigt hat. Auf die Zuständigkeit von Gerichtspräsidenten zur Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter ihres Gerichts, aber auch gegen Richter unterer Instanzen bis hin zur Entlassung, sollte in den östlichen Europaratsstaaten ganz verzichtet werden, da diese repressiven Maßnahmen zu einem zu starken „vorauseilenden Gehorsam“ führen, wie das Urteil „Khrykin gegen Russland“ belegt. Mit der Begrenzung von Macht der Gerichtspräsidenten de jure (vor allem in Russland) und de facto (in allen vier Staaten), sollte außerdem ein dezentraler Auswahlprozess durch Wahl der Gerichtspräsidenten durch die Richter des jeweiligen Gerichts einhergehen. Ein solcher Bestellungmodus würde zwar im Vergleich mit westlichen Europaratsstaaten einen Sonderweg darstellen, erscheint jedoch vor dem Hintergrund der spezifischen Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit durch den Durchgriff der Exekutive auf die Richter in Staaten wie Russland geboten; in Staaten wie Georgien, Moldawien und der Ukraine ist er vorzugswürdig, um die Macht der Richterräte nicht weiter auszudehnen und Dezentralisierung zu fördern. Indem die vier hier untersuchten Staaten die vorgeschlagenen Reformschritte berücksichtigen würden, könnten sie nicht nur einige der dringendsten Probleme in

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der Justizverwaltung auf lange Sicht beseitigen und Reformschritte aus der jüngeren Vergangenheit, wie die Konzentration von Kompetenzen in Richterräten, korrigieren. Sie könnten auch weiter zurückreichende Lasten aus der Sowjetzeit, wie die der mächtigen Gerichtspräsidenten, überwinden, die das Vertrauen in die Gerichte und ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen. Und nicht nur das: Um die durch den EGMR allein in den letzten Jahren gegenüber den östlichen Europaratsstaaten entwickelte Rechtsprechung iRv Art. 6 EMRK umzusetzen, sind sie dazu sogar verpflichtet. Zwar hat sich der EGMR in zunehmender Verurteilung der östlichen Europaratsstaaten wegen Problemen in der Justizverwaltung, mit dem zentralen Akteur Richterrat in dieser Intensität noch nicht befasst, und dort, wo er die Gelegenheit, wie gegen Armenien, hatte, nicht immer mit Problembewusstsein geurteilt. Am Beispiel der Rechtsprechung zu Gerichtspräsidenten in den östlichen Europaratsstaaten ist jedoch zu erkennen, dass der EGMR nicht nur zunehmend mit dieser Problematik befasst ist. Sondern er schlägt auch einen immer deutlicheren Ton an, der oftmals über den Einzelfall hinausgeht, das Problem und den spezifischen Kontext in diesen Staaten ganzheitlich in den Blick nimmt und dabei eine formalistische Argumentation weitgehend aufgibt.432 Diese Rechtsprechung zu Gerichtspräsidenten macht Hoffnung auf eine stärkere Sensibilisierung gegenüber den rechtsvergleichend beobachteten Problemen in den östlichen Europaratsstaaten und ist teilweise bereits in der Lage, für virulente Mängel in der Justizverwaltung, wie z. B. die Macht der Gerichtspräsidenten, Anhaltspunkte, und für den Bereich der Fallzuweisung sogar detaillierte Kriterien zu vermitteln. Es steht daher auch hinsichtlich der Richterräte bzw. Qualifikationskollegien in zukünftiger Rechtsprechung zu hoffen, dass der EGMR seine Rechtsprechung mit Blick auf die hier – unter Zugrundelegung rechtsvergleichender Beobachtungen und der Praxis in diesen Staaten – aufgezeigten Probleme weiterentwickeln und solche Beschwerden nicht als „manifestly illfounded“ abtun wird.433 Dabei wäre es nach dem hiesigen Ergebnis wichtig, bei zukünftigen Beschwerden auch die Machtakkumulation in den starken Richterräten zu bedenken, die über die Funktionsakkumulation entsteht und ebenfalls negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Richter haben kann. Da die Beschwerden aus den östlichen Europaratsstaaten unter Berufung auf die mangelnde richterliche Unabhängigkeit weiter zunehmen werden, werden sich dem EGMR viele Gelegenheiten bieten, den jüngst eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Dabei ist zu hoffen, dass er nicht nur die offensichtlichen Probleme wie etwa in „Sovtransavko gegen Ukraine“ oder „Agrokompleks gegen Ukraine“ als Verletzung von Art. 6

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432 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 91 f.; EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 36 ff.; EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, Rn. 137 f. EGMR, Moiseyev gegen Russland; EGMR, Sutyagin gegen Russland; EGMR, Daktaras gegen Litauen; EGMR, Hirschhorn gegen Rumänien; EGMR, Švarc und Kavnik gegen Slowenien, Rn. 39 ff.; siehe auch B. I. 2. b), 3. e). 433 So aber EGMR, Iovchev gegen Bulgarien, S. 25 f.; EGMR, Galstyan gegen Armenien, Rn. 63.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

Abs. 1 EMRK aburteilen, sondern die weniger augenfälligen Strukturprobleme im Zusammenhang mit Richterräten ansprechen wird, die das Recht des Individuums auf einen unabhängigen Richter in den östlichen Europaratsstaaten beeinträchtigen. Darin liegt zugleich eine Chance für den EGMR, sich zu einzelnen Aspekten der Garantie eines unabhängigen Gerichts stärker zu positionieren, und mit Blick auf allgemeine staatliche Gerichte und nicht überwiegend spezielle Disziplinar- und Verwaltungsspruchkörper, wie jahrzehntelang zu westlichen Europaratsstaaten, eine akzentuierte Rechtsprechung zu entwickeln, bei der die in dieser Doktorarbeit herausgearbeiteten Probleme und Lösungsansätze einfließen könnten.

2. Independence vs. Accountability am Beispiel von Evaluationen und Disziplinarverfahren Da die richterliche Unabhängigkeit den Richtern nicht um ihrer selbst willen, sondern vor dem Hintergrund des Rechts des Individuums auf effektiven Rechtsschutz in einem fairen Verfahren iSv Art. 6 EMRK gewährt wird, reicht die Konzentration auf eine maximale Sicherung richterlicher Unabhängigkeit alleine nicht aus, wie sie in den östlichen Europaratsstaaten lange Zeit Schwerpunkt der Reformen war. Mechanismen der richterlichen Verantwortlichkeit, die gewährleisten, dass Richter ihre Entscheidung alleine auf der Grundlage des Gesetzes treffen und die Justiz effizient arbeitet,434 spielten lange keine Rolle. In den zentralosteuropäischen Staaten, wie z. B. Rumänien oder Ungarn, brachte dies eine zu autonome Justiz hervor, die in den letzten Jahren verstärkt Probleme im Hinblick auf eine stabile, effiziente und verantwortliche Gerichtsbarkeit aufweist.435 Die vier hier im Mittelpunkt stehenden Staaten, deren Reformen ebenfalls lange alleine auf die Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz abzielten, während die andere Seite der Medaille, die Stärkung der Verantwortlichkeit, zunächst keinen Raum einnahm,436 teilen sicherlich nicht die Probleme einer zu autonomen Justiz. An der russischen Entwicklung lässt sich aber exemplarisch nachzeichnen, dass die verspätete Einsicht, dass richterliche Verantwortlichkeit gleichermaßen relevant ist für eine rechtsstaatliche Justiz, zu radikalen Forderungen führen kann: Bis zu den Putin’schen Reformen Anfang der 2000er Jahre kannte Russland mit Ausnahme der ultimativen Ent-

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434 Seibert-Fohr, Judicial Independence – The Normativity of an Evolving Transnational Principle, III. 1., III. 3. 435 Parau, The Drive for Judicial Supremacy, C.; Commission of the European Communities, Report from the Commission to the European Parliament and the Council: On Progress in Romania under the Co-operation and Verification Mechanism, S. 1, 4, 5; Commission of the European Communities, Report from the Commission to the European Parliament and the Council: On Progress in Romania under the Co-operation and Verification Mechanism, Technical Update, S. 7, 8; Fleck, Judicial Independence in Hungary, F.; Seibert-Fohr, Judicial Independence – The Normativity of an Evolving Transnational Principle, III. 1. 436 Zu den Justizreformen unter Gorbatschow und Jelzin: Solomon, Courts in Russia: Independence, Power, and Accountability, S. 232 ff.

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lassung keinerlei disziplinarische Verantwortung von Richtern437 und beinahe umfassende richterliche Immunität. Vor dem Hintergrund von Korruption und willkürlichen Entscheidungen, die der Schaffung eines investitionsfreudigeren Klimas abträglich waren,438 wurden verspätet Mechanismen der richterlichen Verantwortlichkeit eingeführt. Es hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass nicht nur eine unabhängige Justiz, sondern auch eine Justiz, die verantwortungsbewusst arbeitet, notwendig ist, um in der Öffentlichkeit, einschließlich den ausländischen Unternehmern, Vertrauen hervorzurufen.439 Neben der notwendigen Schaffung von Disziplinarverfahren und der Relativierung der Immunität, wurde aber auch die Abschaffung der stabilen Amtszeit bis zum Ruhestand gefordert – auf Druck seitens der Richtergemeinschaft jedoch begrüßenswerter Weise nicht umgesetzt.440 Diese Forderung belegt, dass ein falsches Verständnis richterlicher Verantwortlichkeit als Kontrolle über die Richter, dazu geeignet ist, die richterliche Unabhängigkeit zu schwächen und zu gefährden. So fehlt es bis heute nicht nur in Russland, sondern auch in anderen östlichen Europaratsstaaten an einer Balance der nachträglich geschaffenen Mechanismen zur Herstellung richterlicher Verantwortlichkeit mit der richterlichen Unabhängigkeit, wie anhand verschiedener Einzelprobleme aufgezeigt werden soll. Zu wenig bedacht wurde bisher die Notwendigkeit einer Ausbalancierung. Zu stark werden die neu geschaffenen Mechanismen von dem alten sowjetischen Verständnis von Verantwortlichkeit unterwandert – als einer solchen gegenüber politischen Autoritäten als kommunistischem Erbe441 sowie einer in den Worten Solomons „bureaucratic accountability“ als internem Abhängigkeitsverhältnis

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437 Solomon, Putin’s Judicial Reform: Making Judges Accountable as well as Independent, S. 118. 438 Daneben war die Macht der Gerichte in den 1990ern durch neue Aufgabengebiete stark angewachsen und führte zu einem Ruf nach größerer Verantwortlichkeit der Richter. Siehe Näheres bei Solomon, Courts in Russia: Independence, Power, and Accountability, S. 235 ff. 439 Solomon, Authoritarian legality and informal practices: Judges, lawyers and the state in Russia and China, S. 353, der die Justizreformen unter Putin auf wirtschaftliche Gründe zurückführt, während er die Jelzin’schen Reformen in den 1990er Jahren vor dem Hintergrund des Demokratisierungsprozesses sieht. Siehe weiterführend zu dem Zusammenhang zwischen einer unabhängigen und verantwortlichen Justiz und Wirtschaftswachstum: Dam, The LawGrowth-Nexus, The Rule of Law and Economic Development, 2006, S. 93 ff. Daneben wurden weitere Maßnahmen zur Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit insbesondere durch die finanzielle Stärkung der materiell maroden und in die Abhängigkeit von Regionalregierungen sowie privaten Sponsoren geratenen Gerichte ergriffen: Solomon, Courts in Russia: Independence, Power, and Accountability, S. 225, 235 ff.; Solomon, Informal Practices in Russian Justice: Probing the Limits of Post-Soviet Reform, S. 79; Solomon, Assessing the Courts in Russia: Parameters of Progress under Putin, S. 66. 440 Seibert-Fohr, Judicial Independence – The Normativity of an Evolving Transnational Principle, III. 1. 441 Piana, Judicial Accountabilities in New Europe – From Rule of Law to Quality of Justice, S. 70 f.

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zu Gerichtspräsidenten und Richtern höherer Instanzen.442 Hinzutritt die Gefahr, dass durch die Reformbedürftigkeit in vielen Bereichen der öffentlichen Hoheitsgewalt, neue Wege, um Richter zu Verantwortung zu ziehen, dazu missbraucht werden, auf weniger anpassungsfähige Richter Einfluss zu nehmen und notfalls ihre Entlassung aus dem Dienst zu erwirken.443 Daher geht es in der nachfolgenden Erörterung nicht um die erstmalige Verwurzelung des Prinzips richterlicher Verantwortlichkeit in den östlichen Europaratsstaaten, sondern um eine Neuausrichtung und das Aufgeben einer missverstandenen Verantwortlichkeit von Richtern. Der Begriff der Verantwortlichkeit („accountability“) umfasst dabei eine Vielzahl verschiedener Formen, die in der Literatur unterschiedlich klassifiziert werden.444 Nachfolgend bilden die repressiven Formen der Verantwortlichkeit (mit Ausnahme der Aufhebung der Immunität) den Schwerpunkt der Betrachtung, da Disziplinarverfahren und Evaluationen in den vier Staaten verhältnismäßig häufig herangezogene, repressive Maßnahmen darstellen. Sie weisen zudem nach wie vor einen dringenden rechtlichen Reformbedarf auf, um nicht in willkürlicher Weise dazu eingesetzt zu werden, Richter von vorneherein loyal zu halten und für unabhängiges Verhalten zu sanktionieren. Letzteres wird in den vier Staaten bereits durch die rechtliche Ausgangslage ermöglicht und legitimiert.445 Daneben gibt es

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442 Solomon, The Accountability of Judges in Post Communist States: From Bureaucratic to Professional Accountability, A., B. 443 Zu diesen Bedenken bei verschiedenen Richtern der oberen Instanzen gegen die Putin’schen Reformen 2002 mit vielen Nachweisen: Solomon, Putin’s Judicial Reform: Making Judges Accountable as well as Independent, S. 121. 444 Die im vorangegangenen Abschnitt u. a. diskutierte Frage der Verantwortlichkeit des Richterrats bzw. Qualifikationskollegiums, bezeichnet Piana als „institutional accountability“. In diesem Kapitel soll es um diese Balance iBa die Richter selbst gehen. Zu den verschiedenen Begrifflichkeiten und Unterscheidungen der „accountability“ mit Blick auf die Justiz, insb. im politikwissenschaftlichen Diskurs, vgl. Piana, Judicial Accountabilities in New Europe – From Rule of Law to Quality of Justice, S. 29 ff.; Trebilcock/Daniels, Rule of Law Reform and Development – Charting the Fragile Path of Progress, S. 63 ff. 445 Die Aufhebung der Immunität ist hingegen weitestgehend im Einklang mit dem Soft Law des Europarats: Alle vier Staaten sehen als Grundsatz richterliche Immunität vor und in ihren Richterstatusgesetzen und/oder Strafgesetzbüchern Einschränkungen. Dass auch die Immunität in den vier Staaten jedoch grundsätzlich ein Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit bleibt, zeigt die gespaltene Meinung in einigen der postsowjetischen Europaratsstaaten: Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VIII.; ABA Rule of Law Initiative, Judicial Reform Index for Moldova, S. 49 f.; Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. VIII. Auch die jüngste Einführung von Regressmöglichkeiten des Staates bei den Richtern wegen Verstoßes gegen das Gebot, ein Verfahren in angemessener Zeit abzuhalten (so in Russland: Bundesgesetz über die Kompensation für eine Verletzung des Rechts auf ein Verfahren in angemessener Frist oder der Umsetzung einer gerichtlichen Handlung in angemessener Frist, 30.04.2010, Art. 1 Abs. 6, als Folge von EGMR, Burdov gegen Russland (Nr. 2), 15.01.2009, No. 33509/04), oder wenn ein nationales Urteil zu einer Verurteilung durch den EGMR führt (so in Moldawien: Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VIII., und Georgien (wegen entspr. Rechtsprechung des georg. Obersten Gerichts wird dies in Georgien jedoch nicht angewandt: Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. VIII.)) zeigen das Spannungsverhältnis auf.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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proaktive Mechanismen, um Richter zu einem verantwortlichen Handeln anzuregen. Sie funktionieren über Anreize und greifen daher weniger stark in die Unabhängigkeit ein.446 Unter letztere lassen sich verschiedene Forderungen fassen, die eine Verantwortlichkeit gegenüber der Öffentlichkeit und eine „professional accountability“ gegenüber den anderen Richtern bzw. der Juristenschaft im weiteren Sinne herstellen sollen:447 der Zugang der Öffentlichkeit zu Verfahren, die Kooperation mit den Medien, etwa durch die Einrichtung von Pressesprechern, Begründungspflichten für Urteile sowie deren flächendeckende Publikation mit Namen der Richter. Es handelt sich also um Mittel, die Richter von vorneherein durch Transparenz und Offenlegung zu einer unabhängigen Entscheidung veranlassen und willkürliche Urteile vermeiden helfen sollen, da sie einer stärkeren Kontrolle durch Öffentlichkeit und Kollegen ausgesetzt sind. Diese Mechanismen scheitern in den östlichen Europaratsstaaten vor allem an faktischen Problemen,448 während die Rechtslage der Forderung weitestgehend entspricht.449

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446 USAID Office for Democracy and Governance, Guidance for Promoting Judicial Independence and Impartiality – Revised Edition: Hammergren, Linn, Judicial Independence and Judicial Accountability: The Shifting Balance in Reform Goals, 2002, (zuletzt besucht am 19.03.2012), S. 150. 447 Solomon, The Accountability of Judges in Post Communist States: From Bureaucratic to Professional Accountability, A., D.; Piana, Judicial Accountabilities in New Europe – From Rule of Law to Quality of Justice, S. 29 ff. 448 Solomon, Threats of Judicial Counterreform in Putin’s Russia, S. 236, der Beispiele für die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen im Internet nennt, die allerdings nur gegen Entrichtung einer Gebühr zugänglich sind. Eine Ausweitung der Publikation von Urteilen wird auch in Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, F. empfohlen; sie scheint daher noch nicht abgeschlossen. Seit Juli 2010 gibt es jedoch ein neues Webportal („Provosudie“), das alle Gerichtsentscheidungen veröffentlichen soll (www. sudrf.ru/index.php?id=206) (zuletzt besucht am 16.03.2012), vgl. Henderson, Tenure and Discipline Developments in Russia, S. 9. In Moldawien gibt es ein „Integrated Case Managment System“, in dem Gerichtsentscheidungen publiziert werden sollen. Allerdings funktioniert das System laut Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VII. 1. noch nicht vollständig. Zur Mangelhaftigkeit in der Ukraine: Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, F. 449 Für vielfältige Reformvorschläge zu neuen proaktiven Formen der Verantwortlichkeit: Solomon, The Accountability of Judges in Post Communist States: From Bureaucratic to Professional Accountability, D. Alle vier Staaten sehen den Zugang der Öffentlichkeit als Grundsatz einschließlich mit der EMRK konformer Ausschlussgründe vor; in der Praxis wird jedoch immer wieder die mangelnde praktische Gewährleistung beklagt: Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, A.; Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, F.; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, C. II. 4. In Georgien scheint dies weniger ein Problem zu sein: Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, C. II. 4. Auch die Begründung von Urteilen ist vor allem ein Problem der praktischen Befolgung: Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, C. II. 3.; EGMR, Sarban gegen Moldawien, No. 3456/05, Rn. 101 ff.; EGMR, Becciev gegen Moldawien, No. 9190/03, Rn. 62 ff.; EGMR, Muşuc gegen Moldawien, No. 42440/06, Rn. 43 f.; EGMR, Pronina gegen Ukraine, No. 63566/00, Rn. 25.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

Richterliche Verantwortlichkeit kann daher einerseits ein unbegrenztes Maß an Unabhängigkeit relativieren, ergänzt sie andererseits auch und sichert sie ab: Mittels der repressiven Maßnahmen der Evaluation, Disziplinarverfahren oder in extremen Fällen der Aufhebung der Immunität, soll sichergestellt werden, dass Richter im Sinne des Individualrechts auf effektiven Rechtsschutz ihre Macht nicht missbrauchen, korrumpierbar sind oder exzessiv lange Verfahren führen, indem ein solches geahndet wird; durch proaktive Mittel soll dafür gesorgt werden, dass richterliche Entscheidungen von vorne herein sowohl unabhängig, als auch verantwortlich gefällt werden; und schließlich soll durch die sachliche Verantwortlichkeit durch Rechtsmittelinstanzen („decisional“450 oder „substantive accountability“451) gewährleistet werden, dass die Entscheidungen auf der Basis geltenden Rechts getroffen werden. Die Relativierung der Unabhängigkeit durch Verantwortlichkeit dient daher gerade dem übergeordneten Ziel einer Justiz, die im Sinne des Rechts des Individuums auf effektiven Rechtsschutz agiert, und damit einhergehend der Stabilität und dem Vertrauen in die Gerichte.452 Dies setzt allerdings eine ständige Ausbalancierung mit der richterlichen Unabhängigkeit voraus – eine gerade für werdende Rechtsstaaten große Herausforderung.453 a) Evaluationen Evaluationen von Richtern werden in den Staaten, die, wie die vier Staaten der hiesigen Betrachtung, eine Karrierejustiz vorsehen, eingesetzt, um nach der Proberichterzeit über die permanente Ernennung bis zu einem gesetzlichen Ruhestandsalter sowie über Beförderungen zu entscheiden – sei es zu einem höheren Gericht, sei es zur Position des Gerichtspräsidenten oder zu einer höheren Stufe der in Osteuropa typischen sog. Qualifikationsgrade oder Qualifikationsklassen, die Auswirkung auf das Einkommen der Richter haben. Proberichterzeiten mit entsprechender an-

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450 So Trebilcock/Daniels, Rule of Law Reform and Development – Charting the Fragile Path of Progress, S. 64. 451 So Seibert-Fohr, Judicial Independence – The Normativity of an Evolving Transnational Principle, III. 2. 452 Voigt, The Economic Effects of Judicial Accountability – Some Preliminary Insights, Discussion Papers in Economics from University of Kassel, Institute of Economics Nr. 72/05, 2005, abrufbar unter (zuletzt besucht am 16.03.2012), S. 3 ff.; USAID Office for Democracy and Governance, Guidance for Promoting Judicial Independence and Impartiality – Revised Edition: Hammergren, Linn, Judicial Independence and Judicial Accountability: The Shifting Balance in Reform Goals, S. 150; Jackson, Judicial Independence: Structure, Context, Attitude, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 19 ff., II.; Solomon, The Accountability of Judges in Post Communist States: From Bureaucratic to Professional Accountability, F. 453 So auch Seibert-Fohr, Judicial Independence – The Normativity of an Evolving Transnational Principle, III. 1. Siehe für diese Diskussion und Möglichkeiten der Ausbalancierung in den westeuropäischen Staaten: Di Federico (Hrsg.), Recruitment, Professional Evaluation and Career of Judges and Prosecutors in Europe – Austria, France, Germany, Italy, The Netherlands and Spain, 2005.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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schließender Evaluation sehen Moldawien454 und die Ukraine vor.455 Russland hat die Proberichterzeit 2009 abgeschafft,456 weshalb eine Evaluation für die Entscheidung über eine permanente Ernennung für den Großteil der Richter nicht mehr vorgesehen ist.457 In Georgien gilt noch die zehnjährige Amtszeit ohne Evaluation im klassischen Sinne,458 wenngleich die Bewertung der vorangegangenen Amtszeit (etwa in Form von statistischen Daten) Eingang in den Auswahlwettbewerb um eine neuerliche Ernennung findet.459 Ab 2013 werden jedoch bereits angenommene Verfassungsänderungen in Kraft treten, die die unbefristete Ernennung von Richtern nach einer anfänglichen, maximal dreijährigen Probezeit vorsehen.460 Für eine mögliche Beförderung messen alle vier Staaten Evaluationen eine wesentliche Bedeutung bei: In Moldawien ist ein durch den Gerichtspräsidenten angefertigtes Empfehlungsschreiben samt Beurteilung der Arbeitsweise notwendige Voraussetzung, um zu der für die Beförderung entscheidenden Theorieprüfung zugelassen zu werden.461 In Georgien fließt die Arbeitsweise des jeweiligen Richters, insbesondere in Form statistischer Daten, in den Wettbewerb um die höhere Posi-

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454 Die Beurteilung des Richters während der Probezeit durch den Gerichtspräsidenten samt einer Empfehlung ist Voraussetzung, um zu der Theorieprüfung zugelassen zu werden, die noch einmal für die Lebenszeiternennung durchgeführt wird. Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. III. 1. 455 In der Ukraine soll die Hohe Qualifikationskommission, die der Wahl des Richters zu einer Lebenszeitposition durch das Parlament vorgeschaltet ist, explizit die Erledigungszahlen des Proberichters in ihre Empfehlungsentscheidung einbeziehen: Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 74 Abs. 3 3); nach dem Entwurf für eine nochmalige Abänderung der ukrainischen Rechtslage soll zudem berücksichtigt werden, ob der Richter (während seiner Proberichterzeit) disziplinarisch oder anderweitig haften musste: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 73 Abs. 3 2). 456 Bundesgesetz über die Änderung in den Art. 6 und 11 des Bundesgesetzes über den Status von Richtern in der Russischen Föderation und in Art. 17 und 19 des Bundesgesetzes über die Organe der Richtergemeinschaft der Russischen Föderation, 17.07.2009; vgl. zu der geltenden Regelung: Russ. Richterstatusgesetz, Art. 11 Abs. 1. 457 Eine Ausnahme bilden aber die „Friedensrichter“, die auf Ebene der Subjekte existieren und nach einer anfänglichen Amtszeit von maximal fünf Jahren in kurzen Zeitintervallen vom Parlament des jeweiligen Subjekts wiedergewählt werden müssen. Eingang in den Entscheidungsprozess um die Wiederwahl findet die Evaluation durch den jeweiligen Gerichtspräsidenten: Russ. Richterstatusgesetz, Art. 11 Abs. 3; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. II. 3. 458 Verfassung Georgiens, Art. 86 Abs. 2; Georg. Organgesetz, Art. 49 Abs. 1. Eine zwischenzeitlich eingeführte Proberichterzeit war durch das georgische Verfassungsgericht unter Verweis darauf, dass es bei einer Amtszeit von zehn Jahren keine Proberichterzeit geben könne, für unvereinbar mit der Verfassung erklärt worden. Vgl. Chanturia, Die Europäisierung des georgischen Rechts – bloßer Wunsch oder große Herausforderung?, S. 170. 459 Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. II. 3. 460 (Geänderte) Verfassung Georgiens, Art. 86 Abs. 2; vgl. auch Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission), Draft Constitutional Law on the Changes and Amendments to the Constitution of Georgia, Rn. 36. 461 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. III. 2. iVm III. 1.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

tion ein.462 In der Ukraine und Russland ist die Evaluation durch den eigenen Gerichtspräsidenten und teilweise durch die Gerichtspräsidenten höherer Instanzen ebenfalls Voraussetzung für eine Beförderung. Die Verleihung einer höheren Qualifikationsklasse mit Auswirkung auf das Einkommen hängt in Russland explizit von der Evaluation des Gerichtspräsidenten ab.463 In Moldawien bilden Evaluationen die Vorstufe der Qualifikationsprüfung, die für die Verleihung eines höheren Qualifikationsgrades notwendig ist; zusätzlich wird grundsätzlich alle drei Jahre die Einstufung bezüglich des Qualifikationsgrades durch Evaluationen überprüft.464 Evaluationen sind daher zweckmäßig als Maßstab für Beförderungen sowie Mittel und Anreiz, um eine verantwortungsbewusste und effiziente Funktionswahrzunehmung zu gewährleisten. Dies haben auch der EGMR in einem Urteil von 2009 sowie das Ministerkomitee in seiner jüngsten Empfehlung aus dem November 2010 bestätigt.465 Gleichzeitig ist zu gewährleisten, dass Evaluationen nicht die unabhängige Entscheidungsfindung von Richtern gefährden, indem Richter aufgrund der Bedeutung von Evaluationen für ihre Karriere dazu veranlasst werden, ihrer Entscheidung andere Parameter als die alleinige Ausrichtung am Gesetz zugrunde zu legen. Dies muss nicht immer in Form eines aktiven Einwirkens auf die Richter geschehen, sondern Experten aus Russland beobachten, dass Richter alleine aufgrund der Aussicht auf eine positive oder negative Beurteilung und des Wissens um die teils so sogar normierten, teils rein informell maßgeblichen Kriterien, von vorneherein das Urteil in bestimmter antizipierter Weise treffen.466 Gegenüber der Ukraine hat der EGMR bereits 2005 den Zusammenhang zwischen gesetzlich nicht geregelten Evaluationskriterien und Abhängigkeiten von der nächsthöheren Instanz festgestellt und verurteilt.467 aa) Institutionell Die in dem Kapitel über Justizverwaltung analysierte spezifische Problematik der mächtigen Stellung der Gerichtspräsidenten als fortwährendes Erbe aus Sowjetzeiten in den postsowjetischen Europaratsstaaten zeigt sich auch bei Evaluationen von Richtern: In drei der vier Staaten sind die Gerichtspräsidenten für Evaluationen

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Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. III. 2. In diese fließt u. a. die „Stabilität“ der Urteile ein: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. IV. 1. Siehe aber im Vergleich die positive Fixierung objektiver Gründe für Bonuszahlungen in der Ukraine seit der Justizreform 2010: Gesetz über den Gerichtsaufbau und den Status von Richtern, 07.07.2010 (zuletzt geändert am 05.04. 2011), Art. 129 Abs. 2. 464 Daneben ist eine Evaluation in noch kürzeren Intervallen, nicht jedoch öfter als einmal pro Jahr, möglich: Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. III. 1. 465 Zur Rechtsprechung des EGMR zu Evaluationen: B. I. 3. i); Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 42, 58; B. II. 1. b). 466 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, C. II. 1. 467 EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 ff. Leider stellte der EGMR jedoch dogmatisch fragwürdig eine Verletzung der Unparteilichkeit anstelle der Unabhängigkeit fest, obwohl das Fehlen einer unabhängigen Entscheidungsfindung spätestens in Rn. 85 a. E. deutlich wird. 462 463

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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zuständig und haben darüber weitreichenden Einfluss. Regelmäßig wird zwar die anschließende Entscheidung über die Übernahme in ein permanentes Dienstverhältnis oder die Beförderung durch ein weiteres Organ getroffen: In Moldawien schlagen die Qualifikationsgremien auf Basis der Evaluationen durch die Gerichtspräsidenten die Personalie dem Richterrat vor, der sie im Falle seiner Zustimmung an den Staatspräsidenten oder das Parlament weiterreicht. In der Ukraine trifft die Hohe Qualifikationskommission im Anschluss an eine Evaluation selbst die Entscheidung, wenn die Beförderung in der Verleihung eines Qualifikationsgrades besteht, oder richtet eine Empfehlung an das Parlament, wenn es um die permanente Übernahme oder Beförderung zu einem höheren Gericht geht, oder an den Hohen Justizrat, wenn über die Beförderung zum Gerichtspräsidenten zu entscheiden ist. In Russland unterbreiten, wie bei der erstmaligen Ernennung, so auch bei der Beförderung, die Qualifikationskollegien einen Vorschlag, den der Gerichtspräsident mit der Vakanz annehmen und an die Präsidialverwaltung und den Präsidenten weiterreichen, oder zurückweisen kann. Im Falle der Beförderung zum Gerichtspräsidenten stellen die Gerichtspräsidenten der höheren Gerichte die Verbindung zwischen Qualifikationskollegien und dem Präsidenten des Obersten Gerichts dar, bevor abschließend der Staatspräsident entscheidet.468 Trotz der somit im Anschluss an eine Evaluation beteiligten Organe bildet die Evaluation durch den Gerichtspräsidenten in allen Fällen die Grundlage für die Übernahme- bzw. Beförderungsentscheidung. Einzig in Georgien ist ausschließlich der Richterrat verantwortlich für die Ernennung und Beförderung und die durchzuführenden Auswahlwettbewerbe. Im Zuge derselben spielt jedoch die Wahrnehmung der richterlichen Pflichten in den vorangegangenen Jahren ebenfalls eine Rolle.469 Der EGMR hält die Kompetenz von Gerichtspräsidenten zur Evaluation von Richtern zwar grundsätzlich für unproblematisch im Lichte von Art. 6 Abs. 1 EMRK, jedoch nur soweit diese Kompetenz nicht mit einem uneingeschränkten Ermessen verbunden ist. So muss entweder ein Rechtsmittel gegen die Evaluationsentscheidung des Gerichtspräsidenten offen stehen oder es müssen weitere Organe an der Entscheidung beteiligt sein, damit die Evaluationsgewalt der Gerichtspräsidenten mit der internen Unabhängigkeit vereinbar ist.470 In den aufgezeigten Konstellationen ist es stets so, dass die für die richterliche Karriere relevanten Entscheidungen im Rahmen eines Prozesses getroffen werden, der verschiedene Organe einschließt und für den die Evaluation durch den Gerichtspräsidenten nur den ersten Schritt darstellt. Allerdings ist fraglich, ob der EGMR mit seiner bisherigen Rechtsprechung zu Evaluationen, die sich erst auf wenige Urteile stützen kann und daher erst noch im Entstehen begriffen ist, Evaluationen durch Gerichtspräsidenten das Gewicht beimisst, das diese für den späteren arbeitsteiligen Prozess haben, ein-

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Siehe für Nachweise für diese Zuständigkeiten oben C. II. 1. a) aa) (1) (a) und (2). Dies wird anhand der Evaulationskriterien deutlich. Dazu sogleich: bb). EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 92 f. und oben B. I. 3. i).

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

schließlich der mit diesem Gewicht in den östlichen Europaratsstaaten verbundenen Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit. Obwohl nämlich in allen vier Staaten die Richterräte bzw. Qualifikationskollegien eine Rolle im späteren Entscheidungsprozess spielen, beobachten Expertinnen und Experten, dass zumindest in Russland und der Ukraine die vornean gestellte Evaluation durch die Gerichtspräsidenten zu starken Abhängigkeiten, Loyalitäten und der Notwendigkeit der Protektion durch den eigenen oder den Präsidenten der nächsthöheren Instanz, führt. Das Ermessen, das Gerichtspräsidenten bei der Evaluation hätten, sei zu groß, um interne Abhängigkeiten zu vermeiden und gefährde daher die sachliche Unabhängigkeit. Hinzutritt, dass, wie in Russland, den Einschätzungen des Gerichtspräsidenten aufgrund der Nähe zu dem einzelnen Richter oft viel Glaubwürdigkeit zugestanden und Bedeutung beigemessen werde.471 Auch die PV des Europarats bestätigt in ihrer Entschließung von 2009, dass die Evaluation von Richtern in Russland, aber auch in den Staaten des Kaukasus, Moldawien und der Ukraine als Methode verwandt würde, um Druck auf die Richter auszuüben.472 Bedenkt man, dass der EGMR bislang nur in zwei Fällen Gelegenheit hatte, sich zu Evaluationen zu äußern (wenngleich bemerkenswerter Weise beide Male gegenüber östlichen Europaratsstaaten),473 so ist davon auszugehen oder wäre jedenfalls wünschenswert, wenn sich seine Rechtsprechung, wie auch in anderen Bereichen, mit der wachsenden Zahl von Beschwerden aus Osteuropa fortentwickeln würde, um diesen von Experten und dem Europarat geschilderten Gefahren zu begegnen. Um einen Zustand herzustellen, der die in der Praxis festgestellten Probleme adressiert und dadurch zugleich das Risiko reduziert, bei fortschreitender Rechtsprechung des EGMR möglicherweise verurteilt zu werden, wäre beispielsweise denkbar, die Evaluation der Richter in den hier analysierten Staaten auf eine Kommission zu übertragen. Diese könnte den jeweiligen Gerichtspräsidenten einschließen, ihm jedoch zugleich weitere Mitglieder beiordnen, um eine objektive Entscheidung in gegenseitiger Kontrolle zu ermöglichen und das Ermessen einzuschränken.474 Dem wird man wieder entgegen halten können, dass auch in westli-

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471 Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. III. 2.; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. III. 2. 472 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states, 4. 3. 6.; Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Explanatory Memorandum, Rn. 64. 473 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien; EGMR, Salov gegen Ukraine. 474 So auch Kyiv Recommendations, Rn. 30. Letztere haben ein mehrheitlich aus Richtern (auch desselben Gerichts) bestehendes Gremium vor Augen; Anwälte ebenso wie Professoren sollten eher als externe Beobachter ihre Meinung einfließen lassen. Hier wird vertreten, Richter anderer Gerichte derselben Ebene zu bevorzugen, da die Kollegen aufgrund des alltäglichen Arbeitsumgangs möglicherweise nicht über die nötige Distanz verfügen. Diese weiteren Mitglieder könnten sich einen unmittelbaren Eindruck von der Arbeitsleistung des Richters z. B. durch Verhandlungsbesuche, zufällig ausgewählte Urteile oder Interviews machen, wie

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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chen Europaratsstaaten Gerichtspräsidenten die Richter ihres Gerichts evaluieren.475 Der spezifische Kontext der althergebrachten Macht der Gerichtspräsidenten seit Sowjetzeiten und der erst im Entstehen begriffenen Rechtstaatlichkeit erfordert jedoch eine Durchbrechung dieser Macht, um eine unabhängige Justiz überhaupt zu ermöglichen, für Richter den Anreiz zu nehmen, einer bestimmten Person gegenüber besonders loyal handeln zu „müssen“ und es für Gerichtspräsidenten schwieriger zu gestalten, das grundsätzlich wichtige Instrument der Evaluation zweckfremd zu gebrauchen.476 bb) Kriterien Hinzutreten zu einer neuen institutionellen Umgestaltung durch Einbettung des Gerichtspräsidenten in ein heterogenes Gremium in den postsowjetischen Europaratsstaaten sollte die Erneuerung bestehender bzw. die teilweise erstmalige Normierung klarer, transparenter Evaluationskriterien. Die Notwendigkeit vorher veröffentlichter, objektiver Evaluationskriterien für die richterliche Unabhängigkeit hat der EGMR implizit,477 das Ministerkomitee des Europarats in seiner Empfehlung zu der Unabhängigkeit von Richtern von 2010 explizit betont.478 Beide haben außerdem die Anknüpfung der Evaluationen von Richtern an der „Stabilität“ ihrer richterlichen Entscheidungen verurteilt: Der EGMR merkte in „Salov gegen Ukraine“ bereits 2005 kritisch an, dass statt klarer gesetzlicher Kriterien und Verfahrensabläufe für Beförderungen und Bewertungen von Richtern, in der Praxis u. a. die Anzahl der aufgehobenen Entscheidungen maßgeblich sei. Unter anderem wegen des unzureichenden gesetzgeberischen Schutzes der Richter vor Druck von außen, insbesondere durch Gerichtspräsidenten der übergeordneten Instanz, stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Ukraine fest.479 Auch das Mi-

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sie etwa in Deutschland (Besuch von Verhandlungen) oder Frankreich (persönliches Interview mit dem Richter) zum Zwecke der Evaluation durchgeführt werden: Siehe hierzu die Staatenberichte in Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, und den Überblick zu Westeuropa in demselben Band bei Solomon, The Accountability of Judges in Post Communist States: From Bureaucratic to Professional Accountability, C. 475 Siehe etwa zu Deutschland: Seibert-Fohr, Judicial Independence in Germany, B. III. 2. 476 EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83. 477 Id., Rn. 83. 478 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 58; und oben B. II. 1. b).Während Letzteres eine Veröffentlichung durch die „competent judicial authority“ offenbar ausreichen lässt, ist eine Niederlegung der Kriterien in einem ordentlichen Gesetz vorzugswürdig, um diese Kriterien so abstrakt-generell wie möglich zu gestalten. 479 EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 ff. Vgl. aber auch EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 30, in dem der EGMR wenige Jahre später (2009) bedauerlicherweise die Gelegenheit zur Bekräftigung seines Standpunkts nicht ergriff, obwohl er mögliche interne Abhängigkeiten aufgrund der Macht von Gerichtspräsidenten behandelte, dabei einige grundlegende Gedanken zu der Evaluation von Richtern äußerte und Kroatien, wie viele der östlichen Europaratsstaaten, die Aufhebung in höherer Instanz unter anderen Kriterien für die Evaluation gesetzlich vorgesehen hatte. Allerdings stellte die Kompetenz zur Evaluation in der Entscheidung auch nur einen Nebenaspekt dar.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

nisterkomitee hat dies 2010 aufgegriffen und empfohlen, dass Richter nicht persönlich haftbar gemacht werden sollten, weil ihre Entscheidungen in höherer Instanz aufgehoben oder abgeändert würden,480 dies könne nicht, so auch die PV, Parameter im Rahmen von richterlichen Evaluationen sein.481 Trotz dieser klaren Vorgaben durch EGMR und Europarat, stellen die mangelnde gesetzliche Regulierung der Evaluationskriterien, ihre Unschärfe und ihr Ansatzpunkt in den analysierten östlichen Europaratsstaaten – mit Ausnahme Georgiens – nach wie vor eine Gefahr für die Unabhängigkeit der Richter dar. In Moldawien und der Ukraine sind die Kriterien, die bei einer Evaluation maßgeblich sind, gesetzlich überhaupt nicht oder kaum normiert. Dies eröffnet den Raum für eine vollkommen freie Ermessensentscheidung des Gerichtspräsidenten, wenngleich in Moldawien zumindest ein Konsens darüber zu bestehen scheint, welche ungeschriebenen Parameter der Evaluation zugrunde zu legen sind. Dem Richterrat zufolge gibt es „offizielle Kriterien“, zu denen die Beendigung von Strafverfahren in angemessener Zeit, die Qualität des Verfahrens, die Verringerung des Rückstands an Fällen, das zügige Verfassen von Urteilen, das Nichtvorliegen begründeter Beschwerden über das Verhalten des Richters und weitere statistische Daten zählen.482 Gesetzlich geregelt ist dies allerdings nicht.483 Die gänzlich fehlende Regulierung von Evaluationskriterien in der Ukraine hat der EGMR bereits 2005 ausdrücklich gerügt und den damit verbundenen weiten Einfluss der Gerichtspräsidenten und Qualifikationskommissionen bemängelt, der zu einer Abhängigkeit der Richter der unteren von den höheren Instanzen führen würde.484 Daran hat sich auch nach der Justizreform in der Ukraine vom Juli 2010 und damit fünf Jahre nach dem Urteil des EGMR in Salov nicht viel geändert: Das durch den parlamentarischen Gesetzgeber im Zuge der Reform verabschiedete Gesetz über den Gerichtsaufbau und den Status von Richtern sieht lediglich nunmehr vor, dass die Hohe Qualifikationskommission, die für die Empfehlung der Lebenszeiternennung an das ukrainische Parlament zuständig ist, Fallbearbeitungszahlen des Bewerbers in Betracht ziehen solle.485 Weitere Kriterien für die Evaluation von Richtern sind weder

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480 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 66–71. 481 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Allegations of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of Europe member states, 3. 1. 4. 482 Soros Foundation Moldova, Criminal Justice Performance from a Human Rights Perspective – Assessing the Transformation of the Criminal Justice System in Moldova, November 2009, (zuletzt besucht am 17.03.2012), S. 55. 483 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. III. 1. 484 EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 ff. 485 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 74 Abs. 3 3).

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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für die Lebenszeiternennung, noch für die kaum geregelte Beförderung vorgesehen – eine Kritik, die auch die Venedig-Kommission teilt.486 Neben der mangelnden Regelungsdichte knüpfen die Evaluationskriterien sowohl dort, wo sie gesetzlich niedergelegt sind, wie in Russland, als auch dort, wo sie ungeschrieben existieren, wie in Moldawien, an der Spruchtätigkeit selbst an. In beiden wird – entgegen der Kritik des EGMR und den Empfehlungen der Organe des Europarats – im Rahmen von Evaluationen maßgeblich berücksichtigt, wie „stabil“ der Richter urteilt. In Moldawien wird zumindest das Merkmal der „Qualität der Verfahren“ nach Einschätzung moldawischer Richter anhand der Quote der in höherer Instanz aufgehobenen oder abgeänderten Entscheidungen ausgelegt.487 In Russland ist das Merkmal der „Qualität der getroffenen Entscheidungen“ als u. a. maßgebliches Kriterium für Beförderungen zu vakanten Stellen oder zu der Position des Gerichtspräsidenten und seines Stellvertreters sogar normiert. Für die Beurteilung der Qualität kommt es, neben der Einhaltung der Bearbeitungsfristen, auch in Russland darauf an, wie viele Entscheidungen in höherer Instanz aufgehoben wurden.488 Aber auch in der Ukraine ist fraglich, ob mit der neuen rudimentären Regelung, dass Fallbearbeitungszahlen zu berücksichtigen seien, die Geltung weiterer ungeschriebener Kriterien ausgeräumt ist, wie sie der EGMR in dem angesprochenen Urteil gegen die Ukraine von 2005 bemängelt hat.489 Skeptisch, dass diese Praxis behoben ist, mag man nach wie vor deshalb sein, da sich die neue ukrainische Regelung nur auf die Lebenszeiternennung bezieht und es für sonstige Formen der Beförderung im klassischen Sinne nach wie vor keinerlei Vorgaben gibt, um Kandidaten zu bewerten.490 Einzig Georgien weicht von dem Ansatz ab, Evaluationen an der Frage der „Stabilität“ der Entscheidung in nächster Instanz schwerpunktmäßig auszurichten, indem es eine Reihe alternativer Kriterien normiert hat: Die richterliche Tätigkeit wird an professionellen Qualitäten des Richters gemessen, wie der Fähigkeit, die Arbeitsprozesse am Gericht zeitgerecht zu managen, Verhandlungen zu terminieren und in kurzer Zeit zu entscheiden, Verfahren zu führen, die Parteien angemessen und unparteiisch zu adressieren, gut vorbereitet zu sein und den Fall einer konstruktiven Lösung zuzuführen. Lediglich daneben werden statistische Da-

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486 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 67 ff. 487 Soros Foundation Moldova, Criminal Justice Performance from a Human Rights Perspective – Assessing the Transformation of the Criminal Justice System in Moldova, November 2009, (zuletzt besucht am 17.03.2012), S. 55. 488 Regelung über die Arbeitsweise der Qualifikationskollegien, Art. 21 Abs. 11. 489 EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83; siehe auch EKMR, Mitap und Müftüoglu gegen Türkei 1994; B. I. 3. i). 490 Ein weiteres Indiz dafür, dass das Schicksal der Entscheidung in der nächsten Instanz eine Rolle bei Evaluationen spielt, sehen Experten in den niedrigen Freispruchraten, da bei Freisprüchen das Risiko der Aufhebung zu hoch sei: Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, C. II. 2.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

ten berücksichtigt.491 Die damit in zwei der vier Staaten (Russland und Moldawien), in einem dritten sehr wahrscheinlich (Ukraine) und einem vierten östlichen Europaratsstaat (Georgien) in abgeschwächter Form an der Frage der Aufhebung oder Abänderung durch eine höhere Instanz ansetzende Bewertung der Arbeitsweise von Richtern, hat in diesen Staaten Auswirkungen auf den Inhalt des Urteils selbst. Richter tendieren nach Auffassung von Experten in diesen Staaten dazu, sich mit der nächsthöheren Instanz vorher aufgrund der Angst vor einer Aufhebung abzusprechen, um deren Auffassung zu antizipieren und daran ihre Entscheidung auszurichten.492 Konformität wird damit von vorneherein zum Anhaltspunkt statt zu eigenständigen, unabhängigen, am Gesetz orientierten und gut begründeten Entscheidungen anzuregen. Und mehr noch: Selbst wenn ein Richter, trotz des Wissens um die Kriterien, ein eigenständiges, nämlich unabhängiges und nur dem Gesetz unterworfenes Urteil fällt, wird daran insofern angeknüpft werden, als dass dieses in nächster Instanz aufgehoben und daher negativ evaluiert wird. Eine Reform der Evaluation sollte daher in den östlichen Europaratsstaaten, die es betrifft, sowohl institutionell, als auch inhaltlich ansetzen, um die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK und die Empfehlungen der Europaratsorgane zu implementieren: Aufgrund des spezifischen Kontexts insbesondere der postsowjetischen Staaten unter den östlichen Europaratsstaaten iBa die Macht der Gerichtspräsidenten, sollte eine institutionelle Komponente zukünftiger Reformen auf die Einschränkung des Einflusses von Gerichtspräsidenten bei Evaluationen abzielen, indem beispielsweise das empfohlene Gremium für Evaluationen eingerichtet wird, das neben dem Gerichtspräsidenten weitere Mitglieder umfassen und dadurch gegenseitige Kontrolle und Transparenz sichern könnte. Evaluationen von Richtern können jedoch nur dann als Instrument der richterlichen Verantwortlichkeit zu einer nachhaltig unabhängigen und verantwortungsbewussten Justiz beitragen, wenn außerdem dort, wo dies noch nicht geschehen ist, zunächst überhaupt Kriterien gesetzlich niedergelegt werden. Nur dann ist für jeden zugänglich und transparent, welche Kriterien ausschließlich bei einer Evaluation zur Anwendung

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Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. II. 3. Solomon, Can President Medvedev Fix the Courts in Russia? The First Year, S. 3; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, C. II. 1.; Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. III. 1.; EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 f. In strafrechtlichen Verfahren werden die besonders niedrigen Freispruchraten in allen vier Staaten als Indiz dafür herangezogen, dass sich Richter von der „Stabilität“ ihrer Entscheidung als Evaluationskriterium leiten lassen. Die niedrigen Freispruchraten haben zwar einen multikausalen Hintergrund; die Bedeutung, die eine Verurteilung und damit eine Entscheidung, die traditionell eher in höherer Instanz Bestand hat, für die Evaluation und damit für die Beförderung und Vergütung hat, wird jedoch als einer der wesentlichen Gründe angesehen: Soros Foundation Moldova, Criminal Justice Performance from a Human Rights Perspective – Assessing the Transformation of the Criminal Justice System in Moldova, S. 53; Schroeder, Fabrizierte Anklagen in Russland, in: Jahrbuch für Ostrecht, Band 43, Heft 1, 2002, S. 60. 491 492

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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kommen. Dass dies noch nicht überall der Fall ist, wurde am Beispiel der Ukraine und Moldawien gezeigt. Aber auch inhaltlich muss in der Ukraine, in Moldawien und Russland in eine andere Richtung gegangen werden, um die – wenngleich nicht durch den parlamentarischen Gesetzgeber – geschriebenen Evaluationskriterien in Russland und die derzeit noch ungeschriebenen Kriterien in der Ukraine und Moldawien mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK in Einklang zu bringen. Dabei muss als grundlegende Richtungsänderung die Abkehr von dem dargestellten Maßstab, der sich schwerpunktmäßig aus der Zahl der aufgehobenen Urteile speist, vollzogen werden, der einen unabhängigen Entscheidungsfindungsprozess verunmöglicht, wie Berichte zu der Praxis in diesen Staaten belegen.493 Stattdessen sollten Richter anhand ihrer richterlichen Fähigkeiten bewertet und die Frage der Aufhebung in höherer Instanz nicht berücksichtigt werden.494 Zwar kann eine Aufhebung in höherer Instanz etwas über die Fähigkeiten des Richters aussagen, etwa, wenn Rechtsanwendungsfehler oder Verfahrensfehler vorlagen, und dies von der höheren Instanz zu Recht beanstandet wird. Dass sich materiell-rechtlich oder prozessual unzulängliche Entscheidungen dann in einer negativen Evaluation des zuständigen Richters niederschlagen, dient der Wahrung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege. Diese Annahme ist jedoch zu unterscheiden von dem in den östlichen Transformationsstaaten anzutreffenden Bild: In drei der vier Staaten wird fast ausschließlich auf diese Zahl in der Statistik abgestellt. Dies verkennt, dass die Aufhebung oder Abänderung in höherer Instanz auf unzureichende Qualitäten des Richters zurückgehen kann, ebenso gut aber mit unterschiedlichen Rechtsansichten zusammenhängen kann, und damit als beinahe einziges Kriterium nicht in der Lage ist, die Leistung abschließend und umfassend einzufangen. Hinzu tritt, dass in den erst im Entstehen begriffenen Rechtsstaaten das alleinige Abstellen auf die Aufhebungs- und Abänderungsquote dazu führt, dass ohnehin aus der Sowjetzeit ererbte und bis heute festgefahrene Strukturen interner Abhängigkeiten und Hierarchien weiter verschärft werden. Um mit diesen Strukturen zu brechen, ist für Evaluationen zunächst als radikalerer Schnitt notwendig, dass die Aufhebungs- und Abänderungsquote vollständig unberücksichtigt bleibt. Inspiration für Evaluationskriterien abseits der Quote, die keine falschen Anreize setzen, sich mit höheren Instanzen im Vorfeld abzustimmen oder de facto abstimmen zu müssen, finden sich in westeuropäischen Staaten. Im Gegensatz zu den in drei der vier exemplarisch untersuchten östlichen Europaratsstaaten anzutreffenden Evaluationskriterien werden in Westeuropa präzise, auf die Einschätzung der Fä-

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493 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, C. II. 1.; Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. III. 1; EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 f. 494 So auch Solomon, The Accountability of Judges in Post Communist States: From Bureaucratic to Professional Accountability, F.; Solomon, Assessing the Courts in Russia: Parameters of Progress under Putin, S. 71.

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higkeiten des Richters abzielende Kriterien der Evaluation zugrunde gelegt. Diese sind gesetzlich festgelegt, damit einsehbar und transparent. In Deutschland und Frankreich sind die Evaluationskriterien z. B. in vier Gruppen unterteilt, die an verschiedenen Fähigkeiten eines Richters anknüpfen: die „professionelle Kompetenz“, die u. a. die Kenntnis des materiellen und prozessualen Rechts meint, die „persönliche Kompetenz“, zu der u. a. die Fähigkeit, mit der Arbeitsbelastung umzugehen, die Fähigkeit zu entscheiden und die Offenheit gegenüber neuen Technologien zählen, weiterhin die „soziale Kompetenz“, die die Fähigkeit zu vermitteln, Respekt für die Sorgen der Parteien aufbringen zu können, und die Fähigkeit, konstruktive Diskussionen zu leiten, umfasst, sowie insbesondere bei Beförderungen zu höheren Positionen, die „Fähigkeit zu leiten“.495 Der Evaluationsbericht ist zudem in Deutschland im Entwurfsstadium und danach einsehbar. Außerdem bestehen Rechtsmittel gegen die Ergebnisse der Evaluation – in Deutschland zu einem Gericht, in Frankreich zu einem speziellen Beschwerdeorgan.496 Aber auch Georgien, dessen Kriterien weitestgehend denjenigen westeuropäischer Staaten ähneln,497 kann im Bereich der Evaluationskriterien als Vorbild für andere postsowjetische Europaratsstaaten dienen. Während die Erledigungsrate als abstraktes Kriterium unter anderen Kriterien sinnvoll sein kann, um die Effizienz der Arbeitsweise zu beurteilen,498 sollte der Stabilität der Urteile aus den bereits dargelegten Gründen keine Bedeutung in der Bewertung zukommen. Hier ist auch in Georgien, welches sonst bereits sehr vorbildliche und überwiegend konventionskonforme Kriterien aufweist, eine Überarbeitung geboten.499

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495 Riedel, Recruitment, Professional Evaluation and Career of Judges and Prosecutors in Germany, in: Di Federico (Hrsg.), Recruitment, Professional Evaluation and Career of Judges and Prosecutors in Europe: Austria, France, Germany, Italy, The Netherlands and Spain, S. 96; vgl. auch Kyiv Recommendations, Rn. 27, die den deutschen Evaluationskriterien folgen. Ähnlich auch in Frankreich: Solomon, The Accountability of Judges in Post Communist States: From Bureaucratic to Professional Accountability, C. 496 Solomon, The Accountability of Judges in Post Communist States: From Bureaucratic to Professional Accountability, C. 497 Neben den Fähigkeiten, die Kandidaten bei der erstmaligen Bewerbung abverlangt werden, treten professionelle Fähigkeiten wie diejenigen, Arbeitsprozesse zu planen, alle Prozessbeteiligten pünktlich einzubeziehen, Qualität und Quantität in der Fallbearbeitung, mit einer übermäßigen Arbeitsbelastung umzugehen, Verzögerungen zu vermeiden und bestimmte Mengen an Fällen innerhalb der zeitlichen Standards abzuarbeiten, die Fähigkeit, ein Verfahren zu leiten, und statistische Daten hinzu: Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. II. 3., III. 2. 498 So auch Kyiv Recommendations, Rn. 28. 499 Daneben sollte als dritte Komponente die Verknüpfung des Einkommens mit Evaluationsergebnissen aufgehoben werden. So auch Solomon, The Accountability of Judges in Post Communist States: From Bureaucratic to Professional Accountability, G. Wenngleich positive Evaluationen indirekt immer einen positiven Effekt auf das Einkommen haben können, da sie bei Beförderungen zu einer höheren Position Gehaltsverbesserungen bewirken, so ist die direkte Verknüpfung zwischen positiven Evaluationsergebnissen und Bonusleistungen abzuschaffen, wie sie in Russland und Moldawien anzutreffen ist. Stattdessen sollte ein ausrei-

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b) Disziplinarverfahren Die Möglichkeit, Disziplinarverfahren gegen Richter einzuleiten, stellt einen weiteren wichtigen repressiven Mechanismus richterlicher Verantwortlichkeit dar, um eine funktionstüchtige, rechtsstaatliche Justiz auf Dauer zu verwirklichen. Zugleich müssen auch Disziplinarverfahren mit besonderem Augenmerk auf der richterlichen Unabhängigkeit ausgestaltet sein, um nicht zu Lasten der Unabhängigkeit missbraucht zu werden. Für die östlichen Europaratsstaaten, die teilweise, wie Russland, eine Disziplinarhaftung für Richter erst nachträglich einführten,500 ist diese Ausbalancierung zwischen richterlicher Verantwortlichkeit und Unabhängigkeit besonders notwendig. Gerade dort droht das Risiko, Disziplinarverfahren zur Erzeugung loyaler Strukturen einzusetzen, wie Verurteilungen durch den EGMR in den letzten Jahren immer wieder belegen.501 Vergleicht man Disziplinarverfahren in westlichen Europaratsstaaten mit der Handhabung dieses Instruments in den östlichen Europaratsstaaten, ergeben sich gravierende Unterschiede. Entscheidende Sicherungsmechanismen, die Disziplinarverfahren in den westlichen Europaratsstaaten in einem mit der Unabhängigkeit der Richter verträglichen Rahmen halten, fehlen in den östlichen Europaratsstaaten bzw. sind zu unpräzise. Zu diesen Sicherungsmechanismen zählt, dass Disziplinarmaßnahmen ultima ratio Charakter haben, mithin nur bei äußerster Missachtung richterlicher Pflichten, wie z. B. dem Missbrauch von Macht und Status (Bestechlichkeit, klare Fälle von Parteilichkeit oder schwerwiegende Übertretungen im Hinblick auf die Würde des Amtes, etwa durch Begehung von Straftaten), angewendet werden können. Weiterhin kann die Entscheidung selbst, anders als in Teilen der östlichen Europaratsstaaten, niemals Gegenstand von Disziplinarmaßnahmen sein, sondern unterliegt lediglich im Wege der einzulegenden Rechtsmittel einer rechtlichen Kontrolle. Und schließlich gibt es in den westlichen Europaratsstaaten für den betroffenen Richter regelmäßig die Möglichkeit, die Vorwürfe auf dem Rechtsweg überprüfen zu lassen.502 Die Analyse setzt daher im Lichte der Rechtsprechung des EGMR, ergänzt durch das Soft Law des Europarats sowie rechtsvergleichender Beobachtungen, an vier Aspekten an, die für die Ausbalancierung zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit im Disziplinarrecht gegen Richter in den östlichen Europaratsstaaten vordringlich sind: der institutionellen Frage, mithin welche Organe in welchem

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chendes Grundgehalt, welches anhand abstrakter Kriterien, z. B. Dienstjahren, angehoben werden könnte, eingeführt werden. 500 Siehe dazu oben den Überblick in der Einführung zu C. II. 2. 501 EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 32 ff.; EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83, 86; B. I. 3. h). 502 Seibert-Fohr, Judicial Independence – The Normativity of an Evolving Transnational Principle, III. 2.

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Umfang an dem Verfahren beteiligt sind, den Gründen für ein Disziplinarverfahren, Verfahrensstandards und Sanktionen. aa) Institutionell Die Ausbalancierung zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit verlangt zunächst nach einer institutionellen Trennung zwischen dem Recht zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens einerseits und der Durchführung und Entscheidung über die Sanktionierung andererseits, wie der EGMR in „ParlovTkalčić gegen Kroatien“ 2009 hervorgehoben hat.503 Zwar hat der EGMR dies in erster Linie mit Blick auf Gerichtspräsidenten festgestellt. Eine Übertragung auf jedwedes andere, an Disziplinarverfahren beteiligte Organ erscheint jedoch im Sinne des EGMR zu sein, da er in diesem Zusammenhang generell anmerkte, dass Disziplinarverfahren einen potentiell weiten Einfluss auf die (interne) richterliche Unabhängigkeit haben können. Daher muss dieselbe Forderung nach Kompetenzteilung auch für andere Organe, die in Disziplinarverfahren besonders stark involviert sind, wie z. B. Richterräte, gelten. Die Venedig-Kommission ist darüber noch hinaus gegangen, indem sie nicht nur eine institutionelle Trennung der Initiativ- von der Durchführungskompetenz anmahnte, sondern in einer ihrer rechtlich unverbindlichen Meinungen zu Georgien forderte, dass das Organ mit dem Initiativrecht die Mitglieder des für die Durchführung zuständigen Organs nicht ernennen können sollte.504 Dies ist eine begrüßenswerte Empfehlung, die Disziplinarverfahren weniger anfällig für Missbrauch macht, da sie verhindert, dass es zu einer Durchführung des Disziplinarverfahrens durch ein nur „quasi-unterschiedliches Organ“ und damit zu einer Umgehung der Rechtsprechung des EGMR kommt. Gerade in dieser Trennung zeigt sich nämlich eine Abwägungsentscheidung zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit: für die richterliche Verantwortlichkeit, ist es nicht notwendig, dass das Verfahren in einer Hand durchgeführt wird; umgekehrt ist die institutionelle Trennung und damit die Verlagerung auf mehrere Akteure aber für die richterliche Unabhängigkeit wesentlich, da sie zu stärkerer Transparenz führt und dadurch Missbrauch vermeidet. In Moldawien und Georgien bereitet diese institutionelle Trennung Probleme und deutet auf einen konventionswidrigen Zustand hin. In Moldawien hat jedes Mitglied des Richterrats ein Initiativrecht; für das Verfahren an sich und die Entscheidung über die Sanktionierung ist ein spezielles Disziplinargremium zuständig, das als Unterorgan des Richterrats agiert. Daher handelt es sich schon institutionell nicht um zwei selbstständige Organe, sondern das Disziplinargremium ist abhängig von

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503 Für die institutionelle Ausgestaltung von Disziplinarverfahren hinsichtlich der Problematik der starken Rolle der Richterräte bzw. Qualifikationskommissionen in den östlichen Europaratsstaaten, siehe bereits oben C. II. 1. 504 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Law on Disciplinary Responsibility and Disciplinary Prosecution of Judges of Common Courts of Georgia, Rn. 33, 38.

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dem moldawischen Richterrat: Die Entscheidungen dieses Gremiums bedürfen seiner Bestätigung, er fungiert als Beschwerdeinstanz gegen die Entscheidungen und ist für die Implementierung der Sanktion zuständig, wenngleich das Mitglied des Richterrats, das das Disziplinarverfahren eingeleitet hat, wohl von der Bestätigungs- oder Berufungsentscheidung im Richterrat ausgeschlossen ist.505 Auch wenn deshalb nicht von personeller Einheit zwischen der Zuständigkeit für die Initiierung und Entscheidung über die Disziplinierung gesprochen werden kann, gehört der mit einem Initiativrecht ausgestattete Personenkreis doch demselben Organ an, das später die eigentliche Entscheidung über die Sanktionierung trifft, da die Entscheidung des Disziplinargremiums nicht ohne die Bestätigung des Richterrats Gültigkeit erlangt, er vielmehr jederzeit die Bestätigung der Entscheidung des Disziplinargremiums verweigern, die Entscheidung aufheben oder abändern kann. Hinzu tritt, dass das Disziplinargremium selbst personell zwar nicht aus Mitgliedern des Richterrats bestehen darf,506 jedoch teilweise durch diesen besetzt wird: Als Kollegialorgan ernennt er zwei der insgesamt zehn Mitglieder des Disziplinargremiums, der Justizminister als ex officio Mitglied des Richterrats bestimmt zudem drei weitere Mitglieder.507 Daher ist fraglich, ob bei einer derartigen Überlagerung der Entscheidung des weiteren Organs, das nur eine marginale, nämlich untergeordnete und letztlich abhängige Rolle spielt, noch von verschiedenen Organen im Sinne der EGMR-Rechtsprechung gesprochen werden kann. Die Venedig-Kommission hat eine Vereinbarkeit mit der richterlichen Unabhängigkeit in einer vergleichbaren Situation in Georgien verneint.508 Um keine Verurteilung durch den EGMR oder eine zwar rechtlich unverbindliche, aber politisch wichtige Stellungnahme durch die Venedig-Kommission zu riskieren, sollte Moldawien das Disziplinargremium stärken, damit dieses nicht mehr als abhängiges Unterorgan, sondern eigenständiges Disziplinargremium die Durchführung und Entscheidung vornehmen kann. Weder sollten Mitglieder durch den Richterrat bestimmt, noch die Entscheidung des Disziplinargremiums der Bestätigung durch den Richterrat unterliegen, noch letzterer als Beschwerdeinstanz für Entscheidungen des Disziplinargremiums zuständig sein, sondern stattdessen ein Rechtsmittel direkt zu einem Gericht vorgesehen werden.509 Dies knüpft an die im Kapitel über Justizverwaltung getätigte Empfehlung an, den Richterrat auf Aufgaben der richterlichen Karriere (Auswahl und Beförderung) zu beschränken. Vor diesem Hintergrund wäre über das kompetenzgeteilte Verfahren hinaus empfehlenswert, das Initiativrecht vom Richterrat ganz wegzuverlagern. Letzteres würde nicht nur einer weiteren Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit

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So Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VII. 2. Moldaw. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 2 Abs. 2. 507 Gesetz über das Disziplinargremium und über die disziplinarische Verantwortung von Richtern, 19.07.1996 (zuletzt geändert am: 08.07.2010), Art. 3 Abs. 6. 508 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Law on Disciplinary Responsibility and Disciplinary Prosecution of Judges of Common Courts of Georgia, Rn. 33. 509 Siehe auch Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VII. 2. 505 506

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entgegenwirken, die moldawische Expertinnen in dem Initiativrecht der ex officio Mitglieder des Richterrats, namentlich des Justizministers und des Generalstaatsanwalts, sehen.510 Sondern es würde auch dem Problem begegnet, dass sich in manchen der zentralosteuropäischen Staaten mit starken Richterräten und großem Richteranteil,511 aber auch in Moldawien gezeigt hat,512 dass nämlich Disziplinarverfahren teilweise nicht eingeleitet oder durchgeführt werden, weil dies gegen Kollegen nicht opportun ist. Ähnlich ausgestaltet und damit dem Risiko der Konventionswidrigkeit ausgesetzt ist die institutionelle Ausgestaltung des richterlichen Disziplinarrechts in Georgien. Auch hier hat der Richterrat, wie im Justizverwaltungskapitel herausgearbeitet, weitreichende Kompetenzen. Die institutionelle Trennung, die aus der EGMRRechtsprechung für ein mit der Unabhängigkeit zu vereinbarendes Disziplinarverfahren folgt und von der Venedig-Kommission in noch schärferer Weise angemahnt wurde, verschwimmt hier ebenfalls. Der georgische Richterrat ist in allen Verfahrensstadien eines Disziplinarverfahrens einflussreich, auch wenn verschiedene Akteure unter seinem Dach die konkreten Teilaspekte wahrnehmen. Der Rat selbst hat ein umfassendes Initiativrecht gegen alle Richter. Zwar prüft zunächst für den Richterrat der Sekretär des Richterrats die eingegangene Beschwerde und führt Ermittlungen durch. Er kann aber im Anschluss dem Richterrat nur vorschlagen, ob die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens zu beschließen ist oder nicht, der Richterrat trifft die Entscheidung. Beschließt er eine disziplinarische Anklage, kommt es zu einem Verfahren vor einem speziellen Disziplinargremium, das die Entscheidung über die Verhängung der Sanktion bzw. den Freispruch trifft.513 Das Gremium setzt sich allerdings vollständig aus Mitgliedern des Richterrats zusammen, auf deren Auswahl der Richterrat auf die ein oder andere Weise Einfluss hat: Drei der sechs Mitglieder des Disziplinargremiums werden aus dem Kreise der richterlichen Mitglieder des Rates durch den Vorsitzenden des Richterrats an die Selbstverwaltungsorgane zur Wahl vorgeschlagen, drei weitere Mitglieder aus seiner Mitte unmittelbar durch den Richterrat bestimmt.514 Das Verfahren wird somit insgesamt stark

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Id., B. VII. 2. Siehe dazu oben bereits ausführlich unter C. II. 1. a) mit vielen Nachweisen. 512 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VII. 1. zufolge, wird richterliches Fehlverhalten in Moldawien oft nicht disziplinarisch geahndet, sondern von dem Richterrat ignoriert, der nur dann tätig werde, wenn die richterliche Entscheidung in der nächsthöheren Instanz aufgehoben würde. Es sei allerdings noch einmal darauf hingewiesen, dass sich der Richterrat in Moldawien seit kurzem, wie in C. II 1. a) bb) gesehen, nur noch hälftig aus Richtern zusammensetzt und damit hoffentlich zukünftig das Problem der Vetternwirtschaft behoben ist. 513 Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 7 ff.; Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. VII. 1., 2. 514 Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 17 Abs. 3, Art. 24 Abs. 1. Zur Kritik der Venedig-Kommission, die noch von allen Mitgliedern, die durch den Richterrat ausgewählt würden, sprach: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Law on Disciplinary Responsibility and Disciplinary 510 511

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von dem georgischen Richterrat dominiert, auch wenn einzelne Aspekte von seinem Sekretariat oder einem speziellen disziplinarrechtlichen Gremium unter seinem Dach, besetzt von und mit seinen Mitgliedern, wahrgenommen werden. Daneben haben nur der Präsident des Obersten Gerichts und derjenige des Appellationsgerichts ein eingeschränktes Initiativrecht sowie ein eingeschränktes Ermittlungsrecht – allerdings ist ersterer selbst zugleich Vorsitzender des Richterrats.515 Ähnlich wie in Moldawien ist zwar eine Inkompatibilität insofern gewährleistet, als dass diejenigen Richterratsmitglieder, die später in dem speziellen Disziplinargremium entscheiden, von der Entscheidung über die Erhebung einer disziplinarischen Anklage im Richterrat ausgeschlossen sind. Dennoch ist es die Zugehörigkeit zu demselben Organ, dem Richterrat, die die institutionelle Trennung erschwert. Offen konventionswidrig dürfte die Rechtslage in der Ukraine sein, wo nicht der Richterrat, sondern die Hohe Qualifikationskommission alle Aspekte des Disziplinarverfahrens gegen Richter der unteren beiden Gerichtsebenen auf sich vereint.516 Hier geht es nicht mehr, wie in Moldawien und Georgien, aufgrund der Kompetenzdichte (einschließlich personeller Zuständigkeiten) und der Befugnis zur Letztentscheidung um eine faktische Einheit zwischen dem Organ bzw. Organteilen, die ein Initiativrecht haben, und dem Organ, das das Verfahren durchführt und entscheidet. Sondern ein Mitglied der Hohen Qualifikationskommission verifiziert im Sinne einer Vorprüfung eine eingegangene Beschwerde über einen Richter, macht im Anschluss einen Vorschlag an die Hohe Qualifikationskommission, die die Entscheidung über die Eröffnung selbst trifft. Auch das Verfahren führt sie selbst durch und fällt die Entscheidung über die Disziplinarstrafe. Abgesehen von der hier vollständig entfallenden Beteiligung eines weiteren Organs, existieren auch keine Inkompatibilitätsregeln bezüglich des Mitglieds, das zunächst die Verifikation vorgenommen hat. Einzig Rechtsmittel zum Hohen Justizrat oder zum Oberverwaltungsgericht schaffen eine Kontrolle von außen und können die Entscheidung gänzlich aufheben oder abändern.517 Der EGMR hatte hingegen in „Parlov-Tkalčić gegen Kroatien“ ausdrücklich eine Trennung bereits auf der Ausgangsebene vor Augen. Dasselbe Prinzip der offenen Einheit zwischen Initiativrecht, Durchführung und Entscheidung über die Sanktionierung zeigt sich mit Blick auf das Oberste Gericht und die höheren spezialisierten Gerichte: Dort werden die Informationen bezüglich eines möglichen disziplinarrechtlich relevanten Verhaltens eines Richters von einem Mitglied des Hohen Justizrates geprüft, im Anschluss entscheidet der

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Prosecution of Judges of Common Courts of Georgia, Rn. 33, 38. Auf diese Kritik hat Georgien insofern reagiert, als dass heute zumindest drei der sechs von dem Präsidenten des Obersten Gerichts Georgiens an die Selbstverwaltungsorgane zur Wahl vorgeschlagen werden. Da jedoch der Präsident des Obersten Gerichts ex officio Vorsitzender des Richterrats ist, wird ein Mitglied des Richterrats tätig. 515 Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 7. 516 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 86. 517 Wann allerdings welches der beiden Organe für das Rechtsmittelverfahren zuständig ist, ist unklar. Siehe dazu näher sogleich unter C. II. 2. b) cc) (1).

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Hohe Justizrat selbst über die Einleitung eines Verfahrens, verhandelt den Fall und trifft am Ende die Entscheidung.518 Obwohl die Ukraine im Sommer 2011 einen neuerlichen Entwurf über Änderungen des erst 2010 verabschiedeten Gesetzes über den Gerichtsaufbau und den Status von Richtern verabschiedet hat, sieht dieser keine grundlegende Änderung der Kompetenzakkumulation vor, die unter dem Gesichtspunkt der Ausbalancierung von Unabhängigkeit und richterlicher Verantwortlichkeit, wie sie auch der EGMR zum Schutz der Unabhängigkeit mit Blick auf Disziplinarverfahren 2009 anmahnte, höchst bedenklich ist. Vielmehr soll statt der Hohen Qualifikationskommission eine neue Richterdisziplinarkommission zuständig sein, die jedoch in ähnlicher Weise für alle Stufen des Disziplinarverfahrens verantwortlich sein soll.519 In Russland ist eine mangelnde institutionelle Trennung zwischen Initiativrecht sowie Durchführung und Entscheidung in Disziplinarverfahren formell betrachtet nicht zu konstatieren. Ähnlich dem kroatischen Ausgangsfall, in dem der EGMR 2009 einige grundlegende Äußerungen traf, haben Gerichtspräsidenten in Russland zwar ein Initiativrecht und können auch die Ermittlungen durchführen. Die Qualifikationskollegien (der Föderation oder der Subjekte) sind allerdings für die Durchführung und die Entscheidung des Verfahrens zuständig. Dem jeweiligen Gerichtspräsidenten (derselben oder einer höheren Instanz) kommen rechtlich neben dem Initiativ- und Ermittlungsrecht lediglich ein Anwesenheitsrecht sowie ein Recht zur Stellungnahme in dem zuständigen Qualifikationskollegium zu.520 Wenngleich es aus Sicht der Verfasserin in den östlichen Europaratsstaaten zugunsten einer effektiven Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit ohne Loyalitätszwang wünschenswert wäre, die Gerichtspräsidenten ganz aus dem richterlichen Disziplinarrecht auszuklammern,521 ist die in der Betrachtung stehende institutionelle Trennung formell nicht gefährdet. Allerdings spricht viel dafür, auch eine faktische Überlagerung des Entscheidungsprozesses in den Qualifikationskollegien durch Gerichtspräsidenten als denjenigen Akteuren, die bereits das Initiativrecht hatten,522 für eine mangelnde Trennung im Sinne der EGMR-Rechtsprechung und damit für eine Konventionswidrigkeit als ausreichend zu betrachten: Der EGMR hat gegenüber den östlichen Europaratsstaaten betont, dass es nicht alleine auf rechtliche

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Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 38–43. Jedes Mitglied der Kommission soll ein Initiativrecht haben, über die Eröffnung anschließend ein Panel von drei Mitgliedern der Kommission entscheiden und die Durchführung und Entscheidung über die Sanktionierung von der Kommission in voller Besetzung vorgenommen werden. Inkompatibilitäten sind, außer (unpräzise) für das Mitglied, das die Initiierung vorgeschlagen hat, nicht vorgesehen: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 93 ff. 520 Siehe dazu ausführlich oben C. II. 1. a) aa) (2) mit Nachweisen. 521 Siehe zu der einschüchternden Wirkung des Rechts der Gerichtspräsidenten in Russland, Disziplinarverfahren auch nur zu beantragen: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, VII. 2. 522 Siehe oben C. II. 1. a) aa) (2) sowie b) aa). 518 519

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Garantien zum Schutz der Unabhängigkeit, sondern auch auf deren praktische Gewährleistung ankomme.523 In allen vier Staaten, insbesondere aber in Moldawien, Georgien und der Ukraine, muss damit bei der Trennung zwischen Initiativrecht und Kompetenz zur Durchführung und Entscheidung iSe sauberen institutionellen Trennung ohne direkte oder indirekte personelle Schnittmengen nachgebessert werden, um einen konventionsgemäßen Zustand iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK herzustellen. Bedauerlicherweise gehen auch jüngste Reformvorhaben, wie diejenigen in der Ukraine, diesen Schritt bislang nicht. bb) Gründe (1) Mangelnde Präzision Die Frage, welche Gründe zu einem Disziplinarverfahren führen können, an welches Verhalten sie anknüpfen oder nicht anknüpfen dürfen und wie weit und unpräzise sie gefasst sind, hat maßgeblich Einfluss auf die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit. Der EGMR hat dies bereits 2005 in einem Urteil gegen die Ukraine durchscheinen lassen, indem er den Zusammenhang zwischen unpräzise geregelten disziplinarischen Tatbeständen und vorauseilendem Gehorsam seitens der Richter kritisierte.524 Durch unklare Kriterien wird aber ein Spielraum geschaffen, der Missbrauch und gezielten Eingriffen in die Unabhängigkeit Tür und Tor öffnet, angefangen von Disziplinarverfahren wegen kleinster Verstöße, anstelle des in westlichen Europaratsstaaten vorherrschenden ultima ratio Charakters.525 Umgekehrt kann aber auch die richterliche Verantwortlichkeit darunter leiden, wenn aufgrund von unpräzisen Kriterien der Spielraum zu groß ist und Richter deshalb nicht zur Verantwortung gezogen werden.526 Wenngleich alle vier Staaten, exemplarisch für weitere östliche Europaratstaaten, das Problem aufweisen, dass die Gründe für Disziplinarverfahren unpräzise ausgestaltet sind, ist dies am wenigsten gravierend in Moldawien und nach jüngsten Reformen auch in der Ukraine. Die Ukraine sah bis zu der Reform im Juli 2010 Disziplinarverfahren in sehr vagen Fällen vor, nämlich wenn ein Rechtsverstoß während des Gerichtsverfahrens oder ein anderes Fehlverhalten vorlag. Beide Gründe waren nicht näher durch das Gesetz präzisiert, immerhin aber vorgesehen, dass ein Disziplinarverfahren grundsätzlich nicht an der Aufhebung oder Änderung des Ur-

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EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, Rn. 136. EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 ff., wenngleich der EGMR dogmatisch bedauerlicherweise nur Zweifel an der Unparteilichkeit feststellte, obwohl der Bf. auch die Unabhängigkeit gerügt hatte und es um Weisungsfreiheit ging. Zweifel an der Unabhängigkeit aber bei ähnlichem Sachverhalt bejahend: Khrykin gegen Russland, Rn. 36 ff. 525 Vgl. Seibert-Fohr, Judicial Independence – The Normativity of an Evolving Transnational Principle, III. 2. 526 Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, B. V. 1. 523 524

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teils in höherer Instanz anknüpfen durfte.527 Der erhobene Vorwurf der mangelnden Präzision und viel zu vagen Kriterien528 ist durch das 2010 verabschiedete Gesetz über das Gerichtssystem und den Status von Richtern behoben worden: Mit der Verletzung wesentlicher prozessualer Vorschriften, dem Verstoß gegen das Unparteilichkeitsprinzip, der Offenlegung von Beratungsgeheimnissen, der Nichtoffenlegung oder vorsätzlichen Falschangabe bezüglich der eigenen finanziellen Verhältnisse529 u. a.,530 wurden vorhersehbare und genaue Gründe geschaffen, die nicht am Urteil selbst anknüpfen, und damit für richterliche Verantwortlichkeit sorgen können, ohne die Unabhängigkeit zu gefährden. Moldawien sieht einen weitreichenden Katalog ausreichend präzisierter Disziplinargründe vor. Zweifelhaft mag hier aber der Disziplinargrund sein, der öffentliche Handlungen mit politischem Charakter unter Disziplinarstrafe stellt, da die Formulierung sehr weit geht.531 Ist ein Richter bereits haftbar zu machen, weil er einen verfassungsrechtlichen Vortrag hält oder ein Interview in den Medien gibt? Oder meint die Vorschrift nur Fälle, in denen er für ein politisches Amt kandidiert? „Aktivitäten“ oder „Handlungen“ sind ebenso unpräzise wie „politisch“, was nicht auf den Begriff parteipolitisch beschränkt ist, sondern bereits die Teilhabe am öffentlichen, gesellschaftlichen Diskurs meinen kann. Und weiterhin: Müssen die öffentlichen Handlungen mit politischem Charakter zwingend als Richter erfolgen, oder reicht es aus, wenn sich ein Richter als Privatperson politisch äußert? Die Formulierung führt mithin in ihrer mangelnden Präzision über Inhalt und Grenzen politischer Betätigung von Richtern zu einer pauschalen (und aufgrund der Androhung der Disziplinarstrafe faktischen) Untersagung öffentlicher Aktivitäten mit politischem Charakter und dürfte daher in ihrer jetzigen Form konventionswidrig sein.532 Ein jüngeres Urteil gegen Russland bestätigt, wenngleich unter Art. 10 EMRK, dass eine Sanktionierung kritischer Meinungsäußerungen von Richtern zu öffentlichen Institutionen und Politiken einen „chilling effect“ habe und Richter in konventionswidriger Weise von der öffentlichen Debatte über die Effektivität öffentlicher Institutionen abhalte.533 Anhaltspunkte, wie der

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527 Außer im Falle eines vorsätzlichen Rechtsmissbrauchs oder eines fahrlässigen Missbrauchs mit substantiellen Folgen: Id., B. V. 1. 528 Id., B. V. 1., F. 529 Dies gehört offenbar zu den Maßnahmen, um gegen die anhaltende Korruption vorzugehen. Siehe für eine vergleichbare Regelung in Moldawien: Moldaw. Richterstatusgesetz, Art. 22 g). 530 Gesetz über den Gerichtsaufbau und den Status von Richtern, Art. 83 Abs. 1. 531 Moldaw. Richterstatusgesetz, Art. 22 e). 532 Aus Sicht des EGMR kann zwar von Richtern aufgrund ihres Amtes erwartet werden, dass sie sich mit Blick auf ihre Meinungsäußerungsfreiheit zu allen Fragen zurückhaltend zeigen, die die Autorität und Unparteilichkeit der Justiz in Frage zu stellen geeignet sind; dies geht jedoch nicht soweit, ihnen zu untersagen, sich öffentlich und politisch zu äußern. Gerade verfassungsrechtliche Fragen hätten naturgemäß politische Implikationen: EGMR, Wille gegen Liechtenstein, 28.10.1999, 28396/95, Rn. 64 ff. 533 EGMR, Kudeshkina gegen Russland, Rn. 98 f., auch wenn die Bf. für die Zeit des Wahlkampfes, im Rahmen dessen sie die kritischen Äußerungen über das Justizsystem in

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Verstoß präzisiert werden muss, um die moldawische Rechtslage mit der EGMRRechtsprechung in Einklang zu bringen, können dem Urteil „Wille gegen Liechtenstein“ entnommen werden: Der EGMR sieht dann ein problematisches Maß erreicht, wenn Richter sich zu laufenden Verfahren öffentlich äußern, Personen oder öffentliche Institutionen in der Öffentlichkeit scharf kritisieren oder höhere Staatsrepräsentanten öffentlich beleidigen.534 Georgien sieht zwar einen Katalog von Gründen vor, die ein Disziplinarverfahren auslösen können; die Kriterien sind jedoch viel zu unscharf. Dazu zählen mit dem Richteramt unvereinbare Tätigkeiten oder die Nichtübereinstimmung von Interessen des Richters mit richterlichen Pflichten, oder eine für einen Richter unwürdige Handlung, durch welche das Ansehen des Gerichts beeinträchtigt oder dem Vertrauen in die Gerichte Schaden zugefügt wird, ebenso wie die Nichterfüllung oder unangemessene Erfüllung von richterlichen Pflichten oder ein Verstoß gegen die Arbeitsdisziplin.535 Problematisch sind auch Widersprüche, die durch Ungenauigkeiten im Gesetz zustande kommen: Eine grobe Rechtsverletzung während der Ausführung richterlicher Amtsbefugnisse soll einen Grund für ein Disziplinarverfahren darstellen, worunter eine solche zu verstehen ist, bei der der Richter imperative Vorschriften der Verfassung, internationaler Verträge und der Gesetze Georgiens verletze, wodurch den gesetzlichen Rechten und Pflichten eines Prozessbeteiligten, eines Dritten oder dem öffentlichen Interesse Schaden zugefügt werde oder werden könne.536 Explizit ist aber in einem weiteren Absatz geregelt, dass eine fehlerhafte Auslegung des Gesetzes gerade kein Disziplinarvergehen darstelle und nicht zu einer Haftung führe.537 Gleichzeitig sind zeitliche Verzögerungen eines Falles oder ein unwürdiges Verhalten des Richters als separate Disziplinarverstöße geregelt. Somit bleibt unklar, welcher Fall mit einer groben Rechtsverletzung gemeint ist. Wo der Gesetzgeber jedoch keine klaren Vorgaben für diesen sensiblen Bereich macht, ist für willkürliche Eingriffe in die Unabhängigkeit Raum.538 Russland bildet das Schlusslicht mit Blick auf unpräzise geregelte Disziplinargründe, was ein dementsprechend hohes Risiko von Missbrauch von Disziplinarverfahren bzw. vorauseilendem Gehorsam hervorruft.539 Gesetzlich ist lediglich ganz allgemein vorgesehen, dass im Falle der Begehung eines Disziplinarvergehens eine

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Russland tätigte, von dem aktiven Richteramt befreit war. Der EGMR spricht hier aber dennoch von „judges“. 534 EGMR, Wille gegen Liechtenstein, Rn. 67. 535 Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 2 Abs. 2 c), d), f) und j). 536 Id., Art. 2 Abs. 2 a). 537 Id., Art. 2 Abs. 3. 538 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Law on Disciplinary Responsibility and Disciplinary Prosecution of Judges of Common Courts of Georgia, Rn. 36, 40. 539 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII. 1., 5.; EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 36 f.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

Disziplinarstrafe auferlegt werden kann, wobei unter Disziplinarvergehen eine Verletzung der Normen des Gesetzes über den Status von Richtern oder der Normen des Ethikkodex zu verstehen ist.540 Eine weitergehende Präzisierung oder gesetzliche Begrenzung der Disziplinarhaftung auf wiederholte und damit systematische Verletzungen oder besonders grobe Verstöße, wie dies teilweise in den Nachbarstaaten vorgesehen ist, um Missbrauch einzudämmen, erfolgt auf gesetzlicher Ebene nicht. Allerdings sind sowohl der Praxis der Qualifikationskollegien Anhaltspunkte zu entnehmen, wann eine Verletzung eines der beiden Gesetze vorliegt,541 als auch der Rechtsprechung des russischen Verfassungsgerichts. Letzteres hat in Auslegung dieser Vorschrift im Sommer 2011 ebenfalls grobe oder systematische Verletzungen für einen disziplinarisch zu ahndenden Verstoß gefordert und betont, dass nicht jedes rechtswidrige oder unbegründete Urteil zu einem Disziplinarverfahren führen dürfe. Dabei betonte es ausdrücklich die Balance, die zwischen der Unabhängigkeit der Richter und ihrer Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft herzustellen sei, da richterliche Unabhängigkeit nicht die Abwesenheit von Verantwortlichkeit meine. Obwohl die Notwendigkeit dieser Ausbalancierung aus Sicht des Verfassungsgerichts eine besondere Genauigkeit des Gesetzgebers bei der Festlegung der Gründe, die zu der Anwendung disziplinarischer Sanktionen gegen Richter führten, erfordere, und es selbst feststellte, dass die Regelung weitgefasst sei, befand es sie dennoch für verfassungsgemäß. Zugleich betonte es, dass die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit den Gesetzgeber nicht daran hindere, die Gründe für ein Disziplinarverfahren gesetzlich präzise festzulegen.542 Konsequenter wäre es nach all diesen Feststellungen gewesen, hätte das russiche Verfassungsgericht, wie die abweichende Richterin Kleandrowa, die derzeitige Regelung für verfassungswidrig befunden, statt darauf zu verweisen, dass die Regelung innerhalb des gesetzlichen Systems und durch die Interpretation des Verfassungsgerichts einer näheren Bestimmung zugänglich sei. Auch wenn die Auslegung des Verfassungsgerichts dazu beiträgt, die gesetzliche Ungenauigkeit zu relativieren und Grenzen für eine allzu weitreichende disziplinarische Haftung aufzuzeigen, ersetzt sie vor dem Hintergrund der Vorhersehbarkeit und Transparenz nicht eine präzisere Regelung durch den Gesetzgeber. Dass eine solche dringend notwendig ist, zeigt ein Blick auf die Praxis: Dort führen – mangels genauer Regelung im Gesetz – bereits Verzögerungen von Fällen, ebenso wie die angeblich unzureichende Qualität

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Russ. Richterstatusgesetz, Art. 12.1 Abs. 1. Für Beispiele siehe Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII. 1. 542 Verfassungsgericht der Russischen Föderation, Beschluss des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation in der Angelegenheit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 8 Abs. 1 und Art. 12.1. Abs. 1 des Richterstatusgesetzes und der Art. 19, 21 und 22 des Bundesgesetzes über die Organe der Richtergemeinschaft der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Beschwerde der Bürgerin A. V. Matjuschenko, 20.07.2011, Rn. 2 ff. und Abweichendes Sondervotum von Richterin M. I. Kleandrowa. 540 541

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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von Urteilen, die sich an der vermehrten Aufhebung in höherer Instanz bemisst, zu den Hauptgründen für Disziplinarverfahren, einschließlich der Entlassung aus dem Dienst.543 Für Russland ist daher noch dringender als für die anderen Staaten anzuregen, dass der Gesetzgeber selbst Disziplinarverfahren nur im Rahmen eng begrenzter Tatbestände autorisiert, statt einzelnen Organen die Auslegung zu überlassen bzw. ein eigenes Tätigwerden durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu ersetzen. Bedauerlicherweise spricht die aktuelle Entwicklung in Russland gegen eine Neuregelung und Präzisierung. Ein 2011 vom Justizministerium eingebrachter Gesetzesentwurf544 scheiterte wohl vor allem an der Opposition des Richterrats der Russischen Föderation.545 Auch wenn die Kritik des Richterrats hinsichtlich eines speziellen Disziplinargrunds, auf den noch einzugehen ist,546 zu teilen ist, hätte durch einen erweiterten Katalog von Gründen der weite Ermessenspielraum der Qualifikationskollegien und Gerichtspräsidenten eingeengt, und die Unabhängigkeit der Richter vor der missbräuchlichen Anwendung der Disziplinarhaftung geschützt werden können.547 Als besonderes Beispiel unpräziser Gründe für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens sei abschließend auf den Disziplinargrund der Verletzung richterlicher Ethik eingegangen, der in drei der vier Staaten Probleme aufweist. Obwohl die zwischen 2002 und 2008 eingeführten Ethikkodexe für Richter in den vier Staaten548 relativ unpräzise sind, findet sich im richterlichen Disziplinarrecht in diesen Staaten der Verweis, dass eine Verletzung der richterlichen Ethik einen Disziplinarverstoß darstelle. Problematisch ist dies vor dem Hintergrund der charakteristisch vagen Natur von Ethikregeln und dem demgegenüber repressiven und für das sensible Gut

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543 Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Rn. 81. 544 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII. 4. 545 Gutachten des Richterrats der Russischen Föderation zu dem Entwurf für das Bundesgesetz „Über die Änderung in Art. 12.1 des Gesetzes der Russischen Föderation „Über den Status von Richtern in der Russischen Föderation“.“ (09.11.2011), (zuletzt besucht am 18.03.2012). Wenngleich die Bedenken des Richterrats gegen einen spezifischen neu einzuführenden Disziplinargrund, der gleich noch eine Rolle spielen wird, nachvollziehbar sind, ist bedauerlich, dass der Richterrat sich grundsätzlich gegen einen Bedarf für eine Neuregelung wandte. Kulikov, Sie haben einen Tadel, Euer Ehren – Das Justizministerium schlägt vor, die Liste der Strafen für Richter zu vervollständigen, in: Российская газета, 16.11.2011, (zuletzt besucht am 18.03.2012). 546 Dazu sogleich C. II 2. b) bb) (2). 547 Mit derselben Bewertung: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII. 1., 5.; Human Rights Council, Promotion and Protection of all Human Rights, Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights, Including the Right to Development, Report of the Special Rapporteur on the independence of judges and lawyers, Leandro Despouy, Addendum, Mission to the Russian Federation, Rn. 99. 548 Ukraine 2002: Kuybida, Report on the Independence of the Judiciary in Ukraine, D.; Russland 2004: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, D.; Georgien 2007: Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, D.; Moldawien 2008: Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, D.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

der richterlichen Unabhängigkeit gefährlichen Instrumentarium des Disziplinarrechts dort, wo keine weiteren Anforderungen an die Verletzung des Ethikkodexes gestellt werden.549 Besonders drastisch ist die Rechtslage in dieser Hinsicht in Russland und Georgien, wo zumindest ohne gesetzgeberische Differenzierung jedwede Verletzung des Ethikkodexes einen Grund für ein Disziplinarverfahren darstellt.550 Aber auch Moldawien, das vor Gesetzesänderungen im Juli 2010 ein Disziplinarverfahren nur bei systematischer oder schwerwiegender Verletzung des Ethikkodexes vorsah,551 hat mittlerweile seine Gesetzeslage in eine rückschrittliche Richtung geändert, so dass nunmehr die Verletzung des Ethikkodexes generell einen Disziplinarverstoß darstellt.552 Dies öffnet das Tor für missbräuchliche Entfernungen von missliebigen Richtern aus dem Dienst und vorauseilenden Gehorsam, da der dehnbare Begriff der richterlichen Ethik angesichts der drastischen Folge eines Disziplinarverfahrens mit einer möglichen Entlassung aus dem Dienst zu großen Raum lässt.553 Möchte man eine Verletzung des Ethikkodexes als Disziplinarverstoß beibehalten, und nicht, wie teilweise in anderen Staaten, Ethikregelungen lediglich als Anleitung für ein idealtypisches richterliches Verhalten verstehen,554 müsste eine Balance zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit hergestellt werden. Als Vorbild könnte in dieser Frage die Ukraine dienen, die als einziges der vier Länder gesetzlich eine differenzierte Herangehensweise vorsieht, indem nur systematische oder grobe einmalige Verletzungen der richterlichen Ethik, die die Autorität der Justiz untergraben, ein Disziplinarverfahren zur Folge haben können.555

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549 Di Federico, Judicial Accountability and Conduct: An Overview, in: A. Seibert-Fohr (Hrsg.), Judicial Independence in Transition, 2012, S. 87 ff., C. 550 Russ. Richterstatusgesetz, Art. 12.1 I; so auch die abweichenden Richterin M. I. Kleandrowa zu: Verfassungsgericht der Russischen Föderation, Beschluss des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation in der Angelegenheit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 8 Abs. 1 und Art. 12.1. Abs. 1 des Richterstatusgesetzes und der Art. 19, 21 und 22 des Bundesgesetzes über die Organe der Richtergemeinschaft der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Beschwerde der Bürgerin A. V. Matjuschenko. Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 2 Abs. 2 i). 551 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VII. 1. 552 Siehe Moldaw. Richterstatusgesetz, Art. 22 Abs. 1 k). 553 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII. 4. 554 Für einen rechtsvergleichenden Überblick dazu, siehe Di Federico, Judicial Accountability and Conduct: An Overview, B., C., D. 555 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 83 Abs. 1 4). Zum Entwurf von 2011, der zwar die Schwellenregelung bzgl. richterlicher Ethik weiter vorsieht, aber auch die weite Regelung hinzufügt, dass ein Disziplinarverfahren durch andere Handlungen, die den Status des Richters diffamieren und die Autorität der Justiz untergraben, ausgelöst werden kann: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 92 Abs. 1 4). Eine andere Möglichkeit wäre, erst auf Ebene der Rechtsanwendung durch Kommentarliteratur zu den Ethikkodexen für eine einschränkende Anwendung zu sorgen. In diese Richtung gehen Di Federico zufolge Moldawien und Georgien, vgl. Di Federico, Judi-

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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(2) Anknüpfung am Urteil Eingangs wurde erwähnt, dass einige der westeuropäischen Staaten die Anknüpfung von Disziplinarmaßnahmen am Urteil selbst verbieten. Was aber bedeutet dieses grundlegende Prinzip, mit dem rechtstaatliche Disziplinarverfahren den Spagat zwischen beiden – der Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit – bewerkstelligen? Der EGMR hat sich zu dieser Frage indirekt geäußert, indem er in einem Urteil von 2005 gegenüber der Ukraine feststellte, dass es keine klaren, gesetzlich vorgesehenen Kriterien und Verfahren für das richterliche Disziplinarrecht gebe, und stattdessen in der Praxis die Anzahl der aufgehobenen und angefochtenen Entscheidungen für den Fortgang der richterlichen Karriere eine Rolle spiele. Dies führte er als negatives Merkmal in einer Liste auf, die die Macht und den Einfluss der höheren Instanz auf die Richter der unteren Instanz verdeutlichen sollte. Dem lässt sich entnehmen, dass der EGMR dem in östlichen Europaratsstaaten teilweise rechtlich vorgesehenen, teilweise faktisch angelegten Maßstab der statistischen Daten kritisch gegenüber steht.556 Das Ministerkomitee des Europarats warnt gar in seiner Empfehlung von 2010 explizit davor, die mangelnde Stabilität des Urteils in höherer Instanz als Grund für ein Disziplinarverfahren heranzuziehen; allerdings dürften im Falle von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit Disziplinarmaßnahmen auch am Kern der eigentlichen Spruchtätigkeit anknüpfen.557 Nimmt man beide Empfehlungsbausteine zusammen – einerseits keine persönliche Haftung bei Aufhebung oder Abänderung der Entscheidung, andererseits aber disziplinarische Folgen, die an das Urteil anknüpfen, sofern Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit vorlagen – bedeutet dies, dass eine Aufhebung oder Abänderung eines Urteils in der Rechtsmittelinstanz aufgrund einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Interpretation des Gesetzes, Bewertung der Tatsachen oder Beweiswürdigung durch den unterinstanzlichen Richter aus Sicht des Ministerkomitees zu disziplinarischen Sanktionen führen kann. Folgt man dieser differenzierten Sichtweise, da nicht ausgeschlossen ist, dass sich der EGMR dem in Zukunft in Fortentwicklung seiner Salov-Rechtsprechung anschließen wird und sie bis dahin die einzige Orientierungsquelle bietet, gilt die Aussage, Disziplinarverfahren dürften nicht an dem Urteil selbst ansetzen nicht derart pauschal. Sie dürfen lediglich grundsätzlich nicht an dem Urteil ansetzen und eine Aufhebung oder Änderung iSv Stabilitätsstatistiken darf nicht alleine den Grund für ein solches Verfahren darstellen. Der Grund-

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cial Accountability and Conduct: An Overview, B. Dies ist insofern jedoch nicht verwunderlich, als dass der Kommentar zu den georgischen Ethikregeln mit Unterstützung von ABA entstanden ist: ABA Rule of Law Initiative, Commentary to the Judicial Ethical Rules of Georgia, 2008; vgl. auch, dass Russland 2005 ein Ethikkomitee eingerichtet hat, das den Inhalt der Ethikvorschriften verdeutlichen und Anwendungshilfe geben soll: Schwartz/ Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, D. II. 556 EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 f. 557 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010), Rn. 66, 70.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

satz endet aber bei einer grob fahrlässigen oder gar vorsätzlich fehlerhaften Rechtsanwendung. In Moldawien und der Ukraine besteht die Möglichkeit, einen Richter disziplinarisch zur Verantwortung zu ziehen, dessen Urteil in höherer Instanz aufgehoben oder abgeändert wird. Kumulativ muss jedoch in Moldawien hinzutreten, dass der Richter entweder vorsätzlich das Gesetz verletzt hat oder nur fahrlässig, wobei in letzterem Fall bei den Verfahrensbeteiligten zusätzlich ein essentieller materieller oder immaterieller Schaden entstanden sein muss.558 Die einfache Fahrlässigkeit weicht damit von der Empfehlung des Ministerkomitees ab, die neben Vorsatz nur grobe Fahrlässigkeit gelten lässt – eine wesentliche Hürde, da es sich um den Kernbereich richterlicher Spruchtätigkeit handelt, der grundsätzlich für keinerlei Disziplinarhaftung offen stehen sollte. Die Verschärfung im moldawischen Disziplinarrecht über den Schaden, knüpft, anders als die Empfehlung, nicht an dem richterlichen Verhalten an, sondern an dessen Folge. Mithin sind die Anknüpfungspunkte unterschiedlich und die moldawische Regelung, soweit sie nur fahrlässiges Verhalten fordert, nicht mehr im Einklang mit der Empfehlung. Gleiches gilt für die Ukraine, die bei Vorsatz oder gar sorgloser Ausführung der richterlichen Pflichten (mithin einfacher Fahrlässigkeit) eine disziplinarische Anknüpfung am Urteil selbst zulässt.559 In Moldawien scheint, anders als in der Ukraine, außerdem die Beweislastverteilung der Haftungsregelung problematisch zu sein, indem sie dem Richter durch eine doppelte Verneinung aufgibt, zu entkräften, dass sein Verhalten nicht vorsätzlich war: Eine Aufhebung oder Änderung der richterlichen Entscheidung führt nicht zur Verantwortlichkeit des Richters, wenn er das Gesetz nicht vorsätzlich verletzt hat. Es ist daher anzuregen, die bestehende Regelung dergestalt zu reformieren, dass bloße durch grobe Fahrlässigkeit ersetzt wird, und die Regelung so umformuliert wird, dass ein Richter nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, „außer er verletzt vorsätzlich das Gesetz“. Ein weiterer Haftungsgrund in Moldawien, der ebenfalls der Empfehlung des Ministerkomitees entgegen stand, wurde 2011 in einer bemerkenswerten Entscheidung des moldawischen Verfassungsgerichts für verfassungswidrig erklärt, da er mit den Prinzipien der Gewaltenteilung, der alleinigen Gesetzesunterworfenheit und richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht vereinbar sei. Moldawien hatte bis dahin vorgesehen, dass bei einer späteren Verurteilung Moldawiens durch den EGMR wegen einer nationalen konventionswidrigen Gerichtsentscheidung nachträglich ein Disziplinarverfahren gegen den verantwortlichen Richter eingeleitet werden könne.560 Das moldawische Verfassungsgericht stützte seine Argumentation, neben Art. 6 Abs. 1 EMRK, auf die Empfehlung des Ministerkomitees von 2010: Eine Anknüpfung am Urteil selbst ohne besondere Anforderungen stelle eine zu niedrige Hürde dar und bewirke eine Ein-

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Moldaw. Richterstatusgesetz, Art. 22 Abs. 2. Gesetz über den Gerichtsaufbau und den Status von Richtern, Art. 83 Abs. 2. 560 Moldaw. Richterstatusgesetz, Art. 22 Abs. 1 p), mit dem Urteil vom 07.06.2011 für verfassungswidrig erklärt. 558 559

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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schüchterung der Richter aus Angst vor Disziplinarsanktionen, weshalb zur Wahrung der Balance zwischen Verantwortlichkeit und Unabhängigkeit zumindest der Beweis des Vorsatzes oder grober Fahrlässigkeit beim Richter zu erbringen sei.561 Georgien sieht mindestens einen Haftungsgrund vor, der unmittelbar auf den Kernbereich richterlicher Entscheidungsfindung abzielt, ohne entsprechende Sicherungsmechanismen etabliert zu haben: Die sehr weite Formulierung der groben Rechtsverletzung während der Ausführung richterlicher Amtsbefugnisse, schließt auch die eigentliche Entscheidungsfindung ein.562 Die Venedig-Kommission sah diesen Passus daher 2007 in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetz, an dem sich seitdem nicht viel geändert hat, als unvereinbar mit europäischen Standards an.563 Zwar wird im Weiteren in der georgischen Regelung ausgeführt, dass eine grobe Rechtsverletzung eine solche sei, bei der der Richter imperative Vorschriften der Verfassung, internationaler Verträge und der Gesetze Georgiens verletze, wodurch den gesetzlichen Rechten und Pflichten eines Prozessbeteiligten, eines Dritten oder dem öffentlichen Interesse Schaden zugefügt werde oder werden könnte. Jedoch trifft auch hier, wie hinsichtlich Moldawiens zu, dass nach der jüngsten Empfehlung des Ministerkomitees, Disziplinarmaßnahmen nur dann an der richterlichen Spruchtätigkeit anknüpfen sollten, wenn Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit vorlagen564 – eine vor dem Hintergrund des Ausgleichs zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit notwendige Hürde. Georgien sollte daher bei den Gründen für ein Disziplinarverfahren ebenfalls nachbessern, um den Ausgleich zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit zu bewerkstelligen. Besonders problematisch ist die Rechtslage in Russland, wo es, wie im vorangehenden Kapitel gesehen, an einer differenzierten Ausgestaltung möglicher Disziplinargründe im Gesetz vollständig fehlt.565 Mithin findet auch keinerlei gesetzliche Einschränkung iSe vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verhaltens mit Blick auf die Anknüpfung an der Entscheidung selbst statt. Dies spiegelt auch die Praxis wider, in der immer wieder an das Urteil Disziplinarsanktionen geknüpft werden: Wenngleich offiziell teilweise andere Gründe angegeben werden, sind es Expertenstimmen zufolge häufige Freisprüche und aufgehobene Urteile, die als milde Rechtsprechung und Schaden für die Interessen des Justizwesens und die Autorität der

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561 Verfassungsgericht der Republik Moldawien, Beschluss Nr. 12 vom 07.06.2011 über die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Regelung Art. 22 Abs. 1 p) des Gesetzes Nr. 544XIII vom 20. Juni 1995 „Über den Status von Richtern“ in der Redaktion des Gesetzes Nr. 152 vom 8. Juli 2010 über „Änderung und Ergänzung in einigen Gesetzen“, 07.06.2011, Rn. 7 f. 562 Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 2 Abs. 2 a). 563 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Law on Disciplinary Responsibility and Disciplinary Prosecution of Judges of Common Courts of Georgia, Rn. 16 ff. 564 Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 66. 565 Russ. Richterstatusgesetz, Art. 12.1 Abs. 1.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

Judikative oder als unzureichende Qualität der Entscheidungen des Richters gedeutet werden und daher zu Disziplinarverfahren bis hin zur Entlassung aus dem Dienst führen.566 Wenngleich man gegen vorgeschobene Gründe nicht abschließend mit einer rechtlichen Normierung des grundsätzlichen Ausschlusses der Anknüpfung am Urteil selbst vorgehen können wird, ist dies ein erster Schritt, um durch eine gesetzliche Verankerung ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es diesen Anknüpfungspunkt außer in Fällen des Vorsatzes oder der groben Fahrlässigkeit zum Schutz der Unabhängigkeit nicht geben darf. Und mehr noch: Sollte in höherer Disziplinarinstanz aufgedeckt werden, dass die Disziplinarsanktion ohne das Vorliegen von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit am Urteil anknüpfte, würden im Falle einer gesetzlichen Normierung der jeweilige Gerichtspräsident oder die Mitglieder des Qualifikationskollegiums ebenfalls gegen dann geltendes Recht verstoßen – mit möglichen disziplinarischen Folgen. Eine Kodifizierung dieses Ausschlusses ist mithin ebenso dringend geboten wie die Normierung eines detaillierten Katalogs an Disziplinargründen. Leider deutete ein 2011 gescheiterter Gesetzesentwurf in Russland in eine gegenteilige Richtung: Zur Konkretisierung der vagen gesetzgeberischen Vorschriften hatte das russische Justizministerium vorgeschlagen, als weiteren Disziplinargrund vorzusehen, dass das Fällen einer rechtwidrigen Gerichtsentscheidung ein grobes Disziplinarvergehen darstelle und zu einer Entlassung führe, wenn die Gesetzeswidrigkeit in der nächsthöheren Instanz bestätigt werde. Der Richterrat der Föderation sprach sich deutlich gegen diese Neuregelung aus, da danach jede beliebige Abänderung einer gerichtlichen Entscheidung in höherer Instanz, im Zusammenhang mit einer unrichtigen Anwendung der materiellen oder prozessualen Vorschriften durch die Ausgangsinstanz, bereits einen Grund für eine disziplinarische Entlassung darstellen würde.567 Glücklicherweise ist dieser Entwurf vorerst vom Tisch, der die Hierarchien in der russischen Justiz und damit die Abhängigkeit innerhalb der Judikative weiter verschärft hätte, statt zu einem gesunden Verständnis von richterlicher Verantwortlichkeit beizutragen. Russland sollte sich stattdessen an den anderen hier untersuchten Staaten – abgesehen von den kritisierten Aspekten – orientieren, die, wie etwa Moldawien, weitestgehend detaillierte Disziplinargründe vorsehen. Nur so ist die Abwägung zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit herzustellen, die die geltende Rechtslage in Russland vermissen lässt.

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566 Vgl. mit Nachweisen: Solomon, Informal Practices in Russian Justice: Probing the Limits of Post-Soviet Reform, S. 85; Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Rn. 81 mit der Bestätigung, dass Vorsatz nicht verlangt würde; Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII. 5., mit weiteren Beispielen für willkürliche Entlassungen bzw. Versuche in diese Richtung. 567 Gutachten des Richterrats der Russischen Föderation zu dem Entwurf für das Bundesgesetz „Über die Änderung in Art. 12.1 des Gesetzes der Russischen Föderation ,Über den Status von Richtern in der Russischen Föderation‘.“

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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cc) Verfahrensstandards Die Balance zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit muss sich darüber hinaus in der Ausgestaltung des Verfahrens widerspiegeln. Ohne die Einrichtung und Einhaltung von Garantien für ein faires Verfahren im Rahmen der Ergreifung von Disziplinarmaßnahmen wird die Balance zur richterlichen Unabhängigkeit nicht gewahrt, denn die Aussicht auf ein unfaires Disziplinarverfahren ohne Rechtsschutzmöglichkeiten vermag die Unabhängigkeit des Richters im Vorfeld ebenso zu beeinflussen und einschüchternde Wirkung zu zeigen wie die mangelnde Präzision von Disziplinargründen. Dies bestätigt die Rechtsprechung des EGMR, der iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Disziplinarorgans, sowie im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der Art. 8 und 10 EMRK, Mindestverfahrensstandards gefordert hat: Dem betroffenen Richter muss erstens im Vorfeld bekannt gemacht werden, welche Vorwürfe ihm zur Last gelegt werden sowie vorhandene Zeugenaussagen und der Ermittlungsbericht gegen ihn zugehen. Das Verfahren selbst muss kontradiktorischen Charakter haben und dem Richter in einem frühen Stadium bereits Gelegenheit zur mündlichen Stellungnahme und Verteidigung geben. Zweitens muss er die Möglichkeit haben, die Entscheidung durch ein Rechtsmittel zu einem unparteiischen Organ anzugreifen.568 Das Ministerkomitee hat die Notwendigkeit einer Rechtsmittelinstanz gegen eine angeordnete Disziplinarmaßnahme ebenfalls angemahnt.569 Die Analyse der Rechtslage in den vier Staaten zeigt mit Blick auf die erstgenannten Verfahrensstandards aus der Rechtsprechung des EGMR für Disziplinarverfahren ein weitestgehend positives Bild. Einzig die Ukraine sieht keine frühzeitige Benachrichtigung des Richters von den Vorwürfen und eine Stellungnahme bereits im Ermittlungsverfahren vor, sondern erst, wenn die Eröffnung des Disziplinarverfahrens bereits beschlossen ist.570 Alle vier Staaten garantieren gesetzlich ein kontradiktorisches Verfahren, bei dem der Richter anwaltlich vertreten sein kann, angehört werden und das Recht haben soll, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen und sich zu verteidigen. Mit Ausnahme der Ukraine garantieren alle anderen drei Staaten zudem gesetzlich, dass der betroffene Richter die Einbestellung von Zeugen beantragen kann;571 in der Ukraine ist eine Anpassung aber in einem Entwurf von

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Siehe oben B. I. 3. h). Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 69. 570 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 86 Abs. 8. An dem späten Zeitpunkt ändert auch der Entwurf vom Sommer 2011 nichts, vgl. European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 96 Abs. 2. Für eine konventionskonforme Rechtslage, vgl. Moldawien: Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VII. 3. 571 Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII. 3.; Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VII. 3.; Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. VII. 3. 568 569

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

2011 zur Abänderung des Gesetzes über das Gerichtswesen und den Status von Richtern vorgesehen.572 Daher beschränkt sich die nachfolgende Analyse auf die Gewährleistung der Anforderungen des EGMR an die Rechtsmittelinstanz sowie die Öffentlichkeit und Transparenz von Disziplinarverfahren. (1) Eindeutige Zuständigkeit und Unparteilichkeit der Rechtsmittelinstanz In verschiedener Hinsicht problematisch ist das Rechtsmittelverfahren gegen die Ausgangsentscheidung in Disziplinarsachen, das in allen vier Staaten regelmäßig mit mehreren Instanzen vorgesehen ist.573 Teilweise wird die Umständlichkeit des Rechtsmittelverfahrens beklagt, das nicht unmittelbar zu einem Gericht, sondern zunächst zu dem Richterrat führe, wie in Moldawien.574 In anderen Staaten, wie der Ukraine und Russland, stiftet Unklarheit, dass dieser Ablauf nicht sukzessive vorgesehen ist, sondern der Rechtsweg alternativ zu dem Hohen Justizrat bzw. Hohen Qualifikationskollegium oder zu einem Verwaltungsgericht (Ukraine) bzw. allgemeinen Gericht auf Ebene des Föderationssubjekts (Russland) beschritten werden kann, ohne Vorgabe, wann welcher Weg zu wählen ist.575 Beides – die sukzessive Beteiligung in Moldawien, ebenso wie die unklare Alternativität in der Ukraine und Russland – werfen Fragen hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 EMRK auf. Ob ein Richterrat als zunächst zwingend oder alternativ zuständige Rechtsmittelinstanz iSd Forderung des EGMR nach einer unparteiischen Rechtsmittelinstanz problematisch ist, hängt davon ab, inwieweit der Richterrat im Vorfeld bereits an

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572 Siehe zur aktuellen Rechtslage: Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 86 Abs. 12. Zu dem Entwurf von 2011: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 97 Abs. 4. 573 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 89; Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 60 ff.; Moldaw. Gesetz über den Hohen Richterrat, Art. 22, 25. 574 Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VII. 3., F. 575 Zur Zuständigkeit des Hohen Justizrats in der Ukraine: Verfassung der Ukraine, Art. 131 Abs. 1 3); Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 3 Abs. 4, Art. 46. Zur Zuständigkeit von Beiden: Gesetz über den Gerichtsaufbau und den Status von Richtern, Art. 89 Abs. 1. Siehe dazu kritisch auch: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 77. Auch durch den neuen Entwurf von 2011 bleibt die unklare Alternativität bestehen: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 100 Abs. 1. Daher weiterhin kritisch: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Draft Law Amending the Law on the Judiciary and the Status of Judges and Other Legislative Acts of Ukraine, Rn. 57. In Russland besteht diese Unklarheit jedenfalls für Abmahnungen, die von den Qualifikationskollegien der Subjekte ausgesprochen werden: Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 26 Abs. 1. Für eine Entlassung aus dem Dienst durch die Qualifikationskollegien der Subjekte, ebenso wie für das Hohe Qualifikationskollegium steht eindeutig der Rechtsweg zu dem neuen Disziplinargericht offen: Art. 26 Abs. 5 desselben Gesetzes.

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dem Disziplinarverfahren beteiligt war. Dies ist in der Ukraine, wo der Richterrat als alternative Rechtsmittelinstanz im Hinblick auf die Richter unterer Instanzen fungiert, das Verfahren in erster Instanz aber durch die Hohe Qualifikationskommission durchgeführt wird,576 unproblematisch. In Moldawien hingegen ist der moldawische Richterrat Rechtsmittelorgan, obwohl aus dessen Mitte bereits das Verfahren in der Ausgangsinstanz eingeleitet wurde. Gerechtfertigte Zweifel, die nach der Rechtsprechung des EGMR zur objektiven Unparteilichkeit grundsätzlich ausreichen, dürften erst ausgeräumt sein, wenn ein vollkommen neutrales Organ, das zuvor nicht mit dem Disziplinarverfahren beschäftigt war, für das Rechtsmittel zuständig ist. Georgien sieht zwar eine eindeutige, unmittelbare Zuständigkeit einer speziellen Disziplinarkammer am Obersten Gericht für Rechtsmittel gegen Disziplinarentscheidungen vor, während der Richterrat auf Rechtsmittelebene nicht mehr beteiligt ist. Bei genauerer Beobachtung stellen sich jedoch Unparteilichkeitprobleme mit Blick auf den Präsidenten des Obersten Gerichts, der drei Richter des Obersten Gerichts zur Wahl in die Disziplinarkammer vorschlägt577 und zugleich selbst und durch seinen Vorsitz im Richterrat, das Verfahren in erster Instanz einschließlich der Initiierung bereits dominiert. Im Sinne der vom EGMR in „ParlovTkalčić gegen Kroatien“ angemahnten Kompetenzteilung und der in „Kudeshkina gegen Russland“ eingeforderten Gewährleistung einer unparteiischen Rechtsmittelinstanz, sollte der Präsident des Obersten Gerichts in der Rechtsmittelinstanz keine Rolle mehr spielen. Stattdessen könnte die Disziplinarkammer am Obersten Gericht durch Wahl der Mitglieder aus der Mitte des Obersten Gerichts und Richter unterer Instanzen besetzt werden, um die Richterschaft in dieser wichtigen Frage in ihrer Gesamtheit abzubilden und einer weiteren Verschärfung der Hierarchisierung entgegenzuwirken.578 Ebenso wirft die mangelnde Klarheit der Zuständigkeiten für das Rechtsmittel Probleme auf, wie sie in Russland und der Ukraine durch die Alternativität gegeben ist. Die Forderung des EGMR und des Ministerkomitees nach einem Rechtsmittel gegen die Ausgangsentscheidung dürfte klare Zuständigkeitsregelungen implizieren. Vor diesem Hintergrund ist der Ukraine anzuraten, die Alternativität im Sinne größerer Klarheit aufzugeben und stattdessen den Rechtsweg nur zu einem Gericht zu eröffnen. Die Streichung der Zuständigkeit des Hohen Justizrats als Rechtsmittelinstanz würde zudem eine Verringerung der Kompetenzen mit sich bringen, die bereits im Justizverwaltungskapitel für starke Richterräte angeraten wurde. In Russland besteht die Alternativität von Hohem Qualifikationskollegium und allgemei-

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576 Dies bleibt auch nach dem Entwurf von 2011 so; die Zuständigkeit in erster Instanz wird lediglich weg von der Hohen Qualifikationskommission auf eine „Richterdisziplinarkommission“ übertragen: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 93 Abs. 1 1), Art. 101 ff. 577 Report on the Independence of the Judiciary in Georgia, B. VII. 3. 578 Die mangelnde Einbeziehung der unteren Instanzen in wichtige Entscheidungen scheint in Georgien ohnehin problematisch zu sein: Id., B. III. 2.

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nem Gericht als Rechtsmittelinstanz für disziplinarische Abmahnungen durch die Qualifikationskollegien der Subjekte. 2010 wurde zudem ein spezielles Disziplinargericht eingerichtet,579 das allerdings ausschließlich als Rechtsmittelinstanz gegen die schärfste Disziplinarsanktion der Entlassung agiert.580 Dadurch wurde einerseits zwar ein unabhängiges Gericht geschaffen, welches – anders als das Hohe Qualifikationskollegium – weder einen Vertreter des Staatspräsidenten umfasst, noch unter der Macht der Gerichtspräsidenten steht.581 Auch wird durch das besondere Verfahren für Entlassungen aus dem Dienst, die besondere Schwere der Strafe betont, was im Sinne eines Verhältnismäßigkeitsgedanken sinnvoll sein kann. Andererseits vereinfacht es das ohnehin schon unübersichtliche System nicht. Wenngleich aus Sicht der bisherigen Rechtsprechung des EGMR an sich gegen das Hohe Qualifikationskollegium als Rechtsmittelinstanz ebenso wenig etwas einzuwenden sein dürfte, wie gegen ein allgemeines Gericht oder ein spezielles Disziplinargericht, so dürfte die Vereinbarkeit dort problematisch sein, wo ein unklares System mit verschiedenen Organen ein übersichtliches und damit effektives Rechtsmittelverfahren gegen Disziplinarsanktionen verhindert. Es ist daher anzuregen, das Disziplinargericht für alle Disziplinarsanktionen als einzige Rechtsmittelinstanz vorzusehen, und, ähnlich der Empfehlung für Georgien, Richter aller Instanzen zu beteiligen anstelle einer reinen Besetzung mit Richtern der Höchstgerichte. (2) Öffentlichkeit und Transparenz des Verfahrens Grundsätzlich sollten Disziplinarverfahren in den östlichen Europaratstaaten dem Verfahrensstandard der Öffentlichkeit genügen. Dies hat der EGMR zwar bislang nicht explizit für Disziplinarverfahren gegen Richter eingefordert, ist aber notwendige Folge aus seiner Rechtsprechung, Disziplinarverfahren an dem Maßstab von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu messen und mithin einem Gerichtsverfahren gleichzustellen.582 Daraus folgt, dass sie grundsätzlich dem Öffentlichkeitsprinzip aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK genügen müssen, welches nur ausnahmsweise aus den in Art. 6 Abs.1 S. 2 EMRK vorgesehenen Gründen eingeschränkt werden kann. Die Verkündung der Entscheidung muss dabei stets öffentlich sein. Diesem Verfahrensstandard

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579 Bundesgesetz über die Änderung einiger Gesetze der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der disziplinarischen Verantwortung von Richtern, 09.11.2009. Das Disziplinargericht (Дисциплинарное судебное присутствие) setzt sich aus sechs Richtern zusammen, die die Richter des Obersten Gerichts und Obersten Gerichts in Wirtschaftsstreitigkeiten aus ihrer Mitte wählen: Henderson, Tenure and Discipline Developments in Russia, S. 7 f. 580 Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 26 Abs. 5; Russ. Richterstatusgesetz, Art. 12.1 Abs. 1. 581 Henderson, Tenure and Discipline Developments in Russia, S. 8. Skeptischer: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, B. VII. 3., die die Einrichtung nur als Teilerfolg im Vergleich zu einer vollständigen Ersetzung der Qualifikationskollegien in Disziplinarsachen einordnen. 582 EGMR, Olujić gegen Kroatien, Rn. 37.

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entsprechen zumindest gesetzlich drei der vier Staaten.583 Einzig Georgien hält ein vollständig vertrauliches Verfahren ohne Zutritt der Öffentlichkeit ab, die am Verfahren Beteiligten sind zu strengster Vertraulichkeit verpflichtet und weder die Beteiligten, noch die Beweise werden veröffentlicht. Von der Entscheidung wird grundsätzlich, außer im Falle einer Entlassung, nur der Tenor veröffentlicht.584 Georgien verletzt mit dieser strikten Vertraulichkeit der Disziplinarverfahren gegen Richter nicht nur das Öffentlichkeitsprinzip aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK. Die Intransparenz lässt sich durch ihre fehlende Abwägung mit der richterlichen Unabhängigkeit auch nicht mit der Herstellung richterlicher Verantwortlichkeit rechtfertigen. dd) Sanktionen Schließlich muss die Abwägung zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit auch in der Sanktionierung disziplinarrechtlicher Verstöße erkennbar sein, indem, so die Rechtsprechung des EGMR, die disziplinarrechtliche Sanktion im Verhältnis zu dem Verstoß stehen muss.585 (1) Mangelnde Breite der Sanktionsmöglichkeiten Die vom EGMR eingeforderte Verhältnismäßigkeit zwischen Verstoß und Strafe wird in zwei der vier Staaten bereits durch das Fehlen eines umfangreichen gesetzlichen Katalogs an abgestuften Disziplinarstrafen unmöglich gemacht. Besonders gravierend ist dies in Russland, wo es nach geltender Rechtslage nur zwei Disziplinarstrafen gibt: eine bloße Verwarnung oder die Entlassung aus dem Dienst.586 Damit sind jedoch lediglich zwei Extreme normiert, und es fehlt an Abstufungen, mithilfe derer eine verhältnismäßige und damit konventionskonforme Entscheidung getroffen werden könnte. Das russische Verfassungsgericht vertrat zwar im Juli 2011 die Auffassung, die Regelung sei noch verfassungsgemäß, brachte aber zugleich zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber sich nicht gehindert fühlen solle, eine umfangreichere Liste an Disziplinarsanktionen vorzusehen.587 Ein daraufhin in die

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583 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 94 Abs. 6. Eine Verbesserung stellt die Neuregelung im Entwurf von 2011 dar, in dem explizit Gründe für den Ausschluss der Öffentlichkeit normiert werden, statt auf „von dem Gesetz vorgeschriebene Gründe“ zu verweisen: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 106 Abs. 6. Regelung über die Arbeitsweise der Qualifikationskollegien, Art. 4; bis vor kurzem wurden jedoch auch in Russland offenbar die Entscheidungsgründe nicht veröffentlicht: Schwartz/Sykiainen, Judicial Independence in the Russian Federation, VII. 5. Moldaw. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 18 Abs. 1. 584 Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 5, Art. 18, Art. 30 IV, Art. 81, Art. 82. 585 EGMR, Kudeshkina gegen Russland, Rn. 98 ff.; detaillierter oben unter B. I. 3. h). 586 Russ. Richterstatusgesetz, Art. 12.1 Abs. 1. 587 Verfassungsgericht der Russischen Föderation, Beschluss des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation in der Angelegenheit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der

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Duma eingebrachter Entwurf, der unter anderem eine Ausweitung des Sanktionskatalogs um einen Tadel und um die Herabsetzung der Qualifikationsklasse als zusätzliche Disziplinarsanktionen enthalten sollte, scheiterte.588 Dahinter ist die Opposition durch den Richterrat auf Föderationsebene zu vermuten, der sich mit Verweis auf den hohen Status von Richtern und wohl aus Sorge, dass ein erweiterter Katalog zu einer noch schnelleren Ergreifung von Disziplinarmaßnahmen gegen Richter führen könnte, deutlich dagegen ausgesprochen hatte. Insbesondere in der vorgesehenen Herabsetzung der Qualifikationsklasse, wie sie z. B. in Moldawien vorgesehen ist, sah der Richterrat Gefahren für die materielle Situation von Richtern.589 Das Scheitern ist aus Sicht der Verfasserin bedauerlich, da es der Schutz des hohen Status von Richtern, den der Richterrat für seine Ablehnung des Vorhabens bemühte, im Gegenteil gerade erfordert, einen abgestuften Katalog an Disziplinarstrafen vorzusehen, der Verhältnismäßigkeit ermöglicht und damit Schutz erst gewährt. Zwar im Rahmen der Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK, aber unter Betonung der gravierenden Folge des Amtsverlustes für Richter, ist dies auch der EGMRRechtsprechung in „Kudeshkina gegen Russland“ zu entnehmen.590 Dieselbe defizitäre Rechtslage weist die Ukraine auf, indem ebenfalls lediglich eine Rüge oder die Entlassung aus dem Dienst als Disziplinarstrafen vorgesehen sind.591 Ein 2011 vorgelegter Reformentwurf schlägt jedoch einen fünfstufigen Sanktionskatalog vor, der angefangen mit einer bloßen Verwarnung, über einen Tadel, einen schweren Tadel, über die befristete Suspendierung aus dem Dienst samt verpflichtender Entsendung an die staatliche Richterschule für eine Fortbildung, bis hin zur Entlassung aus dem Dienst reichen soll.592 Damit würde die Ukraine zumindest rechtlich einen ausreichenden Katalog vorsehen, um die Voraussetzungen für verhältnismäßige Strafen zu schaffen. Moldawien und Georgien sehen gesetzlich bereits die Voraussetzungen vor, um den Verhältnismäßigkeitsgedanken aus „Kudeshkina gegen Russland“ zwischen Strafe und Verstoß in Disziplinarverfahren zu verwirklichen.593 Diese reichen in

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Regelungen Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 8 Abs. 1 und Art. 12.1. Abs. 1 des Richterstatusgesetzes und der Art. 19, 21 und 22 des Bundesgesetzes über die Organe der Richtergemeinschaft der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Beschwerde der Bürgerin A. V. Matjuschenko, Rn. 5. 588 Kulikov, Sie haben einen Tadel, Euer Ehren – Das Justizministerium schlägt vor, die Liste der Strafen für Richter zu vervollständigen. 589 Gutachten des Richterrats der Russischen Föderation zu dem Entwurf für das Bundesgesetz „Über die Änderung in Art. 12.1 des Gesetzes der Russischen Föderation ,Über den Status von Richtern in der Russischen Föderation‘.“ 590 EGMR, Kudeshkina gegen Russland, Rn. 98. 591 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 88 Abs. 1 (Rüge), Art. 87 Abs. 5 iVm Art. 105 (Entlassung). 592 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 99 Abs. 1. 593 EGMR, Kudeshkina gegen Russland, Rn. 98 f.

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beiden Staaten zunächst von einer bloßen Verwarnung über einen Tadel hin zu einem schweren Tadel; Georgien sieht im Anschluss an diese drei Vorstufen bereits die Entlassung vor, sowie als weiteren Schritt die Streichung aus der Reserveliste für Richter der Allgemeinen Gerichte, kennt neben dem Disziplinarstrafsystem aber auch Disziplinarmaßnahmen, wie etwa ein Empfehlungsschreiben an den Richter oder die Entlassung vom Posten des Gerichtspräsidenten oder Stellvertreters.594 Das moldawische System sieht im Anschluss an die drei ersten Stufen zusätzlich die Herabstufung des Qualifikationsgrades, die Absetzung vom Posten des Gerichtspräsidenten bzw. Stellvertreters als Teil der Disziplinarstrafen, und letztlich die Entlassung aus dem Dienst vor.595 Es ist zu hoffen, dass sich die Ukraine und Russland den positiven Entwicklungen in Moldawien und Georgien in diesem Punkt anschließen werden, die Ukraine dem Entwurf von 2011 hinsichtlich des Disziplinarstrafenkatalogs Gesetzeskraft verleiht und Russland die durch die Rechtsprechung des EGMR und das eigene Verfassungsgericht angestoßene Entwicklung hin zu einem breiteren, ausdifferenzierten Sanktionskatalog fortsetzt, die jüngst gescheitert ist. Aktuell sind beide Disziplinarsysteme bereits wegen der gesetzlich fehlenden Breite an möglichen Sanktionen konventionswidrig. (2) Entlassung aus dem Dienst als ultima ratio Bereits aus dem in „Kudeshkina gegen Russland“ mit Blick auf Disziplinarstrafen gegen Richter formulierten Verhältnismäßigkeitsgedanken, aber auch der Rechtsprechung des EGMR zu der gesicherten Amtszeit, zu dem Grundsatz der Unabsetzbarkeit und dem in „Khrykin gegen Russland“ festgestellten Zusammenhang zwischen leicht möglichen Entlassungen aus dem Dienst und mangelnder Weisungsfreiheit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK, folgt darüber hinaus, dass die Entlassung aus dem Dienst nur eine ultima ratio Sanktion sein kann.596 Ein unpräzises und daher für willkürliche und allzu drastische Disziplinarentscheidungen offenes Disziplinarsystem, das leicht zu einer Entlassung aus dem Dienst führen kann, konfligiert mit Art. 6 Abs. 1 EMRK. Dass Ergebnis des Konflikts nur sein kann, Entlassungen lediglich unter bestimmten, im Gesetz spezifisch vorgesehenen materiellen und prozessualen Voraussetzungen als letzte Maßnahme zu ermöglichen, wenn kein milderes Mittel mehr adäquat wäre angesichts des gravierenden Verstoßes, spiegeln auch die jüngste Empfehlung des Ministerkomitees sowie Meinungen der Venedig-

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594 Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 4 Abs. 1 (Strafen), Art. 4 Abs. 2 (Maßnahmen). Ein derartiges Doppelsystem ist aus Sicht der Verf. nicht überzeugend, da unklar ist, weshalb eine Entlassung von einer hohen administrativen Position lediglich eine Maßnahme darstellt während eine Verwarnung eine Strafe ist. 595 Moldaw. Richterstatusgesetz, Art. 23 Abs. 1. 596 EGMR, Kudeshkina gegen Russland, Rn. 98 ff. Zur Amtszeit, die zwar nicht zwingend auf Lebenszeit angelegt sein, aber in ihrer Dauer stabil sein müsse, siehe oben B. I. 3. b). Zur Unabsetzbarkeit, siehe oben B. I. 3. c) aa); EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 32 ff.

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Kommission wider.597 Der ultima ratio Charakter von Entlassungen kann zusätzlich durch institutionelle Hürden gesichert werden, z. B. dem Erfordernis einer besonderen Mehrheit speziell für Entlassungen in dem Disziplinarorgan und/oder einer speziellen Zuständigkeit eines Verfassungsorgans. Letzteres sehen die hiesigen Staaten bereits vor.598 Problematisch ist hingegen die mangelnde materiell-rechtliche Hürde, die insbesondere in Russland und der Ukraine zur Sicherung des ultima ratio Charakters von Entlassungen von Richtern fehlt. In der Ukraine ist einfachgesetzlich lediglich vorgesehen, dass die Hohe Qualifikationskommission als Ergebnis eines Disziplinarverfahrens die Entlassung empfehlen kann, „wenn es hierfür Gründe gibt“.599 Zwar muss Letzteres im Sinne der ukrainischen Verfassung einschränkend ausgelegt werden, die abschließend normiert, welche Gründe zu einer Entlassung führen dürfen.600 Neben natürlichen Sachverhalten wie dem Erreichen des Ruhestandsalters,601 sieht die Verfassungsnorm als Verschuldenstatbestände die Verletzung des richterlichen Eides und die Verletzung der Inkompatibilitätsregeln vor.602 Insbesondere die Verletzung des

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597 Siehe exemplarisch: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the Law on Disciplinary Responsibility and Disciplinary Prosecution of Judges of Common Courts of Georgia, Rn. 29. Für die jüngste Empfehlung des Ministerkomitees, siehe Committee of Ministers of the Council of Europe, Recommendation CM/Rec(2010)12, Rn. 50. 598 Russland: Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder des Qualifikationskollegiums für Entlassungen, Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 23 Abs. 1. Außerdem in der Rechtsmittelinstanz Zuständigkeit eines speziellen Disziplinargerichts, Russ. Gesetz über Organe der Richtergemeinschaft, Art. 26 Abs. 5, und Russ. Richterstatusgesetz, Art. 12.1. Abs. 1. Ukraine: die Hohe Qualifikationskommission kann bei Entlassungen, anders als bei einer Rüge, nicht selbst entscheiden, sondern dem Hohen Justizrat lediglich empfehlen, dass dieser einen entsprechenden Antrag bei dem Organ einreicht, das auch die Ernennung vornahm (Staatspräsident oder Parlament, je nach Zeitpunkt), Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 87 Abs. 5; ebenso kann der Hohe Justizrat aus seiner Mitte heraus einen solchen Antrag ohne Empfehlung der Hohen Qualifikationskommission mit der Mehrheit der anwesenden Mitglieder stellen: Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 105 Abs. 2, 3 iVm Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 30 Abs. 2; Ukr. Gesetz über den Hohen Justizrat, Art. 31. Im Parlament ist die qualifizierte Mehrheit der verfassungsrechtlichen Mitgliederzahl erforderlich, Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 111 Abs. 4. In Planung ist sogar eine Zweidrittelmehrheit der verfassungsrechtlichen Mitgliederzahl des Richterrats: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 116 Abs. 3. In Moldawien kann über Entlassungen nur durch das Organ, das die Ernennung vornahm (Präsident oder Parlament, je nach Gerichtsebene), entschieden werden und nicht durch das Disziplinargremium. Moldaw. Gesetz über den Hohen Richterrat, Art. 24 Abs. 1. In Georgien ist lediglich eine einfache Mehrheit der Mitglieder des Richterrats für eine Entlassung vorgesehen, Georg. Organgesetz, Art. 63 Abs. 1 a) iVm Art. 65 Abs. 1 S. 2, Abs. 2. 599 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 87 Abs. 5. 600 Id., Art. 100. 601 Dafür und für weitere natürliche Gründe: Verfassung der Ukraine, Art. 126 Abs. 5. 602 Daneben stellt auch die rechtkräftige Verurteilung (Art. 126 Abs. 5 Nr. 6) einen verschuldensabhängigen Grund für eine Entlassung dar, jedoch nicht in Folge eines Disziplinarverfahrens.

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richterlichen Eides ist höchst unbestimmt und wertungsoffen und wird weder in der Verfassung noch einfachgesetzlich präzisiert,603 weshalb diese Bestimmung den ultima ratio Charakter von Entlassungen nicht wahrt. Erfreulicherweise berücksichtigt der Entwurf von 2011 zur Abänderung des Gesetzes über das Gerichtswesen und den Status von Richtern diese Kritikpunkte weitestgehend: Danach soll das neue Disziplinarorgan dem Richterrat eine Entlassung empfehlen können, wenn der Richter seinen Eid verletzt, was es für ihn unmöglich mache, das Richteramt weiter auszuüben. Dies soll gegeben sein bei systematischen bzw. wiederholten Disziplinarverstößen.604 Daneben kann nach dem Entwurf das Ausnutzen des Richterstatus, um einen unrechtmäßigen materiellen Vorteil für sich oder Dritte zu erhalten, das Tätigen von Ausgaben durch den Richter oder seine Familienmitglieder, die das Einkommen des Richters oder der Familienmitglieder übersteigen,605 oder das Begehen eines Disziplinarverstoßes, obwohl bereits eine Disziplinarstrafe verhängt und noch nicht wieder aufgehoben ist,606 eine Entlassung nach sich ziehen. Dadurch regelt der Entwurf von 2011 nicht nur alle maßgeblichen Fragen selbst, sondern sieht auch die wichtige Hürde der Wiederholung und damit Systematik der Verletzung vor, die der Klarstellung des ultima ratio Charakters von Entlassungen dient.607 Er sollte in diesem Punkt nicht nur Gesetzeskraft in der Ukraine erlangen, sondern könnte überwiegend608 auch in Russland Vorbild sein. Russland bildet materiell-rechtlich das Schlusslicht der hier untersuchten Staaten und bleibt sogar hinter der Ukraine (ohne den Änderungsentwurf von 2011) zurück. Nach russischer Gesetzeslage ist gar nicht definiert, wann eine bloße Abmahnung und wann eine Entlassung aus dem Dienst zu verhängen ist.609 Lediglich die Regeln über die Arbeitsweise der Qualifikationskollegien, die nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch das Hohe Qualifikationskollegium verabschiedet wurden, bestimmen, dass im Falle des Fehlens ausreichender Gründe für eine vorzeitige Beendigung der Befugnisse des Richters eine Abmahnung als Disziplinarstrafe zu wählen

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603 Ukr. Richterstatusgesetz, Art. 105. European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Joint Opinion on the Law on the Judicial System and the Status of Judges of Ukraine, Rn. 86. 604 European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Draft Law on Amendments to the Law on the Judiciary and the Status of Judges and to Other Legal Acts of Ukraine, Art. 98 Abs. 5. 605 Id., Art. 99 Abs. 4 Nr. 2 iVm Art. 92 Abs. 6 bzw. 7. Diese beiden Gründe, die offensichtlich der Korruptionsbegrenzung dienen, berücksichtigen allerdings in ihrer Schärfe aus Sicht der Verf. nicht den ultima ratio Charakter, den Entlassungen aus dem Dienst nach der EGMR-Rechtsprechung haben sollten. 606 Id., Art. 99 Abs. 4 Nr. 3. Dieser Grund ist letztlich überflüssig, da er in dem ersten Disziplinargrund der Wiederholung aufgeht. 607 Allerdings sollte der wertungsoffene Begriff der Eidverletzung aus Gründen der Rechtssicherheit ganz aus dem Entwurf entfernt werden, da er letztlich durch andere Tatbestände ausgefüllt wird und damit verzichtbar ist. 608 Siehe zu der Kritik der Verf. die vorangehenden Fußnoten. 609 Russ. Richterstatusgesetz, Art. 12.1.

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ist.610 Abgesehen davon, dass dadurch nicht klarer wird, wann eine Entlassung adäquat ist, sondern lediglich, dass diese eine schwerere Strafe darstellt als eine Abmahnung, stimmt das Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht mit dem ultima ratio Gedanken überein. Statt den Grundsatz in der Abmahnung zu sehen und eine Entlassung nur dann für möglich zu halten, wenn eine Abmahnung – in Anbetracht etwa der Schwere des Verstoßes und/oder seines Wiederholungscharakters – nicht mehr im Verhältnis zum Verstoß stünde, sehen die Regelungen über die Arbeitsweise der Qualifikationskollegien vor, dass nur dann, wenn eine Entlassung nicht in Betracht kommt, eine Abmahnung auszusprechen ist. Ein Richter muss in der Konsequenz fürchten, im Regelfall entlassen zu werden, da das zuständige Qualifikationskollegium nur zwei Varianten zur Auswahl hat und diese entsprechend gewichtet. Die für die richterliche Unabhängigkeit unabdingbare, gesetzlich zugesicherte Amtszeit wird zu einer Farce.611 Zwar hat das russische Verfassungsgericht durch seine Auslegung der relevanten Bestimmung des Richterstatusgesetzes gewisse Hürden etabliert: So stellte es 2008 klar, dass eine Entlassung eines Richters wegen verschiedener Verfassungsprinzipien, darunter der Unabhängigkeit und Amtszeit von Richtern, wegen Art. 6 EMRK und der Empfehlung des Ministerkomitees von 1994, grundsätzlich nicht wegen eines Fehlurteils in Betracht komme. Vielmehr müssten bei Entscheidungen über eine Disziplinarstrafe unter anderem die Schwere des Verstoßes und der Grad der Rechtsverletzung einbezogen werden.612 2011 hat das Verfassungsgericht wieder betont, dass Entlassungen nur dann verfassungsgemäß seien, wenn entweder andere Mittel zur Einwirkung auf den Richter, um weitere Verletzungen von seiner Seite zu verhindern, nicht existierten, oder die durch den Richter begangene Verletzung die Glaubwürdigkeit der Justiz untergrabe und kein Anlass bestehe, in Zukunft eine faire und professionelle Erfüllung der richterlichen Pflichten zu erwarten. Explizit mahnte das Verfassungsgericht in dem Beschluss von Juli 2011 an, dass zur Wahrung der Balance zwischen richterlicher Verantwortlichkeit und dem Prinzip der Unabsetzbarkeit von Richtern zunächst von der Abmahnung und erst als äußerste Maßnahme von der Entlassung Gebrauch gemacht werden dürfe.613 Dass jedoch auch die Konkretisierung durch das Verfassungsgericht nichts

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Regelung über die Arbeitsweise der Qualifikationskollegien, Art. 28 Abs. 8. Solomon, The Accountability of Judges in Post Communist States: From Bureaucratic to Professional Accountability, B.; Solomon, Informal Practices in Russian Justice: Probing the Limits of Post-Soviet Reform, S. 85. 612 Verfassungsgericht der Russischen Föderation, Beschluss des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation in der Angelegenheit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen Art. 6.1 und Art. 12.1. des Richterstatusgesetzes und der Art. 21, 22 und 26 des Bundesgesetzes über die Organe der Richtergemeinschaft der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Beschwerde der Bürger G. N. Beljusowoi, G. I. Siminoi, Ch. B. Sarkitowa, S. B. Semak und A. A. Filatowoi, 28.02.2008. 613 Dennoch hat es bedauerlicherweise die vom Gesetzgeber so undifferenziert vorgesehene Rechtslage für verfassungsmäßig befunden: Verfassungsgericht der Russischen Föderation, Beschluss des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation in der Angelegenheit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 8 Abs. 1 und Art. 12.1. Abs. 1 des Richterstatusgesetzes und der Art. 19, 21 und 22 des Bundesgesetzes 610 611

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an der Praxis geändert hat und insbesondere die angemahnte Präzision im Gesetz nicht ersetzen kann, zeigt sich immer wieder in der jüngeren EGMR-Rechtsprechung: In „Kudeshkina gegen Russland“ von 2009 kritisierte der EGMR die fehlende Verhältnismäßigkeit zwischen der drastischen Disziplinarstrafe der Entlassung und dem begangenen Disziplinarverstoß,614 in „Khrykin gegen Russland“ stellte der EGMR 2011 die Angst vor Disziplinarmaßnahmen und insbesondere vor einer Entlassung als besonders ausgeprägt unter russischen Richtern fest und sah in der ungebremsten Macht der Gerichtspräsidenten mit Blick auf Entlassungen einen Grund für vorauseilenden Gehorsam der Richter.615 Die PV des Europarats hat diese Einschüchterung unter russischen Richtern ebenfalls unter anderem auf die Abwesenheit von deutlichen Hürden für eine Entlassung und damit Einschränkung des Ermessens der zuständigen Organe zurückgeführt.616 Dies zeigt, dass sich die missbräuchliche Praxis nur ändern kann, wenn die drastische Folge von Entlassungen aus dem Dienst bereits im Gesetz unter erschwerte Anforderungen, wie etwa die Schwere und Wiederholung gesetzlich präzise festgelegter Disziplinarvergehen, gestellt und gegen weitere Disziplinarstrafen abgegrenzt wird. Dies würde nicht nur die richterliche Unabhängigkeit stärker schützen und mit der richterlichen Verantwortlichkeit in Balance bringen. Russland könnte auch weitere Verurteilungen verhindern, die wegen dieser Problematik für die Zukunft in großer Zahl zu erwarten sind.617 Sehr viel fortschrittlicher, wenngleich nicht vollständig im Einklang mit der EMRK sind das georgische und das moldawische Disziplinarstrafensystem. So garantiert das georgische Richterdisziplinargesetz zwar, dass nur bei bestimmten Disziplinarvergehen eine Entlassung erwogen werden darf. Unter diesen Disziplinarvergehen befinden sich jedoch solche, wie eine grobe Rechtsverletzung, die Nichtübereinstimmung von Interessen des Richters mit richterlichen Pflichten oder eine unwürdige Handlung des Richters, welche das Ansehen des Gerichts beeinträchtige, die Nichterfüllung oder unangemessene Erfüllung richterlicher Pflichten oder Verstöße gegen die richterliche Ethik – mithin genau die Gründe, die für ihre mangelnde und damit gefährdende Ungenauigkeit kritisiert wurden.618 Zwar müssen die Schwere des Verstoßes, die Anzahl der Vergehen und in der Vergangenheit began-

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über die Organe der Richtergemeinschaft der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Beschwerde der Bürgerin A. V. Matjuschenko, 20.07.2011, Rn. 4. 2. 614 EGMR, Kudeshkina gegen Russland, Rn. 98. 615 EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 36 ff. 616 Vgl. für Beispiele: Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report Doc. 11993 on abuses of the criminal justice system, Rn. 81. 617 Zu weiteren am EGMR anhängigen Beschwerden von Seiten russischer Richter über den fehlenden Schutz vor disziplinarrechtlicher und strafrechtlicher Verfolgung bis hin zur Entlassung aus dem Dienst: Id., Rn. 69 ff. 618 Georg. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 54 Abs. 1 a, b, d iVm Art. 2 Abs. 2 a, b, c, d, f, i; C. II. 2. b) bb) (1).

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gene Verstöße bei der Entscheidung über die Entlassung berücksichtigt werden,619 was grundsätzlich geeignete Hürden sind, um den ultima ratio Charakter der Entlassung auch in der Praxis zu gewährleisten. Dennoch reichen sie aufgrund der mangelnden Präzision der Disziplinarvergehen nicht aus, um eine restriktive Anwendung und damit den ultima ratio Charakter und die Verhältnismäßigkeit, die der EGMR zwischen Verstoß und Sanktion fordert, zu wahren. Der georgische Gesetzgeber sollte daher den oben bereits getätigten Hinweis berücksichtigen und die Disziplinargründe präzisieren. In Moldawien, das wie Georgien grundsätzlich einen ausreichenden Sanktionskatalog aufweist, muss für Entlassungen, neben dem Charakter des Disziplinarverstoßes, seinen Konsequenzen und seiner Schwere, der Persönlichkeit des Richters sowie dem Maß des Verschuldens und weiteren Umständen, die bei allen Disziplinarstrafen in Moldawien zu berücksichtigen sind,620 hinzutreten, dass es sich um eine wiederholte Begehung oder einen Disziplinarverstoß handelt, der das Image der Justiz beschädigt.621 Wenngleich damit grundsätzlich durch die Vielzahl der Voraussetzungen eine Hürde geschaffen wird, birgt der dehnbare und wertungsoffene Ausdruck des Schadens für das Image der Justiz als einer der Gründe für die schärfste Strafe, das Risiko einer Unverhältnismäßigkeit zwischen Sanktion und Verstoß in sich, da ein grundsätzlich aus dem Katalog „normaler“ Disziplinarvergehen622 stammender Verstoß durch eine Wertungsfrage leicht zu der härtesten Sanktion, einer Entlassung, führen kann.623 Damit die für die richterliche Verantwortlichkeit wesentliche Möglichkeit von Disziplinarsanktionen einschließlich Entlassungen aus dem Dienst mit der richterlichen Unabhängigkeit noch im Einklang steht, sollten Disziplinarsysteme auf vage und dehnbare Formulierungen verzichten, da sie andernfalls die Unabhängigkeit unverhältnismäßig stark beeinträchtigen und im schlimmsten Fall zu vorherigen Absprachen und Loyalitäten der Richter aus Angst vor einer zu einfachen Entlassung aus dem Dienst führen können.624 c) Zusammenfassende Problemanalyse und Reformvorschläge Die Problemanalyse hat gezeigt, dass die vier Staaten exemplarisch für ihre Nachbarstaaten zwar sämtliche konventionellen Mechanismen richterlicher Verantwortlichkeit vorsehen, die teils wie in Russland erst in einem zweiten Schritt eingeführt wurden. Die Analyse hat jedoch ebenso offengelegt, dass das bloße

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Id., Art. 56 Abs. 1. Moldaw. Gesetz über die Disziplinarverantwortung von Richtern, Art. 19 Abs. 3. 621 Moldaw. Richterstatusgesetz, Art. 23 Abs. 2. 622 Gem. Id., Art. 25 Abs. 1 f) ist nämlich vorgesehen, dass eine Entlassung wegen jedes der in Art. 22 Abs. 1 geregelten Verstöße in Betracht kommt. Allerdings ist davon auszugehen, dass der neue Art. 23 Abs. 2 als Beschränkung auf Imageschäden und wiederholte Verstöße, in Art. 25 Abs. 1 f) hineinzulesen ist. 623 Kritisch auch Hriptievschi/Hanganu, Judicial Independence in Moldova, B. VII. 4. 624 So auch Id., B. VII. 4. 619 620

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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grundsätzliche Einführen dieser Mechanismen noch lange nicht ausreicht, um im Ausgleich mit der Unabhängigkeit zu stehen und diese langfristig im Sinne des Rechts des Individuums auf effektiven Rechtschutz zu sichern. Zu stark herrscht nach wie vor ein Verständnis von Verantwortlichkeit als Kontrolle vor, das sowohl durch institutionelle Machtkonzentration als auch mangelnde gesetzliche Grenzen noch befördert wird, und nach wie vor zu einem zu starken Ausschlagen des Pendels zu Lasten der richterlichen Unabhängigkeit führt. Alle vier Staaten lassen gesetzliche Definitionen und klare Kriterien vermissen – die einen im Bereich der Evaluationen, die anderen im Rahmen der Disziplinargründe. Dasselbe gilt, insbesondere in Russland, für den unzureichend ausdifferenzierten Katalog an Disziplinarsanktionen, um eine verhältnismäßige Disziplinarstrafe überhaupt zu ermöglichen, und für alle Staaten mit Blick auf eine unmissverständliche Sicherstellung des ultima ratio Charakters von Entlassungen aus dem Dienst. Den Zusammenhang zwischen institutionellen Schwächen sowie gesetzlich unpräzisen Vorgaben und der daraus resultierenden mangelnden Unabhängigkeit in der Praxis, benennt auch der EGMR in zunehmend rigider Rechtsprechung. In ungewohnt praxisnaher Betrachtung der Rechtslage in den östlichen Europaratsstaaten warnt der EGMR nunmehr im Bereich der institutionellen Fragen der Evaluationsund Disziplinarverfahren vor einer abschreckenden Wirkung der unbeschränkten Macht, die die interne Unabhängigkeit beeinträchtige.625 Ebenso rügt er die mangelnde Präzision gesetzlicher Vorschriften, die dadurch den handelnden Organen ein unkontrolliertes Ermessen überlasse.626 2009 und 2011 hat er die Verhältnismäßigkeit der Disziplinarstrafen und den ultima ratio Charakter der Entlassung angemahnt.627 Diese Rechtsprechung legt in immer expliziteren Worten offen, dass der EGMR das Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit zunehmend sieht und die in den östlichen Europaratsstaaten anzutreffende, wenig ausbalancierte Rechtslage und daraus resultierende Praxis verurteilt. Neben dem analysierten bereits konventionswidrigen Zustand, der in unterschiedlich starkem Maße in allen vier Staaten, regelmäßig aber insbesondere in Russland besteht, ist für die Zukunft eine Zunahme dieser Rechtsprechung zu der in vielerlei Hinsicht existierenden Schieflage zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit durch den EGMR zu erwarten. Dies zum einen, weil Beschwerden zu Fragen der richterlichen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit aus den östlichen Europaratsstaaten ansteigen werden, da die Probleme trotz verschiedener Reformen nicht gelöst sind. Zum anderen nimmt auch die Schärfe zu, mit der der EGMR die Probleme benennt

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625 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, wenngleich der EGMR hier die Gefahr der Evaluation durch Gerichtspräsidenten in der Entscheidungskette unterbewertete. Deutlich aber: EGMR, Khrykin gegen Russland. 626 EGMR, Sutyagin gegen Russland, Rn. 189 ff., allerdings mit Blick auf den Austausch eines Richters während eines laufenden Verfahrens. Die Wertung ist jedoch übertragbar. Siehe EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 83 ff., in dem es explizit um mangelnde Vorschriften für Disziplinarverfahren und Evaluationen ging. 627 EGMR, Kudeshkina gegen Russland; EGMR, Khrykin gegen Russland.

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C. Unabhängigkeit der Gerichte in den östlichen Europaratsstaaten

und neuerdings immer wieder eine ganzheitliche Betrachtung der tatsächlichen Unbefangenheit und internen Unabhängigkeit der Richter an Gerichten in den östlichen Europaratsstaaten vornimmt.628 Das Soft Law der Europaratsorgane und der Venedig-Kommission sieht darüber hinaus mit Blick auf materiell-rechtliche Fragen richterlicher Verantwortlichkeit ausgewogene Empfehlungen vor, denen der EGMR in Zukunft möglicherweise folgen wird. Trotz der begrüßenswerten Reformansätze, die in der Ukraine mit dem Entwurf von 2011 zur nochmaligen Abänderung des Gesetzes über das Gerichtswesen und den Status von Richtern vorgesehen sind, trotz der positiven Signale, die in Russland durch den Beschluss des Verfassungsgerichts von 2011 gegeben wurden, in dem es die mangelnde Breite an Gründen und Strafen in Disziplinarverfahren leise anzweifelte, und obwohl auch in Moldawien ein problematischer Disziplinargrund durch das moldawische Verfassungsgericht unter Heranziehung von Europaratsvorgaben für verfassungswidrig erklärt wurde, besteht daher in allen vier Staaten noch erheblicher Handlungsbedarf. Um die derzeit teils unkontrollierte und willkürliche Verhängung von Disziplinarmaßnahmen, einschließlich Entlassungen, und die Evaluationen in transparentere, vorhersehbarere und damit mit der Unabhängigkeit zu vereinbarende Bahnen zu lenken, ist es zwingend notwendig, dass der Gesetzgeber in allen vier Staaten zum einen institutionell ansetzt, indem Zuständigkeiten der Gerichtspräsidenten und Richterräte anhand der konkret getätigten Reformvorschläge reduziert werden. Zum anderen sollte der parlamentarische Gesetzgeber den zuständigen Organen abstrakt-generelle und dadurch vorhersehbare sowie eindeutige und präzise Kriterien für Evaluationen und die Einleitung von Disziplinarverfahren, einschließlich der Sanktionen, vorgeben. Es geht in den vier Staaten der hiesigen Betrachtung daher noch lange nicht nur um das „Finetuning“ in der Abwägung zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit, sondern um eine viel grundlegendere Herausforderung: die Schieflage zu reparieren, die durch das verspätete Bemühen um richterliche Verantwortlichkeit unter Zutun eines problematischen Verständnisses derselben entstanden ist. Wenngleich die gesetzliche Normierung präziser Kriterien und institutioneller Umstrukturierungen nicht jedwede Gefahr der mangelnden Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben in der Praxis nimmt, wie sie gerade in Teilen der östlichen Europaratsstaaten auftritt, so stellen die vorgeschlagenen gesetzgeberischen Schritte zumindest den Anfang dar, ohne den die defizitäre Situation in der Praxis nicht verändert werden kann. Wenn der Gesetzgeber schon keine bzw. nur vage Vorgaben für diese sensiblen Bereiche in der Praxis macht, legitimiert er letztlich die weite und teilweise willkürliche Interpretation der gesetzlichen Bestimmungen durch die vollziehenden Organe. Über zehn Jahre nachdem Russland überhaupt Disziplinarverfahren eingeführt hat, müssen zwingend Reformen an ihrer Ausgestaltung ansetzen, um die richterliche Unabhängigkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK zu gewährleisten. Dies

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Siehe z. B. EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien; EGMR, Khrykin gegen Russland.

II. Strukturelle Probleme der östlichen Europaratsstaaten

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ist eine Mindestvoraussetzung. Hinzutreten muss zweifelsohne die Stärkung der proaktiven Mechanismen richterlicher Verantwortlichkeit wie sie eingangs erwähnt wurden. Dadurch würde auch keineswegs die richterliche Unabhängigkeit geschwächt, sondern ein Umdenken angeregt, richterliche Verantwortlichkeit nicht nur als Relativierung der Unabhängigkeit zu verstehen, sondern zugleich als komplementären Baustein einer funktionstüchtigen Justiz. Und mehr noch: Die für Rechtsstaaten wesentliche Relation zwischen konventionellen, repressiven Mechanismen der richterlichen Verantwortlichkeit und der richterlichen Unabhängigkeit muss dringend Gegenstand der Reformanstrengungen werden, um in letzter Instanz das zentrale Element zu stärken, ohne das Justiz nicht funktionieren kann: das vom EGMR so oft unterstrichene öffentliche Vertrauen.629

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629 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 82; Seibert-Fohr, Judicial Independence – The Normativity of an Evolving Transnational Principle, III. 3., die „public trust“ als den „litmus test in this balancing endeavour“ bezeichnet.

D. Ergebnisse und Ausblick Ausgangspunkt der Doktorarbeit war die Frage, welche völkerrechtlichen Vorgaben auf Ebene des Europarats für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte als zentrale Anforderungen an alle Europaratsstaaten bestehen. Dazu wurden mehr als 50 Jahre Rechtsprechung des EGMR und der bis 1998 tätigen EKMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK analysiert und kategorisiert, um grundlegend die Bedeutung und den Inhalt dieser wesentlichen Rechtsstaatsgarantie zu klären. In einem zweiten Schritt wurde ein spezieller Blick auf die östlichen Europaratsstaaten gerichtet, deren Transformationsprozesse hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit weit über ein Jahrzehnt nach ihrem Beitritt zum Europarat noch lange nicht abgeschlossen sind. Exemplarisch für strukturelle Probleme in einer Vielzahl dieser Staaten wurden am Beispiel Russlands, der Ukraine, Moldawiens und Georgiens zwei grundlegende Hindernisse für die Etablierung einer unabhängigen Justiz untersucht und vor dem Hintergrund der Vorgaben aus dem ersten Teil sowie rechtsvergleichender Beobachtungen konkrete Reformvorschläge gemacht.

I. Ergebnisse Weder der EGMR, noch die ehemalige EKMR haben richterliche Unabhängigkeit abstrakt definiert oder in einer Weise kategorisiert, wie man dies etwa aus dem deutschen Recht und der Unterscheidung in sachliche und persönliche Unabhängigkeit iRv Art. 97 GG kennen mag, sieht man einmal ab von dem neuerdings verwendeten Begriff der „internal independence“, den der EGMR gegenüber den östlichen Europaratsstaaten mit Blick auf die Macht der Gerichtspräsidenten eingeführt hat.1 Vielmehr bedient sich der EGMR in ständiger Rechtsprechung einer Liste von vier Elementen, die für ihn die Unabhängigkeit in nicht abschließender Weise konstituieren: die Art und Weise der Ernennung von Richtern, ihre Amtszeit, das Bestehen von Garantien gegen Einflussnahmen von außen, sowie das äußere Erscheinungsbild des Gerichts. Darüber hinaus sind der Rechtsprechung innerhalb der vier großen Bausteine genauere Anhaltspunkte zu entnehmen, wie Vorgaben zur Probezeit von Richtern, grundlegende Linien zur wesentlichen Frage ihrer Unabsetzbarkeit einschließlich des Auswechselns von Richtern während eines laufenden Verfahrens, der bindenden Natur gerichtlicher Entscheidungen, dem geheimen Charakter richterlicher Beratungen sowie eine detaillierte Rechtsprechung zu Formen unzuläs-

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1 EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 86 ff.; EGMR, Khrykin gegen Russland, Rn. 29.

I. Ergebnisse

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siger Eingriffe in die unabhängige Entscheidungsfindung. Auch außerhalb der vier Merkmale lassen sich der Rechtsprechung jedoch in der hier vorgenommenen Strukturierung Kriterien zu problematischen Konstellationen entnehmen, wie etwa zu der Gefährdung der internen Unabhängigkeit durch den Einfluss innerhalb der Judikative, zum Verhältnis zwischen StA und Richtern sowie zunehmend zu repressiven Formen richterlicher Verantwortlichkeit, wie Evaluationen und Disziplinarverfahren. Besonders hervorstechend, da in der Vergangenheit häufig Gegenstand vor EKMR und EGMR, ist die Rechtsprechung zu Militärgerichten, die klare Abgrenzungen enthält und daher, mit Ausnahme einer eindeutigen Positionierung gegen Verfahren über Zivilisten vor Militärgerichten, eine gute Orientierung für Staaten bildet, wie die Militärgerichtsbarkeit im Einklang mit Art 6 Abs. 1 EMRK zu reformieren ist. Darüber hinaus ist eine Auseinandersetzung mit weiteren wesentlichen Parametern richterlicher Unabhängigkeit unter anderen Teilaspekten des Art. 6 Abs. 1 EMRK und im Rahmen weiterer Konventionsartikel festzustellen. So wurden im Zusammenhang mit dem Merkmal „established by law“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK klare Vorgaben zu der Zuweisung von Fällen an den Gerichten entwickelt, und insbesondere iRv Art. 5 Abs. 3,2 Art. 8,3 Art. 10 EMRK4 sowie Art. 1 des 1. ZP5 weitere wesentliche Fragen behandelt, darunter mittlerweile grundlegende Aspekte der Disziplinarverfahren gegen Richter sowie der richterlichen Vergütung. Sehr viel häufiger als die Unabhängigkeit hat den EGMR hingegen die richterliche Unparteilichkeit beschäftigt, was auf seine Natur als Menschenrechtsgerichtshof zurückzuführen ist, der von den von Individuen vorgebrachten Beschwerden abhängig ist. Mangelnde Unparteilichkeit ist für ein Individuum sehr viel unmittelbarer erfahrbar als die strukturellen und in dem größeren Kontext der Justizorganisation stehenden Fragen der Unabhängigkeit. Wenngleich sich der Wind langsam dreht und insbesondere von Bf. aus den östlichen Europaratsstaaten in den letzten Jahren zunehmend die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz vor dem EGMR gerügt wird, ist die Rechtsprechung zur Unparteilichkeit iSv Art. 6 Abs. 1 EMRK weitreichender und detaillierter. Der EGMR unterteilt in diesem Zusammenhang in eine objektive und eine subjektive Unparteilichkeit, um sich darüber hinweg zu helfen, dass die Frage der Unparteilichkeit letztlich stets eine subjektive Frage ist. Durch die Verobjektivierung des eigentlich inneren Zustands des Richters und dem damit auf objektive Zweifel reduzierten Prüfungsmaßstab sowie unter Zuhilfenahme des äußeren Erscheinungsbildes hat er so eine Vielzahl an Fällen entschieden, die die Bildung der in dieser Arbeit anzutreffenden Kategorien ermöglicht. Zu einem der am häufigsten gerügten Probleme zählt dabei die Mehrfachbefassung ein und desselben Richters mit ein und demselben Verfahren in verschiedenen Funktio-

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EGMR, Moulin gegen Frankreich; EGMR GK, Medvedyev gegen Frankreich. EGMR, Özpinar gegen Türkei. EGMR, Kudeshkina gegen Russland. EGMR, Zubko u. a. gegen Ukraine.

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D. Ergebnisse und Ausblick

nen oder gar verschiedenen Gewalten, die den EGMR darüber hinaus zu der Herausbildung der funktionalen und strukturellen Unparteilichkeit veranlasst hat. Während sich der Rechtsprechung von EGMR und EKMR somit aufgrund der Fülle an Fällen ausgeprägte Kriterien für die Unparteilichkeit der Richter entnehmen lassen, hat die Analyse offengelegt, dass die Rechtsprechung zu dem Merkmal „independent tribunal“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK vor allem Mindestvoraussetzungen für eine unabhängige Gerichtsbarkeit bereit hält. Sie ist zum einen keineswegs umfassend und enthält keine erschöpfende Auseinandersetzung mit allen Elementen, die es zur Schaffung und Bewahrung einer unabhängigen Justiz zu beachten gäbe. Zum anderen wurde deutlich, dass die Rechtsprechung erst langsam beginnt, die Probleme in den östlichen Europaratsstaaten zu adressieren. Beide Aspekte – die Beschränkung auf Mindestvoraussetzungen und die teils noch unzureichende Adressierung der Probleme in den Staaten, die eine starke Hilfestellung durch die verbindliche Rechtsprechung des EGMR am nötigsten hätten – lassen sich auf verschiedene Ursachen zurückführen: Erstens ist die Rechtsprechung stark einzelfallorientiert, was man zwar bedauern mag, da der EGMR auf diese Weise einen eigenen rechtsdogmatischen Begriff vermissen lässt, am Einzelfall haften bleibt und sich dadurch nur schwerlich allgemeine Standards herauslesen lassen.6 Rolle und Mandat versetzen den EGMR jedoch grundsätzlich nicht in die Lage, allgemeine Standards und Empfehlungen auszusprechen. Hinzutritt, dass der EGMR in Anbetracht der Vielzahl verschiedener Justizorganisationen in den 47 Konventionsstaaten eine zu rigide Definition und Festlegung vermeiden will: „This [gemeint waren Juryelemente] is just one example among others of the variety of legal systems existing in Europe, and it is not the Court’s task to standardise them. (…) The Contracting States enjoy considerable freedom in the choice of the means calculated to ensure that their judicial systems are in compliance with the requirements of Article 6. The Court’s task is to consider whether the method adopted to that end has led in a given case to results which are compatible with the Convention (…).“7 Zweitens ist der EGMR von den individuellen Beschwerden abhängig, die ihn erreichen. Dies zeigt sich nicht nur im Vergleich zum Soft Law des Europarats, das in der Lage ist, sehr viel breitere und präzisere Empfehlungen auszusprechen, und der besser entwickelten Unparteilichkeitsrechtsprechung des EGMR. Seine Abhängigkeit von den durch die Bf. aufgeworfenen Fragen spiegelt sich auch in der jahrzehn-

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So Kuijer, The blindfold of Lady Justice, S. 444. EGMR GK, Taxquet gegen Belgien, Rn. 83; anders Costa, Le juge indépendant et impartial en droit comparé, selon la Cour européenne des droits de l’homme, in: Gazette du Palais – numéro spécial droits de l’homme, 2002, S. 5: „(…) même s’il s’agit d’une matière ou les Etats devraient n’avoir que des obligations de résultats, et un large choix des moyens, la jurisprudence européenne leur laisse finalement une assez faible marge d’appréciation quant à ce choix, sans doute dans une volonté d’avoir des standards européens uniques et élevés.“ Dem ist nicht zuzustimmen. Die Rechtsprechungsanalyse hat gezeigt, dass die Standards eher schwach ausgeprägt sind, und die Staaten viel Spielraum haben. 6 7

I. Ergebnisse

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telangen Rechtsprechung zu westeuropäischen Staaten wider, die sich anstelle der allgemeinen staatlichen Gerichtsbarkeit, zumeist auf besondere Spruchkörper, wie spezielle Verwaltungsgremien, Ärztekammern oder Schiedsgerichte, bezog, die allesamt unter den autonomen Gerichtsbegriff der EGMR-Rechtsprechung zu subsumieren sind. Da dort regelmäßig spezifische Probleme im Vordergrund standen, lassen sich für den allgemeinen Kontext nur rudimentäre Gesichtspunkte entnehmen. Zusätzlich wurde aufgezeigt, dass bestimmte Aspekte richterlicher Unabhängigkeit entweder noch nicht vor dem EGMR waren oder zumindest iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK höchst selten dorthin kommen werden. Auch darin zeigt sich, dass der EGMR nur dann mit Problemen richterlicher Unabhängigkeit konfrontiert wird und Kriterien entwickeln kann, wenn sich ein Individuum darüber beschwert bzw. überhaupt beschweren kann. Strukturelle, justizorganisatorische Fragen hinsichtlich der Richterräte als einem der wichtigsten Organe der Justizverwaltung, nicht nur in den östlichen Europaratsstaaten, sind bisher nur indirekt vor den EGMR gelangt.8 Mithin verwundert es nicht, dass viele Defizite, die im zweiten Teil der Doktorarbeit in Bezug auf die Problematik der Justizverwaltung herausgearbeitet wurden und mit der Funktionsdichte und Zusammensetzung von Richterräten zusammenhängen, bislang kaum durch die EGMR-Rechtsprechung erfasst wurden. Bei anderen Konstellationen wie z. B. Disziplinarverfahren gegen Richter, scheitert eine umfängliche Befassung des EGMR vor allem an der Konzeption von Art. 6 Abs. 1 EMRK, der es Richtern selbst unmöglich macht, die eigene Unabhängigkeit, verletzt durch ein Disziplinarverfahren, zu rügen, da iRv Art. 6 Abs. 1 EMRK immer ein anderes Verfahren Gegenstand sein muss. Grundlegende Kriterien konnten und können sich daher nur im Rahmen anderer Konventionsbestimmungen, wie etwa iRv Art. 8 oder 10 EMRK, entwickeln, wie insbesondere die Urteile in „Kudeshkina gegen Russland“ und „Özpinar gegen Türkei“ zeigen. Schließlich zählt zu den Ursachen für die eingangs gezogene Schlussfolgerung der nicht umfassend aufgearbeiteten Kriterien richterlicher Unabhängigkeit und der erst begonnenen Adressierung der Probleme in den östlichen Transformationsstaaten des Europarats an dritter Stelle auch die mangelnde Präzision des EGMR selbst, die teilweise unsaubere Dogmatik und das teilweise fehlende Problembewusstsein. Die Rechtsprechungsanalyse hat offen gelegt, dass die Maßgaben des EGMR nicht nur oft unpräzise sind, sondern er teilweise den Kern des Problems zwar benennt, daraus jedoch nicht die gebotene dogmatische Schlussfolgerung zieht. Als Beispiel sei auf das Urteil „Salov gegen Ukraine“ verwiesen, in dem der EGMR im Ergebnis objektiv gerechtfertigte Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters feststellte, statt in einem Fall, in dem der zunächst noch unabhängig entscheidende Richter in Folge einer klaren, verbindlichen Weisung der nächsthöheren Instanz seine Ein-

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8 EGMR, Galstyan gegen Armenien; EGMR, Olujić gegen Kroatien; EGMR, Özpinar gegen Türkei; EGMR, Iovchev gegen Bulgarien; EGMR, Forum Maritime S. A. gegen Rumänien.

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D. Ergebnisse und Ausblick

schätzung in das Gegenteil änderte, eine Verletzung seiner Unabhängigkeit festzustellen.9 Aber auch das vierte Merkmal des in ständiger Rechtsprechung entwickelten Katalogs, das äußere Erscheinungsbild eines Gerichts („appearance of independence“), nimmt der EGMR zum Anlass, Kriterien verschwimmen zu lassen. Obwohl für die Unparteilichkeit entwickelt, zieht der EGMR es mittlerweile extensiv im Rahmen der Unabhängigkeit heran, was mit einer Absenkung des Prüfungsmaßstabes einhergeht. Dadurch wird nicht nur die Herausbildung präziserer Kriterien richterlicher Unabhängigkeit mehr und mehr behindert, die nicht nur für die in dieser Arbeit im zweiten Teil im Mittelpunkt stehenden Transformationsstaaten von Bedeutung wäre. Auch die Unterscheidung zwischen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit leidet darunter,10 die der EGMR in jedem Einzelfall sauberer auseinanderhalten und das Verhältnis der beiden Elemente zueinander klären sollte. Nur in wenigen Fällen erscheint, unter Berücksichtigung eines subjektivierten Ansatzes der Unabhängigkeit, das Heranziehen des äußeren Erscheinungsbildes für die Unabhängigkeit sinnvoll. Dem EGMR ist mithin eine ungenaue Rechtsprechung zur Unabhängigkeit der Gerichte vorzuwerfen, die in vielen Teilen vermeidbar wäre, würde er nicht vorschnell auf das Merkmal der „appearance of independence“ zurückgreifen, welches keine Festlegung auf das genaue Unabhängigkeitsproblem im konkreten Fall verlangt. Nicht ganz zu Unrecht wurde dem EGMR eine „very lenient interpretation of the applicable criteria“ sowie ein „apparent lack of interest with regard to judicial independence“ vorgeworfen.11 Allerdings konnte auch herausgearbeitet werden, dass sich mit der steigenden Zahl von Beschwerden aus Osteuropa über mangelnde richterliche Unabhängigkeit das Blatt langsam wendet.12 Gravierende strukturelle Mängel in diesen Staaten zwingen den EGMR zunehmend, formalistische Argumentationsmodelle aufzugeben und seine Rechtsprechung fortzuentwickeln. In begrüßenswerter Weise beginnt der EGMR neuerdings, faktische Zwangslagen als Weisungssituationen anzuerkennen, und einen Blick hinter die Fassaden zu werfen.13 Dass die Normierung grundlegender Prinzipien der richterlichen Unabhängigkeit in den Verfassungen nur den Anfang darstellt, aber nicht reicht, um eine auch in der Praxis unabhängige Justiz zu gewährleisten, bringt er nunmehr selbst, wie jüngst gegenüber der Ukraine, zum

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9 EGMR, Salov gegen Ukraine, Rn. 82 ff. Der EGMR gibt zunächst noch an, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zusammen zu prüfen, um in Rn. 86 nur gerechtfertigte Zweifel an der Unparteilichkeit festzustellen. 10 Siehe auch Kuijer, The blindfold of Lady Justice, S. 300, der die unklare Auseinanderhaltung allerdings auf das Fehlen einer eindeutigen Definition richterlicher Unabhängigkeit nach der EMRK zurückführt. 11 Kuijer, The blindfold of Lady Justice, S. 297 ff. 12 Siehe exemplarisch: EGMR, Falcoianu u. a. gegen Rumänien; EGMR, Sovtransavto Holding gegen Ukraine; EGMR, Moiseyev gegen Russland; EGMR, Olujić gegen Kroatien; EGMR, Kudeshkina gegen Russland; EGMR, DMD Group, A. S. gegen Slowakei; EGMR, Galstyan gegen Armenien; EGMR, Khrykin gegen Russland. 13 So z. B. in EGMR, Khrykin gegen Russland; EGMR, Salov gegen Ukraine.

I. Ergebnisse

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Ausdruck: „(…) the State’s respecting the authority of the courts is an indispensable precondition for public confidence in the courts and more broadly, for the rule of law. For this to be the case, the constitutional safeguards of the independence and impartiality of the judiciary do not suffice. They must be effectively incorporated into everyday administrative attitudes and practices.“14 Ebenso tätigt er gegenüber den östlichen Europaratsstaaten vermehrt generelle Aussagen, indem er den Einzelfall zum Ausgangspunkt nimmt, um seine generelle Ansicht zu der aufgeworfenen Rechtsfrage deutlich zu machen.15 Auch wenn kein allumfassender Ansatz, der alle Elemente richterlicher Unabhängigkeit abdeckt, aus den bereits angesprochenen objektiven Gründen zu erwarten ist, ist für die Zukunft zu hoffen, dass der EGMR seinen neuen problembewussten und präzisen Ansatz16 fortsetzen, und die richterliche Unabhängigkeit in der zukünftigen Rechtsprechung aufgrund der steigenden Zahl von Beschwerden zu systematischen Verletzungen, einen größeren Raum einnehmen wird. Zwei der systematischen Probleme richterlicher Unabhängigkeit in Osteuropa waren Schwerpunkt des zweiten Teils: Anhand der vier postsowjetischen Europaratsstaaten Russland, Ukraine, Moldawien und Georgien wurden Schwierigkeiten der Justizverwaltung und die Herausforderung der Ausbalancierung von richterlicher Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit vor dem Hintergrund der Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und rechtsvergleichender Beobachtungen untersucht. Mit Blick auf die Justizverwaltung hat die Arbeit aufgezeigt, dass die in den letzten zwei Jahrzehnten in Moldawien, Georgien und der Ukraine im Zuge von Justizreformen eingeführten mächtigen Richterräte, die stark in wesentliche Aspekte der Justizverwaltung wie der Richterauswahl, -beförderung, -disziplinierung, Budget der Justiz und Aufhebung der Immunität involviert sind, nur zu einer Verlagerung der Macht geführt haben statt zu einer nachhaltig unabhängigen, verantwortlichen sowie transparenten Justizverwaltung. Zukünftige Reformen der Justizverwaltung sollten daher stets zwei Maßgaben im Blick behalten: für die notwendige Balance zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit mit Blick auf diese Organe zu sorgen und größtmögliche Transparenz zu gewährleisten. Konkret hat die Arbeit angeregt, in den drei Staaten mit vergleichsweise starken Richterräten die Funktionsakkumulation in den Organen, die Justizverwaltungsaufgaben wahrnehmen, zu überdenken, ebenso wie ihre Zusammensetzung und ihren Ernennungsmodus anders zu gestalten. Letztere zeigen nämlich schon heute eine Tendenz, in eine ähnli-

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EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, Rn. 136. Siehe z. B. EGMR, Sovtransavto Holding gegen Ukraine, Rn. 77; EGMR, Ryabykh gegen Russland, Rn. 51 f. 16 Siehe z. B. EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien; EGMR, Khrykin gegen Russland oder EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine. Für alle Probleme ist er allerdings noch nicht ausreichend sensibilisiert, wie z. B. die Rechtsprechung in EGMR, Flux gegen Moldawien (No. 2), einschließlich des Abweichenden Sondervotums, sowie die Entscheidungen EGMR, Galstyan gegen Armenien, EGMR, Ashughyan gegen Armenien, und EGMR, Iovchev gegen Bulgarien belegen. 14 15

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D. Ergebnisse und Ausblick

che Richtung zu gehen wie ihre zentralosteuropäischen Nachbarn: Richterräte so unabhängig und stark wie möglich auszurichten, motiviert durch ein Verständnis von Unabhängigkeit als Isolation der Dritten Gewalt, ohne zugleich die Verantwortlichkeit dieses Organs und transparente Kontrollmechanismen in den Blick zu nehmen. Die Erfahrungen aus den Nachbarstaaten zeigen, dass dies nicht als nachhaltiger Reformschritt betrachtet werden kann, sondern neue Probleme schafft. Statt immer mehr Funktionen in einem Richterrat zu konzentrieren, sollten die Funktionen der Justizverwaltung auf eine kleine Anzahl verschiedener Organe verteilt werden und insbesondere die Kompetenz für die Auswahl, Ernennung und Beförderung von Richtern von der Disziplinargewalt bis hin zur Entlassung getrennt werden, um die starke Machtkonzentration über den gesamten Verlauf der richterlichen Karriere bis zu ihrer Beendigung zu durchbrechen. Durch klarere Kompetenzabgrenzungen und Beschränkung von Macht würde die Notwendigkeit einer Ausbalancierung von Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit mit Blick auf Richterräte adressiert und zugleich mehr Transparenz erzielt. Im Gegensatz dazu stehen die vergleichsweise schwächeren Qualifikationskollegien in Russland noch stark unter dem Einfluss der Exekutive sowie der Gerichtspräsidenten als verlängerter Arm derselben. Dort und in östlichen Europaratsstaaten, die lediglich schwache Richterräte aufweisen,17 ist das Transparenzproblem ähnlich virulent und erlaubt vor allem der Exekutive, Einfluss auf die Justizverwaltung und damit auf die Richter zu nehmen. Für diese Gruppe von Staaten wurde empfohlen, die bereits bestehenden Organe in einem Kompetenzfeld, wie z. B. der Richterauswahl und -beförderung, zu stärken, um ihren praktischen Einfluss zu steigern, indem insbesondere Formen informellen Einflusses gebremst, offengelegt und verfolgt werden. Konkret hat die Arbeit unter anderem vorgeschlagen, den Modus der Benennung der Vertreter der Öffentlichkeit in den Qualifikationskollegien in Russland zu ändern und ihnen dadurch auch in der Realität zu dem zu verhelfen, was sie ihrem Namen nach sein sollten. Zusätzlich sollte das Vetorecht der russischen Gerichtspräsidenten hinsichtlich Auswahl- und Beförderungsentscheidungen abgeschafft werden, das in dieser Form sogar im Gesetz vorgesehen ist und damit die Ausübung unzulässigen Drucks legitimiert. Des Weiteren gilt, was für die östlichen Transformationsstaaten mit starken Richterräten empfohlen wurde: Auch Staaten ohne vergleichbaren Richterrat oder mit schwachen Richterräten sollten neue, unabhängige und heterogen besetzte Organe schaffen, die in diesen Staaten Funktionen der Exekutive in der Justizverwaltung übernehmen könnten. Deshalb wurde für alle untersuchten vier Staaten, wie für andere östliche Europaratsstaaten in ähnlichen Transformationsphasen, eine Reform der bestehenden Richterräte bzw. Qualifikationskollegien durch Beschränkung auf eine zentrale Funktion gefordert und bei schwachen Richterräten bzw. Qualifikationskollegien zudem die Stärkung der gesetzlich eingeräumten Funktionen gegenüber

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17 Zu letzterer Gruppe näher: Müller, Judicial Administration in Transitional Eastern Countries, B. II.

I. Ergebnisse

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informellem Einfluss empfohlen. Diese Schritte würden nicht nur zu einem insgesamt transparenteren System mit weniger Machtkonzentration beitragen, sondern auch das öffentliche Vertrauen in die Gerichte und ihre Unabhängigkeit stärken, welches der EGMR in ständiger Rechtsprechung als wesentlich für eine unabhängige und unparteiische Justiz anmahnt. Wie er sich in Zukunft gegenüber Richterräten positionieren wird, ist mangels konkreter Fälle, die das Machtproblem ansprechen würden, noch nicht geklärt. Nur am Rande lässt sich entnehmen, dass er Richterräten eine eher positive Rolle zumisst,18 und auch den Vorsitz des Staatspräsidenten selbst über den Richterrat nicht bemängelt hat.19 Umgekehrt hat er mit Blick auf die zweite wesentliche Gruppe von Akteuren in der Justizverwaltung – Gerichtspräsidenten – klargestellt, dass er auf eine institutionelle Trennung zwischen verschiedenen Aspekten, z. B. innerhalb eines Disziplinarverfahrens, Wert legt. Dies erscheint übertragbar auf starke Richterräte. Zugleich ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung, dass der Ruf nach einer exekutivfreien Auswahl und Ernennung von Richtern und stattdessen einer Verlagerung dieser Kompetenz in ihrer Vollständigkeit auf Richterräte, wie dies etwa in Georgien bereits der Fall ist, von dem Verständnis des EGMR von richterlicher Unabhängigkeit nicht gedeckt ist. Es steht zu hoffen, dass sich der EGMR in dieser Frage in Zukunft nicht an dem Soft Law des Europarats orientieren wird, sondern sich die in dieser Arbeit rechtsvergleichend und mit Blick auf praktische Gefahren analysierten Probleme bewusst macht. Letzteres gilt ebenso für die Zusammensetzung von Richterräten und Qualifikationskollegien, die entgegen der Soft Law-Empfehlungen nicht mehrheitlich oder zu einem substantiellen Teil aus Richtern bestehen sollten, sondern in denen sich der Anteil an Richtern ausgewogen zu demjenigen weiterer Vertreter der juristischen Berufe, anderer Gewalten sowie vor allem der Zivilgesellschaft verhalten sollte. Nicht nur das moldawische Beispiel belegt, dass einer Richtermehrheit die Gefahr von Vetternwirtschaft innewohnt, weshalb dem vorgenommenen moldawischen Kurswechsel in anderen Staaten der Region gefolgt werden sollte. Weiterhin wurde deutlich, dass es ohne eine Eingrenzung der umfangreichen Macht der Gerichtspräsidenten, wie sie in allen vier Staaten, exemplarisch für weitere Staaten der Region, als Relikt aus Sowjetzeiten besteht und Vereinbarkeitsprobleme mit Art. 6 Abs. 1 EMRK mit sich bringt, nicht möglich sein wird, die tägliche Entscheidungsfindung der Richter in unabhängiger Weise zu garantieren. Dazu zählt vor allem die Zuständigkeit zur Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter ihres Gerichts und oftmals auch der unteren Instanz, wie dies in Russland der Fall ist. Letzteres führt zu einem zu starken „vorauseilenden Gehorsam“ und damit zu einer Beeinträchtigung der Unabhängigkeit, wie der EGMR bereits festgestellt hat. Aber auch die in der Hand der Gerichtspräsidenten angelegte bzw. niemals aufgegebene Macht, über die Fallzuweisung an ihren Gerichten zu

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EGMR, Forum Maritime S. A. gegen Rumänien; EGMR, Iovchev gegen Bulgarien. EGMR, Galstyan gegen Armenien.

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D. Ergebnisse und Ausblick

verfügen, und darüber den Ausgang konkreter Verfahren zu beeinflussen, stößt vermehrt auf klare Rechtsprechung des EGMR, in der eindeutige, objektive und transparente Kriterien für die Verteilung der Fälle von den Konventionsstaaten gefordert werden. Die vier Staaten sollten statt der computergesteuerten Verteilung, die ebenfalls anfällig für Manipulation ist, wie jüngste Indizien aus der Ukraine nahelegen, dem deutschen Modell eines Geschäftsverteilungsplans folgen, der durch ein heterogenes Gremium in gegenseitiger Kontrolle der Mitglieder verabschiedet und überwacht werden sollte. Über diese einzelnen Kompetenzen hinaus, sollte der EGMR die Akkumulation von Funktionen von Gerichtspräsidenten noch kritischer in den Blick nehmen und nicht erst dann eine Verletzung feststellen, wenn Gerichtspräsidenten ohne jegliche Kriterien Ermessen ausüben, wie im Fall „Moiseyev gegen Russland“, oder ohne jegliche ersichtliche, geschweige denn offengelegte Begründung, wie in „Sutyagin gegen Russland“. Präzise gesetzliche Kriterien zu schaffen sowie transparente Rechtsmittelverfahren gegen das Handeln der Gerichtspräsidenten, wie er es in „Parlov-Tkalčić gegen Kroatien“ angemahnt hat, ist notwendig und verringert bereits das Ermessen. Hinzutreten muss eine Reduzierung der Anzahl der Zuständigkeiten de jure (insbesondere in Russland, mit Blick auf die Fallverteilung aber in allen vier Staaten) sowie de facto (in allen vier Staaten), um die mächtige Stellung von Gerichtspräsidenten als generisches Problem in den östlichen Europaratsstaaten in den Griff zu bekommen. Daneben wäre ein dezentraler Auswahlprozess zu diesen Schlüsselpositionen an den Gerichten empfehlenswert, indem die Richter selbst ihren Präsidenten wählen, um insbesondere den derzeitigen Durchgriff der Exekutive zu verhindern. Als zweites generisches Problem in den östlichen Europaratsstaaten hat die Doktorarbeit die Frage besprochen, wie eine Ausbalancierung von richterlicher Unabhängigkeit einerseits und richterlicher Verantwortlichkeit („accountability“) andererseits mit Blick auf die Richter gelingen kann. Ausgehend von der Beobachtung, dass eine Konzentration allein auf die Maximierung richterlicher Unabhängigkeit nachhaltige Justizreformen gefährdet und das Recht des Individuums auf effektiven Rechtsschutz innerhalb eines fairen Verfahrens auch die Verantwortlichkeit von Richtern verlangt, hat die Problemanalyse gezeigt, dass die vier Staaten, exemplarisch für ihre Nachbarstaaten, mittlerweile zwar sämtliche konventionellen Mechanismen richterlicher Verantwortlichkeit vorsehen. Diese umfassen in erster Linie Evaluationen von und Disziplinarverfahren gegen Richter. Die Analyse hat jedoch auch offengelegt, dass das bloße grundsätzliche Einführen dieser repressiven Mechanismen nicht ausreicht, um im Ausgleich mit der Unabhängigkeit zu stehen und Letztere langfristig im Sinne des bestehenden Bedingungszusammenhangs zu sichern. Zu stark herrscht nach wie vor in diesen vier Staaten ein Verständnis von richterlicher Verantwortlichkeit im Sinne einer Kontrolle vor, die das Tor für unzulässige Einflussnahme öffnet und dem gesetzlich wenig Grenzen gesetzt werden. Dies liegt an materiell-rechtlichen Aspekten wie den mangelnden gesetzlichen Definitionen und Kriterien sowohl im Bereich der Evaluationen als auch der Diszipli-

II. Ausblick

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nargründe und einem nicht ausreichend ausdifferenzierten Katalog von Disziplinarsanktionen, die eine verhältnismäßige Strafe möglich machen und eine Entlassung nur als ultima ratio zulassen würden. Der große Spielraum, der den zuständigen Organen in allen vier Staaten, wenngleich in unterschiedlich starkem Maße, gelassen wird, führt nach wie vor zu einem zu starken Ausschlagen des Pendels zu Lasten der richterlichen Unabhängigkeit. Damit stehen diese Systeme der richterlichen Verantwortlichkeit in ihrer Ausgestaltung teilweise in Kollision mit der EMRK, die, wie der EGMR gegenüber verschiedenen östlichen Europaratsstaaten geurteilt hat, gesetzlich festgelegte und klare Kriterien für Evaluationen und Disziplinarverfahren, ebenso wie unterschiedliche Zuständigkeiten für die Teilaspekte dieser Verfahren und die Verhältnismäßigkeit zwischen Disziplinarverstoß und Sanktion verlangt. Daraus ergibt sich zugleich, dass Entlassungen nur ultima ratio Charakter haben können, was in den vier Staaten entweder gar nicht oder nicht eindeutig genug normiert ist. Um die Ausbalancierung zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit im Einklang mit der EMRK in den vier Staaten zu bewerkstelligen, ist es deshalb zwingend notwendig, dass der Gesetzgeber tätig wird und die defizitäre Lage behebt – einerseits institutionell durch das Aufteilen von Kompetenzen, andererseits durch präzisere gesetzliche Vorgaben, die eine klare Handlungsanleitung vermitteln.

II. Ausblick Der EGMR sollte seinen begonnenen Kurs beibehalten und seine Rechtsprechung unter Berücksichtigung der hier aufgezeigten Kritikpunkte fortentwickeln, um nicht nur, aber insbesondere für die östlichen Europaratsstaaten im Rahmen seines Mandats Vorgaben zu entwickeln, die präzise das Problem adressieren. Obschon jüngere Reformen und Verfassungsgerichtsurteile aus den vier Staaten zumindest in eine begrüßenswerte Richtung gehen, weisen diese Staaten dennoch, exemplarisch für weitere östliche Europaratsstaaten, einen erheblichen Handlungsbedarf hinsichtlich der institutionellen Ausgestaltung ihrer Justizverwaltungssysteme und der Ausbalancierung zwischen Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit mit Blick auf die Richter auf. Dies nicht nur, um weiteren Verurteilungen durch den EGMR vorzubeugen, deren steigende Zahl sich in den letzten Jahren deutlich abzeichnet. Für die östlichen Europaratsstaaten geht es um noch mehr: Sie sind es ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern schuldig, mehr als 20 Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, endlich alte Verhaltensmuster und althergebrachte Institutionen, wie die Macht der Gerichtspräsidenten, aufzugeben und neue Organe, wie die Richterräte bzw. Qualifikationskollegien, gar nicht erst zu neuen Machtinstrumenten werden zu lassen, die die tägliche Unabhängigkeit der Richter und damit das Recht des Individuums aus Art. 6 Abs. 1 EMRK auf ein faires Verfahren beeinträchtigen.

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D. Ergebnisse und Ausblick

„What is at stake is the confidence which the courts in a democratic society must inspire in the public.“20 Ob es gelingt, dieses öffentliche Vertrauen zu schaffen, bemisst sich daran, wie gut es die östlichen Europaratsstaaten bewerkstelligen werden, die vorgeschlagenen institutionellen Reformen und nötigen gesetzgeberischen Schritte einzuleiten. Nur dann kann eine derzeit noch durch den Gesetzgeber in vielen Teilen ermöglichte Einflussnahme durch verschiedene mächtige Akteure außerhalb und innerhalb der Judikative beseitigt, dadurch ein Umdenken bei diesen Akteuren, ebenso wie bei den Richtern selbst und schließlich bei der Öffentlichkeit erreicht werden. Der Grundstein dafür ist gelegt.21 Es kommt nun darauf an, diesen Kurs unter Berücksichtigung der völkerrechtlichen Anforderungen an eine unabhängige und unparteiische Justiz als unabdingbare Voraussetzung für Rechtsstaaten fortzuentwickeln.

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20 Siehe nur beispielhaft für diese Aussage: EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, Rn. 82. 21 Wie die Analyse gezeigt hat, trifft dies am ehesten auf Moldawien und Georgien zu. So auch Stratenschulte/Priesmeyer-Tkocz, Weniger ist mehr – Lehren aus dem Stillstand der Östlichen Partnerschaft, in: Osteuropa, Heft 11, 2011, S. 7, 24 f.

Rechtsprechungsverzeichnis I. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte und Europäische Kommission für Menschenrechte 1. EGMR EGMR, AB Kurt Kellermann gegen Schweden, No. 41579/98, 26.10.2004. EGMR, Absandze gegen Georgien, No. 57861/00, 15.10.2002. EGMR, Academy Trading LTD u. a. gegen Griechenland, No. 30342/96, 04.04.2000. EGMR, Adolf gegen Österreich, No. 8269/78, 26.03.1982. EGMR, Agrokompleks gegen Ukraine, No. 23465/03, 06.10.2011. EGMR, Agurdino S.R.L. gegen Moldawien, No. 7359/06, 27.09.2011. EGMR, Airey gegen Irland, No. 6289/73, 09.10.1979. EGMR, Albert und Le Compte gegen Belgien, No. 7299/75; No. 7496/76, 10.02.1983. EGMR, Algür gegen Türkei, No. 32574/96, 22.10.2002. EGMR, Altay gegen Türkei, No. 22279/93, 22.05.2001. EGMR, Ashughyan gegen Armenien, No. 33268/03, 17.07.2008. EGMR, Bajaldziev gegen Mazedonien, No. 4650/06, 25.10.2011. EGMR, Barashkova gegen Russland, No. 26716/03, 29.04.2008. EGMR, Başkaya und Okçuoğlu gegen Türkei, No. 23536/94; No. 24408/94, 08.07.1999. EGMR, Beaumartin gegen Frankreich, No. 15287/89, 24.11.1994. EGMR, Becciev gegen Moldawien, No. 9190/03, 04.10.2005. EGMR, Belilos gegen Schweiz, No. 10328/83, 29.04.1988. EGMR, Belukha gegen Ukraine, No. 33949/02, 09.11.2006. EGMR, Benthem gegen Niederlande, No. 8848/80, 23.10.1985. EGMR, Bochan gegen Ukraine, No. 7577/02, 03.05.2007. EGMR, Borgers gegen Belgien, No. 12005/86, 30.11.1991. EGMR, British-American Tobacco Company LTD. gegen Niederlande, No. 19589/92, 20.11.1995. EGMR, Brudnicka u. a. gegen Polen, No. 54723/00, 03.03.2005. EGMR, Brumarescu gegen Rumänien, No. 28342/95, 28.10.1999. EGMR, Bryan gegen Großbritannien, No. 19178/91, 22.11.1995. EGMR, Bulut gegen Österreich, No. 17358/90, 22.02.1996. EGMR, Burdov gegen Russland (Nr. 2), No. 33509/04, 15.01.2009.

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EGMR, Buscarini gegen San Marino, No. 31657/96, 04.05.2000. EGMR, Buscemi gegen Italien, No. 29569/95, 16.09.1999. EGMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, No. 7819/77; No. 7878/77, 28.06.1984. EGMR, Case of Parti Nationaliste Basque – Organisation Régionale d’Iparralde gegen Frankreich, No. 71251/01, 07.06.2007. EGMR, Castillo Algar gegen Spanien, No. 28194/95, 28.10.1998. EGMR, Central Mediterranean Development Corporation Limited gegen Malta (No. 2), No. 18544/08, 02.11.2011. EGMR, Chesne gegen Frankreich, No. 29808/06, 22.04.2010. EGMR, Chevrol gegen Frankreich, No. 49636/99, 13.02.2003. EGMR, Chmelíř gegen Tschechien, No. 64935/01, 07.06.2005. EGMR, Çimen u. a. gegen Türkei, No. 40079/98 u. a., 25.05.2000. EGMR, Ciobanu gegen Rumänien, No. 29053/95, 16.07.2002. EGMR, Çiraklar gegen Türkei, No. 19601/92, 28.10.1998. EGMR, Clarke gegen Großbritannien, No. 23695/02, 25.08.2005. EGMR, Coëme u. a. gegen Belgien, No. 32492/96; No. 32547/96; No. 32548/96; No. 33209/96; No. 33210/96, 22.06.2000. EGMR, Cooper gegen Großbritannien, No. 48843/99, 16.12.2003. EGMR, Coyne gegen Großbritannien, No. 25942/94, 24.09.1997. EGMR, Craxi III gegen Italien, No. 63226/00, 14.06.2001. EGMR, Crompton gegen Großbritannien, No. 42509/05, 27.10.2009. EGMR, Dacia S. R. L. gegen Moldawien, No. 3052/04, 18.03.2008. EGMR, Daktaras gegen Litauen, No. 42095/98, 10.10.2000. EGMR, De Cubber gegen Belgien, No. 9186/80, 26.10.1984. EGMR, De Haan gegen Niederlande, No. 22839/93, 26.08.1997. EGMR, De Jong, Baljet und Van den Brink gegen Niederlande, No. 8805/79; No. 8806/79; No. 9242/81, 22.05.1984. EGMR, De Wilde, Ooms und Versyp gegen Belgien, No. 2832/66; No. 2835/66; No. 2899/66, 18.06.1971. EGMR, Debled gegen Belgien, No. 13839/88, 22.09.1994. EGMR, Delage und Magistrello gegen Frankreich, No. 40028/98, 24.01.2002. EGMR, Delcourt gegen Belgien, No. 2689/65, 17.01.1970. EGMR, Demicoli gegen Malta, No. 13057/87, 27.08.1991. EGMR, Deweer gegen Belgien, No. 6903/75, 27.02.1080. EGMR, Diennet gegen Frankreich, No. 18160/91, 26.09.1995. EGMR, DMD Group, A. S. gegen Slowakei, No. 19334/03, 05.10.2010. EGMR, Dragostea Copiilor – Petrovschi – Nagornii gegen Moldawien, No. 25575/08, 13.09.2011.

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EGMR, Dubus S. A. gegen Frankreich, No. 5242/04, 11.06.2009. EGMR, E. K. gegen Türkei, No. 28496/95, 07.02.2002. EGMR, Ekeberg u. a. gegen Norwegen, No. 11106/04; No. 11108/04; No. 11116/04; No. 11311/04; No. 13276/04, 31.07.2007. EGMR, Elezi gegen Deutschland, No. 26771/03, 12.06.2008. EGMR, Engel u. a. gegen Niederlande, No. 5100/71; No. 5101/71; No. 5102/71; No. 5354/72; No. 5370/72, 08.06.1976. EGMR, Ergin gegen Türkei, No. 47533/99, 04.05.2006. EGMR, Ernst u. a. gegen Belgien, No. 33400/96, 15.07.2003. EGMR, Ettl u. a. gegen Österreich, No. 9273/81, 23.04.1987. EGMR, Falcoianu u. a. gegen Rumänien, No. 32943/96, 09.07.2002. EGMR, Fedotova gegen Russland, No. 73225/01, 13.04.2006. EGMR, Fey gegen Österreich, No. 14396/88, 24.02.1993. EGMR, Filippini gegen San Marino, No. 10526/02, 26.08.2003. EGMR, Findlay gegen Großbritannien, No. 22107/93, 25.02.1997. EGMR, Flux gegen Moldawien (No. 2), No. 31001/03, 03.07.2007. EGMR, Forum Maritime S. A. gegen Rumänien, No. 63610/00; No. 38692/05, 04.10.2007. EGMR, Fruni gegen Slowakei, No. 8014/07, 21.06.2011. EGMR, Gajewski gegen Polen, No. 27225/05, 21.12.2010. EGMR, Galstyan gegen Armenien, No. 26986/03, 15.11.2007. EGMR, Gautrin u. a. gegen Frankreich, No. 21257/93 u. a., 20.05.1998. EGMR, Gavrilenko gegen Russland, No. 30674/03, 15.02.2007. EGMR, Gerger gegen Türkei, No. 24919/94, 08.07.1999. EGMR, Greens and M. T. gegen Großbritannien, No. 60041/08; No. 60054/08, 23.11.2010. EGMR, Gregory gegen Großbritannien, No. 22299/93, 25.02.1997. EGMR, Grieves gegen Großbritannien, No. 57067/00, 16.12.2003. EGMR, Gurov gegen Moldawien, No. 36455/02, 11.07.2006. EGMR, H. gegen Belgien, No. 8950/80, 30.11.1987. EGMR, Hanif und Khan gegen Großbritannien, No. 52999/08; No. 61779/08, 20.12.2011. EGMR, Hasan Polat gegen Türkei, No. 32489/03, 22.09.2009. EGMR, Hauschildt gegen Dänemark, No. 10486/83, 24.05.1989. EGMR, Henryk Urban und Ryszard Urban gegen Polen, No. 23614/08, 30.11.2010. EGMR, Hirschhorn gegen Rumänien, No. 29294/02, 26.07.2007. EGMR, Holm gegen Schweden, No. 14191/88, 25.11.1993. EGMR, Hood gegen Großbritannien, No. 27267/95, 18.02.1999. EGMR, Huseyn u. a. gegen Aserbaidschan, No. 35485/05; No. 45553/05; No. 35680/05; No. 36085/05, 26.07.2011.

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EGMR, Ilatovskiy gegen Russland, No. 6945/04, 09.07.2009. EGMR, Imrek gegen Türkei, No. 57175/00, 28.01.2003. EGMR, Incal gegen Türkei, No. 22678/93, 09.06.1998. EGMR, Indra gegen Slowakei, No. 63226/00, 01.02.2005. EGMR, Iovchev gegen Bulgarien, No. 41211/98, 18.11.2004. EGMR, Iwanczuk gegen Polen, No. 39279/05, 17.11.2009. EGMR, Janosevic gegen Schweden, No. 34619/97, 23.07.2002. EGMR, Juhnke gegen Türkei, No. 52515/99, 13.05.2008. EGMR, Kadubec gegen Slowakei, No. 27061/95, 02.09.1998. EGMR, Karakoç u. a. gegen Türkei, No. 27692/95 u. a., 15.10.2002. EGMR, Kayasu gegen Türkei, No. 64119/00; No. 76292/01, 13.11.2008. EGMR, Khrykin gegen Russland, No. 33186/08, 19.04.2011. EGMR, Kiiskinen und Kovalainen gegen Finnland, No. 26323/95, 01.06.1999. EGMR, Kleuver gegen Norwegen, No. 45837/99, 30.04.2002. EGMR, Kleyn u. a. gegen Niederlande, No. 39343/98; No. 39651/98; No. 43147/98; No. 46664/99, 06.05.2003. EGMR, Kobenter und Standard Verlags GmbH gegen Österreich, No. 60899/00, 02.11.2006. EGMR, Kot gegen Russland, No. 20887/03, 18.01.2007. EGMR, Kress gegen Frankreich, No. 39594/98, 07.06.2001. EGMR, Kudeshkina gegen Russland, No. 29492/05, 26.02.2009. EGMR, Kyprianou gegen Zypern, No. 73797/01, 15.12.2005 (Große Kammer). EGMR, Langborger gegen Schweden, No. 11179/84, 22.06.1989. EGMR, Laryagin und Aristov gegen Russland, No. 38697/02; No. 14711/03, 08.01.2009. EGMR, Lauko gegen Slowakei, No. 26138/95, 02.09.1998. EGMR, Lavents gegen Lettland, No. 58442/00, 28.11.2002. EGMR, Le Compte, Van Leuven und De Meyere gegen Belgien, No. 6878/75; No. 7238/75, 23.06.1981. EGMR, Lindon, Otchakovsky-Laurens und July gegen Frankreich, No. 21279/02; No. 36448/02, 22.10.2007. EGMR, Lobo Machado gegen Portugal, No. 15764/89, 20.02.1996. EGMR, M. D. U. gegen Italien, No. 58540/00, 28.01.2003. EGMR, M. gegen Deutschland, No. 19359/04, 17.12.2009. EGMR, Malhous gegen Tschechien, No. 33071/96, 12.07.2001. EGMR, Mancel und Branquart gegen Frankreich, No. 22349/06, 24.06.2010. EGMR, Martin gegen Großbritannien, No. 40426/98, 24.10.2006. EGMR, Martinie gegen Frankreich, No. 58675/00, 12.04.2006 (Große Kammer). EGMR, Maszni gegen Rumänien, No. 59892/00, 21.09.2006.

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EGMR, McGonnell gegen Großbritannien, No. 28488/95, 08.02.2000. EGMR, Medvedyev gegen Frankreich, No. 3394/03, 29.03.2010 (Große Kammer). EGMR, Mehdi Zana gegen Türkei, No. 29851/96, 06.03.2001. EGMR, Mežnarić gegen Kroatien, No. 71615/01, 15.07.2005. EGMR, Micallef gegen Malta, No. 17056/06, 15.10.2009 (Große Kammer). EGMR, Mihailov gegen Bulgarien, No. 52367/99, 21.07.2005. EGMR, Mironenko und Martenko gegen Ukraine, No. 4785/02, 10.12.2009. EGMR, Miroshnik gegen Ukraine, No. 75804/01, 27.11.2008. EGMR, Mitap und Müftüoglu gegen Türkei, No. 15530/89; No. 15531/89, 25.03.1996. EGMR, Mitrea gegen Rumänien, No. 26105/03, 29.07.2008. EGMR, Moiseyev gegen Russland, No. 62936/00, 09.10.2008. EGMR, Moore und Gordon gegen Großbritannien, No. 36529/97; No. 37393/97, 29.09.1999. EGMR, Morel gegen Frankreich, No. 34130/96, 06.06.2000. EGMR, Morris gegen Großbritannien, No. 38784/97, 26.02.2002. EGMR, Moskovets gegen Russland, No. 14370/03, 23.04.2009. EGMR, Mosteanu gegen Rumänien, No. 33176/96, 26.11.2002. EGMR, Moulin gegen Frankreich, No. 37104/06, 23.11.2010. EGMR, Muşuc gegen Moldawien, No. 42440/06, 06.11.2007. EGMR, Neumeister gegen Österreich, No. 1936/63, 27.06.1968. EGMR, Nevskaya gegen Russland, No. 24273/04, 11.10.2011. EGMR, Nikitin gegen Russland, No. 50178/99, 20.07.2004. EGMR, Ninn-Hansen gegen Dänemark, No. 28972/95, 18.05.1999. EGMR, Nortier gegen Niederlande, No. 13924/88, 24.08.1993. EGMR, Oberschlick gegen Österreich, No. 11662/85, 23.05.1991. EGMR, Öcalan gegen Türkei, No. 46221/99, 12.03.2003. EGMR, Öcalan gegen Türkei, No. 46221/99, 12.05.2005 (Große Kammer). EGMR, Okçuoğlu gegen Türkei, No. 24246/94, 08.07.1999. EGMR, Olujić gegen Kroatien, No. 22330/05, 05.02.2009. EGMR, Özel gegen Türkei, No. 42739/98, 07.11.2002. EGMR, Ozerov gegen Russland, No. 64962/01, 18.05.2010. EGMR, Özpinar gegen Türkei, No. 20999/04, 19.10.2010. EGMR, Pabla Ky gegen Finnland, No. 47221/99, 22.06.2004. EGMR, Padovani gegen Italien, No. 13396/87, 26.02.1993. EGMR, Pandjikidzé u. a. gegen Georgien, No. 30323/02, 27.10.2009. EGMR, Parlov-Tkalčić gegen Kroatien, No. 24810/06, 22.12.2009. EGMR, Paskal gegen Ukraine, No. 24652/04, 15.09.2011.

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EGMR, Pellegrin gegen Frankreich, No. 28541/95, 08.12.1999. EGMR, Pescador Valero gegen Spanien, No. 62435/00, 17.06.2003. EGMR, Pétur Thór Sigurđsson gegen Island, No. 39731/98, 10.04.2003. EGMR, Pfarrmeier gegen Österreich, No. 16841/90, 23.10.1995. EGMR, Piersack gegen Belgien, No. 8692/79, 01.10.1982. EGMR, Pitkevich gegen Russland, No. 47936/99, 08.02.2001. EGMR, Plakhteyev und Plakhteyeva gegen Ukraine, No. 20347/03, 12.03.2009. EGMR, Popov gegen Moldawien (No. 2), No. 19960/04, 06.12.2005. EGMR, Poppe gegen Niederlande, No. 32271/04, 22.03.2009. EGMR, Posokhov gegen Russland, No. 63486/00, 04.03.2003. EGMR, Prager und Oberschlick gegen Österreich, No. 15974/90, 26.04.1995. EGMR, Pravednaya gegen Russland, No. 69529/01, 18.11.2004. EGMR, Previti gegen Italien, No. 45291/06, 08.12.2009. EGMR, Procola gegen Luxemburg, No. 14570/89, 28.09.1995. EGMR, Pronina gegen Ukraine, No. 63566/00, 18.07.2006. EGMR, Pullar gegen Großbritannien, No. 22399/93, 10.06.1996. EGMR, Rahmanova gegen Aserbaidschan, No. 34640/02, 10.08.2008. EGMR, Raks gegen Russland, No. 20702/04, 11.10.2011. EGMR, Ramishvili und Kokhreidze gegen Georgien, No. 1704/06, 27.01.2009. EGMR, Remli gegen Frankreich, No. 16839/90, 23.04.1996. EGMR, Richert gegen Polen, No. 54809/07, 25.10.2011. EGMR, Ringeisen gegen Österreich, No. 2614/65, 16.07.1971. EGMR, Rojas Morales gegen Italien, No. 39676/98, 16.11.2000. EGMR, Romanova gegen Ukraine, No. 33089/02, 13.12.2007. EGMR, Rosca gegen Moldawien, No. 6267/02, 22.03.2005. EGMR, Roseltrans gegen Russland, No. 60974/00, 21.07.2005. EGMR, Ryabykh gegen Russland, No. 52854/99, 24.07.2003. EGMR, Sacilor Lormines gegen Frankreich, No. 65411/01, 09.11.2006. EGMR, Sadak u. a. gegen Türkei, No. 29900/96 u. a., 17.07.2001. EGMR, Sainte-Marie gegen Frankreich, No. 12981/87, 16.12.1992. EGMR, Salaman gegen Großbritannien, No. 43505/98, 15.06.2000. EGMR, Salov gegen Ukraine, No. 65518/01, 06.09.2005. EGMR, San Leonard Band Club gegen Malta, No. 77562/01, 29.07.2004. EGMR, Sander gegen Großbritannien, No. 34129/96, 09.08.2000. EGMR, Saraiva de Carvalho gegen Portugal, No. 15651/89, 22.04.1994. EGMR, Sarban gegen Moldawien, No. 3456/05, 04.10.2005.

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EGMR, Sassen gegen Niederlande, No. 51013/99, 14.03.2000. EGMR, Savino u. a. gegen Italien, No. 17214/05; No. 20329/05; No. 42113/04, 28.04.2009. EGMR, Schmautzer gegen Österreich, No. 15523/89, 23.10.1995. EGMR, Seher Karataş gegen Türkei, No. 33179/96, 09.07.2002. EGMR, Sejdić und Finci gegen Bosnien und Herzegowina, No. 27996/06; No. 34836/06, 22.12.2009 (Große Kammer). EGMR, Shabanov und Tren gegen Russland, No. 5433/02, 14.12.2006. EGMR, Siglfirdingur Ehf gegen Island, No. 34142/96, 07.09.1999. EGMR, Simsek gegen Großbritannien, No. 43471/98, 09.07.2002. EGMR, Smirnitskaya u. a. gegen Russland, No. 852/02, 05.07.2007. EGMR, Smith und Ford gegen Großbritannien, No. 37475/97; No. 39036/97, 29.09.1999. EGMR, Sokurenko und Strygun gegen Ukraine, No. 29458/04; No. 29465/04, 20.07.2006. EGMR, Šorgić gegen Serbien, No. 34973/06, 03.11.2011. EGMR, Sovtransavto Holding gegen Ukraine, No. 48553/99, 25.07.2002. EGMR, Sramek gegen Österreich, No. 8790/79, 22.10.1984. EGMR, Stafford gegen Großbritannien, No. 46295/99, 28.05.2002 (Große Kammer). EGMR, Stallinger und Kuso gegen Österreich, No. 14696/89; No. 14697/89, 23.04.1997. EGMR, Steulet gegen Schweiz, No. 31351/06, 26.04.2011. EGMR, Stojakovic gegen Österreich, No. 30003/02, 09.11.2006. EGMR, Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis gegen Griechenland, No. 13427/87, 09.12.1994. EGMR, Sunday Times gegen Großbritannien, No. 6538/74, 26.04.1979. EGMR, Sürek und Özdemir gegen Türkei, No. 23927/94; No. 24277/94, 08.07.1999. EGMR, Sutyagin gegen Russland, No. 30024/02, 03.05.2011. EGMR, Švarc und Kavnik gegen Slowenien, No. 75617/01, 08.02.2007. EGMR, T gegen Großbritannien, No. 24724/94, 16.12.1999. EGMR, Taxquet gegen Belgien, No. 926/05, 16.11.2010 (Große Kammer). EGMR, Tchitchinadze gegen Georgien, No. 18156/05, 27.05.2010. EGMR, Tedesco gegen Frankreich, No. 11950/02, 10.05.2007. EGMR, Thomann gegen Schweiz, No. 17602/91, 10.06.1995. EGMR, Thorgeir Thorgeirson gegen Island, No. 13778/88, 25.06.1992. EGMR, Tocono und Profesorii Prometeişti gegen Moldawien, No. 32263/03, 26.06.2007. EGMR, Tregubenko gegen Ukraine, No. 61333/00, 02.11.2004. EGMR, Tsfayo gegen Großbritannien, No. 60860/00, 14.11.2006. EGMR, Van de Hurk gegen Niederlande, No. 16034/90, 19.04.1994. EGMR, Västberga Taxi Aktiebolag und Vulic gegen Schweden, No. 36985/97, 23.07.2002. EGMR, Vermeulen gegen Belgien, No. 19075/91, 20.02.1996.

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EGMR, Vilho Eskelinen u. a. gegen Finnland, No. 63235/00, 19.04.2007. EGMR, Volkova gegen Russland, No. 48758/99, 05.04.2005. EGMR, Warsicka gegen Polen, No. 2065/03, 16.01.2007. EGMR, Wettstein gegen Schweiz, No. 33958/96, 21.12 2000. EGMR, Whitfield u. a. gegen Großbritannien, No. 46387/99; No. 48906/99; No. 57410/00; No. 57419/00, 12.04.2005. EGMR, Wille gegen Liechtenstein, No. 28396/95, 28.10.1999. EGMR, Yağmurdereli gegen Türkei, No. 29590/96, 04.06.2002. EGMR, Yavuz gegen Türkei, No. 29870/96, 25.05.2000. EGMR, Zakharkin gegen Russland, No. 1555/04, 10.06.2010. EGMR, Zielinski und Pradal und Gonzalez u. a. gegen Frankreich, No. 24846/94; No. 34165/96 bis No. 34173/96, 28.10.1999. EGMR, Zlínsat, Spol. S R. O. gegen Bulgarien, No. 57785/00, 15.06.2006. EGMR, Zubko u. a. gegen Ukraine, No. 3955/04; No. 5622/04; No. 8538/04; No. 11418/04, 26.04.2006. EGMR, Zypern gegen Türkei, No. 25781/94, 10.05.2001.

2. EKMR EKMR, Bramelid und Malmström gegen Schweden, No. 8588/79; No. 8589/79, 12.12.1983. EKMR, Campbell und Fell gegen Großbritannien, No. 7819/77; No. 7878/77, 12.05.1982. EKMR, Crociani, Palmiotti, Tanassi und Lefebvre d’Ovidio gegen Italien, No. 8603/79; No. 8722/79; No. 8723/79; No. 8729/79, 18.12.1980. EKMR, Demicoli gegen Malta, No. 13057/87, 15.03.1990. EKMR, Dupuis gegen Belgien, No. 12717/87, 08.09.1988. EKMR, Eccles u. a. gegen Irland, No. 12839/87, 09.12.1988. EKMR, Ettl gegen Österreich, No. 9273/81, 03.07.1985. EKMR, H. gegen Belgien, No. 950/80, 08.10.1985. EKMR, Hazar, Hazar und Açik gegen Türkei (Friendly Settlement), No. 16311/90; No. 16312/90; No. 16313/90, 10.12.1992. EKMR, Hazar, Hazar und Açik gegen Türkei, No. 16311/90; No. 16312/90; No. 16313/90, 11.10.1991. EKMR, Heudens gegen Belgien, No. 24630/94, 22.05.1995. EKMR, Holm gegen Schweden, No. 14191/88, 13.10.1992. EKMR, Huber gegen Österreich, No. 5523/72, 4./5.10.1974. EKMR, Le Compte, Van Leuven und De Meyere gegen Belgien, No. 6875/75; No. 7238/75, 14.12.1979. EKMR, Mitap und Müftüoglu gegen Türkei, No. 15530/89; No. 15531/89, 08.12.1994. EKMR, Ofner und Hopfinger gegen Österreich, No. 524/59; No. 617/59, 23.11.1962.

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EKMR, Piersack gegen Belgien, No. 8692/79, 13.05.1981. EKMR, Pretto gegen Italien, No. 7984/77, 11.07.1979. EKMR, Sramek gegen Österreich, No. 8790/79, 08.12.1982. EKMR, Stallinger und Kuso gegen Österreich, No. 14696/89; No. 14697/89, 07.12.1995. EKMR, Stieringer gegen Deutschland, No. 28899/95, 25.11.1996. EKMR, Sutter gegen Schweiz, No. 8209/78, 01.03.1979. EKMR, Versteele gegen Belgien, No. 12458/86, 18.01.1989. EKMR, X. gegen Niederlande, No. 3692/68, 05.02.1970. EKMR, X. gegen Norwegen, No. 931/60, 30.05.1961. EKMR, X. gegen Österreich, No. 1418/62, 21.06.1963. EKMR, Zand gegen Österreich, No. 7360/76, 12.10.1978.

II. Nationale Gerichte 1. Moldawien Verfassungsgericht der Republik Moldawien (Curtea Constituţională), Beschluss Nr. 12 vom 07.06.2011 über die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Regelung Art. 22 Abs. 1 p) des Gesetzes Nr. 544-XIII vom 20. Juni 1995 „Über den Status von Richtern“ in der Redaktion des Gesetzes Nr. 152 vom 8. Juli 2010 über „Änderung und Ergänzung in einigen Gesetzen“(HOTĂRÎRE Nr. 12 din 07.06.2011 pentru controlul constituţionalităţii prevederii art. 22 alin.(1) lit.p) din Legea nr.544-XIII din 20 iulie 1995 „Cu privire la statutul judecătorului“ în redacţia Legii nr.152 din 8 iulie 2010 „Pentru modificarea şi completarea unor acte legislative“), 07.06.2011.

2. Russland Oberstes Gericht der Russischen Föderation (Верховный Суд Российской Федерации), Entscheidung des Obersten Gerichts der Russischen Föderation Nr. GKPI 05-1119 über den Antrag von D. A. Fursov (РЕШЕНИЕ Именем Российской Федерации 4 октября 2005 г. Верховный Суд Российской Федерации, гражданское дело по заявлению Фурсова Дмитрия Александровича о признании незаконным заключения Высшей квалификационной коллегии судей Российской Федерации от 20 июля 2005 года об отказе в рекомендации на должность первого заместителя Председателя Высшего Арбитражного Суда Российской Федерации), 04.10.2005. Verfassungsgericht der Russischen Föderation (Конституционный Суд Российской Федерации), Beschluss des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation in der Angelegenheit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen Art. 6.1 und Art. 12.1. des Richterstatusgesetzes und der Art. 21, 22 und 26 des Bundesgesetzes über die Organe der Richtergemeinschaft der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Beschwerde der Bürger G. N. Beljusowoi, G. I. Siminoi, Ch. B. Sarkitowa, S. B. Semak und A. A. Filatowoi (Постановление Конституционного Суда РФ „По делу о проверке конституционности ряда положений статей 6.1 и 12.1 Закона Российской Федерации „О статусе судей в Российской Федерации“ и статей 21, 22 и 26 Федерального закона „Об органах судейского сообщества в Российской

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Rechtsprechungsverzeichnis Федерации“ в связи с жалобами граждан Г. Н. Белюсовой, Г. И. Зиминой, Х. Б. Саркитова, С. В. Семак и А. А. Филатовой“), 28.02.2008.

Verfassungsgericht der Russischen Föderation (Конституционный Суд Российской Федерации), Beschluss des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation in der Angelegenheit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 8 Abs. 1 und Art. 12.1. Abs. 1 des Richterstatusgesetzes und der Art. 19, 21 und 22 des Bundesgesetzes über die Organe der Richtergemeinschaft der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Beschwerde der Bürgerin A. V. Matjuschenko (Постановление Конституцинного Суда Российской Федерации по делу о проверке конституционности положений пунктов 1 и 2 статьи 3, пункта 1 статьи 8 и пункта 1 статьи 12.1. Закона Российской Федерации „О статусе судей в Российской Федерации“ и статей 19, 21 и 22 Федерального закона „Об органах судейского сообщества в Российской Федерации“ в связи с жалобой гражданки А. В. Матюшенко), 20.07.2011.

3. Sonstige The Supreme Court of Canada, Regina v. Valente, [1985] 2 S.C.R. 673. King’s Bench Division, The King v. Sussex Justices Ex parte McCarthy, 09.11.1923. Verfassungsgericht der Republik Ungarn (Magyar Köztársaság Alkotmánybírósága), Entscheidung über die Zusammensetzung des Nationalen Richterrates, 97/2009 (X.16.).

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5. Sonstige Staaten Deutschland: Zivilprozessordnung (ZPO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Dezember 2005 (zuletzt geändert am 22.12.2011), in der Fassung der Bekanntmachung abgedruckt in: BGBl. I S. 3202 (2006 I S. 431) (2007 I S. 1781), letzte Änderung abgedruckt in: BGBl. I S. 3044. Frankreich: Le Premier ministre, Décret n° 2009-14 du 7 janvier 2009 relatif au rapporteur public des juridictions administratives et au déroulement de l’audience devant ces juridictions 2009.

Stichwortverzeichnis Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) 21–25, 159 Amtszeit 20, 29, 39, 43–46, 50, 51, 61, 62, 65–67, 70, 71, 81, 88, 90, 95, 96, 131, 149, 165, 167, 170, 193, 208, 216, 241, 245, 277, 280, 286 Ausbildung 33, 52, 67, 90, 91, 142, 186 äußeres Erscheinungsbild („appearance“) 67–74, 90, 94, 96, 286, 290 Auswahl 17, 20, 38, 40, 41, 44, 45, 47–49, 129, 146, 172, 178, 180, 183, 184, 186– 188, 196, 198, 201, 202, 204–206, 209, 210, 218, 220–222, 225, 231, 234–238, 246, 247, 257, 258, 291, 292 Beförderung 17, 85, 93, 139–141, 147, 148, 151, 178, 180, 186–189, 195–198, 201– 206, 209, 218–221, 225–227, 231, 237, 238, 244–247, 249, 251, 252, 257, 292 Beitrittsvoraussetzungen Europarat 156, 159, 160, 164 Budget der Justiz 122, 143, 194, 195, 291 Commission européenne pour l’efficacité de la justice (CEPEJ) 123, 125, 134 Conseil Consultatif de Juges Européens (CCJE) 123–125, 128, 130, 136, 139, 140, 147, 148, 150, 151, 153, 154 Disziplinarverfahren 17, 20, 39, 77, 81–86, 95, 130, 135, 136, 139, 140, 142, 148, 151, 172, 176–178, 180, 187, 190–194, 196, 199–201, 203, 205, 212, 219, 220, 224, 226, 231, 233, 238, 240–242, 244, 255–258, 260, 261, 263, 266–271, 273, 274, 276, 283, 284, 287, 289, 293, 294, 306 Doppelfunktion 56, 57, 79, 111, 114, 119, 175 Entlassung 20, 46, 63, 76, 84, 89, 139, 147, 148, 151, 172, 175, 178, 182, 187, 189, 193, 194, 197, 203, 219, 220, 231, 237,

238, 241, 265, 266, 270, 272, 274–279, 281, 282, 283, 292, 295 Entstehungsgeschichte Art. 6 Abs. 1 EMRK 19, 21, 23–25 Ernennung 39–44, 46–48, 50, 51, 62, 66, 67, 78, 88, 95, 96, 100, 130, 131, 145, 146, 149, 151, 152, 162, 166, 167, 170, 172, 175, 178, 180, 182–184, 186–189, 193, 195, 197, 198, 201, 202, 204, 211– 213, 215, 217, 225, 226, 234–236, 244, 247, 278, 286, 292 established by law 19, 21, 24, 25, 27, 28, 34, 36, 66, 95, 108, 287 Ethik, richterliche 134, 190–192, 194, 195, 264–266, 281 Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) 14, 18, 19, 25, 27–35, 39–42, 44, 47–52, 56–58, 61–63, 65, 68, 69, 72, 73, 75, 77–80, 85, 87–89, 92, 93, 95, 96, 99, 100, 105, 119, 152, 179, 251, 286–288 Evaluationen 17, 20, 39, 85–87, 95, 131, 133, 142, 154, 176, 177, 240, 242, 244– 247, 249, 251–254, 283, 284, 287, 294 Fallzuweisung 36, 127, 128, 140, 151, 178, 223, 224, 228–230, 232, 239, 293 geheime Beratungen 58, 101 Generalstaatsanwalt 80, 111, 175, 192, 207, 213, 214, 216 Georgien 17, 18, 20, 28, 35, 37, 41, 51, 60, 61, 78, 95, 134, 156–158, 170–174, 176, 179, 186, 188, 189, 195, 197, 199, 200, 206, 207, 215–217, 219–222, 228, 232, 234, 236–238, 242, 243, 245, 247, 251, 254, 256, 258, 259, 261, 263, 265, 266, 269, 273–276, 278, 282, 291, 296, 306 Gerichtspräsidenten 20, 37, 44, 45, 60, 75, 76, 82, 85–87, 95, 106, 118, 119, 131, 139, 151, 169, 178, 179, 184, 189, 190, 197, 200–203, 205, 206, 212, 221–228, 230–239, 242, 244–252, 256, 260, 265,

328

Stichwortverzeichnis

274, 277, 281, 283, 284, 286, 292, 293, 295 Immunität 39, 80, 81, 96, 133, 150, 172, 180, 190–192, 194, 195, 203, 204, 241, 242, 244, 291 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) 21–25, 28, 159 interne Unabhängigkeit 60, 61, 75, 82, 86, 150, 283 Korruption 132, 162, 172, 173, 176, 177, 241, 262 Militärgerichte 56, 87–91, 93 Militärrichter 50, 56, 58, 85, 87, 89, 91–94 Ministerkomitee 19, 22, 23, 24, 96, 121, 123, 124, 127, 131, 137, 138, 143–146, 153, 157, 220, 246, 249, 267, 271 Moldawien 15, 17, 18, 20, 37, 42, 43, 45, 46, 49, 51, 59–61, 66, 103, 134, 142, 156, 157, 168–170, 172–174, 176, 178, 179, 184, 186, 189, 192–195, 197, 199, 200, 202, 206, 207, 209, 210, 214–217, 219, 220, 226, 228, 231, 232, 234, 237, 238, 242, 243, 245, 247, 248, 250, 251, 253, 254, 256, 258, 259, 261, 262, 265, 266, 268–273, 276, 278, 282, 284, 291, 296 öffentliche Äußerungen von Richtern 114, 116, 118, 120, 262 Parlamentarische Versammlung 19, 22, 121, 131, 133, 137 Proberichter 65, 66, 148 Proberichterzeit 43, 62, 65, 95, 132, 162, 229, 244, 245 Prokuratura 162, 166, 168, 171, 173–175, 213 Qualifikationskollegium (квалификационная коллегия) 140, 178, 179, 182, 183, 185, 186, 201–215, 217– 221, 227, 237, 239, 247, 248, 260, 264, 265, 272–274, 279, 280, 292, 293, 295 Richterrat („Judicial Council“) 40, 43, 47, 81, 82, 126–131, 135, 140, 141, 146, 147, 148, 150–154, 172, 178–202, 206–207,

209, 210, 212–222, 224–226, 229, 231, 234–240, 247, 250, 256–259, 265, 270, 272, 273, 276, 278, 279, 284, 289, 291, 292, 293, 295 Russland 14, 16–18, 20, 27, 34, 36–39, 53, 58–61, 63–65, 75–77, 79, 82–84, 95, 97– 99, 102, 110, 121, 131, 134, 138, 139, 142, 156, 157, 159–168, 170, 172–178, 182, 183, 185, 186, 200–207, 209, 210, 212, 215–228, 230–240, 242, 245–248, 251–255, 260–263, 265–267, 269, 272, 273, 275–279, 281–284, 286, 287, 289– 291, 293 Schiedsgerichtsbarkeit 40, 48, 100 Sondergaststatus 158, 159, 161, 168, 170 Sowjetunion 156, 159, 162, 174, 180, 213, 218, 295 Staatsanwaltschaft 39, 78–82, 84, 90, 95, 103, 109–111, 113, 140, 162, 164, 166, 172, 175, 176, 201, 204, 210, 212–214, 233, 287 Transparenz 37, 127, 134, 136, 146, 156, 177, 178, 186, 200, 206, 212, 218, 220– 222, 224, 232, 237, 243, 252, 256, 264, 272, 274, 291 Überwachungskontrolle 59, 86, 150, 169 Ukraine 15–18, 20, 26, 35, 36, 52–55, 59– 61, 64, 66, 70, 75, 76, 81–83, 85, 86, 89, 90, 95, 97, 104, 108, 111, 116, 121, 126, 128, 131, 132, 134, 139, 142, 145, 156, 157, 160, 165–168, 170, 172–174, 176, 178, 179, 181, 182, 184, 186, 189, 193– 200, 206, 208, 210, 213–217, 219, 221, 223, 225, 226, 228–239, 242, 243, 245– 253, 255, 259–261, 265–268, 271–273, 275–279, 283, 284, 286, 287, 289–291, 294, 320 Unabsetzbarkeit 39, 41, 46, 47, 51, 52, 61– 63, 65, 71, 73, 88, 90, 95, 124, 131, 152, 167, 183, 277, 280, 286 Unparteilichkeit – funktionale 98, 108, 117, 119 – objektive 33, 75, 78, 98, 102, 105, 108, 114–116, 119, 120 – strukturelle 98, 113 – subjektive 98, 99, 103, 115–118, 120, 287

Stichwortverzeichnis Venedig-Kommission 14, 18, 19, 96, 120, 121, 131, 133, 139, 141–145, 147–152, 154, 155, 171, 177, 181, 184, 185, 187, 189, 191, 195, 197, 200, 213, 214, 226, 234, 245, 251, 256–258, 269, 278, 284 Verantwortlichkeit („accountability“) 17, 20, 47, 95, 122, 124, 129, 135, 136, 141, 147, 148, 152, 154, 177, 178, 184, 190, 193, 197, 198, 206–210, 237, 240– 244, 252, 255, 256, 260–262, 264, 266– 271, 275, 280–285, 287, 291, 292, 294, 295

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Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen 39, 52, 54, 58, 59, 64, 75, 137, 138 Vergütung 39, 52, 66, 97, 252, 287 Versetzung 147, 148, 151, 178, 189, 195 Vertreter der Öffentlichkeit (Представители общественности) 207, 209–211, 221, 292 Weisungsfreiheit 39, 41–45, 47, 48, 51–53, 55, 57, 58, 71, 81, 87, 89, 90, 93, 152, 183, 235, 261, 277